Nietzsche-Interpretationen: II Über Freiheit und Chaos 9783110806168, 9783110134520

Volume II of the two-volume interpretation of Nietzsche’s writings contains previously unpublished or considerably exten

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German Pages 450 [452] Year 1999

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Table of contents :
Vorwort
1. Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik an Richard Wagner
2. Freiheit und Wille bei Nietzsche
Leitfaden für den Weg der Abhandlung
Erster Teil. Nietzsches Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit
Zweiter Teil. Über Freiheit und Wille zur Macht
Exkurse
3. Über ‚das Ganze‘ und über ,Ganzheiten‘ in Nietzsches Philosophie
Leitfaden für den Weg der Abhandlung
Erster Teil: Das ,Ganze‘ als Chaos und das Chaos im Menschen. Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Gestaltung
Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie
Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme im Lichte des Wiederkunftsgedankens
Exkurse
Nachweise
Siglen
Personenregister
Sachregister
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Nietzsche-Interpretationen: II Über Freiheit und Chaos
 9783110806168, 9783110134520

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Wolfgang Müller-Lauter Uber Freiheit und Chaos

1749

1999

Wolfgang Müller-Lauter

Uber Freiheit und Chaos • ·

Nietzsche-Interpretationen II

w DE

_G 1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche-Interpretationen / Wolfgang Müller-Lauter. New York : de Gruyter 2. Über Freiheit und Chaos. - 1999 ISBN 3-11-013452-7

Berlin ;

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und Buchbinderische Verarbeitung: Strauss-Offsetdruck GmbH, 69509 Mörlenbach

Vorwort Nietzsche destruiert die überlieferten metaphysischen Bestimmungen und verschafft so der .einzigen Welt des Werdens und Vergehens' Geltung. Weisen, in denen das unablässige Verden durch das Gegeneinander und Miteinander zahlloser Willen zur Macht vorangetrieben wird, sind in den im ersten Band meiner Nietzsche-Interpretationen zusammengestellten Abhandlungen herausgearbeitet worden. In ihnen wird zugleich die Mißdeutung Nietzsches zurückgewiesen, er habe mit .dem' Willen zur Macht nur ein anderes .metaphysisches Grundprinzip' an die Stelle früherer Ursprungsbestimmungen der Welt gesetzt. Nietzsches Ausarbeitung einer Philosophie des Werdens als Philosophie der Machtprozesse bedarf der Ergänzung, Erweiterung und Vertiefung in verschiedenen Richtungen. Die Themen der drei Abhandlungen dieses Bandes lassen sich unter dadurch bestimmten Aspekten präsentieren. Erstens. Willen zur Macht schließen sich zur Organisation der mannigfachen Gebilde zusammen, auf die wir in der Welt des Werdens treffen: von den .niedrigen' Organismen bis zu den .höchsten' gesellschaftlichen Zusammenschlüssen von Menschen. In jenen Prozessen, die immer den Charakter des Kampfes tragen (auch dann, wenn dieser nicht sogleich sichtbar ist), erfolgt eine Machtmehrung von Herrschaftsgebilden auf Kosten derjenigen .Einheiten', die Macht abgeben. Bei letzteren lassen sich sublime Gestalten allmählichen Verfalls auffinden. Solchem Niedergang des Lebens, den er als Disgregation von Machtwillen auffaßt, hat Nietzsche besonders in seinen späten Schriften und in nachgelassenen Aufzeichnungen erörtert. Unter dem Titel Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik an Richard Wagner (zuerst: 1983) 1 gehe ich exemplarisch dem (.physiologisch' bedingten) Verlust von Organisationskraft nach, der Nietzsche zufolge in Kunstwerken (bei R. Wagner) und im philosophischen Gedanken (bei Sokrates) zum Ausdruck kommt. Zweitens. Der .menschliche Wille' verfügt nicht über die .Freiheit', der Desorganisation entgegenzuwirken. Dies ist das Thema der Abhandlung

1

Zur Veröffentlichung der verschiedenen Fassungen dieser sowie auch der zweiten Abhandlung dieses Bandes vgl. die Nachweise, oben S. 413.

VI

Vorwort

unter dem Titel: Freiheit und Wille bei Nietzsche (1988-1995). 2 Ist der Mensch doch selber nichts anderes als eine zeitweilige .Einigung' von Willen zur Macht, deren Zusammenfügung und Auseinandertreten, den besonderen Machtkonstellationen gemäß, mit Notwendigkeit erfolgt. Nietzsche ,löst' das Problem der Willensfreiheit, indem er es im Zuge seiner Destruktion metaphysischer Voraussetzungen auflöst·, zugleich aber erweist sich auch das Verständnis jener Notwendigkeit am Leitfaden der Kausalität als unangemessen. Stellt die Annahme von ,Ursachen' und ,Wirkungen' doch eine Fixierung dar, welche dem komplexen Prozeß des Werdens nicht entspricht. Ob sich der Mensch als frei oder als unfrei versteht, ist für Nietzsche zuletzt - auf der Basis seines eigenen .Begriffes' von Interpretation - Ausdruck der Stärke oder Schwäche .seines' Willens zur Macht. Der Rekurs auf das Selbstverständnis .des Starken' im Freiheitsgefühl gestattet es Nietzsche, von Also sprach Zarathustra an - unter dem Vorzeichen der Unschuld des Werdens - vom .Instinkt der Freiheit' als Wille zur Macht zu sprechen. Die .Freiheit' dieses .Instinkts' ist als freigesetzte Aktivität von jedem moraloder transzendenzgestützten Freiheitsverständnis zu unterscheiden. Drittens. Die .Unschuld des Werdens' schließt die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln aus. Gehört er doch uneingeschränkt .dem Ganzen' an, in dem alles, was ist und wird, aufeinander bezogen und voneinander abhängig ist. Nietzsches Rede vom .Ganzen' ist vieldeutig, nicht anders als seine Rede von .Freiheit' und .Wahrheit'. Mit ihr richtet er sich auf unterschiedliche Sachverhalte, weshalb sie der differenzierenden Interpretation bedarf. Um diese geht es in der hier erstmalig veröffentlichten (und weit ausholenden) Abhandlung Über,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie (entstanden 1998/1999).3 - Als .Ganzheiten' bezeichnet Nietzsche vor allem die instabilen organisierten .Einheiten', deren Macht sich ausweiten wie auch abnehmen und zerfallen kann (vgl. dazu die erste Abhandlung in diesem Band). Ganzheiten bilden schon die niedrigsten Organisationsformen des Lebens, die übergriffen bleiben und einbezogen werden können in umfassendere Ganzheiten, welche z.B. die Leiber von 2

1

Den Weg der Abhandlung zeigt ein ihr vorangestellter Leitfaden an (S. 2 5 - 2 9 ) . Ihr erster Teil ist 1988 unter dem Titel Nietzsches Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit erschienen (vgl. Nachweise); in ihren zweiten Teil, der Nietzsches .positiven Freiheitsbegriff' ausführlich herausarbeitet, sind die vorläufigen Ausführungen der Abhandlung von 1988 eingegangen. Auch dieser Abhandlung ist ein Leitfaden vorangestellt (S. 131-138), der einen Uberblick über den Gang der Untersuchung gibt.

Vorwort

VII

Säugetieren und Menschen mit deren je besonderen .Strukturen' von Willen zur Macht darstellen. Andere - weit ausgreifende - Ganzheiten sind Gesellschaften und Staaten. Immer sind solche Ganzheiten auf ihnen entsprechende entgegenstehende Ganzheiten bezogen; sie konstituieren sich in ihrer Gegensätzlichkeit wechselseitig. Von Ganzheiten, die als zeitweilig bestehende Besonderungen von Willen zur Macht ineinander aufgehen und einander entgegenstehen, ist ,das Ganze' zu unterscheiden, in das alles, was wird und vergeht, hineingehört. Das Ganze als ,das All', wie Nietzsche auch sagt, ist kein Organismus und kann keine .Einheit' in dessen Sinne sein. Im Gegensatz zu solchen Bedeutungen ist dieses ,Ganze' für Nietzsche als ein .Gesamt' ein bloß summativer Begriff. Aber auch eine derartige Kennzeichnung bleibt vordergründig und muß .aufgehoben' werden. Das hier angesprochene .Ganze' ist .Chaos'. Dieses ist, wie im Ersten Teil der Abhandlung dargestellt wird, der Nährboden für alle zeitweiligen Bildungen besonderer Ganzheiten. .Das' Chaos stellt daher nicht nur einen äußersten Horizont des Alls dar; es ist vielmehr - und vor allem - das .Innerste' und insofern .Letzte', auf das wir stoßen. Auch der Mensch ist in sich Chaos, dessen Abgründigkeit allerdings zumeist unter den Prägungen verborgen bleibt, die er von vorgeschichtlicher Zeit an erfahren hat. Aus dem .grundlegenden' inneren Chaos heraus soll ihm gleichwohl die Kraft für künftige Gestaltungen von Ganzheiten machtvollen neuen Menschseins erwachsen. Die beschriebene Orientierung am Organismus-Modell für die .Ganzheiten' reicht nicht aus, wenn Nietzsche nach der Zukunft der Menschheit fragt. Diese kann seinen Voraussetzungen zufolge kein .organisches Ganzes' bilden. Die technischen und ökonomischen Entwicklungen drängen im 19. Jahrhundert über die Grenzen von Völkern oder Nationen hinaus, die Nietzsche als .Organismen' deutet. Der Zweite Teil handelt vom Ausgreifen auf neue Zusammenschlüsse, die .relative Einheiten' bilden können. Entscheidende Bedeutung für die Zukunft der Menschheit spricht Nietzsche der .Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde' zu, die er, Überlegungen des Nationalökonomen Emanuel Herrmann aufnehmend,4 als .unvermeidlich' 4

Ohne den Rekurs auf Nietzsches Lektüre von Emanuel Herrmanns Buch Cultur und Natur (1887) bleiben viele der späten fragmentarischen Aufzeichnungen Nietzsches (gerade auch solche, die er für das zeitweilig geplante Werk Der Wille zur Macht zusammengestellt hat) nicht nur schwer verständlich, sondern teilweise undeutbar. Selbst Pierre Klossowski, der sich Nietzsches .ökonomischer Fragmente' von 1887 auf besonders intensive Weise angenommen hat, verirrt sich in Nietz-

Vili

Vorwort

heraufkommend ansieht. Während dieser mit dem .ungeheuren Räderwerk der ökonomischen Gesamt-Maschinerie' das Zeitalter der befreiten Menschheit aufziehen sieht, denkt Nietzsche über dieses hinaus an eine .Gegenbewegung' zur unausbleiblich bevorstehenden Nivellierung und Verkleinerung des modernen Menschen. Er macht eine .Gegenrechnung' auf, derzufolge die globale Industriegesellschaft nur als Investition für die Kultur großer Ausnahmemenschen .ökonomisch sinnvoll' ist. Im Strome des Werdens wird auch die von Nietzsche vorgestellte und angestrebte Herrschaft künftiger Großer wieder vergehen, wie die Macht aller Starken im Laufe der Geschichte vergangen ist. Die Dauer von Größe wird deshalb zum .ökonomischen Problem' Nietzsches. Nach seiner .Rechnung' rechtfertigt der Gewinn des Singulären, wie kurz es auch währen mag, alle .Verluste', die auf dem .ganzen Wege' zu ihm hin eintreten: für das Erreichen der Kultur der großen Einzelnen erscheint ihm kein Preis zu hoch. - Ist gar die Zeit .ein Kreis', der alles Geschehene wiederbringt, so ist die .Ewigkeit' des Vergänglichsten sogar .garantiert', wie sich freilich auch der Niedergang zum verachteten .letzten Menschen' endlos wiederholen wird. Im Dritten Teil der Abhandlung werden die für die Fragen nach Ökonomie und Dauer relevanten Aspekte des Gedankens der ewigen Wiederkunft des Gleichen erörtert. 5 Der späte Nietzsche nimmt Herrmanns Vorstellungen von der alle N a t u r - und Gesellschaftsprozesse kennzeichnenden .internen Wirtschaftlichkeit' in sein Verständnis des .Willens zur Macht' hinein. Er deutet schließlich sogar die Kreisbewegung durch die Art des Kraftverbrauchs: der .Aufstieg' durch .die immer sparsamer und weiter rechnende

5

sches Ausführungen, weil er von dessen Gesprächspartner Herrmann nichts weiß (er findet in ihnen den Utilitarismus von Stuart Mill zur Wirkung gebracht). Nietzsche hat Herrmann auch nicht genannt; Montinari hat diese Nietzsche-Rezeption Herrmanns entdeckt, ohne schon ihr Ausmaß und ihre Bedeutung erkennen zu können. Dabei wird der Primat der existentiellen Bedeutung des Wiederkunftsgedankens gegenüber seinem kosmologischen Sinn, den ich zuerst in meinem Nietzsche-Buch von 1971 dargestellt habe, verschärft zur Geltung gebracht und ausführlicher herausgearbeitet. Gelegenheit hierzu gibt mir die Auseinandersetzung mit Günter Abels Deutung (Abschnitt 22). Abel steht im Ausgang von der Vielheit von Willen zur Macht und vom Interpretationsgedanken meiner Auslegung besonders nahe, setzt sich aber im Hinblick auf Nietzsches Wiederkunftslehre entschieden von meinem Verständnis ab. Die Konsequenzen, die er aus Nietzsches Ausführungen zieht, stehen jedoch, wie ich darzulegen suche, in Widerstreit zu den Grundvoraussetzungen der Philosophie Nietzsches.

Vorwort

IX

Ökonomie' erfolgt bis zu einem durch den Menschen erreichten .Höhepunkt', der freilich mit nicht geringerer Notwendigkeit auch den Niedergang' nach sich zieht (auf den im unendlichen Kreislaufe aber der Wiederaufstieg immer wieder erfolgen soll). Nietzsche nimmt den Namen ,Gott' in solchen Fragmenten für den ökonomischen .Maximalzustand' bzw. als ,Kulminations-Moment' des Daseins in Anspruch. - Die ökonomische Deutung des Weltprozesses als eines unendlichen Kreislaufes ist über den Charakter von Aufzeichnungen zum zeitweilig geplanten Hauptwerk ,Der Wille zur Macht' nicht hinausgelangt. Man wird sie aber als den letzten und abgebrochenen Versuch Nietzsches ansehen müssen, seine ,Grundlehren' vom Willen zur Macht und von der .ewigen Wiederkunft des Gleichen' in ein Verhältnis der Zusammenstimmung zu bringen. Sein .Wille zur Macht' stellt sich schließlich als .Wille zur großen Ökonomie' dar, in dessen Zeichen er 1888 auch auf sein eigenes Leben zurückblickt. Teile der hier vorgelegten Arbeiten sind während eines Forschungsjahres entstanden, für das mir die Stiftung Volkswagenwerk 1988 ein Akademie-Stipendium gewährt hat. Die damals begonnenen Untersuchungen konnten nicht, wie vorgesehen, Anfang der neunziger Jahre abgeschlossen werden. Nach dem Tode Montinaris entstanden mir Verpflichtungen für die Fortführung der Kritischen Ausgaben der Werke und der Briefwechsel Nietzsches, die mich von meinen Publikationsplänen über mehrere Jahre abzogen. Erst in den letzten vier Jahren habe ich einen Teil der Arbeiten, die in dem Forschungsjahr begonnen wurden, abschließen können. Sie sind in den Zweiten Teil von Freiheit und Wille und in Über das .Ganze' und über ,Ganzheiten' eingeflossen. Der Stiftung Volkswagenwerk sei mein Dank für das damalige Stipendium ausgesprochen, im speziellen Herrn Dr. Axel Horstmann für sein Verständnis angesichts meiner Situation und für seine Geduld. Auch dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Herr Dr. Robert Cram und Frau Dr. Gertrud Grünkorn danke ich noch einmal für ihre Unterstützung meiner Arbeit. Für die Redaktionsarbeiten, für den Satz und für die beiden Register war wieder Johannes Neininger zuständig. Ich kann nur den Dank wiederholen, den ich im Vorwort zu Band I meiner Nietzsche-Interpretationen ausgesprochen habe. - Marco Brusotti danke ich für die begleitende Lektüre von Teilen der Abhandlung Über das .Ganze' und über .Ganzheiten'. - Für die Vorarbeiten zum Zweiten Teil dieser Abhandlung habe ich Unterstützung und kollegialen Rat von Hubert Treiber dankbar in Anspruch genommen. Er

χ

Vorwort

hat mir wichtige Materialien zu Emanuel Herrmann zur Verfügung gestellt und darüber hinaus Hinweise und Anregungen zur Problematik von .Gesellschaft und Bildung' im 19. Jahrhundert gegeben. Schließlich sei Frau Lakshmi Kotsch gedankt, die auch für diesen Band sorgfältig Korrektur gelesen hat. Berlin, den 11. Juli 1999

Wolfgang Müller-Lauter

Inhalt

Vorwort

V

1. Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik an Richard Wagner 2. Freiheit und Wille bei Nietzsche

1 25

Leitfaden für den Weg der Abhandlung

25

Erster Teil. Nietzsches Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit

29

1. Uber den ,intelligiblen Charakter' bei Kant und Schopenhauer 2. Uber Nietzsches Auffassung der ausschließlichen und durchgängigen Notwendigkeit allen Geschehens 3. Zur Genealogie des Bewußtseins von Verantwortlichkeit . . 4. Über den Widerstreit von Leben und Erkenntnis in Menschliches, Allzumenschliches

29 32 37

5. Nietzsches ,neue Freiheit' in ihrem Gegensatz zur Willensfreiheit

45

6. Von der täuschenden Isolation der Fakta

47

7. Von Herkunft und Macht der uns einverleibten Grundirrtümer 8. ,Neue Erkenntnis' und Einverleibung

51 54

9. Uber unseren Glauben an die Kausalität 10. Der Mensch als Vielheit und fingierte Ich-Einfachheit . . . . 11. Über den Irrtum von der Einfachheit des Willens Zweiter Teil. Über Freiheit und Wille zur Macht

41

62 67 71 75

12. Wille und Wille zur Macht

75

13. Wille zur Macht als Interpretation 14. Freiheit und Unfreiheit des Willens als Phänomene menschlichen Selbstverständnisses 15. Über ,hohe Zustände' und ihre Zusprechung

83 86 88

XII

Inhalt 16. Uber die Wiederherstellung der Unschuld des Werdens . . .

95

17. Uber den Willen zur Macht als Instinkt der Freiheit

104

18. Wille zur Macht und Wiederkunftsgedanke

109

Exkurse

114

Exkurs 1: Zum Thema .Kausalität und Willensfreiheit' bei Schopenhauer und Nietzsche

114

Exkurs 1.1: Zum Verhältnis von Phänomenalität und Beharrlichkeit bei Schopenhauer

114

Exkurs 1.2: Die Sonderung von Ursachen und Wirkungen nach Schopenhauer

117

Exkurs 2 (zu S. 58): Bemerkungen zum Unterschied des Verständnisses von Wahrheit und Wissenschaft im Dritten und Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft

120

Exkurs 3: Sartres ,Ableitung' des Determinismus aus der Selbstinterpretation des Menschen

123

Exkurs 4: Über die Gefühle von Freiheit und Macht

125

3 . Uber ,das Ganze' und über »Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie Leitfaden für den Weg der Abhandlung

131 131

Erster Teil: Das .Ganze' als Chaos und das Chaos im Menschen. Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Gestaltung . . . .

139

1. Das .Ganze' als Chaos. Erste Kennzeichnung des Problems

139

2. Das Ganze und der Mensch 3. Die mechanistische Welt und das Gegeneinander der Machtwillen

143

4. Der Mensch als Organisation und das Chaos im Menschen

148

146

5. Über die Bildung von gesellschaftlichen .Ganzheiten'

153

6. Gesellschaftsbildungen als .Machinalisationen'

158

7. Über große Politik und Erdherrschaft

167

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie 8. Die Ökonomie in Natur und Gesellschaft. Nietzsche und Emanuel Herrmann

173 173

9. Die Perioden des ökonomischen Aufstiegs der Menschheit nach E. Herr mann

186

Inhalt

XIII

Die Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde Nietzsches Verständnis von Arbeitsteilung als Ausbeutung . Zur »Verkleinerung des Menschen' Nietzsches eigene ökonomische Rechnung. Die Gegenbewegung zur wirtschaftlichen Gesamtmaschinerie 14. Die starken Menschen als Luxus-Überschuß der Menschheit 15. Uber die Dauerfähigkeit des »höheren Typus' Mensch . . . . Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme im Lichte des Wiederkunftsgedankens 16. Die Stellung des Menschen im Kreisgang der ewigen Wiederkunft des Gleichen 17. Das ,neue Mittel' gegen die Weltflucht und gegen das flüchtige Leben 18. Über Dauer und Wert menschlicher Existenz im Zeichen der Wiederkunft 19. Über die Vielheit und Gleichzeitigkeit von aufsteigenden und niedergehenden Lebensprozessen 20. Die Frage nach dem ,Wert des Gesamtlebens' 21. Über die Lehre als Theorie und den Glauben an die Wiederkunft 21.1. Zur Problematik der theoretischen Begründung der Wiederkunftslehre 21.2. Nietzsches Logik- und Wissenschaftskritik und die theoretische Begründbarkeit der Wiederkunftslehre . 21.3. Zum Verhältnis von theoretischer und ,existenzieller' Bedeutung des Wiederkunftsgedankens 22. Nietzsches Wiederkunftsgedanke in Günter Abels Phi losophie der Interpretation 22.1. Die Bedeutung Hegels für Abels Nietzsche-Deutung . 22.2. Die Urlogik des ,geschehens-logischen InterpretationsZirkels' 22.3. Der Mensch im Willen-zur-Macht-und-Interpretationsgeschehen 22.4. Einwände gegen Abels Deutung von Nietzsches Wiederkunftslehre

190 194 200

10. 11. 12. 13.

203 208 218 227 227 233 238 241 244 250 250 258 263 269 270 273 279 283

XIV 22.5. Nietzsches Relativierung des Interpretierens 22.6. Zur Problematik des Übergangs von der theoretisch- kosmologischen zur existenziellen Bedeutsamkeit der Wiederkunftslehre 22.7. Uber das existenzielle Ja-sagen zur ewigen Wiederkunft 23. Wiederkunftslehre und Ökonomie 23.1. Uber Gott als ökonomischen Maximalzustand und als Kulminationspunkt 23.2. Vergeistigung der Macht und Verdummung 23.3. Uber die Zweideutigkeit der Moderne 23.4. Uber den Willen zur Ökonomie großen Stils 23.5. Chaos und Labyrinth Exkurse Exkurse 1: Ergänzungen zur ökonomischen Problematik . . Exkurs 1.1 Biographische und bibliographische Hinweise auf Emanuel Herrmann Exkurs 1.2: Hinweise auf Herrmanns Verständnis von .Verbrauch' Exkurs 1.3: Religion, Liebe und Wirtschaft in Herrmanns .Cultur und Natur' Exkurs 1.4: Zur ökonomistischen Teleologie in Herrmanns Spätwerk. Ihr Gegensatz zu Roux' mechanistischer Auffassung und zu Nietzsches Willen-zur-Macht-Deutung des Organischen Exkurs 2: Die Probleme von Bildung und Spezialisierung beim frühen Nietzsche Exkurs 3: Zu Nietzsches Verständnis von ,Dauer' und .Erhaltung' Exkurs 4: Nietzsche und Eduard von Hartmann: Zur Bilanzierung des Gesamtprozesses des Lebens Exkurs 5: Zu Günter Abels Deutung des .existenziellen In-der-Welt-seins'des Übermenschen Exkurs 6: Zu Schopenhauers und Nietzsches Begriff von .Dummheit'

291

297 302 309 313 322 329 332 341 350 350 350 353 354

357 368 372 378 391 393

Exkurse

XV

Nachweise Siglen

413 415

Personenregister

417

Sachregister

420

Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik an Richard Wagner

I „Das sind keine Dinge, worüber ich Widerspruch zulasse. Ich bin, in Fragen der décadence, die höchste Instanz, die es jetzt auf Erden giebt", schreibt Nietzsche am 18. Oktober 1888 aus Turin an Malwida von Meysenbug, von deren Antwort auf die Zusendung von Der Fall Wagner er sich verletzt fühlte.1 Schon im Vorwort zu dieser Schrift hatte er angemerkt: Was ihn am tiefsten beschäftigt habe, sei das Problem der décadence; er habe Gründe dafür gehabt.2 Die Gründe reichen in die eigene Persönlichkeit hinab. Nietzsche versteht sich selbst als décadent, und dies in dreifacher Hinsicht: hereditär, im Rückblick auf die Morbidität des Vaters; lebensgeschichtlich, als in ungewöhnlichem Maße dem Kranksein ausgesetzt;3 schließlich als Kind seines Zeitalters, einer Zeit des Niedergangs.4 Erfahren in Fragen der décadence, hat er, wie er in Ecce homo schreibt, „sie vorwärts und rückwärts buchstabiert". Zugleich versteht sich Nietzsche als „Gegenstück eines décadent", als „im Grunde gesundWeil er beides ist, vermag er Perspektiven umzustellen": er kann „aus der Kranken-Optik" das Gesündere erblicken und umgekehrt aus dem Reichtum des Lebens „hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts". Wenn irgend worin, so ist er in dieser Übung, nach dem Zeugnis in Ecce homo, Meister geworden.5 Hat Nietzsche auch den Sachverhalt der décadence von früh an bedacht, so wird das Wort zu einem der zentralen Begriffe seines Philosophierens erst 1888, in seinem letzten Schaffensjahr. Vorbereitet wird dieser Gebrauch durch Nietzsches Lektüre des ersten Bandes von Paul Bourgets Essais de 1

2 3 4 5

Brief Nr. 1131; KGB III 5, 4 5 2 . - S. dazu auch Ecce homo, Der Fall Wagner 4 ; KGW VI 3, 361. Der Fall Wagner. Turiner Brief vom Mai 1888; KGW VI 3, 3. Ecce homo, Warum ich so weise bin; KGW VI 3, 262ff. Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur zweiten Ausgabe 2 - 3 ; KGW V 2, 17ff. Ecce homo, Warum ich so weise bin; KGW VI 3, 262ff.

2

Artistische décadence als physiologische décadence

psychologie contemporaine (1883), in welchem er den Begriff in einer spezifischen Weise verwendet gefunden hatte. Nietzsche hat Bourgets analytische Fähigkeit hoch geschätzt. Noch in einer seiner letzten Aufzeichnungen (Dezember 1888-Januar 1889) nennt er ihn „einen von der tiefen Rasse [...], der bei weitem am meisten von sich aus mir nahe gekommen ist". Das soll heißen, daß Bourget auf seinem eigenen Wege in die Nähe dessen geraten war, was auch Nietzsche bedachte. 6 Bourget beschreibt eine Bewegung der Auflösung insbesondere in der zeitgenössischen französischen Literatur. Auflösung dieser Art hatte Nietzsche selber in vielschichtigen Zusammenhängen erörtert. Daß seine eigenen Analysen in Abgründe hinabdrangen, die Bourget verschlossen geblieben waren, änderte nichts daran, daß er sich von diesem nicht nur angeregt, sondern auch bestätigt fühlte. So beeindruckte ihn Bourgets Charakterisierung der literarischen décadence in dessen Baudelaire-Essai. 7 Bourget erklärt dort die décadence als Vorgang der Verselbständigung untergeordneter Teile innerhalb eines Organismus. Dieser Vorgang hat .Anarchie' zur Folge. Die Sprache ist, wie die Gesellschaft, ein solcher Organismus. Bourget schreibt: „Un style de décadence est celui où l'unité du livre se décompose pour laisser la place à l'indépendance de la page, où la page se décompose pour laisser la place à l'indépendance de la phrase, et la phrase pour laisser la place à l'indépendance du mot. Les exemples foisonnent dans la littérature actuelle qui corroborent cette féconde vérité."8 Nietzsche fand diese Charakterisierung geeignet, um R. Wagners künstlerischen Stil zu kennzeichnen. Schon im Winter 1883/84 notiert er: „Stil des 6

7

8

Nachlaß, Dezember 1888-Anfang Januar 1889, 25[9]; KGW VIII 3, 456. - Vor dem Bruch mit Malwida v. Meysenbug, den der eingangs zitierte Brief einleitete, hatte Nietzsche mit der Ankündigung, er werde ihr drei Exemplare von Der Fall Wagner zusenden lassen, die Freundin um Rat bei der Suche nach einem Übersetzer der Schrift ins Französische gebeten. Dabei schreibt er: „Freilich, es müßte ein feiner, ein sogar raffinirter Stilist sein, um den Ton der Schrift wiederzugeben -"; und er bemerkt in Parenthese hierzu: „ - ich hätte diesen ganzen Sommer Anlaß gehabt, einen andren Rath einzuholen, den des Ms. Paul Bourget, der in meiner nächsten Nähe wohnte; aber er versteht nichts in rebus musicis: davon abgesehn wäre er der Uebersetzer, den ich brauchte -". (Brief vom 4. 10. 1888; KGB III 5, 447f.) Zu Nietzsches Baudelaire-Rezeption' s. unter diesem Titel die Ausführungen von Karl Pestalozzi, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), 158-178. S. dazu auch die dort anschließend abgedruckte Diskussion dieses Vortrags. Paul Bourget, Essai de psychologie contemporaine, Paris 1883, 2 1885, 25.

Artistische décadence als physiologische décadence

3

Verfalls bei Wagner: die einzelne Wendung wird souverän, die Unterordnung und Einordnung wird zufällig. Bourget p. 2 5 !" 9 In einem Brief an C. Fuchs vom Frühjahr 1 8 8 6 heißt es dann über Wagners Musik: „Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos, schließlich auch der esprit über den ,Sinn\ [...] man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf [...] Das aber ist décadence, ein Wort, das wie sich unter uns von selbst versteht, nicht verwerfen, sondern nur bezeichnen soll." 10 In Der Fall Wagner finden wir dann eine Abwandlung des zitierten Textes Bourgets: „Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr." Dies aber sei „das Gleichnis für jeden Stil der Décadence", fügt Nietzsche hinzu. 11

9 10 11

Nachlaß Winter 1883-1884, 24[6]; KGW VII 1, 688. Brief Nr. 688; KGB III 3, 177. Der Fall Wagner 7; KGW VI 3, 21. - Daß Nietzsche hier stillschweigend Formulierungen Bourgets verwendet hat, ist häufig diskutiert worden. Vgl. dazu J. Kamerbeek,, Sty le de décadence '. Généalogie d'une formule, in : Revue de littérature comparée 39 (1965), 268-286, hier: 273ff. - C. v. Westernhagen hat Nietzsche 1938 dieserhalb des Plagiats bezichtigt (Das Urbild des,Fall Wagner', Bayreuther Blättern 61 (1938), 174-183; wiederabgedruckt in: Richard Wagner, 1956, 509-523). Vgl. dazu zutreffend C. P. Janz: Aus der Übernahme von Formulierungen Bourgets durch Nietzsche zu schließen, „Nietzsches Gedanken seien überhaupt erst von Bourget angeregt, und Nietzsche habe sie nur aus Spaß an der glänzenden Formulierung übernommen, um etwa eine alte .Rechnung' mit Wagner zu begleichen, geht völlig am Grunde der Schrift vorbei." (Friedrich Nietzsche. Biographie, Zweiter Band, 606f.) - M. Montinari hat auf Nietzsches Variante hingewiesen: „[...] die Bewegung geht im Fall Wagner vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Wort zum Ganzen; in Bourgets Essais geht sie vom Ganzen und Allgemeinen, - vom Buch, - zum Einzelnen, - zum Wort. Sollen wir, wie es Ende des Jahrhunderts Sitte war (bei nicht intelligenten Wagnerianern wie Curt von Westernhagen auch später noch), von Plagiat reden? Oder das Recht des Genies auf Plünderung bemühen, mit dem obligaten Hinweis auf Goethe?" Montinari fordert statt dessen, daß die Problematik der décadence, vor der Nietzsche, Bourget und andere in ihrer Zeit standen, der historischen Betrachtung unterzogen werden sollte. (Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, hg. S. Bauschinger, S. L. Cocalis, S. Lennox,

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Artistische décadence als physiologische décadence II

Zunächst folge ich Nietzsches Beschreibung von Wagners artistischer décadence'. Sie soll die Darstellung von deren Verhältnis zu .physiologischen Gegebenheiten' vorbereiten. Dabei geht es mir allein darum, einen Beitrag zu Nietzsches Verständnis von décadence überhaupt vorzulegen. Deshalb klammere ich alle anderen Aspekte seiner vielschichtigen Auseinandersetzung mit Wagner aus. 12 Hauptsächlich orientiere ich mich an Der Fall Wagner und an dem Nachlaß von 1888. Nicht wenige der für mein Thema relevanten .Einwände' Nietzsches gegen Wagner finden sich schon in früheren Schriften oder Aufzeichnungen Nietzsches (schon in Notizen von 1874 gibt es erste Ansätze dazu), also noch bevor sie unter den décadence-Begriff gebracht wurden. Einige der früheren Texte hat er bekanntlich in seine .Zusammenstellung' Nietzsche contra Wagner aufgenommen. Da für die hier zu erörternde Problematik Nietzsches letzter Schaffensphase besondere Bedeutung zukommt, wird (in wenigen Fällen) auf diese späte Text-Auswahl verwiesen, ohne die frühere Veröffentlichung zu nennen. Daß im Stil der décadence der Teil sich gegenüber dem Ganzen verselbständigt, ja .souverän' wird, offenbart den Mangel an Organisationskraft. Der Vorwurf der „Unfähigkeit zum organischen Gestalten" bildet daher auch Nietzsches Haupteinwand gegen Wagners Kunst. „Wagner konnte nicht aus dem Ganzen schaffen, er hatte gar keine Wahl, er mußte Stückwerk machen." Als Miniaturist, der „kleine Kostbarkeiten" geschaffen hat: „lauter kurze Sachen von fünf bis fünfzehn Takten", mag Wagner groß sein. Aber die kleinen, voneinander getrennten Einheiten, die er heraustreibt, erzeugen in ihrem Nacheinander eine Unruhe der Optik, die zum ständigen Wechsel der Stellung

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Bern/Stuttgart 1988, 1 3 7 - 1 4 8 , hier: 145f.) Erwähnung wenigstens verdient der Hinweis darauf, daß Nietzsche im Pessimismus der französischen Spätromantik das gleiche Syndrom von décadence-Phânomenen findet wie bei Wagner. Wenn er sich 1888 fragt, „ob überhaupt schon Jemand dagewesen ist, modern, morbid, vielfach und krumm genug, um als vorbereitet für das Problem Wagner zu gelten", so denkt er an Frankreich und hier an Baudelaire und an die Brüder Goncourt. „Die Sensibilität Wagner's gehört nicht nach Deutschland: man trifft sie wieder unter den Nächstverwandten Wagner's, den französischen Romantikern". Man wolle es noch nicht wahr haben, „wie viel Wagner Frankreich verdankt, wie sehr er selbst nach Paris gehört." (Nachlaß Frühjahr 1888, 15[6] 1, 7, 8; KGW VIII 3, 197f., 201f.)

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vor seinen Werken nötigt.13 Es sind im Grunde vertonte Gebärden, durch Musik verstärkte Attitüden, aus denen sich die wilde Vielheit, eine überwältigende, sinnenverwirrende Masse, zusammensetzt:14 Wagner gehört Nietzsche zufolge als Musiker unter die Maler.15 Der Hinweis auf das Gedränge der ,kleinen Einheiten' ist allerdings unzureichend, um Nietzsches Verständnis von Wagners décadence zu kennzeichnen. Wichtiger noch ist „die Überlebendigkeit im Kleinsten",16 der Bedeutungsaufwand, der mit ihm getrieben wird. Die einzelne Gebärde wird pathetisch in die Länge gezogen,17 wiederholt und vergrößert. Es sei „Wagners Ehrgeiz, auch die Idioten zu zwingen, Wagner zu verstehen".18 Wagner „sagt Ein Ding so oft, bis man verzweifelt, - bis man's glaubt". Unter dem „Vergrößerungsglas", das er uns anbietet, wachsen ,die Dinge' bis ins Gigantische. Extreme Gefühle sollen erzeugt werden, an unsere Nerven rühren: das Erhabene und das Leidenschaftliche, und zwar in der Form, die „das décadence-Ideal verlangt": dem „espressivo um jeden Preis". Derartige künstliche Aufladungen sollen den Mangel an Organisation überspielen. Aber selbst die Zusammensetzung von als bedeutend auftretenden Gebärden ergibt nur ein Artefakt, kein lebendiges Ganzes.19 Gewissermaßen als Ersatz dafür bietet Wagner die Idee der Unendlichkeit an, die seine Musik .bedeute', auf die sie das Ahnen hinweise.20

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Der Fall Wagner 7 , 1 0 ; KGW VI 3, 21f., 29. Vgl. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [322]; KGW VIII 2, 377, Nachlaß Frühjahr 1888, 15[12]; KGW VIII 3, 205.

14

Der Fall Wagner 7; a.a.O., 22; vgl. Nachlaß Herbst 1887, 10[37]; KGW VIII 2, 139. Jenseits von Gut und Böse, Aph. 256. Der Fall Wagner 2. Nachschrift, vgl. 7; a.a.O., 41, vgl. 21. - Immer wieder fällt ihm dazu dér Analytiker Bourget ein, auf den er sich hinsichtlich von Wagners Musik wie folgt bezieht: „ - diese unsinnige Uberladung mit Details, diese Unterstreichung der kleinen Züge, der Mosaik-Effekt" (Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [321]; KGW VIII 2, 376). Der Fall Wagner 8; a.a.O., 23f. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[63]; KGW VIII 3, 41. Der Fall Wagner 1, 3, 6, 11, 7; a.a.O., 8, 10, 18f., 32, 21. Der Fall Wagner 10, vgl. 6; a.a.O., 30, vgl. 18; s. auch Nietzsches Brief an C. Fuchs vom Frühjahr 1886, a.a.O. [Anm. 10] - Es überrascht, hier zu lesen, daß Wagner hinsichtlich der Unendlichkeits-Idee Hegel verpflichtet sei. Westernhagen hat auch hier den Einfluß Bourgets am Werke gesehen: Weil sich für diesen das Dunstige des deutschen Geistes im Hegelianismus repräsentierte, habe Nietzsche Wagner mit Hegel zusammengestellt, wobei er in solcher Aufnahme das einzige Deutsche bei

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,7 18 15 20

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Mit all dem sucht Nietzsche das Fehlen der inneren Einheit und Geschlossenheit in der Kunst Wagners offenkundig zu machen. Er tut ein übriges, wenn er dieser die Vollkommenheit' der Musik Bizets entgegenhält. Diese „ist reich. Sie ist präzis. Sie baut, organisiert, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur .unendlichen Melodie'". 21

III Daß Nietzsche nicht bei der décadence Wagners als einem ästhetischen Phänomen stehenbleibt, wird in seinem Rekurs auf dessen Persönlichkeit deutlich. Die Ästhetik sei an biologische Voraussetzungen gebunden, heißt es im Epilog zu Der Fall Wagner. „Die Prinzipien und Praktiken Wagners sind allesamt zurückführbar ani physiologische Notstände: sie sind deren Ausdruck (.Hysterismus' als Musik)". 22 Das soll sich auf jede einzelne Verderbnis der durch Wagner inaugurierten Kunst beziehen. Worin besteht die décadence nun nicht mehr nur der Kunst, sondern des Künstlers Wagner? Nietzsche faßt

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22

Wagner (gegenüber dem sonst herausgestellten Französischen) gesehen habe (Richard Wagner, a.a.O., 513f.). Der Fall Wagner 1 ; a.a.O., 7f. - Gelegentlich geht Nietzsche über solche polemische Entgegensetzungen hinaus und zweifelt die Fähigkeit der Musik überhaupt an, zum großen Stil zu gelangen. Der große Stil verschmäht die .schönen Gefühle', er will nicht überreden. Er befiehlt. Durch sein Wollen wird das Chaos gezwungen, „Form zu werden [...]: logisch, einfach, unzweideutig". „Mathematik", „Gesetzwerden -s das ist hier die große Ambition", mit der man nicht gefällt, sondern zurückstößt. Nietzsche fragt: Warum fehlen die Ambitiösen des großen Stils gerade in der Musik? „Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf." Zum Charakter .unserer ganzen Musik' gehöre, „Gegenrenaissance in der Kunst" und „décadence als Gesellschafts-Ausdruck" zu sein (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[61]; KGW VIII 3, 38ff.). - Die für Nietzsches Verständnis der artistischen décadence in der Musik maßgeblichen Bestimmungen bedürfen der Sonderung von seinen persönlichen musikalischen Wertschätzungen. Letztere wird man vielleicht auf sich beruhen lassen müssen, z. B. wenn man in einer Aufzeichnung aus dem Frühjahr 1888 liest, die beste moderne Oper stamme von Köselitz, dann folge Bizets Carmen, an dritter Stelle Wagners Meistersinger, „ein Meisterstück des Dilettantismus" (Nachlaß, Frühjahr 1888, 15[96]; KGW VIII 3, 257). Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 16[75]; KGW VIII3, 306. Vgl. Der Fall Wagner 7; a.a.O., 20f.

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dessen .Merkmale' unter dem Begriff des Schauspielers zusammen. Schon in seiner Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung hatte er von der schauspielerischen „Urbegabung" Wagners gesprochen, die sich „den Zugang zu den anderen Künsten gewaltsam erbrach, um so endlich mit hundertfacher Deutlichkeit sich mitzutheilen und sich Verständniss, volksthümliches Verständniss zu erzwingen".23 Das ist wohl schon damals nicht so positiv gemeint, wie es im Kontext klingt. Später ist für Nietzsche Wagners Beweglichkeit in der Vielfalt gerade nicht ein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche, genauer: von einer Schwäche, die sich als Stärke aufspielt. Weil Wagner zur Musik wie ein Schauspieler stehe, deshalb könne er gewissermaßen aus verschiedenen Musikerseelen sprechen und ganz Divergentes nebeneinanderstellen. Er war nach Nietzsche haltlos, was wir uns in Analogie zu dem über seine Werke Gehörten so auslegen dürfen: Ihm war keine die Einheit seiner Persönlichkeit organisch konstituierende Kraft gegeben. Der solchermaßen Halt-lose findet in dem, was am heftigsten wirkt, den Ersatz für das wahrhaft Wirkliche. Wagner „will nichts als die Wirkung". Von daher versteht sich seine „Theater-Rhetorik", zu deren Mitteln u. a. die „Gebärden-Verstärkung" und die „Suggestion" gehören. In allen anderen Zuständen als denen der höchsten Affekte sieht er Schwäche und Unwahrheit. „Tyrann durch sein Pathos", ausgestattet mit einem „beinahe unheimlichen Bewußtsein von allem Elementarischen in der Wirkung der Musik", ist Wagner für Nietzsche schließlich der größte „Meister der Hypnotisierung".24 Hieraus resultiert seine breite Wirkung. Nietzsche sieht sie zugleich als tiefgehend an. Sie erschöpft sich nicht in einer bloß ästhetischen Resonanz. Der Schauspieler Wagner ist „ein Verführer grossen Stils": „Es giebt nichts Müdes, nichts Abgelebtes, nichts Lebensgefährliches und Weltverleumderisches in Dingen des Geistes, das von seiner Kunst nicht heimlich in Schutz genommen würde [...] Er schmeichelt jedem nihilistischen ( - buddhistischen) Instinkte und verkleidet ihn in Musik, er schmeichelt jeder Christlichkeit, jeder religiösen Ausdrucksform der décadence." Die Kunst Wagners, verwurzelt in der physiologischen décadence, unterstützt die anderen Ausdrucksweisen des niedergehenden Lebens. Mehr noch: sie fördert den Niedergang. „Den Erschöpften lockt das Schädliche [...] Wagner vermehrt die Erschöpfung: deshalb zieht er die Schwachen und Erschöpften an".25 Denn dies gilt für jeden Typus 23 24

25

R. Wagner in Bayreuth 7; KGWIV 1,39f. Der Fall Wagner 7 , 9 ; a.a.O., 20ff., 26ff. Der Fall Wagner 8; a.a.O., 23ff. - Nachlaß Frühjahr 1888, 15[6] 4 ; KGW VIII 3, 199. Der Fall Wagner, Nachschrift 5; a.a.O., 36f., vgl. 16.

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der décadence: der Schwache schadet sich instinktiv selber, und zwar „sowohl physiologisch, als psychologisch: der Instinkt der Reparation und Plastik fungirt nicht mehr". Der fehlgeleitete Instinkt wählt sogar, was die Erschöpfung beschleunigt.16

IV Sehen wir zu, wie weit Nietzsche die Reduktion des Artistischen auf das Physiologische treibt. Wagner stellt ihm zufolge nicht nur seine eigenen .physiologischen Notstände' dar, er versetzt auch seine Hörer in solche. Nietzsche spricht aus eigener Erfahrung, wenn er die somatischen Folgen des Hörens Wagnerscher Musik aufführt: „Unregelmäßiges Athmen, Störung des Blutumlaufs, extreme Irritabilität mit plötzlichem Coma". Das sehr Persönliche wird notiert: „Wie kommt es eigentlich, daß Wagners Musik mich depotenziert, daß sie mir eine physiologische Ungeduld erregt, welche sich zuletzt in einem sanften Schweiße kundgiebt? Nach einem, höchstens nach zwei Akten Wagner laufe ich davon." Nietzsche findet, sein Erleben verallgemeinernd, „Ursachen für die extreme Erschöpfung, welche Wagners Kunst mit sich bringt", in der „veränderliche [n] Optik" und im „physiologische[n] Widerstand", wobei er „Athem" und „Gang" ausdrücklich anführt; in der „beständige fn] Ubertreibung" dieser Musik .entdeckt' er „die tyrannische Hinterabsicht: die Reizung der morbiden Nerven und der Centren durch terroristische Mittel". Die Wirkung Wagners ist, ihres Pathos wegen, „tief, sie ist vor allem centnerschwer". Die erfahrene Atemnot wird auf die „Länge dieses Pathos" zurückgeführt, Wagners musikalisches „Atemanhalten" ist es, das jene hervorruft.27

26

27

Der Fall Wagner 5; a.a.O., 16. - Nachlaß Frühjahr 1888, 14[102], 14[210], Mai-Juni 1888, 17[1], 17[6]; KGW VIII 3, 71, 181, 317, 325. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 16[75], Frühjahr 1888, 15[111], 15[12], Frühjahr-Sommer 1888, 16[37]; KGW VIII 3, 307, 265, 205f., 292f. -DerFall Wagner 7, 8; a.a.O., 21, 23f. Vgl. Nietzsche contra Wagner, W o ich Einwände mache; a.a.O., 416f.

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Nietzsche erhebt seinen physiologischen Widerstand zur physiologischen Widerlegung Wagners.28 Macht das Kranke krank, 29 so muß es bekämpft werden. Die Wagnerschen Heldinnen sind nach Nietzsche allesamt Krankheitsfälle30 (selbst Eva in den Meistersingern müßte „unfehlbar unter psychiatrische Aufsicht" gestellt werden), welche freilich, ihrer Naturwahrheit „bis zum Widerlichen" eingedenk, für „eine psychologisch-physiologische Analyse kranker Zustände" auch in Zukunft Bedeutung behalten sollen.31 Deshalb steht es insbesondere „dem Philosophen [...] nicht frei, Wagner's zu entrathen". Hat doch der Philosoph „das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein, - dazu muß er deren bestes Wissen haben". „Einen eingeweihteren Führer" in „das Labyrinth der modernen Seele" als Wagner könnte er nicht finden. 32

V

Doch nicht nur in der Moderne soll der Philosoph die psychologischen und letztlich die physiologischen Niedergangserscheinungen auffinden können. Die Philosophie selbst ist schon seit Sokrates auf dem Wege der Verderbnis. Das Deutungsschema, das sich in Hinsicht auf Wagners artistische décadence bewährt, soll auch die philosophische décadence der Griechen entlarven helfen. Der Mangel an organischer Einheit, der letztlich auf physiologische décadence verweisen soll, wird von Nietzsche auch am „Problem des Sokrates" in Götzen-Dämmerung herausgestellt, deren Veröffentlichung er dem Fall Wagner folgen ließ. Er spricht hier, über seine frühen Äußerungen zur Instinktfeindlichkeit des Sokrates hinausgehend, von dessen „Wüstheit und Anarchie in den Instinkten".33 28

29

30 31 32

33

Nachlaß Frühjahr 1888, 15[111], Frühjahr-Sommer 1888,16[75], 16[80]; KGW VIII 3, 265, 307, 309. Vgl. Der Fall Wagner, Nachschrift, Epilog; a.a.O., 34, 45. Der Fall Wagner 5; a.a.O., 15ff. - Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 16[75]; KGW VIII 3, 307. Der Fall Wagner, Vorwort; a.a.O., 4. Nachlaß Frühjahr 1888, 15[99]; KGW VIII 3, 259f. Der Fall Wagner, Vorwort; a.a.O., 4. - Die physiologische Widerlegung von Wagners Kunst verringert nicht Nietzsches .Interesse' an ihr. „Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein Glücksfall": Er gestattet „eine Diagnostik der modernen Seele" in ihrer „Instinkt-Widersprüchlichkeit" (Epilog, a.a.O., 47). Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates 4; KGW VI 3,63. - Vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[92]; KGW VIII 3, 61f.

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Schon im Anschluß an die Bourget-Paraphrase im Fall Wagner hatte Nietzsche von der „Anarchie der Atome" und von der „Disgregation des Willens" als Kennzeichen jeder décadence gesprochen.34 Solchen Zerfall hatte er bei Wagner hinter dem Ungefügen der getrennten musikalischen Einheiten, hinter wilden Vielheiten gefunden. Die Bewegung der décadence treibe bei Wagner in die Gefühlsübersteigerung, ins Rauschhafte. Die sokratische Bewegung gehe in die entgegengesetzte Richtung, aber auch sie sei eine Bewegung des Zerfalls. Ist Wagner für Nietzsche Tyrann durch sein Pathos, so ist Sokrates Tyrann durch die Dialektik seiner moralbegründenden Vernunft. Nicht nur er selbst bedurfte dieser Tyrannei; das ganze zuende gehende alte Athen begann an der gleichen Krankheit zu leiden. „Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten." Sokrates wird Herr über die Instinkte, indem er „gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz" herstellt. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang, einen Begriff aus Die Geburt der Tragödie wieder aufnehmend, von der „Superfötation des Logischen" bei Sokrates.35 Die anomal wuchernde Vernunft kämpft gegen die Instinkte und schwächt sie. Damit wird das organische Zusammenwirken der physiologischen Funktionen gestört. Es bleibt bei der décadence, sie nimmt nur eine andere Ausdrucksform an. Sokrates ist ein Arzt, der nur scheinbar kuriert. Zwar bewahrt seine Medikation vor dem Zugrundegehen an dem Gegeneinander der Instinkte. Aber sie zögert den Verfall nur hinaus. Der Arzt, der mit der décadence ein Ende macht, ist nicht Sokrates, sondern der Tod. Zuletzt wollte Sokrates sterben: vielleicht weil er wußte, daß er damit der innersten Intention der décadence entsprach.36

VI Sokrates steht in Götzen-Dämmerung als Repräsentant für die Lebensmüdigkeit der Weisesten aller Zeiten. Entsprechungen zu dem, was Nietzsche über

34 35 36

Der Fall Wagner 7; a.a.O., 21. Die Geburt der Tragödie 13; KGW III 1, 86. Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates 4; a.a.O., 6 3 - 6 7 .

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ihn sagt, treffen wir in seinen Ausführungen zur religiösen décadence an. Dies gilt besonders für den von ihm als Typus herausgestellten asketischen Priester, von dem es in Zur Genealogie der Moral heißt, er habe „bis auf die neueste Zeit die widrige und düstere Raupenform abgegeben, unter der allein die Philosophie leben durfte und herumschlich".37 Wenn Nietzsche von der .Praxis' des asketischen Priesters spricht, so hat er jenen Verzögerungseffelct vor Augen, den er später im Blick auf Sokrates beschrieben hat: Vermeidung des plötzlichen Zerfalls durch Umwandlung der Bewegung in einen allmählichen Verfall. Als Hirt einer Herde von Kranken tritt der Priester zugleich als Arzt auf. Die Mittel, die er anwendet, seien hier nicht im einzelnen aufgeführt.38 Wesentlich ist nach Nietzsche, daß der Priester mit seiner „Affekt-Medikation" nicht heilt. Er mildert nur das Leiden durch Praktiken sehr unterschiedlicher Art, ζ. B. durch Hypnotisierung, welche das Lebensgefühl dämpft, oder durch Steigerung eines Affekts zur Gefühlsausschweifung, wodurch die Unlust zeitweilig zurückgedrängt wird. Die Analogien zum Artistischen, wie Nietzsche es im Hinblick auf Wagners décadence herausarbeitet, liegen auf der Hand. Der asketische Priester bekämpft nicht die Ursache des Leidens der Kranken, insofern ist er nicht Arzt. Um Krankenwärter sein zu können (in dem Sinne, wie er es sein kann), muß er selber krank sein: den Kranken „von Grund aus verwandt, um sie zu verstehen, - um sich mit ihnen zu verstehen".39 Auch diese Relation wird von Nietzsche für das Verständnis der Wirkung Wagners in Anspruch genommen, wie oben dargelegt worden ist. Angesichts der Radikalität der Aufgabe, welcher der asketische Priester sich stellen muß, ist die Bedeutung der artistischen décadence vergleichsweise geringer. Geht es jenem doch darum, dem Leiden durch seine Auslegung einen Sinn zu geben, um die Tür „vor allem selbstmörderischen Nihilismus" zuzuschließen. Freilich kommt an die Stelle des raschen Endes nun „neues Leiden [...], tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes". In ihm ist der Wille zum Nichts wirksam.40 Allerdings kann der Künstler im Dienst asketischer Ideale eine eigene, besonders wirksame Tätigkeit entfalten. Dies ist beim späten Wagner der Fall. In Zur Genealogie der Moral geht Nietzsche Wagners Weg philosophi37 38

39 A0

Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 10; KGW VI 2, 379. S. dazu Vf., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, 7 2 - 8 0 . Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 1 5 - 2 0 ; a.a.O., 3 9 0 - 4 0 8 . Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 28 ; a.a.O., 429f. - Zum Willen zum Nichts vgl. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 38], 74ff.

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scher Rezeption von Feuerbach zu Schopenhauer nach. Letzterer wird dabei, als „ein wirklich auf sich gestellter Geist [...], ein Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Muth zu sich selber hat, der allein zu stehn weiss", von Wagner deutlich geschieden, der als ein Nachtreter, ohne „den Rückhalt, den ihm die Philosophie Schopenhauer's bot", nie „den Muth zu einem asketischen Ideal gehabt hätte". Hinsichtlich ihrer Ernsthaftigkeit tritt Wagners artistische décadence ein weiteres Mal hinter der philosophischen décadence zurück, insofern ihm Nietzsche unterstellt, er habe nur auf dem Umweg über Schopenhauers Hochschätzung der Kunst, insbesondere der Musik, welche „die Sprache des Willens selbst" reden soll, dessen philosophische Ideale übernommen. Mit der Schopenhauerischen „Werthsteigerung der Musik", mit deren „Souverainetät" gegenüber den anderen Künsten stieg, wie Nietzsche sarkastisch bemerkt, „auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des ,Αη-sich' der Dinge, ein Telephon des Jenseits, - er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, - er redete Metaphysik: was Wunder, dass er endlich eines Tags asketische Ideale redete?" 41 Durch Schopenhauer wurde Wagner „erlöst", heißt es in Der Fall "Wagner·. „Die Wohlthat, die Wagner Schopenhauern verdankt, ist unermesslich. Erst der Philosoph der décadence gab dem Künstler der décadence sich selbst-".42

VII Solche Polemik Nietzsches, die auf Wagners,Allzumenschliches' hinweist, verdeckt freilich die Frage nach dem Verhältnis zwischen artistischer und physiologischer décadence, auf die es hier ankommt. Diese Frage fordert vor allem eine Klärung von Nietzsches Begriff der Physiologie. Seine Bedeutung ist durchaus nicht eindeutig. Drei allgemeine Bestimmungen lassen sich

41 42

Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 2 - 5 ; a.a.O., 3 5 8 - 3 6 4 . Der Fall Wagner 4; a.a.O., 15. - Gegen „den geschmacklosen Versuch [...], Wagner und Schopenhauer unter die Geisteskranken zu subsumiren", wendet sich Nietzsche. „Was der Wahrheit ganz entsprach, war die scharfe Betonung der physiologischen décadence in ihrem Typus hervorzuheben ..." (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[222]; KGW VIII 3, 187; vgl. a.a.O., 15[35]; KGW VIII 3, 223).

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herausstellen. Sie gehen häufig ineinander über. Ihr Zusammenhang läßt sich aber als durchaus plausibel aufweisen. Erstens folgt Nietzsche dem Gebrauch des Wortes Physiologie durch die zeitgenössischen Wissenschaften. Er hat sich mit diesbezüglicher Literatur unterschiedlichen Niveaus in beachtlichem Maße vertraut gemacht. Obwohl ihm naturwissenschaftliche Fachkenntnisse fehlten, hat er mit Hilfe seines differenzierten methodologischen Problembewußtseins wissenschaftstheoretisch relevante Grundlagenfragen auf eine Weise zu beantworten versucht, deren Bedeutung bisher nicht zureichend gewürdigt worden ist. Zweitens ist für Nietzsche das Physiologische das die Menschen somatisch Bestimmende. Es trägt deren faktisches Selbstverständnis maßgebend mit, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind. Häufig steht der Begriff für die organischen Funktionen oder für das Affektive im Sinne des leibhaft Unmittelbaren. Nur angemerkt werden kann, daß Nietzsches leibbezogene Selbsterfahrungen, insbesondere die Erfahrungen seiner Krankheit, dieses Verständnis von ,Physiologie' tragen. Vor allem von ihnen geleitet, hat er medizinische Studien getrieben und auch ,mit sich selbst experimentiert'.43 - Die philosophische Durchdringung seiner diesbezüglichen Erfahrungen (und seiner Lektüren) hat Nietzsche zur Ausarbeitung seiner dritten Bestimmung von Physiologie geführt. Er gelangt zur Deutung der physiologischen Prozesse als der Kämpfe von einander .interpretierenden' Machtquanten (Willen zur Macht). Aus dem Gegeneinander der Vielheit von Machtwillen in einem Wesen resultiert seine jeweilige Stärke oder Schwäche im Lebenskampf. Der Leib selber ist nach Nietzsches differenzierten Ausführungen eine „ungeheure Synthesis von lebendigen Wesen und Intellekten" in einem; „es giebt also im Menschen so viele .Bewußtseins' als es Wesen giebt, [...] die seinen Leib constituiren".44 Der Mensch wird dabei als Vielheit von ,Willen zur Macht' verstanden, von denen jeder über eine Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen verfügt.45 Für deren „Zusammenwirken" ist „das, was wir ,Leib' nennen, das beste Gleichniß", - und nicht mehr.46

43

44 45 46

Vgl. dazu P. D. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990, insbes. Teil I, 2 8 - 2 0 0 . Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4] ; KGW VII 3, 303f. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[58]; KGW VIII 1, 21. Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4] 3; KGW VII 3, 303.

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Auch ,Leib' ist demnach nur ein Name, keineswegs ein Letztgegebenes. Was wir so nennen, ist keine stabile Einheit, sondern zeitweilige und in ständigem Wechsel begriffene Einigung von Vielen. Die Vielheit ist dabei zugleich Interpretation, und zwar in doppeltem Sinne. Sie interpretiert sich selbst im aus-legenden Bezogensein der Vielen aufeinander und auf das ihr Entgegenstehende. Dieses versteht sie von sich selbst her. Sie ist aber auch in einem anderen Sinne Interpretation, nämlich Interpretation des Leibes durch den Philosophen. Nietzsche hat das Faktische der physiologischen Abläufe' mit dem interpretierenden Charakter allen Daseins zusammengedacht. Ob solches Zusammendenken nicht einen .dritten', das von ihm Vorausgesetzte überschreitenden Standpunkt der Interpretation erforderlich macht, bleibe hier dahingestellt.47 Folgt man Nietzsches Rede vom Physiologischen auf ,den Grund' seiner tiefer dringenden Erkenntnis, so trifft man auf die Struktur hierarchisch abgestimmter Organisationen und nicht auf eine im vordergründigen Sinne physiologische Wirklichkeitsdeutung. Zweifellos hat Nietzsche dem Leib immer wieder Priorität vor ,dem Geist', vor ,dem Bewußtsein' zugesprochen, besonders in der Polemik gegen ,idealistische' Auffassungen. Auch viele seiner Überlegungen zur Züchtung eines höheren Menschentypus gehen davon aus, daß das Geistige dem Leiblichen nur nachfolge (oder aus ihm hervorgehe). Zeitweilig - und vor allem in Nietzsches letztem Schaffensjahr - dominiert eine physiologistische Denkweise, in der alle artistische décadence auf biologische Entartung zurückgeführt wird. Es kommt darauf an, Nietzsches Einsicht in den Charakter der ganzheitlichen Strukturiertheit alles Seienden, die er durch seine Bourget-Lektüre bestätigt gefunden hatte, auf eine Weise zur Geltung zu bringen, in der das Geistige und das Künstlerische nicht nur als Ergebnisse oder auch Symptome einer körperlichen Verfassung verstanden werden. So kann man den späten Nietzsche, der Wagners Werk gewissermaßen monokausal auf Wagners physiologische Verfassung zurückführt, durch den früheren Nietzsche korrigieren. Noch in Zur Genealogie der Moral hatte es geheißen, man tue 47

Jedenfalls steht der Nietzsche der interpretativen Offenheit gegen den Nietzsche des bornierten Physiologismus, von dem im folgenden die Rede sein wird. Im Offenhalten des Philosophierens allein, das durchaus nicht der Beliebigkeit freisteht, sondern eine eigene Strenge der Besinnung verlangt, liegt m. E. die besondere Bedeutung des Denkens Nietzsches. - Zu Nietzsches sowohl radikalem als auch umfassendem Verständnis von Interpretation vgl. Vf., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche - Interpretationen I, S. 68-88.

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„gewiss am besten, einen Künstler in so weit von seinem Werke zu trennen, dass man ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk". Sei er doch „zuletzt nur" dessen „Vorausbedingung" „der Mutterschoos, der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf dem, aus dem es wächst". Mit einer solchen Ausführung trägt Nietzsche den besonderen Bildungen Rechnung, die im Werk anzutreffen sind und anderes verraten als die in der Leiblichkeit seines Schöpfers gegebenen Bedingtheiten. Nietzsche schreibt weiter: Man solle sich „vor der Verwechselung hüten, in welche ein Künstler nur zu leicht selbst geräth, aus physiologischer contiguity, mit den Engländern zu reden: wie als ob er selber das wäre, was er darstellen, ausdenken, ausdrücken kann. Thatsächlich steht es so, daß, wenn er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde; ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und Goethe ein Faust gewesen wäre." Indem Nietzsche solche Distanz zum Wirklichen auf „die typische Velleität des Künstlers" zurückführt, kann er sich Wagners .Ausgestaltung' des Parsival erklären48. Daran, daß er mit sich selbst in Widerspruch gerät, wenn er jene Velleität (die ,physiologisch' nicht anders denn als eine Weise von décadence verstanden werden kann) auf die Künstler überhaupt - und dabei auch auf Goethe ausdehnt, wird im folgenden noch anzuknüpfen sein. Soweit Nietzsche keine bloße Abhängigkeit der artistischen décadence von der physiologischen behauptet, sondern nur Entsprechungsverhältnisse zwischen beiden konstatiert, bleibt er seiner Ausarbeitung der Komplexität allen Geschehens verbunden. Diese Ausarbeitung, welche jede (immer nur scheinbare) Einfachheit von Letztgegebenheiten unterläuft, dient auch Nietzsche für seine Kritik an den mechanistischen wie den teleologischen Denkschemata der wissenschaftlichen Diskussionen seiner Zeit. 49

VIII In Nietzsches Schriften und Nachlaßaufzeichnungen von 1888/89 treffen wir auf den vergröbernden Umgang mit physiologischen Bestimmungen, wie

48 49

Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 4 ; KGW VI 2, 361f. S. dazu Vf., Der Organismus als innerer Kampf, in: Nietzsche - Interpretationen I, S.llöff.

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er uns schon in bezug auf Wagner begegnet ist, in besonderem Maße. 50 Dabei reduziert er nicht nur die geistigen Vorgänge auf ihr angebliches physiologisches Fundament. Er entwickelt vielmehr darüber hinaus eine Vorliebe für zeitgenössische medizinische Applikationen, mit welchen er die fest eingewurzelten moralischen Instanzen, deren allmähliches Entstehen und deren Verfestigung in der Menschheitsgeschichte er selbst früher ausführlich beschrieben hat, bekämpfen will. So empfiehlt er „die Behandlung des Gewissensbisses mit der Mitchells-Kur". 51 50

Dabei ist zu beachten, daß Nietzsche von Begriffen aus der Physiologie und der Pathologie in den späten achtziger Jahren mehrfachen Gebrauch macht. B. Wahrig-Schmidt stellt drei Funktionen heraus, zu denen er sich medizinischer Metaphern bedient: erstens in überwiegend rhetorischer Absicht, zweitens zur Inanspruchnahme exakter Wissenschaften für seine philosophischen Argumentationen, drittens zu „einer ausführlichen und ernsthaften Auseinandersetzung mit den Einzelwissenschaften der Zeit" (,Irgendwie, jedenfalls physiologisch'. Friedrich Nietzsche, Alexandre Herzen (fils) und Charles Féré 1888, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 434-464, hier: 438f.). - Der zweite und dritte Gebrauch werden sich allerdings nur in Einzelfällen von einander unterscheiden lassen, eines dient hier dem anderen. Auch steckt im scheinbar nur Rhetorischen bei Nietzsche meist mehr als eben dieses, und noch seine härtesten physiologisch-philosophischen Sachaussagen erwecken den Eindruck, als seien sie vor allem rhetorisch gemeint. Jedenfalls muß man berücksichtigen, wie M. Stingelin hervorhebt, daß Nietzsche sich gleichzeitig in verschiedenen Diskurs-Bereichen bewegt. „Grenzüberschreitungen" gehören zu seinem Denken. {.Moral und Physiologie'. Nietzsches Grenzverkehr zwischen den Diskursen, in: Technopathologien, hg. B. J. Dotzler, München 1991, 41-57)

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Nachlaß, 15[155]; KGW VIII3,130f. Vgl. hierzu schon Zur Genealogie der Moral, 1. Abh. 6; KGW VI 2, 278ff. - Daß es sich hierbei „um ironische Aphorismen zur Mitchell-Behandlung von Geisteskrankheit" handle, wie S. L. Gilman schreibt (Rez. H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, Nietzsche-Studien 8 (1979) 454f.), ist eine Deutung, die nur bei der Ausführung in GM einleuchten mag. Die .rhetorische' Rede über die Kur (Schmidt-Wahrig, a.a.O. [Anm. 50], 438), ist aber auch hier nicht nur rhetorisch. - Die Bezugnahme auf die Kur kann als Beispiel dafür angesehen werden, wie Nietzsche eine (ihm literarisch zugänglich gewordene) Sache, die ihn zunächst im Hinblick auf die eigene Gesundheit beschäftigt hat, für äußerste Konsequenzen von Moral und Menschheitsgeschichte in Anwendung bringt. Nietzsche beschreibt „die amerikanische Weir-Mitchells Kur" in seinem Brief vom 4. 7.1888 an F. Overbeck: „eine extreme Zufuhr von dem werthvollsten Nahrungsmaterial (mit absoluter Veränderung von Ort, Gesellschaft, Interessen)". Diese Kur wäre, so schreibt er im Hinblick auf „eine gewisse Gesammt-Erschöpfung", die sein „eigentliches Leiden" sei (das er zugleich als vom Vater ererbt

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Décadence wird in Nietzsches vergröberndem Physiologismus auf Degenereszenz zurückgeführt. 52 In ihm dominiert nun die Dichotomie Gesundheit - Krankheit uneingeschränkt, welche häufig an die Stelle der (ebenfalls meist vereinfacht gebrauchten) Unterscheidung von Stärke und Schwäche tritt. Die frühere Erörterung von Zwischenphänomenen entfällt, kurzschlüssige Urteile werden gefällt: „Mit einem Erlebniß nicht fertig werden, ist bereits ein Zeichen von décadence." Wenn Nietzsche fordert, die „ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung" müsse „auf eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden", so läßt seine neue Radikalität nicht nur „die rein psychologische und religiöse Praxis" nicht mehr gelten (insofern diese nur zur „Veränderung der Symptome" führe), 53 sondern er setzt das, was er seine .Gesundheitslehre' nennt, an die Stelle jeder argumentativ verfahrenden Philosophie. Die dogmatische Engführung, in die sich Nietzsche zuletzt verrannt hat, steht in engem Zusammenhang mit seinem Kampf gegen das Christentum.

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beschreibt, „der auch nur an Fo/geerscheinungen des Gesammt-Mangels an Lebenskraft gestorben" sei), „das einzige régime" gewesen, mit dem ihm zu helfen gewesen wäre (KGB III 5, 347f.). - Zu Nietzsches Bekanntwerden mit der genannten Kur, zu deren näherer Beschreibung und zum Kontext seiner Vorstellungen von Selbstbehandlung vgl. Volz, a.a.O. [Anm. 43], 138-142. Nietzsche ist in größerem Maße das Kind seiner Zeit gewesen, als man es lange Zeit wahrhaben wollte. Auch der hier erörterte physiologische Reduktionismus von 1888/89 steht in engem Zusammenhang mit seiner Lektüre zeitgenössischer (hier insbesondere französischer) Literatur. - M. Montinari schreibt, daß „aus manchen Seiten der Götzen-Dämmerung", wie auch aus solchen von Der Fall Wagner, uns „eine sonderbare Spitalluft" entgegenwehe . „Der Einbruch des Medi-zynischen ist ein Kennzeichen des hindämmernden 19. Jahrhunderts. Verbrecher und Prostituierte, Alkoholiker und Neurotiker, Degenerierte und Irrenhäusler: Dégénérescence et criminalité, das ist ein beliebtes Thema der Physiologen, das ist der Titel eines Werkes von Charles Féré, das Nietzsche im Frühjahr 1888, kurz nach dessen Veröffentlichung, fleißig gelesen und exzerpiert hat". (Nietzsche lesen: Die Götzen-Dämmerung, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), Abschnitte 6 und 7, 7 5 - 7 8 , hier: 76). - Zu Nietzsches Lektüre von Schriften Charles Férés, der als Neurologe und Internist an der Pariser Salpêtrière tätig war, vgl. H. E. Lampi, Ex oblivione: Das Féré-Palimpsest, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), 225-264, und, Lampi ergänzend und differenzierend, Wahrig-Schmidt, a.a.O. [Anm. 50], 4 5 0 - 4 5 6 . Zu Féré vgl. a.a.O., Lampi a.a.O., 2 2 8 - 2 3 3 ; eine Aufstellung der Veröffentlichungen von Féré findet sich in Lampi, Vivre et mourir - debout, Cuxhaven 1993, 181-183. Nachlaß Frühjahr 1888, 15[155]; KGW VIII 3, 130f.

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So werden in einer anderen Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 die „nihilistischen Religionen allesamt" als „systematisirte Krankheitsgeschichten unter einer religiös-moralischen Nomenklatur" beschrieben. Das Christentum gilt Nietzsche hier nur noch „als Symptom physiologischer décadence": „,der Glaube"' als „eine Form der Geisteskrankheit"; „die Reue, die Erlösung, das Gebet": „alles neurasthenisch"; „die Sünde eine fixe Idee".54 Was für die .nihilistischen Religionen' gilt, trifft auch für alle gesellschaftlichen ,Makroprozesse' zu. Wenn Nietzsche früher den Leib als „Gesellschaftsbau" und als „Herrschaftsgebilde" beschrieb, so hatte er sich an den äußersten, den sozialen Organisationen orientiert, um die innersten, die biologischen Organismen zu verstehen.55 Nun überträgt er aber seine Vorstellungen von der hierarchischen Struktur der Organismen auf die gesellschaftlichen Einrichtungen. Solche Zirkularität kann man noch gelten lassen.56 1 8 8 8 kommt es ihm jedoch weniger auf das Verstehen derartiger Zusammenhänge an als auf die Veränderung der Gesellschaft im Sinne seiner Ideale. So denkt er daran, „den Begriff .Fortschritt'" so „zu präcisiren", daß er „den modernen Ideen" ins Gesicht schlägt. Im Entwurf für eine Vorrede zum geplanten Hauptwerk Der Wille zur Macht schreibt er: „Ich verachte die, welche es von der Gesellschaft verlangen, daß sie sich sicher stellt gegen ihre Schädiger. Das ist bei weitem nicht genug. Die Gesellschaft ist ein Leib [,] an dem kein Glied krank sein darf, wenn er nicht überhaupt Gefahr laufen will: ein krankes Glied, das verdirbt, muß amputiert werden: ich werde die amputablen Typen der Gesellschaft bei Namen nennen ..." i7 54

Nachlaß 14[13]; KGW VIII 3, 15f. - Zum Widerspruch, in den Nietzsche gerät, wenn er die Geschichte des Nihilismus zum einen als immanent konsequente Selbstaufhebung von Moral, Christentum und Wahrheit begreift und sie zum anderen unter grobe physiologische Vorstellungen bringt, vgl. Vi., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 38], 106ff.

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S. dazu Vf., Der Organismus als innerer Kampf, in: Nietzsche-Interpretationen I, S. 132f.

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Bourget war in seinem Baudelaire-Essay von einem Gebrauch des Wortes décadence ausgegangen, demzufolge man denjenigen „état d'une société" mit diesem Wort bezeichnete, „qui produit un trop grand nombre d'individus impropres aux travaux de la vie commune. Une société doit être assimilée à un organisme. Comme un organisme, en effet, elle se résout en une fédération de cellules." (Essai de psychologie contemporaine, a.a.O. [Anm. 8], 24.) Nachlaß Frühjahr 1888,15[13]; KGW V I I I 3 , 2 0 6 - 2 0 8 . - D i e zitierte Passage nimmt zwei Sätze aus Ch. Férés Schrift Sensation et mouvement. Études expérimentales de psychomécanique (Paris 1887) auf, wie Lampi gezeigt hat (Ex oblivione: Das Fé-

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Am Schluß der Aufzeichnung heißt es noch einmal ausdrücklich, daß seine Schrift „sich gegen alle natürlichen Typen der décadence" wende. Dies sei die Konsequenz davon, daß er „die Phänomene des Nihilismus am umfänglichsten durchdacht" habe.58 Das Dekadente ist aber für Nietzsche nicht nur das kranke Glied, dessen Imputation' er fordert. Als Abfall, Verfall, Ausschuß" stellt es „eine n o t wendige Consequenz [...] des Wachsthums an Leben" dar. Deshalb hat man es „nicht in der Hand", die décadence-Erscheinungen abzuschaffen".s9 Auch indem Nietzsche „die décadents als Excremente der Gesellschaft" beschreibt, scheint er an die Selbstregulation der Gesellschaft in Analogie zu

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ré-Palimpsest, Konkordanz, a.a.O., [Anm. 52], 250-264, hier: 254f.). Sie lauten: „Tous sont des nuisables contre lequels la société a le droit et le devoir de se protéger. [...] La société est un organisme (Spencer, Principe de Sociologie, t. 11 [106]), elle est, comme tout organisme, menacée de mort chaque fois qu'un de ses organes cesse sa fonction." Nietzsche übersetzt aber Féré nicht nur, sondern hält ihm oder denen seine Verachtung entgegen, die nicht weit genug gehen. Er selbst will sagen, welche Typen .amputiert' werden sollen. Féré schreibt immerhin auch: „II faut que le faible périsse, telle est la loi fatale." Diesen Gedanken übernimmt Nietzsche mit seinem Satz aus der oben herangezogenen Niederschrift: „Man soll das Verhängttiß in Ehren halten: das Verhängniß, das zum Schwachen sagt: geh zu Grunde...". - Nicht nur einmal überbietet oder radikalisiert Nietzsche die von ihm exzerpierten Ausführungen Férés (vgl. dazu die Hinweise Lampls in seiner Konkordanz a.a.O., 254 und 255). Dies ist übrigens ein Verfahren, das in seiner Ausweitung von ihm gelesener Schriften von früh an und häufig festgestellt werden kann. Nachlaß a.a.O., 15[13]; KGW VIII 3, 208. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[75]; KGW VIII3,47f. - Nietzsches .Vorlage' in Férés Sensation et mouvement ist in diesem Falle nicht weniger eindeutig als seine eigene Ausführung; sie enthält in der Kritik an der unangebrachten Nächstenliebe eine Zuspitzung, die wir bei Nietzsche andernorts freilich ebenfalls antreffen: „Les dégénerescenses, déchets de la civilisation, se produisent nécessairement; leur augmentation est d'autant plus rapide qu'elle est favorisée par la partie plus vivace de la société qui regarde impassiblement non seulement cette production en quelque sorte mécanique et nécessaire, mais qui encourage sa repullation dans des milieux favorables, et aide leur survivance par des mesures de charité mal éclairée." (Zit. n. Lampi, a.a.0 [Anm. 52], 25 lf.) - Schmidt-Wahrig hat in ihrer Féré-Lektüre, Lampi ergänzend, u.a. nachgetragen (a.a.O. [Anm. 50], 451f.), daß Nietzsches Wendung in Heft W II 5 gegen die „allgemeine Menschenliebe, in praxi die Bevorzugung aller Leidenden, Schlechtweggekommenen, Kranken" (Nachlaß a.a.O., 14[5]; KGW VIII 3, 11), an Férés Kritik gegenüber Schopenhauers Lehre vom Mitleid (als „vertu cardinale") anschließt (vgl. a.a.O., 14[4]; KGW VIII 3, 10).

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natürlichen Prozessen zu denken. Doch da die moderne Gesellschaft krank ist, mit Nietzsches Worten „die Kraft nicht mehr hat, zu exkretiren"60, wird nicht nur, wie schon im Winter 1872/73, „der Philosoph als Arzt der Cultur" gefordert,61 sondern als Arzt der Gesellschaft, der auch vor operativen Eingriffen nicht zurückschreckt und der zuletzt „die Physiologie zur Herrin über alle großen Fragen machen" soll, um „die Menschheit als Ganzes und Höheres zu züchten"'.62

IX Den Schluß dieser Ausführungen sollen wenige Hinweise auf den Gegentypus des décadent im Sinne Nietzsches bilden. In der langen Geschichte menschlicher Krankhaftigkeit gab es, wie Nietzsche in Zur Genealogie der Moral ausführt, „die seltnen Fälle seelisch-leiblicher Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen."63 Nietzsche bezeichnet sie als die (physiologisch) Wohlgeratenen. In Götzen-Dämmerung wird Goethe als ein solcher Glücksfall vorgestellt. Von ihm heißt es, daß er „das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille" bekämpfte. „Er disziplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich." Die Ganzheit erreichte und bewahrte er, indem er sich „mit lauter geschlossenen Horizonten" umstellte.64 Schon in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung hat Nietzsche der historischen Krankheit', die

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Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 1 6 [ 5 2 , 5 3 ] ; KGW VIII3,299f. - Immer wieder ist es „die christliche Bewegung", die Nietzsche als „eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art" im Blick hat: sie stelle eine alle nationalen und rassischen Besonderungen übergreifende „Aggregat- Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden" dar. (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[91]; KGW VIII 3, 59f.) Nachlaß, 23[15]; III 4 , 1 4 1 . - Dabei ist Piaton für Nietzsche der erste „Giftmischer der Kultur" (23[16] ; ebd.). Nachlaß Dezember 1888-Anfang Januar 1889, 25[1] ; KGW VIII 3 , 4 5 4 . - Dabei will jener letzte Nietzsche, bei dem die Zeichen des Wahnsinns unverkennbar geworden sind, eine „Macht" von jener Stärke in Tätigkeit gesetzt sehen, welche „mit schonungsloser Härte gegen das Entartete und Parasitische am Leben" vorgeht. Und auch hierbei wird auf das Christentum als auf den Hauptfeind gesehen. Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 14; a.a.O., 385. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen 49; a.a.O., 145.

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fortwährend die „Horizont-Perspektiven" verschiebt,65 die plastische Kraft des gesunden Menschen entgegengesetzt, einen geschlossenen Horizont um sich zu ziehen. Diese Kraft bildet Vergangenes und Fremdes um, verleibt es sich ein oder scheidet es durch Vergessen aus.66 Der Wohlgeratene, so heißt es später in ausdrücklicher Selbstbeschreibung Nietzsches, „sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe, er ist ein auswählendes Princip, er lässt Viel durchfallen". „Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker."67 Kurz: Indem der Wohlgeratene sich aus sich selber heraus solchermaßen organisiert und aufbaut, darüber hinaus „die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen" hineinträgt,68 repräsentiert er, im Gegensatz zum décadent, das aufsteigende Leben. Wahrhaft aufsteigend ist ein solches Leben Nietzsche zufolge aber erst dann, wenn es auf solche Weise sich nicht nur bewahrt, sondern sich ins Ungemessene über-steigt. Man könnte meinen, in Goethe finde Nietzsche einen Ubergang zu solcher .Erweiterung' oder .Erhöhung'. Heißt es über Goethe noch eingangs des schon herangezogenen Aphorismus von Götzen-Dämmerung, er habe sich „mit lauter geschlossenen Horizonten" umstellt, so wird an dessen Schluß gesagt, er habe als ein „freigewordner Geist [...] mitten im All, im Glauben" gestanden, „dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht - er verneint nicht mehr...". Diesen Glauben aber habe er, Nietzsche, „auf den Namen des Dionysos getauft". Doch gehört dieser dionysische Glaube noch ganz auf die Seite der geschlossenen Horizonte, für welchen Aspekt der Natur Goethe nicht zufällig „Spinoza zu Hülfe" nahm.69 - Mehr jedoch bedeutet Nietzsche „das Wort Dionysos", wenn er am Schluß des herangezogenen Buches auf die griechischen Dionysien zurückgeht. In ihnen findet er das „Jasagen zum Leben" in das Extrem gesteigert, „die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, - jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst...". Das ist Goethes .dionysischem' Glauben so fern, daß Nietzsche hier schreiben kann, er zweifle nicht daran, daß Goethe das Orgiastische, „aus dem die dionysische Kunst

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Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 9; KGW III 1, 319. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 1 , 1 0 ; a.a.O., 247, 326. Ecce homo, Warum ich so weise bin 2; a.a.O., 265. Götzen-Dämmerung, Die vier grossen Irrthümer 2; a.a.O., 83. Götzen-Dämmerung, Streifzüge 49; KGW VI 3, 145f.

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wächst", „grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. Folglich verstand Goethe die Griechen nicht."70 Gemessen am wahrhaft Dionysischen - wir können dafür auch sagen: am Extrem des aufsteigenden Lebens - verliert Goethe den Rang, den Nietzsche ihm im allgemeinen gern einräumt. All seiner ihm von Nietzsche immer wieder zugesprochenen.Wohlgeratenheit' ungeachtet, hätte auch Goethe „nicht einen Augenblick" in der „ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu athmen" gewußt, die Nietzsche zufolge einzig sein Zarathustra erreicht hat. In Also sprach Zarathustra sei der „Begriff .dionysisch' [...] höchste That" geworden.71 Zwischen dem „freudigen und vertrauenden Fatalismus" von Goethes dionysischem Glauben72 und dem Dionysismus des späten Nietzsche steht dessen unbedingter, noch den Untergang bejahender Wille. - Deshalb findet Nietzsche, wenn er an eine „Verstärkung des Typus" denkt, der „die Reinigung des Geschmacks"' in seinem letzten Sinne zur Folge haben könnte, in Goethe nur den „schönste [n] Ausdruck des Typus" des vielfachen Menschen, - und „ganz und gar kein[en] Olympier!"73 In der Idee des Übermenschen soll sich die Wohlgeratenheit erfüllen. Auch in der Beschreibung des Weges zu ihrer Verwirklichung steht Nietzsche gegen Nietzsche.74 Zum einen fordert er den Menschen der großen Synthese, der ein Maximum gegensätzlicher Erfahrungen, auch die der décadence, in sich vereinigt; solcher Ausweitung wegen habe er den höchsten Wert, auch wenn er sublim und zerbrechlich sei. Zum anderen steigert Nietzsche den Gedanken der auswählenden Horizontbildung zu dem der Abtrennung der .entartenden' Teile von den .gesunden' im Organismus; in der Ausscheidung oder auch der .Ausschneidung' der letzteren soll sich der mächtigste Mensch bewähren. Jene Sublimierung und diese radikale (neinsagende, ja: vernichtende) Robustheit schließen einander jedoch aus. In dem Maße, wie sich Nietzsche in seinem 70 71 72 73

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Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke 5. 4 ; KGW VI 3. 153f. Ecce homo, Also sprach Zarathustra 6; KGW VI 3, 341. Götzen-Dämmerung, Streifzüge 49; KGW VI 3. 145. Nachlaß Herbst 1887, 9[119]; KGW VIII 2. 67f. - Von der Vielfalt der Gesichtspunkte, unter denen Goethe von Nietzsche gesehen wird, hat E. Heftrich eindrucksvoll gehandelt (Nietzsches Goethe. Eine Annäherung. Nietzsche-Studien 16 (1987), 1 - 2 0 , hier: insbes. 1 0 - 2 0 ) . Die von ihm dort vorgeschlagene Semiotik scheint mir ein angemessener Weg zu sein, um die oft divergierenden Ausführungen oder Äußerungen Nietzsches über Philosophen und Dichter, über Personen und Positionen zu verstehen. Zum folgenden s. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 38], 1 1 6 - 1 3 4 .

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letzten Schaffensjahr zu letzterer bekennt, verengt sich sein Blickwinkel hinsichtlich von Nutzen und Nachteil der décadence-Erscheinungen für das wohlgeratene Leben.

Freiheit und Wille bei Nietzsche

Leitfaden für den Weg der Abhandlung Erster Teil. Schon der siebzehnjährige Nietzsche hat in zwei Abhandlungen, die er seinen Freunden in der Schülervereinigung Germania vorgetragen hat, Überlegungen zu dem Thema Willensfreiheit angestellt. Bezeichnend ist, daß in beiden Fällen das Wort Fatum im Titel auftaucht1 und auch in der Sache eine wesentliche Bedeutung zugesprochen erhält. Man kann Nietzsches erstem zuverlässigen Biographen R. Blunck schwerlich widersprechen, wenn er in diesen frühen Texten dessen ,,wichtigste[n] Themen [...] schon angeschlagen" findet, zu denen er „von immer größeren Entdeckungsfahrten mit immer größerer Leidenschaft und immer gewichtigerer Fracht von Einsichten stets wieder zurückkehre[n]".2 Ich setze mit meiner Darstellung freilich weder beim jungen Nietzsche noch beim (sogenannten) romantischen Nietzsche ein, sondern bei dem Nietzsche, der (nach mannigfachen Vorbereitungen hierzu) mit Menschliches, Allzumenschliches seinen eigenen Weg in der kritischen Auseinandersetzung mit Schopenhauer und Kant einschlägt. Der Gang der Abhandlung sei kurz skizziert. Was Nietzsche .intelligible Freiheit' nennt, wird in einer knappen Kennzeichnung der Positionen von Kant und Schopenhauer dargelegt. (Abschnitt 1) Seine Kritik an deren Positionen nimmt die von diesen vorausgesetzte oder gefolgerte Metaphysik ins Visier. Alle Metaphysik, so schreibt er, gibt „sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens" ab; man dürfe sie „als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch

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Fatum und Geschichte; Willensfreiheit und Fatum, BAW 2 , 5 4 - 6 2 . - S. dazu H. J. Schmidt, Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragödie, in: Grundprobleme der großen Philosophen, Philosophie d. Neuzeit III, hg. v. J. Speck, Göttingen 1983, 221ff., ferner: Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, II 2, Berlin/Aschaffenburg 1 9 9 4 , 3 7 - 1 3 5 . - Werner Ross, Der ängstliche Adler: Friedrich Nietzsches Leben, München 1984, 5 8 - 6 6 . Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend. 1953. Jetzt in erweiterter Form als Erster Teil von C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie. München/Wien 1 9 7 8 , 9 8 - 1 0 4 .

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

so, als wären es Grundwahrheiten"3. Nietzsche setzt dem seine Auffassung von der ausschließlichen und durchgängigen Notwendigkeit alles Geschehens entgegen. (Abschnitt 2) Zur Aufdeckung der metaphysischen Irrtümer bedient sich Nietzsche des Verfahrens der genealogischen Ableitung von scheinbar Überzeitlichem aus Prozessen unserer (sogenannten »diesseitigen', in Wahrheit aber) einzigen Welt. Für eine transzendenzgestützte Willensfreiheit bleibt dann kein Raum. Unser Bewußtsein von Schuld und Verantwortlichkeit erweist sich angesichts der Einsicht in die Notwendigkeit allen Geschehens als Irrtum. (Abschnitt 3) Das Wissen darum, daß solche Einsicht in Gegensatz zu unserem Bedürfnis nach verantworteter Freiheit steht, kann von der Verzweiflung am Zwiespalt zwischen Erkennen und Leben über die Haltung einer erhabenen Resignation bis zur Bemühung um Trennung emotionaler Kraftquellen und wissenschaftlicher Haltung führen. (Abschnitt 4) Am wichtigsten für unser Thema ist, daß Nietzsche in der Einsicht in die Unfreiheit unseres Willens eine (negativ bestimmte) ,neue Freiheit' entstehen sieht: Freiheit von der überlieferten Moral, Freiheit von Schuld und Verantwortung. (Abschnitt 5) Nun mögen wir uns zwar mit Hilfe der .neuen Freiheit' unser Schuldbewußtsein .abgewöhnen' können; unser Gefühl der Willensfreiheit jedoch erweist sich derartigen Versuchen gegenüber als resistent. Nietzsche sieht sich deshalb genötigt, in der Genealogie dieses Gefühls hinter unsere Moral zurückzugehen. Dabei findet er schon im anfänglichen Organischen die Konstituentien für unseren Irrtum von der Willensfreiheit. (Abschnitt 6) Der Glaube an sie hat sich von alters her an uns vererbt; er ist uns fest einverleibt. (Abschnitt 7) Was Einverleibung bei Nietzsche besagt, wird hier zunächst nicht unter dem quantitativen Aspekt des Mehr- und Stärker-werdens betrachtet (wie im Abschnitt 13), sondern lediglich in bezug auf den Gegensatz von Irrtümlichem und .Wahrem'. Diese stehen im Kampf miteinander, wie Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft ausführt. Letztlich geht es ihm darum, ob die .wahre' Einsicht sich gegen die alten Irrtümer im Kampf durchzusetzen vermag. Der Spielraum dafür erweist sich als eng. (Abschnitt 8) Es fragt sich aber, ob wir nicht besser der Notwendigkeit nachspüren sollten, um dem Irrtum von der Willensfreiheit gerecht werden zu können. Wir sind gewohnt und geübt, sie nach dem Ursache-Wirkung-Schema zu erfassen. Nun zeigt uns aber Nietzsche, daß diese Zweiheit ein täuschendes Vordergrund-Phänomen ist, dem selber schon die irrige Vorstellung vom Wirken unseres freien Willens zugrunde liegt. Gleichwohl (oder auch: gerade des3

Menschliches, Allzumenschliches 1 1 8 ; KGW IV 2, 3 4 - 3 6 .

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halb) führt uns die Analyse von ,Kausalität' zur Wurzel alles Geschehens hinab, welche in der Koordination zahlloser (ihrem Range nach verschiedener) Individual-Geister besteht. (Abschnitt 9) Diese enthüllen sich zugleich - am ,Leitfaden des Leibes' - als befehlende und gehorchende Einzel-Willen. Aus dem Zusammenspiel der .Vielen' (deren sich ständig wandelnde .Einheit' als zeitweilige Einigung ,wir' sind) erwächst u.a. die Täuschung unseres Bewußtseins: Es bekommt nur eine Auswahl (noch dazu gefälschter) .Erlebnisse' vorgelegt, damit es weiter fälsche: um .unserer' Machtsteigerung und Lebenserhaltung willen. Dazu gehört wesentlich, daß wir uns selbst vereinfachen: Wir verstehen uns .substantiell' als Ich, als Subjekt, als Individuum. Solche Fiktionen erweisen sich in unseren Beziehungen zu anderen Vielheiten als unentbehrlich. (Abschnitt 10) Auch das, was wir unseren Willen nennen, ist eine fiktionale Vereinfachung. Gegen Schopenhauer bringt Nietzsche das Wollen als etwas Kompliziertes ins Spiel. Den Willen als Einfaches gibt es gar nicht. Dann ist aber die Rede von der Freiheit des Willens ebenso irrtümlich wie die von seiner Unfreiheit. So wenig unser Kraftgefühl auf eine Kraft ,in uns' zu schließen erlaubt, so wenig ist dies auch beim Gefühl der Willensfreiheit in bezug auf unser Wollen möglich; selbst bei unserem Affekt des Übermuts handelt es sich nur um ein Begleitgefühl des wirklichen Geschehens, das sich gewissermaßen durch uns hindurch vollzieht. (Abschnitt 11) Zweiter Teil. Die Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit durch die Destruktion unseres scheinbar einfachen Willens stellt nicht Nietzsches letztes Wort zur Sache dar. Zwar ist mit seiner Ausarbeitung der Qualität (der Essenz) der .Vielen' als Wille zur Macht auch darüber entschieden, daß alles Wollen ein Müssen ist, insofern die Macht-Quanten in ihrem Gegeneinander wie auch in ihren Kooperationen miteinander die Geschehensabläufe bis ins kleinste hinein notwendig bestimmen. Das .Wirken' der vielen Willen zur Macht auf einander stellt für Nietzsche ein schwieriges Problem dar. Insofern er jede Form der ja von ihm destruierten Kausalität ausschalten muß, versucht er durch Bestimmungen wie die des Reizes, des Dirigierens, des Kommandierens u.a. die Veränderung der komplexen Willen zur Macht durch einander zu beschreiben. (Abschnitt 12) Als besonders tauglich hierfür erweist sich schließlich der Begriff der Interpretation, der freilich so weit gefaßt werden muß, daß er mit allem Machtwollen zusammenfällt. (Abschnitt 13) Er ist auch geeignet, dem hinsichtlich der vermeintlichen Fakten auf-gelösten Problem der Willensfreiheit in seiner Bedeutung für unser Selbstverständnis neue Geltung zu verschaffen. Je nach Stärke oder Schwäche .des' Willens, d.h. immer: der Willen-zur-

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

Macht-Komplexe (deren immanente Organisiertheit und Funktionstüchtigkeit den .Erfolg' der Machterweiterung .bedingt') wird die Uberzeugung von der Willensfreiheit sich durchsetzen. Diese ist aber insofern mehrdeutig, als ,wir' mit ihr Unterschiedliches zum Ausdruck bringen können. Dabei erhält die Lehre von der Freiheit oder Unfreiheit des Willens, in der sich unsere Selbst- und Weltinterpretation niederschlägt, als Ausdrucksphänomen besondere Bedeutung zugesprochen. Sie bleibt jedoch auch dabei etwas Sekundäres, Abgeleitetes, .Interessen'-Bestimmtes. Mehr als ein Indikator der ursprünglichen Kämpfe der Vielzahl von Willen zur Macht kann sie nicht sein. Dies aber ist sie in aufschlußreicher Weise. (Abschnitt 14) Mit Nietzsche kann die vereinfachende Rede vom .Willen' wieder aufgenommen werden, da wir nun wissen, daß er ,in Wahrheit' Ausdruck einer ihn konstituierenden Vielheit ist. - Stärke oder Schwäche .des' Willens liegen nach Nietzsche auch den religiösen Erfahrungen zugrunde. Das Plötzliche ihn überwältigender Affekte hat der Mensch einer naiven Kulturstufe einem Willen zugesprochen, den er außer sich gesetzt hat. Damit hat er aber in Wirklichkeit sich selbst in .zwei Seiten' aufgespaltet. Wenn er sich, aus der Stärke seines Wollens heraus, für seine hohen Zustände selbst verantwortlich fühlt, so hebt er damit solche .Selbstverfremdung' auf. Nietzsche selbst gibt im Rückblick auf seine Inspiration in der Entstehungszeit von Also sprach Zarathustra ein Beispiel für die Erfahrung von Notwendigkeit als Unfreiwilligkeit, die sich mit einem Gefühl von Freiheit paart. Doch selbst die .höchsten Zustände' des Menschen sind nicht sein .Werk', sie weisen zurück auf seine lange, ihm selber entgehende Herkunft. Als Gewordener ist er ein auch weiterhin in ständigem Werden Begriffener. (Abschnitt 15) Der Horizont, der sich damit eröffnet, ist der eines Ganzen der Welt, welches Nietzsche seit 1881 im Zeichen der ewigen Wiederkunft des Gleichen deutet. Im dabei sich zum Kreis schließenden, anfangs- und endlosen Werden ist der Mensch zwar nur .ein Stück fatum mehr', aber er ist zugleich Kraft, die das Geschehen (mit) vorantreibt. Unter dem Begriff der Unschuld des Werdens denkt Nietzsche eine ursprunghafte (nicht: ursprüngliche) Aktivität, deren (Wieder-)Herstellung die Sache der Starken sein soll. (Abschnitt 16) Die dafür erforderliche .Stärke des Willens' hat Nietzsche in Zur Genealogie der Moral auf .den' Willen zur Macht als Instinkt der Freiheit zurückgeführt. Damit geht er über die negative Charakterisierung der .neuen Freiheit' hinaus, die er in den Genealogien von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft ausgearbeitet hatte. Die .positive Freiheit' des Macht-Instinkts eröffnet zugleich den Blick auf eine

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,neue' Verantwortlichkeit, nachdem die moral- und transzendenzgestützte ,alte' Verantwortlichkeit ja schon früh kritisiert und von weltimmanenten Gegebenheiten ,abgeleitet' worden war. (Abschnitt 17) Nietzsches Philosophieren bleibt bis zu seinem Abbruch von dem inneren Spannungsverhältnis seines Verständnisses von Notwendigkeit (im Wiederkunftsgedanken ausgeprägt) und Freiheit (als Instinkt des Willens zur Macht) bewegt. Doch noch im amor fati kommt zuletzt die Freiheit (als Ja-sagen) zum Vorschein. (Abschnitt 18)

Erster Teil. Nietzsches Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit

1. Über den ,intelligiblen Charakter' bei Kant und Schopenhauer Nach Kant wird die Welt, wie sie uns erscheint, durch den notwendigen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen bestimmt. Die Kausalität ist als Naturgesetz „ein Verstandesgesetz, von welchem es unter keinem Vorwande erlaubt ist abzugehen" 4 . Auf der Ebene der Vernunftkritik stellt sich dann die Frage, ob es außer der Naturkausalität noch eine Kausalität aus Freiheit geben könne. Die Bestimmung dieser Freiheit als „absolute[r] Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst

anzufangen",5 wird in der Kritik der reinen Vernunft nicht als wirklich, nicht einmal als realmöglich, sondern nur als der Naturkausalität nicht widerstreitend dargestellt6. Schließlich läßt Kant beides gelten: Wir können uns von dem Vermögen eines Subjekts sowohl „einen empirischen, imgleichen auch einen intellektuellen Begriff seiner Kausalität machen" 7 . Für unser Thema wichtig ist, daß unser Wollen und Handeln einmal empirisch bestimmt ist (durch den Charakter eines Dinges in der Erscheinung), d.h. nach natürlichen Ursachen', zum anderen aber von diesen frei, außerhalb der Sinnenwelt liegend. Kant 4 5 6 7

Kritik der reinen Vernunft, Β 570. A.a.O., Β 472ff. A.a.O., Β 586. A.a.O., Β 566.

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spricht in letzterer Hinsicht vom intelligiblen Charakter des Menschen (als Ding an sich), wobei Charakter besagt: „Gesetz der Verursachung". Es „hindert nichts", schreibt Kant mit kritischer Behutsamkeit, „daß wir diesem transzendentalen Gegenstande", nämlich dem intelligiblen Ich, „außer der Eigenschaft, dadurch es erscheint, nicht auch eine Kausalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird"8. Der praktischen Philosophie, so heißt es dann in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wird durch die spekulative insofern „freie Bahn" geschaffen, als diese zeigen kann, daß die Gesetze der Natur und der Freiheit „nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch, als notwendig vereinigt, in demselben Subjekt gedacht werden müssen"9. Kant führt in der Kritik der reinen Vernunft das Beispiel eines Menschen an, der eine boshafte Lüge verbreitet hat. Man kann in einem solchen Falle zahlreiche „Bewegursachen" zur Erklärung dieser Tat anführen: angefangen bei Gelegenheitsursachen, zurückgehend auf das bisherige Leben des Lügners (üble Gesellschaft, schlechte Erziehung) bis hin zu seinem vielleicht bösartigen, leichtsinnigen und unbesonnenen Naturell. Aber alle Beschreibungen des empirischen Charakters des Täters werden uns nicht davon abbringen können, daß wir seine Tat „als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Täter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe". Wir sprechen, indem wir ihn tadeln, seine Handlung seinem intelligiblen Charakter zu, und zwar so, daß wir sagen: „Er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld." Die dabei von Kant in Anspruch genommene (praktische) Vernunft „ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit und gerät etwa in einen neuen Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung desselben"10. Schopenhauer hat die Lehre Kants „vom Zusammenbestehen der Freiheit mit der Notwendigkeit [...] für die größte aller Leistungen menschlichen Tiefsinns" gehalten11. Er kritisiert allerdings, daß Kant sie nicht konsequent durchgeführt habe. Schopenhauer zufolge herrscht der Satz vom Grunde in der Erscheinungswelt uneingeschränkt; was sich in ihr ereignet, geschieht mit Notwendigkeit gemäß den gegebenen Ursachen. Zustimmend zitiert er Kants

8 9 10 11

A.a.O., Β 566f. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 115f. Kritik der reinen Vernunft, Β 583ff. Preisschrift über die Grundlage der Moral, Zürcher Ausgabe Bd. VI, 216.

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Ausführungen in der Kritik der praktischen Vernunftu, „daß wenn genaue Kenntnis des Charakters eines Menschen und aller auf ihn einwirkenden Motive gegeben wäre, das Handeln desselben sich so sicher wie eine Mondfinsterniß würde ausrechnen lassen". Dieser Einsicht widerspricht es, so Schopenhauer, wenn Kant gleichwohl unter Bezugnahme auf den kategorischen Imperativ „die Freiheit, wenn auch nur idealiter und als ein Postulat, angenommen" hat „durch den berühmten Schluß: ,Du kannst: denn Du sollst.' Aber wenn man ein Mal deutlich erkannt hat, daß eine Sache nicht ist und nicht seyn kann, was hilft da alles Postuliren?"13 Schließt Schopenhauer auch jedwede Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit aus, welche in die mit strenger Notwendigkeit ablaufenden Vorgänge der Erscheinungswelt eingreifen könnte, so nimmt er doch Kants Begriff des intelligiblen Charakters auf seine Weise auf. Zwar ist für ihn dessen Hineinwirken in die zeitlichen Abläufe undenkbar. Aber vor seinem Eintreten in die Zeit soll der Wille - einmalig und unwiderruflich - in einem geheimnisvollen freien Akt über das Wie seines empirischen Charakters entschieden haben. Jede Tat eines Menschen in der Zeit ist dann das Resultat des Zusammentreffens seines fest geprägten Charakters mit den auf diesen wirkenden Motiven. Wie für Kant, so ist auch für Schopenhauer „das völlig deutliche und sichere Gefühl der Verantwortlichkeit für Das, was wir thun, der Zurechnungsfähigkeit für unsere Handlungen, beruhend auf der unerschütterlichen Gewißheit, daß wir selbst die Thäter unserer Thaten sind"14, die Wurzel für die Annahme der ,intelligiblen Freiheit' des Menschen. Während wir uns jedoch nach Kant zu Recht unsere einzelnen Taten zurechnen, befinden wir uns nach Schopenhauer mit solcher Zurechnung in einem Irrtum. Die Verantwortlichkeit, deren sich der Mensch bewußt ist, „betrifft daher bloß zunächst und ostensibel die That, im Grunde aber seinen Charakter, für diesen fühlt er sich verantwortlich."15

12 13

14 u

Kritik der praktischen Vernunft, A 177. Preisschrift über die Grundlage der Moral, a.a.O., 183f. Zu Kants Exempel der Mondfinsternis vgl. Vf., Das Verhältnis des intelligiblen zum empirischen Charakter bei Kant, Schelling und Schopenhauer, in: Kategorien der Existenz, FS Wolfgang Janke, Würzburg 1993, 34f.; zu Schopenhauers diesbezüglicher Kantkritik a.a.O., 46ff. Preisschrift über die Freiheit des Willens, a.a.O., 134. Ebd.

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2. Über Nietzsches Auffassung der ausschließlichen und durchgängigen Notwendigkeit allen Geschehens Nietzsche ist nicht bereit, die praktische Philosophie und die Metaphysik (wie Kant und Schopenhauer) als Instanzen gelten zu lassen, welche bei durchgängiger Gesetzmäßigkeit des Weltgeschehens der menschlichen Freiheit doch noch einen Spielraum gewähren. Der Angriff wird in Menschliches, Allzumenschliches gegen den früheren Lehrmeister geführt. Noch erkennt Nietzsche den ursprünglichen „Thatsachen-Sinn" Schopenhauers an, um freilich sofort hinzuzufügen, daß dieser „nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt worden" sei. Schopenhauer habe die „treffliche Unterscheidung" vorgenommen, mit der er noch gegen sich selbst recht behalte, diejenige nämlich, „welche die philosophischen Köpfe von den anderen" scheidet: „die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der menschlichen Handlungen". Nietzsche bezeichnet diese Einsicht als »mächtig' und kritisiert um so entschiedener, daß Schopenhauer zugleich „ganz harmlos und gläubig" die ethisch-metaphysische Verwurzelung menschlichen Tuns angenommen habe. Nietzsche verschiebt die Grenze zwischen den philosophischen und den .anderen Köpfen' gegenüber Schopenhauer: Zur wahrhaft philosophischen Einsicht gehört der „Unglaube [n] an die Bedeutsamkeit der Moral". Keine „Hintertür", welche sich ja auch noch Schopenhauer gelassen habe, „keine führt ins Freie, in die Luft des freien Willens; jede, durch welche man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des Fatums"16. Nietzsche läßt es natürlich nicht dabei bewenden, das Bewußtsein der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Wollen und sein Tun einfach zugunsten der Notwendigkeit allen Geschehens zu negieren. Wir machen uns seine Kritik an Kant und Schopenhauer an zwei Beispielen deutlich. Schon dabei werden wir auf die Grundlagen dieser Kritik stoßen. Anschließend können wir, auf dem bis dahin Ausgeführten fußend, seine .Methode' der genealogischen Ableitung in dem Maße charakterisieren, wie es für die nächsten Schritte unserer Untersuchung erforderlich ist. Das erste Beispiel läßt uns an Kants Ausführungen zur Schuld des boshaften Lügners denken. Nietzsche erörtert „das Willkürliche im Zumessen der Strafen" : Ein Verbrecher, der vor seiner Tat mustergültig gelebt hat, wird milder bestraft als der Gewohnheitsverbrecher für eine entsprechende, ob16

Menschliches, Allzumenschliches II, Meinungen 33; KGW IV 3, 31f.

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wohl sich bei diesem ein Hang zu schuldhaftem Tun gebildet hat, der es eher als entschuldbar erscheinen läßt als die Tat des ersteren. Die Erklärung für solche Rechtsprechung liegt Nietzsche zufolge in einer Schaden-Nutzen-Rechnung im Hinblick auf die Gesellschaft. Nicht dies ist hier für uns von Interesse, sondern die Überlegung Nietzsches, daß man, wenn man die ,Vergangenheit einer Tat' bestraft, nicht „willkürlich" beim Verbrecher stehenbleiben dürfte. Zur „Ursache" von dessen Schuld gehören dann „Eltern, Erzieher, die Gesellschaft u.s.w.; in vielen Fällen wird man dann die Richter irgendwie bei der Schuld betheiligt finden". Nietzsche führt hier den Gedanken nicht aus, daß man bei weiterem Rückgang in der Ursachen-Kette kein Ende finden würde. Es genügt ihm darzutun, daß man auf dem von ihm angedeuteten Wege zur ,,absolute[n] Entschuldbarkeit jeder Schuld" gelangt. Will man diese Konsequenz nicht ziehen, so nötigt sich die andere auf. Man muß dann „bei jedem einzelnen Fall stehn bleiben und nicht weiter zurückblicken: also die Schuld isoliren und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung bringen". Nietzsche ruft den „Willens-Freien" zu: „Zieht [...] den nothwendigen Schluss aus eurer Lehre von der .Freiheit des Willens' und decretirt kühnlich: keine That hat eine Vergangenheit."17 Daß Kant gerade dieses wenn auch nicht dekretiert so doch .postuliert' und (auf der Grundlage seiner Vernunftkritik) die Vereinbarkeit, ja das notwendige Zusammenbestehenkönnen der beiden gedachten .Konsequenzen' dargestellt hatte, dürfte Nietzsche (jedenfalls im zitierten Zusammenhang) nicht bewußt gewesen sein. Er hätte sonst anders argumentiert und auch im Schlußsatz nicht an die .Willens-Freien' auf eine Weise appelliert, als wäre der genannte .Schluß' noch nicht gezogen worden. Von seinen Voraussetzungen her (die erst noch Schritt für Schritt herausgearbeitet werden müssen) trifft Nietzsche gleichwohl mit der hier indirekt ausgesprochenen Zurückweisung solchen Freiheitsverständnisses Kant. Mit Schopenhauer ist Nietzsche darin gegen Kant einig, daß ein .spontaner' Anfang von Freiheits-Kausalität einen .Einbruch' in die von strenger (Natur-)Notwendigkeit bestimmte Zeitfolge bedeuten würde und deshalb nicht statthaben kann. Schopenhauers Annahme einer vor-zeitlichen Willensentscheidung, welche den Charakter des Menschen definitiv fest-stellt, ist für ihn aber gleichermaßen inakzeptabel. Mit Nietzsches Kritik an Schopenhauers Lehre von der .intelligiblen Freiheit' (Nietzsches Terminus) hinsichtlich der Freiheit des Willens werden wir uns noch zu befassen haben. An dieser Stelle - und damit kommen wir zu unserem zweiten Beispiel - geht es uns darum 17

Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 28; KGW IV 3, 199f.

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zu zeigen, wie er den Grundpfeiler der behaupteten Intelligibilität (und das heißt: von Überzeitlichem) zum Einsturz zu bringen sucht. Der Pfeiler besteht in der These von der Unveränderlichkeit des (je individuellen) Charakters des Menschen. Unveränderlich ist er als empirischer Charakter, weil dieser nichts anderes als die Erscheinung des zeitenthobenen, gleichwohl aber individuierten Dinges an sich darstellt. A posteriori können wir unseren Charakter wie auch den anderer Menschen sukzessive kennenlernen, einen Zugang a priori zu ihm haben wir jedoch nicht. Verliert nun die Uberzeugung von der Unwandelbarkeit des dem Zeitlaufe ausgesetzten empirischen Charakters ihre Glaubwürdigkeit, so muß dies auf den Gedanken seiner intelligiblen Prägung zurückschlagen. Nietzsche führt in Menschliches, Allzumenschliches I gegen die genannte .These' Schopenhauers aus, „während der kurzen Lebensdauer eines Menschen" könnten „die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug [...] ritzen [...], um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören". Damit nimmt er den Charakter des Menschen in dessen Entwicklungsgeschichte hinein. Wird solche Entwicklung ausgreifender vorgestellt, so bleibt von einer festen Prägung nichts übrig: „Dächte man sich [...] einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte." (Aph. 41) Gerade im scheinbar Gekünstelten dieses Gedankens wird Nietzsches Gegenposition deutlich: Es gibt nur Gewordenes und weiterhin Werdendes in der einzigen Welt; die metaphysische Unterscheidung zwischen der Welt als Ding an sich und der Welt als Erscheinung fällt dahin. Es ist wichtig zu verstehen, daß Nietzsches Einspruch gegen den „beliebte [n] Satz" vom unveränderlichen Charakter primär Schopenhauers Metaphysik trifft und erst sekundär seine Freiheitslehre (für deren Begründung es der Zusatzannahme bedarf, daß uns unser Bewußtsein von Verantwortlichkeit nicht trügt). Ist es doch denkbar, daß wir jenen Charakter ohne Mitwirkung unserer Freiheit .verliehen' bekommen haben, durch welches ens metaphysicum auch immer18. Nietzsche aber

18

Als Beispiel für diese Orientierung von Nietzsches Schopenhauer-Kritik sei eine Aufzeichnung von 1885 herangezogen. In ihr heißt es, Schopenhauer sei durch seine Überzeugung von der „Unveränderlichkeit des Charakters" einerseits und dem Glauben an die „Unfehlbarkeit" seines „Genies" andererseits dazu gebracht worden, „seine Jugendsünde', ich meine seine Metaphysik des Willens, vorzeitig heilig zu sprechen und sich selber nicht mehr zu .entwickeln'". (Nachlaß 34[117]; KGW VII 3, 179f.)

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kann keinen ,statischen Faktor' als ein der Veränderung Entzogenes zulassen, andernfalls geriete er unvermeidlich selber in irgendeine Art jener Metaphysik, der sein .grundsätzlicher' Kampf gilt. Vielmehr muß er alles, was mit dem Anspruch auf Beständigkeit aufgetreten ist oder noch auftritt, in Prozesse des Werdens auflösen. Solcher Anspruch ist ihm zufolge in jedem Falle wie hier bei Schopenhauer - Irrtum.™ Irrig ist nun nach Nietzsche nicht nur der ausdrücklich vorgebrachte Anspruch, es gebe .Festes', dem Werden Entzogenes, sondern auch schon der fraglose Glaube daran und, noch ursprünglicher, unser fest-stellendes und sonderndes Denken überhaupt, ja selbst unser unvermeidlich abstrahierendes Wahrnehmen. Wir begegnen demgemäß Nietzsches Qualifizierung von Fixem als Irrtümlichem in mehreren Hinsichten. Je nach dem Entwicklungszusammenhang, den er ins Auge faßt, konfrontiert er uns mit Irrtümern unterschiedlichen Grades. Es gibt Irrtümer, über die wir in philosophischer Argumentation aufgeklärt werden können (welches Mittel dann für ihre Aufhebung als zureichend erscheinen kann). Andere Irrtümer sind fester in uns verankert; zu ihrer .Beseitigung' bedarf es (über das Aufgeklärtwerden hinaus) der vielleicht erst allmählich wirksam werdenden Abgewöhnung. Wieder andere sind so tief in uns verwurzelt, daß sie uns als wesenhaft, d.i. als eigenschaftlich im Sinne von Bleibendem erscheinen, es nach Nietzsche jedoch nicht sind. (Man denke an Schopenhauers Behauptung unseres empirisch unwandelbaren Charakters, gegen welche Nietzsche dessen langfristige sukzessive Änderung ins Feld führt.) Steigen wir noch weiter in unsere Irrtümlichkeit hinab, so treffen wir auf einverleibte,Grundirrtümer', bei denen zu fragen ist, ob wir ihrer entraten können, ohne dadurch zugrundezugehen. Der Hinweis auf die Vielfalt unserer Irrtümer (die sich in dem nur schematisch Angeführten nicht erschöpft) wirft mehr Fragen auf, als an dieser Stelle beantwortet werden können. Hier ist für uns nur zweierlei wichtig. Erstens dürfen wir nicht meinen, bei Nietzsche fungiere das Wort .Irrtum' als Oberbegriff, unter dem wir Arten von Irrtümern subsumieren könnten. Irrtum ist kein Allgemeines, sondern immer besonderer Irrtum. Wenn dieser sich als lange durchgehaltener präsentiert, so vollziehen sich doch an und in ihm ständig Wandlungen, mögen sie auch nur akzidentell, peripher sein und von uns vielleicht gar nicht erkannt werden. Schon daß er im wechselnden

19

Zu Schopenhauers Annahme von Beständigem vgl. den Exkurs 1.1 im Anhang zu dieser Abhandlung (S. 114ff.).

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Bezug zu anderem steht (zu mehr oder weniger stabilen Erkenntnissen, welche zumeist ebenfalls Irrtümer sind), führt zu seinem unablässigen Sich-wandeln. Angesichts solcher Konkretheit kann ihm auch keine allgemeine Wahrheit gegenübergestellt werden. Zwar setzen wir mit Nietzsche voraus, daß es „in Wahrheit" (wie Nietzsche häufig sagt) nur den unaufhörlichen Fluß gibt20. Eine solche Charakterisierung des ,wahrhaft Wirklichen' ist freilich zu abstrakt und zu inhaltsarm, als daß Nietzsche sie als konkrete Wahrheit in Anspruch nehmen könnte. Gleichwohl bedürfen wir jener (von ihm zunächst und zumeist nicht näher bestimmten) Vorstellung vom ununterbrochenen Fließen als eines Verstehenshintergrundes, ohne den wir weder seine Aufweise von Irrtümern noch deren Hineinnahme in Prozesse des Werdens erfassen können. - Zweitens können wir nun einen Zugang zu Nietzsches Verfahren der genealogischen Ableitungen gewinnen, welches er in seiner mittleren Schaffensperiode mit dem Begriff von Wissenschaft verbindet. Ein Irrtum (auf welcher Ebene auch immer) ist nicht eine bloße Verkehrung einer ,wahren' Einsicht. Er ist (als das, was er ist) erst dann verstanden, wenn seine Herkunft sachangemessen beschrieben worden ist. Solchem Verfahren, auf das wir uns im folgenden einzustellen haben, liegt nicht eine von Nietzsches historischen und psychologischen Ableitungen ablösbare ,Methode' (in engem Sinne) zugrunde, die wir den von ihm dargestellten Zusammenhängen entnehmen und auf andere übertragen bzw. diesen unterlegen könnten. Selbst der »gleiche Sachverhalt' kann von ihm unter verschiedene Perspektiven gebracht werden, welche zu divergierenden Genealogien führen können. Darin tritt nicht etwa Nietzsches .Willkür' zutage. Jene Divergenzen zeugen vielmehr von der Lebendigkeit seines Philosophierens.

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Die Einfachheit des Bildes vom Fluß darf uns nicht über die Vielschichtigkeit der Probleme hinwegtäuschen, die Nietzsches Philosophie des Werdens in sich birgt. Uber sie wird im letzten Beitrag dieses Bandes gehandelt. Hier werden sie nur in dem Maße zur Sprache kommen, als es die erörterte Sache erfordert. - Vor noch größere Schwierigkeiten führt Nietzsches vielfältiger Gebrauch des Wortes Wahrheit. Auch in dieser Hinsicht werden wir uns hier ganz von unserem Thema leiten lassen. Dazu ist an dieser Stelle nur darauf hinzuweisen, daß ich im folgenden (wie schon oben) die Wendung ,in Wahrheit' in einfache Anführungszeichen setze, wenn von Nietzsches eigenem Wahrheitsanspruch die Rede sein wird.

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3. Zur Genealogie des Bewußtseins von Verantwortlichkeit Zurückgeführt auf und eingebunden in genealogisches Denken sind die Freiheitslehren von Kant und Schopenhauer mehr als Philosophen-Irrtümer. Sie lassen sich als Stationen auf dem Wege einer über sie hinausführenden Entwicklung darstellen. Dies zeigt sich, wenn Nietzsche unter dem Titel ,J)ie

Fabel von der intelligibelen Freiheit" in Menschliches, Allzumenschliches I (Aph. 39), die „Hauptphasen" der Geschichte der moralischen Empfindungen vorstellt, durch welche man sowohl die anderen als auch sich selbst verantwortlich macht.

Zuerst bezeichnet man das als gut, was einem nützt, und das als böse, was einem schadet. Es sind die Folgen oder Wirkungen einzelner Handlungen, von denen her solche Benennungen - und damit die Zuweisung von Verantwortung - vorgenommen werden. Dann aber verlagert man das Gutoder Böse-sein auf die Handlungen als solche, als hinge es diesen eigenschaftlich an; die „Herkunft dieser Bezeichnungen" wird vergessen. Diese beiden Phasen gehören nach Nietzsches späteren Darlegungen noch nicht zur Moralität im engeren Sinne. 21 In der nächsten Phase betrachtet man „die Thaten an sich als moralisch zweideutig", können sie doch aus entgegengesetzt bewerteten Motiven hervorgegangen sein. Verantwortlich zu machen jedenfalls ist der Mensch weder für seine Handlungen noch für die Motive, welche jene bestimmen sollen. „Man geht weiter" - Nietzsche verfolgt damit den Weg von Kant zu Schopenhauer - und verlegt die moralische Freiheit vom operari in das esse. Ersteres gilt dann seinem vollen Umfang nach als „Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit", letzteres bildet die „Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit", in welcher der Mensch weltvorgängig über sein Wesen entscheidet;

21

Nach Jenseits von Gut und Böse gehören sie noch zur „vormoralische [n] Periode der Menschheit". Erst durch einen Vorgang von „Selbsterkennung" des Menschen erfolgt die Rückführung der Handlungen auf Absichten. Diese ist das „Abzeichen" der moralischen Periode, welche „Dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen" uns an die „Schwelle einer Periode" geführt hat, die Nietzsche die außermoralische nennt. Ein e Absicht könnte, so seine Kennzeichnung der Abhebung vom Moralischen, zur „Oberfläche und Haut" einer Handlung gehören, „welche, wie jede Haut, Etwas verräth, aber noch mehr verbirgt". Jedenfalls bedarf die Absicht immer der „Auslegung", ist sie doch ein „Symptom" oder ein „Zeichen, das zu Vielerlei und folglich für sich allein fast nichts bedeutet". (32; KGW VI 2, 46f.)

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dies geschieht als „That eines freien Willens", welche „die Grundursache der Existenz eines Individuums" ist. Schließlich entdeckt man aber, daß auch das Wesen (der Charakter) in jene Sphäre der Notwendigkeit gehört, insofern er aus nichts anderem „concrescirt" als „aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge" . Nietzsche faßt zusammen: Für nichts ist der Mensch verantwortlich zu machen, „weder für sein Wesen, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist". Oben hatten wir dargelegt, daß es kein sachlich begründetes Recht gibt, dem Charakter des Menschen Unveränderlichkeit und damit .Intelligibilität' zuzusprechen. Hier geht es darum, im Sinne Nietzsches auch dem Bewußtsein von Verantwortlichkeit jenen festen Boden zu entziehen, von dem aus diese als ein uns wesenhaft Bestimmendes, über unser jeweiliges In-der-Zeit-sein auf Transzendentes Hinausweisendes aufgefaßt wird, welches uns (angeblich) Bestimmende wiederum die Annahme von Willensfreiheit (als moralischer Freiheit) gestatten soll. Daß wir uns irren, wenn wir uns als verantwortlich ansehen, muß aber nun noch genauer aufgewiesen werden. Wir dürfen uns nicht mit der .Entdekkung' Nietzsches begnügen, daß die Geschichtsphasen der Moralität von der Phase des Bewußtseins unserer Unverantwortlichkeit abgelöst worden sind bzw. abgelöst werden sollen. Jener genauere Aufweis wird in dem herangezogenen Aphorismus in einer (für uns: weiteren) Kritik an Schopenhauer vorgelegt. Dieser habe aus dem „Unmuth (.Schuldbewusstsein1)", der auf „gewisse Handlungen" folge, unangemessenerweise auf dessen „Berechtigung" im Sinne „vernünftige[r] Zulässigkeit", und das heißt, auf eine faktische (,wahre', nicht .irrtümliche') Verantwortlichkeit geschlossen, welche ihn „zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit" geführt habe. Wenn Nietzsche in diesem Zusammenhang von jenem Unmut als von einer „Thatsache" spricht, so hebt er damit einen sehr häufig und zunächst unreflektiert gegebenen Bewußtseinszustand von dem aus ihm Gefolgerten ab. Dieses ist Irrtum, jener stellt sich als Erfahrung (schon vor jedem Urteil) ein. Solche .tatsächliche Erfahrung' verweist jedoch weder auf ein .Faktum' im Sinne der reinen praktischen Vernunft (wie bei Kant), noch kann sie die Basis für die Behauptung einer vor-zeitlichen, außerräumlichen und grundlosen Entscheidung darstellen (wie bei Schopenhauer). Auch sie ist etwas Gewordenes, etwas Veränderbares, möglicherweise etwas irgendwann nicht mehr Gegebenes. Daß auch sie irrtümlich ist

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(aus einer grundlegenderen Betrachtung heraus), wird uns in späterem Zusammenhang beschäftigen. In unserem Text wendet sich Nietzsche gegen die Behauptung der Unausbleiblichkeit des Schuldbewußtseins nach bestimmten Handlungen. Erstens, so führt er aus, könne man sich solchen Unmut abgewöhnen; zweitens trete er in unterschiedlichem Maße auf („bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden"); drittens wandele er sich mit der „Entwicklung der Sitte und Cultur"; „vielleicht" gebe es ihn „nur in einer verhältnissmässig kurzen Zeit der Weltgeschichte". Die „Thatsache" des Schuldbewußtseins weist (zunächst) auf ein sie kontrastierendes Phänomen zurück. Sie „ruht" auf der (ebenfalls) „irrthümlichen Voraussetzung, dass die That [...] nicht nothwendig hätte erfolgen müssen", sondern der Freiheit des Willens entsprungen sei. Das besagt: „Weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse". Damit hat Nietzsche Schopenhauers Argumentation gänzlich zersetzt: Weder läßt sich die Freiheit des Willens (gar ein sie ermöglichender intelligibler Charakter) beweisen, noch gibt es .wirkliche' Verantwortlichkeit als Grund für die Annahme von Freiheit, noch läßt sich solche Verantwortlichkeit aus dem (nun relativierten) Schuldbewußtsein ableiten. Das Sich-für-frei-Halten freilich ist jeweils mit diesem gegeben. Wir sollen uns davon nicht täuschen lassen: Wir sind nicht frei. Nietzsches erste Genealogie des Verantwortlichmachens, von der wir ausgegangen sind, führt zu dem Ergebnis, daß der Irrtum von der Verantwortlichkeit „auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht". Dies bedeutet: Schopenhauer hat aus dem Gegebensein der ,moralischen Empfindung' von Schuld irrtümlich auf die faktische Verantwortlichkeit des Menschen für sein Wollen und Tun geschlossen und daraus wiederum dessen Willensfreiheit (im intelligiblen Sinne) .bewiesen'.22 ,In Wahrheit' 22

Daß Nietzsche sich im Anschluß an diese Genealogie allein mit Schopenhauer auseinandersetzt, leuchtet daraus ein, daß dieser für ihn deren Schlußphase repräsentiert. Nietzsches Einwände gegen ihn suchen, wie schon angedeutet wurde, gleichermaßen Kant zu treffen. Im Hintergrund steht schon damals ein weiterer Name. In einer .Vorstufe' zum Aph. über die .intelligible Freiheit' heißt es, „an der Entstehung dieses Fabelwesens" Schopenhauers seien „Plato und Kant zu gleichen Theilen mitschuldig" (Nachbericht KGWIV 4, 178). Im veröffentlichten Text hat Nietzsche diesen Hinweis fortgelassen. Ein Grund dafür dürfte gewesen sein, daß sich Plato nicht problemlos in die Phasenabfolge der vorangestellten Geschichte der moralischen Empfindungen hätte einordnen lassen. Als weiterer möglicher Grund legt sich nahe, daß Nietzsche nicht völlig davon überzeugt war, daß Plato

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aber .entsteht' Schuldbewußtsein erst aus unserer irrigen Annahme, unser Handeln sei nicht gänzlich nezessitiert. Ihr liegt das Sich-für-frei-Halten zugrunde. Die .Geschichte der moralischen Empfindungen' läuft auf die Erkenntnis der Wahrheit hinaus, daß sich alles Geschehen (einschließlich unseres Handelns, Wollens, Fühlens) mit unverbrüchlicher Notwendigkeit vollzieht. Der fest in uns verankerte Glaube an die Willensfreiheit stellt sich dieser Erkenntnis entgegen. Er kann für sich geltend machen, daß wir seiner im Leben bedürfen. Die Einsicht in jene Notwendigkeit kann mehr oder weniger große Bedeutung für den Menschen haben, im Extremfall sogar zerstörerische Folgen. Der Widerstreit zwischen dem Lebensdienlichen (hier: dem Glauben an die Willensfreiheit) und der Wahrheit (hier: über das Leben in seinen notwendigen Abläufen) wird in Nietzsches Schriften auf verschiedenen Ebenen, mit Akzentverschiebungen, in (Denk-)Versuchen und .Experimenten' mit wechselnden (Zwischen-)Ergebnissen ausgetragen, bis er in seinen Lehren vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zur reifen Darstellung gelangt, die gleichwohl alles andere als unproblematisch ist.

für jenen Begriff von Freiheit in Anspruch genommen werden könnte. Jedenfalls finden wir noch in seinem letzten Schaffensjahr eine Bemerkung, die eine gewisse Vorsicht in diesem Punkte verrät. In Götzen-Dämmerung schreibt er, die „intelligible Freiheit" sei (nicht nur von Kant) „vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden" (Irrthümer 8; KGW VI 3, 90). Die Erklärung für Nietzsches Zurückhaltung dürfte darin liegen, daß nicht er selbst Plato in diesen Zusammenhang gezogen hatte. Schopenhauer war es gewesen, der die „Identität" der Lehren Kants und Piatos über den Unterschied zwischen intelligibler und empirischer Freiheit behauptet und zu belegen versucht hatte. Schopenhauer beruft sich auf das zweite Buch der Eklogen von Stobäos, in dem dieser eine (verloren gegangene) Schrift des Por-phyrius heranzieht und kommentiert, die sich auf das 10. Buch der Politela bezieht. Schopenhauer gibt in einem Exkurs seiner Grundlage der Moral (a.a.O., 2 1 8 - 2 2 0 ; vgl. Anm. 11) einen Paragraphen aus Stobäos vollständig wieder, um zu belegen, daß Plato, wenn auch „bloß mythisch und in Verbindung mit der Metempsychose", das vertreten habe, was bei Kant abstrakt vorgetragen werde. Die Plato-Passage läßt sich übrigens eher mit Schopenhauers Verständnis des Intelligiblen verbinden als mit dem Kants. - Nietzsche wird den Sachverhalt im einzelnen nicht geprüft haben. Er nimmt den Hinweis von Schopenhauer auf, übernimmt ihn aber nur mit Vorbehalt.

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4. Über den Widerstreit von Leben und Erkenntnis Allzumenschliches '

in,Menschliches,

Die ersten - und zugleich grund-legenden - Ausführungen zum Widerstreit zwischen dem Glauben an die Willensfreiheit und der Einsicht in die Notwendigkeit allen Geschehens finden wir (ebenfalls) in Mettschliches, Allzumenschliches I. Nietzsche führt in diesem Buch durchaus unterschiedliche .Lösungen' des Konflikts vor. Einige werden später fallen gelassen, andere halten sich, als immer erneut in Frage gestellt, durch, wieder andere tauchen in verwandelter Gestalt auf. Wir ziehen zunächst die beiden letzten Aphorismen desZweiten Hauptstücks dieses Buches 23 heran. Im Aph. 106 wird der Gedanke der ausschließlichen Notwendigkeit alles Geschehens (ausgehend vom Anblick eines Wasserfalls) als Theorie unter den Gesichtspunkt des rechnenden Verstandes gebracht. Dies geschieht durch die Fiktion von einer Art .Laplaceschem Geist'. „Ein allwissender, rechnender Verstand [...] könnte [...] bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen." Voraussetzung dafür wäre, daß „in einem Augenblick das Rad der Welt still stände", um ihm eine,Pause' für die Ausrechnung der notwendigen Abfolgen zu gewähren. Auch „die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus". Das Wissen um die Notwendigkeit bleibt dabei abstrakt: in kalter, toter Begrifflichkeit, kraftlos, wie Nietzsche später häufig sagen wird. Es verliert

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Bei deren Darstellung in den beiden nächsten Abschnitten wird der vielschichtige Hintergrund von Nietzsches literarischer Rezeptionen in der vor der Veröffentlichung von Menschliches, Allzumenschliches I liegenden Phase nicht berücksichtigt. Auf seine Lektüre von Eugen Dührings Schrift Der 'Werth des Lebens in Sommer 1875 soll wenigstens hingewiesen werden. Es geht ihm in ihr darum, Dühring „als den Versuch einer Beseitigung Schopenhauer's durchzustudiren und zu sehen, was ich an Schopenhauer habe" (Nachlaß, 8[4]; KGW IV 1, 205: vgl. a.a.O., 8[3].). Seine umfangreichen und kommentierten Exzerpte dieses Buches (Nachlaß, 9[1]; KGW III 4, 2 0 7 - 2 5 7 ) sind zuerst ausgewertet worden von A. Venturelli in dessen Abhandlung Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), 1 0 7 - 1 3 9 . - Ergebnisse dieser Auseinandersetzung fließen auch, teilweise in wörtlicher Übernahme seiner kritischen Betrachtungen, in Menschliches, Allzumenschliches ein (s. dazu Venturelli, a.a.O., 1 1 3 - 1 2 3 ) . - Die Zurückweisung Dührings durch Nietzsche (die in den späteren Jahren immer heftiger wird) scheint mir zu verdecken, daß er ihm wichtige Anregungen verdankt.

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seine Kraftlosigkeit, wenn der Mensch es zur Wahrheit seines Selbstverständnisses erhebt, wovon im Aph. 107 die Rede ist. Er gelangt dann zur Einsicht in seine „völlige Unverantwortlichkeit". Diese „ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muß, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen", d.h.: wenn er sich auf dem Boden der Moral bewegte. Jene Einsicht erstreckt sich unweigerlich auch auf die anderen Menschen. „Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbringt, hat einem Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln." Solche Einsicht kann eine schwere Traurigkeit über das Leben des Erkennenden legen. Sie kann „tiefe Schmerzen machen". Sie kann zwar, muß aber nicht in Schwermut oder Verzweiflung münden. Es wird (zunächst freilich nur wenige) Menschen geben, „welche jener Traurigkeit fähig sind", welche die Schmerzen ertragen, weil sie „Geburtswehen" sind. Zwar kommt das Neue, das entstehen soll, nicht plötzlich in die Welt. Sichtbar wird es schon, wenn man sich auf den Wegen zu ihm befindet. Dann gilt: „Wer dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird?" Als Ziel nennt Nietzsche: „eine weise Menschheit", welche sich aus der Umwandlung einer moralischen bilden soll. Die Weisheit besteht in der Einsicht: „Alles ist Unschuld". Diese Einsicht soll uns allmählich ganz durchdringen können. Zwar „mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, pflanzt sich allmählich auf demselben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie sie jetzt den un weisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen [...] hervorbringt". Der Gedanke, daß nicht nur „Alles [...] im Flusse", sondern „*tuch im Strome: nach Einem Ziel hin" sei, der weisen Menschheit nämlich, wird von Nietzsche schon in Menschliches, Allzumenschliches durch andere Überlegungen konterkariert. Von der inneren Problematik des Aph. 107 her können wir einen Zugang zu ihnen gewinnen. Wir gehen davon aus, daß derjenige, der sich auf dem geschilderten Wege zur „Selbsterleuch-

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tung und Selbsterlösung" der Menschheit befindet, sich von diesem Ziel her als gerechtfertigt verstehen kann. Als Erkennender muß er dann freilich seinen eigenen Erkenntnisstand relativieren. Zwar hat er die Freiheitsillusion aufgedeckt: „in Wahrheit" entscheidet notwendig „das mächtigste Motiv über uns". Er weiß, daß der Mensch so handelt, wie er handeln muß, d. h. (nach Menschliches, Allzumenschliches noch) aus dem Verlangen nach Selbstgenuß heraus. Nun entscheiden aber „die Grade der Urtheilsfähigkeit" darüber, „wohin Jemand sich durch dieses Verlangen hinziehen lässt". Aber deren „Maassstab wandelt sich fortwährend" (und damit „die Rangordnung der Güter") - und zwar in „jeder Gesellschaft" wie in „jedem Einzelnen". Sogenannte ,böse' Handlungen, durch den niedrigen Intelligenzgrad eines Menschen bestimmt, erscheinen unter dem Aspekt eines höheren als dumm. Nietzsche zieht die Konsequenz. „In einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht ist, kann sicherlich noch überboten werden: und dann wird, bei einem Rückblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurückgebliebener Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt." Auch die (aufklärerische) Idee eines Erkenntnisfortschritts, in welcher das Ziel der Entwicklung der Menschheit in ihrer künftigen Weisheit gesehen wird, kann noch relativiert werden. Wir brauchen nicht spätere Schriften und Aufzeichnungen Nietzsches heranzuziehen, um darzutun, daß Nietzsche diesen Gedanken fallen läßt. Wir finden schon in Menschliches, Allzumenschliches den Gegengedanken: „Die Menschheit hat im Ganzen keine Ziele", heißt es im Aph. 33. Für den vom Erkennenden auszutragenden Widerstreit zwischen Erkenntnis der Wahrheit und Leben im Irrtum besagt das: „folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes (sc. der Entwicklung der Menschheit), nicht darin (sc. in Zielen der Menschheit) seinen Trost und Halt finden", welcher Trost ihm ja im Aph. 107 zugesprochen wird. Die dort genannten „tiefen Schmerzen", welche aus der Einsicht in die strikte Notwendigkeit alles menschlichen Handelns entspringen, steigern sich im Aph. 33 zur „Verzweifelung": sich „als Menschheit (und nicht nur als Individuum) [...] vergeudet zu fühlen". Dieses „Gefühl über alle Gefühle" löst die Frage aus, ob „nicht der Tod vorzuziehen sei", dann nämlich, wenn „die Wahrheit [...] dem Leben, dem Besseren feindlich" wird und man (bewußt) „in der Unwahrheit bleiben müsse", wie Nietzsche im Aph. 34 ausführt. „Als persönliches Ergebniss" des Widerstreits zwischen Leben und

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Erkenntnis scheint nur die Verzweiflung übrig zu bleiben, „als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung". Damit ist das (gegenüber der Zielorientiertheit im Aph. 107) andere Extrem der Möglichkeiten dargestellt, die Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches I hinsichtlich des Verhältnisses Irrtum - (neue) Wahrheit welches wesentlich die Relation Freiheit-Notwendigkeit in sich schließt oder, umgekehrt gesehen, es konstituiert - seinem späteren Werke vorgibt. Der nihilistischen Konsequenz stellt er im Aph. 34 „.Zur Beruhigung" (so lautet dessen Titel) hinsichtlich der „Nachwirkung der Erkenntniss" jene Grundhaltung entgegen, die nach dem im Aph. 107 Ausgeführten aus der Einsicht in die Notwendigkeit all unseres Wollens und Handelns als neue Gewohnheit allmählich erwachsen soll. Im Aph. 34 (der die Folgerungen aus den voranstehenden Aphorismen, insbesondere von Aph. 33, zieht) wird unter Verzicht auf die Menschheits-Utopie die innere Entwicklung „bei einzelnen Naturen" beschrieben. Zuerst haben „die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft [...], aus alter vererbter Gewöhnung her". Diese würden aber „unter dem Einflüsse der reinigenden Erkenntniss schwächer". Ein solcher Erkennender „lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung" - weiß er doch um die Notwendigkeit des Ganges von allem Geschehen - , „an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend". Nietzsche scheint sich in die stoische Tradition einzureihen, wenn er den Erkennenden auf dieser Stufe „eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele" zuspricht. „Ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind", dem „muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen". Wir gehen noch einmal zum Anfang des Aph. 34 zurück. Zwar wird die Wahrheit in dem beschriebenen Erkennenden nicht dem Leben feindlich. Aber die Distanz zu diesem ist so groß geworden, daß gefragt werden muß, ob es noch ,das Bessere' gegenüber dem Erkennen bleiben kann: zumal jener „nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen". Dem Leben und dem Erkennen gleichermaßen Geltung zu verschaffen, ist Nietzsches Bemühung in einem anderen Gedankengang. Es geht um die Freude des Erkennenden, welche aus dem grundlegenden Verlangen nach Selbstgenuß heraus erstrebt wird. Nach Aph. 34 gehört sie zu dessen Über-dem-Leben-Schweben. Im Aph. 251 wird nun hinsichtlich der ¿Zukunft der Wissenschaft" ein anderes Bild vom Wachstum der Erkenntnis

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gezeichnet. Wissenschaft, womit Nietzsche hier offenkundig die (positiven) Wissenschaften meint, soweit ihnen die (,seine') Wissenschaft vom Werden inhäriert, bereitet dem, „welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen. Dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr wenig." Allmählich aber würden „alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltäglich und gemein", damit höre auch jenes „wenige Vergnügen" auf. Wissenschaft - und damit Erkenntnis des Werdens - nimmt Freude am Leben, „verarmt" es: „durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik, Religion und Kunst", die Nietzsche hier noch als die „grösste Quelle der Lust" bezeichnet, „welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt". Erkenntnis des Wahren, also der Notwendigkeit in allem Geschehen, ist nun nicht mehr in sich selbstgenügsam-freudig; es bedarf, weil zur Freudlosigkeit führend, in einer „höhere[n] Cultur" jenes Vertrauens in das Affektive (das mit dem ,Glauben' an die Willensfreiheit einhergeht), von dem nach den Aph. 34 und 107 das Erkennen die Menschen gerade reinigen soll. In einer solchen Kultur soll nun „dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern" gegeben werden, „einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit". Kraft wird hierbei nur der „Nicht-Wissenschaft" zugesprochen. „In einem Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden." Andernfalls wird entweder die Wissenschaft ruiniert oder die Lebenskraft zerstört (Aph. 251).

5. Nietzsches ,neue Freiheit' in ihrem Gegensatz zur Willensfreiheit Wir sind auch bei der Darstellung der verschiedenen Versuche Nietzsches, die ,neue' Erkenntnis in ihrem Verhältnis zu den ,Bedürfnissen' des Lebens zu bedenken, bei unserem Thema geblieben. Auch Nietzsches spätere Erörterungen von Notwendigkeit und Willensfreiheit stehen in engem Zusammenhang mit der Erkenntnisproblematik. Dieser Zusammenhang tritt in Menschliches, Allzumenschliches I darin besonders deutlich zutage, daß der,neuen' Erkenntnis eine ,neue' Freiheit entspringt. Von dieser ist in Abhebung von der ,alten' Willensfreiheit zu handeln.

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Der Erkennende, frei über dem Tun und Treiben des Lebens schwebend, kann „mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht verhehlen", habe es doch „mit dessen .Freiheit' [...] eine eigene Bewandtniss" (Aph.34); beruht sie doch auf dem Irrtum der Willensfreiheit. Um dessen Beseitigung geht es, wie ausgeführt wurde, im Aph. 107. Im Zusammenhang mit ihr spricht Nietzsche geradezu emphatisch von einer neuen Freiheit: Die Einsicht in die Unfreiheit unseres Wollens und Handelns öffnet den Einzelnen, welche der Traurigkeit „fähig" werden, das Auge für den „ersten Strahl auf die höchsten Gipfel" in ihrer Seele, welcher Strahl von der „Sonne eines neuen Evangeliums" ausgeht. „Das unbekannte Licht" mag ihn noch blenden und verwirren. Bietet sich ihm doch ein erster Anblick dessen dar, was er gerade preisgegeben hatte: der Freiheit, freilich einer verwandelten Freiheit, aber doch sogar eines .Reichs der Freiheit'. Die ,neue' Freiheit läßt sich (in diesem Zusammenhang nur) negativ charakterisieren. Sie besagt Befreiung von Verantwortlichkeit und Schuld, also von den moralischen .Bestimmungen' wie Pflicht, Verdienst, Hochschätzung, Verurteilung usw., die sämtlich die Willensfreiheit des Menschen zu ihrer Voraussetzung haben. Deren Aufhebung in der „neuen Erkenntniss", daß alles Notwendigkeit ist, öffnet den Blick auf das Reich der neuen Freiheit. Im Aph. 107 bezeichnet Nietzsche den Übergang vom naturhaften (vormoralischen) Streben nach Selbstgenuß als „nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüte, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss". Der Sinn für Wahrheit wendet sich schließlich gegen die Moral, deren Irrtümer und Verirrungen aber „das einzige Mittel" gebildet haben (das deshalb nicht gering geschätzt werden darf), durch das sich die Menschheit „allmählich" zu dem erreichten Grad der Einsicht, daß alles Unschuld sei, „zu erheben vermochte". Die .neue' Freiheit wird also durch die Erkenntnis der Irrtümlichkeit der .alten' (moralbestimmten) Freiheit gewonnen; insofern ist letztere die Voraussetzung für die erstere. Die neue Erkenntnis: alles ist Notwendigkeit, stellt weder einen Akt der neuen Freiheit dar, noch wird mit ihr eine Freiheit entbunden, die sich der Notwendigkeit alles Geschehens entziehen könnte. Die Erkenntnis der Notwendigkeit gehört selber in diese hinein. Auch in der .neuen' Freiheit bleibt der Mensch der Notwendigkeit unterworfen. Die .neue' Freiheit ist (ernötigte) Befreiung von moralischen (mit Metaphysik und Religion verquickten) Irrtümern aus Einsicht in die Notwendigkeit. Die Befreiung ist nicht ein abrupt auftretendes Ereignis, ein plötzliches

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Hellwerden der Wahrheit aller Geschehenszusammenhänge. Der Erkennende, im Leben stehend, kann sich nur allmählich von den in und mit diesem gegebenen, mehr oder weniger fest eingewurzelten Irrtümern befreien. Selbst wenn eine ,neue' Erkenntnis plötzlich ins Bewußtsein tritt, so ist dem ein unterschwelliges Ansammeln von Eindrücken und Erfahrungen, deren Zusammenfügung und Wachstum als Kraft kontinuierlich vorausgegangen. Erst dann kann „der Schmetterling [...] seine Hülle durchbrechen" (Aph. 107). Befreiung ist also ein Vorgang im (in den) Erkennenden. Dieser Vorgang ist zum einen auf die Extension der Erkenntnis vom,wirklichen' Geschehen durch die künftige Entwicklung der Wissenschaft(en) gerichtet. Zum anderen aber geht es Nietzsche um die Intensivierung der ,neuen' Freiheit, d.h. darum, sie eindrücklich zu machen und uns dadurch nachdrücklich zu prägen. Als abstrakter Gedanke kann die ,neue' Erkenntnis folgenlos bleiben. Mit seiner Hineinnahme in das Selbstverständnis des Erkennenden erfolgt der Abbau der .alten' Irrtümer. Solcher Abbau der religiösen, metaphysischen und moralischen Vorurteile ist möglich. In seinem Vollzuge sollen wir uns das Schuldbewußtsein abgewöhnen können (s. oben S. 39). Unser ,Glaube' an die Willensfreiheit aber widersteht solchem Abbau. Zwar ist seine Fundierung in moralphilosophischen Zusammenhängen für Nietzsche obsolet geworden (wie seine Genealogie der moralischen Empfindungen gezeigt hat) : Die Gefühle der Verantwortlichkeit und Schuld täuschen uns eine .moralische Freiheit' vor, über die wir nicht verfügen. Aber deren genealogische Auflösung in den mit strikter Notwendigkeit erfolgenden Geschehensablauf hinein läßt das .Gefühl' der Willensfreiheit als ein vor-moralisches Datum der Selbsterfahrung bestehen. Diesem gegenüber ist die Inanspruchnahme von Willensfreiheit durch die Moral sekundär. Der (gleichwohl irrige) Grundglaube an sie sitzt so tief, daß ihm weder Moralkritik noch deren Intensivierung zur Moralzersetzung etwas anhaben können. Er bleibt gegenüber der .neuen' Erkenntnis und der von dieser aufgerufenen .neuen' Freiheit in eigentümlicher Weise resistent.

6. Von der täuschenden Isolation der Fakta Die Destruktion der Grundlagen unserer Moral durch die Darlegung ihrer Irrtümlichkeit und durch ihre Überführung in Werdensprozesse läßt

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also die Frage offen: Woher kommt es ursprünglich, daß wir uns für frei halten, daß wir ,glauben', frei zu sein, obwohl wir es nicht sind? Indem wir nach dem .Woher' fragen, richten wir uns weiter auf Nietzsches genealogische Erklärungsweise ein. Seine Antwort läßt sich dementsprechend nur in einer Schrittfolge vorstellen. Sie wird von ihm unter dem Titel: Die Freiheit des Willens und die Isolation der Facta in Menschliches, Allzumenschliches II (Wanderer 11) dargestellt. Zunächst konstatieren wir mit Nietzsche, daß unser „Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungetheilten, untheilbaren Fliessens unverträglich ist" (welche Vorstellung wir ja trotz ihrer vorläufigen Unbestimmtheit als ,wahr' akzeptiert haben). Die Unverträglichkeit besteht darin, daß wir mit jenem Glauben voraussetzen, „jede einzelne Handlung" sei „isolirt und untheilbaru. Mit ihm gelangen wir in „eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens"; auch (schon) des Erkennens: „Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als Eins und nennt sie ein Factum." Als Eins wird es als In-sich-Gleiches gesetzt. Zwischen ihm und anderen (ebenso aus Phänomen-Bündelungen zusammengezogenen) Fakten „denkt sie (sc. unsere .Beobachtung') sich einen leeren Raum hinzu". Was wir aus dem Zusammenhang des Werdens (das wir gewissermaßen fest-gestellt haben, um isolieren zu können) herausgelöst, für sich gesetzt und gleich gemacht haben, setzen wir dann in ,neue' Relationen zueinander; andernfalls bliebe unser Erkennen in sich zerfallen. Solche Verknüpfungen vollziehen wir in mannigfachen Weisen. Die hier für uns wesentliche besteht in der Einfügung unseres Wollens. Die mit der Isolation von Fakten resp. Faktengruppen vorgestellten ,leeren Räume' gestatten es, die Illusion zu erzeugen, wir könnten unseren vermeintlich .freien Willen' zwischen die Fakten schieben und damit die als Folgen gedachten späteren Fakten (unserem Willen gemäß) verändern. Hinsichtlich des als .wahr' verstandenen Werdensflusses haben wir damit eine zweifache Selbsttäuschung vollzogen: Als dritte kommt dann die .moralische Applikation' hinzu. Wir können loben, tadeln und verantwortlich machen nur unter der „falschen Voraussetzung, dass es gleiche Facta gebe, dass eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Facten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Werthordnung entspreche". Nur das Gleichgemachte (- in Wahrheit gibt es nichts Gleiches - ) ermöglicht den Vergleich auch von „Handlungs-Gruppen". Diese werden in der moralischen Ausdeutung unter die Gleich-machungen .gute' oder .böse' Handlungen gebracht. Dabei wird von einer Wertordnung ausgegangen, welche selbst nur eine aus Isolierungsakten hervorgegangene Konstruktion ist. Deren An-

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nähme als einer .faktischen Gegebenheit' stellt eine vierte Stufe menschlicher Selbsttäuschung dar. Die ,guten' oder ,bösen' Handlungen werden dem freien Willen des Menschen zugerechnet. Aber so wenig es für Nietzsche den freien Willen gibt, so wenig gibt es das Allgemeine moralisch bewerteter Handlungen. Jede Handlung ist singular, wird sie doch durch die je einmalige Konstellation von .Faktoren' bestimmt. Sie entspringt nicht der Freiheit, sondern erfolgt aus Notwendigkeit.24 Unser Glaube an die Willensfreiheit setzt also irrtümlich das Gegebensein eines freien (leeren) Spielraums voraus, welcher durch unsere Fiktionen der Fest-stellung des Werdens, des zusammenziehenden (sekundär des generalisierenden) Gleichmachens und der sondernden Isolation von Fakten konstituiert wird. Um die Entstehung dieses Glaubens begreifen zu können, müssen wir noch Anfänglicheres in den Blick nehmen als bisher. Wie ist es möglich, so fragen wir, daß wir die genannten ,Grundirrtümer' gebildet und ausgebildet haben, wir, die wir doch gänzlich (einschließlich unseres Wollens, Fühlens, Denkens) eingewoben sind in die ,wahre' Wirklichkeit des beständigen, einartigen und bruchlosen Werdens, selbst unablässig Werdende sind? Nietzsches Antwort finden wir in Ableitungen, welche bis zu „den niederen Organismen" zurückführen. Wir ziehen dazu den Aph. 18 aus Menschliches, Allzumenschliches I heran. Es werde einmal gezeigt werden (so heißt es dort unter Bezugnahme auf die „Entstehungsgeschichte des Denkens", welche einmal geschrieben werden wird), „wie die blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer werden, allmählich verschiedene Substanzen unter-

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Nietzsche weist in dem herangezogenen Text darauf hin, daß wir „durch Worte und Begriffe" nicht „das Wesen" der Dinge erfassen („wie wir ursprünglich meinen"), sondern diese nur „bezeichnen". Worte und Begriffe verführen uns dazu, „die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt von einander, untheilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das heisst der gleichen Facten und der isolirten Facten, - hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt." In einer Vorstufe zu unserem Aphorismus heißt es noch schärfer, solche Isolierung und Vereinfachung durch Begriff und W o r t zeige die Dinge, „wie sie nicht sind" (KGW IV 4 [ 3 0 5 ] ) . Unter dem Titel Gefahr der Sprache für die geistige Freiheit schreibt Nietzsche: „Jedes W o r t ist ein Vorurtheil." (Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 5 5 ; KGW IV 3, 2 1 5 ) Spätestens hier sollte deutlich geworden sein, daß Nietzsche jede Form von Begriffsrealismus zurückweist.

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schieden werden". Nietzsche bezeichnet dabei die Empfindungen des Angenehmen oder Schmerzhaften" als Motor dieser Entwicklung; später erst stuft er diese Empfindungen zu Begleitphänomenen des eigentlichen Agens, des Machtwollens, herab. In dem herangezogenen Text geht er weiter zurück: „Für die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich." Und schließlich heißt es: „Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist." Das anfängliche (von Nietzsche nicht näher bezeichnete) Organische setzt sich die übrige Welt als das unbewegliche Eine zu seinem Gegenüber. Wir müssen dies so verstehen, daß die Empfindung dieses Eins-seins immer wieder neu erzeugt wird. Ist das Gegenüber doch ,in Wahrheit' das sich unaufhörlich Wandelnde, damit bar jeder Einheit, „in bezug auf alle Empfindungen [...] etwas Chaotisches", wie wir - über die bisherige Charakterisierung des Werdensflusses schon (vorläufig) hinausgehend - mit Nietzsche sagen. Nur im Falle jenes ständigen Neu-erzeugens läßt sich jedenfalls ableiten, daß für die Pflanze aus dem Einen .Einheiten' im Sinne sich selbst gleich bleibender Dinge werden können. Solches Setzen von Dingen als in sich gleicher bildet den Anfang einer langen und allmählichen Entwicklung bis hin zu unserer (oben genannten) Gewohnheit, verschiedene Erscheinungen .ungenau' als ein Faktum wahrzunehmen, bis zu unserem (Irr-)Glauben, „dass es gleiche Dinge giebt" (von welchem Glauben es in unserem Aphorismus ausdrücklich heißt, er sei uns „aus der Periode der niederen Organismen her [...] vererbt"), weiter zu unserem generalisierenden Gleich-machen25. Im Setzen von Einheiten als unbeweglichen wird auch schon auf der „Urstufe der Logik", von der wir hier ausgegangen sind, das jeweils Fest-gestellte von anderem Fest-gestellten getrennt. (Die Verschiedenheit von Fest-stellbarem wird durch den unablässigen Werdensfluß ermöglicht, von dem ja alles Festellen abstrahiert.) Von uns her gesehen und zugleich zurückprojiziert in die niederen Organismen besagt das, daß „das fühlende Individuum [...] jede Empfindung, jede Veränderung für etwas Isolirtes" hält. Damit macht sich jedes „Gefühl", z.B. das des Hungers, „ohne GrundundZweck" geltend (wir meinen ursprünglich nicht, daß der Hunger den Erhaltungswillen des Organismus anzeigt), es erscheint als etwas „Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne Verbindung mit Früherem oder Späterem". Als nicht bedingt weist es allein auf das Individuum zurück, in ihm stellt es sich als etwas Willkürliches

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Vgl. dazu: Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[268]; KGW V 2, 441.

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dar. Aus all dem folgert Nietzsche: „Der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren."26

7. VOM Herkunft und Macht der uns einverleibten

Grundirrtümer

Schon mit dem Anfang von Leben also ist der Irrtum von der Willensfreiheit da (wenngleich auch noch nicht entfaltet oder gar als solcher erkannt) - wie auch andere Irrtümer, die im Zusammenhang mit ihm stehen. ,Das' Leben (was dann heißt: alles Lebendige in seinem wesentlich durch Vererbung bestimmten Zusammenhang) hat sich noch in seinen fortgeschrittensten Verästelungen und Differenzierungen als Irrtum übersieh selbst entwickelt. Von 1881 an gerät diese Problematik bei Nietzsche (unter mancherlei Einflüssen) in neue Bewegung. Für das folgende beziehen ich mich auf einige seiner bedeutenden Nachlaßaufzeichnungen von Frühjahr-Herbst 1881 sowie auf das Dritte Buch der Fröhlichen Wissenschaft. Der Blick darauf, „wie auch jetzt noch das Leben im Großen (im Gange der Staaten Sittlichkeiten usw.) durch Irrthümer gezeugt wird", mache es wahrscheinlich, daß „das, was ursprünglich das Leben zeugte, [...] der denkbar gröbste Irrthum war". Nicht „die Wahrheit", nicht einmal „die mögliche Anpassung an den wirklichen Sachverhalt" bot „die lebengünstigste Bedingung", sondern die „Nützlichkeit und Erhaltefähigkeit von Meinungen".27 Gleichwohl kann die Wahrheit in der langen Entwicklung des Organischen und in der Geschichte der Menschheit nicht gänzlich untergegangen sein. War und ist sie doch das, demgegenüber sich Irrtum gebildet und bewährt hat und bewährt. Könnte sonst der Irrtum doch auch nicht als Irrtum erkannt werden (wie dies Nietzsches ,neue' Erkenntnis beansprucht). Die Fragen nach dem Verhältnis von Wahrheit als Wirklichkeit zum Irrtum (dem diese zugrunde liegt) und nach dessen Aufhebbarkeit durch die ,neue' Wahrheit (die ,neue' Erkenntnis) werden von Nietzsche (ζ. B.) in den angegebenen Texten verschärft gestellt. Wir beginnen mit Hinweisen darauf, daß sich in der Entwicklung ,des Lebens' als zunehmender Verfestigung von Irrtümern gleichwohl immer wieder ,Wahreres' gemeldet hat. Freilich ist - mit „eine[r] ungeheure fn] Grausamkeit seit Beginn allen 26 27

S. dazu Exkurs 1.2 im Anhang, unten S. 117ff. A.a.O., 11[320]; KGW V 2, 463f.

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Organischen" - alles ausgeschieden worden, „was ¿Inders empfand"" als diejenigen Wesen, welche in der Bahn dessen gehalten blieben, das „in ungeheuren Zeitstrecken [...] so fest vererbt" worden war. So leben auch wir noch „in den Uberresten der Empfindungen unserer Urahnen; gleichsam in Versteinerungen des Gefühls". Wenn „Menschen [...] wesentlich anders empfanden", z.B. „über Raumentfernung, Licht und Farbe usw.", so „sind sie beiseite gedrängt worden und konnten sich schlecht fortpflanzen. Diese Art, anders zu empfinden, muß in langen Jahrtausenden als ,die Verrücktheit' empfunden und gemieden worden sein [...] Man ließ die .Ausnahme' bei Seite zu Grunde gehen." Andere (nicht so extreme) Abweichungen von den fest-gestellten Empfindungen - Erdichtungen und Phantasien im Verhältnis zum .Normalen' - konnten bestehen bleiben. Entscheidend war (und ist), ob sich mit ihnen „leben lasse" oder ob man mit ihnen „zu Grunde gehe" 28 . Doch kann es in dem Zugrundegegangenen „sehr viele Ansätze zu Vorstellungen über die Dinge gegeben haben, die wahrer waren (und es giebt deren immer noch)". Nietzsche sagt von solchen Vorstellungen: „Sie wollen sich nicht mehr einverleiben" 29 (welchem Begriff wir von nun an besondere Aufmerksamkeit schenken müssen). Wirkt doch „das Fundament von Irrthümern, auf dem jetzt alles ruht,[...] auswählend, regu28 29

A.a.O., 11 [252]; KGW V 2, 435. A.a.O., 11[320]; KGW V 2, 464. - Das Zugrundegehen des Wahreren beschreibt Nietzsche im Aph. 111 der Fröhlichen Wissenschaft gelegentlich einer Ableitung des Logischen (in welcher Ableitung er gegenüber dem oben aus Menschliches, Allzumenschliches herangezogenen Text weitergehend differenziert). Logik ist ihr zufolge aus einem kaum ermeßlichen „Reich" der Unlogik entstanden. „Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen, giengen zu Grunde." Unsere Logik ist .falsch'. Nietzsche sagt nun von jenem Anders-Schließen: „es könnte immer noch wahrer gewesen sein!" Wahrer heißt: dem (.unlogischen') Werdensflusse .angemessener'. Er fährt fort: „Wer zum Beispiel das .Gleiche' nicht oft genug aufzufinden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Thiere, wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Aehnlichen sofort auf Gleichheit rieth." Wäre immer nur langsam und vorsichtig geschlossen worden, also z.B. zunächst nur die differierende Ähnlichkeit statt des .Gleichen' wahrgenommen worden, so „würden keine lebenden Wesen erhalten sein". Für den Weg bis zur Entwicklung des Menschen gilt: „Die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche Alles ,im Flusse' sahen." Die Begriffe der angezüchteten Logik (Nietzsche nennt den der Substanz) sind uns „unentbehrlich" geworden, obgleich ihnen „im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht".

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lirend, es verlangt von allem .Erkannten' eine Anpassung als Funktion sonst scheidet es dasselbe aus." Dieser „Prozeß" wiederholt sich „innerhalb jedes kleinen Kreises". Immer wieder gibt es „viele Ansätze zu neuen Meinungen", „Auswahl" und Entscheidung werden durch „das Lebendige und Im-Leben-bleiben-Wollende" getroffen. Aber immerhin: „bei allem Zugrundegehen schießen die Meinungen frei auf, die bisher unterdrückt wurden"30. Nun ist nicht nur ,Wahreres', sondern sogar ,das Wahre' in der Menschheitsgeschichte (wenn auch sehr spät) aufgetaucht, es hat sich sogar den Irrtümern entgegengesetzt, sich zunächst erhalten, inzwischen aber seine eigene .Macht' ausgebaut. Wieso dies geschehen konnte, führt Nietzsche im Aph. 110 der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Titel Ursprung der Erkenntnis aus. Zunächst konstatieren wir, daß er diesen Ursprung bei den frühen „Leugner [n] und Anzweifler[n]" der („uralten") „irrthümlichefn] Glaubenssätze" findet, welche „immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden". Zu diesen zählt er: „dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge gebe,[...] dass unser Wollen frei sei". Leugnung und Anzweiflung solcher Irrtümer konnten sich nur behaupten und sich allmählich zur Feinheit „der Redlichkeit und der Skepsis entwickeln", „wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben anwendbar erschienen"; sie „vertrugen" sich anfangs mit den Grundirrtümern. Unter dem Gesichtspunkt von Nutzen und Schaden für das Leben konnte über sie „gestritten" werden. Schadeten „neue Sätze" nicht, so konnten sie „als Aeusserungen eines intellectuellen Spieltriebs"31 erhalten bleiben und sich allmählich mehren. Im ,,menschliche[n] Gehirn" fand sich eine Vielzahl von „Urtheilen und Ueberzeugungen". In diesem „Knäuel" entstand „Gährung, Kampfund Machtgelüst", woran „jede Art von Trieben" beteiligt war. „Das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfniss in die anderen Bedürfnisse ein." Es wird gar „Trieb zur Wahrheit" und erweist sich darin als lebenerhaltend: „Die Prüfung, die Leugnung, das Misstrauen, der Widerspruch" können (für das Leben) nützlich sein. Diese erhielten sogar „den Glanz des [...] Geehrten", nachdem „der intellectuelle Kampf [...] Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde" geworden war. Man sprach ihnen „die Unschuld des Guten" zu: gegenüber den naturhaften ,„bösen' Instincte[n]". „Die Erkenntniss wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht." 30 31

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [320]; KGW V 2, 464. Einer Vorstufe zu Die Fröhliche Wissenschaft 110 zufolge denkt Nietzsche dabei „zuerst" an „die Arithmetik": KSA 14, 255.

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Unter diesem Aspekt stellt Nietzsche nun das Gegeneinander von Irrtum und .neuer' Erkenntnis heraus. Den irrtümlichen Glaubenssätzen war schließlich normative Geltung zugesprochen worden. Auf ihrer Grundlage unterschied man zwischen wahren (,in Wahrheit' irrtümlichen) und unwahren Erkenntnissen. Die ,neue' Wahrheit, in der Geschichte der Menschheit allmählich gewachsen, selber als ein „Stück Leben" bewährt und .bewiesen', kehrt nun mit dem Aufweis der „uralt einverleibten Grundirrthümer[n]" als Irrtümer jene Unterscheidung um. Nietzsches genealogisches Verständnis von Wahrheit aufnehmend, gehen wir von seinem Begriff von Wahrheit als der ursprünglichen Wirklichkeit des unablässigen und unhaltbaren Werdens aus; als .alte' Wahrheit bezeichnen wir unsere fest-gestellte und fest-stellende Irrtümlichkeit, welcher die .neue' Wahrheit entgegensteht, die sich zu jenem Ursprünglichen in einer anderen Weise verhält als die alte Wahrheit.32 Jedenfalls treffen die neuen „Erkenntnisse und jene uralten Grundirrthümer auf einander [...], beide als Leben, beide als Macht, beide in dem selben Menschen": dem „Denker". Solcher Zusammenstoß istalsKampfzugleich „der erste Versuch", auf „die letzte Frage um die Bedingung des Lebens [...] mit dem Experiment [...] zu antworten". Die Frage lautet: „Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung?"

8. ,Neue Erkenntnis' und Einverleibung Wenn Nietzsche schreibt, „im Verhältniss zu der Wichtigkeit" jenes Kampfes sei „alles andere gleichgültig", so dürfen wir ihn beim Wort nehmen.33 Er stellt sein Philosophieren von 1881 an unter den Anspruch der genannten Frage. In ihr geht es (auch und nicht zuletzt) darum, inwieweit der uns „uralt" anvererbte und so einverleibte Irrtum der Willensfreiheit zugunsten der Wahrheit von der Notwendigkeit alles Geschehens, d.h. zugunsten der .neuen' Freiheit im Kampf überwunden oder doch wenigstens zurückgedrängt werden kann. Gehen wir dieser Frage nach, so müssen wir versuchen, ein hinlängliches Verständnis von Nietzsches Begriff der Einverleibung in bezug auf Wahrheit und Irrtum zu gewinnen. Was ihn 32

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Die bloß abhebende Formulierung des Sichandersverhaltens wird gewählt, weil hier auf die Komplexität des Wahrheitsverständnisses Nietzsches nicht eingegangen werden kann. Die Fröhliche Wissenschaft 110; KGW V 2, 147-149.

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dazu veranlaßt, am .Leitfaden des Leibes' zu philosophieren, wird in den späteren Ausführungen noch deutlich werden. Besonderer Beachtung bedarf aber schon hier, daß Nietzsche die leiblichen Vorgänge nicht von den seelischen oder geistigen isoliert. Seine Ausführung im Aph. 19 in Jenseits von Gut und Böse, „unser Leib" sei ja nur ein Gesellschaftsbau „vieler .Seelen'", kann uns vor den gröbsten Mißverständnissen bewahren. Wenn Nietzsche jene Vorgänge voneinander trennt, dann bewegt er sich schon in deren sekundärem (abgeleiteten) Verständnis. So kann er davon ausgehen, daß eine gewisse Geistigkeit eine bestimmte Leiblichkeit zu ihrer Voraussetzung hat, oder daß Geistiges den Leib - in dem damit freilich schon verengten Sinn dieses Wortes - verändern kann. Nietzsche kann derartige Verengungen zum Zwecke von Differenzierungen vornehmen: So unterscheidet er in Zur Genealogie der Moral (Zweite Abh., 1) den „tausendfältige [n] Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte .Einverleibung' abspielt", von der „Einverseelung", welche (wie jene ohne Bewußtsein sich vollziehend) als „aktive[n] Vergeßlichkeit" fungiert, durch die von uns Erlebtes und Erfahrenes „in uns hineingenommen wird". Wir bleiben - wie Nietzsche sonst auch - bei dem Begriff der Einverleibung und verstehen ihn in seinem weiten Sinne. Dann können wir sagen: Was wir solchermaßen auswählend ,ver-innerlichen', kann in unterschiedlichem Maße eine Verdichtung und Intensivierung erfahren. Die letztere Bestimmung haben wir schon im Abschnitt 5 als Nietzsches Intention hinsichtlich des Eindrücklich- und Nachdrücklichmachens der .neuen' Freiheit verwendet. Einverleibung neuer Erkenntnis bedeutet dabei (was schon von jener alten gegolten hat), daß diese Zeit nötig hat, um groß wachsen zu können 34 . Nietzsche spricht von einverleibter Wahrheit (oder einverleibtem Irrtum) nur dann, wenn diese dadurch eine dauerhafte Festigkeit in uns erhalten hat. Vom Grad solcher Festigkeit hängen die Kraft und die Macht der .alten' wie der .neuen' Wahrheit ab. Das auswählende In-uns-hinein-Nehmen von Erfahrenem wird von dem in uns schon vorgegebenen Verfaßtsein bestimmt. Wie ich oben ausgeführt habe, hat sich unser Empfinden von seinen organischen .Vorstufen' her bis zu uns hin auf das irrtümliche Fest-stellen des Werdens eingerichtet und darin als selber fest vererbt. Einverleibt sind uns daher nicht nur zu Festigkeit geronnene Grundirrtümer, sondern mit ihnen und in ihnen, wie es im Aph. 110 der Fröhlichen Wissenschaft heißt, „alle höheren Functionen" unseres Organismus, schon „die Wahrnehmungen unserer Sinne und 34

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[320]; KGW V 2 464.

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jede Art von Empfindung überhaupt". Mit dem Wort „Einverleibtheit" kennzeichnet Nietzsche meist den höchsten Grad (feiner differenziert: die höchsten Grade) an längstem und tiefstem Verwurzeltsein in uns und darin mitgegebener grundlegend bestimmender Kraft unseres Erkennens. Im faktischen Falle der ,alten Wahrheit' als unserer fundamentalen Irrtümlichkeit gehören eben deren „Alter" und der „Charakter als Lebensbedingung" zur Einverleibtheit. Diese bildet die Spitze der am Schluß des Abschnitts 2 skizzierten Abstufung von Irrtümern. In die zu jener aufsteigende Linie können wir nun Bezeichnungen eintragen, die Nietzsche häufig verwendet. Der Grad von andauernder Festigkeit (und allein ihm gemäß erhebt sich unsere ,Wahrheitsbildung') ist z.B. bei unseren (vielleicht rasch wechselnden) Meinungen geringer als bei dem (vielleicht tiefere Schichten überdeckenden) kurzzeitig Anerzogenen und Eingeübten. Stärker eingeprägt ist uns das, was Nietzsche Uberzeugung, Gewohnheit, Glauben, Gefühl oder auch Instinkt nennt. In solchen Bestimmungen kann mehr oder weniger Bewußtheit, mehr oder weniger eigenes Erworbenhaben, mehr oder weniger .Aktivität', mehr oder weniger Angeerbtsein zum Ausdruck kommen. Immer müssen wir .Zwischenstufen' annehmen35. Wir dürfen Nietzsche nicht terminologisch festlegen. Ohnehin haben wir „leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene, nämlich die Intensitätsgrade [...] zu bezeichnen": z.B. beim Werden eines Individuums36. Er kann z.B. von immer weiter vererbten irrtümlichen Glaubenssätzen sprechen, wie wir gehört haben, oder auch von moralischen Instinkten wie von geistigen Instinkten (welch letztere z.B. Kant als „vor allem Räsonnement und vor aller Sinnesthätigkeit" wirkend festgestellt habe37), oder gar von einverleibten Meinungen. Immer ist von Einverleibtem auszugehen. Von ihm her können wir nun in genealogischer Umkehrung über mittelfeste bis zu wenig festen Erkenntnissen herabsteigen - und treffen doch immer wieder auf unser irrtümliches Fest-steilen. Noch das eingespielte und demgemäß rasche Funktionieren unseres fest-stellenden Wahr-nehmens zeigt, in welchem Maße sich das Grundirrtümliche

35

Ein Beispiel: „Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urtheil (Geschmack in seiner untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht. Es hat sein Wachstum für sich und folglich auch seinen nach außen stoßenden Thätigkeits-Sinn. Zwischenstufe: der Halbinstinkt, der nur auf Reize reagirt und sonst todt ist" (A.a.O., 1 1 [ 1 6 4 ] ; KGW V 2, 4 0 3 ) .

36

Nachlaß August-September 1 8 8 5 , 4 0 [ 8 ] ; KGW VII 3, 3 6 3 .

37

Nachlaß Sommer-Herbst 1 8 8 4 , 2 6 [ 3 7 5 ] ; KGW VII 2, 247f.

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durch seine lange .Vorgeschichte' hindurch in seiner Lebensdienlichkeit ausgebildet und bewährt hat. Nach dem bisher Ausgeführten müssen die Grenzen, innerhalb deren die Einverleibung der (neuen) Wahrheit (und damit der,neuen' Freiheit) erfolgen könnte, sehr eng gezogen werden. „Unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet"38. Gehen wir von unseren irrtümlichen Empfindungen aus und fassen wir unsere auf sie bezogenen „Bewegungen" ins Auge, so finden wir „einverleibte Meinungen über bestimmte Ursachen und Wirkungen, über einen Mechanismus, über unser ,Ich' usw. Alles ist aber falsch!"39 Wir können zwar das Falsche als falsch erkennen. Aber die Erkenntnis, aus der heraus dies möglich ist, bleibt lebensschwach. Von dem, was grundlegend wahr (wirklich) ist, können wir jedenfalls nicht durchdrungen werden. „Die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht."40 Damit ist allerdings nicht über die Einverleibbarkeit von relativ Wahrerem (im Verhältnis zu groben Irrtümern) entschieden. Doch wieder finden wir, wie schon in Menschliches, Allzumenschliches, den Erkennenden zwischen Wahrheit und Leben zerrissen. Wieder stellt sich auch die Frage, ob angesichts dieser Zerrissenheit nicht der Tod vorzuziehen sei. Aber die Neubestimmung des Verhältnisses von Leben und Erkennen führt nunmehr weder zur Verzweiflung an der Wahrheit noch zur Distanzierung vom Leben. Leben und Erkennen verweisen aufeinander, sie sollen sich (später bei Nietzsche noch entschiedener) aneinander steigern können. In der oben zuletzt zitierten Niederschrift aus dem Jahre 1881 heißt es: „Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren ist die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf!" Dies sei „nichts Bitteres", fügt Nietzsche hinzu. Mehr noch: „Als de[n] Mutterschooß des Erkennens" sollen wir „das Irren lieben und pflegen [...] Um des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern." Als „Lebensbedingung für uns" gilt: „Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth." Nicht mehr von deren Sonderung in zwei Hirnkammern (worauf es im Aph. 251 von Menschliches, Allzumenschliches hinauslief) ist nun die Rede, sondern von ihrem Bezogensein aufeinander, das den Gegensatz beider in sich schließt. Wie dort heißt es aber auch hier: „Herrscht emes absolut, so geht der Mensch zugrunde; und zugleich die Fähigkeit."

38 39 40

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[162]; KGW V 2, 401f. Nachlaß a.a.O., 11 [323]; KGW V 2, 465. Nachlaß a.a.O., 11[162]; KGW V 2, 401f.

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Gemeint ist die Fähigkeit des .wahren' Erkennens, um die es Nietzsche auch in den beiden zuvor zitierten Sätzen der Aufzeichnung vorrangig geht. Von 1881 an erfahren die Probleme, die aus seiner Einsicht in die Unaufhebbarkeit unserer Grundirrtümer erwachsen, unterschiedliche Ausarbeitungen. Dabei wird immer deutlicher, daß der Irrtum dem Leben dienlicher ist als die Wahrheit. Beschreibt Nietzsche noch im Dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft die,wahre' Erkenntnis als gewachsenen (kräftiger gewordenen) Trieb zur Wahrheit mit relativer Eigenständigkeit - nämlich gegen die Irrtumstriebe gerichtet (Aph. 110) - , so .korrigiert' er sich im 1887 erschienenen Fünften Buch dieses Werks. Dort wird solche Verselbständigung des .Willens zur Wahrheit' als metaphysisch kritisiert41. Steigerung des Erkenntniswillens darf aber nicht .das Leben' zerstören wollen. Das Austarieren der Ansprüche des Lebens und des Erkennens (der Wahrheit, der Wissenschaft) ist von da an Nietzsches ständige Aufgabe geblieben.

Wir halten uns hier an die im Aph. 110 der Fröhlichen Wissenschaft gestellte Frage: „Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung?" Sie kann nur im „Kampf" beider gegeneinander, in dem Macht gegen Macht steht, letztlich im „Experiment", beantwortet werden. Wahrheit ist in Nietzsches Philosophie das, was allererst errungen werden muß. 42 - Im herangezogenen Aphorismus antwortet er auf jene Frage, „der Prozeß" der (grundlegenden) Irrtumsbildung sei „so alt", „daß Umdenken unmöglich ist". In das Nicht-Umdenkbare und damit einverleibt Bleibende gehört „alles a priori", unser „Glaube an Außendinge" und der an die „Freiheit des Wollens" 43 . Auf eine Sentenz zugespitzt heißt es 1882: „Wer die Unfreiheit des Willens fühlt, ist geisteskrank; wer sie leugnet, ist dumm." 44 Wenden wir den ersten Halbsatz ins Positive, so besagt er, daß das Gefühl unserer 41 42

43 44

S. dazu Exkurs 2, S. 120ff. Noch in Ecce homo heißt es: „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser" (Vorwort 3; KGW VI 3, 257). Unter dem Titel: „Woran ich meines Gleichen erkenne", hat Nietzsche diesem Satz in einer Niederschrift vom Frühjahr-Sommer 1888 noch hinzugefügt: „Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg." Sein Experimentieren bleibt nicht bei einem Nein zum Leben stehen, es „will bis zum Umgekehrten hindurch - bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist" (Nachlaß, 16[32]; KGW VIII 3, 288). - Vgl. dazu auch Jenseits von Gut und Böse 39; KGW VI 2, 52f. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [286]; KGW V 2, 448f. Nachlaß Sommer-Herbst 1882, 3[1, 144]; KGW VII 1. 70.

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Willensfreiheit zu den normalen (.gesunden') Gefühlen unseres Lebens gehört. Der zweite Halbsatz beinhaltet zwar ,die Wahrheit'. Nach seiner Einsicht zu leben, scheint jedoch unmöglich zu sein. Das uralt Einverleibte widersteht der wahren Erkenntnis. In diesem Falle ist also die Einverleibung der Wahrheit nicht möglich. Da das Gefühl der Willensfreiheit durch speziellere Irrtümer konstituiert wird bzw. mit solchen zusammenhängt, so gilt, um das „längst" der Menschheit Einverleibte werde sich der künftige philosophische „Kampf nicht drehen es kann nur ein Ausbau von diesen irrthümlichen Grundlagen unserer Thierexistenz sein" 45 . Der ,Glaube' an die Willensfreiheit als ein Sichfreifühlen (oder als ,Glaube' aus diesem heraus) gehört zu diesen Grundlagen. Anders steht es, wenn dieser Glaube in engem oder auch in weitem Zusammenhang mit dem moralgegründeten, religiös oder metaphysisch verwurzelten (,intelligiblen') Verständnis des Menschen auftritt. Dann gilt ihm Nietzsches Kampf im Zeichen der Unverantwortlichkeit und Unschuld alles Werdens. Auf diesem Felde soll er auch besiegt und dauerhaft überwunden werden können, beginnend mit dem Abbau unseres Schuldbewußtseins. Wie wir gehört haben, setzt Nietzsche Grenzpfähle für das (im Aph. 110 der Fröhlichen Wissenschaft angesprochene),Inwieweit' der Einverleibung der ,neuen' Wahrheit. Ziehen wir die markierte Grenze aus (und zwar in Hinsicht auf unser Thema), so finden wir bestätigt, daß der „Grundirrtum" als „Glaube[n] an Beharrendes an Individuen usw." in uns so fest geworden ist, daß er „nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden" kann 46 . Der Kampf um die Einverleibung von Wahrheit wird im besonderen nicht zu führen sein gegen „alles Nothwendige in unserer jetzigen Denkweise", wozu „alles a priori gehört". Dieses ist ja „nur ,das Wahre für uns', d.h. das Dasein-uns-Ermöglichende auf Grund der Erfahrung". Es ist zwar selbst aus dem Leben heraus entstanden, aber es kann nicht mehr aufgehoben werden: „Der Prozeß ist so alt, daß Umdenken unmöglich ist." 47 Der Grenze des längst dauerhaft Einverleibten steht auf der anderen Seite die Grenze des Uneinverleibbaren gegenüber: Die .Grundwahrheit' des absoluten Fließens kann, wie wir gehört haben, als solche nicht einverleibt werden. Zwischen beiden Grenzen liegt der Spielraum für ,neue Einverleibungen'. Wir dürfen dabei allerdings weder nach der einen noch nach der

45 46 47

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 1 1 [262]; KGW V 2, 438f. Nachlaß a.a.O., 11[162]; KGW V 2, 402. Nachlaß a.a.O., 11[286]; KGW V 2, 449.

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anderen Seite hin starre Grenzlinien ziehen. Es kann für Nietzsche keine qualitativen Differenzen geben; die Annahme schon von zwei Qualitäten würde zur Metaphysik zurückführen. Im einen wie im anderen Falle müssen wir von ,Grauzonen' des Ubergangs ausgehen. ,GrenzÜberschreitungen', als Abweichungen vom Lebensbewährten, haben immer wieder stattgefunden und werden immer wieder stattfinden. Daraus erwachsende individuelle .Haltungen' können durchaus auch .einverleibt' genannt werden: im Maße des Grades an Festigkeit, Intensität, .Verdichtung' der sie tragenden .Meinung', .Uberzeugung', .Gläubigkeit'. Dies trifft auch auf .neue' (.wahrere') Erkenntnis zu. Ihre kurze Dauer .beweist' dann den geringeren Grad an Einverleibtheit. Wie klein die Kraft der .neuen' Wahrheit (und in ihr die Kraft der .neuen' Freiheit) im Verhältnis zur Kraft der uralt einverleibten Irrtümer (zu denen der Irrtum von der Willensfreiheit gehört) ist, zeigt sich besonders deutlich im Blick auf unser .faktisches Existieren'. Wir mögen um die .Falschheit' unserer Empfindungen „wissen"·, „so bald wir praktisch handeln, müssen wir wider das bessere Wissen handeln und uns in den Dienst der Empfindungsurtheile stellen", notiert Nietzsche 18 81 48 . Die große unaufhebbare Kraft der alten Irrtümer wird nun eindeutiger herausgestellt als in Menschliches, Allzumenschliches. Um ihre in unserem Handeln zutage tretende Macht zu erklären, muß von einem weiteren Kriterium hochgradiger Einverleibtheit die Rede sein (das unausdrücklich in deren bisheriger Beschreibung schon mitgegeben war). Es liegt in der Funktionstüchtigkeit im Lebenskampf, die mit der Dauerhaftigkeit und Festigkeit zusammenhängt; sich aus ihnen ergibt und umgekehrt diese steigert. Es ist nun (wie schon in Nietzsches Genealogie der Erkenntnis dargestellt) „menschlicher Grundzug", etwas als .Wahrheit' bewiesen zu sehen, das sich durch den „Erfolg" bewährt. „Was gelingt, dessen Gedanke ist wahr." „Erfolg" im Leben konnten und können „Mensch und Tier" allein „durch die ungeheure Sicherheit des Glaubens", durch dessen ,Unbedingtheit', haben. Glaube meint hier Anwendung von Einverleibtem in dessen von jedem Schwanken freier (.fragloser') Akzeptanz. Nietzsche drückt dies durch die Formulierung aus: „Bereitwilligkeit" des Glaubens. Nur mit dieser sind Mensch und Tier „lebensfähig". Die unbedingte „Bereitwilligkeit" des Glaubens ist sowohl Voraussetzung für die Einverleibung als auch deren Folge: letzteres im immer fester werdenden Sich-Einspielen der mit der Einverleibtheit gegebenen

48

Nachlaß a.a.O., 11[323]; KGW V 2. 465.

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Funktionalität. Als selbstverständlich' und situationsangemessen rasch muß ,das Einverleibte' funktionieren. „Wie sicher führen wir alle Bewegungen aus! Jch schlage' - wie sicher empfindet man das! - " , schreibt Nietzsche. Fragen wir solcher Sicherheit nach, so finden wir zwar bei Mensch und Tier ,grobe", ja „niedrige Intellektualität" am Werke. Da wird „auf Grund der kleinsten Induktion" verallgemeinert, Regeln für das Verhalten werden darauf gebaut; was sich als Getanes einmal bewährt hat, wird „als das einzige Mittel zum Zweck" geglaubt. Aber was zählen solche logischen Einwände, wenn wir es mit seit Urzeiten Bewährtem zu tun haben? Gerade das intellektuell Primitive ist Bedingung des Daseins, des Handelns, wir würden verhungern ohne dies, die Skepsis und die Vorsicht sind erst spät und immer nur selten erlaubt"49. Gegenüber der aus dem Gelingen sich aufdrängenden .Wahrheit' des Lebendigen verliert ,das Logische' seine Bedeutung völlig. Immer eindeutiger bringt Nietzsche nach 1881 die „große Vernunft" des Leibes gegenüber der kleinen Vernunft unseres Geistes ins Spiel. Am Leitfaden des Leibes zu philosophieren, besagt dann auch, solches primär ohne Bewußtsein ablaufendes Zusammenspiel zum einen als unüberwindlich für die Einverleibung der ,neuen' Wahrheit zu akzeptieren (soweit das von langher Angeerbte dieser entgegensteht), andererseits aber - darüber hinaus - das Zusammenspiel der Leibfunktionen zum Vorbild für künftige Möglichkeiten des Menschseins zu erheben. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß zum .leibhaft' erfolgreich Funktionierenden der „Glaube an Außendinge" (über den hier nicht zu handeln ist) und der Glaube an die „Freiheit des Wollens" gehören sollen. Erkenntnis im Ausgang vom Leibe, dem „Wunder der Wunder"50, bleibt in unsere Grundirrtümlichkeit eingebunden. Zum Wahren vermögen wir nicht durchzudringen, insofern (wie Nietzsche 1885 notiert) „der .begreifende' und .erkennende' Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden". Nur weil „dieser Art Schein das Leben erhalten hat [,] giebt es etwas wie .Erkenntnis': d.h. ein Messen der früheren und der jüngeren Irrthümer an einander"51. Wir werden uns im folgenden mit Nietzsche auf dem Felde der Auflösung unserer allgemeinen Irrtümer in das vorgängig Irrtümliche bewegen, seinem Anspruch folgend, dem

49 50 51

Nachlaß a.a.O., 11[286]; KGW V 2, 449. Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4] ; KGW VII 3, 302f. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[23]; KGW VII 3, 285.

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»Wahren' so nahe wie möglich zu kommen. Dies scheint in der Erörterung von notwendigem Geschehen im Sinne von Kausalität möglich zu sein: haben wir die Notwendigkeit der Geschehensabläufe doch schon anfangs dem Irrtum von der Willensfreiheit entgegengesetzt.

9. Über unseren Glauben an die Kausalität Das Verständnis von notwendigem Geschehen im Sinne von Kausalität ist nicht so alt wie der Irrtum von der Willensfreiheit. „Der Gedanke" an jene liegt auf der „Urstufe des Logischen" noch „am fernsten"52. Dies aber besagt nicht, daß er kein Irrtum wäre. Er ist es jedenfalls in dem Maße, als in ihm Ursache und Wirkung für sich gesetzt, das heißt gesondert werden. Nietzsche hat sich im Dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft (Aph. 112) gegen die Annahme einer solchen „Zweiheit" gewandt. Zwar haben neuere Erkenntnis und Wissenschaft an die Stelle des „Zweierlei" von Ursache und Wirkung, wie es in älteren Kulturen aufgefaßt wurde, ein Vielerlei gesetzt. „Die Reihe der ,Ursachen' steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns", wenn wir sie in ein Verhältnis zu bestimmten Folgen setzen, diese aus jener »erklären'. Aber in Wahrheit haben wir nur „besser" als „der naive Mensch" beschrieben, was einer ,Folge' vorangeht. Das .Zwischen' wird damit nicht überbrückt, der Übergang nicht „begriffen" und deshalb auch nicht erklärt (wobei wir zunächst an David Hume denken mögen). „Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden, erscheint nach wie vor als ein .Wunder', ebenso jede Fortbewegung; Niemand hat den Stoß .erklärt'." Nietzsches Rede vom .Wunder' erhält im Aph. 127 des Buches einen genealogisch vertieften Sinn. Er sucht hier zu zeigen, daß unser Glaube an Ursachen und Wirkungen auf den Glauben an „magisch wirkende Kräfte" zurückweist: Ursprünglich hat der Mensch „überall, wo er ein Geschehen sah, einen Willen als Ursache und persönlich wollende Wesen im Hintergrunde wirkend geglaubt". Von daher kommt es, daß auch heute noch „das Gefühl des Willens" den .Gedankenlosen' genügt, „nicht nur zur Annahme von Ursache und Wirkung, sondern auch zum Glauben, ihr Verhältniss zu verstehen". Ihnen hat sich auf langen Wegen ein anfänglicher Wunderglaube derart einverleibt, daß sie „gar Nichts von einem Problem" an dem genannten Verhältnis bemerken. ,In 52

Menschliches, Allzumenschliches 1 1 8 ; KGW IV 2. 35.

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Wahrheit' ist aber noch das mechanistische Denken ein Abkömmling „der ältesten Religiosität", „ein Stück Atavismus ältester Herkunft". Die uns im Leben unentbehrlich gewordene ,Anwendung' des ,Grundglaubens' an die Kausalität ändert an dessen Irrtümlichkeit nichts, dies gilt auch für seine erfolgreiche Praktizierung in den Wissenschaften. Was die philosophische Erörterung des .Kausalitätsglaubens' angeht, so gilt für Nietzsche gegen Kant und Schopenhauer, was er 1884 notiert: „Die bestgeglaubten a priorischen .Wahrheiten' sind für mich - Annahmen bis auf Pleiteres z.B. das Gesetz der Causalität sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zu Grunde richten würde. Aber sind es denn Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehn bleibt!"53 Wir sind davon ausgegangen, daß der Irrtum von der Kausalität jünger ist als der von der Willensfreiheit. Ziehen wir zwei Aufzeichnungen Nietzsches aus den Jahren 1883 und 1884 heran, so erhalten wir weitere Aufklärung über die Genealogie des ersteren aus dem letzteren und weiteren (gegenüber dem bisher Dargestellten ursprünglicheren) Einblick in den Vorgang unserer Annahme von Ursache-Wirkung-Relationen. Schon der „populäre Glaube an Ursache und Wirkung ist auf die Voraussetzung gebaut, daß der freie Wille Ursache ist von jeder Wirkung·, erst hierher haben wir das Gefühl der Causalität."54 Wir finden hier die Bestimmung von Freiheit der des Willens hinzugefügt. Um diese Hinzufügung zu würdigen, gehen wir von Erfahrungen aus, die wir als Handelnde machen. Wir haben bei - aber oft auch schon vor - unserem Tun „ein Kraftgefühl". Es begleitet uns „bei der Vorstellung des zu Thuenden" wie auch beim Tun selbst. Nun meinen wir „instinktiv, dies Kraftgefühl sei Ursache der Handlung, es sei selber .die Kraft'" 55 . Diesen Irrtum unseres Instinkts übertragen wir, wie schon dargestellt, auf alles Geschehen, „wobei wir Kraft und Kraftgefühl identificiren". So machen wir Folgen zu Wirkungen, setzen als Wirkkraft an, was in unserem Erleben von Wollen nur ein die Vorgänge begleitendes Nebenbei ist. Aus dem Kraftgefühl (nicht der Kraft selber), das den Glauben oder das Gefühl unserer Willensfreiheit hervorruft, das aber keine 53

54 55

Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[12]; KGW VII 2, 150f. - „Das Gesetz der Causalität a priori - daß es geglaubt wird, kann eine Existenzbedingung unserer Art sein; damit ist es nicht bewiesen." (A.a.O., 26[74]; KGW VII 2, 166.) Nachlaß Winter 1883-1884, 24[15]; KGW VII 1, 693f. Nachlaß a.a.O., 24[9]; KGW VII 1, 689f.

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wirkliche Willensfreiheit anzeigt, sondern nur ein „Begleitgefühl" ist, entstand auf diese Weise das Kausalitätsgefühl und prägte sich als Grundirrtum in uns aus. .Gefühl' meint hier - auf allen drei Ebenen - etwas im Zuge langer Entwicklung besonders fest Gewordenes, einen besonders hohen Grad an Einverleibtheit. Vom Kausalitätsgefühl machen wir - und nun gehen wir über das bisher Ausgeführte hinaus - einen so selbstverständlichen Gebrauch, daß wir ein Erlebnis überhaupt erst ,zur Kenntnis nehmen', wenn wir dessen Ursache gesetzt haben (als welche auch unser Wille oder der Wille eines anderen von uns .angenommen' werden kann). Nietzsche beschreibt unsere Ursachen-Suche und Ursachen-Setzung im Ausgang von unserer Erfindungstätigkeit im Traum: „Wie im Traum zum Kanonenschuß die Ursache gesucht wird und der Schuß erst hinterdrein gehört wird (also eine Zeitumkehrung stattfindet): diese Zeitumkehrung findet immer statt, auch im Wachen. Die .Ursachen' werden nach der,That' imaginirt [...]." Wir sind „sicher [...] eingeübt" (Kennzeichen der Funktionstüchtigkeit des von langher Einverleibten), „nichts ohne Ursache zu glauben [...]: wir acceptiren den Kanonenschuß erst, wenn wir uns die Möglichkeit ausgedacht haben, wie er entstanden ist, d.h. allem eigentlichen Erleben geht eine Zeit voraus, wo die zu erlebende Thatsache motivirt wird" 56 .

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Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[35]; KGW VII 2, 154f. - Unter dem Titel Jrrthum der imaginären Ursachen" hat Nietzsche den Gedanken in Götzen-Dämmerung (Irrthümer 4) ausführlich expliziert: „Der Kanonenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivation, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss folgt... Was ist geschehen? Die Vorstellungen, welches ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursachen desselben missverstanden. Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso. Unsre meisten Allgemeingefühle - jede Art Hemmung, Druck, Spannung, Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der Zustand des nervus sympathicus erregen unsern Ursachentrieb: wir wollen einen Grund haben, uns so und so zu befinden [...] Es genügt uns niemals, einfach bloss die Thatsache, dass wir uns so und so befinden, festzustellen: wir lassen diese Thatsache erst zu, - werden ihrer bewusst -, wenn wir ihr eine Art Motivation gegeben haben." Wir gewöhnen uns „an eine bestimmte Ursachen-Interpretation", weil unsere Erinnerung den Glauben daran festigt, daß nur begleitende „Bewusstseins-Vorgänge" ursächlich gewirkt hätten. (KGW VI 3, 86.) - Zu unserer Projektion von Ursachen als fundamentales Erkenntnisphänomen vgl. auch Nietzsches Aufzeichnung ,J)ie umgekehrte Zeitordnung" im Nachlaß von April-Juni 1885, 34[54] in KGW VII 3, 157.

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JDie Logik des Traumes" hat Nietzsche schon in Menschliches, Allzumenschliches I (Aph. 13) als Erschließen der vermeintlichen Ursache aus der Wirkung und ihrem Vorstellen nach der Wirkung beschrieben. Die „ausserordentliche [ ] Schnelligkeit" des Vorgangs hatte er für die „Verwirrung des Urtheils" verantwortlich gemacht, insofern „ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann". Er hatte weiter ausgeführt, daß die Menschheit „auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch" so geschlossen hatte; der Künstler verfahre noch heute so, damit „an älteres Menschenthum" erinnernd. Sonst hat aber, wenn auch sehr „spät [,] das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung", sich entwickelt und durchgesetzt57. Daß Nietzsche 1884 auch für das Wachen generell die sekundäre Ursachen-Setzung und die Zeitumkehrung annimmt, erwächst aus seiner Rückführung aller bewußten Zustände auf Produktionen der unbewußten. So wird das beschriebene Akzeptieren und Motivieren von ihm auf unsere „sogenannten" Sinneswahrnehmungen hin ausgeweitet, selbst auf die „Bewegung jedes Nervs, jedes Muskels" bezogen. Jeder „Vorgang" setzt somit ein bejahendes oder verneinendes „Urtheil" (Akzeptation oder Nichtakzeptation eines Geschehnisses) voraus58, und zwar „bevor er ins Bewußtsein .eintritt'". Nietzsche sucht die vorbewußte Geistigkeit, die dem organischen Leben eigen ist, herauszustellen. Diese besteht nun nicht in einer geistigen Wesenheit, welche ein gegenüber unserem Leib Eigenes wäre, ihn - wie alles Organische - durchzöge oder ihn beherrschte. Vielmehr müssen wir den Leib - wie alles Organische - als Koordination „zahlloser Individual-Geister von verschiedenem Range" begreifen. Dabei ist „das Ich-Geistige selber [...] mit der Zelle schon gegeben"59. „Coordination statt Ursache und Wirkung"60 : dies steht als .Wahrheit' hinter unserem Kausalitätsgefühl. Koordination bedeutet für Nietzsche das sich aufeinander Abstimmen der vielen (zahllosen) Quasi-Iche, die uns und in eins damit unsere Beziehungen auf anderes konstituieren, welches, wie auch immer, selber Vielheit ,ist'.

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59 60

Unter den Traum-Beispielen, die Nietzsche in dem herangezogenen Aph. aufführt, findet sich auch der Kanonenschuß-Traum. Sein erstes Beispiel in Menschliches, Allzumenschliches I 13, der ,Schlangen'-Traum, ist als seine eigene Erfahrung schon in der Pfortaer Zeit (1859) belegt (vgl. Nachbericht KGW IV 4, 169). Zu Bejahung oder Verneinung als Grundweisen des Urteilens s. Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche, Zweiter Teil, in: Nietzsche-Interpretationen I, S. 248ff. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[36]; KGW VII 2, 155. Nachlaß a.a.O., 26[46]; KGW VII 2, 157.

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In den Hinweisen auf die komplexen Vorgänge, welche die Vorstellung des Kausalnexus in uns erzeugen, haben wir den „Leib als Leitfaden" benutzt. Wir folgen ihm weiter, uns einigen der Schwierigkeiten aussetzend, vor die Nietzsches experimentierendes Philosophieren uns vor allem in seinen Nachlaßaufzeichnungen führt (welche oft Differenzierungen zutage fördern, die in den veröffentlichten Schriften fehlen, gleichwohl aber - bei mancher Disparatheit - zum Verständnis der Intentionen unseres Autors unentbehrlich sind). Kompliziertheit des Geschehens ist im übrigen für ihn kein Einwand gegen Wahrheitsanspruch. „Was am complicirtesten ist, enthält mehr Anlaß zum Vertrauen als das Einfache", notiert Nietzsche, sich für das erstere auf den Leib beziehend, für das letztere „das Geistige" als Beispiel anführend 61 . Mit dem Geistigen ist hier nicht das vorbewußt Zahllose der Individual-Geister gemeint, sondern der Geist als Einfaches im Sinne von Bewußtsein. Wir haben oben dargestellt, daß alle höheren Funktionen unseres Erkennens durch lebensdienliche Irrtümer geprägt worden sind, die sich uns als dauerhaft einverleibt haben (s. S. 55ff.). Daß unser „Bewußtsein [...] ein Apparat der Vereinfachung [...], ein Mittel der Verständigung, practicabel, nichts mehr" ist - „ohne Absicht auf Durchdringung mit Erkenntniß" 62 , ist uns hinsichtlich unserer Abstammung von den ersten Organismen deutlich gemacht worden. Im Verhältnis zu ihnen sind wir das immer fortgebaute „Gesammt-Organische", die Synthese des Angeerbten, das durchgehaltene System „einer Gattung von Interpretation" 63 . Wie nun das immer weiter gewachsene Viele, das wir sind, sich als Einheit organisiert, wie es funktioniert und gar die Simplifikationen und Abstraktionen unseres Bewußtseins hervorbringt, bedarf einer Darstellung, die nicht bei dem Aufweis unserer Herkunft stehen bleibt. Um die genannte Konstitution geeinter Vielheit zu begreifen, gehen wir über die bisher beschriebene Koordination der Individual-Geister hinaus: nicht, um diese hinter uns zurückzulassen, sondern um deren Charakter und Funktionen umfassender und differenzierter zu bestimmen. Nietzsche erkennt den Menschen „am Leitfaden des Leibes als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze

61 62 63

Nachlaß a.a.O., 27[70]; KGW VII 2, 292. Nachlaß a.a.O., 26[52]; KGW VII 2, 159. Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[2]; KGW VIII 1, 259.

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

bejahen"64. Achten wir darauf, wie durch das Wort „unwillkürlich" eine teleologische Deutung des Zusammenspiels abgewehrt wird; „mit .Zweck' und .Mittel' bemächtigt man sich des Prozesses ( - man erfindet einen Prozeß, der faßbar ist!)": faßbar für unseren simplifizierenden „Erkenntniß-Apparat" 65 . Wir wissen aber auch, daß wir für die vorbewußten Vorgänge nicht auf das Kausalitätsprinzip rekurrieren dürfen, das ja ebenfalls eine Erfindung der Vielen darstellt. Inwiefern die Einzelwesen das Ganze bejahen, bleibt noch offen. Vorerst soll uns über die Zurückweisung der Schemata Mittel-Zweck und Ursache-Wirkung hinaus die diese Zurückweisungen tragende allgemeine Feststellung genügen.

10. Der Mensch als Vielheit und fingierte

Ich-Einfachheit

Für die weitere Bestimmung der Vielheit, die wir als Leib sind, ziehen wir im folgenden zunächst eine längere Nachlaßaufzeichnung Nietzsches aus dem Jahre 188S heran. Daß „eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann - : [ . . . ] dies geschieht ersichtlich nicht durch das Bewußtsein!" Hier hören wir von der Eigen-Willigkeit der vielen lebenden Wesen; nachdem uns ihre Geistigkeit bekannt ist, können wir ihnen auch ein eigenes Fühlen zusprechen. Fast erscheint es nun überflüssig zu bemerken, daß ein „Nerven- und Gehirnapparat" (um den fiktiven Charakter dieses „Apparates" zu betonen, setzt Nietzsche die Worte in Anführungszeichen), „nicht [...] Denken, Fühlen, Wollen hervorzubringen" imstande sein kann. In dem zitierten Text heißt es noch, diese drei seien „die Sache selbst". Die Frage nach ihrer gemeinsamen Wurzel führt Nietzsche später zu einer neuen Auslegung des Grundgeschehens. Auf diese Auslegung werden wir stoßen, nachdem wir die Aufgabe gelöst haben, die uns zu der voranstehenden Darstellung geführt hat: die nähere Bestimmung des Verhältnisses der vorbewußten Vielen zu unserem einfa64 65

Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[27]; KGW VII 2, 282. Nachlaß a.a.O., 26[61]; KGW VII 2 , 1 6 2 . - „Unser bewußter Intellekt [...] ist ein Apparat der Vereinfachung (wie das Wort-reden usw.), ein Mittel der Verständigung, practicabel, nichts mehr - ohne Absicht auf Durchdringung mit Erkenntnis." (Nachlaß, a.a.O., 26[52]; KGW VII 2, 159)

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

chen und vereinfachenden Bewußtsein. Die „ungeheure Synthesis von lebendigen Wesen und Intellekten", „welche ,Mensch' heißt", kann nur „leben", wenn ein „feine [s] Verbindungs- und Vermittlungs-System und dadurch eine blitzartig schnelle Verständigung aller dieser höheren und niederen Wesen geschaffen ist - und zwar durch lauter lebendige Vermittler". Der Mensch ,hat' „so viele ,Bewußtseins'" (sc. Individual-Geister) „als es Wesen giebt,[...] die seinen Leib constituiren". Das „gewöhnlich als einzig gedachte[ ] .Bewußtsein'" ist „nur das Werkzeug" der Vielen „und nicht mehr", und zwar in dem Sinne, in dem „der Magen ein Werkzeug" des Leibes ist.66 Daß unser Bewußtsein nur Werkzeug der den Leib konstituierenden Vielen ist, bedarf in dreifacher Hinsicht klärender Hinweise. Erstens richtet sich die damit ausgesprochene Einschränkung gegen die abendländisches (platonisches und christliches) Denken in seiner langen Geschichte bestimmende Hochschätzung des Geistes und Geringschätzung des Leibes. In seiner Polemik gegen die mächtige Tradition vollzieht Nietzsche eine .Umwertung'. Dabei stuft er den Geist oft noch weitergehend herab, als dies seinem eigenen Verständnis des Sachverhalts angemessen ist. Zweitens. Das Viele, das uns die Einfachheit unseres Bewußtseins vortäuscht, darf selber nicht auf letzte Einfachheiten zurückgeführt werden: „Von der .Einheit', von der,Seele', von der .Person' zu fabeln, haben wir uns heute untersagt." Auch die Rede vom „Leib" läßt Nietzsche nur als „das beste Gleichniß" für das „Zusammenwirken der kleinsten lebendigen Wesen" gelten67. Dies bewahrt ihn vor biologistischen Simplifizierungen (ungeachtet des Tatbestands, daß er Einsichten, Bestätigungen und Anreize für seine Philosophie aus der Lektüre naturwissenschaftlicher Schriften gewonnen hat). 1884 notiert er: „Der Mensch als Vielheit: die Physiologie giebt nur die Andeutung eines wunderbaren Verkehrs zwischen dieser Vielheit und Unter- und Einordnung der Theile zu einem Ganzen." 68 Die .Teile' dürfen „nicht als Seelen-Atome",

66

67 68

Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4]; KGW VII 3, 302ff. - Vgl. dazu auch den Nachbericht KGW VII 4/2, S. 424f. - „[...] ersichtlich ist der Intellekt nur ein Werkzeug, aber in wessen Händen? Sicherlich der Affekte: und diese sind eine Vielheit, hinter der es nicht nöthig ist, eine Einheit anzusetzen: es genügt sie als eine Regentschaft zu fassen." (Nachlaß August-September 1885, 40[38]; KGW VII 3, 379.) Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[4] ; KGW VII 3, 303. Nachlaß Sommer-Herbst 1884,27[8]; KGW VII 2,276f. - „Aber es wäre falsch", fügt Nietzsche hinzu, „aus einem Staate nothwendig auf einen absoluten Monarchen zu schließen (die Einheit des Subjekts)".

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sondern müssen „vielmehr als etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes" aufgefaßt werden: „so daß ihre Zahl unbeständig wechselt". Drittens. Nietzsches Kennzeichnung unseres Bewußtseins, es sei ein Organ wie der Magen, wird den von ihm beschriebenen Zusammenhängen besser gerecht als seine Rede vom Werkzeug. Er führt einmal aus, das menschliche Erkennen sei „selber eine Art Magen" 69 . Wie der Magen das vorgängig schon Ausgewählte und für seine Arbeit Zubereitete aufzunehmen hat und dieses dann, nach der Bearbeitung durch ihn, verändert weitergibt, so bekommt auch unser Bewußtsein „nur eine Auswahl von Erlebnissen vorgelegt [...], dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und faßlich gemachte [...] Erlebnisse, - damit es seinerseits in diesem Vereinfachen und Übersichtlichmachen [...] fortfahre". Dabei ist es „das Auszeichnende an dem gewöhnlich als einzig gedachten ,Bewußtsein', am Intellecte,[...] daß er vor dem unzählig Vielfachen in den Erlebnissen dieser vielen Bewußtseins geschützt und abgeschlossen bleibt". Dies garantiert, daß sich die (einverleibten) Abläufe ohne irritierende, aufhaltende oder gar störende Re-flexionen in der für die Lebenskämpfe geforderten Schnelligkeit vollziehen. Dabei müssen wir nun die dem Bewußtsein vorgelegte Auswahl nicht nur unter dem Aspekt von leichter Faßlichkeit sehen: dieses bekommt damit unvermeidlich gefälschte Erlebnisse" vorgelegt70, denen „ein ganz aktives Zurechtmachen" zugrunde liegt71. Das schon Falsche, das dem Intellekt von den Vielen her präsentiert wird, soll dieser nun weiter bearbeiten, indem er mit dem Vereinfachen zugleich im Fälschen fortfährt, wie wir die Ausführung im zitierten Text von 1885 nun ergänzen können. Das .Fortfahren' im Fälschen, das als ein zweites Fälschen durch das Bewußtsein selbst erfolgt, hat zur Voraussetzung, daß dieses von den eigentlichen Akteuren, den Vielen, abgeschüttet bleibt. Dadurch erscheint es sich selbst als ein Einfaches im Sinne eines Allgemeinen. Als dieses wiederum trägt es Allgemeinheit in das von ihm Erfaßte hinein. Solches Generalisieren erfolgt in mannigfachen Weisen, wobei gilt, daß in ihm die (auch genealogisch) primären Zurechtmachungen, wie das Fest-steilen, das Isolieren von

69

Nachlaß Juni-Juli 1 8 8 5 , 3 8 [ 1 0 ] ; K G W VII 3, 3 3 7 .

70

Nachlaß Juni-Juli 1 8 8 5 , 3 8 [ 1 0 ] ; K G W VII 3, 3 3 7 . - Vorbereitet wird dabei ,ein Wille' im Sinne eines Willensaktes „gleichsam" durch „die Ernennung eines Diktators" (a.a.O.), wodurch das Wollen seine Bestimmtheit erhält. Dabei sind die .Herrschaftsstrukturen' in ständigem Wechsel begriffen. Ausgeführt aber wird dieser Akt durch die untersten Willen, wie oben zu zeigen sein wird.

71

Nachlaß Sommer-Herbst 1 8 8 4 , 2 6 [ 1 1 4 ] ; KGW VII 2, 177f.

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.Fakten', das Gleich-machen aufgenommen werden. In der Bildung .allgemeingültiger Begriffe', in Abstraktionen, in Verdinglichungen, Schematisierungen, .Erfindung' von Gesetzen u.a.m. macht sich das Bewußtsein eine Wirklichkeit (als An-sich-sein) zurecht, welcher ,in Wahrheit' nichts Wirkliches entspricht. Daß dies der Lebensdienlichkeit solcher Fiktionen keinen Abbruch tun muß, daß sie vielmehr zu unseren (oft fest einverleibten) Grundirrtümern geworden sind, bedarf nach dem bisher Ausgeführten kaum noch der Erwähnung. Im folgenden geht es uns darum, Nietzsches Hinweise auf die Irrtümlichkeit des Generalisierten in den Zusammenhang der für unser Thema relevanten Probleme hineinzunehmen. Da liegt es nahe, an unsere Ausführungen zur Schematisierung von Ursache und Wirkung zu erinnern, welche Zweiheit sich als ein philosophisch zu destruierendes Oberflächenphänomen erwies.72 In Jenseits von Gut und Böse (Aph. 21) hat Nietzsche im Ausgang von der Forderung, sich der Begriffe von .Ursache' und .Wirkung' allein „als conventioneller Fiktionen zum Zwecke der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung" zu bedienen (da es „im ,An-sich' [...] nichts von .Causal-Verbänden'" gibt), eine Reihe allgemeiner Bestimmungen genannt, die .wir' (d.h. hier: unser Bewußtsein) „erdichtet haben". Zu ihnen gehören, neben den „Ursachen", die mit ihnen beivußtseinsmäßig verbundenen falschen Vorstellungen von „Notwendigkeit" (z.B. als „Zwang" oder „Gesetz"), vom (kausal aufgefaßten) „Nacheinander", vom „Für-ein-ander", von der „Relativität", von der „Zahl". Wir .erdichten' z.B. auch „die Freiheit, den Grund, den Zweck". Vor allem aber .dichten' wir uns selber als Einfaches .aus'. 1888 führt Nietzsche eine Genealogie unseres Begriffes von Einheit im Sinne von Zählbarem vor: „Wir haben Einheiten nöthig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten giebt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserem .Ich'begriff, - unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff .Ding' gebildet." Gemäß den vor-menschlichen Genealogien, die wir oben herangezogen haben, könnte die Entwicklung zum Glauben an ein Ich auf das .Fixieren' der ersten Organismen zurückverfolgt werden. Für das zitierte Fragment ist dies jedoch nicht von Bedeutung. Nietzsche geht es in ihm um die Imagination einer mechanischen Welt, um deren Berechenbarkeit durch fiktive Einheiten, welche als Ursächlichkeiten (.„Dinge' (Atome)") gefaßt

72

Vgl. Abschnitt 9. oben S. 62ff.

Freiheit und Wille bei Nietzsche

71

werden, „deren Wirkung constant bleibt", - wobei eine „Übertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff" erfolgt 73 . ,Wir' sind aber ,in Wahrheit' Einheit nur als Vielheit im Wandel: Nietzsche bringt dies nicht nur gegen den allgemeinen Begriff des Ich zur Geltung, sondern auch gegen andere Bestimmungen unserer selbst. .Wir' sind vor allem deshalb nicht „Subjekt", weil in diesem Wort die Fiktion steckt, „als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung Eines Substrats wären". Damit aber machen wir wieder vom Kausalitätsglauben unzulässig Gebrauch74. Wie jede „falsche Versubstanzialisierung des Ich" unzulässig ist, so auch „die falsche Verselbständigung des ,Individuums' als Atom"75. Man muß, wie Nietzsche schon 1881 notiert, hinter „das Geheimniß" kommen, „daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind"76, welchen nicht nur keine Allgemeinheit, sondern auch keine .Festigkeit' zukommt.

11. Über den Irrtum von der Einfachheit des Willens Die Reduktion von Einfachem auf Vieles trifft nun auch den Willen. Wir gehen vom Aph. 19 des Buches Jenseits von Gut und Böse aus. Gegen die Lehre Schopenhauers, „der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ohne Abzug und Zuthat", führt Nietzsche aus, daß „das Wollen" etwas sei, „das nur als Wort eine Einheit ist, - und eben im Einen Worte steckt das Volks-Vorurtheil". Dieses habe Schopenhauer - wie andere Philosophen „übernommen und übertrieben". Demgegenüber stellt Nietzsche das Wollen als „etwas Complizirtes" dar. Solche Kennzeichnung ist uns schon von seiner Charakterisierung des Leibes her bekannt (s. o. S. 66). In dem herangezogenen Aphorismus wird ausgeführt, in jedem Wollen finde sich „vielerlei Füh-

73

74 75 76

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[79]; KGW VIII 3, 50f. - „Um den Mechanismus der Welt theoretisch aufrecht zu erhalten", machen wir von „zwei Fiktionen" Gebrauch: „dem Begriff der Bewegung (aus unserer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms = Einheit (aus unserer psychischen .Erfahrung' herstammend) [...] Die mechanistische Welt ist so imaginirt, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als .bewegt')." (A.a.O., 51) Nachlaß Herbst 1887, 10[19]; KGW VIII 2, 131. Nachlaß, a.a.O., 10[57]; KGW VIII 2, 152, 153. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [156]; KGW V 2, 400.

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

len als Ingredienz": ein Gefühl des weg von, ein weiteres des hin zu und das Gefühl von weg und hin selbst; ferner „ein begleitendes Muskelgefühl", das schon bei unserem Wollen und nicht erst bei unserer hAuskûbewegung „sein Spiel beginnt". Wollen ist aber nicht nur Gefühl, sondern auch Denken: „in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken", der zugleich den Charakter des Affekts hat. Diese drei sind Eins: „Man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem ,Wollen' abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe!" Worin dieses Eins-sein gründet, auf das wir schon in der Kennzeichnung der Eigen-willigkeit der Individual-Geister stießen, erfahren wir in dem herangezogenen Aphorismus nicht. Es wird uns noch (unter dem Namen Wille zur Macht) zu beschäftigen haben. Daß es die Vielen in sich konstituieren soll, unterscheidet es jedenfalls sowohl von dem Einfachen des Willens im Sinne Schopenhauers, das „wie die bekannteste Sache von der Welt" zugleich über und vor den Vielen wirklich zu sein beansprucht 77 , als auch von dem dritten Begriff von .Einheit', den wir bei Nietzsche schon gefunden haben: Einheit als jeweilig Geeintes, als Vieles selber. Letzteres stellt Nietzsche in unserem Aphorismus der täuschenden Einfachheit des Willens entgegen. Er geht davon aus, daß wir in unserem Wollen „zugleich die Befehlenden und die Gehorchenden sind". Zwar haben wir „die Gewohnheit" (welche ein modus von Einverleibtheit ist, wie wir wieder hinzufügen), „uns über diese Zweiheit vermöge des synthetischen Begriffs ,ich' hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen". Die Zweiheit ist aber Vielheit. Nietzsche spricht hier (wie schon im Aph. 12 von Jenseits von Gut und Böse) vom „Gesellschaftsbau vieler .Seelen'", von „dienstbaren .Unterwillen' oder Unter-Seelen". Dies gestattet es ihm, das Gefühl der Willensfreiheit als „Überlegenheits-Affekt" sowohl gegenüber dem, was gehorcht, als auch gegenüber dem, was als Vielheit von Ausführenden „Widerstände" überwindet und zur „Aktion" führt, zu beschreiben. Dieser Affekt (auf den wir schon als ein Begleitphänomen stießen) kann sich beim Gelingen einer Handlung zu einer Art Jtffekt des Ubermuthes" steigern, wenn in ihm die „höchste Souveränität des Befehlenden" erfahren wird78. Er zeigt jedoch (einmal mehr bei Nietzsche) den Irrtum des .Glaubens' an die Willensfreiheit an. Denn der Wollende meint dabei, „Wollen genüge zur Aktion [...]", „Wille und Aktion" seien

77

78

Zu Jenseits von Gut und Böse 19 (KGW VI 2 . 2 5 - 2 8 ) ziehen wir hier die .Vorstufe' im Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[8]; KGW VII 3, 3 3 4 - 3 3 6 heran. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[24] ; KGW VII 2, 281.

Freiheit und Wille bei Nietzsche

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„irgendwie Eins" 7 9 .,Unser' Wille kann aber gar nichts .bewirken'. Schon in der Fröhlichen Wissenschaft (Aph. 127) hat Nietzsche am Beispiel eines Schlages ausgeführt, daß es dazu „der hundertfältigen feinen Arbeit" bedürfe, und „von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun", gesprochen. Nietzsche sucht also zu demonstrieren, daß wir über ein Bewußtsein .verfügen', dem durch zahllose Individual-Geister, die zugleich Willens-Wesen sind, eine verfälschende Auswahl von Ereignissen vorgelegt wird, in welcher bereits deren Weiterfälschen vorprogrammiert ist. In dem Bewußtsein finden wir den Willen vor, beide sind Allgemeines, aus dem sich weder ein besonderer Gedanke noch ein bestimmtes Wollen ableiten läßt. Wäre das Allgemeine das Wirkliche, so könnte es zu keinem Willensakt kommen. Ein solcher ist nach Nietzsche nur als Aktion des vorbewußten Vielen, welches ineins Geistiges, Wollendes und Affektives ist, möglich. Es ist unser .gewöhnlichster Irrtum': „Wir trauen dem Willen zu, was zahlreiche und complicirte eingeübte Bewegungen ermöglichen. Der Befehlende verwechselt sich mit seinen gehorsamen Werkzeugen (und deren Willen)." 80 Noch „der bestimmteste Wille (als Befehl)" gilt Nietzsche als „eine vage Abstraktion, in welcher unzählige Einzelfälle einbegriffen sind und also auch unzählige Wege zu diesen Einzelfällen". Für den Fall, „der wirklich eintritt", bedarf es der je besonderen Konstellation der Vielen, einmal zur Vorbereitung (wie schon in der Tätigkeit der Individual-Geister beschrieben), zum anderen auch zum Geschehen selbst. „Thatsächlich gehören eine Unzahl von Individuen zur Ausführung, die alle in einem ganz bestimmten Zustand sind, als der Befehl gegeben wird - sie müssen ihn verstehen und auch ihre ganz spezielle Aufgabe dabei, d.h. es muß immer von neuem bis ins Kleinste hinein befohlen (und gehorcht) werden und dann erst, wenn der Befehl zergliedert ist in die Unzahl kleiner Unterbefehle kann die Bewegung vor sich gehen, die von dem

letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt - also eine Umkehrung findet

statt." Nietzsche verweist dabei auf sein oben bei der Ursachen-Setzung herangezogenes Beispiel vom „Kanonenschuß-Traum" 81 . Welche Quali-

79

Jenseits von Gut und Böse 19; KGW VI 2, 27.

80

Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[65]; KGW VII 2, 291. Nachlaß a.a.O., 27[19]; KGW VII 2 , 2 7 9 f . - Nietzsche führt aus, daß „überall der umgekehrte Prozeß da sein" muß, „z.B. beim Klavierspieler, der Wille zuerst, dann die entsprechende Vertheilung der Aufgaben an die subordinirten Willen, dann das Anheben der Bewegung von der letzten untersten Gruppe aus - dem gröbsten

81

74

Freiheit und Wille bei Nietzsche

tät freilich solche Unterwillen befähigt, nicht nur (gewissermaßen willenimmanent) zu gehorchen, sondern darüber hinaus .etwas anderes' zu verändern, z.B. einen ,Vorgang' auszulösen, muß noch erfragt werden. Den einfachen Willen gibt es jedenfalls nur als ein uns täuschendes Bewußtseinsphänomen, als „Erdichtung" 82 , als „eine falsche Verdinglichung"83. Nietzsche kann dann aber auch sagen: „Es giebt keinen .Willen': das ist nur eine vereinfachende Conception des Verstandes, wie .Materie'. " 8 4 Und wenn es keinen .Willen' gibt, dann löst sich auch die Frage nach dessen Freiheit auf. Nietzsche hat dies in seinen Aufzeichnungen in den Jahren 1883 und 1 8 8 4 mehrfach vermerkt. Die letzte (ausgefeilte) Formulierung des von ihm konstatierten Sachverhalts lautet: „Das Nachdenken über .Freiheit und Unfreiheit des Willens' hat mich zu einer Lösung dieses Problems geführt,

82 83 84

Mechanismus bis hinaus in die feinsten Tast-Nerven? Nämlich: Akkord, Stärke, Ausdruck, alles muß vorher schon da sein. Gehorsam muß da sein und Möglichkeit zu gehorchen!" (Nachlaß a.a.O., 27[66]; KGW VII 2, 291) Der Virtuose täuscht sich, wenn er meint, es sei sein Wille, der die großen Schwierigkeiten im Spiel überwinde. Daß auf .seinen Willen' hin „die genau entsprechende Aktion folgt", wird nicht durch den Willen verursacht. „Nicht der Wille überwindet den Widerstand - wir machen eine Synthese zwischen 2 gleichzeitigen Zuständen und legen eine Einheit hinein." (Nachlaß a.a.O., 27[24] ; KGW VII 2,28 If.) Wir haben sie oben als Ich-Synthese beschrieben. - Auf „die chronologische Umdrehung" geht Nietzsche in einer späteren Aufzeichnung zum „Phänotnenalistnus der inneren Welt" noch einmal ein. Er führt aus, daß unsere „ganze .innere Erfahrung'" darauf beruhe, „daß zu einer Erregung der Nerven-Centren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird - und daß erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, - es ist ein Tasten auf Grund der ehemaligen .inneren Erfahrungen' - d.h. des Gedächtnisses. Das Gedächtniß enthält aber auch die Gewohnheiten der alten Interpretation, d.h. deren irrthümliche Ursächlichkeiten ... so daß die .innere Erfahrung' in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Causal-Fiktionen zu tragen hat" (Nachlaß Frühjahr 1888,15[90]; KGW VIII3, 253). - Das beschriebene Phänomen erweist sich damit als fundamentaler Vorgang unserer Einverleibung von Irrtümern. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[24]; KGW VII 2, 282. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[62]; KGW VIII 1, 22. Nachlaß Winter 1883-1884, 24[34]; KGW VII 1, 705. - „Die logisch-metaphysischen Postulate, der Glaube an Substanz, Accidens, Attribut usw. hat seine Uberzeugungskraft in der Gewohnheit all unser Thun als Folge unseres Willens zu betrachten: so daß das Ich, als Substanz, nicht eingeht in die Vielheit der Veränderung. -Aber es giebt keinen Willen. - " (Nachlaß Herbst 1887, 9[98]; KGW VIII 2, 55.)

Freiheit und Wille bei Nietzsche

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die man sich gründlicher und abschließender gar nicht denken kann - nämlich zur Beseitigung des Problems, vermöge der erlangten Einsicht: es giebt

gar keinen Willen, weder einen freien noch einen unfreien."*5 Dies ist freilich

nicht Nietzsches letztes Wort zu unserem Problem, weder seiner Gedankenentwicklung noch der Sache nach.

Zweiter Teil. Über Freiheit und Wille zur Macht

12. Wille und Wille zur Macht Um des Verständnisses des äußersten (der Sache nach: letzten) Horizontes willen, in den Nietzsche die Frage nach der Willensfreiheit hineinnimmt, müssen wir auf das Innerste eingehen, zu dem er im Versuch, die .Einheit' des wollenden, fühlenden, denkenden, affektiven Letztgegebenen zu fassen, hinabdringt. Die Frage nach dieser Einheit wird von ihm in einer Aufzeichnung von 1885 8 6 und im Aph. 3 6 von Jenseits von Gut und Böse (dessen 1886 umgearbeitete .Vorstufe' die Aufzeichnung bildet) zunächst hinsichtlich ihrer genealogischen Rückführbarkeit erörtert. 1885 heißt es: „Sollte nicht es genügen, uns als .Kraft' eine Einheit zu denken, in der Wollen Fühlen und Denken noch gemischt und ungeschieden sind? Und die organischen Wesen als Ansätze zur Trennung, so daß die organischen Funktionen sämmtlich noch in jener Einheit beieinander sind, also Selbst-regulierung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel?" Diese Fragen aufnehmend schreibt Nietzsche im Aph. 36, man könne den „Versuch" machen, dies Ineinandersein „als eine Vorform des Lebens" zu denken. Wir dürfen solche 85

Nachlaß Sommer-Herbst 1884,27[1] ; KGW VII 2 , 2 7 5 . - Vgl. die früheren Niederschriften: Nachlaß Mai-Juni 1883,9[9];KGW VII 1,360, zuAlso sprach Zarathustra: „Ich lache eures freien Willens, und auch eures unfreien: keinen Willen giebt es." Nachlaß Winter 1 8 8 3 - 1 8 8 4 , 24[32]; KGW VII 1, 705: „Unfreiheit oder Freiheit des Willens? Es giebt keinen Willen." - Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 25[254]; KGW VII 2, 214: „Das Problem von Freiheit und Unfreiheit des Willes gehört in die Vorhöfe der Philosophie - für mich giebt es keinen Willen." - Nachlaß, a.a.O., 26[296]; KGW VII 2, 226: „Beseitigung des Willens, des freien und unfreien."

86

Nachlaß August-September 1885, 40[37]; KGW VII 3, 378f.

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

Überlegungen zur Reduktion auf „eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt", nicht im Sinne eines Rückgangs in die von Nietzsche bekämpfte Metaphysik mißdeuten (wie dies oft genug geschehen ist). Er versteht die anfängliche Einheit ausdrücklich als synthetisches Gebundensein der Funktionen in einander. Die Genealogie hat hier vor allem methodische Bedeutung. Nietzsche stellt in ihr „unsre Welt der Begierden und Leidenschaften" (in der Vorstufe werden Denken, Empfindungen und Triebe „als primitive Form" von „Wollen Fühlen Denken" genannt) als das heraus, was für die Erklärung alles Geschehens ausreicht". Damit meldet sich natürlich die Frage nach dem Ursprung von Veränderungen, von .Wirkungen'. Dürfen wir im Ausgang von dem uns als real Gegebenen her (letztlich am Leitfaden des Leibes) dafür das Wort .Wille' in Anspruch nehmen? In der Vorstufe stellt Nietzsche vor ein Entweder-Oder: Jintweder muß man alle Wirkung als Illusion auffassen (denn wir haben uns die Vorstellung von Ursache und Wirkung nur nach dem Vorbilde unseres Willens als Ursache gebildet!) und dann ist gar nichts begreiflich (Hervorheb. v. Vf.) oder man muß versuchen, sich alle Wirkungen als gleicher Art wie Willensakte zu denken, also die Hypothese machen, ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin ist, eben Willenskraft ist." Machen wir uns deutlich: Einleuchtend mochte sein, daß unser einfacher Wille nichts bewirken kann. Aber auch die Delegation der Auslösung von ,Aktionen' auf die letzten Gehorchenden in der Befehlskette einer Wollensvielheit löste die Schwierigkeiten nicht auf, wie denn Willentliches auf ,Nichtwillenartiges' übergreifen könne. Die Auflösung ist nur möglich (bleiben wir nicht bei der Unbegreiflichkeit stehen), wenn das, worauf gewirkt wird, nicht „.Stoffe', nicht [...] .Nerven' zum Beispiel" sind, wie es im Aph. 36 heißt, sondern .Willen', - selbst die vom Klavierspieler bewegten Tasten.87 Nietzsche wagt nun die Hypothese, daß „überall, wo .Wirkungen' anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt". Freilich ist dabei schon nicht mehr von Willen im bisher erörterten Sinn die Rede, sondern von „Einer Grundform des Willens", aus der schließlich „a//e wirkende Kraft eindeutig [...] als: Wille zur Macht" bestimmt werden könnte.88 „Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren .intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet - sie wäre eben .Wille zur Macht' und nichts ausserdem." 89 Die Worte 87 88 89

Vgl. dazu oben Anm. 81. Vgl. hierzu Nachlaß M a i - J u n i 1885, 35[15]; K G W VII 3. 235f. Vgl. hierzu Nachlaß Juni-Juli 1885, 38[12] ; KGW VII 3, 338f.

Freiheit und Wille bei Nietzsche

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,intelligibler Charakter' hat Nietzsche wohlweislich in Anführungszeichen gesetzt. Dem Intelligiblen, als eine Metaphysik voraussetzend oder zu einer solchen führend, gilt seine massive Kritik. Nur in dem Sinne, daß jenes Innerste für jedes Geschehen, welcher Art auch immer, konstitutiv ist, kann er es (erläuternd) verwenden. 90 Wir leben „in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist", heißt es im Aph. 186 von Jenseits von Gut und Böse. Das bedeutet zugleich: Der Wille zur Macht .existiert' weder als etwas Gesondertes für sich noch ist er .Seinsgrund'. Er ist das Eins (die Einheit) allein als die Qualität aller faktischen Einheiten (als jeweils geeinte Vielheiten). Diese werden dann, ihrem Wesen entsprechend, von Nietzsche als (Vielheiten von) Willen zur Macht aufgefaßt. 91 So ist für ihn „der Mensch [...] eine Vielheit

von ,Willen zur Macht': jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen."91 Zu fragen ist nach der Unterscheidung von .Wille' und .Wille zur Macht' durch Nietzsche. Dabei ist immer zu beachten, daß er das Wort .Wille' mehrdeutig gebraucht, nicht anders als er mit anderen Begriffen verfährt. Oft ist nur aus dem Kontext heraus zu verstehen, ob er, wenn er vom Willen spricht, ihn im Sinne des vordergründigen und darin nur scheinbaren Einheitsphänomens anspricht oder dieses in seiner Rede auf den Willen zur Macht hin unterläuft. Unser mit Bewußtsein verbundener Wille ist jedenfalls in seinem Grunde immer Wille zur Macht. Auch (und in besonderer Weise) gerade dann, wenn wir ihn irrtümlicherweise als letzte Instanz unserer Entscheidungen ansehen. 50

Natürlich ist Nietzsches Rede vom .intelligiblen Charakter' keine zufällige Begriffswahl. Seine Kritik an dieser Bestimmung ist in den ersten drei Abschnitten dieser Studie dargestellt worden. Er setzt sich mit den Anführungszeichen zugleich polemisch ab vom Moment des Allgemeinen im Kantischen Begriff. Zugleich orientiert er sich mit seiner Rede kritisch an Schopenhauers Ausführung, daß der intelligible Charakter ein je individueller, durch die vor-zeitliche Wahl bestimmter, ist. Die Besonderung, die im .Individuellen' liegt, könnte Nietzsche akzeptieren, seine Metaphysikkritik negiert aber jede Vor-zeidichkeit. Das Wesen des Menschen, das Schopenhauer durch Abstraktion aus den Erscheinungen gewonnen hat, gibt es für ihn so wenig wie die .zwei Welten' von Ding an sich und Erscheinung. Die einzige Welt ist ihm zufolge .von innen gesehen' nichts als das faktische Gegeneinander einer Willen-zur-Macht-Vielfalt, die auch erst alles Individuelle konstituiert.

91

S. dazu Vf., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1 9 7 1 , 1 . Kapitel, 1 0 - 3 3 , und Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Interpretationen I, S. 39-53. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[58]; KGW VIII 1, 21.

92

78

Freiheit und Wille bei Nietzsche

Wir ziehen zunächst eine Aufzeichnung von 1888 heran, aus der erhellt, was unserer allgemeinen (und überlieferten) Vorstellung vom .Willen' fehlt, um für das Verständnis von Veränderungen in der Welt tauglich zu sein. Sie hat sich in der „bisherigen Psychologie" als eine, wie oben schon ausgeführt, „ungerechtfertigte Verallgemeinerung" ausgeprägt und ist bei Schopenhauer „ein bloßes leeres Wort" geworden. Man hat dabei nicht, wie es nötig gewesen wäre, „die Ausgestaltung Eines bestimmten Willens in viele Formen" gefaßt, sondern gerade „den Charakter des Willens weggestrichen [...], indem man den Inhalt, das Wohin? heraus subtrahirt hat". Dieses Wohin ist nicht getroffen, wenn man (wie Schopenhauer) von einem „Willen zum Leben" spricht: „Es ist ganz willkürlich zu behaupten, daß Alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten." In einer solchen Äußerung zeigt sich die Abgründigkeit von Nietzsches Gedanken des Willens zur Macht. Wir müssen auch die anorganischen Prozesse in dessen Zeichen interpretieren. Zwar hat dies auch Schopenhauer getan: Auch nach ihm ist es schon ein und derselbe Wille, der sich in allen Ideen und Kräften der organischen wie der anorganischen Natur offenbart. Nietzsches Satz, „daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, das es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem giebt", stimmt nur hinsichtlich des Geltungsbereichs mit dem Schopenhauerschen Willensbegriff überein. Aber dessen Fundierung in einem „,An sich der Dinge'" verfehlt nach Nietzsche die Wirklichkeit zugunsten der Einbildung der Metaphysik. Die Prozessualität des wirklich Gegebenen kann nur dann zutreffend beschrieben werden, wenn statt des Rekurses auf ein .ständiges' An-sich das Wohin des Willens als Macht herausgestellt wird. Nietzsche verweist darauf, daß es „eine bloße Erfahrungssache" ist, „daß die Veränderung nicht aufhört·. an sich haben wir nicht den geringsten Grund zu verstehen, daß auf eine Veränderung eine andere folgen müsse. Im Gegentheil: ein erreichter Zustand schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in ihm gebe, eben nicht sich erhalten zu wollen [...], sondern um mehr zu werden". Nietzsche wendet sich hierbei auch gegen Spinozas ,Satz von der Selbsterhaltung', der „eigentlich der Veränderung einen Halt setzen" müßte.93 93

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 92f. - G. Abel hat in seinem Buch Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkunft, Berlin/New York 1984, Nietzsches Philosophie sowohl in die Geschichte des Selbsterhaltungsgedankens einbezogen als auch in ihrer Fruchtbarkeit für dessen aktuelle Diskussion zur Geltung gebracht. Nietzsches eigene Auseinandersetzung

Freiheit und Wille bei Nietzsche

79

Die Anwendung des Kausalitätsprinzips in den zeitgenössischen Wissenschaften trägt dem Erhaltungsgedanken insofern Rechnung, als sie das Begriffspaar „Ursache und Wirkung reduzirt [...] auf das Gleichungs-Verhältniß, mit dem Ehrgeiz, zu beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist". 94 Der Begriff der Kausalität wird „seines Inhalts entleert" und lediglich „übrig behalten zu einer Gleichnißformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache und Wirkung" stehen. 95 Dabei werden „nur Resultate" betrachtet; mit der Gleichsetzung der Kräfte erläßt man sich „die Frage der Verursachung einer Veränderung", womit Nietzsche hier nicht eine .Ursache' meint, sondern auf das fehlen' des Willens zur Macht als „treibende Kraft" hinweist.96 Unter deren Aspekt wird Nietzsches frühere Auslegung der Kausalität als Koordination der Vielen nicht verabschiedet, diese kann vielmehr nun erst sachgemäß begründet werden: „Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neuarrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden [...] das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen." 97 Das genannte Gleich-setzen kann zwar wissenschaftlich nützlich sein. Das ändert aber nichts daran, daß .„Ursache' und .Wirkung'" die „falsche Auslegung eines Kriegs und eines relativen Siegs" darstellen.98 Der Gefahr, sich fälschlich an Gleichheits-Verhältnissen im beschriebenen Sinne zu orientieren, sind auch „die Physiologen" weitgehend erlegen. Sie „sollten sich besinnen", heißt es im Aph. 13 von Jenseits von Gut und Böse, „den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille zur Macht - : die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon." Noch die Beschreibung unseres Wollens als eines Gesellschaftsbaus von Befehlenden und Gehorchenden im Aph. 19 desselben Buches ist zweideutig. Sie läßt sich im Sinne unserer Selbsterhaltung lesen. Dann ist eine hierarchische Struktur der Vielen

mit dem Prinzip der Selbsterhaltung wird dabei in ihren wesentlichen Hinsichten herausgearbeitet. - Speziell zu seiner Aufnahme und Kritik Spinozas von 1 8 8 1 an s. dort S. 4 9 - 5 9 . 94

Nachlaß a.a.O.

95

Nachlaß a.a.O., 1 4 [ 9 8 ] ; KGW VIII 3, 66f.

96

Nachlaß a.a.O., 1 4 [ 1 2 1 ] ; KGW VIII 3 , 92f.

97

Nachlaß a.a.O., 1 4 [ 9 5 ] ; KGW VIII 3, 69.

98

Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 2 9 [ 1 0 6 ] ; KGW VIII 3, 60.

80

Freiheit und Wille bei Nietzsche

gewissermaßen vorgegeben, und jede,Aktion' wird allein auf diese bezogen. Insbesondere bei der Innenansicht unserer selbst am Leitfaden des Leibes mit seinen eingespielten Abläufen scheint keine Notwendigkeit zu bestehen, über das Erhaltungsprinzip hinauszugehen. Nietzsche schreibt 1884: „Die Rangordnung hat sich festgestellt durch den Sieg des Stärkeren und die Unentbehrlichkeit des Schwächeren für den Stärkeren und des Stärkeren für den Schwächeren - da entstehen getrennte Funktionen: denn Gehorchen ist ebenso eine Selbst-Erhaltungs-Funktion als, für das stärkere Wesen, Befehlen."99 Das besagt, daß der Rangordnung ein Kampf \orausgegangen ist. Bei der Darstellung der vielen lebenden Wesen, welche unseren Leib konstituieren, haben wir gehört, daß diese im Kampf bleiben (s. S. 68f.). Dabei heißt Jtierrschen [...] das Gegengewicht der schwächeren Kraft ertragen, also eine Fortsetzung des Kampfs. Gehorchen ebenso ein Kampf·, so viel Kraft eben zum Widerstehen bleibt"}00 In dem zuletzt zitierten Text geht Nietzsche davon aus, daß es nicht „nur Kampf gebe um das Leben oder die Ernährung", sondern „den Kampf um des Kampfes willen". Darin liegt nicht nur, daß „ein Kampf sich erhalten will", sondern auch, daß er „wachsen will".101 Ihm kommt es hier aber darauf an darzutun, daß es allem Lebendigen primär um Kraftauslassung geht.102 in welcher sich der Wille zur Macht Ausdruck verschafft. Der Aph. 19 von Jenseits von Gut und Böse ist zwar nicht falsch verstanden, wenn man ihn auf die fix gewordene (einverleibte) Struktur von Rangordnungen in unserem Wollen hin liest. Aber die Fixierung verdeckt einerseits, daß die wollenimmanenten Vorgänge bis ins kleinste hinein immer wieder statt99

Nachlaß Frühjahr 1 8 8 4 , 2 5 [ 4 3 0 ] ; KGW VII 2, 122.

100

Nachlaß Sommer-Herbst 1 8 8 4 , 2 6 [ 2 7 6 ] ; KGW VII 2 , 2 2 0 . - Bei Wilhelm Roux fand Nietzsche die naturwissenschaftliche Begründung dafür, daß gerade der Kampf der kleinsten Wesen gegeneinander (bei Roux: der Zellen) das ganzheitliche Funktionieren des Leibes ermöglicht. S. dazu in: Nietzsche-Interpretationen I, Der Organismus als innerer Kampf. - Zum Gegeneinander der Triebe bzw. Kräfte s. a. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 9 1 ] , 18f.

101

Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - F r ü h j a h r 1 8 8 6 , 1 [ 1 2 4 ] ; KGW VIII 1, 3 6 .

102

Nachlaß Sommer-Herbst 1 8 8 4 , 2 6 [ 2 7 7 ] ; KGW VII 2 , 2 2 0 f . - Die Bedeutung der Auslösungslehre von J. R. Mayer für Nietzsches Verständnis „einer, wenn man so will, Willen-zur-Macht-physiologischen ,Freiheit'" hat G. Abel herausgestellt (Nietzsche, a.a.O., [Anm. 93], 99f.). - Zu Nietzsches Rezeption des Aufsatzes Über Auslösung von Mayer vgl. in: Nietzsche-Interpretationen I , Der Organismus als innerer Kampf, S. 120f., Anm. 103. - Zu Mayer und Nietzsche vgl. auch Abel, Nietzsche, a.a.O., [Anm. 93], v. a. 4 4 - 4 9 .

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finden, und andererseits, daß sich alles organische Geschehen (auf welcher Ebene auch immer) als ein „Ubergreifen von Macht auf andere Macht" vollzieht.103 Tragen wir dieses Übergreifen in das Modell von Wollen ein, das Nietzsche in dem zitierten Aphorismus entfaltet, so müssen wir zur Kompliziertheit, die Nietzsche nennt (und auf die er sich dabei beschränkt), die Lebendigkeit und Flexibilität von Machtkämpfen hinzudenken. Aber wie sich das .Einwirken' von Willen auf Willen vollzieht, ist noch ungeklärt. Die Rede vom Übergreifen von Macht auf Macht legt die Vorstellung des unmittelbaren Angriffs und Eingriffs im Gegeneinander der Machtwillen nahe. Diese wiederum scheint ohne Inanspruchnahme des Gedankens der direkten Berührung (als Druck, Stoß oder Zug) nicht denkbar zu sein. Doch ist ein derartiges Wirken schon in der Destruktion des Kausalitätsbegriffs von Nietzsche ausgeschlossen worden. Zu den Konsequenzen, die sich hieraus für sein Verständnis von Bewegung ergeben, ziehen wir einige Fragmente von 1885/86 heran. Die Ausführung, daß „die mechanische Bewegung [...] nur ein Ausdrucksmittel eines inneren Geschehens" darstellt,104 wird ergänzt durch den Satz: „Alle Bewegungen sind Zeichen eines inneren Geschehens." Daß die Willen zur Macht auf andere Machtwillen übergreifen, wobei beide Seiten aus sich heraus ,aktiv' sind, führt Nietzsche dazu, „alle Bewegungen [...] als Gebärden aufzufassen, als eine Art Sprache, wodurch sich die Kräfte verstehn". Denken ist demgemäß nicht mehr als „eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten".105 Das findet sich zusammengefaßt in der Aussage: „Bewegungen sind Symptome, Gedanken sind ebenfalls Symptome: die Begierden sind uns nachweisbar hinter beidem, und die Grundbegierde ist der Wille zur Macht [...] »Bewegung an sich'" ist „nichts".106 Nietzsche kann das (für sein Verständnis des Wirklichen konstitutive) Werden nicht unter einen Begriff von Bewegung fassen, soweit damit ein bloß äußerer Vorgang gemeint ist. Von Bewegung kann Nietzsche nur im Sinne des genannten inneren Geschehens sprechen (und nicht in räumlicher Bedeutung). 1888 schreibt er: „Ich brauche den Ausgangspunkt .Wille zur Macht' als Ursprung der Bewe103 104

105 106

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[81]; KGW VIII 3, 52. Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[30]; KGW VIII 1, 13f. Die Ausführung findet ihrerseits ihre Erweiterung durch den Satz: „ - also der ungeheuer überwiegende Theil alles inneren Geschehens ist nur als Zeichen gegeben". (Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[9]; KGW VIII 1, 302.) Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[28]; KGW VIII 1, 12f. Nachlaß a.a.O., 1[59]; KGW VIII 1, 21.

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gung. Folglich darf die Bewegung nicht von außen her bedingt sein - nicht verursacht [...] Ich brauche Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich greift."107 Zum Aus-sich-heraus, das gleichwohl ein In-sichbleiben ist, gehört, daß „alle Thätigkeit gegen etwas gerichtet ist, das überwunden werden soll". Demzufolge „strebt der Wille zur Macht", wie es schon 1884 heißt, „nach Widerständen", d.h. auch (in Widerrufung früherer Aussagen108) „nach Unlust".109 Er kann sich „nur an Widerständen äußern·, er sucht nach dem, was ihm widersteht"110. Das aufgesuchte Widerstehende ist in jedem Falle (auch in dem des Anorganischen111) selbst von der Art des Willens zur Macht. Die positive Charakterisierung der „Willens-Wirkung" im Sinne der Willen zur Macht stellt Nietzsche vor schwierige Probleme. Wir führen hier die Versuche auf, in denen Nietzsche die Indirektheit solchen Bezogenseins ausdrücklich macht. So empfiehlt er 1884, „nicht von Ursachen, sondern von Reizen des Wollens" zu sprechen.112 Reize lösen unter gegebenen Umständen Gegen-Reize aus. Unter diesem Aspekt kann man das Gegeneinander der Willen zur Macht als Reizgeschehen auslegen.113 Doch dürfte diese Reduktion für das Verständnis der komplexeren organischen Gebilde nicht ausreichen. 1885 schreibt Nietzsche: „Die einzige Kraft, die es giebt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Commandiren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern."114 Wollen, 1887/88 als JLtwas-wollen" verstanden, „ist nicht,begehren', streben, verlangen: davon hebt es sich ab durch den Affekt des Commando's".us Wir sind damit wieder beim Befeh-

107 108 109

1,0 111

112 113

114 1,5

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[98]; KGW VIII 3, 66. Der Primat des ,Selbstgenusses' (vgl. dazu oben S. 43, 44f., 46) tritt damit zurück. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[275]; KGW VII 2, 220. - Hier heißt es des näheren: „Die Unlust ist ein Gefühl bei einer Hemmung: da aber die Macht ihrer [sie] nur bei Hemmungen bewußt werden kann, so ist die Unlust ein nothwendiges Ingrediens aller Thätigkeit (alle Thätigkeit ist gegen etwas gerichtet, das überwunden werden soll)." Nachlaß Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII 2, 88. S. dazu Vf.,Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Interpretationen I, 60f., 64f. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[436]; KGW VII 2, 123. S. dazu Vf., Der Organismus als innerer Kampf, in: Nietzsche-Interpretationen I, S. 124ff. Nachlaß August-September 1885, 40[42]; KGW VII 3, 382. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11[114]; KGW VIII 2, 296.

Freiheit und Wille bei Nietzsche

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len, das aber hier primär als Wollen zur Macht (und nicht mehr nur im Dienste der Selbsterhaltung stehend) aufgefaßt ist. Das Befehlen, das sowohl Gehorsam fordert als auch Gegen-wollen herausfordert, wird von Nietzsche gelegentlich als Dirigieren charakterisiert. Die Wille-zu-Wille-Kausalität besagt, daß „der stärkere Wille [...] den schwächeren" dirigiert. 116 Freilich ist Nietzsche die Rede von einer „dirigirende-

[n] Kraft" im Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, Aph. 360, als un-

ter Teleologie-Verdacht stehend, zweifelhaft geworden.

Wenn Nietzsche sowohl teleologische als auch mechanistische Deutungen des Willen-zur-Macht-Geschehens ausschließt, so besagt das nicht, daß er den Gedanken uneingeschränkter Notwendigkeit aufgibt. Im Aph. 2 2 in Jenseits von Gut und Böse kritisiert er zwar die „schlechte [n] Interpretations-Künste" der Naturwissenschaftler, welche auf die (gleichmacherische) „Gesetzmäßigkeit der Natur" abheben, indem er ihnen „die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen" im Hinblick auf eben diese Natur als .wahre Interpretation' entgegensetzt. Das besagt aber nicht, daß er gegen die „Physiker" behauptet, diese Welt nehme nicht „einen ,nothwendigen' und .berechenbaren' Verlauf". Die Notwendigkeit allen Geschehens sei aber nicht gegeben, „weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz zieht". Wir entnehmen dieser Ausführung hier nur eines: Wie auch immer das genannte Ziehen von Konsequenzen näher beschrieben werden mag, so wird doch in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht kein Spielraum für irgendeine Form von .Freiheit des Willens' eröffnet.

13. Wille zur Macht als Interpretation Bedenken wir, daß jede Veränderung, von den Geschehnissen in der Welt der,Dinge' bis hin zu den sublimsten Gedankenprozessen des Menschen, auf .den' Willen zur Macht zurückgeht, so wird uns bewußt, daß die Bestimmungen von Reiz und Kraftauslösung, von Dirigieren und Kommandieren (Befehlen) und Gehorchen zwar für das Verständnis aller Vorgänge unentbehrlich sind (werden sie nur weit genug gefaßt, wie es bei Nietzsche geschieht). Sie alle haben - in unterschiedlichem Maße - den Vorzug, daß in ihnen nach dem Aufweis des Irrtums alles kausal orientierten Denkens ein 1,6

Nachlaß M a i - J u n i 1 8 8 5 , 3 5 [ 1 5 ] ; K G W VII 3, 2 3 6 .

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

direktes Übergreifen einer Machtwillen-Einheit auf eine andere (wie auch ein Übergreifen innerhalb dieser Einheiten) ausgeschlossen bleibt. Aber in die genannten Bestimmungen können (auch bei ihren Ausweitungen) die komplizierteren Lebensvorgänge nicht eingetragen werden. Ihnen kann Nietzsche mit der Einführung des Begriffes der Interpretation Rechnung tragen.117 Hier muß es genügen, einige Aufzeichnungen aus den Jahren 1885/86 zu dessen Verwendung heranzuziehen.118 „Der Wille zur Macht interpretirt", schreibt Nietzsche. Da es sich hierbei um die Charakterisierung des Grundvorgangs handelt, dürfen wir jenen Begriff nicht auf Textauslegung reduzieren oder ihn von dieser her verstehen. Wir müssen vielmehr noch in jeder Textauslegung das Derivat einer ursprünglichen Machtkonstellation sehen. Interpretation besagt dabei das Hineinlegen von Sinn in das Geschehen, welches nicht schon aus sich selbst heraus einen „Thatbestand an sich", einen „Sinn an sich" oder eine „Bedeutung an sich" darbietet. Das Hineinlegen ist immer „etwas Perspektivisches", - und nur innerhalb des mit ihm eröffneten Horizonts kann es „einen Thatbestand geben". Interpretieren „grenzt" auf diese Weise „ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten". Dabei geht es immer um Macht: „In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden." Wir können den Begriff der Interpretation nicht weit genug fassen. Auch „bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation"; „der organische Prozeß setzt fortwährendes Interpretiren voraus." Dabei ist zu beachten, daß ,der' Wille zur Macht nicht das Subjekt ist, von dem das Interpretieren prädiziert werden kann: „Man darf nicht fragen: ,wer interpretiert denn?' sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ,Sein', sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt." Nietzsches Formulierung, Interpretation sei ein Mittel oder eine Form des Willens zur Macht, ist mißverständlich. Wille zur Macht ist in sich Interpretieren, und jedes Interpretieren ,hat Dasein' als Wille zur Macht. Noch schärfer formuliert: Wille zur Macht und Interpretation sind zwei Namen für dieselbe Sache, es gibt nicht unerfaßte Restbestände auf einer der beiden Seiten. Wir - als geeinte Vielheiten von Willen zur Macht - sind somit mannigfaches Interpretie117

118

S. dazu Vf., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Interpretationen I, S. 6 8 - 8 8 . Im folgenden beziehe ich mich auf die Aufzeichnungen im Nachlaß Herbst 1886-Herbst 1887, 2[148] bis [152]; KGW VIII 1, 137-139.

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ren, und zwar sowohl ,in uns' als auch in den vielfältigen Beziehungen zu anderen Machtwillen-Kombinationen. Daß wir selbst ebenso wie alles andere dem fortlaufenden Wandel unterworfen sind, daß sich die Zahl der Einigungen unablässig ändert (ζ. B. mindert oder mehrt), besagt dann zugleich, daß sich uns eine ungeheure Vielfalt von Interpretationen eröffnet. Im 1887 publizierten Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft (Aph. 374) heißt es sogar, die Welt sei uns „noch einmal .unendlich' geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst". Man hat guten Grund zu fragen, ob solche Unendlichkeit „meine Wichtigkeit als eines tierischen Geschöpfs" nicht ungleich mehr „vernichtet" als - mit Kant zu sprechen - der „Anblick einer zahllosen Weltenmenge", welche ,Vernichtung' für diesen durch immer neue „Bewunderung und Ehrfurcht" sowohl des »bestirnten Himmels' als auch des »moralischen Gesetzes' aufgehoben werden konnte 119 . Im zitierten Aphorismus spricht Nietzsche von dem „grosse [n] Schauder", der ihn angesichts „dieses Ungeheure [n] von unbekannter Welt" ergreift. Obwohl ihn dieser Schauder nicht losläßt, ist er nicht dazu bereit, „dieses Ungeheure von unbekannter Welt" zu vergöttlichen. Denn zu den „Möglichkeiten der Interpretation", die in das „Unbekannte" »einzurechnen' sind, gehört „zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretationen, - unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen ...". Wir lassen das solcherart Abgründige hier auf sich beruhen und konzentrieren uns auf das je faktische Interpretieren, das wir sind. Als solches haben wir uns auch im Rückblick auf die weiter oben durchgangenen Stationen von Nietzsches Denkwegen zu verstehen. So ist das uns uralt einverleibte Gefühl der Willensfreiheit ebenso als Interpretation zu begreifen wie unsere Erkenntnis von der Unfreiheit des Willens. Daß unser Handeln in seiner .Unmittelbarkeit' vom Gefühl der Freiheit getragen oder zumindest begleitet wird, schließt nicht aus, daß wir uns partiell im Verhältnis zu anderen oder auch generell in unserer Ganzheit als unfrei erfahren. Wir werden damit darauf verwiesen, daß wir ein sich mannigfach überlagerndes - aus Angeerbtem, Überliefertem, in je eigener Erfahrung Einverleibtem und aus von anderem her sich Aufnötigendem gespeistes - Interpretieren sind, das alles andere als gegensatzfrei ist. Dies wiederum besagt nicht, daß wir ein Sammelsurium verschiedenartiger Perspektiven wären (oder sein müßten). Liegt doch im beschriebenen Charakter des Willens zur Macht, welcher den vielen Interpretationen eignet, daß sich Kritik der praktischen Vernunft, A 288ff.

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Freiheit und Wille bei Nietzsche

hierarchisch strukturierte (freilich nie definitiv .festgestellte') Organisationen bilden. Dominanzen können sich allerdings längerfristig durchhalten: in der Lebensgeschichte des ,Individuums' wie in der Geschichte von Kollektiven', .Kulturen' etc., - auch abgesehen von dem als Lebensbedingung dauernd Einverleibten. Wir müssen aber immer berücksichtigen, daß nach Nietzsche selbst in den gut eingespielten Zusammenhängen zwischen Befehlenden und Gehorchenden innerhalb einer Organisation der für diese konstitutive Kampf weitergeführt wird; sein Aufhören würde zum Zerfall führen.

14. Freiheit und Unfreiheit des Willens als Phänomene Selbstverständnisses

menschlichen

Im Aph. 21 in Jenseits von Gut und Böse geht es Nietzsche (wie im Ersten Hauptstück des Buches überhaupt) um philosophische Vorurteile. Er wendet sich an seine Zeitgenossen, d.h. auch noch an uns. Nachdem wir gehört haben, daß er das Problem der Willensfreiheit auf-gelöst hat (s. o. S. 74f.), brauchen wir nicht bei seiner Aufforderung zu verweilen, beide Begriffe - den .Unbegriff' freier Wille wie auch den (am Schema Ursache-Wirkung gewonnenen) Begriff des unfreien Willens - aus unseren Köpfen zu streichen. In bezug auf den letzteren (aber auch gemünzt auf den ersteren) heißt es da, wir trieben es damit, „wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch". Das heißt hier: Wir dichten und mischen in das Wirkliche hinein, was es gar nicht gibt. Dabei beobachtet Nietzsche, daß das Problem der Willensfreiheit von „zwei ganz entgegensetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief persönliche Weise" von den Menschen gefaßt wird. Die sich unfrei Fühlenden wollen im Grunde „nichts verantworten, an nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich selbst irgendwohin abwälzen zu können". Den entgegengesetzten Typus repräsentieren die .Indeterministen'. Sie „wollen um keinen Preis ihre .Verantwortlichkeit', den Glauben an sich, das persönliche Anrecht auf ihr Verdienst fahren lassen". Wir konstatieren, daß beide Positionen - die der Deterministen wie die der Indeterministen - von tief liegenden psychologischen Beweggründen her abgeleitet werden. Hinter ihnen findet Nietzsche, worum allein es sich „im wirklichen Leben" handelt: „um starken und schwachen Willen". Wir wissen, daß

Freiheit und Wille bei Nietzsche

87

solcher Begriffsgebrauch nach der Destruktion des .allgemeinen Willens' nun im Sinne von Willen zur Macht ,möglich' ist. Voraussetzen können wir, daß .Stärke' und .Schwäche' vereinfachende Bestimmungen für zahllose Abstufungen von .Kraft' darstellen. Fragen müssen wir aber nach der Zuordnung dieser Begriffe zu denen von Freiheit und Unfreiheit. Der von Nietzsche in unserem Text beschriebene .Determinist' ist schon von seiner Grundhaltung her (innerliche Selbstverachtung) den Schwachen zuzuweisen. Weiter heißt es da: „Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm mangelt, wenn ein Denker bereits in aller .Causal-Verknüpfung' und .psychologischen Nothwendigkeit' etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen, Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade so zu fühlen, - die Person verräth sich." Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß jeder, der seine Freiheit im Flusse des Werdens untergehen sieht, den Schwachen zuzurechnen sei. Umgekehrt ist nicht schon der Wille dessen .stark', der sich als willensfrei interpretiert. Der herangezogene Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse hält sich zwar nur an die Einfalt und an die Eitelkeit der .Indeterministen'. Aber daß in solchen wie in anderen Weisen bornierter Selbstbezogenheit das wirkliche (notwendige) Geschehen geleugnet wird, ist für Nietzsche zugleich Ausdruck eines schwachen Willens. 120 Die Selbstinterpretation des Menschen als willensfrei oder willensunfrei hat sich als mehrdeutiges Sekundärphänomen erwiesen. Nietzsches Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit als Negation alles mit ihm in Verbindung gebrachten Faktischen (im Sinne kruder Tatsächlichkeit) gibt doch unvermeidlich den .Bedeutungen' Raum, die sich mit dem .Phänomen' in unterschiedlicher Weise verbinden können. Unter diesem Aspekt unseres Themas nehmen wir das Wort Mythologie auf, das Nietzsche im zitierten Aphorismus verwendet. Wir verstehen es in einem weiteren Sinne, als er dort zutage tritt: durchaus aber in seiner Intention. Der Gedanke bzw. die Lehre von der Freiheit oder der Unfreiheit des Willens kann nämlich über jede Selbstinterpretation hinaus als wirksames Instrument innerhalb überindividueller Machtkämpfe dienen. Schon in Menschliches, Allzumenschliches II (Wanderer 9) hat Nietzsche die Lehre von der Willensfreiheit „eine Erfindung herrschender Stände" genannt, erwachsen aus dem Gefühl von Unabhängigkeit und überlegener Stärke gegen-

120

Auf andere Weise hat J. P. Sartre die Freiheitsfrage auf die Selbstinterpretation des Menschen zurückverlagert. Um das Modellhafte einer solchen Möglichkeit vor Augen zu führen, wird Sartres Deutung in Exkurs 3 im Anhang zu dieser Abhandlung dargestellt.

88

Freiheit und Wille bei Nietzsche

über den „gedrückt und stumpf" lebenden Unterworfenen.,Erfindung' meint hier ein,ideologisches' Geltendmachen. Daß solche Inanspruchnahme ebenfalls mehrdeutig sein kann, zeigt sich darin, daß wir bei Nietzsche auch auf die Schwachen als die .Erfinder' dieser Lehre treffen. Er sieht, daß der Begriff,freier Wille' in besonderem Maße dem Ressentiment dienen kann. Er findet in diesem Begriff sogar - wie es in Götzen -Dämmerung heißt - „das anrüchigste Theologen-Kunststück" vollbracht, „das es giebt". Aus dem „Instinkt des StrafenundRichten-Wollens" heraus wurden die Menschen als „,frei' gedacht [...], um schuldig werden zu können". Strafe und Gericht tragen nach Nietzsche ihren Sinn nicht in dem, was sich in ihnen ausspricht. Es gehe den „Theologen" darum, durch dieses Mittel die Menschen (und dabei auch die,Starken') „von sich abhängig zu machen", also um Macht.121 In Ecce homo hat er noch einmal den „Ernst" hervorgehoben, mit dem seine Philosophie den Kampf mit dem Ressentiment, „den Räch- und Nachgefühlen bis in die Lehre vom,freien Willen' hinein aufgenommen hat", wobei „der Kampf mit dem Christenthum [...] nur ein Einzelfall daraus" ist.122

15. Ober ,hohe Zustände' und ihre Zusprechung Die Gegensätzlichkeit von Interpretationen, in denen freier und unfreier Wille in Anspruch genommen werden, hat Nietzsche auch in einigen Aufzeichnungen über den „Ursprung der Religion" zur Darstellung gebracht, die sich im Nachlaß vom Frühjahr 1888 finden. 123 Dieser Ursprung liegt beim Menschen einer naiven Kulturstufe in einem plötzlichen und ihn überwältigenden Überzogenwerden von einem Gefühl der Macht, das sich ihm „als fremd" darstellt, - wie dies bei allen „großen Affekten" geschieht. Ein solcher Mensch „wagt sich nicht als Ursache dieses erstaunlichen Ge-

121 122

123

Götzen-Dämmerung, Irrthümer 7; KGW VI 2, 89f. Ecce homo, Weise 6; KGW VI 3, 271. - Noch am Schluß von Ecce homo heißt es von der „christlichen Moral", sie habe den „Begriff,Sünde' erfunden sammt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff .freier Wille', um die Instinkte zu verwirren, um das Misstrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen!" (Ecce homo, Schicksal 8; KGW VI 3, 371f.) Nachlaß 1888, 14[124] bis [130]; KGW VIII 3, 9 7 - 1 0 5 .

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fühls zu denken - und so setzt er eine stärkere Person, eine Gottheit für diesen Fall an". 124 Einer solchen .Heraussetzung' liegt die „rudimentäre Psychologie des religiösen Menschen" zugrunde. Das Rudimentäre sieht Nietzsche in der Simplizität einer psychologischen Logik, nach der in älteren Kulturen gedacht und gelebt wurde und die in verwandelten Gestalten auch ,heute' noch virulent ist. Solche ,naive' Psychologie faßt alle Veränderungen als Wirkungen eines Willens auf, welcher seinerseits der Wille eines Täters sein muß. Ihr gemäß ist „man [...] selber nur in dem Falle Ursache, wo man weiß, daß man gewollt hat". Was ungewollt und so machtvoll in das Bewußtsein tritt, kann der ,Naive' sich nicht als „Urheber" zurechnen. Ist er für einen ihn so fremdartig anmutenden Zustand nicht verantwortlich, so bedarf der damit angenommene „unfreie Wille (d.h. das Bewußtsein einer Veränderung mit uns, ohne daß wir sie gewollt haben) [...] eines fremden Willens". Was geschieht dabei? Der Mensch, in dem ein so starkes Machtgefühl auftauchte, legte „zwei Seiten" seiner selbst, „eine sehr erbärmliche und schwache und eine sehr starke und erstaunliche", „in zwei Sphären auseinander, hieß die erste .Mensch', die zweite ,Gott'". 125 Diesem Verständnis gegenüber ist es dann, genealogisch betrachtet, ein Fortschritt, wenn jener Mensch sich selbst „für seine hohen Zustände und Handlungen als Ursache" denkt; die Uberzeugung von der Freiheit des eigenen Willens „ist eine Form des wachsenden Stolzgefühls".126 In diesem 124

Nachlaß a.a.O., 14[124]; KGW VIII 3, 97f. - Nietzsche nennt als frühe Beispiele für die Überzeugung von der Wirkung einer fremden Macht auf den Menschen den Epileptiker, verweist aber auf „jede verwandte Unfreiheit, z.B. die des Begeisterten, des Dichters, des großen Verbrechers, der Passionen wie Liebe und Rache" (a.a.O.).

125

Nachlaß a.a.O., 14[125]; KGW VIII 3, 98f. - „Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und schwache Fiktion, die er Mensch nennt und eine andere, die er Gott (Erlöser, Heiland) nennt auseinander - " . Nietzsche folgert daraus, die Religion habe „den Begriff .Mensch' erniedrigt; ihre extreme Consequenz ist, daß álles Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt..." (a.a.O., 99).

126

A.a.O., 14[126]; KGW VIII 3, 100. - In Anspielung auf Ödipus heißt es schon in Morgenröthe, wir seien nicht für unsere Träume verantwortlich, aber „ebenso wenig für unser Wachen", weshalb „die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter" habe (Morgenröthe 128; KGW V 1,115f.). - Nietzsche wird schon wenige Jahre später das Machtgefühl für sein eigenes Gefühl von Unverantwortlichkeit in Anspruch nehmen und ein Verständnis von Freiheit, das nicht mehr im bewußten Willen, sondern im Instinkt des Menschen

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Sinne ist „die Theorie vom .freien Willen' [...] antireligiös". Auf dieser Stufe der .Entwicklung' versteht sich der Stolze so, daß er bewußt gewollt haben muß, was seinen Zustand ausmacht, - „sonst gehört er ihm nicht an". - Nun können wir an das am Schluß von Abschnitt 14 Ausgeführte anknüpfen. Denn indem der Stolze sich sein Wollen und Tun zurechnet (und zurechnen läßt), kann sein .freier Wille' für das von ihm Gewollte moralisch verantwortlich gemacht werden. Es „kommt die Gegenbewegung: die der Moralphilosophen" - und der christlichen Theologen. Was der Mensch sich zuschreibt, muß er gewollt haben. Vor dem Gericht der Moral kann er nun nach dem Maßstab der Allgemeinheit mit ihren engen und kleinen Gefühlen verurteilt werden. 127 Nietzsche führt noch weitere .Formen' auf, in denen die „hohen und starken Zustände" des Menschen verfremdet werden. Er weist darauf hin, daß die „Verwandtschafts-Theorie" es gestattet, sein Stolzgefühl in gewisser Weise zu bewahren, wenn er jene Zustände auf seine Vorfahren zurückgehen läßt. Einen noch stärkeren Ausdruck kann das Stolzgefühl finden, wenn sich Dichter oder Seher als auserwählte „bloße Mundstücke" verstehen. „Ehemals glaubte man sich zu ehren, wenn man für die höchsten Dinge, die man that, sich nicht verantwortlich wußte, - sondern - Gott". Hier ist im Gegensatz zur christlichen Tradition „die Unfreiheit des Willens [...] das, was einer Handlung einen höheren Werth verlieh". 128 Ob man sich als solcherart unfrei verstand oder als frei im Sinne einer Willensspontaneität (wie zuvor dargestellt), man verfuhr immer gemäß der genannten .rudimentären Psychologie', welche die „.Bewußtheit' als Attribut der Seele" nahm und mit ihr noch „einen Willen (d.h. eine Absicht) hinter allem Thun suchte". 129 Nietzsche geht aber noch einen Schritt weiter. Man könnte meinen, daß er im Gegenzug gegen die verschiedenen Versuche religiöser Selbstentfremdung denjenigen Menschen preist, der sich zuspricht, „seine hohen Zustände (seine Vollkommenheit) selber auch verursacht zu haben". In der Tat sieht er hier einen „Schritt in der Entwicklung des Machtgefühls selbst". Doch das Rudimentäre findet gerade

127

128 129

gegründet wird, herausstellen (vgl. dazu die Abschnitte 16 und 17 dieser Abhandlung). Nachlaß Frühjahr 1888, 14[126]; KGW VIII 3. 99f. - Unter den décadents „wagt Keiner, die Freiheit des Willens zu leugnen", da „alle präoccupirt" sind „durch ihr .Heil der Seele' - was liegt ihnen an der Wahrheit?" (Nachlaß a.a.O., 14[94]; KGW VIII 3, 64) Nachlaß a.a.O., 14[127], KGW VIII 3, lOlf. Nachlaß a.a.O., 14[129]; KGW VIII 3, 102.

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hier einen Nietzsche abstoßenden Ausdruck. Solche Rückführung der hohen Zustände auf sich selbst gelangt nicht zum vollen Selbst, sondern nur zum bewußten Wollen. Insofern man (sagen wir: von Sokrates bis Kant) schloß, das Hohe gewollt zu haben", faßte man „die persönliche Vollkommenheit als bedingt durch Willen, als Bewußtheit, als Vernunft mit Dialektik", und verstand sie damit aus dem Unvollkommenen. Denn, so lautet Nietzsches Überzeugung, die uns im Zuge dieser Studie immer wieder begegnet ist: „alles vollkommene Thun ist gerade unbewußt und nicht mehr gewollt". Die Diskrepanz zwischen dem Unbewußten und der Bewußtheit gerät zur „Caricatur", wenn sich das Rudimentäre für das Ganze ausgibt. Gelebt werden kann diese „Art von Selbstwiderspruch" nur durch „Schauspielerei", die wir hier „als Folge der Moral des .freien Willens'" ansehen sollen. 130

130

Nachlaß a.a.O., 14[128]; KGW VIII 3, 102. - Zur Schauspielerei als Instinktverlust (und deshalb als Unmöglichkeit, etwas Vollkommenes zu leisten) s. a.a.O., 14[208]; KGW VIII 3, 180. - Zu Nietzsches diesbezüglichem Vorwurf an die Tugendphilosophie der Spätantike s. a.a.O., 14[129]; KGW VIII 3, 103f. Zur „Schauspielerei der Alten", besonders in der Tugendauffassung des Sokrates vgl. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[216]; KGW VII 2, 66f.; „die Philosophen-Moral" von ihm an ist „ein gutes Stück Schauspielerei", zugleich „ein Selbst-Mißdeuten" und „Symptom der décadence": Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[20]; KGW VIII 1, 31 Of. Die Selbstmißdeutung gehört grundsätzlich zu diesem Verständnis von Schauspielerei, so auch in der „Selbstbetrügerei" der Romantik, welche „die starke Natur, die große Leidenschaft darstellen" wollte (Nachlaß Herbst 1887, 9[178]; KGW VIII 2, 105f.). Wie auch bei seiner Rede von der „Schauspielerei wider Wissen bei allen vermoralisirten Künstlern" (Nachlaß a.a.O., 10[24]; KGW VIII 2, 135) denkt Nietzsche dabei nicht an ein ,bewußtes' Sichverstellen. Ende 1880 hat er „die Schauspielerei nach außen (z.B. Napoleon's)" als ihm selbst „begreiflich" dargestellt: „wahrscheinlich ist sie vielen Leuten nöthig"; sie ist mit der ,JRedlichkeit gegen sich" durchaus vereinbar, die er 1880 mit seiner Anerkennung von Größe verbindet. Dagegen gilt: „Die Schauspielerei gegen sich flößt mir Ekel ein: entdecke ich so etwas, so gelten mir alle großen Leistungen nichts". Denn sie steckt dann bei den .Großen' „überall, und im tiefsten Grunde, diese Schauspielerei". (Nachlaß Ende 1880, 7[53]; KGW V 1, 658.) - Nietzsches Verständnis Richard Wagners als des für sein Leben wichtigsten Schauspielers sei wenigstens erwähnt. Vgl. hierzu M. Brusotti, Verkehrte Welt und Redlichkeit gegen sich, Rückblicke Nietzsches auf seine frühere Wagneranhängerschaft in den Aufzeichnungen 1880-1881, in: .Centauren-Geburten'. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche. Hrsg. v. T. Borsche, F. Gerratana, A. Venturelli. Berlin/New York 1994, 4 3 5 - 4 6 0 , hier bes. 438ff. - Generell verwiesen sei

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Die Selbstzurechnung hoher Zustände durch den Menschen führt zwar aus dem religiösen Selbstmißverständnis hinaus, ihre Hineinnahme in ,den bewußten Willen' hat jedoch die genannte Diskrepanz ,im Selbst' des Menschen zur Folge. Halten wir uns an Nietzsche selbst, der im Rückblick von Ecce homo den Zustand der Inspiration bei der Entstehung von Also sprach Zarathustra als seine Erfahrung beschreibt. Er nimmt den oben herangezogenen Gedanken einer Transposition des Zustandes ins Göttliche hinein auf: „Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der That die Vorstellung, bloss Incarnation, bloss Mundstück, bloss Medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen." Wenn Nietzsche auch kein solches Medium sein will, so bleibt doch der „Thatbestand": „Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, - ich habe nie eine Wahl gehabt." Weiter heißt es: „Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit . . . V 3 1

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auf die Darstellung von D. Borchmeyer und J. Salaquarda, Nachwort zu Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, Frankfurt a.M. und Leipzig 1994, Bd. 2, 1271-1386. Ecce homo, Zarathustra 3; KGW VI 3, 337, 338. - Mit E. Fink kann man „die wesentliche Bedeutung gerade dieser berühmten Stelle über die Inspiration" als „das blitzhafte Aufspringen einer Eröffnung" sehen, „in der nicht nur alle Dinge, sondern auch der Denkende umgewendet, erschüttert und umgeworfen werden". Er findet in dem Text, „gleichsam autobiographisch formuliert, [...] das reine Wesen der ontologischen Erfahrung" zum Ausdruck gebracht. Sein „Gegenstück" habe die Nietzsche-Stelle „in der Einleitung' zur Phänomenologie des Geistes' von Hegel". (Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, 63) - Ich sehe davon ab, dem nicht sehr überzeugenden Vergleich der Nietzsche-Stelle mit der .Phänomenologie'-Einleitung nachzugehen. Wichtiger erscheint mir, darauf hinzuweisen, daß Nietzsche zwar von seiner Inspiration als „Offenbarung" von „Etwas" spricht, „das Einen im tiefsten erschüttert und umwirft" (a.a.O., KGW VI 3, 337). Von Umwendung (wie Fink schreibt) ist aber nicht die Rede. Die in diesem Begriff mitschwingende religiöse oder ethische Bedeutung (vgl. dazu Vf., Das Verhältnis des intelligiblen zum empirischen Charakter, a.a.O. [Anm. 13], 5 4 - 5 8 ) will Nietzsche gerade aus dem Gehalt seiner Inspiration ausscheiden. Gern hat er jedoch bei der Beschreibung des Auftretens seiner .Erfahrung' („wie ein Blitz") von der platonischen Bestimmung des Plötzlichen (εξαίφνης) und ihrer Tradition Gebrauch gemacht. - Ich bin skeptisch hinsichtlich von Nietzsches Darstellung seiner Selbsterfahrung. Freilich gibt es ohnehin keine .Inspiration' ohne Interpretation: gerade auch nach Nietzsches Voraussetzungen.

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Nietzsche beschreibt den Einbruch jener Fremdheit, der den religiösen Menschen zur Annahme einer anderen, göttlichen Sphäre veranlaßte, mit den lebhaftesten Ausdrücken. In der Selbstdarstellung von Ecce homo, die mit dem unerhörtesten Anspruch auftritt, will er seine Erfahrung von Inspiration von keinem überboten sehen, der sich je nur ,als Mundstück' erfuhr. „Ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehn muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf ,es ist auch die meine' Zugleich will er - der Nehmende, der nicht nach dem Gebenden fragt - dasjenige, was im Nehmen ihn sogar überwältigt, nicht als ein fremdes Außer-sich gelten lassen. Wenn er in der Inspiration „ein vollkommenes Ausser-sich-sein" erfährt, so realisiert sich darin gerade sein volles Selbst. Dieses wird von der ,Seite' des Unbewußten her konstituiert, welche (wie wir gehört haben) die rudimentäre Psychologie ausschließen will, insofern sie nur das Bewußtsein und den (absichtsvoll handelnden) Willen als die eigentliche Dimension des Menschseins gelten läßt.132 Man kann sagen, daß sich der Mensch in allen seinen ,hohen Zuständen' insofern vergöttlicht, als er in sich die Quelle jener Zustände findet, die in früheren Zeiten fremden Mächten zugeschrieben wurde. In diesem Zusammenhang wird man an die Aufgabe erinnert, die sich Nietzsche 1881 gestellt hat: „alle die Schönheit und Erhabenheit, die wir den Dingen und den Einbildungen geliehen, zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen und als schönsten Schmuck und Apologie desselben." Freigiebig beschenkt habe „der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Macht [...] die Dinge [...], um sich zu verarmen"'. „Seine größte Selbstlosigkeit'" (gegen die Nietzsche angeht) bestehe darin, „wie er bewundert und anbetet und nicht weiß und wissen will, daß er schuf, was er bewundert".133 Aber als,Selbst-Schöpfer' dürfen wir den Menschen auch nach Nietzsche nicht ansehen. Zwar ist noch die Erfahrung des Überwältigtwerdens in den hohen Zuständen auf der,unbewußten Seite' des Menschen zu lokalisieren. Dessen religiöse Selbstentäußerung mag sich als irrig oder als Zeichen von Selbstschwäche deuten lassen. Was aber von innen heraus „Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft", was mit einer „Nothwendigkeit" auftritt, welche „nie eine Wahl" läßt, kann gerade angesichts seiner „Gewalt"134 nicht in

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Die von ihm präsentierte Interpretation steht im engen Zusammenhang mit seiner in Ecce homo vorgenommenen Selbstdarstellung (s. dazu im folg. Anm. 135). A.a.O., KGW VI 3, 338, 337. Nachlaß Herbst 1881, 12[34]; KGW V 2, 480. Ecce homo, Zarathustra 3; KGW VI 3, 337f.

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einem (gar im Diffusen belassenen) Un-grund des menschlichen Unbewußten seinen ausschließlichen Anfang und Ausgang haben. Der Gedanke solcher Selbst-ermächtigung des Menschen wäre ein Unding. Denn was dieser ist und immer auch sein kann, ist er als der Gewordene, der aus der Geschichte des Organischen herausgewachsen ist und von ihr .abhängig' bleibt (vgl. dazu die Abschnitte 7 und 8). Kraft muß sich allmählich und in großem Maße akkumuliert haben, 135 damit jemand die zum Großen nötige grosse Gesundheit" erlangt („welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss"). Aus ihr heraus soll das „Ideal eines Geistes" Wirklichkeit werden 135

In Warum ich so weise bin 3 (Ecce homo; KGW VI 3, 266 f,) schreibt Nietzsche im Blick auf sich selbst: „Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt [...]. Die höheren Naturen haben ihren Ursprung unendlich weiter zurück, auf sie hin hat am längsten gesammelt, gespart, gehäuft werden müssen. Die grossen Individuen sind die ältesten [...]". Vgl. dazu Nachlaß Herbst 1887, 9[45]; KGW VIII 2, 22: „[...] die großen Fähigkeiten des Einzelnen stehn außer allem Verhältniß zu dem, was er selber dafür gethan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechts-Vorgeschichte an, so entdeckt man da die Geschichte einer ungeheuren Aufsparung und Capital-Sammlung von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch so viel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder als Gabe des Himmels und ,Zufalls' dasteht, wurde er groß." - Über die Inspiration hatte Nietzsche in Morgenröthe 35 (KGW V 1, 39f.) noch kritisch geschrieben, sie stamme aus dem Gefühl und sei „das Enkelkind eines Urtheils - und oft eines falschen! - und jedenfalls nicht deines eigenen! Seinem Gefühle vertrauen - das heisst seinem Großvater und seiner Grossmutter und deren Grosseltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung." Im Unterschied zu solcher .aufklärerischen Tendenz' ist für den späten Nietzsche der Gedanke der Akkumulation von Kraft als umfassendes Lebensphänomen ungleich bedeutsamer geworden (vgl. z.B. auch Nachlaß Frühjahr 1888, 14[81]; KGW VIII 3, 53). Die Intuition als Ergebnis der Sammlung und Häufung von ,Urteilen' und Gefühlen der Vorfahren erhält gerade dadurch ihre Legitimation. In Ecce homo prolongiert er die Linie seiner Herkunft zu den großen geschichtlichen Gestalten, um die eigene Größe zum Ausdruck zu bringen: „[...] ich verstehe es nicht, aber Julius Cäsar könnte mein Vater sein oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos ..." (a.a.O., 267). Damit nimmt er, wenn auch eine andere und noch weiter zurückweisende Linie verfolgend, wieder auf, was schon 1881 seinen „Stolz" ausmachte: „,ich habe eine Herkunft' - deshalb brauche ich den Ruhm nicht. In dem, was Zarathustra, Moses, Muhamed Jesus Plato Brutus Spinoza Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif an's Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte." (Nachlaß Herbst 1881, 15[17]; KGW V 2, 540)

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können, der „naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess". 136

16. Über die Wederherstellung

der Unschuld des Werdens

Auch der reichste und mächtigste Mensch ist nichts anderes als ein Hervorgang aus dem nicht faßbaren Werden. In Götzen-Dämmerung hat Nietzsche (gegen die moralischen und religiösen Ursachen-Imaginationen und gegen den Irrtum vom freien Willen 137 ) zusammengefaßt, was „allein unsre Lehre sein" kann: „Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaftengiebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst [...]. Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird." 138 Nietzsche nimmt damit seinen in Menschliches, Allzumenschliches vorgetragenen Gedanken über Unverantwortlichkeit und Unschuld wieder auf. „Das Reich der Freiheit", dessen

136

Ecce homo, Zarathustra 2; KGW VI 3, 336. - Die Selbstdarstellung in Ecce homo ist aus Nietzsches Verständnis vom „Missverhältnis [...] zwischen der Grösse" seiner Aufgabe und der Jileinheit seiner Zeitgenossen" zu verstehen. Er sieht „die Pflicht, gegen die im Grunde meine Gewohnheit, noch mehr der Stolz seiner Instinkte revoltirt, nämlich zu sagen: Hört mich! denn ich bin der und der." (Ecce homo, Vorrede 1; KGW VI 3, 255) Indem er in seiner .Autobiographie' seine Größe über alles stellt, was nicht nur die eigene Zeit, sondern auch die Geschichte hervorgebracht hat, gerät er in die Nähe der „Sprache des Fanatismus", die er nach dem Bruch mit Wagner und in der Verwerfung seiner früheren Romantik verurteilt hatte (Nachlaß Frühjahr 1880, 3[1]; KGW V 1, 377). Man kann den Nietzsche von Ecce homo zurückverweisen an den, der im Herbst 1880 notiert hat: „Die Ehrlichkeit der großen Männer des Glaubens an sich beweist sich nur durch die furchtbare Trübsal ihres Zweifeins an sich; wo dies nicht sichtbar ist, sind es Verrückte oder Schauspieler." (7[177]; KGW V 1, 685) Der kritische und analytische Geist Nietzsches, der im Ersten Teil dieser Abhandlung vorwiegend zur Darstellung gelangte, ist in Ecce homo zurückgelassen. - Vgl. dazu M. Brusotti, a.a.O. [Anm. 130], 4 3 5 - 4 6 0 .

137

Götzen-Dämmerung, Götzen-Dämmerung,

138

Irrthümer 6, 7; KGW VI 3, 88ff. Irrthümer 8; KGW VI 3, 90.

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Heraufkunft dem Erkennenden vor Augen steht, ist aber in Götzen-Dämmerung nicht mehr das Ziel Nietzsches. Wohl geht es im früheren wie im späten Buch um die Uberwindung des moralischen Menschen. Diese bleibt auch zuletzt „die grosse Befreiung". Aber in dieser Befreiung liegt nicht mehr, wie in der,neuen' FreiheitvonMenschliches,Allzumenschliches, die Möglichkeit der gradweisen Erhebung der Erkenntnis, die sich gewissermaßen aus ihr selbst heraus bis zur „Selbsterleuchtung und Selbsterlösung" emporsteigern kann.139 Von Erlösung ist zwar auch in Götzen-Dämmerung (wie zuvor in Also sprach Zarathustra) die Rede, - und mit gegenüber dem frühen Buch sogar noch erhöhtem Anspruch. Sie ist hier nicht mehr auf den Menschen (und schon gar nicht auf den bloß erkennenden) beschränkt, sondern gewissermaßen allumfassend geworden. Mit der Leugnung der (insbesondere, aber nicht nur, einer .göttlichen') Verantwortlichkeit, so heißt es am Schluß des herangezogenen Aphorismus, soll sogar die Welt erlöst werden.140 Die Befreiung des Menschen hat eine andere Bedeutung erhalten, durch welche jedoch die Auf-lösung des Problems der Willensfreiheit nicht etwa rückgängig gemacht wird. Bevor wir die Unschuld des Werdens der Unschuld des Erkennenden entgegenstellen, ist zuerst auf Nietzsches gewandeltes und vertieftes Verständnis des Ganzen der Welt hinzuweisen.141 Im Vergleich mit den Ausführungen von Menschliches, Allzumenschliches läßt sich dann Nietzsches (in gewisser Weise modifiziertes) Verständnis von Freiheit, auf das wir schon in Also sprach Zarathustra treffen, herausarbeiten. Der spätere Nietzsche faßt das uneingeschränkte und unablässige Werden als in sich zurückgehende Bewegung auf. Der noch relativ offene Horizont, auf den hin er im früheren Buch nach der Zukunft des Menschen fragte,142 ist durch den Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen in die Geschlossenheit des Werdens-Kreislaufs ,hineingenommen' worden (ohne dadurch einfach negiert zu werden). Dieser Gedanke trägt (unausdrücklich) die Rede vom Ganzen in Götzen-Dämmerung, in das hinein alle scheinbare (letztlich metaphysisch gestützte) Verantwortlichkeit,aufgelöst' wird: „Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, - es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, 139

140 141

142

Menschliches, Allzumenschliches I 107. - Vgl. dazu und zum folgenden die Abschnitte 4 (S. 41ff.) und 5 (S. 45ff.) in dieser Abhandlung. Götzen-Dämmerung, Irrthümer 8; KGW VI 3, 91. Zu Nietzsches vieldeutigem Verständnis des .Ganzen' sei auf die Abhandlung Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in diesem Band verwiesen. S. oben Abschnitt 4, S. 42f.

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verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, verglichen, verurtheilen ... Aber es gtebt nichts ausser dem GanzenZ"143 Zwar war das .Ganze' unausdrücklich schon in Menschliches, Allzumenschliches I im Spiel. Angesichts der Notwendigkeit aller Geschehensabläufe könnte, so haben wir am Anfang von Abschnitt 4 ausgeführt,144 ein allwissender Verstand die Zukunft jedes Wesens ausrechnen, wenn „das Rad der Zeit" nur einen Augenblick lang anhielte. Der Rechner benötigt Abstand zum Ablauf als ganzem, um das einzelne in seine Rechnung aufnehmen zu können. Die Welt müßte entweder einen Augenblick lang stillstehen (welche Fiktion den rein theoretischen Charakter der Überlegung vollends deutlich macht), oder man müßte sie von ,außen', von einer anderen Welt her, ansehen können, um jene Berechnung durchführen zu können. Da dies nicht möglich ist, bleibt die Spannung zwischen den beiden Sätzen aufrecht erhalten: „Alles ist nothwendig", und: „Der Handelnde selbst steckt [...] in der Illusion der Willkür".145 Der Erkennende in Menschliches, Allzumenschliches blickt aus der Höhe seiner Einsicht in die Unschuld alles Werdens und in die Unverantwortlichkeit alles Handelns nicht ohne Spott auf „den freien Menschen der That" herab.146 Es ist das Ideal des „unschuld-bewussten" weisen Menschen, das Nietzsche hier errichtet und gar im Ziel einer,weisen Menschheit' gipfeln läßt. Wir sollen von der uns vererbten Gewohnheit unserer irrtümlichen Leidenschaften mit wachsender Erkenntnis lassen können; mit der Schwächung unserer Affekte soll sich eine neue Gewohnheit ausbilden können, welche das distanzierte Überschauen an die Stelle des Liebens und Hassens rückt.147 Wenn in Götzen-Dämmerung von der Fatalität des Menschen die Rede ist, so hat Nietzsche die bloß kontemplative Haltung des Erkennenden im Zuge seiner Kritik am .Wahrheitswillen' längst zurückgelassen.148 Die Erkenntnis, daß die Willkür eine Illusion ist, löst nur beim schon schwachen Willen die Intention auf (weitere) Schwächung der Affekte aus.149 Der Mensch des starken Willens hingegen erfährt sich in der .Fatalität' des 143 144 145 146

147 148 149

Götzen-Dämmerung, Irrthümer 8; KGW KGW VI 3, 90. Vgl. hierzu und zum folgenden o. S. 4 Iff. Menschliches, Allzumenschliches I 106; KGW IV 2, 101. Menschliches, Allzumenschliches I 34; KGW IV 2, 51. - Vgl. dazu oben Abschnitt 5, S. 45ff. Menschliches, Allzumenschliches 1107; KGW IV 2 , 1 0 3 . - Vgl. dazu Abschnitt 4. S. oben. S. 58 und den Exkurs 2 zu dieser Abhandlung, unten S. 120ff.. Vgl. dazu und zum folgenden Abschnitt 14, S. 86ff.

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Ganzen als aktive Kraft innerhalb eines großen Kraftstroms. Denn als „ein Stück fatum, von Vorne und von Hinten" ist „der Einzelne [...] ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird". 150 Hiernach soll der Mensch die Notwendigkeit allen Geschehens nicht nur .begreifen' und sich aus solcher Erkenntnis heraus in ein neues verstehendes Verhältnis zu ihr bringen. Vielmehr kann er sich, durch die radikale Verneinung der dem menschlichen Handeln scheinbar übergeordneten .Zwecke', .Absichten', .Willen' hindurch, auf seine vorgängig-anfängliche .Stellung' im Ganzen zurückweisen lassen. Durch die große Befreiung soll „die Unschuld des Werdens wieder hergestellt" werden. 151 Nur der Mensch ist aus ihr herausgetreten, er hat sich besonders in der „Verantwortlichkeit" gegenüber Gott als Schuldiger festgemacht; deshalb wird die Welt als ganze erlöst, wenn er in die Unschuld des Werdens zurückfindet. 152 Der Gedanke von deren Wiederherstellung ist natürlich dialektisch. In Jenseits von Gut und Böse hat Nietzsche drei Phasen der menschlichen Geschichte unterschieden. In der formoralischen Periode, im anfänglichen .Zustand' der Menschheit, gaben allein die Folgen der Handlungen den Maßstab für ihren „Werth oder Unwerth" ab. In ihr gibt es noch keine „Selbst-Erkenntniss"; der „erste Versuch" einer solchen „Umkehrung der Perspektive", in welcher statt der Folgen die Herkunft einer Handlung (ihre „Absicht") maßgebend wurde, ist kennzeichnend für die moralischen Periode. Die Wiederherstellung der Unschuld ist die Aufgabe, die sich an der „Schwelle" zur - hier nur „negativ" bezeichneten - aw/?eraioralischen Periode stellt. Zu ihrer Lösung bedarf es „einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen". 153

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Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur 6; KGW VI 3. 81. - Ein solcher Einzelner soll seine Affekte gerade nicht schwächen. Ohnehin gilt: „Zu ihm sagen: .ändere dich' heisst verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch ...". Götzen-Dämmerung, Irrthümer 8. KGW VI 3. 91. - Im Sommer 1883 notiert Nietzsche: „Die absolute Nothwendigkeit ganz von Zwecken zu befreien: sonst dürfen wir auch nicht versuchen und uns opfern und gehen lassen! Erst die Unschuld des Werdens giebt uns den größten Muth und die größte FreiheitV (8[19]; KGW VII 1, 350f.) Götzen-Dämmerung, a.a.O. Jenseits von Gut und Böse 32; KGW VI 2. 46f.; vgl. dazu oben S. 37, Anm. 21. Diese Selbstbesinnung soll gerade am Nicht-absichtlichen den Wert einer Handlung auffinden können. Alles Bewußte gilt dabei nur als „Oberfläche und Haut", welche mehr verbirgt als verrät. - Zu der positiven Bestimmung einer

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Die Wiederherstellung der Unschuld besagt Heraufführung einer zweiten Unschuld. Nietzsche erwartet den „unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens an d e n christlichen Gott", aus d e m er die Wahrscheinlichkeit ableitet, „dass es jetzt bereits auch schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen Schuldbewusstseins" geben könne. „Der v o l l k o m m n e und endgültige Sieg des Atheismus" würde dann mit einer „Art zweiter Unschuld" zusammenfallen. 1 5 4 Deren Charakterisierung durch Nietzsche bleibt mehrdeutig, immer jedoch verbindet er mit ihr die Vorstellung v o n ursprunghafter Aktivität u n d Stärke des Willens.155

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nichtmoralischen Verantwortlichkeit durch Nietzsche sei auf den nächsten Abschnitt verwiesen. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 20; KGW VI 2, 346. - Nietzsches Genealogie des Schuldbewußtseins nimmt im folgenden die Differenzierungen und ,Paradoxien' auf, die sich aus der „Zurückschiebung" der Begriffe Schuld und Pflicht auf das Gewissen bilden. Im schlechten Gewissen (auf dessen Ursprung in Abschnitt 17 einzugehen sein wird) wendet sich die Schuld „rückwärts" gegen den „.Schuldner"', wo sie sich festsetzt, einfrißt und „polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der ,ewigen Strafe') concipirt ist endlich aber sogar gegen den ,Gläubiger'", wie immer dieser auch in der Menschengeschichte vorgestellt worden ist. Nietzsche bezeichnet es als einen „Geniestreich des Christenthums", mit dem dieses der ,,gemarterte[n] Menschheit" auf paradoxe und entsetzliche Weise „eine zeitweilige Erleichterung" verschafft hat: „Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd [...], Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist - der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? - ) , aus Liebe zu seinem Schuldner! ..." (a.a.O., 21; KGW VI 2, 346f.). Daß diese Aktivität ursprung-haft ist, heißt natürlich nicht, daß sie als ursprünglich im überlieferten (,metaphysischen') Sinne angesehen werden kann. Zieht man z.B. Kants Unterscheidung von Zeitursprung und Vernunftursprung heran, so scheidet letzterer für Nietzsche seiner mit ihm behaupteten Intelligibilität wegen aus. (Vgl. dazu die Abschnitte 1 und 2 in dieser Abhandlung, S 29-36. Vgl. aber auch Abschnitt 12, S. 77, Anm. 90.) Vom Zeitursprung, als bloße Beziehung einer „Begebenheit auf ihre Ursache in der Zeit" (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Β 39ff.), kann Nietzsche schon wegen des darin gedachten Aufgehens des Tätigseins in bloße Kausalverhältnisse nichts wissen wollen. - Die genannte Aktivität besteht nicht in einer Spontaneität, die unabhängig vom bisher Geschehenen auftreten könnte. Sie ist und bleibt vielmehr in dieses verflochten. Aber aufgerufen von der ihr immanenten Stärke des Machtwollens vermag sie sich gegen das zu wenden, was ihr entgegensteht. Die .zweite Un-schuld' ist als Negation dessen zu verstehen, was den Menschen schuldig sprach, d.h. insbesondere

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Mag Nietzsche dabei der Furcht „vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen Rassen" in seiner Zeit ein - relatives - Recht einräumen, so ist doch unübersehbar, daß er solche „Vornehmen", welche „böse Feinde" sein können, hochschätzt, obwohl (oder gerade weil) sie damit „in die Unschuld des Raubthier-Gewissens" zurückgetreten sind. 156 Jenes,Grundhafte' einer,ersten' Unschuld ist das, worauf auch die .zweite' zurückweist und von dem sie zehrt. 157 Das trifft auch für deren komplexere Gestalten zu, in denen die .nochmalige Selbstbesinnung' reflexiven Ausdruck findet. „Vorzeit" ist, wie Nietzsche einmal beiläufig bemerkt, „zu allen Zeiten da [...] oder wieder möglich." 158 Abgehoben von der ersten Unschuld und doch noch von ihr bestimmt ist Nietzsches ,,zweite[r] Geschmack" für eine „andre Kunst", die im Gegensatz zu der Wagners,leicht, flüchtig, göttlich unbehelligt' sein soll. Dieser Geschmack ist Ausdruck „einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude". Mit ihr ist er „aus dem Abgrunde des grossen Verdachts" (der sich gegen Wagner, aber auch gegen Schopenhauer gerichtet hatte) zurückgekommen: „neugeboren [...], gehäutet, kitzlicher, boshafter, f...] mit einer

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als Leugnung von (christlichem) Gott und von (überlieferten) moralischen Ansprüchen. In ihr denkt Nietzsche zugleich die Befreiung des Menschen der Zukunft zu Neuem und Eigenem, das aber nicht im bloß Eigensüchtigen stecken bleiben soll: „Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinausschaffen will, der hat mir den reinsten Willen." (Also sprach Zarathustra II, Von der unbefleckten Erkenntniss; KGW VI 1, 153; vgl. a.a.O., Auf den glückseligen Inseln; 107) Zur Genealogie der Moral, 1. Abh. 11; KGW VI 2 , 2 8 8 - 2 9 1 ; hier: 291,288f. - D i e zeitgenössische Kultur, die ihren „Sinn" darin sieht, „aus dem Raubthiere .Mensch' ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier heranzuzüchten", stellt demgemäß einen ,Jiückgang der Menschheit" dar (a.a.O., 290). - Das fundamentale Raubtierhafte des Menschen ist schon in den frühen siebziger Jahren Ausgangspunkt für Überlegungen Nietzsches. „Auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen" des seinem Bewußtsein sich verschließenden Leibes ruhe der Mensch, „in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend". Nietzsche fragt in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne anschließend: „Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit?" (1; KGW III 2, 371). In den FünfVorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Cosima Wagner gewidmet, wird im Ausgang von jenem Gleichnis die Kunst über die Erkenntnis gestellt; sie kann den Menschen auf dem Tigerrücken in seinen Träumen hängen lassen. {Ueber das Pathos der Wahrheit-, a.a.O., 254). „Unschuld ist den ältest vererbten Gefühlen zu eigen" (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [130]; KGW V 2, 386). Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 9; KGW VI 2, 323.

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zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen [...], kindlicher zugleich und hundert Mal raffinirter als man je vordem gewesen war".159 Die Spannung zwischen ursprunghafter Naivität und reflektiertem Raffinement ist kennzeichnend für die Folgen der oben genannten .nochmaligen Selbstbesinnung' des .außermoralischen' Menschen.160 Das Naive in der zweiten Unschuld beschäftigt Nietzsche zwar in besonderem Maße im Hinblick auf die Kunst oder mehr noch auf den Künstler. So ist für ihn die Musik letztlich „eine Zeichensprache der Affekte". Zur Unschuld des Komponisten gehört nicht nur die Spontaneität, mit der er schafft, sondern zugleich, daß er nicht weiß, daß er mit seiner Musik ein Selbstbekenntnis abgelegt hat, „daß er sich damit verrathen" hat. Er handelt als einer, der sich zu sich selbst bekennt. Aber er bekennt sich nicht zur singulären Besonderheit seines Selbst. Wie bei den Künstlern ist Nietzsche zufolge auch bei den großen Philosophen immer die Unschuld am Werke, wenn sie auch „meinen, es handle sich ,um die Wahrheit'" bei dem, was sie denken und tun. ,In Wahrheit' reden sie von sich selbst. Nietzsche löst ,das Selbst' sogleich auf: „der in ihnen gewaltigste Trieb bringt sich an's Licht, mit der größten Schamlosigkeit und Unschuld eines Grundtriebes - er will Herr sein und womöglich der Zweck aller Dinge, alles Geschehens! Der Philosoph ist nur eine Art Gelegenheit und Ermöglichung dafür, daß der Trieb einmal zum Reden kommt."161

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Nietzsche contra Wagner, Epilog 2; KGW VI 3, 435. - Zu Nietzsches .großem Verdacht' s. Menschliches, Allzumenschliches I Vorrede 1; KGW IV 2, 7 - 9 . Man könnte Nietzsches gesamtes Werk aus dieser Spannung heraus interpretieren. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[62]; KGW VII 1, 270. - Nur verwiesen werden kann hier auf die spätere Ausführung des Gedankens in Jenseits von Gut und Böse, daß „jede grosse Philosophie bisher [...] das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter mémoires" war. Noch die Logik, auf die sich jeder berufen mag, wird „durch die Instinkte" der Philosophen „heimlich geführt". „Hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit [...] stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben." (3; KGW VI 2 , 1 1 ) - Diese Reduktionen Nietzsches als Herausforderung des Philosophierens zu verstehen und sie ernsthaft zu prüfen, besagt nicht, daß man die Simplifikationen seiner physio-psychologischen Ableitungen ernst nehmen muß (KGW VI 2, 7ff.; a.a.O., 15ff.). - Zur fundamentalen Bedeutung des Wertschätzens bei Nietzsche vgl. Uber das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche, insbes. Abschnitte 9 - 1 2 , in: Nietzsche- Interpretationen I, insbes. S. 219ff.

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Dann ist aber auch die philosophische Auffassung von der Unschuld des Werdens im Ganzen der Welt als das Selbstbekenntnis des Philosophen zu verstehen, der von dieser Unschuld kündet. Nietzsche trägt dieser Konsequenz in der Tat Rechnung. Wir lassen hier seine diesbezüglichen, schon frühen Ausführungen zu Heraklit beiseite.162 Im Falle Spinozas, von dem er in Zur Genealogie der Moral schreibt, daß für ihn „die Welt [...] wieder in jene Unschuld zurückgetreten" war, „in der sie vor der Erfindung des schlechten Gewissens dalag",163 führt Nietzsche zuletzt noch dessen philosophische „Contemplation" auf einen herrschenden Trieb zurück: „Spinoza glaubt, Alles absolut erkannt zu haben. Dabei hat er das größte Gefühl von Macht. Der Trieb dazu hat alle anderen Triebe überwältigt und ausgelöscht." Nietzsche sieht dabei noch in Spinozas amor Dei intellectualis die (unkünstlerische) „Pedanterie eines Logikers, der seinen Trieb vergöttert".164 Wie steht es aber mit der Verwurzelung von Nietzsches eigener ,Lehre' von der Unschuld des Werdens in der .Person' des Philosophen? In einem Entwurf unter dem Titel ,ßeden an meine Freunde" hat er im Sommer 1883 ausgeführt, was er im Sommer 1885 noch einmal zusammenfaßt: Daß er seit langem bei sich selber „bemüht" sei, sich „die vollkommne Unschuld des Werdens zu beweisen" und dabei verschiedene und „seltsame Wege" gegangen sei. „Und wozu dies Alles?", fragt er am Schluß der zweiten Aufzeichnung. „War es nicht, um mir selber das Gefühl völliger Unverantwortlichkeit zu schaffen - mich außerhalb jedes Lobs und Tadels, un-

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Verwiesen sei auf Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen 7; KGW III 2, 324f. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 15; KGW VI 2, 336f. - Nietzsches Auseinandersetzung mit Spinoza ist komplex; ich ziehe hier nur einen bestimmten, freilich für seine Spätphilosophie besonders wichtigen Aspekt heran. Im Hintergrund steht Nietzsches erneuerte Lektüre (1887) von Kuno Fischers Spinoza-Darstellung. Hingewiesen sei hier auf die Untersuchung von W. St. Wurzer, Nietzsche und Spinoza, Diss. Freiburg i.Br. 1974. Nachlaß Ende Oktober 1886-Frühjahr 1887, 7[4]; KGW VIII 1, 272, 271; vgl. dazu auch 268ff. - Von der Gewaltsamkeit dieser Deutung (die im Sinne Nietzsches freilich konsequent ist) unterscheiden sich die (offenen bleibenden) Fragen, die Nietzsche zuvor in demselben Heft notiert: „Wie erklärt sich Spinoza's Stellung, seine Verneinung und Ablehnung der moralischen Werthurtheile? (Es war eine Consequenz seiner Theodicee?)". (A.a.O., 2[161]; KGW VIII 1, 142) - Zum Verhältnis von Nietzsches amor fati zum Amor Dei intellectualis vgl. Wurzer, a.a.O. [Anm. 163], 2 6 3 - 2 6 8 .

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abhängig von allem Ehedem und Heute hinzustellen, um auf meine Art meinem Ziele nachzulaufen?" 165 Die Aufzeichnung zeigt Nietzsches,Bemühen', sich ungeachtet der .aufgelösten' Willensfreiheit der Eigenständigkeit seines Wollens und Tuns zu versichern. Mit dem Gefühl der ,Unverantwortlichkeit' sucht er sich auf seine Weise aus ,allem Ehedem und Heute' zu lösen. Die zweite Unschuld übernimmt die Funktion, die in der (metaphysikgeleiteten) Tradition durch das Sichberufen auf das liberum arbitrium wahrgenommen wurde. Nietzsche hat sein Sich-frei-fühlen in unterschiedlichen Ansätzen kultiviert.166 Seinem zum Willen zur Macht vertieften Verständnis des Willens korrespondiert schließlich ein .vertieftes' Verständnis von Freiheit, das nichts mit einer Freiheit der Willkür oder der Freiheit einer bewußten Entscheidung zu tun hat. Freiheit wird zum Mächtigsein, zur Selbstinterpretation aus dem Gefühl von Macht heraus. Die mit ihm verbundene ursprunghafte Aktivität .setzt sich' als unschuldig, ungeachtet der Notwendigkeit allen Geschehens, der sie sich zugehörig wissen kann: nicht als ihr .unterworfen', sondern als sie .mitgestaltend'. Nietzsche kehrt die Begründungsrichtung auch um: Die .Lehre' von der Unschuld des Werdens, welche den Menschen befreien können soll, ist dann selber auch der Ausdruck des Freiheitswillens, der sich in Nietzsches Philosophieren manifestiert. So sagt Zarathustra: „Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens Zeuge- und Werde-Lust; und wenn Unschuld in meiner Erkenntniss ist, so geschieht diess, weil Wille zur Zeugung in ihr ist."167 Daß wir damit nicht in einen Circulus vitiosus hineingezogen werden, sei knapp aus der Gedankenbewegung dieses philosophischen Willens heraus deutlich gemacht.

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Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[10]; KGW VII 3, 277. - Vgl. dazu Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[7]; KGW VII 1, 245f. - Vgl. auch Nachlaß Herbst 1883, 16[10]; KGW VII 1, 527: „Die geistige Freiheit und Freudigkeit mir zu erobern, um schaffen zu können und nicht durch fremde Ideale tyrannisirt zu werden." Nietzsche spricht hier von „Losmachung" von seinen früheren Idealen durch den Entwurf eines Bildes von dem, was ihn „bis dahin gefesselt hatte: so Schopenhauer, Wagner, die Griechen". - Vgl. hierzu Nietzsches Beschreibung seiner Geschichte der grossen Loslösung" in der Vorrede zur 2. Auflage von Menschliches, Allzumenschliches I 3; KGW IV 2, 9 - 1 1 . Sie gründet als „Wille zum freien Willen" in der Kraft und im Willen zur „Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung".

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Zum Gefühl der Freiheit bei Nietzsche vgl. den Exkurs 4 zu dieser Abhandlung (S. 125ff.). Also sprach Zarathustra II. Auf den glückseligen Inseln; KGW VI 1, 107.

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Indem der Wille nach Befreiung von vorgegebenen Zielen und Zwecken strebt, erweitert er das Terrain seiner Unabhängigkeit, bis ihm nichts Vorgegebenes mehr entgegensteht. Gefühl und Bewußtsein völliger .Unverantwortlichkeit' erlangt der Mensch erst, wenn er alle ihm bisher ,νοη außen' aufgedrängten .Verantwortungsinstanzen' durchlaufen und verworfen hat. Es .bleibt' dann nur das Ganze des Weltgeschehens, in das er sich verantwortungs-los hineingeknüpft versteht, in dessen notwendigem Gang er aber doch be-nötigt ist. In der (immer neu zu vollziehenden) philosophischen Durcharbeitung des Freiheitswillens in seinem Verhältnis zum Ganzen der Welt hat sich sein Selbstverständnis zu bewähren. Der Zirkel des Verstehens bildet dabei die Voraussetzung für die Arbeit des Gedankens. Diese erschöpft sich nicht darin, daß der Einzelne (und hier der Philosoph) ein Verständnis des Ganzen setzt, das er ,auf alles' ausdehnt, um sich den eigenen Ansatz immer wieder zu bestätigen. Die Bewegung des Denkens innerhalb des Zirkels kann Widerstände ,erfahren', die zu Modifikationen der Ausgangsposition führen können. Von ihnen kann sowohl das Welt- wie das Selbstverständnis des Menschen primär betroffen sein. Dabei kann sich der Zirkel als zu eng gezogen erweisen; wenn er gesprengt wird, wird er sich, gemäß dem Charakter des Verstehens, unter veränderten Voraussetzungen und ,Bezugsgrößen' neu bilden. In Nietzsches Denk-,Entwicklung' sind Ausweitungen und Vertiefungen seiner Voraussetzungen sowohl in Richtung auf das Ganze der Welt als auch in die des menschlichen Selbst anzutreffen. Im nächsten Abschnitt dieser Abhandlung soll nach jenem unschuldig-ursprunghaft Tätigen des Menschen gefragt werden. Dabei wird Nietzsches späteres .positives' Verständnis von Freiheit zutage treten, aus dem heraus sogar ein .positives' neues Verständnis von Verantwortlichkeit und Gewissen erwächst. Vorausgeschickt sei, daß in alledem ,der' Wille zur Macht in seinem interpretierenden .Wesen', von dem in den Abschnitten 11 und 12 die Rede war, als ursprüngliche Freiheit ausgelegt wird.

17. Über den Willen zur Macht als Instinkt der Freiheit Die von Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches herausgestellte .neue Freiheit' (vgl. die Abschnitte 4 und 5) erfährt nach ihrer ersten Aus-

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prägung in Also sprach Zarathustra168 in Zur Genealogie der Moral ihre eigentliche ,positive' Ausarbeitung. In der Zweiten Abhandlung dieses Buches kennzeichnet Nietzsche den Willen zur Macht als Instinkt der Freiheit. Diese Kennzeichnung erwächst aus der von ihm dargestellten „Schuldbewusstseins-Entwicklung". In seiner „Hypothese über den Ursprung des .schlechten Gewissens'" führt er diese Entwicklung auf die „Verinnerlichung" der aktiven, ursprünglich nach außen gerichteten Instinkte des Menschen zurück. Sie ist Wendung des Menschen gegen sich selbst und tritt nach Nietzsches genealogischer Vorstellungsweise als geschichtliche Folge einer gewaltsamen Unterwerfung durch „eine Eroberer- und Herren-Rasse" bei einer zuvor „ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung" auf. Jene Eroberer, welche „die unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler" sind, „die es giebt", drücken den Unterworfenen Formen auf, .organisieren' die Unterworfenen im Rahmen eines .Neuen'. So entsteht ein „Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind". Für unsere Fragestellung ist wesentlich, daß hierbei auf beiden Seiten Freiheit konstitutiv im Spiel ist, und zwar Freiheit im (schon angedeuteten) eigentlichen Sinne Nietzsches. Blicken wir zunächst auf die Unterworfenen. Unter der Gewaltsamkeit der herrschenden Organisatoren, so schreibt er, wird bei ihnen „ein ungeheures Quantum Freiheit [...] gleichsam latent gemacht". Aber die Latenz betrifft nur die „Sichtbarkeit" der Freiheit. Die für sie konstitutive Aktivität ist nur umgelenkt worden. Noch der „zurückgedrängte, zurückgetretene, in's Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt" ist Jnstinkt der Freiheit". Das schlechte Gewissen ist „in seinem Anbeginn" nichts anderes als dieser Instinkt.169 In den Unterworfenen, die ihr .schlechtes Gewissen' kultivieren, ist „dieselbe aktive Kraft" tätig, die in den „Gewalt-Künstlern und Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten baut". Bei diesen richtet sich „die formbildende und vergewaltigende Natur" auf die anderen Menschen, bei jenen auf ihr eigenes „ganzes thierisches altes Selbst". Auch in der „heimlichein) Selbst-Vergewaltigung" ist „Künstler-Grausamkeit" und „Lust am Leidenmachen" tätig. Uberall ist das solcherart unablässig Gestaltende des

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,lan zu Zarathustra III" heran, in dem „der Ubergang vom Freigeist und Einsiedler zum Herrschen -Müssen" beschrieben wird. In dieser Aufzeichnung heißt es weiter: „das Schenken verwandelt sich - aus dem Geben entstand der Wille, Zwang-zum-Nehmen zu üben". (Nachlaß 1883, 16[51]; KGW VII 1,542.)

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

sein soll. Die Gesetzgebung gilt vor allem der Durchsetzung der ,Jlauptlehre" von der ewigen Wiederkunft, die aber erst „nach der Aussicht auf den Ubermenschen" als „erträglich" gilt.61 Nietzsches aus der gedachten Steigerung des Menschseins erwachsende Überlegungen führen oft in Extreme; auch lassen sie sich nicht durchgängig miteinander vereinbaren. 62 In einer Aufzeichnung von 18 87/18 8 8 stellt er dem Chaos des gegenwärtigen Europa einen Willen zur „Gestaltung" entgegen, dem erst „die Barbaren des 20. Jahrhunderts" gerecht werden können sollen.63 Aus der „Verstärkung des Typus" soll auch die Gestalt des großen synthetischen Menschen hervorgehen können, welcher „die verschiedenen Kräfte zu Einem Ziele unbedenklich in's Joch" spannt. 64 Solche Ausführungen zielen auf die Bildung eines Ganzen durch die .Absolutsetzung' eines Zieles. Das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte, das Nietzsche am .Modell' des Leibganzen dargelegt hat, weicht dabei dem Motiv der Unterjochung und der oft rücksichtslosen und zuletzt maßlosen Umformung des Vielen.65 So notiert er auch, die großen Menschen „wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen Eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben". Nicht nur das Ungeordnete, sondern schon das Vielartige wird hier als das zu gestaltende Chaos angesehen, das unter das eine Joch gebracht werden soll. Das Schaffen eines solcherart Schaffenden läßt als „Umschaffen" das Modell des organischen Zusammenspiels zugunsten eines anderen zurück: dem der ,mit Gewalt' in das Gewachsene eingreifenden Formung. Die diesbezügliche Metaphorik von Also sprach Zarathustra und der im Zusammenhang mit diesem Werk stehenden Niederschriften und Entwürfe stellt uns den Schaffenden als den künstlerisch Bildenden vor, der den künftigen Menschen aus härtestem Material formt. Gefordert ist „die Tyrannei des Künstlers zuerst als Selbst-Bezwingung und -Verhärtung!" Zur „Psychologie des Herrschenden" heißt es in diesem Zusammenhang: „Das Verlangen nach den Freunden entpuppt sich als Verlangen nach Werkzeugen

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Nachlaß Sommer-Herbst 1883, 15[10]; KGW VII 1, 505f. Zum Verhältnis von synthetischem und starkem Menschen der Zukunft, vgl. Vf., Nietzsche, a.a.O.[Anm. 25], 6. Kapitel: Der Weg zum Übermenschen, 116-134. " Nachlaß November 1887-März 1888, 11[31]; KGW VIII 2, 259f. 64 Nachlaß Herbst 1887, 9[119]; KGW VIII 2, 68. 65 Nietzsche beschwört den mächtigsten als den bösesten Menschen, „insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft" (Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[26]; KGW VII 1, 259). 62

Erster Teil: Das Ganze als Chaos und das Chaos im Menschen

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des KünstlersΓ66 Zarathustras „inbrünstiger Schaffens-Wille" treibt ihn „stets v o n N e u e m " zum Menschen; „so treibt's den H a m m e r hin zum Steine. Ach, ihr M e n s c h e n , im Steine schläft mir ein Bild, das Bild meiner Bilder! Ach, dass es im härtesten, hässlichsten Steine schlafen muss! N u n w ü t h e t mein H a m m e r grausam gegen sein Gefängniss. Vom Steine stäuben Stücke: was schiert mich das?" 67 N o c h in einem Plan v o n 1 8 8 5 zu einem 5. Teil des Zarathustra notiert Nietzsche: „die Erde jetzt als Marmorstätte daliegend; es ist eine herrschende Rasse nöthig, mit unbedingter Gewalt". 6 8 Das Ganze ist hier der zu bearbeitende Stein. Solcher Aufgabe der Gestaltung war keiner unter den früher Lebenden gewachsen, 6 9 ist keiner der jetzt Lebenden fähig; nicht einmal Nietzsches Zarathustra wäre es, w e n n er .lebte': w o h l aber der Ubermensch, dessen Heraufkunft Zarathustra ,lehrt'. 70 Eine N o t i z „zur letzten Rede Zarathustras" lautet: „der Übermensch völlig über die bisherige

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Nachlaß Herbst 1883, 16[51]; KGW VII 1, 542. - „Objektiv, hart, fest, streng bleiben im Durchsetzen eines Gedankens - das bringen die Künstler am besten zu Stande; wenn Einer aber Menschen dazu nöthig hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.) da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell davon." (Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[56]; KGW VIII 1, 20.) Also sprach Zarathustra II, Auf den glückseligen Inseln; KGW VI 1,107. - „Ohne Erbarmen schlägt der Bildner auf den Marmor [,] daß er das schlafende Bild aus dem Stein erlöse", heißt es in einer Notiz aus der Zarathustra-Zeit. ,Wir' sind hier, als das zu Bildende, stärker ins Spiel gebracht: „Aber wir selbst sind die Bildner auch in dem Dienst seines Auges: oft erzittern wir selber vor der schaffenden Wildheit unserer Hände." Damit wird auf die hierarchisch weitergeführte Bedeutung (auch) dieses Bildner-Modells hingewiesen. (Nachlaß Juni-Juli 1883, 10[20]; KGW VII 1, 385.) Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[74]; KGW VII 3, 264. - Zu Nietzsches Plänen zu einem 5. Teil von Also sprach Zarathustra: M . - L . Haase, Zur Überlieferung und Entstehung von ,Also sprach Zarathustra', KGW VI 4, 9 4 5 - 9 8 4 , hier: 972ff. Man könne „bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem .interesselosen' Arbeiten an seinem Marmor", d.i. an einem großen „Gedanken", den es durchzusetzen gilt. Das .Interesse' tritt dabei gänzlich hinter der Aufgabe zurück. Dabei mag auch „von Menschen geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und daran nicht zerbrechen". (Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1986, 1[56] ; KGW VIII 1, 20.) Also sprach Zarathustra, Vorrede 3; KGW VI 1, 9. - Zu Zarathustra kommt „des Übermenschen Schönheit" nur „als Schatten". Seinen Schülern sagt er, sie könnten sich „zu Vätern und Vorfahren" des Übermenschen „umschaffen". (Also sprach Zarathustra II, Auf den glückseligen Inseln; KGW VI 1, 108, 105.)

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Tugend hinaus, hart aus Mitleid, - der Schaffende, der ohne Schonung seinen Marmor schlägt."71 Eine andere Metapher für das zu Bearbeitende ist im Zarathustra-Sprachumfeld die des Erzes. Dessen Härte muß der Härte des Schaffenden nachgeben. Eine „Seligkeit" soll es Zarathustras Brüder dünken, „auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, - härter als Erz, edler als Erz". Dabei sollen sie ihre Hand auf Jahrtausende drücken „wie auf Wachs".72 Das Bild bringt die Härte des Schaffenden ins über-menschliche Extrem. Aber auch dort, wo der Gedanke an den Ubermenschen zurücktritt, bleibt die Forderung erhalten, so in Jenseits von Gut und Böse im Vorblick auf jene Philosophen der Zukunft, welche als Befehlshaber auftreten sollen. An ihrem Bilde soll sich „Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen". Nietzsche erwartet, daß bestimmte Umstände ihre Seelen „zu einer solchen Höhe und Gewalt" aufwachsen lassen können, daß sie gewissermaßen in die „Aufgabe" einer „Umwerthung der Werthe" hinein -gezwungen würden. „Ein Herz in Erz" ist nötig, „dass es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge".73

6. Gesellschaftsbildungen

als

,Machinalisationen'

Schon die ersten gesellschaftlichen Organisationen haben sich aus einem (freilich ,nur') instinktiven „Formen-schaffen, Formen-aufdrücken" entwikkelt, in denen „jener furchtbare Künstler-Egoismus" waltete, „der wie Erz blickt und sich im ,Werke', wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit

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Nachlaß Juni-Juli 1883, 10[25]; KGW VII 1, 386. Also sprach Zarathustra III, Von alten und neuen Tafeln 2 9 ; KGW VI 1, 264 (vgl. Nachlaß Ende 1883, 23[3]; KGW VII 1, 677). - Nietzsche hat diesen Abschnitt vollständig und hervorgehoben an den Schluß von Götzen-Dämmerung gesetzt (KGW VI 3 , 1 5 7 ) . Diese Wiederholung zeigt die Bedeutung, die er ihm zugespochen hat. - Vgl. die zu den .Vorarbeiten' zu Also sprach Zarathustra gehörende Aufzeichnung von Ende 1883: „Auch ich bin Erz vom ehernen Schicksale: so empfand ich immer, wenn ihr das Schicksal nanntet" (22[3]; KGW VII 1, 659). Jenseits von Gut und Böse 203 ; KGW VI 2 , 1 2 8 f. - Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Hesiods Zeitalter-Abfolge, insbes. in Hinsicht auf das „Zeitalter von Erz", s. Zur Genealogie der Moral, 1. Abh. 11; KGW VI 2, 289ff.

Erster Teil: Das Ganze als Chaos und das Chaos im Menschen

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voraus gerechtfertigt weiss". Dies führt Nietzsche in Zur Genealogie der Moral aus. Während er dem starken Menschen der Zukunft das Hinausgehen über die,bisherige Tugend' und dabei die Überwindung aller möglichen Bedenken als Aufgabe stellt und ihnen eine neue Verantwortlichkeit auferlegt, wußten die ersten ,Staats-Bildner', welche er „die unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler" nennt, die es gegeben hat, nicht, „was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist". Eine in sich schon „kriegerisch" organisierte „Eroberer- und Herren-Rasse" legte „unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine [...] noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung". Jene ,Starken' organisierten das, was sich ihnen als Chaos darbot, zu einem „Herrschafts-Gebilde, [...] in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst ein ,Sinn' in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist".74 Diese Genealogie legt Nietzsche im Zusammenhang seines Versuchs vor, die Entstehung des schlechten Gewissens bei den Unterworfenen begreiflich zu machen. Deren Instinkte werden durch die mit Plötzlichkeit über sie kommende Gewalt zurückgedrängt, sodaß nur der „in's Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit" als Machtwille wirksam bleibt. Nietzsche knüpft hier an seine Ausführung zur Entstehungsgeschichte von aristokratischen Gesellschaften an, die er in Jenseits von Gut und Böse vorgelegt hatte. Hier geht es ihm freilich um die Entstehung des Typus des vornehmen Menschen zu verschiedenen Zeiten. „Humanitären Täuschungen" dürften wir uns angesichts des Tatbestandes nicht hingeben, daß jede aristokratische Gesellschaft ihren Anfang darin gehabt habe, daß „Barbaren in jedem furchtbaren Verstände des Wortes, Raubmenschen noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Machtbegierden" sich „auf schwächere, gesittetere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen" warfen. Jede Erhöhung des Menschen hat sich so vollzogen: „Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste." Auch wo diese, in späteren geschichtlichen Situationen, „auf alte mürbe Culturen" trifft, „in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbnis verflackerte", setzt sie sich mit der genannten Unbedenklichkeit durch.75

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Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 17; KGW VI 2,240f. - Nietzsche tut dabei die Vertragstheorie als „Schwärmerei" ab: „Wer befehlen kann, wer von Natur ,Herr' ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt - , was hat der mit Verträgen zu schaffen!" (A.a.O., 239) Jenseits von Gut und Böse 2 5 7 ; KGW VI 2, 215f. - Der sich anschließende Aph. 258 (a.a.O., 216f.) beschreibt den Verfall der französischen Aristokratie zu Beginn

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

In Zur Genealogie der Moral geht es um die „geborenen Organisatoren", welche den ältesten Staat in einer Folge von Gewaltakten „als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie" errichteten. Ihre ,Künstlerschaft' bestand darin, den ihr als Material vorgegebenen „Rohstoff von Volk und Halbthier" so zu bearbeiten, daß er „nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war". 76 Wir achten auf die im Vergleich zu Jenseits von Gut und Böse veränderte Begrifflichkeit, die sich nicht allein aus der Verschiedenheit der Hinsichten erklären läßt, in welchen die Herrschenden jeweils auftreten. Das künstlerische Gestaltungsprinzip wird in der späteren Schrift ergänzt durch die Rede von einer Maschinerie. Wir finden sie und das ihr zugehörige Begriffsfeld in Nietzsches nachgelassenen Aufzeichnungen vom Herbst 1 8 8 7 häufiger. Sie tritt auch in Verbindung mit ökonomischen Gesichtspunkten auf.

76

der französischen Revolution, welcher sich in einer jahrhundertelangen „Corruption" vorbereitet hatte. Die Revolutionäre spielen in Nietzsches Betrachtung hier keine Rolle; sie sind ungeachtet ihrer Gewalttätigkeit auch nicht die starken Menschen, welche die alte Kultur zerstören. Die Diskrepanz zwischen den Ausführungen in den beiden Stücken ist dadurch entstanden, daß Nietzsche die Fortsetzung von Jenseits von Gut und Böse 257 im Druckmanuskript gestrichen hat (s. dazu KSA 14, 371). Im ursprünglichen Text hatte er dargestellt, wie, dem „Schwächungs- und Milderungsprozeß" auf der Seite der Herrschenden entsprechend, „sich ebenso allmählich auf der Seite der Unterdrückten und Versklavten ein umgekehrter Prozeß" vollzieht. Schließlich entsteht hieraus der „Sklaven-Aufstand als ein Instinkt wider jede Art von Herrn, zuletzt noch gegen den Begriff ,Herr', als ein Krieg auf Leben und Tod". Bei dem Sieg der bislang Unterdrückten bleibt der Prozeß freilich nicht stehen; wir werden in späterem Zusammenhang hier anknüpfen können. - Zur vielschichtigen Problematik des Neunten Hauptstücks von Jenseits von Gut und Böse, „was ist vornehm ?" sei auf die eindringlichen Darlegungen von P. van Tongeren in Die Moral von Nietzsches Moralkritik. Studie zu Jenseits von Gut und Böse', Bonn 1989,137-171 verwiesen. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 17; KGW VI 2, 340f. - E. Oldemeyer weist darauf hin, daß bei Nietzsches Beschreibungen des Schaffens „ein Modell ersichtlich nicht mitgedacht" wird: „das technische Schaffen von nutzbaren Artefakten durch Handwerker und Ingenieure". Als Grund hierfür nennt er zutreffend, daß es „Nietzsche im wesentlichen um wert- und erziehungstheoretisch begründete Psycho- und Soziotechniken" gehe. (Technik - eine Leerstelle in Nietzsches Denken?, in: Friedrich Nietzsche und die globalen Probleme unserer Zeit, hg. ν. E Kiss, Cuxhaven δί Dartford 1997, 139, 141) Um die Anwendung solcher .Techniken' allein geht es Nietzsche auch, wenn er ,maschinelle Formungsprinzipien' ins Spiel bringt, wovon oben weiter zu handeln sein wird.

Erster Teil: Das Ganze als Chaos und das Chaos im Menschen

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Ich ziehe zwei Beispiele heran. In einer „ökonomische[n] Abschätzung der bisherigen Ideale" heißt es: „der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Thätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist". Die dabei zu erfüllende „Aufgabe" besteht darin, „den Menschen möglichst nutzbar zu machen, und ihn soweit es irgendwie angeht der unfehlbaren Maschine anzunähern; zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden". Dies verlangt zweierlei: einmal müssen die geforderten Leistungen auf einem „Machinalismus" beruhen, der „als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen" ebenso regelmäßig auftritt. Sind doch nur dadurch die geforderten Handlungseffekte mit Zuverlässigkeit zu erzielen. Zweitens muß der Mensch „die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwerthigen empfinden lernen"; die anderen, vor allem die diesen entgegengesetzten Zustände müssen ihm „möglichst verleidet" werden.77 Diese Beschreibung des Machinalismus erinnert an das, was Nietzsche in anderen Zusammenhängen Einverleibung nennt.78 Dabei hat er die aus der Tier- und Menschengeschichte allmählich erwachsene, immer weiter vererbte Bildung von mehr oder weniger festen Bedingungen unseres Lebens (des Erkennen- wie des Handeln-könnens) durch auswählende Verinnerlichung herausgestellt. Sie liegen vor aller Reflexion und .wirken' selbsttätig. Die Prozesse der Einverseelung, auf die Nietzsche in Zur Genealogie der Moral Hinweise gibt, sind nicht weniger komplex. Sie sind bis zu einem gewissen Grade immer schon vorausgesetzt, wenn die genannten Staats-Bildner die noch „ungestaltete [n] Bevölkerung in eine feste Form" gesellschaftlicher Organisation bringen.79 Das durch jene Einverseelung in langen Zeiträumen erwachsene „Gedächtniss des Willens" macht den Menschen „bis zu einem gewissen Grade nothwendig,

77

Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 1 0 [ 1 0 ] und [11]; KGW VIII2,125f. - Auf die ökonomische Betrachtungsweise, die von diesem Jahre an unter dem Einfluß von Emanuel Herrmann für Nietzsches Verständnis der natürlichen und der gesellschaftlichen Zusammenhänge Bedeutung gewinnt, wird im Zweiten Teil dieser Abhandlung näher einzugehen sein. Angemerkt sei aber schon hier, daß auch Nietzsches Verständnis von gesellschaftlicher „Maschinerie" (vgl. Nachlaß a.a.O., 10[17], KGW VIII 2, 128f.) von dieser Zeit an unter dem Eindruck der Ausführungen Herrmanns steht.

78

Vgl. Freiheit und Wille, Abschnitt 8, oben S. 54ff. Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 17; KGW VI 2, 340.

79

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar".80 So kann er machinal-nutzbar gemacht werden. Bleiben wir zunächst beim Vergleich zwischen organischer Einverleibung und machinaler Einverseelung. In beiden Fällen werden Verhaltensmuster fest und dauerhaft eingeprägt. Nietzsche betont aber vor 1887 die Unterschiede stark, während er sie danach oft einebnet. 1884 schreibt er noch, „in allem Organischen" fehle „ganz der Maschinen-Charakter". Die Tugenden, die in dessen Prozessen der „Selbst-Regulierung" geübt werden müssen, und zwar „im Verhältnis der Organe [...] zu einander" - Nietzsche nennt: „Gehorsam, Fleiß, Zu-Hülfe-kommen, Wachsamkeit" - , setzen ein Zusammenspiel bei wechselnder Herrschaft in den Gebilden voraus, aus denen sich ebenfalls .Regelmäßigkeiten' bilden.81 Das Selbsttätige der Vielen im organischen Zusammenspiel wird vom .Mechanischen' abgehoben. Dieses wird, wie wir noch hören werden, häufig mit negativen Akzenten versehen. Die Einförmigkeit des Maschinenwesens steht im Gegensatz zur Komplexität und Differenziertheit, welche für die organischen Prozesse konstitutiv sind.82 Alle eingeprägten Verhaltensweisen gehören nach Nietzsches Voraussetzungen in den Zusammenhang von Willen-zur-Macht-Prozessen. Aber die fundamentalen Einverleibungsvorgänge im .organischen Geschehen' sind in unüberschaubar langen Zeiträumen bei allem Druck von außen doch .von innen heraus' erwachsen, um jene Funktionalität zu erzeugen, welche das situationsangemessene rasche Handeln der Lebewesen ermöglicht.83 Die Installation veränderter gesellschaftlicher Verhaltensmuster in den Formen des Maschinellen stellt eine (oft plötzlich erfolgende) Aufprägung von außen dar. Auch wenn sie über das Bewußtsein geleitet wird, so soll dieses in der auszuübenden Funktion ausgeschaltet oder zumindest untergeordnet bleiben, um die Bereitwilligkeit des jede Reflexion ausschaltenden .Glaubens' - in 80

Zur Genealogie der Moral, 2. Abh. 1, 2; KGW VI 3, 3 0 7 - 3 1 0 . - „Die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit" wird von Nietzsche im Zeichen der Aufgabe gesehen, „ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf" (a.a.O., 309).

81

Nachlaß Frühjahr 1884, 25[426]; KGW VII 2, 120. „[...] kein Kopf wäre so fein, daß er mehr construiren könnte als eine Maschine, worüber jeder organische Prozeß weit hinaus ist" (Nachlaß Juni-Juli 1 8 8 5 , 3 6 [ 2 9 ] ; KGW VII 3. 287). - Nietzsche konnte die Möglichkeiten, die z.B. die moderne Computertechnik in der Steuerung von Lebensvorgängen entfaltet, nicht ahnen. Vgl. Freiheit und Wille, oben S. 56f., 60f.

82

83

Erster Teil: Das Ganze als Chaos und das Chaos im Menschen

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Analogie zur organischen Einverleibtheit - herzustellen und so die Zuverlässigkeit des Eintretens der erwarteten Handlung zu garantieren. Demgemäß hat Nietzsche im Antichrist die , Wirkung' des Manu-Gesetzbuches dahingehend beschrieben, daß das Gesetz „unbewusstgemacht werden" muß, um den ,,vollkommne[n] Automatismus des Instinkts" zu erreichen, mit dem gewissermaßen die .ideale' Funktionalität erreicht wird.84 Bis 1885 dominierte Nietzsches Beschreibung des Charakters des Instinktiven am Modell organischer Prozesse (z.B. als einverleibtes Reizgeschehen 85 ), 1887/1888 drückt er ihn auch in Begriffen von machinaler Funktionalität aus. Dieser Unterschied scheint auf den ersten Blick hin nicht von großer Bedeutung zu sein, insofern sich am .phänomenalen Befund' nur wenig ändert. Auch handelt es sich für Nietzsche ja in jedem Falle um Bilderrede, welche über die Vorgänge selbst gelegt wird.86 Aber die im Untergrund veränderten Redens sich vollziehende Wandlung von Nietzsches Verständnis der Wirklichkeit ist sehr bedeutsam, wovon noch zu handeln sein wird. - Zu beachten ist übrigens, daß die Naturwissenschaften seiner Zeit, auf die Nietzsche sich wesentlich bezieht, sich häufig des Vokabulars der Mechanik bedienten. So wurden diejenigen unwillkürlichen Bewegungen 84

Der Antichrist 57; KGW VI 3 , 2 3 9 - 2 4 2 ; hier: 240. - Jene Vervollkommnung soll hiernach „die Voraussetzung zu jeder Art Meisterschaft, zu jeder Art Vollkommenheit in der Kunst des Lebens" bilden (a.a.O.; vgl. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[126]; KGW VIII 3, 184). - Nietzsche hält in Der Antichrist nicht nur in polemischer Absicht die Kasten-Ordnung des Manu dem bekämpften Christentum entgegen. In einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 führt er aus, „erst der Automatismus" mache „die Vollkommenheit möglich [...] in Leben und Schaffen". Daß er dabei das Ganze abendländischen Denkens vor Augen hat, zeigt die anschließende Ausführung: „Aber jetzt haben wir den entgegengesetzten Punkt erreicht, ja, wir haben ihn erreichen gewollt - die extremste Bewußtheit, die Selbstdurchschauung des Menschen und der Geschichte [...] - damit sind wir praktisch am fernsten von der Vollkommenheit in Sein, Thun und Wollen: unsere Begierde, unser Wille selbst zur Erkenntniß ist ein Symptom einer ungeheuren décadence [...] Wir streben nach dem Gegentheil von dem, was starke Rassen, starke Naturen - wollen [...] das Begreifen ist ein Ende..." (Nachlaß, 14[226]; KGW VIII 3, 190). Vgl. zum Verhältnis von Bewußtsein und Automatismus auch Nachlaß a.a.O., 14[144]; KGW VIII 3, 121: „Das Bewußtsein, in zweiter Rolle, fast indifferent, überflüssig, bestimmt vielleicht zu verschwinden, und einem vollkommenen Automatismus Platz zu machen."

85

Vgl. dazu Freiheit und Wille, Abschnitt 8, oben S. 55f., insbes. Anm. 35. Zur Bilderrede vgl. Der Organismus als innerer Kampf, Nietzsche-Interpretationen I, 106f.

86

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

als automatisch bezeichnet, welche ohne erkennbare äußere Reizwirkung ausgelöst wurden, während das Wort Automat (fast ausschließlich) auf mechanistische Einrichtungen (von Uhren über Planetarien bis zu Industriemaschinen) angewandt wurde. Nietzsche wählt jedenfalls kein ungewöhnliches Darstellungsverfahren, wenn er (z.B.) in einer Aufzeichnung zur Physiologie des Künstlers bei der Schilderung unfreiwilliger Bewegungskoordinationen von einer „Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von Innen wirkender starker Reize" spricht.87 Für Nietzsches Verständnis des Automatischen ist die damit angedeutete Selbsttätigkeit (, Aktivität') konstitutiv.88 In seinen letzten Schaffensjahren bringt Nietzsche alle Lebensbereiche in gesteigertem Maße unter die Sichtweise mechanischer und maschinenmäßiger Modelle. Dabei überwiegt die kritische Akzentuierung. Daß „alle machinale Thätigkeit" unvermeidlich die Einförmigkeit" im Gefolge hat, kritisiert er an den Bildungseinrichtungen seiner Zeit, z.B. am höheren Schulwesen und besonders an der Philologie.89 In seinen Vereinfachungen gibt er neben seinen frühen Erfahrungen und Einsichten (auch) eigenen Ressentiments Raum; was er selber dem verdankt, wogegen er polemisiert, kann hier unerörtert bleiben. Die „Monotonie der Thätigkeit" des Philologen gilt ihm nur als „erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung". Daß solche Einverleibungen', die sich dem mechanistischen Denkmodell letztlich nicht fügen, Fähigkeiten bereitstellen, die zu Eigenem, über das ,bloß Gelernte' Hinausgehendem qualifizieren können, schiebt Nietzsche hier beiseite. - Seine Polemik fixiert auch das ,Monotone' von Pflicht bei Kant, der als „Typus" den „Fanatiker des Formalbegriffs ,du sollst'" repräsentiere - und damit „die machinale Existenzform als höchste ehrwürdigste Existenzform".90 Bezeichnend ist auch, daß Nietzsche „die machinale Thätigkeit" zu den Mitteln zählt, mit deren Hilfe der asketische Priester das Lebensgefühl der Schwachen, Kranken, Leidenden zu dämpfen vermöge. „Die absolute Regularität, der pünktliche

87 88

89

90

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[170]; KGW VIII 3, 148. Vgl. dazu M. Brusotti, a.a.O., [Anm. 9], 84f. - Brusotti hat Nietzsches (vor allem gegen Eugen Dühring gerichtete) Unterscheidung von mechanischer Reaktion (als Selbstverteidigung) und .aktivem' Ressentiment herausgearbeitet (a.a.O., 83ff.). Die Fundamente für seine Kritik hat Nietzsche vor allem in seinen Basler Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872) gelegt. S. dazu Exkurs 2, S. 368-372 Nachlaß Herbst 1887, 10[11]; KGW VIII 2, 126.

Erster Teil: Das Ganze als Chaos und das Chaos im Menschen

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besinnungslose Gehorsam, das E i n - f ü r - a l l e - M a l der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubniss, ja eine Zucht zur ,Unpersönlichkeit', zum Sich-selbst-Vergessen, zur ,incuria sui'" verlangsamen gewissermaßen den bei jenen wirksamen .Willen zum Nichts'. 91 Die Einförmigkeit des Maschinenmäßigen gewinnt für Nietzsche aber an positiver Bedeutung, je mehr er die .machinal mögliche' Herstellung und Aufrechterhaltung eines .mittelmäßigen' Menschentyps für die Zukunft vorhersieht. Sie erweist sich in seiner Sicht als nützlich, ja als unentbehrliche Basis für die Entwicklung von höheren Formen des Menschseins, die jenem gegenüber als Ausnahmen auftreten. Nietzsche stellt dies zuletzt noch einmal an der Rangordnung der altindischen Moral dar, welche „als .Gesetz des Manu' zur Religion sanktioniert wurde". 92 In ihr hat jede der drei Kasten ihre besonderen Vorrechte. Uns interessiert im jetzigen Zusammenhang daran nur, daß Nietzsche sich hier grundsätzlich gegen die Verkennung der Bedeutung der Mittelmäßigen stellt. „Eine stark und gesund consolidirte

91

92

Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 18; KGW VI 3, 400f. - Zum asketischen Ideal als Willen zum Nichts s. Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 25], 7 2 - 7 9 . Götzen-Dämmerung, Die .Verbesserer' der Menschheit 2 - 5 ; KGW VI 3. 9 4 - 9 6 , hier: 94. - Außer auf die Abschnitte in Der Antichrist (55-57; KGW VI 3. 235-252) ist auf die Niederschrift ,^Zur Kritik des Manu-Gesetzbuchs" hinzuweisen (NachlaßFrühjahr 1888; 15[45]; KGWVIII3,233f.). Hervorzuheben ist, daß Nietzsche an allen drei Stellen das Herrschaftsmittel der Lüge herausstellt, das offenkundig die Gewalt, die am Anfang jeder Staatsbildung gestanden haben soll, ergänzen oder ablösen soll. „Weder Manu, noch Piaton, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz andren Rechten nicht gezweifelt." (Götzen-Dämmerung, a.a.O., 94). „Die .heilige Lüge'" fehle bei ihnen allen nicht (DerAntichrist 55. a.a.O., 237). „Die Lüge als Supplement der Macht, - ein neuer Begriff der .Wahrheit'", so das Fazit im Nachlaß 1888. Die priesterliche Art Mensch „glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in der That: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur Macht..." (a.a.O., 233). - Nietzsche hat sich über das Gesetz des Manu aus einer fragwürdigen Quelle informiert: L. Jacolliot, Les législateurs religieux. Manou - Moise Mahomet, Paris 1876. Zu dem großen Eindruck, den das Gesetzbuch auf ihn machte, s. seinen Brief vom 31. 5. 1888 an Heinrich Köselitz (KGB III 5. 324f.). Zum pseudowissenschaftlichen Charakter des Buches von Jacolliot und zur Problematik seiner Rezeption durch Nietzsche vgl. A. Etter, Nietzsche und das Gesetzbuch des Manu, in: Nietzsche-Studien 16 (1987). 340-352. - Zur Ambivalenz von Nietzsches Einschätzung des Manu-Gesetzbuchs vgl. J. E. Wilson, Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Nietzsches, Berlin/New York 1996, 320-323.

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Mittelmässigkeit" bildet den „breiten Boden", auf dem sich die „Pyramide" einer Kultur erheben kann; sie ist die Voraussetzung dafür, daß sich Ausnahme-Menschen entfalten können. Der Mittelmäßige findet dabei sein Glück allein im Mittelmäßig-sein. Es ist „nicht die Gesellschaft", sondern „die Art Glück, deren die Allermeisten nur fähig sind", die aus ihnen (wie es bezeichnenderweise wieder heißt:) „intelligente Maschinen" macht. Der Ausnahme-Mensch weiß um seine Angewiesenheit auf die Mittelmäßigen. Er handhabt sie „mit zarteren Fingern [...] als sich und seines Gleichen": aus „Pflicht", denn ohne sie wäre keine höhere Kultur möglich.93 Von Nietzsches Ausführungen zum Manu-Gesetzbuch her ist zu seinen allgemeineren Überlegungen überzugehen. Die in ihm begründete Ordnung wird als in sich abgeschlossen vorgestellt. Wie steht es aber um Kulturen, die noch ungefestigt sind? Als „eine Art Mitte" gilt da „der ,gute Mensch'", der „auf jeder Stufe der Civilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich" ist. Aber geradezu unentbehrlich für den Bestand einer Kultur ist er, wo dieser ungesichert ist. Hier ist der große Mensch als die Ausnahme „gefährlich", weshalb im Kampf gegen ihn „viel Vernunft" liegt. Denn dieser kann als Ausnahme „stark genug" sein, um - vor der Zeit - „Langsam-Gebautes und -Begründetes in Frage zu stellen". Große Menschen sind „Fragezeichen-Menschen in Hinsicht auf fest Geglaubtes". Deshalb „räth der Instinkt jeder civilisirten Gesellschaft" dazu, „solche Explosiv-Stoffe nicht nur unschädlich zu entladen, sondern, wenn es angeht, ihrer Entstehung und Häufung schon vorzubeugen".9* Nietzsche trägt in solchen Ausführungen der Vielfalt möglicher (und gegensätzlicher) Perspektiven durchaus Rechnung. Darzustellen bleibt noch, wie er den Gegensatz zwischen den Ausnahmemenschen und den Durchschnittlichen in seine Auffassung vom „abgründlichen Antagonismus von Cultur und Civilisation" hineinnimmt.95 Deren jeweilige „Höhepunkte [...] 93

Der Antichrist 57, K G W VI 3, 2 4 l f . - Den .Mittelmäßigen' ordnet Nietzsche hierbei bestimmte Berufsgruppen zu: genannt wird hierbei außer dem Handwerk, dem Handel und dem Ackerbau auch die Wissenschaft.

94

Nachlaß a.a.O., 16[8] und 16[9]; KGW VIII 3, 2 8 1 .

95

Nachlaß a.a.O., 1 6 [ 1 0 ] ; KGW VIII 3, 2 8 1 . - Die Entgegensetzung führt bis auf Kant zurück. Nietzsche hat sie in seinen Basler Jahren im Anschluß an Richard Wagners Kritik der .romanischen Zivilisation' aufgegriffen. Hier sei nur auf einige charakteristische Äußerungen hingewiesen: Die Geburt der Tragödie 19; K G W III 1, 124f.; Richard Wagner in Bayreuth 5 ; KGW IV 1, 26ff. Nachlaß Winter 1 8 7 0 / 7 1 - H e r b s t 1 8 7 2 , 8 [ 4 7 ] ; KGW III 3, 2 5 1 . Nachlaß Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g

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liegen auseinander": Zivilisation ist durch „die Epochen der gewollten und erzwungenen Thierzähmung" bestimmt, zu welcher „Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen" gehört. Deshalb will sie „etwas Anderes als Cultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes ...", 96 Der Gegensatz von Kultur und Zivilisation wird vom späteren Nietzsche verschärft herausgestellt. Das,Recht' der Ausnahmemenschen wird dabei von ihm unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Davon wird in Teil II dieser Studie zu reden sein. Zuvor ist noch von denen zu handeln, die Nietzsche als künftige Herren der Erde apostrophiert.

7. Übergroße Politik und Erdherrschaft Das Wüten des Hammers Zarathustras, von dem oben die Rede war,97 galt der freilegenden Gestaltung des künftigen Menschen. Wenn Nietzsche in Ecce homo diese Zarathustra-Passage wiederholt, so unterstreicht er den Satz: J^un wiithet mein Hammer grausam gegen sein Gefängniss". In der späten Schrift geht es ihm noch stärker als im Zarathustra darum, „die Härte des Hammers" (in der Verbindung mit der „Lust selbst am Vernichten") herauszustellen.98 In maßloser Selbstübersteigerung versteht Nietzsche sich selbst als „ein Schicksal", das mit der .frohen Botschaft' des uneingeschränkten Ja-sagens zugleich auch Verhängnis ist. Er erfährt sich selber als abgegrenzt vom „ganzen Rest der Menschheit", insofern er „mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt". Er prophezeit „einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Tal, wie dergleichen nie geträumt worden ist". Politik werde „gänzlich in einen Geisterkrieg" aufgehen. Erst von ihm, von Nietzsche, an gebe es „auf Erden grosse Politik".99 1873, 19[314); KGW III 4, 103. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1873, 27[46]; KGW III 4, 210f. - Zu Nietzsches mehrschichtiger Auseinandersetzung mit Rousseaus Zivilisationskritik sei hier auf zwei jüngere Untersuchungen verwiesen: K. Ansell-Pearson, Nietzsche contra Rousseau. A study of Nietzsche's moral and political thought. Cambridge 1991. - U. Marti,, Der grosse Pöbel- und Sklavenaufstand'. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie. Stuttgart/Weimar 1993, hier insbes. 2 6 - 4 4 . 96 97 91 99

Nachlaß a.a.O., 16[10]; KGW VIII 3, 281f. Vgl. S. 156f. Ecce homo, Zarathustra 8; KGW VI 3, 346f. Ecce homo Schicksal, 1 und 7 ; KGW VI 3 364, 371; vgl. Nachlaß Dezember 1888-Anfang Januar 1889, 26[6] 1; KGW VIII 3, 453f.

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Im „Todkrieg", den er „dem Hause Hohenzollern" ansagt, will er „das Reich in ein ehernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungskampf herausfordern".100 Im wesentlichen aber richtet er sich nicht gegen „die fluchwürdige Interessen-Politik europäischer Dynastien", so sehr er sie perhorresziert, auch will er nicht den „Krieg zwischen Volk und Volk". Er denkt an einen Krieg „wie zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben". Und insofern letztere sich vorwiegend im Christentum repräsentieren soll, will Nietzsche den Todkrieg gegen das christliche „Laster" führen. Er macht das Christentum für die zweitausendjährige ,Behandlung' der Menschheit „mit physiologischem Widersinn" verantwortlich, die zum „Verfall" der Instinkte geführt habe.101 Nietzsches letztes Schaffensjahr wird von einer gesteigerten Unruhe und Ungeduld der schriftstellerischen Produktion bestimmt; die Neigung zur Vergröberung der erörterten Sachverhalte wächst; der Wille zur Umwertung als zu einer grundlegenden Tat drängt nach vorn. Wie sich zeigte, erfährt Nietzsches Selbsteinschätzung eine äußerste Entgrenzung; der Anspruch auf Rang und Wirkung seines Werkes tritt immer maßloser auf. Aber noch wenn sich sein Denken zuletzt in wahnhafte Äußerungen verhüllt, so entzieht es sich doch den Fragen nach deren philosophischem Sinn nicht gänzlich.102

100

Nachlaß Dezember 1888-Anfang Januar 1889, 25[13]; KGW VIII 3 , 4 5 7 . - Vgl. die teilweise wörtlich mit dieser Niederschrift übereinstimmende Ausführung in Nietzsches Brief an F. Overbeck vom 2 6 . 1 2 . 1 8 8 8 , in welchem es heißt, er „arbeite eben an einem Promemoria für die europäischen Höfe zum Zwecke einer antideutschen Liga" (Nr. 1212; KGB III 5, 551).

101

Nachlaß Dezember 1888-Januar 1889, 25[1]; KGW VIII 3, 451f. - Noch die letzten Aufzeichnungen Nietzsches erheben die Fragen nach der Gesundheit in einem weitgefaßten Sinn zu Aufgaben höchsten Ranges. Von einer „Gesundheitslehre des Lebens" hat er z.B. schon in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung gehandelt (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben 10; KGW III 1, 326f.; vgl. dazu Über das Werden das Urteilen, das Ja-Sagen, Nietzsche-Interpretationen I, 269ff.) Die Erörterung von diätetischen Fragen durchziehen sein ganzes Werk. Für sie sei auf die medizinhistorische Untersuchung von P. D. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, Würzburg 1988, hingewiesen. Volz macht auch auf die Desiderate aufmerksam, welche sich aus dem gegenwärtigen Forschungsstand ergeben (a.a.O., 3 0 6 - 3 1 0 ) .

102

K. Jaspers hat im Blick auf Nietzsches Briefe und Aufzeichnungen in den Tagen vom 2 7 . 1 2 . 1 8 8 8 an „von wechselnden, zerfallenden und doch geistig durchdrungenen, darum ergreifenden Wahninhalten" gesprochen (Nietzsche. Einführung in das Ver-

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Mit der Verengung von Nietzsches Problemsicht wird das Verhältnis von Lebensaufgang zu Lebensniedergang, das in seinem gesamten Werk präsent ist, zu einem unbedingten Antagonismus radikalisiert. Zwischenbestimmungen spielen in solchen Ausführungen keine Rolle mehr. Die nahezu gleichzeitige Darstellung der positiven Bedeutung, die er den .Mittleren' oder auch den .Mittelmäßigen' innerhalb von Herrschaftsgebilden zuspricht, tritt gänzlich zurück, wenn er den Krieg der .Gesunden' gegen die .Kranken' heraufbeschwört. Auch die Ausprägung von Ganzheiten, sonst als Bedingung für das Entstehen, das Wachsen wie das Kämpfen und das Absterben lebendiger Gebilde herausgestellt, bleibt dabei der als nunmehr fundamental aufgefaßten Polarisierung untergeordnet. Das zeigen Nietzsches Hinweise darauf, wo die Kampflinie des von ihm geforderten (Geistes-)Krieges verlaufen soll. „Ich bringe den Krieg quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung", heißt es. Mit dem Schnitt quer durch die beständnis seines Philosophierens, 2 1947,92). - Der Ausbruch von Nietzsches Geisteskrankheit gehört in den Zusammenhang von Nietzsches Lebensgeschichte. Die philosophische Interpretation seiner letzten - eindeutig im Zeichen der Krankheit stehenden - Aufzeichnungen und Briefen wird den Hinweis von Jaspers zu beachten haben, das alles Geschaffene auf seinen Gehalt hin zu befragen ist, um verstanden und beurteilt werden zu können. Generell gilt ihm zufolge: „die Kausalität, unter deren Einfluß etwas entsteht, besagt nichts über den Wert des Entstandenen" (a.a.O., 101). Er verweist auch auf die Verwirrungen, welche daraus entstanden sind, daß Nietzsches „Ende in Geisteskrankheit [...] rückwärts seine Schatten" geworfen hat, etwa in der Auffassung, „Vorboten der späteren Erkrankung" seien schon lange vor dem Zusammenbruch sichtbar. Grundsätzlich besteht die Gefahr, daß eine unangemessene Anwendung pathographischer Betrachtung „die Größe einer Schöpfung und eines Menschen [...] verdunkeln" kann (a.a.O., 93.102). - Die Hintergründigkeit von Nietzsches .Wahnzetteln' verlockt zu Spekulationen über ihren eigentlichen Sinn. Als Beispiel hierfür sei auf Heideggers Deutung des Briefes verwiesen, den Nietzsche am 4.1.1889 an G. Brandes geschrieben hat (KGB Nr. 1243; KGW III 5, 573; Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954,22ff.) - Jaspers schreibt unter Hinweis auf seine Abhandlung über Strindberg und van Gogh (Berlin 21926) zum Grundsätzlichen: Wenn man ein empirisches Wissen davon gewönne, daß Einzigartiges und Unersetzliches „nicht ohne Krankheit entstanden wäre", so gäbe das „eine erschütternde Kunde von Wirklichkeiten des Geistes in der Welt". - Daß der Geist, welcher vom normalen Verständnis abweicht oder es in der angedeuteten Weise transzendiert, der .Wirklichkeit' oder der .Wahrheit' näher kommen könnte als unsere .Normalität', ist Nietzsches eigene Auffassung, die er im Blick auf die lange Geschichte der Einverleibung unserer .Grundirrtümer' gewonnen hat (vgl. dazu Freiheit und Wille, Abschnitt 7, oben S. 5Iff.).

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

stehenden Organisationen und Institutionen hindurch werden die Menschen zwei entgegengesetzten,Lagern' zugeordnet. Nietzsches Tatwille zur großen Politik artikuliert sich in der Vorstellung einer „Partei des Lebens", die der lebensfeindlichen (angeblich vor allem christlich inspirierten) .Partei' gegenübergestellt wird und die diese besiegen soll. Da „alle .höheren Stände' Partei für die Lüge" nehmen, sucht Nietzsche nach seinen „natürlichen Verbündeten" und findet sie in den Soldaten und in den jüdischen Banquiers. Im Blick auf die Offiziere heißt es, „mit militärischen Instinkten im Leibe kann man kein Christ sein"; im Blick auf die jüdischen Banquiers wird auf die von ihm angestrebte Internationalität angespielt, die gegen nationalistische Interessenpolitik steht.103 Mit der zuletzt dargestellten (gewissermaßen: manichäischen) Entgegensetzung der beiden .Kriegsmächte' scheint Nietzsche die Grenzen, die er, ausgehend vom .Leitfaden des Leibes', für die Lebensfähigkeit .organischer Gebilde' gesetzt gesehen hatte, zu überschreiten. Wir haben oben dargestellt, daß nach seinem Verständnis Völker und Staaten die letzten, d.h. die äußersten Bildungen gesellschaftlicher .Organismen' darstellen. Ihre Komplexität zieht freilich ihre .Unvollkommenheit' nach sich und befördert zugleich ihr Zugrundegehen.104 Demgemäß hatte Nietzsche schon 1876 in der Ausweitung territorialer Macht die Wurzel künftigen Zerfalls auch staatlicher Gebilde gefunden: „die Großstaaten verschlingen die Kleinstaaten, der Monstrestaat verschlingt den Großstaat - und der Monstrestaat platzt auseinander, weil ihm der Gurt fehlt, der seinen Leib umspannte: die Feindseligkeit der Nachbarn".105 Die Machtausdehnung eines Gebildes kann zu 103

Nachlaß Dezember 1888-Januar 1889, 25[1], [11]; KGW VIII 3, 452f., 456. Ideengeschichtlich kann man, wie es E. Nolte getan hat, solchen „Internationalismus" dem marxistischen Internationalismus entgegensetzen (Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt a.M. 1 9 9 0 , 7 3 - 8 2 , hier: 82). Nolte kann insbesondere die letzten Aufzeichnungen Nietzsches für seine These heranziehen, dieser sei „nicht nur der Prophet des künftigen .Weltbürgerkrieges'", sondern mit seinem „Aufruf zur Parteibildung" und mit dem Willen, „in eigener Person der Führer dieser Partei zu sein", eine Art von .Täter'. Rufe er doch „nach Vernichtung und Ausmerzung (die Gegen-Vernichtung und Gegen-Ausmerzung sein sollen)" (a.a.O., 193). Nietzsches (zum Teil wahnhafte) Übersteigerungen der Möglichkeiten des Menschen nach dem Tode Gottes sollen nicht verharmlost werden, wenn darauf hingewiesen wird, daß sein inflationärer Gebrauch des Wortes Vernichtung es nicht gestattet, ihn hier beim Wort zu nehmen.

104

Vgl. oben Abschnitt 5. S. 153f. Nachlaß Oktober-Dezember 1876, 19[60]; KGW IV 2, 440.

105

Erster Teil: Das Ganze als Chaos und das Chaos im Menschen

171

einem Zustand führen, in welchem seine Organisiertheit aufgehoben wird. Der,Zwang zur Zucht', den diese ausgebildet hat, kann infolge des Mangels an Feinden und infolge der Erleichterung der Lebensbedingungen nachlassen. Schließlich zerfällt das Gebilde. 106 Nun hat Nietzsche jedoch auch frühzeitig gesehen, daß sich im industriellen Zeitalter die Bedingungen für die Organisation gesellschaftlicher Ganzheiten verändern. Die Möglichkeiten von Organisation und Kommunikation, welche die moderne Technik freigibt, gestatten den Aufbau erweiterter und vielleicht auch stabilerer Machtstrukturen als bisher. Die These vom unvermeidlichen Zerfall der sich immer weiter ausdehnenden staatlichen Gebilde wird unter den veränderten technisch-ökonomischen Voraussetzungen fraglich. Im Blick auf die enger zusammenrückende Menschheit stellen sich den großen Organisatoren neue Aufgaben. Nietzsche beschreibt 1885, wie sich in großen Menschen seines Jahrhunderts eine „neue Synthesis" vorbereitet hat, die „versuchsweise ,den Europäer' der Zukunft" vorwegnimmt. „Solchen Geistern" stehe „als Bedürfniß nach einer neuen Einheit oder bereits als eine neue Einheit mit neuen Bedürfnissen [...] eine große wirtschaftliche Thatsache erklärend zur Seite": die Staaten Europas, welche einschließlich der .„Reiche'" allesamt „Kleinstaaten" sind, „müssen bei dem unbedingten Drange [...] nach Weltverkehr und Welthandel [,] in kurzer Zeit wirthschaftlich unhaltbar werden". Es geht in der herangezogenen Aufzeichnung nämlich um die weiterführenden „Aussichten", mit welchen Europa „in den Kampf um die Regierung der Erde" eintreten kann, der sich gegen Amerika richten muß. Schon „das Geld allein" zwinge Europa, „irgendwann sich zu Einer Macht zusammen zu ballen". Heute müsse man „vorerst Soldat sein, um als Kaufmann nicht seinen Kredit zu verlieren". Nietzsche sieht „das nächste Jahrhundert in den Fußtapfen Napoleons". 107

106 107

Vgl. dazu Jenseits von Gut und Böse 262: KGW VI 2, 224f. Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[9]; KGW VII 3, 309f. - In Jenseits von Gut und Böse 208 bleiben bei der Ausführung über „den Kampf um die Erd-Herrschaft" und den y¿Zwang zur grossen Politik" die ökonomischen Aspekte gänzlich ausgeklammert. Nietzsche hofft hier darauf, daß die seit langem sich aufspeichernde Kraft Russlands („wo Europa gleichsam nach Asien zurückfließt"), sich zu einer „Bedrohlichkeit" steigert, die Europa dazu nötigt, „gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich Einen Willen zu bekommen". Dieser könnte nur der Wille einer „neuen über Europa herrschenden Kaste" sein. Hier denkt Nietzsche allein in Kategorien der „physiologischen Beschaffenheit" der Völker. (KGW VI 2, 143f.).

172

Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Mit der „Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden" kommen jedenfalls neue und „günstige Bedingungen für umfänglichere Herrschaftsgebilde" herauf, „deren Gleichen es noch nicht gegeben hat". Aus jenen Verbänden soll nach Nietzsches Vorstellungen „eine Herren-Rasse" heraufgezüchtet werden können, welche „die zukünftigen .Herren der Erde'" bilden werden. Wenn Nietzsche bei den .Herren der Erde' an „philosophische[r] Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen" denkt, die „am .Menschen' selbst als Künstler" gestalten sollen, so tritt seine Vermischung von biologischen und künstlerischen Gestaltungsvorstellungen einmal mehr zutage.108 .Gezüchtet' werden soll von den Herren der Erde zuletzt „die Menschheit als Ganzes und Höheres".109 Man wird diese Rede vom Ganzen nicht wörtlich nehmen dürfen. Und zwar nicht nur deshalb, weil Nietzsche früher, orientiert am (an physiologischen Einsichten erhärteten) Ganzheits-Modell, ausgeschlossen hatte, daß die Menschheit ein Ganzes bilden könne.110 Sie steht im Widerspruch auch zu seinen diesbezüglichen späten Äußerungen, in denen sich ursprüngliche Einsichten durchhalten. Noch im Frühjahr 1888 wendet er sich deshalb gegen den Glauben an das Wachstum der „Menschheit als Ganzes", ist „Menschheit" für ihn in Übereinstimmung mit seinen bisherigen (sachlich begründeten) Auffassungen „ein Abstraktum". 111 Als .Ganzes' ist sie nur die .Gesamtheit' von Vielen, wie das Weltall das .Gesamte' von zahllosen sich wandelnden Ganzheiten für Nietzsche darstellt. Jene Gesamtheit kann einer künftigen Erdherrschaft unterworfen werden, die .Ordnungen' stiftet, ohne daß daraus ein .Organismus' wird. Diese ist 108

Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[57]; KGW VIII 1. 85f. - Zum künstlerischen Formungsprinzip vgl. die Hinweise auf Also sprach Zarathustra o. S. 156ff. und, bezogen auf Staatengründung, auf Zur Genealogie der Moral o. S. 158f. - Zur Weite von Nietzsches Begriff von Züchtung vgl. im folgenden Abschnitt 15, insbes. 222f., Anm. 252.

109

Nachlaß Dezember 1888-Anfang Januar 1889, 25[1]; KGW VIII 3, 452. - „[...] wozu soll .der Mensch' als Ganzes - und nicht mehr ein Volk, eine Rasse gezogen und gezüchtet werden?", fragt Nietzsche schon Jahre zuvor (vgl. Nachlaß Juni-Juli 1885, 37[8]; KGW VII 3. 307).

110

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11(222]; KGW V 2, 425. - 1881 hatte er sich gegen zeitgenössische philosophische Denkversuche gewandt, „die Menschheit in Einen Organism zu verwandeln"; er hat ihnen seine „Tendenz" entgegengesetzt, möglichst viele wechselnde, verschiedenartige Organismen" gebildet zu sehen. Vgl. auch oben Abschnitt 5. S. 153f. Nachlaß, 15[65]; KGW VIII 3, 244.

,u

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

173

sogar durch die enger gewordene Verbindung der Völker und Staaten zur unausweichlichen Aufgabe der Menschen geworden. Die Annahme einer weltordnenden Instanz .oberhalb' der Menschheit ist Nietzsche zufolge nur eine Illusion gewesen, die inzwischen zerstört ist; deshalb soll „die zukünftige Herrscher-Kaste [...] nun Gott ersetzen".112 Allein die Notwendigkeit einer globalen Verwaltung des .Gesamten' aller Menschen (die durchaus den .Organismen' von Völkern, Staaten, Gesellschaften usw. ihren je besonderen Spielraum lassen könnte oder müßte) zieht mit den technisch-ökonomischen .Fortschritten' herauf. Nietzsche hat sich mit deren Konsequenzen von 1887 an besonders intensiv auseinandergesetzt, wie im Zweiten Teil dieser Abhandlung zu zeigen sein wird.

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie*

8. Die Ökonomie in Natur und Gesellschaft. Nietzsche und Emanuel Herrmann In Morgenröthe hat Nietzsche gegen sein Zeitalter gewettert, das „niedere, mässige und durchaus nicht unentbehrliche Ziele" als das Wesentliche alles Tuns und Trachtens ansieht. „Alle politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten." Jene Ziele sollten nicht „mit den höchsten Mitteln und Werkzeugen" erstrebt werden, „die es überhauptgiebt, - den Mitteln, die man eben für die höchsten und seltensten Zwecke sich aufzusparen hätte! Unser Zeitalter, so viel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender; es verschwendet das Kostbarste, den Geist."113 Noch in dieser Kritik an der zeitgenössischen Ökonomie denkt Nietzsche ökono1.2

1.3

Nachlaß August-September 1885, 39[3]; KGW VII 3, 350. Hubert Treiber hat die Entstehung des Zweiten Teils dieser Untersuchung mit kritischem Rat begleitet. Ich verdanke ihm viele Anregungen und mannigfache Literaturhinweise. Die von ihm in freundschaftlicher Kollegialität angestellten Recherchen zu Emanuel Herrmann waren eine große Hilfe für meine Arbeit. Morgenröthe 179; KGW V 1, 157f.

174

Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

misch, insofern er vor der Verschwendung des Geistes warnt. Zuvor schon hatte er kritisiert, daß das Studium von „Oekonomik und Politik" in Europa, besonders in Deutschland sich allein an „Uebergangs- und Ausgangsstadien" orientiere. Man müsse „über das thatsächlich Bestehende" zurückgehen, um „die anfänglichen und normalen Bewegungen des gesellschaftlichen Körpers" wahrzunehmen, was, wie er damals meint, durch den Blick auf das gegenwärtige Nordamerika möglich sei (wenn man nicht „schwierige historische Studien" treiben wolle).114 Nietzsches Forderung an die Ökonomie, ursprünglichere Zusammenhänge sichtbar zu machen, entspricht schon in seiner »aufklärerischen Phase' ein weites Verständnis der Anwendung .wirtschaftlichen Denkens'. Er stellt Überlegungen dazu an, wie die Ablösung der Dominanz des religiösen durch das wissenschaftliche Denken für das allgemeine Verständnis zu vollziehen sei. Ein „Sprung" ist hier zu gewaltsam und gefährlich; ihm ist zu „widerrathen". Es bedürfe vielmehr „in der geistigen Oekonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise". Dazu empfiehlt er die Nutzung der Kunst, welche den religiösen Vorstellungen, die aus „Irrthümern der Vernunft" herrühren (und zuletzt geschwächt und ausgerottet werden sollen und können). Sie könne „das mit Empfindungen überladene Gemüth" wirksamer erleichtern als „eine metaphysische Philosophie", die jene Vorstellungen noch auf ihre Weise unterhält. 115 Nietzsche findet zwar auch Elemente einer .natürlichen' „Oekonomie der Menschheit". Diese bedürfen jedoch der Kultivierung. Er ist dabei oft zeitgenössischen Vorurteilen verhaftet. So führt er „die geringere Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlechtliche Kühle" höherer Geister und Klassen an: die Vernunft erkenne, „dass bei einem äussersten Puñete der geistigen Entwickelung die Gefahr einer nervösen Nachkommenschaft sehr gross" sei und verfahre dementsprechend. 116 Schon in Menschliches, Allzumenschliches sieht Nietzsche die Möglichkeit eines Fortschritts darin, daß „die Menschen mit Bewusstsein beschliessen" 114 115

116

Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 287; KGW IV 3 320. Menschliches, Allzumenschliches 127; KGW IV 2,44. - Angesichts der „Kürze des menschlichen Lebens" wird die Frage der Uberleitung des religiösen in das wissenschaftliche Weltverständnis zum Problem der Ökonomie des Individuums (vgl. Nachlaß September 1876, 38[11] ; KGW IV 2, 412f.). Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 197; KGW IV 3, 278. - Zu Nietzsche ökonomischen „Lebensstrategien" sei hier auf Elke-Α. Wachendorff, Friedrich Nietzsches Strategien der ,Noth-Wendigkeit', Frankfurt a.M. 1998, 2 3 8 - 2 7 3 , verwiesen.

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

175

können, „sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung und Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegeneinander abwägen und einsetzen". 117 1 8 7 6 hat Nietzsche Überlegungen zu einer künftigen „Ökonomie der Erde" angestellt. Dabei hebt er die wachsende Bedeutung des Handelsstandes hervor und bezieht sich auf die geographische .Vernetzung' durch „Télégraphié" und andere industrielle Erfindungen. „In einigen Jahrhunderten" könnten die Völker der Erde auf eine Weise zusammengefügt worden sein, daß ihre Kommunikation durch eine Sprache erfolgen werde. Auch in diesem Zusammenhang stellt er die ihn fortan immer wieder beschäftigende Frage: „Ganz neue Bedingungen für den Menschen, sogar für ein höheres Wesen?" 118 Von hier aus springen wir in Nietzsches letzte Schaffensjahre. In ihnen gewinnt die ökonomische Betrachtungsweise eine noch wesentlichere Bedeutung für Nietzsche, als sich schon im Vorstehenden angezeigt hat. Dabei spielen Anregungen eine sehr große Rolle, die er aus der Lektüre des 1 8 8 7 erschienenen Buches Cultur und Natur von Emanuel Herrmann gewonnen hat. 119 In den 14 Studien, die es enthält, wird ,das Wirtschaftli

1,7 118

119

Menschliches, Allzumenschliches I 24; KGW IV 2, 41. Nachlaß Oktober-Dezember 1876, 19[79]; KGW IV 2, 445. - Zeitgenössische Vorstellungen fließen hier in den Ökonomie-Gedanken ein, die Nietzsche später neu überdenken wird: „Aussterbenlassen von schlechten Racen, Züchtung besserer". Dabei könne es „der Handelsstand" sein, „welcher ein völliges Zurücksinken in die Barbarei verhindert". (Ebd.) E. Herrmann, Cultur und Natur. Studien im Gebiete der Wirthschaft, Berlin 1887. Das Buch des Nationalökonomen wird im folgenden unter der Sigle CN zitiert nach der unveränderten zweite Auflage, die im gleichen Jahr erschienen ist und von der sich ein Exemplar in Nietzsches nachgelassener Bibliothek befindet. Es weist zahlreiche Anstreichungen und auch Marginalien auf (letztere sind z.Tl. bei der Buchbindung beschädigt worden und teilweise nicht mehr leserlich). Da es uns in dieser Abhandlung um die Rezeption Herrmanns durch Nietzsche geht, wird allein dieses Buch herangezogen (das einzige, das er von Herrmann gelesen hat), mit einer Ausnahme: Herrmanns letztes Buch Das Geheintniß der Macht von 1896. Dieser zieht hier Konsequenzen, die in CN zwar angedeutet aber nicht eindeutig gezogen worden sind. In deren Gegenüberstellung mit Nietzsches Auffassung des Organischen (im Exkurs 1.4, im Anhang zu dieser Abhandlung, unten S. 357-368) können Gemeinsamkeiten und vor allem grundlegende Gegensätze zwischen den

176

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

che' als fundamentale Dimension allen Lebens und zugleich in seiner entscheidenden Bedeutung für die Zukunft der Menschheit herausgestellt. Schon die Uberschriften der ersten beiden Studien des Buches: ,J)ie Erlösung vom Zufalle"' und ,JDie Machtmittel des Beherrschers der Erde"110 haben Nietzsche zweifellos besonders angesprochen, wenn er auf diese Begriffe und auf verwandte Themen in der zeitgenössischen Literatur auch andernorts getroffen war. Auf sein lebhaftestes Interesse mußte die fünfte Studie des Buches unter der Überschrift ,£)as Gesetz der Vermehrung der Kraft" stoßen; seine Anstreichungen und Marginalien bezeugen das auch. 121 Dies kann beiden Denkern besonders deutlich herausgestellt werden. - Zu Herrmanns Leben und Schriften s. Exkurs 1.1 unten S. 3520-353. In den Heften W II 1 und W II 2, welche Nachlaßaufzeichnungen Nietzsches vom Herbst 1887 enthalten, finden sich Exzerpte aus Cultur und Natur, Notate zu Gedanken aus ihm und kritische Auseinandersetzungen mit ihm. Schon M. Montinari hat auf Nietzsches Herrmann-Bezüge in den Aufzeichnungen 9[151]; KGW VIII 2, 88, und vor allem unter 10[13-16], KGW VIII 2, 127-129, hingewiesen (vgl. KSA14,742 und 744). In beiden Heften gibt es weitere deutliche Spuren von Nietzsches Beschäftigung mit CN. - In Heft W II 1 verdient die Aufzeichnung 9[174]; KGW VIII 2, 103 besondere Beachtung (vgl. dazu unten Anm. 121). In seinen Aufzeichnungen in Heft W II 2 verbindet Nietzsche die neu angeregte ökonomische Sichtweise zuerst mit Fragen nach der Rechtfertigung der Moral (in 10[8, 10, 11]; KGW VIII 2, 124 ff) und im moralkritischen Sinne (in 10[13]; KGW VIII 2, 127). Wichtiger als die aufgeführten Notate sind Nietzsches Auseinandersetzungen mit Thesen Herrmanns im Nachlaß a.a.O., 10[17] und 10[138]; KGW VIII 2,128f. und 201f. Auch spätere Aufzeichnungen in Heft W II 2 enthalten Elemente, in denen die Herrmann-Lektüre nachklingt. Die Aufzeichnung über Kultur und Zufall in 10[21]; KGW VIII 2, 132f. geht von Herrmanns Ausführungen über den Zufall aus; Nietzsches besonderes Interesse am ,Kultur-Komplex' wird in 10[27,28] zweifellos nicht ohne gedanklichen Bezug auf Herrmann genannt, und die (ökonomische) Frage nach den „Unkosten jedes großen Wachsthums" bei der „Verschiebung des Schwergewichts einer Cultur" im Zeichen der „Einsicht in die Zunahme der Gesamt-Macht" wird in 10[30]; KGW VIII 2, 137, 136 aufgeworfen. - Übrigens hat Nietzsche auch Passagen aus CN exzerpiert, die keine Markierungen in seinem Handexemplar aufweisen; man darf also nicht schließen, nur das von ihm Markierte sei ihm besonders wichtig gewesen. 120

121

Vgl. zur ersten Überschrift in Also sprach Zarathustra II das Kapitel Von der Erlösung; KGW VI 1, 173-178. Ferner: Nachlaß Herbst 1883,20[10]; KGW VII 1, 627. Vgl. auch die Aufzeichnung Nietzsches über „die Vermehrung der Kraft", Nachlaß Herbst 1887, 9[174]; KGW VIII2,103. Er hat hier Gesichtspunkte seiner Lektüre des Buches, nicht nur zur 5. Studie, zusammengestellt. Sie zeigen die Grundlinie

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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angesichts der thematischen Nähe des Titels zur Problematik der Machtsteigerung nicht überraschen. Was Nietzsche zweifellos besonders beeindruckte, war der Versuch Herrmanns, in der reinen Ökonomie einen tieferen Zusammenhang zwischen den sonst getrennt behandelten Gebieten von Natur und Kultur aufzuweisen. 122 Er sah sich hier mit einer Sicht des Zusammenhangs allen Geschehens konfrontiert, die sich mit seinen eigenen Darstellungen der Willen-zur-Macht-Prozesse in mancher Hinsicht zusammenfügen ließ oder sie sogar ergänzte. Gewissermaßen als Probe für die umfassende Tauglichkeit der .reinen Ökonomie' hat er, sich dabei schon von Herrmanns Erörterungen lösend, eine „ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale" und eine „ökonomische Abschätzung der Tugend" vollzogen. 123 Am Ende des Kapitels „Technik und Ökonomik" hat er den Satz Herrmanns unterstrichen: „So bildet der ganze Lebensprozeß dieser Erde eine ungetheilte, ununterbrochene Einheit, nach den wirtschaftlichen Grundsätzen: nach und nach und ein für allemal."124 seines Interesses, das sich nicht beim Detail aufhält. Die „Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung", und der Aspekt der Unterjochung der Natur, die zum „Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik" (seil, wie sie Herrmann vorstellt) gemacht werden soll, stehen am Anfang der Notizen. Sozial relevante Gesichtspunkte, bei deren Herausstellung Nietzsche die Denkrichtung Herrmanns verläßt, welche ihm aber für sein Verständnis einer .Zukunftsökonomik' noch wichtiger sind, schließen sich an: Erhaltung der Schwachen als Arbeitskräfte, die Erhaltung einer „Gesinnung, bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist", sowie die Bildung des Instinkts von Solidarität, welcher „Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des .großen Menschen"' bedeutet. Nietzsche ist mit der zuletzt genannten Pointierung schon in eine Auseinandersetzung mit Herrmann eingetreten, die eingehender aber erst in Niederschriften des Heftes W II 2 erfolgt. S. dazu im folgenden bes. die Abschnitte 11 bis 13. 122

123 124

CN VIII, V. - Zur aktuellen Diskussion der Aufhebung dieser Trennung sei verwiesen auf Karl-Heinz Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 1998, insbes. Teil 4, 125ff. Brodbeck bezieht sich auf Nietzsche und Heideggers Nietzsche-Deutung, nicht aber auf Herrmann. Nachlaß Herbst 1887, 10[10, 11]; KGW VIII 2, 125f. - Vgl. dazu oben S. 160f. CN 272. - Eine Erläuterung dieser beiden - bewußt einfach - formulierten Grundsätze führt Herrmann am Beispiel der Ökonomie der Pflanze durch. Das Nach und Nach besteht in Vorgängen von Sammlung und Umwandlung von Nutzbarem als Vorbereitung zur späteren eigenen Entfaltung. Die Pflanze gewinnt

178

Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Die fundamentale Bedeutung des Ökonomischen in den Naturvorgängen zeigt Herrmann an einer Vielzahl von Beispielen auf. Überall müssen Kosten (Nachteile, Opfer, sogar Schäden) in Kauf genommen werden, um Vorteile zu erlangen. Die Aufspeicherung von Kraft, „z.B. durch die Regentropfen, die sich zum Bache vereinigen, maß Zeit verloren gehen" lassen. „Um Raum zu sparen, ist ein Zusammenschichten, z.B. der Knospen-Bestandtheile nothwendig, damit geht aber Kraft zu Grunde. Stoff sammelt sich nur durch Kraftaufwand an, bedarf aber zu seiner Bereithaltung des Raumes und der Zeit." 125 Herrmann geht also in seiner Deutung selbst .einfachster' Vorgänge sowohl hinter das Erklärungsmuster von »Druck und Stoß' als auch hinter das von teleologischen Deutungmustern zurück. Darin, wie auch in der Hervorhebung von Speicherungsvorgängen von Kraft, mußte Nietzsche einen seinen Überlegungen verwandten Denkansatz entdecken. Aber auch die kritische Rezeption des Darwinismus durch Herrmann konnte ihn ansprechen. Unter dem (von den oben genannten Grundsätzen natürlich nicht zu trennenden) Gesichtspunkt des Gegeneinanders der Lebewesen (z.B. dem der Variation unter Selektionsdruck) gewinnt die Ökonomik noch an Bedeutung für die Naturvorgänge. Sie übt im „unbewußte[n] Schaffen" der Natur „unbarmherzig ihre Correctur und vernichtet das,

125

Feuchtigkeit aus dem Boden und destilliert sie in ihren Gefäßen, um aus ihr unter dem Lichteinfluß am Tage das Assimilierbare „nach und nach" in Nahrungsstoffe zu verwandeln, welches „Capital an Lebenskräften" sie im Dunkel der Nacht „gleichzeitig als Baustoff zu verwerthen" vermag. Schon im Herbst angelegt, können im Frühjahr die Knospen plötzlich aufbrechen. Das Plötzliche dieses Aufbrechens bringt Herrmann unter das (die beiden genannten Grundsätze ergänzende) Prinzip des In einem zugleich. Die Pflanze vermag so „die seltenen, günstigen Momente auszunützen, denn sie war vorbereitet, sie ist Kapitalist". (CN 263f. - Nietzsche hat die letzten Worte des zitierten Satzes unterstrichen.) Unter dem Begriff des Ein für allemal versteht Herrmann die durch Vererbung gesicherte Kontinuität von biologisch-ökonomischen Umbildungsprozessen, die bis in die Vorwelt zurückweist. Im Embryo wiederholt sich „die Vorgeschichte nicht nur der einen Art, sondern des ganzen Stammes". So ist „unser eignes Leben [...] das Resultat der wirtschaftlichen Vorarbeit der Natur von Millionen Jahren, aber nicht nur in jenem Thierstamme, aus welchem wir unmittelbar hervorgegangen, sondern in allen Thier- und Pflanzenstämmen, weil diese ja stets auf einander wechselseitig eingewirkt und so erst die letzten, edelsten Formen vorbereitet haben". (CN 264. - Nietzsche hat diesen Satz in seinem Exemplar durch Randstrich hervorgehoben.) CN 262. - Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen Herrmanns zur individuell verschiedenen ökonomischen Werthaftigkeit von Zeit, Raum, Kraft und Stoff a.a.O., 88ff.

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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was technisch noch so zweckmäßig wäre, sobald es ökonomisch unhaltbar geworden".126 .Unhaltbar' wird die Existenz eines Organismus, wenn er im Kampf mit anderen nicht zu bestehen vermag. Denn „bei aller Nothwendigkeit der Folgeketten herrscht in der Natur doch freie Concurrenz der Bestandtheile alles Organischen". Wenn Herrmann ausführt, daß „jedes Blutkörperchen [...] mit dem anderen" konkurriert, „jedes Protoplasmaklümpchen mit seinen Genossen im Knorpel, Muskel, Fleische",127 so spricht er naturwissenschaftliche Zusammenhänge an, die Nietzsche seit seiner Lektüre von Wilhelm Roux' Der Kampf der Teile im Organismus (1881) beschäftigt hatten und ihm wichtig geworden waren. Roux' mechanistische Erklärung dieses Kampfes hatte ihn ebensowenig überzeugen können wie teleologische Deutungsversuche, gegen die auch dieser sich gewandt hatte. An die Stelle der Prozesse funktioneller Anpassung, die Roux mit den Bestimmungen der Uberkompensation des Verbrauchs und Selbstregulation beschrieben hatte, war 1884 von Nietzsche „der Wille zur Macht in den Funktionen des Organischen" gerückt worden.128 Diese Deutung hatte Nietzsche 1887 auf seine Weise schon lange ausgearbeitet und vertieft. In der fünften Studie des Buches von Herrmann stößt er auf die Beschreibung von Lebensvorgängen bei den Amöben, die dieser im Hinblick auf den ökonomischen Unterschied von Gewinn und Verlust bei den kleinsten Lebewesen vornimmt. Dazu finden wir wieder Unterstreichungen in Nietzsches Exemplar von Cultur und Natur. In einer Notiz Nietzsches aus dieser Zeit wird die „ursprüngliche [n] Tendenz des Protoplasma", „Pseudopodien" auszuschicken und um sich zu tasten, in das Verständnis eines Willens zur Macht eingetragen, der „in zwei Willen auseinander" tritt, wenn „die Einverleibung" des ihm Entgegenstehenden nicht gelingt.129

126 127 128

129

CN 260. CN 265. Nachlaß Sommer-Herbst 1884,26[272-277]; KGW VII 2 , 2 1 9 - 2 2 1 . - Vgl. Der Organismus als innerer Kampf, Nietzsche-Interpretationen I, insbes. 118ff. Nachlaß Herbst 1887, 9[151]; KGW VIII 2, 88. Vgl. auch a.a.O., 9[145]; KGW VIII 2, 84. - Die herangezogene Aufzeichnung dürfte, worauf auch die Wahl einiger Wörter deutet, durch Nietzsches Lektüre von Herrmann (a.a.O., CN 8 1 - 8 7 ) angeregt worden sein. Dies hat schon Montinari vermutet (vgl. KSA 14, 742).

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

In Herrmanns Konkurrenzprinzip traf er verwandte Züge mit seiner Deutung an.130 So hat er wohl mit Zustimmung gelesen, daß dieser schreibt: „Noch deutlicher" als bei den Zellen trete „die Concurrenz unter den organischen Individuen hervor, der Kampf um Nahrung, Licht, Feuchtigkeit, Wärme, Sicherheit, Liebes- und Lebensgenuß". Die Konkurrenz gewähre „dem Stärkern Bestand" und bringe „dem Schwächern Tod", woraus die „höchsten wirthschaftlichen Erfolge" der Natur resultierten.131 Auch in Herrmanns „Ökonomik der Sinne" fand er Erklärungen, die mit seinen auf die Machtkämpfe der Lebewesen zurückgehenden eigenen Deutungen zusammenstimmten. Die gemeinsame Wurzel der beiden Denker hierfür bildet ein konsequenter Evolutionismus. So schreibt Herrmann, daß uns die Sinne „grobe, rohe Gesammtbilder" liefern, die z.B. „eine rasche Warnung, eine momentane Auskundschaftung der Gesammt-Entwicklung" ermöglichen. Die „Detailgliederung ihrer Arbeit schreitet" entwicklungsgeschichtlich mit der „arbeitstheilige[n] Wirksamkeit des Menschen" voran, welche „specielle Unterscheidungen von den Sinnen erheischt". Wenn Herrmann die Fehlerquellen unseres Denkens" erörtert, so verweist er zugleich auf deren wirtschaftlichen Nutzen. Daß allein der Gesichtssinn uns über vieles ,informiert', das den anderen Sinnen unzugänglich bleibt, ist „in ökonomischem Sinne" kein „Mangel", sondern „nur ein Vortheil, denn wohin kämen wir mit so vielen und so detaillierten Wahrnehmungen?" Aber das Auge täuscht uns zugleich mit dem, was es uns darbietet. So zeigt es uns z.B. noch den „thierische[n] Körper als eine dauernde Erscheinung [...], während er doch nur ein aus Millionen sich stets verändernder Theilchen zusammengesetzter Prozeß und absolut nichts in den Theilen Feststehendes ist". Nietzsches ,Lehre' vom unablässigen und halt-losen Werden als ,Grundwirklichkeit' findet hierin eine .Entsprechung'. 132 130

131

132

Wie Nietzsche mit seiner Auffassung der .Wirksamkeit' des Willens zur Macht in allen Lebensfunktionen bietet auch Herrmann mit seiner reinen Ökonomie ein Deutungsmodell an, das hinter die mechanistischen und biologischen Erklärungsweisen des Naturgeschehens zurückgeht bzw. sich diese unterordnet. - Über Herrmanns Gegensatz zu Roux' Verständnis des .Kampfes der Teile' sei auf Exkurs 1.4.2 im Anhang zu dieser Abhandlung verwiesen (unten S. 360ff.). CN 265. - Nietzsche hat die zitierten Passagen am Seitenrand durch Striche hervorgehoben. CN 2 0 3 - 2 1 3 , hier: 210, 205f., 207f. (Nietzsche hat die Seiten der hier herangezogenen 10. Studie Herrmanns in seinem Exemplar mit vielen Randstrichen und Unterstreichungen sowie einer nicht mehr lesbaren Marginalie versehen.) „Auch der Geist ist nur ein Prozeß, gleich dem Bache oder Strome", schreibt

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Das Allgemeine der entwicklungsgeschichtlichen Deutung soll noch unter eine Besonderung der Herrmannschen Auffassung gebracht werden, die Nietzsche lebhaft beschäftigt hat. Im Zuge ihrer Entwicklung haben die organischen Wesen unterschiedliche Techniken ausgebildet, welche ihre je besonderen Lebensbedingungen ausmachen. Im Vergleich der Lebewesen werden nun niedere und höhere Formen unterschieden. Herrmann bemerkt hierzu, daß diese Unterscheidung „technisch nicht gerechtfertigt" ist, „denn jede Pflanze, jedes Thier entspricht seinen Aufgaben in möglichst vollkommener Weise, und der Flug z.B. des schwerfälligen Käfers ist für diesen kein weniger vollkommener, als das Schweben des leichten Schmetterlings für Schmetterlings-Lebensaufgaben. Die Unterscheidung zwischen niederen und höheren Existenzen ist vielmehr eine ökonomische·, denn die complicirteren Organismen vermögen mehr und vollkommenere Arbeit zu leisten; und die Vortheile, welche sie aus diesen Leistungen ziehen, sind so groß, daß dadurch selbst die wesentlich erhöhten Erhaltungs- und Schaffungskosten übertroffen werden." 133 Nietzsche hat diese Passage aus Cultur und Natur exzerpiert. 134 In solchem Hinausgehen über die zeitgenössischen

Herrmann. Daß wir die „complicirten Processe des Gehirns, welche die Steuerung und Regulirung des Großstaates, Menschenindividuum genannt, durchführen, als einheitliche Masse" ansehen, liegt daran, daß „sie zu fein sind, um von unseren Sinnen als Processe wahrgenommen zu werden". De facto haben wir es hier „nur mit einem Strome von Arbeit, nicht aber mit einer ständigen Ursache derselben zu thun". (A.a.O., 208,209). - Nietzsche hebt auf „die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene" ab, auf „die Oekonomie, die Accumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntniß (d.h. angeeigneter und handlich gemachter Welt)" (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[142]; KGW VIII 3, 118). - Zum oben angesprochenen Verständnis des Werdens bei Nietzsche vgl. die Abhandlung Uber ¿las Werden, das Urteilen, das Ja-sagett bei Nietzsche, Teil I, Nietzsche-Interpretationen I. - Zu Herrmanns Ausführung, „auch die Begriffe von Seele, Geist, Wille u.s.w. entsprangen dem Umstände, daß wir Alles das als einheitliche Erscheinung auffassen, dessen Veränderungen sich so rasch vollziehen, daß wir sie eben nicht sehen können" (CN 208), vgl. in diesem Band: Freiheit und Wille, bes. die Abschnitte 10 und 11, oben S. 67-75. Zur auch von Herrmann so genannten irrtümlichen „Gewohnheit, hinter Vorgängen stets einheitliche, ständige Ursachen zu suchen und sich vorzustellen" (CN 209), vgl. Abschnitt 9 der zuletzt genannten Abhandlung (oben S. 62-67). 133 134

CN 86. Nachlaß Herbst 1887, 10[16]; KGW VIII 2, 127f. - Das Exzerpt ist nicht wortgetreu. Nietzsche verknappt den Text und verschärft eine Formulierung Herrmanns (statt „technisch nicht gerechtfertigt", schreibt er: technisch

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

naturwissenschaftlichen Deutungen der Lebensvorgänge findet er sein Verständnis des Machtgeschehens in der Natur bestätigt. So bezieht er sich auf Herrmann (und indirekt auf dessen,Gewährsleute'), wenn er „Spott über den falschen altruism' bei den Biologen" ausgießt: „die Fortpflanzung bei den Amöben erscheint als Abwerfen des Ballasts, als purer Vortheil. Die Ausstoßung der unbrauchbaren Stoffe." Mit der ökonomischen Sicht spielt er indirekt auch auf die immer wieder von ihm kritisierten oder unterlaufenen ,moralischen Vorurteile' an.135 Ausgehend von seiner häufig vorgebrachten These, daß „jede Entwicklung der Moral [,] mit unmoralischen Mitteln und zu unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist", stellt er in einer späteren Niederschrift heraus, daß „alles, was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch betrachtet, das Höhere und Principiellere ist".136 Wie weit sich Nietzsche damit von Herrmanns ökonomischem Verständnis künftiger Kulturentwicklung entfernt, wird noch zu erörtern sein. Zunächst ist seine Aufnahme grundsätzlicher Auffassungen Herrmanns darzulegen. Dieser stellt als die beiden obersten wirtschaftlichen Gesichtspunkte, zu deren Befolgung der Konkurrenzkampf „alle Naturwesen und deren Bestandteile" zwinge, „das Princip der größten Gewinne" und das dieses ergänzende J'rinctp der kleinsten Verluste" heraus.137 Allein von diesen Prinzipien her läßt sich die Entwicklungsgeschichte der Organismen erklären. Das eine wie auch das andere Prinzip kann vorwalten. Ihr Verhältnis in der Anwendung durch die Lebewesen ist entscheidend. Primitive Organismen sind durch die Dominanz der strukturellen Einfachheit gekennzeichnet, die ihnen einen gewissen Schutz gewährt, aber keine Fortentwick-

135

136 137

unhaltbar"). - Im letzten Satz seines Exzerpts unterstreicht er das Wort „Vortheile", in seinem Exemplar des Buches die Wörter: „mehr und vollkommenere Arbeit" sowie „übertroffen". - Auf den Nachweis des Übertreffens noch der Erhaltungsbedingungen (ökonomisch: der .Kosten') kommt es dem Philosophen der Machtsteigerung in besonderem Maße an. Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 1 0 [ 1 3 ] ; KGW VIII2,127. - Vgl. damit Herrmann, CN 83: „Und selbst die Fortpflanzung, diese Todes- oder wenigstens Lebensverkiirzungs-Ursache der meisten höheren Organismen, macht ihr [sc. der Amöbe] die allergeringste Beschwerde. Sie erscheint als eine Art Abscheidung des durch guten Nährprozeß zuviel erlangten Sarcodetheils, als eine Art Abgabe des Ballastes, also als purer Vortheil." Nachlaß Herbst 1887, 10[154]; KGW VIII 2, 208. CN 265. - Diese Prinzipien sind von den (von Herrmann ebenfalls Prinzipien genannten) Grundsätzen des Vollzugs der Naturvorgänge zu unterscheiden, von denen oben die Rede war (vgl. S. 177f., Anm. 124).

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

183

lung gestattet. 138 Die differenzierter ausgeprägten Wesen suchen ein Maximum an Vorteilen zu erreichen, auch wenn sie dafür hohe Verluste in Kauf nehmen müssen. 139 Durch die Beherrschung der beiden Prinzipien kann in einer „höhern Entwicklungsepoche [...] das Optimum der Erhaltung erreicht" werden: „die größtmögliche Dauer". 140 Herrmann hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß das Leben sich nicht durch gewaltsame Umbrüche, sondern kontinuierlich entwickelt habe. Die Evolution konnte sich nur vollziehen, weil „die auf einander folgenden Generationen, Familien, Stämme u.s.w." ihre Ausgaben, Opfer und Verluste auf „die geringsten Aufwände" reduzierten. 141 In diesem Zusammenhang spricht Herrmann dem Prinzip der kleinsten Verluste besondere Bedeutung für den aufsteigenden Gesamtprozeß des Lebens zu. Nietzsche nimmt diese Argumentation auf, wenn er schreibt, „das, was Wachsthum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht... Als Ideal das Princip des kleinsten Aufwandes ...".142 Solche Sparsamkeit im Verbrauch kann auf Armut verweisen, aber auch dem Anwachsen von Reichtum dienen. Herr138

139

140

141 142

Herrmanns schon erwähntes Ausgangsbeispiel ist die Amöbe, welches Wesen „eigentlich die größten Gewinne bei kleinsten Verlusten aufweist, dessen Daseinsbilanz die allergünstigste" freilich nur zu sein scheint. „Der absolute Gewinn an Daseinsvortheilen" erweist sich als „nur ein geringer, da diese Vortheile selbst nur ein Minimum darstellen" (CN 83-85). Aus CN 85 exzerpiert Nietzsche in verknappter Form Herrmanns Satz: „Je größer die Daseinsvortheile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe des Lebens zu Grunde zu gehn.'" (Nachlaß Herbst 1887, 10[15]; KGW VIII 2, 127) CN 265-272. - Zum Prinzip der größten Gewinne gehört vor allem die Fülle, die sich „einerseits als Reichlichkeit gleicher Gebilde, andererseits als Mannigfaltigkeit verschiedener Gestaltungen" zeigt. Die Fülle ermöglicht durch fortwährende Selektionsprozesse Existenzfortei/e zunächst für einige von vielen artgleichen Wesen, die auf höheren Entwicklungsstufen z.B. zu einem Optimum an Präzision von Organen und Funktionen führen können. - Für das Prinzip der kleinsten Verluste nennt Herrmann neben der Einfachheit die Sparsamkeit als grundlegende ökonomische Erhaltungsbedingung. (Ebd.) - Solche und ähnliche Bestimmungen finden sich bei Nietzsche auch schon vor der Herrmann-Lektüre, ohne Reflexion auf ihren ökonomischen Hintergrund. Sie dienen ihm zufolge nicht vor allem der Erhaltung der Lebewesen wie bei Herrmann, sondern primär dem Machtgewinn. CN 272. Nachlaß Herbst 1887, 10[138]; KGW VIII 2, 201.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

mann führt die Aufspeicherung" als eine der Weisen an, die letztlich zur .Vermehrung der Kraft' führen.143 Nietzsche hebt diese Bestimmung in seiner Zusammenstellung von Gesichtspunkten zu diesem Thema ausdrücklich hervor: zu jener Vermehrung gehöre „eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung".144 Im Unterschied zu Herrmann geht es Nietzsche zufolge in der „Maximal-Okonomie des Verbrauchs" als Grundphänomen des Lebens jedoch nicht um Selbsterhaltung oder „Selbstbewahrung". Vielmehr ist „das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftcentrum aus die einzige Realität", d.h. es geht um „Aneignung, Herr-werden, Mehr-werden". „Der Wille zur Accumulation von Kraft", von dem Nietzsche hier spricht, seine Machtwillen-Philosophie ökonomisch ausdeutend, ist „spezifisch" sowohl für die Lebensphänomene, „für Ernährung, Zeugung, Vererbung", als auch „für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität".145 Akkumulation in diesem weiten Sinne geht bei Herrmann einher mit der Allmählichkeit der Entwicklung. Nietzsche zieht in einer Aufzeichnung146 die Beispielreihe heran, die Herrmann für die „großen wirthschaftlichen Vortheile der Continuität" in der Kultur aufführt: „,Ehe, Eigenthum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat'". Sie sind „Continúen niederer und höherer Ordnung". Nietzsche hält weiter fest, daß deren „Ökonomik [...] in dem Überschusse der Vortheile der ununterbrochenen Arbeit sowie der Vervielfachung über die Nachtheile" (die drei letzten Worte fügt Nietzsche zur Verdeutlichung der Herrmann-Ausführung ein) besteht, welche „die größeren Kosten der Auswechslung der Theile oder die Dauerbarmachung derselben" darbieten würden.147

143

C N 94f.

144

Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 9 [ 1 7 4 ] ; KGW VIII 2 , 1 0 3 .

145

Nachlaß Frühjahr 1 8 8 8 , 1 4 [ 8 1 ] ; KGW VIII 3, 5 3 . - Nietzsche fragt hier, ob wir diesen Willen nicht auch als konstitutiv für die Chemie und für das kosmische Geschehen annehmen sollten.

146

Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 1 0 [ 1 5 ] ; KGW VIII 2, 127. - Vgl. dazu C N 75.

147

Nietzsches Exzerpt ist nur durch den Rekurs auf die von Herrmann breiter dargelegten Zusammenhänge in seiner Bedeutung verständlich zu machen. Beim Bilanzieren der Naturprozesse stellt dieser fest, daß „die Natur eigentlich ökonomisch nur in dem Fortschreiten der Formen, aber unökonomisch in dem Abreißen des Lebensfadens der Individuen" verfahre. Herrmann schließt die Hypothese an, „es gäbe Individuen, welche eine unendliche Zeit durchleben und

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Herrmanns Intention geht auf die durch Kultivierung zu stiftende Einheit aller Naturvorgänge. Dazu bedarf es der Erweiterung des menschlichen Wissens, der er keine definitiven Grenzen gesetzt sieht. Er lebt „in der frohen Hoffnung", daß wir „dereinst in der Erden-Natur das ökonomische Centrum" bilden können, nachdem wir den „Wahn, das physische Centrum der Welt zu sein, längst vernichtet haben". 148 Die von ihm vorgestellte Zentralisation findet Nietzsches besondere Aufmerksamkeit. Seine Auseinandersetzung mit Herrmanns ökonomischen Zielvorstellungen soll durch eine nähere Beschreibung der Menschheitsentwicklung, wie sie sich diesem darstellt, vorbereitet werden.

sich dabei regelmäßig vervollkommnen [...] Wie wäre dies möglich? Gewiß nur dadurch, daß die Theile, d.h. die Zellen, möglichst häufig ausgewechselt und durch neue ersetzt werden. Das Ganze bliebe fortbestehen, aber die Elemente müßten ausscheiden [...] Die Natur hat in ihrem Systeme der Reproduction der Zellen bei Aufrechterhaltung der Gestalt und des Baues der aus denselben gebildeten Organe dieses Princip bei allen höher organisirten Thieren und Pflanzen zur Anwendung gebracht. Aber sie ist dabei an eine Grenze gelangt, welche aus wirthschaftlichen Gründen nicht überschritten werden kann. Gewisse Organe müssen nämlich aus Dauerzellen zusammengesetzt sein, da dieselben mechanische Arbeit zu verrichten haben, welche bei stetiger Auswechselung der Theile nicht möglich wäre." (CN 102f.) Der ökonomische Ausweg, den die Natur gefunden habe, bestehe in der „Erneuerung der ganzen Individuen durch die Generation"', durch welche „eine Übertragung aller vom Individuum sowie seinen Vorfahren in unendlicher Kette bis dahin errungenen vortheilhaften Eigenschaften an das nächste Individuum möglich ist" (CN 104). Der „Vortheil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden". So wieder Nietzsches leicht verändertes Exzerpt aus CN 75. Er notiert hierzu: „Nichts ist kostspieliger als neue Anfänge." (Nachlaß Herbst 1887, 10[14]; a.a.O.) Er zieht damit die Konsequenz aus Herrmanns Überlegungen zur „Bilanz des Individuums", wenn man diese mit seinem jeweiligen „Lebensende" abschließen würde. Das Resultat würde dann „eine große Kräftevergeudung" aufweisen (CN 101); mit dem Immer-wieder-Niederwerfen von kaum aufgebautem Individuellen würde die Natur „eine Danaiden-Arbeit verrichten" (CN 102). - Die Generation garantiert schließlich auch die Kontinuen niederer und höherer Ordnung, von denen am Anfang dieser Anmerkung die Rede war. (Zum Prinzip der Kontinuität s. weiter bei Herrmann, CN 58ff.; speziell zur Kontinuitätsstiftung durch Generation auch CN 74.) 148

CN 272f. - Nietzsche hat die Wörter „Erden-Natur" und „ökonomische Centrum" in seinem Exemplar von CN unterstrichen.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie 9. Die Perioden des ökonomischen Aufstiegs der Menschheit nach E. Herrmann

Der Gewinn an Daseinsvorteilen bildet das Kriterium, an dem Herrmann den Aufstieg der „Wesen in der Stufenleiter der Organisation" mißt. Bei den „höher organisirten Wesen" fällt „die Bilanz" günstiger aus. Diejenigen, welche länger am Leben bleiben, „genießen einen enormen Uberschuß an Vortheilen", insofern ihnen mit jedem Tag „neue Kraft" zuwächst, ohne daß die „Erhaltungskosten" steigen.149 Zu diesen Wesen, die dabei aber zunächst auf ihre Organe und natürlichen Fähigkeiten beschränkt waren, gehörte in der ersten Periode seiner Entwicklung auch der Mensch. Schon in ihr hat er es in zunehmendem Maße verstanden, andere Naturkräfte in seinen Dienst zu stellen.150 Herrmann beschreibt den ökonomischen Fortschritt in der Verwendung von Techniken als wachsenden Machtmitteln des Menschen.151 Doch erst mit Beginn des Industriezeitalters schickt sich der Mensch an, Herr der Natur zu werden. Wir stehen „jetzt", schreibt Herrmann, am Anfang der JLpoche der Maschinerie", in welche zuerst die Vereinigten Staaten eintreten, denen die europäischen Staaten aber folgen werden.152 Sie wird uns zur ,,höchste[n] Blüthe" der „vervollkommneten Wirthschaft" führen. In ihr schaffen wir nun Naturkräfte, wo sie fehlen, [...] 149

CN 85ff. - Freilich hat Herrmann Schwierigkeiten damit, einen ökonomischen Maßstab für den Kräfteaustausch bei den Naturprozessen (unter Beiziehung ihrer Folgen, wie es ökonomisch gefordert ist) aufzustellen. Wie schon die Prolongation der Dauer eines Wesens in der Zeit deren individuell veränderlichen Wert zur Geltung bringt, so auch die von Herrmann ebenfalls zu Werten erhobenen Bestimmungen von Raum, Kraft und Stoff.

150

CN 23f. Dieser Fortschritt beginnt mit dem Gebrauch einfacher wiederverwertbarer Werkzeuge, führt über die Vorratsanlagen schon der Jägervölker, über die Einrichtung komplexerer „Ersparungsapparate[n]", zu denen auch Sklaven, gezähmte Tiere, Futter etc. gehören, zur Einführung von Pflug und Rad im Ackerbau, durch welche der Einsatz der eigenen Kräfte des Menschen verringert und der Ertrag vergrößert wurde. Über die Anwendung solcher „Ersparungsmethoden durch Zusammenfassung wirthschaftlicher Acte in Einem oder in eine ununterbrochene Reihe" geht das Gewerbe hinaus, das sich der Nutzung der Materialien in deren Eigentümlichkeit zuwendet. „Das Gewerbe bedeutet jene Periode, in welcher wir im Wege der Erfahrung alle Geheimnisse der Natur enthüllen, alle Leistungen derselben unserem Schaffen einfügen." (CN 2 8 - 4 1 )

151

152

CN 4 1 , 326ff.

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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mechanische Arbeiter, wo die von Natur gegebenen ermatten oder nicht ausreichen würden". Das ökonomische Prinzip, unter Geringhaltung der,Kosten' größten .Gewinn' zu erzielen, feiert immer neue Triumphe. Wenn Herrmann von den „Umwälzungen" im „Transport- und Communikationswesen" seiner Zeit spricht, so läßt er zugleich seinen Zukunftsvorstellungen freien Lauf. Dabei sieht er bedeutsame Entwicklungen scharfsinnig voraus. Unvermeidlich (jedoch nicht in allen Hinsichten) bleibt er weit hinter der technisch-ökonomischen Wirklichkeit zurück, die im 20. Jahrhundert heraufgezogen ist. An seinem Ende versiegt der Optimismus, der Herrmann im Blick auf die Möglichkeit der Hervorbringung einer ,,zweite[n], künstliche[n] Natur", der .Schaffung' neuer Stoffe und Kräfte, neuer „ A r t e n u n d Varietäten von Pflanzen und Thieren" usw. „stolz ausrufen" läßt: „wir sind berufen, dereinst die Beherrscher der Erde zu werden". 153 Als Beherrscher der Erde sollen wir, wie Herrmann schreibt, zugleich Schöpfer sein oder werden können. Letzteres sind wir zwar immer schon, wie jedes Lebewesen „ein thätiger Mitarbeiter am Schöpfungswerke" im bisher planlosen Evolutionsprozeß war und ist. 154 Aus zahllosen absichtsund bewußtseinslosen Versuchen der Artenbildung hervorgegangen, können wir zu „bewußten Mitarbeiterin] am Schöpfungswerke" werden, „welche dessen Erscheinungskreis erweitern und korrigiren helfen". 155 Zu diesem Ziele müssen wir uns befähigen, unsere - im Vergleich mit den Tieren „vervollkommnete Technik in die Mitwelt zu tragen, bewußt Auslese zu halten und absichtlich, planmäßig zu variiren". Und dies unter ökonomischen Gesichtspunkten, zu denen uns schon die einfachen Naturvorgänge anleiten können. 156 153 154

155

156

CN 4 1 - 4 4 . CN 256. - Darwin habe uns, so schreibt Herrmann hier, „um den Gedanken an eine vor Jahrtausenden vollendete irdische Schöpfungsthat ärmer gemacht, dagegen mit einem Schlage uns Alle mitten in den Verlauf des Schöpfungswerkes in und um uns versetzt" (a.a.O., 255). CN 258. - „Die Natur kann nicht denken, ihr mangeln Absicht und Plan. Und dennoch sind ihr so wunderbar herrliche und großartige Werke gelungen. Ihr Capital ist eben die unendliche Zeit, welche ihr zu Gebote steht, in der schließlich auch unter den ungünstigsten Umständen Alles gelingen muß." (CN 306) CN 258. - „Der Mensch aber besitzt den Denkapparat, er vermag Gesetze zu entdecken und dieselben zu befolgen. Er kann im Plane das künftige Werk voraus entwerfen und berechnen und erspart sich dadurch unzählige vorläufige Ausführungsversuche. Dagegen hat er nur eine verhältnißmäßig kurze Lebensfrist zu Gebote und muß daher seine Arbeiten in enge Zeiträume zusammendrängen. Wir

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Herrmann stellt drei Stufen der Erkenntnis heraus, in denen der Naturprozeß in zunehmendem Maße bewußt gemacht werden kann. Er hat dabei die Möglichkeiten menschlichen Eingreifens in diesen Prozeß vor Augen. Noch immer beschränken sich, so führt er im Blick auf seine Zeit aus, unsere diesbezüglichen Mittel „auf die rohesten Formen mechanischer und chemischer Einwirkung". In bezug auf die „Großartigkeit und Ausdehnung der Erde" sind sie unzulänglich. 157 Die Natur selbst aber verrät uns, daß „neben dem physikalischen Processe noch ein anderer verläuft, in welchem nicht Ursache und Wirkung allein, sondern auch Grund und Folge eingreifen": der Prozeß der .technischen Zweckmäßigkeit' des organischen Lebens. 158 Wie dieser nun „die physische Causalität, das einfache Verhältniß von Ursache und Wirkung sich unterordnet", so könnte auch die technische Zweckmäßigkeit ihrerseits im Dienste eines höheren .Prinzips' stehen. Das ist nach Herrmann in der Tat der Fall: „Die Technik wird von der Oekonomik beherrscht." 159 Deshalb ist es ein Mangel „noch der heutigen Naturwissenschaft", daß sie kaum „in die Grundgesetze der Organisation eingedrungen" ist und sich nicht näher mit „den Grundprincipien der Oekonomik" bekannt gemacht hat. 1 6 0

157 158 159 160

Menschen können nicht warten gleich der Natur, unsere Zeit ist stets gemessen, sowohl für den Einzelnen, wie für Generationen, ja sogar für das ganze Menschengeschlecht." (CN 306f.) CN 258. CN 250f. CN 259. CN 261. - Mit dem oben herangezogenen Begriff der technischen Zweckmäßigkeit ist schon der Ansatz für jene weltinterne Teleologie gegeben, die Herrmann in seinem letzten Buch Das Geheimniß der Macht herausarbeiten wird. (Vgl. dazu Exkurs 1.4, unten S. 357-368.) In Cultur und Natur bleiben seine diesbezüglichen Ausführungen uneindeutig. Zwar spricht er hier schon vom „Zweckmäßigkeitsgesetz des organischen Lebens", das „neben dem Causalitätsgesetze des todten Kräftespiels" entdeckt werden könne. Zugleich ist aber von „heiliger Scheu" und von „zaghaftem Beginnen" die Rede, die den Naturforscher vor dem „Geheimnisse" still stehen lassen, daß es,absichtlose Zwecke' geben könne. Vermeiden will Herrmann jedenfalls die teleologischen „Verirrungen" im Sinne der biblischen Weltschöpfungslehre. (CN250f.) Die menschliche Technik, obgleich „in der Regel" viel unvollkommener als „die mechanischen Vorrichtungen der Organismen", soll uns über die technische Zweckmäßigkeit der Einrichtungen in der Natur belehren helfen. Die Naturökonomie tendiert dann auch schon in CN zur Naturteleologie. (CN 25 Iff.) Allerdings behauptet sich in diesem Buch noch die Autorität Darwins. Er habe „die technische Planlosigkeit der Welt bewiesen"; er habe gezeigt, daß sich

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

189

Wir haben schon am Schluß des letzten Abschnitts herausgestellt, daß die Beobachtung dieser Prinzipien zu einer vom Menschen in Dienst genommenen „Einheit aller organischen Vorgänge" führen können soll. Da alle Prozesse in der Natur einen großen gesetzmäßigen Zusammenhang bilden, der menschlicher Erkenntnis zugänglich sein soll, „bleibt uns Mitarbeitern der Schöpfung in der ganzen Welt kein Winkel, kein Stäubchen vorenthalten, in welchem unberechenbare Kräfte einwirken und uns verdrängen können".161 In den beiden letzten Abhandlungen seines Buches beschreibt Herrmann die Notwendigkeit des ökonomischen Fortschritts zu einer wirtschaftlichen Gesellschaft, die vom wachsenden Wissen immer effektiveren Gebrauch machen wird. Dabei geht er von Beispielen zeitweiliger wirtschaftlicher Assoziationen aus und stellt Typen ständiger und planmäßiger Vereinigungen dar. Die freie Konkurrenz auf dem Felde der Wirtschaft hat den Untergang der schwächeren Unternehmungen nach sich gezogen. Monopolisierungen waren die Folge, sie bildeten die Vorstufe zur „Verstaatlichung allzu zahlreicher Wirtschaftszweige". 162 Doch werden nach Herrmann die Staaten nur „Zwischenstufen" auf dem Wege zu internationalen Organen bilden.163 Eine wirtschaftliche Gesamtgesellschaft ist erforderlich geworden. Die Weltwirtschaft soll „zu einem eigenen Organismus gelangen". Das Netz „tausendfältiger Einzelbeziehungen", das dasjenige ausmacht, „was

nur ganz allmählich aus der „unendlichen Masse ähnlicher Fälle" das .Zweckmäßige' entwickle. „Der technische Fortschritt" in der Entwicklung der Lebewesen gleicht demnach „einer Lotterie, bei welcher hunderttausend Einsätze umsonst gemacht werden müssen, bis auf einen ein Treffer fällt" (CN 255). Andererseits will Herrmann aber schon in CN die Naturökonomie nicht der Darwinschen Welt des Zufalls und des Daseinskampfes unterordnen. Wenn die Natur z.B. Millionen Karpfeneier „schafft", von denen nur zwei bis vier zur Entwicklung gelangen, so könne man ihr schon deshalb nicht „Verschwendung" vorwerfen, weil die .verlorenen' Millionen „vielen verschiedenen Wesen zur förderlichen Nahrung dienen". Die Natur bildet dabei für Herrmann „ein ungeheures organisches Ganzes", in dem bei Verlusten auf der Seite bestimmter Einzelwesen doch immer auch ein wirtschaftlicher Gewinn an anderer Stelle erzielt wird. (CN 255f.) Der Gedanke der Gesamtökonomie, der hierbei auftaucht, legt jedenfalls den Gedanken einer Zweckhaftigkeit der Natur selber nahe. Mit ihm geht Herrmann über seine deskriptive Ökonomik der besonderen Lebensprozesse hinaus. 161 162 163

CN 272. CN 2 9 0 - 2 9 4 . Als solche bereiten sie „die Vereinheitlichung des Post- und Telegraphenwesens, der Eisenbahnen und Dampfschifffahrt, des Telephons, des Beleuchtungswesens u.s.w. für die ganze Welt" vor (CN 295).

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

wir heute Volkswirthschaft und Weltwirthschaft nennen", weist noch keinen „bewußten Centralwillen" auf. „Hier liegen Gebilde vor, welche den Thieren ohne Hirn und ohne Nerven gleichen."164 Der Nationalökonom trifft auf Ungeordnetes, das der globalen Gestaltung bedarf. In dieser soll und muß „die Organisation der Weltwirthschaft [...] den Typus der einheitlichen Maschinerie erhalten".165 Das Ziel ist, daß „der Planet Erde", als „eine Maschine [...] dem Drucke des Menschengeschlechts so gehorchen sollte, wie die Lokomotive dem Hebeldrucke ihres Führers".166

10. Die Wirtschafts-Gesamtverwaltung

der Erde

Nietzsche stimmt den ökonomischen Prognosen Herrmanns zu. Er sieht in ihnen jene „tausendjährige Conclusion" des Maschinen -Zeitalters" gezogen, als deren „Prämissen" er schon in Der Wanderer und sein Schatten „die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, de[n] Telegraph [en]" genannt hatte.167 Er knüpft nunmehr an Cultur und Natur an, ohne freilich Herrmanns Wertschätzungen zu teilen. Aber der Weg erscheint ihm „vollkommen jetzt überschaubar", der zur „unvermeidlich bevorstehenden Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde" führen wird, welche „die Menschheit als Maschinerie" in ihren Dienst nimmt.168 Sein eigenes Verständnis des .Ganzen' gerät durch diese Entwicklung auf den Prüfstand. Das Ganze als künftige Maschinerie der Erd-Verwaltung ist jedenfalls kein Organismus im Sinne der schon genannten Voraussetzungen Nietzsches. Vielmehr stellt diese einen Ordnungszusammenhang dar, in dem verschiedene Organisationen auf eigentümliche Weise zusammenwirken.169 Auch ist das zur

164 165 166 167 168 169

CN 294. CN 300. CN 23. Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 278; KGW IV 3, 312. Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 128f. Nietzsche hält auch in der Zeit nach seinen Überlegungen zur .unvermeidlich bevorstehenden Gesamtwirtschaftsverwaltung der Erde' daran fest, daß die Menschheit „kein Ganzes" ist, noch als ein solches „eine Gesammt-Aufgabe zu lösen habe" oder „als Ganzes irgendeinem Ziel entgegenlaufe". Ist und bleibt „diese Menschheit" doch „eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedergehenden

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Einheit organisierte .Gesamte' der Wirtschaft nur ein .Ganzes' neben anderen gesellschaftlichen .Ganzheiten'; es ist nicht ,das Ganze'. Aber jenes Gesamte hat in Nietzsches Augen hervorragende Bedeutung, denn es ist „ein Ganzes von ungeheurer Kraft".170 Auch Herrmann ist darum bemüht, den .Organismus' von .allgemeiner wirtschaftlicher Gesellschaft' als eine Organisation neben andere planmäßige .systematische Ordnungen' zu stellen: die der Religion in der Kirche, die der Sitte in der Gesellschaft. „Alle menschlichen Specialbestrebungen" werden, davon ist er überzeugt, „dereinst" auf solche Weise umfassend organisiert sein.171 Organisationen sollen und können immer nur in Besonderungen neben anderen Besonderungen gebildet werden. Sein Vorwurf gegen „die Socialisten und Communisten" läuft darauf hinaus, daß diese „nicht die Wirthschaft allein, sondern das ganze menschliche Dasein einheitlich organisiren, also auch die Ehe, das Familienwesen, das Privateigenthum, das Erbrecht, die Aufzucht und Erziehung der Kinder, die Beschäftigung und die Genüsse der Alleinherrschaft einer obersten gesellschaftlichen Leitung unterwerfen wollen". Dies aber ist gegen „die menschliche Natur" gerichtet, welche „vor allem freie Entfaltung aller ihrer Richtungen und Talente" erfordert, und wird deshalb „niemals durchführbar" sein.172 Die wirtschaftliche Gesamtverwaltung der Erde soll den Menschen gerade nicht „in ihrer Maschinerie aufgehen machen; im Gegentheile, sie wird und muß dereinst durch dieselbe den Menschen ganz befreien, so daß er sich ganz den übrigen rein menschlichen Culturzielen widmen kann".173

170 171

172 173

Lebensprozessen" (Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11[226]; KGW VIII2, 329). Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 128f. CN 294. - Daß auch sie nicht ohne Beachtung der grundlegenden wirtschaftlichen Gesichtspunkte entstehen und sich erhalten können, darf dabei vorausgesetzt werden. CN 2 9 4 - 2 9 6 . CN 300. - Herrmanns Vorstellung der Herausbildung eines Zentralkörpers als y4as wirthschaftliche Haupt der Erde" ist evolutionär gedacht, diese soll „ohne Revolution der Staaten und der Gesellschaft ausführbar" sein (CN 319). Herrmanns Vorstellung einer freien Entfaltung des Menschen in der ökonomisch durchorganisierten .Welt' läßt an die bekannte Äußerung von Marx in Die deutsche Ideologie denken, dergemäß in der kommunistisch vorgestellten Zukunft „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun..." (MEGA 1 5 , 2 2 ) . Ungeachtet aller wesentlichen Unterschiede ihrer Zukunftsentwürfe gehören Herrmann und Marx gegenüber

192

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Solche Befreiung des Menschen setzt nach Herrmann die Wohlfahrt aller voraus. Deren Sicherung ist auf der Ebene territorialer Abgrenzungen die besondere Aufgabe des Staates, die aber eines Tages in die Verantwortung der Gesellschaft übergehen wird, welche „die ganze Erde umfaßt". 174 Herrmanns Vorstellungen laufen dabei schließlich auf eine allgemeine Harmonie hinaus: „Friede und Freude würde in die Welt einziehen", wenn „die Vergeudungen im Kleinbetriebe und in der Concurrenz, die aufreibenden Kämpfe der Rivalen [...], die stehenden Heere und Kriegsflotten und so viele andere Institutionen der Gegenwart verschwinden" würden. 175 Der Konkurrenzkampf, dem nach Herrmanns eigener Erkenntnis der wirtschaftliche Fortschritt in der Natur zu verdanken ist,176 soll am Ende der kulturellen Entwicklung überwunden werden. Gelegentlich verleiht Herrmann seiner ökonomischen Zukunftserwartung die Gestalt einer Vision, die von einem neuen, letztlich moralisch geleiteten Menschen bestimmt sein wird. Wenn wir bei unserem ökonomischen Voranschreiten „dennoch zu Grunde gehen sollten", so schreibt er, dann tue sich doch „eine neue Form des wirthschaftlichen Verkehrs auf, vielleicht die Zukunftsform einer bessern Menschenwelt, in welcher nicht nur der Gewaltkampf der Staaten, sondern auch der laute und stille Kampf der Einzelnen ein Ende nimmt. Es ist das Wirken Aller für Alle, ohne einander durch Concurrenz irgendwie zu benachtheiligen und im Antheile an den Gütern des Lebens einzuschränken, es ist die volle Wechselseitigkeit der Liebe, angewendet auf die ganze Menschheit." 177

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Nietzsche insofern zusammen, als sie in der Heraufführung der gesellschaftlich beherrschten technischen Welt ein Ziel sehen, das schon aus sich selbst heraus der Existenz des Menschen ,Sinn' verleiht. CN 158-165; hier: 164. CN 330f. - Herrmann spricht sogar von einem „Gesetze wachsender Kraft und Harmonie innerhalb der Individuen", demzufolge wir, „als die vollkommensten Organismen der Natur, unsere Mission [,] die Leitung der gesammten organischen Welt im Sinne allseitiger Vervollkommnung, mit jenem sittlichen Ernst und jener Anspannung aller Kräfte antreten" müssen, „welche die Erkenntniß der Natur uns klar vorschreibt. Wahren wir als Letztgeborene auch den anderen auf weniger hoher Stufe befindlichen älteren Organismusformen das Recht auf ein stets fortschreitendes individuelles und spezielles Dasein!" (CN 106) Vgl. oben S. 179f. CN 115f. - Nietzsche hat Partien dieser Ausführungen unterstrichen und bei der Ausführung über die „Wechselseitigkeit der Liebe" ein (zweifellos ironisch gemeintes) „NB" am Rande vermerkt. Wenig später spricht Herrmann von den

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Bisher hat keine Wirtschaftsordnung „den höchsten Zielen" der Menschheit genügt, welche Herrmann, mit idealistischem Schwung sich auf Worte Friedrich Schillers beziehend, herausstellt. Das ökonomische Denken verderbe unleugbar „Moral und Schönheitssinn, den Geist der Wahrheit und der Liebe". Doch „muß es so sein?", fragt er. 178 Wir haben schon gehört, daß gerade die Maschinerie einer durchorganisierten Weltwirtschaft das Menschendasein für kulturelle Tätigkeiten freisetzen soll. Da sie „in der Zukunft [...] ausschließlich auf mechanische und chemische Kräfte gestellt werden" wird, erfordern die Arbeitsabläufe vom Menschen weniger Kraft, wird ihm Zeit erspart. 179 Solche Verringerung der Kosten soll dazu führen, daß der Mensch der Zukunft „die eine Hälfte seines Daseins der ungestörten Arbeit im öffentlichen Dienste, die andere Hälfte dem individualisierten Genüsse im Kreise der Familie oder der wohlgeordneten Privatunternehmung widmete". 180

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,,große[n] Geistern", die „das Evangelium der Menschenliebe, ohne Unterschied des Stammes", gerade in den Epochen verkündigten, „in welchen ein Weltreich den Anlauf nahm, die ganze Menschheit durch Kriege zu unterjochen". Er fährt fort, ebenso müsse „in dem Augenblicke, als der Weltfriede den Menschen verkündet und die Menschentödtung auch im Kriege vollständig abgeschafft werden wird, sich auch die Stimme für die allgemeine Thier- und Pflanzenliebe, für die Naturliebe überhaupt, und für die Aufhebung der Tiersclaverei in ihren ärgsten Formen erheben" (CN 119). Nietzsche hat diese Stellen im Text unterstrichen und zusätzlich doppelte Randstriche angebracht. Neben einem NB findet sich die Bemerkung „fals[cher] Schlu[ß]". Welche ganz anderen Schlüsse Nietzsche aus der erwarteten Wirtschafts-Gesamtverwaltung zieht, wird im folgenden darzulegen sein. CN 302f. CN 300. CN 331. - S. dazu CN 100: „Wenn die Volkswirtschaft voll und ganz zur Maschinerie übergegangen sein und alle schwere Arbeit den Mechanismen überantwortet haben wird, dann dürfte der Zeitpunkt gekommen sein, in welchem wir statt physischer Arbeit nur KörperÜbungen, statt geistiger Anstrengungen nur freie Geistesschöpfung zu vollbringen haben werden." - Über den von Herrmann vorgestellten Zustand hat uns die wissenschaftlich-technische Entwicklung noch weit hinausgetragen, ohne daß „der Kampf um die Existenz" sich „zum Kampf um das Edler- und Bessersein, zum freien Wettbewerbe um das Schöne und Gute" umgestaltet hätte, wie Herrmann erwartet hatte. Vielmehr hat die technisch-ökonomische Entwicklung im ablaufenden Jahrhundert mehr und mehr von seinen humanistisch-idealistischen Träumen fortgeführt. - Die .Verkleinerung des Menschen', von der im Sinne Nietzsches oben zu handeln sein wird, tritt heute auch

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie 11. Nietzsches Verständnis von Arbeitsteilung als Ausbeutung

Nietzsche nimmt zwar die Gesichtspunkte der reinen Ökonomie Herrmanns in sein Verständnis naturhafter und gesellschaftlicher Prozesse auf. Aber Herrmanns Idealvorstellungen von der Zukunft der Menschheit sind für ihn nur Ausdruck des Selbstverständnisses des Menschen, der die bevorstehende ökonomische Entwicklung begrüßt und sich ihr ein- und unterordnet. Was sich in dieser zunächst noch als Aufstieg darbietet, enthält nach Nietzsches Einsicht aber schon die unübersehbaren Merkmale eines Niedergangs der menschlichen Kultur. Er sieht einen „immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit zu einer immer fester in einander verschlungenen ,Maschinerie' der Interessen und Leistungen" voraus. Auf dem Wege zur Gesamtverwaltung der Erde wachsen „die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen - eine Art Stillstand im Niveau des Menschen". Dies fordert für Nietzsche eine „Gegenbewegung" heraus. Für ihn stellt die von Herrmann beschriebene „Gesammt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein maximum in der Ausbeutung des Menschen dar". Das ist zwar „moralisch geredet", und Nietzsche unterläuft diese Rede auch mit dem Hinweis darauf, es könne Menschen geben, „deretwegen diese Ausbeutung Sinn hat". 181

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im Freizeitverhalten zutage. Wir joggen nur, um uns fit zu halten, und wir sind kreativ schon mit jedem Farbklecks und im Beschmieren von Wänden. Nachlaß Herbst 1887,10[17]; KGW VIII2,128f. - Oldemeyer schreibt (Technik, a.a.O., [Anm. 76], 153), Nietzsche habe „das emanzipatorische Potential der modernen Maschinentechnik nicht erkannt", das sich schon zu seiner Zeit abzeichnete. Er nennt in diesem Zusammenhang u.a. : Ersparnis von Arbeitszeit und Arbeitskraft, Zeit für bessere Bildung und zu Liebhabereien. Doch war Nietzsche als Leser Herrmanns, wie oben gezeigt wurde, mit solchem Potential durchaus vertraut (auch wenn seine Niederschriften dies nicht im einzelnen erkennen lassen). - Oldemeyer nennt an anderer Stelle selbst den Hauptgrund für Nietzsches relatives Desinteresse am technischen Umgang mit der Natur: seine hauptsächliche Orientierung an der „physiopsychischefn] Verfassung der Menschen und deren soziale Verhältnisse untereinander" (a.a.O., 144). Weil für (den späten) Nietzsche jede Nivellierung der Menschheit ohne das Hervortreten eines höheren Typus den Niedergang ,des Menschen' bedeutet, hält er an der Ausprägung von „Herrentum" und „Sklaventum" fest, - wobei nichts an den beiden Namen liegt. - Oldemeyer erkennt im übrigen durchaus, daß Nietzsche wichtige Aspekte des Verhältnisses von Naturwissenschaften und Technik „früher und schärfer gesehen hat als die meisten seiner Zeitgenossen" (a.a.O., 153f.)

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Aus Sicht der Gegenposition, für die Herrmann steht, ist die arbeitsteilige Solidarität so wenig Ausbeutung, daß er in der Forderung nach einer In-Dienst-nahme der Maschinerie, wie Nietzsche sie hier nur andeutet, eine neue Ausbeutung gesehen hätte. Am Ende des 20. Jahrhunderts blickt man mit Grauen auf .Experimente' zurück, die sich auch auf Nietzsche beriefen (und in gewisser Weise auch berufen konnten). Aber auch der Optimismus ist verflogen, der den sozialreformerischen Ökonomismus (z.B.) Herrmanns geleitet hat. Die Entwicklung von Wirtschaft und Technik eilt voran; die Menschen können dem .Zauberlehrling' kaum folgen. In der Konsum-(Wegwerf-) und Mediengesellschaft wird un-endlich viel Neues produziert, das sogleich vertilgt wird, um anderem Platz zu machen, das gleichfalls der Auflösung anheimfällt. Auch die Sphäre, die Herrmann von der,Maschinerie' freigehalten vorgestellt hatte, die,Kulturziele' und das ,Privatleben', unterliegen schon fast gänzlich dem Kommerz. Nietzsche konnte von alledem noch nichts wissen, aber er hatte ein Gespür für die sublimen Formen von ,Ausbeutung', welche inzwischen in der konsumorientierten Massengesellschaft herangewachsen sind. 182 Andererseits preist Nietzsche dementgegen die Ausbeutung. Der Mehrdeutigkeit seiner Rede ist weiter nachzugehen. In Jenseits von Gut und Böse schreibt er, Leben sei als Wille zur Macht „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung" in vielerlei Gestalt, darunter „mindestens, mildestens, Ausbeutung". Wenn man „jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft" schwärme, „denen ,der 182

Pierre Klossowski hat den ökonomischen Aspekten in den späten Aufzeichnungen Nietzsches bemerkenswerte Betrachtungen gewidmet. Dabei ist er in seinem Vortrag Circulas vitiosus (Nietzsche aujourd'hui I, Paris 1973, 9 1 - 1 0 3 ) zu Recht davon ausgegangen, daß Nietzsche „voit dans la sélection darwinienne et les systèmes anglo-saxons une forme de mentalité grégaire régnante". Er irrt jedoch darin, daß „Nietzsche n'aboutit à des considérations sur l'économie que par le biais de l'utilitarisme de Stuart Mill". Allerdings konnte er nicht wissen, daß Nietzsche sich an Herrmanns Cultur und Natur orientierte. In Kenntnis von Nietzsches .Quelle' hätte sich Klossowski sicherlich die Parallelisierung versagt „entre ce que Nietzsche nomme la médiocrisation des individúes proportionellement à l'accumulation des richesses et l'aliénation prolétarisante décrite par Marx". (A.a.O., 99f.) - In Nietzsche et le Cercle vicieux, Paris 1969, 2 1975 (ins Deutsche übers, ν. R. Vouillé, München 1986, 257) verklammert Klossowski Nietzsches Beschreibung oder Vorhersage der Gesamtverwaltung der Erde und dessen Gegenbewegung zu einem „Komplott" des Philosophen, für welches er dem,konspirativen Phantasma' der ewigen Wiederkunft zentrale Bedeutung zuspricht (a.a.O., 249ff., 265ff.).

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

ausbeuterische Charakter' abgehn soll", so klingt das in Nietzsches Ohren, „als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte". Der grundsätzliche Verzicht auf natürliche Ausbeutung würde sich „als Auflösungs- und Verfalls-Princip" jeder Gesellschaft erweisen.183 Gegenüber den gewachsenen Lebens-Ganzheiten stellt die .Maschinerie' der Wirtschaftsgesellschaft nur ein künstliches Gebilde dar. In ihr werden die Menschen zu ,,einzelne[n] Faktoren" herabgesetzt, welche Minimal-Kräfte, Minimal-Werthe darstellen". Hier findet Nietzsche jene (unnatürliche) Form von Ausbeutung, die - wenn es nicht zu einer,Gegenbewegung' kommt - „ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile" bilden werde. 184 Daß in der J\Aaschinen-Cultur" kein „Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, zum Künstlerwerden" gegeben ist, hatte Nietzsche schon in Der Wanderer und sein Schatten ausgeführt. In ihr wird „die Erleichterung der Arbeit [...] zu teuer" erkauft. „Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt". 185 In der „Fabrik-Sclaverei" geht damit zugleich die Persönlichkeit des Arbeiters verloren; er wird selbst zur „Schraube". Nietzsche empfiehlt in Morgenröthe den Arbeitern die Auswanderung, - und meint, sie sollten durch Chinesen, die er als „arbeitsame Ameisen" kennzeichnet, ersetzt werden. 186

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JGB 2 5 9 ; K G W VI 2, 2 1 7 f . Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 10[17]; K G W VIII 2 , 1 2 8 , 129. - Klossowski sieht in dem zitierten Fragment „so etwas wie eine Beschreibung unserer eigenen Gegenwart". In der Darstellung des „ökonomischen Ausbeutungsmechanismus" zeige sich Nietzsches „unwiderlegbare Vorahnung, daß die völlige Abschaffung aller Differenzen bei der Bedürfnisbefriedigung und die Homogenisierung der Denk- und Fühlgewohnheiten zu einer moralischen und affektiven Erstarrung führt". (Nietzsche, a.a.O., [Anm. 182], 259) - Für ihn ist sowohl die beschriebene Wirtschaftsgesellschaft als auch die Möglichkeit der .Gegenbewegung' Nietzsches überholt worden: „Das Industriesystem" ist „heute zu einer Technik geworden", welche „zum Gegenteil seines Postulates" einer Gegenbewegung geführt hat: „nicht das Übermenschliche, sondern das Über-Herdentum wird zum Herren der Erde". (A.a.O., 2 6 5 - 2 6 8 ) - Zutreffend schreibt Klossowski, daß heute „allein die Produktion und der Tausch von Gegenständen die Stelle des Intelligiblen" einnehmen. „Im Namen der Produktivität austauschbarer Güter" werde jeder, der die durch sie etablierten .Normen' überschreitet, „moralisch entweder als unverständlich verurteilt oder als unproduktiv stigmatisiert". (A.a.O., 236) Menschliches, Allzumenschliches II, Wanderer 220, 2 8 8 ; K G W IV 3, 2 9 1 , 320f. Morgenröthe 2 0 6 ; K G W V 1, 1 8 3 - 1 8 5 .

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Diese Überlegung hat der späte Nietzsche längst zurückgelassen, wenn er die Wirtschaftsgesellschaft als das „ungeheure [n] Räderwerk von immer kleineren, immer feiner ,angepaßten' Rädern" auffaßt. Es ist die Gemeinsamkeit des Zusammenstimmens in wechselseitiger Abhängigkeit aller Räder im .Maschinenwerk' der Gesellschaft, in der er das Ausbeutungs-Maximum sieht. Als Geflecht mechanischer Relationen reduziert es die Menschen zu bloßen .Faktoren' im Gesellschaftsprozeß. 187 Nietzsche fragt nach dem ,Sinn', welchen man der von ihm als unvermeidlich anerkannten, in sich verschlungenen Maschinerie der Menschheits-Interessen geben könne, den er in deren Indienstnahme für ein höheres Menschsein findet. 188 Dabei kann nach seinem Verständnis „die zunehmende Verkleinerung des Menschen [...] gerade die treibende Kraft" bilden, „um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken". Nietzsche glaubt die Gesellschaft „in einer starken Verwandlung" begriffen, die dazu führen werde, daß sie „irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existiren" kann, „sondern nur noch als Mittel in den Händen" der Stärkeren. 189 Die gegen sie sich entwickelnde Dynamik von Massenprozessen und Klassenbildung in seiner Zeit wird von Nietzsche zwar nicht ausgeklammert. 187

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Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2,128, 129. - Zu Nietzsches Thematisierung der, Vermittelmäßigung des Menschen' im Zusammenhang der .demokratischen Bewegung in Europa' s. im folg. S. 200ff. Er will den ohnehin unaufhaltsamen Prozeß der Nivellierung noch in der Hoffnung beschleunigen, daß dieser eine neue Rangordnung aus sich hervortreibt. (Vgl. dazu im folg. S. 204ff., insbes. S. 207, Anm. 215.) Damit steht er im 19. Jahrhundert natürlich nicht allein. Das ist für das Verständnis der oben folgenden Ausführungen wichtig. In F. A. Langes Geschichte des Materialismus hatte er u. a. lesen können: „Jetzt erschreckt das Elend des Proletariats teilnehmende Herzen; allein der Weg aus diesen Zuständen zurück zu der alten Einfachheit der Herzen ist unmöglich. [...] Die Sklavenarbeit der Proletarier schafft vielen fähigen Köpfen Muße und Mittel zu Forschungen, Erfindungen und Schöpfungen. Es scheint Pflicht, diese höheren Güter der Menschheit zu wahren, und gern tröstet man sich mit dem Gedanken, daß sie einst ein Gemeingut aller sein werden." (a.a.O., [Anm. 43], 925f.) Langes Überlegungen führen zu anderen Zielen, als sie Nietzsche vor Augen stehen. - Die in diesem Zusammenhang von Lange vorgenommene Parallelisierung des Zustandes der Gegenwart mit dem der alten Welt (zumeist Roms) hat Nietzsche ebenfalls angeregt. Er fand sie ähnlich auch (unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sklaven) in den historischen Untersuchungen zur Moralgeschichte von W. E. Hartpole Lecky. Nachlaß Herbst 1887, 9[153]; KGW VIII 2, 89.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Gelegentlich benennt er auch die .Gefahren', die er „durch die unverantwortliche Gedankenlosigkeit" heraufziehen sieht, welche „den Arbeiter militärtüchtig gemacht" hat und ihm „das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben" hat. Der Arbeiter „befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidener zu fragen. Er hat zuletzt die grosse Zahl für sich". 190 „Was man mit dem europäischen Arbeiter machen will", .sieht' Nietzsche angesichts der veränderten Situation „durchaus nicht ab". 191 Wenn immer er diese Situation bedenkt, geht er von früheren bzw. den bestehenden Herrschaftsstrukturen oder von der Herrschaft künftiger Starker aus. Selbst wenn er von bevorstehenden „ungeheuren socialistischen Krisen" spricht, so werden diese nur auf die „Nöthigung" hin angesehen, die sie auf den Willen zur „Gestaltung" einer „herrschaftliche [n] Rasse" ausüben, welche „nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen" kann.

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Götzen-Dämmerung, Streifzüge 40; KGW VI 3, 136f. - „Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, dass hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde", - was „geradezu eine Notwendigkeit gewesen" wäre. Dem liegt „die Instinkt-Entartung" zu Grunde, welche „eine Arbeiter-Frage" überhaupt aufgebracht hat: „über gewisse Dinge fragt man nicht·, erster Imperativ des Instinktes". Denn schon mit jener Frage hat man die Voraussetzungen vernichtet, „vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich wird" (ebd.). Götzen-Dämmerung, a.a.O. - Vgl. die .Vorstufe' im Nachlaß November 1887März 1888, 11[60] (KGW VIII2,271f.). Der Schlußsatz in ihr lautet in leicht abgewandelten, aber schärferer Formulierung (im Vergleich zum Schlußsatz von Götzen-Dämmerung 40): „[...] wenn man Sklaven will - und man braucht sie! - muß man sie nicht zu Herren erziehen." - Nietzsches Verständnis des Arbeiters ist komplexer, als es in den hier herangezogenen Ausführungen zutagetreten kann. - In Menschliches, Allzumenschliches I heißt es, „dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältniss zu der des .Arbeiters' ist" (457; KGW IV 2,306). Noch im Herbst 1887 notiert er: „Arbeiter sollten wie Soldaten empfinden lernen. Ein Honorar, ein Gehalt, aber keine Bezahlung! Kein Verhältniß zwischen Abzahlung und Leistung! Sondern das Individuum, je nach seiner Art, so stellen, daß es das Höchste leisten kann, was in seinem Bereiche liegt." (Nachlaß, 9[34]; KGW VIII2. 14) „Die Arbeiter sollen einmal leben wie jetzt die Bürger", heißt es schon 1883. Aber Nietzsche hält bei alledem daran fest, daß „über ihnen die höhere Kaste" die Macht besitzt, aber nicht die ökonomischen Verbrauchsansprüche. Diese Kaste soll sich vielmehr „durch Bedürfnißlosigkeit" auszeichnen, also „ärmer und einfacher" leben als die Arbeiter. (Nachlaß, 9[47]; KGW VII 1, 373)

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Meist nimmt er aber die Besonderheit des Arbeiters in seinen „Gesammt-Anblick des zukünftigen Europäers" hinein, der für ihn „das intelligenteste Sklaventhier" darstellt.192 Auch dabei beschäftigt ihn vor allem die Frage, wie aus dem vielfachen und willensschwachen „kosmopolitische [n] Affekt- und Intelligenzen-Chaos" sich „eine stärkere Art" herauszuheben vermöchte.193 Mag es unvermeidlich werden, daß Menschen als Räder im ökonomisch bestimmten Räderwerk funktionieren (und sich von diesen Funktionen her nivellieren), so muß die stärkere Art über solcher Maschinerie stehen oder abseits von ihr leben. Schon früh hat Nietzsche notiert, „Arbeitstheilung" setze „Herrschaft des Mechanismus" voraus. Diese ist aber leblos oder in sich tötend. „Im Organismus giebt es keine trennbaren Theile". Das Mechanische liegt also in der Sonderung der Teile, in gesellschaftlicher Hinsicht: im „Individualismus", wie er sich besonders in der Neuzeit ausprägt. Zu ihm gehört auch die „Steigerung der erkennenden Bildung", die den Organismus, ,das Ganze', schwächt.194 Auch im Rückblick auf die Zweite Unzeitgemäße in Ecce homo spricht Nietzsche vom „entmenschten Räderwerk und Mechanismus", bezogen hier auf die „Art" des zeitgenössischen „Wissenschafts-Betriebs", durch welche die Kultur verloren gehe. Das Leben werde krank an jenem Mechanischen, „an der,t/npersönlichkeit' des Arbeiters, an der falschen Ökonomie der ,Theilung der Arbeit'".195 Schroffer noch hatte er sich hierzu in den Basler Vorträgen über die Zukunft unserer Bildungsanstalten geäußert.196 Nietzsche wendet sich nicht deshalb gegen die Tendenzen der Gesellschaft seiner Zeit, weil er den Einzelnen als das bloße Individuum uneingeschränkt

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Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888; 11[31]; KGW VIII 2, 259. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11[31]; KGW VIII 2, 259f. Nachlaß Winter 1869/70-Frühjahr 1 8 7 0 , 3 [ 4 4 ] ; KGW III 3 , 7 3 . - Nietzsche zieht diesen Gedanken später auf das „Fortlebende Gesammt-Organische" aus, in welchem das Individuum „eine Gattung von Interpretation" jeweils weitergeführt hat. Er erwägt hier, ob „der Untergang des organischen Lebens auf seiner höchsten Form", also der Menschheit, nicht in der perspektivischen Vielfalt auf jene Weise angelegt sein müsse, „wie die Arbeitstheilung von Organismen zugleich eine Verkümmerung und Schwächung der Theile, endlich den Tod für das Ganze mit sich" bringe. (Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[2]; KGW VIII 1, 259f.) Unzeitgemässe Betrachtungen 1; KGW VI 3, 314. Vgl. hierzu Exkurs 2 im Anhang zu dieser Abhandlung: Die Probleme von Bildung und Spezialisierung beim frühen Nietzsche, S. 368-372.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

entfaltet sehen möchte. Er bekämpft die Zerstörung oder die Zersetzung von Ganzheiten durch ökonomisch-technische Entwicklungen. Wo ihm diese unaufhaltsam erscheinen, sollen sie durch höhere Ganzheiten überwölbt werden.197 Dazu gehört freilich eine neue Aufrichtung von Rangordnungsverhältnissen, da die naturhaft entstandenen ihre Wirksamkeit in der Gesellschaft in bloß maschinenmäßiger Funktionalität zu verlieren drohen. In einer Aufzeichnung von 1887/88 gegen den Staat heißt es, das mechanisch-arbeitsteilig strukturierte Ganze kenne die organische Hierarchie nicht mehr, „so daß niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat".198 Ohne deren Wahrnehmung jedoch sei der Zerfall unabwendbar.

12. Zur .Verkleinerung des Menschen' Nietzsche sieht in der „Anpassung [...] an eine specialisirte Nützlichkeit" eine Verkleinerung des Menschen. Es ist von Bedeutung, daß er diesen von ihm häufig gebrauchten Topos nach der Herrmann-Lektüre auf die Folgen ökonomischer Zusammenhänge anwendet. Er diente ihm sonst zur Eröffnung von Horizonten der Moralgeschichte der Natur, insbesondere im Hinblick auf die Moderne. „Die Verkleinerung des ganzen Typus ,Mensch' - seine endgültige Vermittelmäßigung [...] in der unaufhaltsame[n] demokratische[n] Bewegung Europa's - das, was sich jetzt .Fortschritt' nennt - " , ist nach Nietzsche dabei durch das Christentum vorbereitet worden. Er findet in ihrem Grunde „nur die ungeheure instinktive Gesammt-Verschwörung der Heerde [...] gegen alles, was Hirt, Raubthier, Einsiedler und Cäsar ist".199 Nietzsche 197

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Allein bei der Erörterung des Ganzen als Organismus, im „Ausgangspunkt vom Leibe", spricht Nietzsche in einem positiven (und übertragenen) Sinne von „Arbeitstheilung": „als Ermöglichung zugleich des Einzelnen und des Ganzen". (Nachlaß August-September 1885, 40[21]; KGW VII 3, 370) Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [252]; KGW VIII 2, 339. - „Alles, was ein Mensch im Dienste des Staates thut, geht wider seine Natur ...", heißt es hier. Seiner ,Natur' entsprechen allein organische Bezogenheiten, wie er als Leib selbst nichts anderes ist als ein organisches Gefüge. - Auch hier hat Nietzsche noch das Bildungswesen im Blick: was ein Mensch „in Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staat lernt, geht wider seine Natur". Denn der Staat ist die mechanistisch „organisirte Gewaltthätigkeit..." (ebd.). Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[13]; KGW VIII1, 70f. - Begünstigt durch „die christlich-demokratische Denkweise" (Nachlaß Juni-Juli 1885,36[16]; KGW

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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stellt hier Weisen des Menschseins nebeneinander, auf deren Verschiedenheit wir im nächsten Abschnitt eingehen werden. Oft bleiben in seiner Rede von den starken oder höheren Menschen die Unterschiede unausgesprochen; der eine oder der andere Aspekt kann dabei dominieren oder allein im Blick sein. Nicht anders verfährt er mit dem Gegentypus des schwachen oder,niedrigeren' Menschen. Dessen Skala reicht dabei vom Herdenmenschen über den .Mittelmäßigen' bis zum décadent.100 Die Verkleinerung des Menschen im .ungeheuren Räderwerk' der wirtschaftlichen Anpassungsprozesse läßt sich nicht von der .ungeheuren Instinktverschwörung' der .Vielen', die sich des Mittels der Moral bedienen, ableiten. Jeder Versuch einer gedanklichen Vermittlung zwischen dem (moralisch verstandenen) Willen zur Wahrheit, der Nietzsches Verständnis von Wissenschaft trägt, mit der technischen Welt, wie sie ihm in der von Herrmann beschriebenen Maschinerie von Interessen und Leistungen entgegentritt, müßte künstlich bleiben.201

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VII 3,281) ereignet sich, so führt Nietzsche aus, überall die „Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere", z.B. im sozialistischen Ideal ('Jenseits von Gut und Böse 203 ; KGW VI 2,129f.) oder auch in der zeitgenössischen englischen Moralpsychologie (Zur Genealogie der Moral, 1. Abh. 1; KGW VI 3,271). Wenn Nietzsche bei seinen Überlegungen zu geplanten Schriften in der Zeit von Mai bis Juli 1885 (aus denen 1886 Jenseits von Gut und Böse hervorgeht) auch den Titel rfiie Starken und die Schwachen. Gedanken und Gedankenstriche eines guten Europäers" erwägt (Nachlaß a.a.O., 35[8]; KGW VII 3,233), so zeigtauch dies, wie fundamental diese Unterscheidung für sein Denken ist. - In einzelnen Darstellungen differenziert er jedoch unter verschiedener Perspektivik. Auch stellt er das Verhältnis von Typen der Schwachen untereinander wie auch deren Gegensatz zu den Starken gelegentlich heraus. Als Exempel sei eine Niederschrift vom Herbst 1887 herangezogen (10[39]; KGW VIII2,140): „Der Instinkt der Heerde schätzt die Mitte und das Mittlere als das Höchste und Werthvollste ab: die Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; die Art und Weise, in der sie sich daselbst befindet; damit ist er Gegner aller Rangordnung, der ein Aufsteigen von Unten nach Oben zugleich als ein Hinabsteigen von der Überzahl zur kleinsten Zahl ansieht. Die Heerde empfindet die Ausnahme, sowohl das Unter-ihr als das Über-ihr als etwas, das zu ihr sich gegnerisch und schädlich verhält. Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach Oben, die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren ist, sie zur Rolle der Hüter, Hirten, Wächter zu überreden - zu ihren ersten Dienern: damit hat sie die Gefahr in einen Nutzen umgewandelt. [...] Das Mißtrauen gilt den Ausnahmen; Ausnahme sein ist Schuld." Heidegger hat Nietzsche aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auf ebenso gewaltsame wie zugleich weiterführende Weise für die Frage nach dem .Wesen'

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Nietzsche geht der Eigentümlichkeit einer ökonomisch ,bedingten' Verkleinerung des Menschen nicht näher nach, er konstatiert nur ihre Folgen. Mit ihr nehmen „die Schmerzhaftigkeit, die Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig" zu. „Die Vergegenwärtigung dieses ganzen Treibens und der sogenannten .Civilisation'" wird „immer leichter", woraus folgt, „daß der Einzelne Angesichts dieser ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft".101 Deshalb stellt Nietzsche die ökonomisch bedingte Verkleinerung sogleich in den Bezug zu ihrem Gegensatz, dem höheren Typus des Menschen. 203 So notiert er: „Zeitweiliges Überwiegen der socialen Werthgefühle begreiflich und nützlich; es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird [...] Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirthschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung".204 Es gilt zuerst „ein breites Fundament zu schaffen [...], damit eine stärkere Art Mensch darauf stehen kann". Er sucht diesen Gedanken im Blick auf die Vergangenheit plausibel zu machen: „inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch auf einem Niveau der niedrigeren stand ".205

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des technischen Zeitalters in Anspruch genommen. Insbesondere stellt seine Deutung des Übermenschen als Technokraten eine Ausziehung dar, welche über Nietzsches Tendenzen weit hinausgeht. (Vgl. hierzu Vf., Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 156-177.) - Nietzsches Erörterung in Zur Genealogie der Moral, die das Verhältnis von Askese und Wissenschaft darauf zuspitzt: ob „nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte" ist (Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 25; KGW VI 3, 422), hat zu ihrem Hintergrund ein ganz anderes Verständnis von Geschichte als die metaphysikgeschichtliche Denkweise Heideggers. Nachlaß Herbst 1887, 9[162]; KGW VIII 2, 94f. Nur in ihm sieht Nietzsche die Möglichkeit der Überwindung des Niedergangs der Menschheit. Im Zeitalter des Pessimismus steht „die höhere Art" freilich in der Gefahr, daß sie „die wachsende Tapferkeit und Redlichkeit und das kühnere Mißtrauen" dem verleumdeten Leben zurechnet und sich deshalb gegen das Leben überhaupt wendet. Dann gedeihen „nur die Mittelmäßigsten, die jenen Conflikt gar nicht fühlen". (Nachlaß Herbst 1887, 9[162] ; KGW VIII 2, 94f.) Nachlaß Herbst 1887, 9[1]; KGW VIII 2, 3. Nachlaß Herbst 1887, 9[17] ; KGW VIII 2, 10.

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie 13. Nietzsches eigene ökonomische Rechnung. Die Gegenbewegung wirtschaftlichen Gesamtmaschinerie

203 zur

Im Blick (vor allem) auf Herrmanns Buch schreibt Nietzsche: „Was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie als ob mit den wachsenden Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig wachsen müßte". 206 Diese Ausführung verblüfft, weil sie Herrmanns These auf den Kopf stellt, die Nietzsche in Exzerpten aus Cultur und Natur, die direkt vor dem zitierten Text stehen, festgehalten hat. 207 Verständlich ist sie nur, wenn man sie von

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Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 129. - Nietzsche hat hier nicht den psychologischen Typus des ökonomischen Optimisten im Blick, wie er in CN 2 2 8 - 2 3 9 gezeichnet wird. Herrmann kritisiert dessen Einseitigkeit, insofern der Optimist in seinen Wertschätzungen die Nachteile übersieht, die Vorteile durch Illusionen übersteigert und den Zeitraum seiner Betrachtung beschränkt (CN 236). Aber auch wenn Herrmann selbst „weder den Optimismus, noch den Pessimismus predigen" will, so ist er doch überzeugt, daß in der ewig unvollkommen bleibenden Welt jeder „seinen Theil dazu beitragen" kann, daß sie „ein wenig vollkommener werde" (CN 213). Für Nietzsche genügen schon die Erwartungen eines Fortschritts des Menschen, die Herrmann mit der wirtschaftlichen Gesamtverwaltung verbindet, um ihn unter die Optimisten einzureihen.

207

Nachlaß a.a.O., 10[15, 16]; KGW VIII 2, 129. - Es geht darin um die Vorteile, welche die komplizierteren Organismen aus ihrer vollkommeneren Arbeit ziehen. Sie sind so groß, „daß damit die wesentlich erhöhten Erhaltungs- und Schaffungskosten übertroffen werden" (CN 86; s. dazu oben S. 18 lf.). Herrmann hat in diesem Zusammenhang u.a. auch die Bilanz des Menschen fingiert. Bei einer gegenüber anderen Naturwesen hohen Summe der Nachteile von vielleicht 900 000 kommt er auf eine Summe von Vorteilen von einer Million. Der Gewinn erreicht 100 000, und ist damit (im Vergleich mit anderen Lebewesen) extrem hoch. (CN 87) Aber im Maschinenzeitalter senken sich die genannten Kosten bei immenser Steigerung der Ertragsvorteile derart (vgl. dazu z.B. CN 323ff.), daß Vergleiche der genannten Art gar nicht mehr möglich sind. - Insofern Nietzsche sich in seiner oben zitierten ,These' auf die Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde bezieht, in welcher die menschliche Arbeit minimalisiert wird, ist seine Rede von „den wachsenden Unkosten Aller" unsinnig, - wenn man unter Unkosten nicht jene (unzählbaren) Wertverluste versteht, die in Nietzsches ,großer Ökonomie', von der oben die Rede sein wird, die entscheidende Rolle spielen. - Im übrigen beschreibt (und übernimmt) Nietzsche das ökonomische Prinzip der Kostenverminderung im Sinne Herrmanns in einer späteren Aufzeichnung korrekt gemäß dem Prinzip des kleinsten Aufwands (Nachlaß a.a.O., 10[138], KGW VIII 2, 201). - Vgl. dazu oben S. 182-184.)

204

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

einem anderen (nämlich seinem eigenen) .ökonomischen' Ideal her versteht. Im Rahmen seiner Konzeption aber läßt sich Nietzsches Kritik am .Optimismus' plausibel machen: Die Unkosten Aller wachsen mit der Ausbildung der Wirtschaftsverwaltung der Erde nur dann, wenn man die mit ihr gegebene Verkleinerung Aller (und die mit ihr verbundene Ausbeutung der Menschen) in Betracht zieht. Erst in diesem Falle läßt sich mit Nietzsche „das Gegentheil" zu Cultur und Natur folgern: „die Unkosten Aller summiren sich zu einem Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer." Für sich selbst betrachtet ist die Gesamtmaschinerie bei aller ungeheuren Kraft des Ganzen „thatsächlich bloß die Gesammt-Verringerung, Wert/?-Verringerung des Typus Mensch, ein Rückgangs-Phänomen im größten Stil". Dagegen will Nietzsche eine „Weltwirthschaft möglich" machen, „die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften". 208 Wirtschaftlich im (vielleicht zunächst phantastisch anmutenden) Sinne Nietzsches wird jenes Ganze nur, wenn man ein .höheres Wozu' in Rechnung stellt, dem „dieser ungeheure Prozeß" dient. „Ein neues .Wozu?' - das ist es, was die Menschheit nöthig hat ,.."209 Mit dem .Wozu?' nimmt Nietzsche die Frage des Nihilismus wieder auf, die er, ebenfalls im Herbst 1887, in grundlegender Hinsicht erörtert hat. Sie ist dem Zeitalter aus dem Verlust zunächst des Glaubens an übermenschliche persönliche Autoritäten erwachsen, durch die dem Menschen Ziele vorgegeben waren. An ihre Stelle traten die Forderungen der Moral, die Autorität der Vernunft, die Historie „mit einem immanenten Geiste, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kannu. Der „sociale Instinkt" meldete sich an, und auch, „mit einiger Tartüfferie, das Glück der Meisten": womit wir wenigstens in die Nähe von Herrmanns Zukunftsvorstellungen geraten (die Nietzsche aber hier nicht im Blick hat). Der verkleinerte und angepaßte Mensch, den Nietzsche mit der Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde heraufkommen sieht, wird in .seiner Instinkt-Bescheidenheit' vielleicht den Fatalismus akzeptieren, für den es keine Antwort auf die Sinn-Frage gibt: „aber ,es geht irgend wohin', ,es ist unmöglich ein wozu? zu wollen'". Nietzsche findet, daß „gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nöthig wäre", er „am schwächsten und kleinmüthigsten" sei. Er trifft auf ein

208 209

Nachlaß Herbst 1887, 10[134]; KGW VIII 2, 198. Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 129.

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens für's Ganze".210 Zu den Ursachen des Nihilismus zählt Nietzsche in der anschließenden Aufzeichnung, daß „die höhere Species" fehlt, „d.h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den Glauben an den Menschen aufrecht erhält".211 Gleichwohl sollen die,Starken der Zukunft' mit ihren eigenen und neuen Zielsetzungen der gesamten Gesellschaft einen Sinn verleihen, den diese in sich selbst nicht (oder nicht mehr) finden kann. Bei der Durchsetzung solcher Ziele sollen die Gesamtunkosten keinen Gesamtverlust erbringen, wobei wir immer die tradierten, ,engeren' ökonomischen Vorstellungen zurücklassen müssen. Herrmann hat die „Centraldirection der Weltwirthschaft" so beschrieben,212 daß, wie Nietzsche schreibt, „alle dominirenden und commandirenden Elemente" überflüssig werden. Angesichts von deren Fehlen hält Nietzsche Ausschau nach solchen Menschen (er setzt sie geradezu voraus), „derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat". Nietzsche will die J^iothwendigkeit" einer „Gegenbewegung" zur wirtschaftlichen Gesamtmaschinerie erweisen. Einmal mehr hören wir dabei, daß Nietzsche auf die großen Ausnahme-Menschen setzt. In ihr soll (wie schon dargelegt) „eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch". Nietzsches „Begriff" oder „Gleichniß für diesen Typus ist [...] das Wort,Übermensch"'. Des Näheren ist hier die Rede von der „Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen". Darin geht es Nietzsche um die Umkehrung jener „Bewegung", die den partikularisierten und auf gesell210

Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 9 [ 4 3 ] ; KGW V I I I 2 , 1 9 f . - In einer früheren Niederschrift zum Plan von „Der Wille zur Macht" heißt es schon zu dessen Zweitem Buch, das die Kritik der Werte zum Thema haben sollte: „Im demokratischen Gemeinwesen, wo Jedermann Spezialist ist, fehlt das Wozu? für Wen? der Stand, in dem alle die tausendfältige Verkümmerung aller Einzelnen (zu Funktionen) Sinn bekommt." Nietzsche nennt hier als „die Gefahr der Gefahren: Alles hat keinen Sinn." (Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1 8 8 6 , 2 [ 1 0 0 ] ; KGW V I I I 1 , 1 0 7 f . ) Vgl. auch Nachlaß a.a.O., 7 [ 6 ] ; KGW VIII 1, 2 8 9 : „Wir sehn das allgemeine Treiben: Jeder Einzelne wird geopfert und dient als,Werkzeug'. Man gehe durch die Straßen - , ob man nicht lauter .Sklaven' begegnet. Wohin? Wozu?"

2,1

Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 9 [ 4 4 ] ; KGW VIII 2, 2 1 .

212

C N 301ff. - Er denkt an die Einrichtung von „Centraileitungen" verschiedener Bereiche, die „im Sinne der rationellen Weltwirthschaft" organisatorisch tätig sein sollen (a.a.O., 319f.).

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

schaftliche Funktionen reduzierten Typus hervorbringt. 2 1 3 D a ß jener .summiert', besagt nicht, daß er das Besondere nur .addiert', sondern daß er .bilanziert'. Wesentlicher n o c h ist die Synthese, weil in ihr Gegensätze vereinigt werden, die einander steigern sollen. Der Mensch, „welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte", wäre dessen „Glorie und einzige Rechtfertigung". 2 1 4 In der Andersheit seiner Lebensbedingungen bleibt er aber nicht nur bezogen auf jene - bei aller „ G e g n e r s c h a f t der M e n g e " zu ihm und allem „Dis t a n z - G e f ü h l " v o n seiner Seite - ; er rechtfertigt mit d e m Dasein überhaupt auch die Gesamtgesellschaft, indem er ,auf ihr steht'. Die „Machinalisirung der Menschheit" stellt „eine Daseins-Vorausbedingung" für den stärkeren M e n s c h e n dar, sie bildet „ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu

213 214

Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 128f. Nachlaß Herbst 1887,10[111]; KGW VIII2,185f. - Nietzsche kann nun auch von einer (nicht primär teleologisch aufzufassenden) „Ökonomie der Menschen-Entwicklung" sprechen. In ihr sind nicht nur die „Mittelmäßigen", „die gewöhnlichen Menschen" wie überhaupt „die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen", sondern „ganze Zeiten, ganze Völker". Man muß das „Bruchstückhafte[n]" in alledem zusammenrechnen, wenn ein Mensch oder gar ein großer Mensch herauskommen soll. Aber .gerichtet' ist diese ganze Ökonomie auf „das Zustandekommen des synthetischen Menschen". In seiner historischen Betrachtung haben „ganze Zeiten, ganze Völker [...] etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt". Ein .ganzer Mensch', welcher „hie und da entsteht", gilt dem späten Nietzsche aber nur als „der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit gekommen" ist. Alles bisherige Bruckstückhafte wird so einerseits gerechtfertigt, andererseits aber müssen die bloßen „Vorspiele und Einübungen" zurückgelassen werden, wenn das Höhere sein Recht fordert. (Nachlaß Herbst 1887, 10[111]; KGW VIII 2, 186) - In Also sprach Zarathustra hat Nietzsche den Willen zu menschlichem Ganzsein zum .Ideal' des Übermenschen vorangetrieben. Zarathustra wandelt deshalb in Von der Erlösung „unter den Menschen wie unter den Bruchstücken und Gliedmaassen von Menschen". Wir finden hier - noch ohne den ökonomischen Einschlag - die Forderung nach der beschriebenen Synthese. Die Ganzheit Mensch in einem umfassenden Sinn gibt es (noch) nicht. Haben wir im Abschnitt 2 (oben S. 143f.) Nietzsches Gedanken herangezogen, der Mensch solle das All zersplittern, um das Seine zu gewinnen, so findet Zarathustra „den Menschen zertrümmert [...] und zerstreuet wie über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin". Zarathustra will „in Eins" dichten und zusammentragen, „was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall". (Also sprach Zarathustra II; KGW VI 1, 174f.)

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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sein sich erfinden kann". 215 Solche Erfindungen können angesichts der möglichen Gegensatz-Synthesen zu ganz unterschiedlichen Ausprägungen führen. Aber sie setzen einen Jieichthum an Kraft" in der Gesellschaft voraus, der so groß sein soll, „daß sich ein Abzug von Kräften denken" ließe, „dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen", heißt es in einer Aufzeichnung über JDie Starken der Zukunft". 216 Biologisch und ökonomisch in einem (naturhaft und kulturell) sieht Nietzsche die ¿Zähmung" des Menschen nicht als „Schwächung", sondern als „ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit" an, „so daß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können - [...] organisch aus ihnen herauswachsend, ins Stärkere ..."217 Das Verhältnis des ,höheren Typus' zur ,Menge' bestimmt Nietzsche in mehrfacher Weise. Jener muß „das Distanz-Gefühl" zu den „,Nivellirten'" ausbilden, er braucht sogar ihre „Gegnerschaft". Aber er braucht die ,machinalisierte Menschheit' vor allem auch als seine Basis, sie kann in ihrer „Instinkt-Bescheidenheit", ihrer angepaßten und spezialisierten „Nützlichkeit" ihren Sinn in einem „Aristokratism [...] der Zukunft" finden. 218 Zugleich stellt er sich eine „Verwandlung" der „Form der Gesellschaft" vor, die dazu

215

Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 129. - Vgl. Nachlaß a.a.O., 9[153]; KGW VIII 2, 89f.: „Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist; man sollte ihn noch beschleunigen. Die Nothwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht, die Nothwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen [.] Diese ausgeglichene Species bedarf einer Rechtfertigung, sobald sie erreicht ist: die liegt im Dienste einer höheren, souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu seiner Aufgabe erheben kann."

216

Nachlaß Herbst 1887, 9[153]; KGW VIII 2, 89. Nachlaß Frühjahr 1888, 15[65]; KGW VIII 3, 244. Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII2,128f. - Den hier zugrunde liegenden Gedanken, daß alle „Staats- und Gesellschaftsformen [...] ewig nur Formen der Sklaverei sein" werden, hat Nietzsche schon frühzeitig gefaßt. In einer Aufzeichnung von 1881/82 werden die „Selbsteigenen", „Selbstherrlichen" als die Herren von den Sklaven unterschieden, zu denen Nietzsche „Fürsten Kaufleute Beamte Ackerbauer Soldaten" rechnet. Diese alle „rechtfertigen und verhehlen" „ihre Sklavenarbeit vor sich selbst", was er ihnen zugesteht. Wesentlich ist nur, daß die Selbsteigenen „der Sinn und die Apologie des ganzen Treibens sind! So seid denn die Müller und laßt von diesen Bächen euch die Räder umdrehen!" (Nachlaß a.a.O., 16[23]; KGW V 2, 562f.)

217 218

208

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

führe, daß sie „irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existiren" könne, „sondern nur noch als Mittel in den Händen" der Stärkeren. Die Frage stellt sich, wie das von Nietzsche mit der Gegenbewegung angestrebte Verhältnis des .höheren Typus' zur Menge herbeigeführt werden könnte. Ist in der bisherigen Geschichte die .stärkere Art' teils aus Not, teils aus Zufall entstanden, so kann man jetzt, wie er schreibt, „die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist". Nietzsches Hinweise darauf bleiben jedoch sehr allgemein. Er muß einen „Reichthum an Kraft" in der Gesellschaft voraussetzen, der so groß ist, daß sich der genannte .Abzug von Kräften' für die Gegenbewegung vorstellen läßt. Dadurch soll z.B. die Verlagerung der Erziehung vom „Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft" auf „den möglichsten Nutzen der Zukunft" erfolgen können. Nietzsche spricht ferner mehrdeutig von Züchtung und sieht in der „zunehmende[n] Verkleinerung des Menschen [...] die treibende Kraft", durch die eine stärkere Rasse zur Herrschaft gelangen könne.219 Mit alledem fordert Nietzsche, „eine „Herren-Rasse" für die zukünftige Erdherrschaft „heraufzuzüchten", mit „dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen", die sich „des demokratischen Europas bedienten [...], um am .Menschen' selbst als Künstler zu gestalten".220

14. Die starken Menschen als Luxus-Überschuß der Menschheit Bevor Nietzsche die Uberzeugung von der Unvermeidlichkeit der wirtschaftlichen Gesamtmaschinerie gewonnen hatte, stellte sich die Frage nach der Verwaltung der Erde durch Menschen, die dieser Aufgabe gewachsen sein sollen, für ihn noch auf eine weniger problematische Weise. Die Geschichte wurde von ihm als „die große Versuchs-Anstalt" angesehen;

219 220

Nachlaß Herbst 1887, 9[153]; KGW VIII 2, 88f. Nachlaß a.a.O., 2[57] ; KGW VIII1,85f. - Klossowski fragt hierzu: „Raserei? Eine Farce? Oder beides gleichzeitig?" Die „schöpferische Initiative", von der Nietzsche in dieser Aufzeichnung spricht, verweist auf den Übermenschen (die Anklänge an .Zarathustra' sind in der Tat unverkennbar). Für Klossowski gehört der Übermensch zu den „prophetischen Phantasmen" Nietzsches; jenes Schöpferische stehe im Widerspruch zum Gedanken der ewigen Wiederkehr, derzufolge es nur „.Zufälle"' gebe, die „unabhängig vom Wollen oder Nicht-Wollen" hervorgebracht werden. (Nietzsche, a.a.O., [Anm. 182], 230f., vgl. 241ff. und bes. 266ff.)

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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eine,ökonomische Verlust- und Gewinnrechnung' wurde dabei nicht aufgemacht. In dieser .Anstalt', so heißt es 1884, ist „die bewußte Weisheit vorzubereiten, welche zur Erd-Regierung noththut". 221 Wenn er aber später „die Erfahrungen der Geschichte" der Menschheit zum „Problem der Oekonomie" erhebt, so nötigt ihn dies in größerem Maße als zuvor dazu, sich einen Uberblick über die letzten Folgen jener Versuche zu verschaffen. In bezug auf die Ergebnisse der Herrschaft der Starken für ,das Gesamte' der Menschheit meldet sich dabei ein wesentlicher Selbsteinwand. Er betrifft das Problem der „Aufrechterhaltung des Typus ,Mensch'" überhaupt. Hier gilt für Nietzsche, was schon für die Ökonomie der einzelnen Kulturen dargelegt wurde: Im Unterschied zu den Starken garantieren allein die Mittelmäßigen und Schwachen das auf Dauerhaftigkeit gerichtete Interesse des menschlichen Lebens. Insofern der starke Mensch des .Untergestells' der machinalisierten Menschheit bedarf, ist die .ökonomische Rechnung' neu aufzumachen. Kann eine derartige .Basis' nicht gerade durch ihren .Uberbau' mit diesem zusammen zerstört werden? 1888 fragt Nietzsche: Ist nicht „die Steigerung des Typus verhängnißvoll für die Erhaltung der Art?" Wieder orientiert er sich an den „Erfahrungen der Geschichte". Er geht nun unter .Wirtschaftsgesichtspunkten' der „Vergeudung" bei den „starken Rassen" nach, bei welchen „Kraft nicht mehr kapitalisirt" wurde. Der Rückblick zeigt: Können sich „die starken Rassen" in „Krieg, Machtbegierde, Abenteuer" entfalten, so „dezimiren" sie sich gegenseitig und „reiben sich unter einander auf". Von „starken Affekten" geleitet, vergeuden sie sich. Ökonomisch betrachtet ist „ihre Existenz [...] kostspielig"; mit „Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit" werden „alle großen Zeiten bezahlt". Die „verschwenderische[n] Rassen" sind „hinterdrein schwächer, willenloser, absurder als die durchschnittlich-Schwachen". Allein die „Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen" konnte garantieren, daß der Typus Mensch überhaupt noch existiert. 222

221

222

Nachlaß Sommer-Herbst 1 8 8 4 , 2 6 [ 9 0 ] ; KGW VII 2 . 1 7 1 . - Zu dieser Bewußtheit gehört auch hier ein synthetisierendes „Zusammen-denken des Erlebten" (ebd.). Nachlaß Frühjahr 1888, 14[182]; KGW VIII 3, 161f. - Die herangezogene Besinnung steht am Schluß einer längeren Aufzeichnung unter der Überschrift: „Warum die Schwachen siegen". In ihr werden Typen und Eigenarten von .Kranken' und .Schwachen', der Narr und der Heilige dargestellt, auch in ihrer interessanten Verwandtschaft zum Genie und zum Verbrecher beleuchtet; die décadence wird als altersbedingter Lebenszustand und als Typus aufgeführt, mit dem das als schwach und unbeständig klassifizierte Weib gegen die .Starken' konspiriert,

210

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Nun zieht Nietzsche allerdings mit den sich in Krieg und Machtbegierde schwächenden starken Ausnahmemenschen ein ökonomisches Extrembeispiel heran. Aber ist nicht nur die Ausnahme, sondern jeder synthetisierende große Mensch, von dem wir gehört haben, daß er die Gegensätze gummiert', im Krieg: zum mindesten mit sich selbst? In der Entwicklung des Menschen geht oft „der schon erreichte Typus verloren", schreibt Nietzsche. Bei den sich untereinander .kostspielig' aufreibenden Rassen ist die Erhaltung des Typus Mensch stärker gefährdet als bei den (jedenfalls zunächst) auf dem zivilisatorischen .Untergestell' aufbauenden Typen. Daß er angesichts der Gefährdung der Höheren, die immer Ausnahmen bleiben, den Ansprüchen der Durchschnittlichen als der .Basis' um der Arterhaltung willen Rechnung trägt, haben wir schon bei der Erörterung des Verhältnisses von Zivilisation und Kultur im 6. Abschnitt dargelegt. 223 Jene Ansprüche rechtfertigt er, wenn er die Zivilisation in einen weiten Begriff von Kultur einbezieht. In der langen Zeit, so schreibt er, „wo eine Cultur noch mit Mühe sich aufrecht erhält", ist der Kampf gegen die Ausnahmen, „ökonomisch betrachtet, vollkommen vernünftig". Stellt da doch „jede Ausnahme eine Art von Vergeudung von Kraft" dar: als „etwas, das ablenkt, verführt, ankränkelt, isolirt". Erst wenn das Fundament des jeweiligen gesellschaftlichen Ganzen gefestigt ist, kann einer „Cultur der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance [...] ein Recht auf Dasein" zugesprochen, kann „nunmehr selbst die Verschwendung ökonomisch" werden. 2 2 4

223 224

schließlich auch die ,JZwischen-species" der (.naturalistischen') Artisten mit den Irren und den Verbrechern auf eine Weise ins Spiel gebracht, die den „Ausschuß", den „Abfall", die „Auswurfstoffe" an Bedeutung gewinnen läßt. „ - das Abwärts hält Schritt...": darin liegt der Triumph des „Gesammtinstinkt[s] gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art" mit dem Ergebnis, „daß in der That sich alsbald selbst die Privilegirten unterwerfen". Um des Festhaltens an gegebener Macht willen wird dem Pöbel geschmeichelt; noch „die .Genies' [...] werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert". (A.a.O., 1 5 7 - 1 5 9 ) . In solchen Prozessen der Anpassung haben die eigentlich Privilegierten noch die .besten' Durchsetzungsund Überlebenschancen. S. o. S. 165f. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888,16[6]; KGW VIII3,280f.; vgl. Nachlaß Herbst 1887, 9[139]; KGW VIII 2. 78. - Angesichts eines ungefestigten Ganzen rechtfertigt sich die Erziehung als „ein System von Mitteln, um die Ausnahmen zu Gunsten der Regel zu ruiniren", wie die Bildung, welche „den Geschmack gegen die Ausnahmen [...] zu Gunsten der Durchschnittlichen" richtet. (Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, a.a.O., 280) - Im Verständnis der aristokratischen Isolierung

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

211

Aus Nietzsches ökonomischer Betrachtungsweise heraus ist der starke Ausnahmemensch also nicht unter allen Umständen .gerechtfertigt'. Die Entfaltung einer extremen Ausnahme-Kultur im Rahmen eines gesellschaftlichen Ganzen ist nur dann ,tolerabel', wenn die diesem immanenten Spannungen nicht zu stark sind und hinzutretende extreme Bewegungen nicht seinen Zusammenhalt gefährden. Nietzsches .haushälterisches' Denken ist in solchen Erwägungen alles andere als maßlos oder anarchistisch. Aber sein Verständnis des Ökonomischen, demzufolge erst durch die Einbeziehung eines höheren - und neuen - Wozu der „ G e s a m m t - V e r l u s t " abgewendet und .Gewinn erzielt' werden kann, ist zugleich alles andere als konservativ. einer Grappe von Menschen" als einem Überschuß der Menschheit liegt, wie Klossowski zutreffend herausstellt, die .moralische' JDtstanz zu der Gesamtheit". Diese sieht aber den ,,.Luxus' (aber auch die Kultur)" solcher .Überschüssigen' nur als „einen rebellischen, kranken oder degenerierten Teil ihrer selbst an". Er fragt zu Recht, „welche .Gesamtverwaltung' könnte jemals ,'Treibhäuser' dieser Art vorsehen", wie Nietzsche sie erhofft. Hat Nietzsche nicht unsere „Konsumgesellschaft" antizipiert, welche „durch die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse versklavt wird"? (Nietzsche, a.a.O., [Anm. 182], 246f., 261ff.) Er hat (nach Klossowskis Deutung) die Zukunft geheimen Kräften anvertraut, die unter der „Gesamtverwaltung der Erde" im Verborgenen warten können, bis ihre Zeit gekommen ist (a.a.O., 25Of., 262f.). Wahrscheinlich ist, daß zwar jede kleine Komplott-Gemeinschaft in jedem beliebigen Regime Verheerungen anrichten könnte. Aber sie muß zugleich fatalerweise ihre Selbstauflösung betreiben, welche zuletzt dadurch erfolgt, daß sich die Herde ihres Geheimnisses bemächtigt und es durch .Institutionalisierung' seiner Bedeutung und seines Wertes entkleidet (Circulus, a.a.O., [Anm. 182], 94). Durch „die entfesselte Macht der Fortpflanzung" hat sich die Menschheit in einem Maße vermehrt, welches „die Gattung zu einer fortwuchernden Monstrosität" werden läßt, in deren Homogenität „jede Differenz annulliert wird" (Nietzsche, a.a.O., 240ff.). Demnach bliebe jede .Gegenbewegung' im Sinne Nietzsches nur ein Sichkräuseln der Meeresoberfläche. - Klossowski schreibt, Nietzsche führe „auf seine Weise einen Kampf gegen die Kultur - und zwar im Namen einer Kultur der Affekte" (Nietzsche, a.a.O., 36). Es ist zutreffend, daß Nietzsche die abendländische Kultur entgegen ihrem Selbstverständnis auf „Grundtriebe" (letztlich: den Machtwillen) zurückführt (a.a.O., 23f.). Deren kulturstiftende Bedeutung wird aber von Klossowski nicht angemessen berücksichtigt. Es ist auch unzutreffend, daß bei Nietzsche immer die destruktiven Tendenzen des Affektiven gegen .den Geist' stehen. Die Geist-losigkeit der auf das Affektive reduzierten Konsum-,Kultur' der Gegenwart wäre ihm natürlich ein Greuel gewesen. - Zur positiven Bedeutung des Geistes und der Vergeistigung beim späten Nietzsche s. Abschnitt 23.2 in Teil III dieser Abhandlung (unten S. 322ff.).

212

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Im Ausgang vom Untergestell beschreibt Nietzsche die Gegenbewegung zur Erzeugung eines höheren Typus „als Ausscheidung eines Luxus-Uberschusses der Menschheit".225 Diese Ausscheidung soll eine Bereicherung für ,das Ganze' bringen. Dafür ist „die Züchtung einer stärkeren Rasse" notwendig. Diese würde Nietzsche zufolge „gerade ihren Uberschuß darin" haben, „worin die verkleinerte species schwach und schwächer würde", nämlich in: „Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sichsetzen-können". 2 2 6 Diesen Uberschüssen gegenüber fällt sogar die noch bevorstehende „Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus Mensch" 227 unter die Unkosten, die getragen werden können. Aber noch ist näher von den Entfaltungsbedingungen jener Art von „Treibhauscultur für die ungewöhnlichen Gewächse" zu handeln. Was abgesondert vom .Naturwuchs' in solchem Treibhaus ,gezüchtet' wird,

225

Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 128. - Anfang 1888 hat Nietzsche diese Kennzeichnung in seine Planung zu Der Wille zur Macht aufgenommen: Nachlaß, 12[1]; KGW VIII 2, 446 (Nr. 150). - Wo es nur darauf ankommt, „daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer .Person' zu verlangen"; die Menschen sind hier „Träger, Transmissions-Werkzeuge". (Nachlaß Herbst 1887, 10[59]; KGW VIII 2, 158) Vom „Luxushaften", das „unter die Menschen kommen" kann, weil die Menschheit „im neuen Jahrhundert vielleicht schon mehr Kraft durch Beherrschung der Natur erworben haben wird als sie verbrauchen kann", hat Nietzsche schon im Sommer 1880 gehandelt (Nachlaß 4[136]; KGW V 1, 465f.). Wenn er 1887 den Begriff des Luxus mit einem positiven Akzent versieht, so steht dabei vielleicht wieder Herrmann im Hintergrund. In Cultur und Natur hatte dieser gefragt, ob die Natur nicht bei der Amöbe hätte stehen bleiben müssen, da diese die (relativ) größten Gewinne bei kleinsten Verlusten erziele: „wäre die Entwickelung vollkommenerer Wesen nicht wahrhaftig Luxus?" (CN 83; Nietzsche hat die Frage durch Randstrich markiert.) Herrmann schätzt den Luxus keineswegs gering ein (CN 39). Schon bei den primitiven Kulturen hebt er „die Stufe der Vornehmen" von der „Stufe der Geringeren" dadurch ab, daß die ersteren „allen Luxus, allen Reichthum, alle Genüsse des Lebens in sich concentrirt" haben (180). „Unserem Vergnügen" dient auch die „Luxusthier-Species, wie z.B. Singvögel und Goldfische" (116; von Nietzsche durch Randstrich markiert). Herrmann geht es in alledem um die Einbeziehung des Überflüssigen in das Wirtschaftsleben (vgl. 311), für Nietzsche hingegen entspringt der .wesentliche' Luxus dem Reichtum des Uberflusses, der schöpferisch wird. Seine Ökonomie der Erzeugung des höheren Typus greift über das hinaus, was Herrmann als .bloßen Luxus' ansieht.

226

Nachlaß Herbst 1887, 9[153]; KGW VIII 2, 89. Nachlaß Herbst 1881, 10[17]; KGW VIII 2, 129.

227

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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bedarf der Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen als die durchschnittlichen heute sind". 228 So kann „ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen" entstehen, das seine „eigene[r] Lebenssphäre" aus dem Gegensatz zum verkleinerten Menschen der Gesellschaft gewinnt. 229 Für die Herbeiführung der damit angedeuteten Konstellation bedarf es des starken Menschen der Zukunft als des Herrschers. Nun stellt aber das Herrschen als Regieren eine (wie distanziert auch immer zu denkende) Hinwendung zu den Vielen dar. Zur Sonderung der starken Ausnahmemenschen als .Treibhausgewächse' gehört aber die weitestgehende Abwendung als Bedingung zu ihrer Entfaltung. 230 Zwar kann Nietzsche beide Weisen höheren Menschseins für die Rechtfertigung der nivellierten Spe-

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Nachlaß Herbst 1887, 9[153]; KGW VIII 2, 89. - Nietzsche führt hier unter solchen Interessen auf: „die Einübung in umgekehrten Werthschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten". Ebd. - Vgl. die Rede vom „Treibhaus der Luxus-Cultur" (Nachlaß Herbst 1887, 9[139]; KGW VIII 2, 78). - Nietzsche wertet damit die kritische Einschätzung der kulturellen „Treibhaus-pflanze[n]" durch Herrmann um, der gerade in der Absperrung .geliebter Wesen' von der .Welt' die schädlichen Folgen pointiert hat (CN 13). Die Einbeziehung des .Treibhauses' gehört wieder zur ökonomischen .Gesamtrechung', die Nietzsche gegen Herrmann aufstellt. - Abseits von dieser Auseinandersetzung kann Nietzsche sich durchaus in einer (freilich letztlich äußerlichen) Nähe zum kritischen Gebrauch der Treibhaus-Metapher Herrmanns bewegen. So kennzeichnet er z.B. mit ihrer Hilfe die .Unnatürlichkeit' kultureller Entwicklungen: „Unsere Cultur leidet an Nichts mehr, als an dem Überfluss anmaasslicher Eckensteher und Bruchstück-Humanisten; unsere Universitäten sind, wider Willen, die eigentlichen Treibhäuser für diese Art von Instinkt-Verkümmerung des Geistes." (Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen abgeht 3; KGW VI 3, 99) In Entwürfen zu Also sprach Zarathustra stellt Nietzsche der unausweichlich eintretenden Bewegung der Nivellierung der Menschheit, die den letzten Menschen erzeugt, seine Bewegung entgegen, die den Übermenschen vorbereiten soll. Die Ubermenschen sollen aber nicht „als die Herren der Ersteren aufzufassen" sein, obwohl ihr Entstehen „das Schaffen Übermächtiger" zu seiner Voraussetzung hat. Nietzsche stellt die Absonderung der Übermenschen dadurch besonders scharf heraus, daß er sie mit den „epikurischen Götter[n]" vergleicht, die sich um .die Vielen' nicht kümmern. (Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[21], KGW VII 1, 252. - Vgl. dazu die Ausführungen und Hinweise von M.-L. Haase in: Der Übermensch in .Also sprach ZarathustraNietzsche-Studien 13 (1984), 242ff.)

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

zies in Anspruch nehmen. Wie jedoch das Verhältnis der höheren Typen zueinander zu denken ist, bleibt eine offene Frage. Im herangezogenen Text setzt er - wie auch anderwärts - den Herrschertypus mit dem auf Isolation gerichteten Typus in eins. Die zukünftigen Starken sollen nach seiner Vorstellung „nicht nur eine Herren-Rasse" sein, „deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren". Zugleich sollen sie sich in ihrer eigenen und gesonderten Sphäre „jeden großen Luxus gönnen" dürfen: „mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur, Manier bis ins Geistigste". Sie sollen über „die verkleinerte species" herrschen und abseits von dieser ihre Treibhaus-Kultur pflegen.231 Es ist nicht zu übersehen, daß die Herrschaft über die verkleinerte Species und die Entfaltung einer abgeschirmten Kultur zwei verschiedene Aufgaben der starken Menschen der Zukunft darstellen. Läßt diese Verschiedenheit es überhaupt zu, daß sie durch denselben Typus der Größe wahrgenommen werden können? Laufen dessen Ausprägungen in Nietzsches Entwürfen nicht auseinander? Müssen wir nicht sogar weitere Differenzierungen bei diesem Typus vornehmen? Haben wir doch schon vernommen, daß sich die Gegnerschaft der Menge gleichermaßen gegen den Vorrang von Raubtier und Cäsar wie von Einsiedler und Hirt richtet. Allerdings finden wir bei genauerer Betrachtung, daß Nietzsche uns zuletzt auf den Hauptgegensatz des Mächtigen und des Weisen zurückführt.232 Denn der Eroberer und Überwinder (das ,große Raubtier') und der Herrscher (,Cäsar') repräsentieren zwei Phasen des Typus des Starken als des 231

Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 9 [ 1 5 3 ] ; K G W VIII 2, 89f. - Aber Nietzsche hat auch immer die andere Konsequenz aus der „Verkleinerung des Menschen" vor Augen: „wenn Alle ihre Kräfte zusammenthun, werden sie über die vornehme[n] Rasseln] Herr·, und da diese selber oft von ihren noblen Instinkten her zum Wegwerfen ihrer harten Existenz verführt [...] oder entartet sind, so daß sie nicht mehr an sich glauben, so geschehen dann z.B. solche große Thorheiten wie die Vorspiele der französischen Revolution. Dann tritt eine Art Übergewicht der Vielzahl, folglich der geringsten Art Mensch über die Ausgesuchteren und Selteneren ein", in dessen Folge „das Große ausstirbt". (Nachlaß Mai-Juli 1 8 8 5 , 3 5 [ 2 2 ] ; K G W VII 3, 2 4 0 )

232

Das gilt auch für die typischen Weisen von ,Selbstgestaltung', die Nietzsche im Frühjahr 1 8 8 8 notiert: „ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Herdenthier werden will?" (Nachlaß 1 5 [ 1 1 4 ] ; KGW V I I I 3 , 2 6 8 ) Oder für die Achtung", die sich „die Stärksten und Reichsten [...] als instinktives S i c h - i n - E i n s - r e c h n e n mit einem großen Quantum Macht" zu geben: „der Held, der Prophet, der Cäsar, der Heiland, der Hirt". (Nachlaß Herbst 1 8 8 7 , 9 [ 1 4 5 ] ; K G W VIII 2, 83.)

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Mächtigen, denen die Größe ,des Weisen' (des .Einsiedlers') gegenübersteht. Der Hirt jedoch gehört, ungeachtet seiner ihm von Nietzsche eingeräumten relativen .Größe' zur Herde, auch wenn er ihr .vorangeht'. 233 Die Unterschiedlichkeit der in seinem Sinne .Großen' tritt bei Nietzsche zurück, indem er sie als Starke den Schwachen gegenüberstellt. Nur in den aufgeführten Typisierungen finden wir eine interne Hierarchie von künftigen Starken angedeutet. Sein Interesse geht darauf, den genannten Gegensatz von Mächtigkeit und Weisheit zusammenzudenken. 234 Dabei orientiert er sich an geschichtlichen Vorbildern. 233

Letztlich ist er für Nietzsche JVl/ííe/ zur Erhaltung der Heerde", während „im Gegensatz" zu ihm .der Herr' der y¡Z,weck" ist, „weshalb die Heerde da ist". (Nachlaß Sommer 1886-Frühjahr 1887, 6[26]; KGW VIII 1, 251) - Eine Weise des oben genannten .Vorangehens' des Hirten hat Nietzsche im Typus des asketischen Priesters in Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 13-15, vorgestellt. Dessen „ungeheure Mission" besteht darin, als Arzt und Krankenwärter, der selber krank ist, „der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde" zu sein (KGW VI 3. 390). ihr .voranzugehen' (a.a.O., 384) und sie sogar gegen sich selbst zu verteidigen (a.a.O., 391). - Soweit er nicht .krank' ist, kann er jedenfalls nur zu den grossen Durchschnittlichen" zählen, um „breite populäre Wirkungen" erzielen zu können; auch der „Stifter des Christentums" muß etwas von der „perfection de la médiocrité" gehabt haben, um „auf alle Art Heerdenthier gewirkt" haben zu können (Nachlaß November 1787-März 1888, 11[32]; KGW VIII 3, 260f.) Das „Vorangehn" des Hirten besagt zwar nicht bloßes „m/fgehn" (was die .Herdentiere' tun); es ist aber kein für-sich-gehen', das den Ausnahmemenschen kennzeichnet (Nachlaß Juli-August 1888, 18 [7]; KGW VIII3,334). Für Nietzsche ist es eine „Gewissensfrage", ob man als Hirt oder als Ausnahme .voranläuft'. (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 37; KGW VI 3, 59)

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M. Fleischer hat „die Vielfalt der Konkretisierung des höheren Typus" bei Nietzsche in dem Kapitel „Der höhere Typus" ihres Buches Der, Sinn der Erde' und die Entzauberung cíes Ubermenschen zu Recht zur Geltung gebracht (Darmstadt 1993, 312 (Anm.ll), 180-220). Ich stimme ihr darin zu, daß hier „kein Differenzpunkt" zu meinen Ausführungen über den Ubermenschen (in Kap. 6 und 7 meines Nietzsche-Buches von 1971) „gegeben sein muß". Die beiden Typen des Übermenschen, die ich dort herausstelle, haben in der Tat, wie Fleischer schreibt, „die Bedeutung von Grundtypen, die sich in der Realität je verschieden ausdifferenzieren können" (a.a.O., 312). Damit wendet sie sich gegen meine These von der Unvereinbarkeit der Grundtypen des Starken, Gewalttätigen einerseits und des Weisen, Synthetisierenden andererseits. Keine andere These meines Buches (und ihre Begründung) ist so kontrovers aufgenommen worden wie diese. Einige Autoren haben gemeint, ich höbe mit ihr die innere Einheit von Nietzsches Gedanken des Übermenschen auf, andere wiederum fanden in ihr eine Bestätigung

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Der Luxus in Nietzsches anspruchsvollem Sinne der Distanz von der Gesellschaft kann nur gedeihen, wo „eine Glückslage" entstanden ist, in welcher „der große Zwang [...] nicht mehr nöthig" ist. Dann tritt in dem Kultur-Treibhaus „eine ungeheure Menge von Varietäten und Monstren (Genie's eingerechnet) auf; mitunter geht an deren Kampfe das Gemeinwesen zu Grunde". Ist der Fortfall von „Noth" und „beständige[r] Gefahr" einerseits die Voraussetzung für die „Variation des Typus" und für die Entfaltung .sonderbarer und ausgesuchter Pflanzen', 235 so hat man nach Nietzsche andererseits - und dementgegen - „den höchsten Typus freier Menschen [...] dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird". Es ist „die grosse Gefahr", welche ¿zwingt, stark zu sein ... Erster Grundsatz: man muss es nöthig haben, stark zu sein, sonst wird man's nie". Nietzsche nennt „die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig", wenn er an die Treibhaus-Vielfalt denkt, die sich unter bestimmten sozialen Bedingungen verwirklichen läßt. Vor allem in der Renaissance-Kultur sieht er zusammengebunden, was in der Konsequenz seiner eigenen Darlegungen auseinanderstrebt: „Jene grossen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es bisher gegeben hat [...] verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe: als Etwas, das man hat und nicht hat, das man will, das man

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für Nietzsches Offenheit in einer Philosophie des Experiments, wieder anderen diente sie dazu, die Widersprüchlichkeit dieser Philosophie gegen ihren Begründer auszuspielen. Am Beispiel der Argumentation von Fleischer sei hier lediglich ausgeführt, daß die .Ideale' von rückhaltloser Gewalttätigkeit und von synthetisierender Weisheit natürlich .reale Verbindungen' eingehen können (vgl. Fleischer, a.a.O., 313). Aber beide Ideale erfahren in diesen Fällen unvermeidlich Restriktionen. Auf die Unvereinbarkeit der (idealtypisch gedachten) Grundtendenzen kam es mir an. Würde man einräumen, daß es Nietzsche nur um die (aus .realistischer Sicht' heraus) miteinander zu vereinbarenden Gestalten des höchsten Menschen gehe, so würde man seiner Philosophie des Extrems nicht gerecht. Daß er die Extreme nicht zusammenhalten kann, gerade wenn er sie auszieht, darf nicht unterschlagen werden. Nietzsches letzter Dionysismus ist Ausdruck seines am Schluß sich übersteigernden Extremismus; in ihm gehen die Synthesen der Weisheit unter. Nur wenn man ihm bis in sein Äußerstes folgt, kann man seinem Scheitern Gerechtigkeit widerfahren lassen. Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[22]; KGW VII 3, 238f. - Verwiesen sei hier auf Nietzsches Verständnis des Instinkts der Freiheit als Wille zur Macht. Vgl. Freiheit und Wille, Abschnitt 17, oben S. 104ff.

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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erobert ...u.236 Schon in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben hat Nietzsche die „Hundert-Männer-Schaar", auf deren Schultern sich die Renaissance-Kultur erhob, als Beispiel für die monumentalische Geschichtsbetrachtung herangezogen, welche „dem Gegenwärtigen" Mut und Hoffnung verleihen können soll. Auch ,heute' seien „nicht mehr als hundert productive, in einem neuen Geist erzogene und wirkende Menschen" nötig, „um der in Deutschland gerade jetzt modisch gewordenen Gebildetheit den Garaus zu machen". Freilich gehört die Täuschung „durch Analogien" zur „monumentale[n] Historie". Und auch Nietzsche verfällt ihr, vielleicht sogar gern, wenn er seine Zukunftserwartungen an dieser singulären (und von ihm dazu noch idealisierten) Konstellation der Geschichte orientiert. 237 Diese Orientierung finden wir etwa in der Ausführung, wir hätten „mit aller Anspannung von 3 Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht", der „hinwiederum [...] hinter dem antiken Menschen" zurückgeblieben sei. In solchen Ausführungen zeigt sich im übrigen auch, daß Nietzsche noch 1 8 8 7 seinen frühen (und nie preisgegebenen) Idealen vom ganzen oder vollen Menschen anhängt. 238

236 237

238

Götzen-Dämmerung, Streifzüge 38; KGW VI 3, 133f. Vom Nutzen und Nachtheil... 2; KGW III 1, 256-259. - Dabei hält Nietzsche auch später daran fest, daß, „was man früher nicht wußte, eine Rückbildung [...] nicht möglich" ist: er wendet diese Einsicht auf die Moralisten an, auf die Priester, schließlich auch auf konservative Politiker. Sie alle „suchen die Menschen auf ein früheres Schema zurückzubringen und Tugenden an ihnen zu entwickeln, die ehemals Tugenden gewesen sind". Man kann durch „Hemmung" einer Entwicklung „eine Entartung und Vernichtung herbeiführen - mehr kann man nicht". Auf die Romantiker bezogen heißt es schließlich: „Das Verlangen nach ehedem ist selbst ein Zeugniß für eine tiefe Unlust und Zukunftslosigkeit". Doch wenn Nietzsche ,der Renaissance' auf seine Weise Zukunft verleiht, sollen „die regressiven Tendenzen" offenbar nicht beweisen, „daß man sehr spät, zu spät ist, daß man alt ist ..." (Nachlaß Frühjahr 1888,15[97]; KGW VIII3, 257f.). - Nur unter der (schon in der Zweiten Unzeitgemäßen erwogenen) .Voraussetzung', die Zukunft führe schließlich wieder zu jener Konstellation, welche das vergangene Geschehen bedingt hat, würden wir faktisch .zurück' zur Antike und zur Renaissance gelangen. Von dieser .Möglichkeit', von Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen, wird im Dritten Teil dieser Abhandlung zu handeln sein. Nachlaß Herbst 1887, 10[111]; KGW VIII 2, 186. - Vgl. dazu Exkurs 2 im Anhang an diese Abhandlung, S. 369f.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

„Jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance" stellt sich unter dem Gesichtspunkt von Nietzsches Ökonomik als „die letzte grosse Zeit" dar, während ihm die Moderne mit ihrer „Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe", ihren „Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit - sammelnd, ökonomisch, machinal - als eine schwache Zeit" gilt.239 Doch meldet sich die Frage: „Was beweist die Renaissance? Daß das Reich des Individuums' nur kurz sein kann. Die Verschwendung ist zu groß; es fehlt die Möglichkeit selbst, zu sammeln, zu capitalisiren, und die Erschöpfung folgt auf dem Fuße. Es sind Zeiten, wo alles verthan wird, wo die Kraft selbst verthan wird, mit der man sammelt, capitalisirt, Reichthum auf Reichthum häuft ... Selbst die Gegner solcher Bewegungen sind zu einer unsinnigen Kraft-Vergeudung gezwungen; auch sie werden alsbald erschöpft, ausgebraucht, öde."240 Übrig geblieben sind in der Geschichte immer die Durchschnittlichen (als ,die Schwachen'). Sie haben sich im Unterschied zu den Starken als dauerhaft erwiesen. Ihre Dauerhaftigkeit hat den Bestand der Menschheit garantiert. Was zählen angesichts solcher Dauer die kurzzeitigen Eruptionen von Luxusüberschüssen in Gestalt höherer Typen und die Errichtung von Machtgebilden, die ihren Untergang in den Extremen, die sie ausprägen, notwendig in sich tragen? Aber durch das Vorbild von Antike und Renaissance sollen wir Nietzsche zufolge „jetzt begreifen und wissentlich wollen" können, „was theils die Noth und theils der Zufall hier und da erreicht hat". Wir sollen aus der Geschichte lernen können, „die Bedingungen schaffen" können, „unter denen eine solche Erhöhung möglich ist", um den starken Menschen der Zukunft entstehen zu lassen.241 Doch wie soll garantiert werden können, daß die künftige Herrschaft gezüchteter Starker nicht auch jenem Verfall unterworfen sein wird, der die antike Kultur und die Renaissance-Kultur zerstört hat?

15. Über die Dauerfähigkeit des,höheren

Typus' Mensch

Nietzsches These vom ökonomischen Wert der Verschwendung, welchen er den Ausnahmemenschen für das .Ganze' zuspricht,242 ist noch genauer zu 239

Götzen-Dämmerung, ebd. 37; VI 3, 132.

240

Nachlaß Frühjahr 1888, 15[23]; KGW VIII 3, 213. Nachlaß 1887, 9[153]; KGW VIII 2, 88. S. o. S. 208ff.

241 242

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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untersuchen. Zu ihrer Erhärtung muß er das von ihm für die noch ungefestigten Kulturen beschriebene ,Recht der Mittelmäßigen' gegenüber „den stärker gerathenen Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch" zurücktreten lassen, das er in den Ausführungen betont, die wir in Abschnitt 14 herangezogen haben. Dem Mittelmäßigen wird dabei von Nietzsche jeder „Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und eben darum hundertfach gefährdeteren Art Mensch" abgesprochen. Sobald Nietzsche darauf reflektiert, daß in dieser „der Wille zur Macht und zum Wachsthum des ganzen Typus Mensch einen Schritt vorwärts thut", stellt er die (oben beschriebenen) Probleme vom Angewiesensein des höheren und stärkeren Menschen (hinsichtlich seiner Entstehungs-, Erhaltungs- und Steigerungsbedingungen innerhalb eines ,Ganzen') auf ,die niederen' zurück. Der Gesichtspunkt der Ausnahmen, „jener Mehr-Menschen", wird dann - und besonders im Hinblick auf die gegenwärtige Kultur - dominant; daß die Ausnahmen in ihrem Wachstum „an der Wurzel angegraben" werden, gilt dann als das Verhängnis. Sie nehmen „um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben" auf sich. „Ökonomisch ausgedrückt" besagt das: „Steigerung der Unternehmer-Kosten ebensosehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens". 243 Ist dieser Einsatz gesamtwirtschaftlich' zu rechtfertigen? Stellt er nicht ein Vabanquespiel dar? Ob wir die Wirksamkeit der gewaltsam Herrschenden oder die der einsam Schaffenden unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten, ihre (durchaus unterschiedlich einzuschätzenden) Weisen von, Vergeudung' geben nicht einmal die Gewähr dafür, daß die Art erhalten bleibt. Will Nietzsche daran festhalten, daß den großen Ausnahmemenschen letztlich ein höheres .Lebensrecht' gebühre als dem erhaltungsbeständigen Durchschnitt, so muß er den Wert der Erhaltung relativieren. In einer schon herangezogenen,Besinnung' heißt es demzufolge: „Die ,Dauer' an sich hätte ja keinen Werth: man möchte wohl eine kürzere, aber werthreichere Existenz der Gattung vorziehen." Aber könnte nicht, so wendet er sich hier selber ein, auf die Länge der Zeit hin angesehen, gerade durch die Dominanz der Mittelmäßigen eine

243

Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1 8 8 8 , 1 1 [ 5 5 ] ; K G W VIII 2, 269Í. - Dem Christentum billigt Nietzsche nicht die ,Vernünftigkeit' der Abwehr gegen die Ausnahmen zu, die er den ,ungefestigten' Kulturen einräumt. Pascal ist für ihn das berühmteste Beispiel für das Zugrunderichten der ursprünglich Starken, deren ,,vornehme[n] Instinkte giftig und krank" gemacht werden, [...] bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selbst kehrt" (a.a.O., 2 7 0 ) .

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

allmähliche „Aufsummirung von Kraft" erfolgen, die „ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge" herbeiführt, als dies durch die sich verschwendenden Starken möglich ist? In der herangezogenen Aufzeichnung stellt Nietzsche Wertverhältnisse auf ihre pauschal eingeschätzten .Erträge' in der Zeit gegeneinander. Nach welchen Maßstäben jedoch soll ein kurzzeitiger Wertreichtum der Menschheit mit einer ,Wertverteilung' über lange, vielleicht unabsehbare Fristen verglichen werden? Unter den quantitativ-ökonomischen Gesichtspunkten, die Nietzsche aufgenommen (zugleich allerdings aufgehoben) hat, ist dies nicht möglich. Derartige .Rechnungen' führen zu Absurditäten; im Grunde handelt es sich nur um Gegenüberstellungen, die zu einer Wertwahl herausfordern. Vor allen Selbsteinwänden hat Nietzsche schon der „Steigerung des Typus" den Vorrang selbst gegenüber der Jirhaltung der Art" gegeben. Die Berechtigung seiner Entscheidung entzieht sich natürlich der .Beweisbarkeit'; Nietzsche schiebt gleichwohl die .Beweislast' der Gegenposition zu: „Zu beweisen" wäre: daß, „wenn es so geht, wie es geht" (sc. unter der Vorherrschaft der .Schwachen'), „ein reicherer Werthertrag erzielt wird, als im Falle der kürzeren Existenz".244 Diejenige .Dauer', die dadurch charakterisiert ist, daß sich in ihr etwas .bloß erhält', ist unter dem Aspekt von Nietzsches .höherer Ökonomik' nichts, dem er ,an sich' Wert zubilligen kann. Seine fundamentale Wert-Setzung relativiert vielmehr den Wert der Erhaltung.145 Wenn die Erhaltung der Art, der Gattung um ihrer selbst willen angestrebt oder vorgestellt wird, so findet er nichts von dem verwirklicht, was sich eigentlich .lohnt'. „Die Erhaltung des Geschlechts ist garantirt; aber was liegt daran!", heißt es in den Aufzeichnungen zu Also sprach Zarathustra. „Das große Spiel zu spielen", besagt für Zarathustra: „die Existenz der Menschheit dransetzen, um vielleicht Etwas Höheres zu erreichen als die Erhaltung der Gattung."246 244

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[182]; KGW VIII 3 . 1 6 1 f . - Vgl. dazu unten S. 240f., insbes. Anm. 318.

245

Vgl. hierzu den Exkurs 3 zu dieser Abhandlung (S. 3 7 2 - 3 7 8 ) , in dem unter dem Titel Uber .Dauer' und,Erhaltung' bei Nietzsche fundamentale Voraussetzungen für das Verständnis dieser beiden Bestimmungen dargestellt werden. Nachlaß Juni-Juli 1883, 10[6] und [26]; KGW VII 1, 381 und 386. Hier geht es darum, daß der Ubermensch entstehen soll, im Verhältnis zu dem die Menschheit nicht zählt. - Die Radikalität von Nietzsches Denken hat sich schon früher an dieser äußersten Grenze bewegt. Siehe z.B. Morgenröthe 4 2 9 (KGW V 1 , 2 6 8 f . ) , wo es von der zur Leidenschaft verwandelten Erkenntnis heißt, daß sie „vor keinem

246

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

221

1 8 8 4 fragt Nietzsche emphatisch: „Ist denn Erhaltung das Einzige, was ein Wesen will?" 247 In der Gesellschaft seiner Zeit sieht Nietzsche „die Absicht" ausgeprägt, den großen Einzelnen „gar nicht entstehen zu machen". D e n n „das Bild des M e n s c h e n ist schon da, welches man als Maaßstab für die Erhaltung des g e m e i n e n N u t z e n s nimmt". Aber die v o n ihm geforderte „Voraussetzung der Gesellschaft muß sein, daß sie d e n höchsten Typus ,Mensch' repräsentire" und alles bekämpfe, was dessen Bildung im Wege steht. 2 4 8 In Jenseits von Gut und Böse richtet Nietzsche seinen Angriff gegen „die bisherigen, nämlich souveränen Religionen", besonders gegen das Christentum, w e n n er auf die „Hauptursachen" zu sprechen kommt, „welche den Typus,Mensch' auf einer niedrigeren Stufe festhielten". Mehr noch, das Christentum hat mit der Tendenz auf „Erhaltung alles Kranken und Leidenden [...] an der Verschlechterung der europäischen Rasse" entscheidend mitgewirkt. 2 4 9 Das beeinträchtigt aber deren Dauerhaftigkeit Nietzsche zufolge nicht. 2 5 0 Er seinerseits sucht nach Möglichkeiten, die Dauerfähigkeit

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Opfer zurückschreckt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen". Deshalb kann er „lieber den Untergang der Menschheit" wollen „als den Rückgang der Erkenntniss! Und zuletzt: Wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Diess ist die Hauptfrage." Sie stellt sich für Nietzsche in unserem Zusammenhang unter ökonomischem Vorzeichen erneut. - Zur Leidenschaft der Erkenntnis s. M. Montinari, Nietzsches Philosophie als,Leidenschaft der Erkenntnis', in: Nietzsche lesen, Berlin/New York 1 8 8 2 , 6 4 - 7 8 . M. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, a.a.O. [Anm. 9], bes. 168-310. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[369]; KGW VII 2, 245. - In dieser Aufzeichnung stellt Nietzsche „die unmoralischen Instinkte" den moralischen entgegen, deren Wahrheitsanspruch sich durch den Hinweis auf ihre Dauer nicht rechtfertigen lasse. Er erklärt, daß die ersteren Instinkte „wahr sein müssen: nur prägt sich darin etwas anderes aus als gerade der Wille zur Erhaltung, nämlich der Wille zum Vorwärts, zum Mehr, zum ". - Die Ausführung ist ein sprechendes Zeugnis für Nietzsches unbedingten und rückhaltlosen Aktivismus. Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[240]; KGW VII 1, 324f. JGB 62; KGW VI 2, 7 9 - 8 1 . Wehrt sich doch der .Herdentypus' „nach beiden Seiten, ebenso gegen die davon Entarteten (Verbrecher usw.) als gegen die darüber Emporragenden. Die Tendenz der Heerde ist auf Stillstand und Erhaltung gerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr." (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 17[17]; KGW VII 2, 279) - Am Ende des 20. Jahrhunderts zeigt sich, daß Nietzsche die Erhaltungskraft der bürgerlichen Gesellschaft' beträchtlich überschätzt hat.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

des ,zu züchtenden' höheren Typus, dessen Erhaltungsbedingungen ungünstig sind, zu steigern. In Zur Genealogie der Moral fordert er alle Wissenschaften dazu auf, „der Zukunfts-Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten", indem sie die Bedingungen für die Herausbildung eines stärkeren Typus erforschen. Dabei gibt er zu bedenken, daß das, was „ersichtlich Werth hätte in Hinsicht auf möglichste Dauerfähigkeit einer Rasse [...], durchaus nicht den gleichen Werth" haben muß, „wenn es sich um jenen Starken der Zukunft handelt". 2 5 ' Nietzsche strebt die Erzeugung (,Züchtung') des möglichst dauerhaften Großen an, der in der Vergangenheit im Rahmen kultureller Bildungen immer nur zufällig entstanden ist. 252

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Nietzsche hat in einer Anmerkung am Schluß der 1. Abh. von Zur Genealogie der Moral „eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die Förderung moralhistorischer Studien" vorgeschlagen. Dabei geht es ihm vor allem um Probleme des Wertes der bisherigen Wertschätzungen, für deren Erörterung er nicht nur die Beteiligung von Philologen und Historikern, sondern auch die von Physiologen und Medizinern als nötig erachtet. Der Philosoph, will sagen: zunächst Nietzsche selbst, bestimmt dabei „die Rangordnung der Werthe". Der Wert der geltenden „Gütertafel und ,Moral'" wird von ihm unter die Frage gestellt: „, werth wozuf" Das neue Wozu ist die Stärke des Starken, um dessen künftige Dauerhaftigkeit es gehen soll. (KGW VI 2, 302f.) „Jene Naturprozesse der Züchtung des Menschen z.B., welche bis jetzt grenzenlos langsam und ungeschickt geübt wurden, könnten von den Menschen in die Hand genommen werden: und die alte Tölpelhaftigkeit der Rassen, Rassenkämpfe, Nationalfieber und Personeneifersuchten könnte, mindestens in Experimenten, auf kleine Zeiten zusammengedrängt werden." (Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [276]; KGW V 2, 445f.) - Besonders im späten Nachlaß Nietzsches finden wir zahlreiche Notizen und Planskizzen unter dem Titel Zucht und Züchtung. Nietzsches Begriff der Züchtung bedarf einiger klärender Hinweise. Er ist zwar durchaus in Verbindung mit dem Verständnis von Rasse zu verstehen, das im 19. Jahrhundert mit der breiten Wirkung evolutionstheoretischer Gedanken virulent war. Auch finden wir bei Nietzsche biologistische Engführungen im Gebrauch der beiden Bestimmungen. Aber man darf sich durch sie nicht die Weite seines Begriffsgebrauchs verstellen lassen (durch die allein er philosophisch ernsthaft diskutierbar ist). Züchtend im Sinne Nietzsches ist vielerlei und ganz Verschiedenartiges, genauer besehen: alles, was über die individuelle Existenz eines Lebewesens hinaus zur Dauerhaftigkeit in einer Kette von Lebewesen einer, Art', zur Generationsbildung beiträgt. „Das Problem der Züchtung" stellt sich für die Gesetzgeber der Zukunft, „weil ein Einzelner zu kurz lebt" (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[407]; KGW VII 2, 258). Züchtung in diesem Verständnis ist zwar u.a. von physischen und physiologischen Voraussetzungen (wie Ernährung, Klima usw.)

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Die Dauerhaftigkeit von Rassen oder Kulturen in der bisherigen Entwicklung der Menschheit erfährt von ihm je nach Gesichtspunkt unterschiedliche Einschätzungen. Dabei kommen auch zeitgenössische Vorstellungsmuster ins Spiel. Daß die .Dauer an sich' für Nietzsche keinen Wert ,in sich selbst' darstellt, zeigt sich, wenn er „die mumienhafte jahrtausendealte Kultur Aegyptens" streift, in der eine alte Religion „auf lange Perioden hinaus einen bestimmten Kulturgrad" gewissermaßen versteinert hat. 2 5 3 Wenn er ferner schreibt: „der Chinese ist ein wohlgerathener Typus, nämlich dauerfähiger als der E u r o p ä e r s o ist das gegen den zeitgenössischen „Cultur-Zärtling" gerichtet, welcher der christlichen „décadence-Bewegung" entsprungen sein soll. 254 Sonst gilt ihm ,der Chinese' in seiner Bescheidenheit und Selbstgenügsamkeit als nützlich; wir haben oben dargestellt, daß dieser ,Typus' nach abhängig. Gelegentlich spricht Nietzsche der „direkten Einwirkung auf den Organism" den Primat gegenüber der „indirekten der ethischen Zucht" zu. „Eine andre Leiblichkeit" schaffe „sich dann schon eine andere Seele und Sitte." (Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, 7[97]; KGW VII 1, 283) Dieser Gesichtspunkt wird in Nietzsches letztem Schaffensjahr dominant. Den von ihm beschriebenen Sachverhalten wird er aber besser gerecht, wenn er die Komplexität von Faktoren bei den Züchtungsprozessen herausstellt. Zur Züchtung gehören dann gleichrangig sich durchhaltende soziale Bedingungen, langfristige Erziehungsmaßnahmen und sogar die flüchtigere, aber nicht unwirksame „öffentliche!] Meinung". Diese ist nicht weniger „Züchter", als es z.B. „Gesetzgeber und Fürsten" sind (Nachlaß a.a.O., 27[56]; KGW VII 2,288). Vererbung und kulturelle Weitergabe in der Generationenfolge gehören dabei eng zusammen. - Nietzsche sieht in der Konsequenz seines weiten Begriffs von Züchtung „jede Moral, welche irgend wie geherrscht hat", als Mittel für „die Zucht und Züchtung eines bestimmten Typus von Menschen"; sie entsprang bisher immer einem „Willen[s] zur Züchtung einer gleichen Art", der „allem Variiren" vorbeugen soll. (Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, 1[239]; KGW VIII 1, 59. Nachlaß Mai-Juni 1885, 35[20]; KGW VII 3, 237) Auch das Christentum versteht er „als Heerdenthier-Züchtung" (Nachlaß Herbst 1887, 10[75]; KGW VIII 2,164f.). - Von dem, was in der Vergangenheit aus .zufälligen' Konstellationen heraus .gezüchtet' worden ist, will Nietzsche im Hinblick auf die Herausbildung eines höheren Typus lernen: „Ich beobachte Religionen und Erziehungs-Systeme darauf hin, wie weit sie Kraft ansammeln und vererben, und nichts scheint mir wesentlicher zu studiren, als die Gesetze der Züchtung, um nicht die größte Menge von Kraft wieder zu verlieren, durch unzweckmäßige Verbindungen und Lebensweisen." (Nachlaß April-Juni 1885, 34[176]; KGW VII 3, 200) 253 254

Nachlaß Anfang 1871, 10[1]; KGW III 3, 354. Nachlaß Frühjahr 1888, 15[8]; KGW VIII 3, 202f.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Nietzsches Auffassung als Vorbild oder als Nachfolger für den Arbeiterstand geeignet wäre. 255 Hat er doch in Morgenröthe sogar empfohlen, Chinesen wegen ihrer „Denk- und Lebensweise" als Arbeitskräfte nach Europa zu holen. Sie könnten sogar „im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und - was am meisten wohl noth thut - asiatische Dauerhaftigkeit in's Geblüt zu geben". 256 Das Dauerhafte einer .konsolidierten Mittelmäßigkeit', nicht als Wert ,an sich' und ,in sich' genommen, wird von Nietzsche als unentbehrlicher .breiter Boden' für kulturelle Aufgipfelungen angesehen. 257 Das Dauerhafte, in dem sich eine Kultur nur zu erhalten trachtet, besonders der nivellierte ,£>auermensch",lss bleiben Nietzsche freilich gleichwohl verhaßt. 259 Hingegen rühmt er z.B. die fruchtbare „Dauerfähigkeit", welche sich mit dem Wesen der Stände und Zünfte in den „breiten Gesellschafts-Thürmen" des Mittelalters ausprägte, und stellt sie der Diskontinuität der von Amerika aus auf Europa übergreifenden .demokratischen' Betriebsamkeit entgegen, in der jeder versuchen muß, „ungefähr Alles zu können". 260

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Vgl. oben S. 196. Morgenröthe 206; KGW V 1, 185. Vgl. hierzu oben S. 164ff. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11[44]; KGW V 2,356. - Nietzsche bezieht sich hier polemisch auf Herbert Spencers Auffassung der „Selektions-Zweckmäßigkeit", vgl. a.a.O., 11[43] ; KGW V 2, 355. Dafür steht z.B. Nietzsches Rede vom zumeist erstrebten „guten Menschen", der „bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig, voller Friede und Freundlichkeit" ist. Der gute Mensch ist für ihn „nur der Chinese der Zukunft, das .Schaf Christi', der vollkommene Socialist..." (Nachlaß Frühjahr-Sommer 1888, 16[13]; KGW VIII 3. 282). „Der letzte Mensch: eine Art Chinese", heißt es im Nachlaß November 1882-1883 (4[204] ; KGW VII 1, 170). Die fröhliche Wissenschaft, Fünftes Buch, 356; KGW V 2, 277f. - Aus anderer Perspektive versteht Nietzsche das Christentum als den „Vampyr des imperium Romanum", es wirkt aus dem „Instinkt des Todhasses" heraus „gegen Alles, was steht, was gross dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht..." (Der Antichrist 58; KGW VI 3, 243). - Auch die von Nietzsche mit positivem Vorzeichen versehene Dauer früherer Gestalten oder Ganzheiten ist immer begrenzte Dauer. Die Grenze kann jedoch durch Wachstum herausgeschoben werden. Dabei gilt (z.B.), daß „Eine Rasse, wie sonst irgend ein organisches Gebilde [...] nur wachsen oder zu Grunde gehn" kann; „es giebt keinen Stillstand". Was nicht zugrunde geht, kann stärker werden. So sind die Juden „im unsichern Europa die

Zweiter Teil: Das Ganze und die Ökonomie

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Wenn Nietzsche danach trachtet, den Menschen in der Zukunft „stärker und tiefer zu machen als er bisher war", so sieht er sich durch den Blick auf die Menschheitsentwicklung dahingehend belehrt, daß man nur auf dem Wege „über lange Zeiträume" seinen schaffenden Willen „durchsetzen kann, in Gestalt von Gesetzgebungen und Sitten". Eine lange ,Dauer' war nötig, damit sich die sogenannten „Heerden-Ideale" tief im Menschen verwurzeln konnten. Deshalb ist natürlich auch „das Leben Eines Menschen viel zu kurz zur Durchsetzung eines so langwierigen Willens", wie er in Nietzsches Gegen-Idealen nach Verwirklichung drängt. Es müssen „Menschen angezüchtet werden [...], in denen einem solchen Willen Dauer für viele Generationen verbürgt wird". Hieran wird die Radikalität der Veränderung deutlich, auf die seine „Umkehrung der Werthe" zielt. 261 Die „Herren-Rasse", die er als „die zukünftigen .Herren der Erde'" heraufgezüchtet sehen will, soll „eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie" begründen, die „dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende" geben soll. 262 Von der Künstler-Gewaltsamkeit der großen Schaffenden, die unerbittlich' auf den Willen von Jahrtausenden schreiben sollen wie auf Erz, zu der Zarathustra seine „Brüder" aufruft, haben wir schon in anderem Zusammenhang gehandelt. Die Härte des .Materials' verlangt zu seiner Umformung noch härtere Werkzeuge des Künstlers. 263 Was in Jahrtausenden stärkste Rasse: denn sie sind dem Rest durch die Länge ihrer Entwicklung überlegen. Ihre Organisation setzt ein reicheres Werden, eine gefährlichere Laufbahn, eine größere Zahl von Stufen voraus, als alle andren Völker aufweisen können. [...] Wachsen heißt vollkommen werden. Die Dauer im Dasein einer Rasse entscheidet mit Nothwendigkeit über die Höhe ihrer Entwicklung; die älteste muß die höchste sein." (Nachlaß Juli-August 1888, 18[3]; KGW VIII 3, 332) 261

Nachlaß April-Juni 1885, 34[176]; KGW VII 3, 198f. - Der Abbau der ,uralt einverleibten Moralwerte' hat sich im Laufe des 20. Jahrhundert auf raschere und zuletzt auf .problemlosere' Weise vollzogen, als es Nietzsche oft vermutet hat. - Die .zweite Unschuld', die Nietzsche im außermoralischen Zeitalter zu befördern trachtete, gleicht mehr der ersten, raubtierhaften, die er, wenn auch zweideutig, anerkannte. - Zur Dialektik von erster und zweiter Unschuld bei Nietzsche vgl. in diesem Band Freiheit und Wille, Abschnitt 16: Über die Wiederherstellung der Unschuld, S. 9 5 - 1 0 4 , hier insbes. S. 99ff.

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Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[57]; KGW VIII 1, 85. Vgl. oben Abschnitt 5: Über die Bildung von gesellschaftlichen ,Ganzheiten', 153-158.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

gehärtet worden ist, d.h. über lange Zeit hinweg ,fest' geworden ist, kann nicht rasch eine durchgreifende Neugestaltung erfahren. Das Material ist widerständig, seine dauerhaft gewachsene ,Grundsubstanz' kann ohnehin nicht verändert werden. 264 Wohl aber will Nietzsche die religiösen und moralischen Schichten abbauen, die sich in der abendländischen Geschichte auf dieser Grundsubstanz abgelagert haben. Sie haben ohnehin zu bröckeln begonnen. 265 Es ist Zarathustras Hoffnung und „Trost", „auf das nächste Jahrtausend" seine Hand legen zu können. 266 Noch Mitte 1 8 8 5 wird Zarathustra von Nietzsche „jener prädestinirte Mensch" genannt, „der die Werthe für Jahrtausende bestimmt". Ihre Durchsetzung benötigt viel Zeit, sie erfolgt über verschiedene Stationen hinweg: Zuerst muß die neue Rangordnung gelehrt werden, die „hergestellt" und „durchgeführt" werden soll „in einem System der Erdregierung: die Herrn der Erde zuletzt, eine neue herrschende

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,Unveränderlichkeit' im strengen Sinne kommt aber nicht einmal jenen Instinkten zu, welche die von Nietzsche kritisierten „Philosophen" als ,ewige Tatsachen' ansehen wollen. „Alles aber ist geworden", heißt es in Menschliches, Allzumenschliches 1,2; KGWIV 2,21. In der Welt allmählich entstanden ist z.B. auch alles, was als a priori verstanden wird. Vgl. zu den uns einverleibten Grundirrtümern die Abschnitte 7 und 8 von Freiheit und Wille, oben S. 5 1 - 6 2 . Es ist der ebenfalls schon „Jahrtausende alte[r] Glaube [...], jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato's war" und von dem Nietzsche selbst noch gezehrt hat, zeitweise ohne sich selbst darin zu durchschauen, nämlich: „dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist". Dieses zunehmend unglaubwürdig Gewordene „immer mehr unglaubwürdig" zu machen, ist der erste Teil der Aufgabe, die er in Angriff nimmt. (Die fröhliche Wissenschaft, Fünftes Buch 344; KGW V 2, 256-259. Vgl. Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 24; KGW VI 2 , 4 1 6 - 4 1 9 . - S. dazu auch Freiheit und Wille, Exkurs 2, oben S. 120ff.) - Das Alte, zwar schon in Auflösung Befindliche, wird freilich noch lange andauern und fortwähren: „Gott ist todt; aber so, wie es die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt" (Die fröhliche Wissenschaft 108, KGW V 2, 145). Nietzsches gelegentlich inflationär wirkende .Rechnung' in Jahrtausenden läßt sich auch aus seinem Anspruch heraus verstehen, solchem lange Währenden ein Künftiges, nicht weniger Dauerhaftigkeit versprechendes Neues entgegenzusetzen. - Über seine ,Aufgabe" schreibt Nietzsche am 22. 5. 1884 an Heinrich von Stein: „Mein Sohn Zarathustra mag Ihnen verrathen haben, was sich in mir bewegt; und wenn ich Alles von mir erlange, was ich will, so werde ich mit dem Bewußtsein sterben, daß künftige Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun." (KGB III 1, 508) Nachlaß Herbst-Juni 1883, 9[31]; KGW VII 1, 367.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

227

Kaste. Aus ihnen hier und da entspringend, ganz epicurischer Gott, der Übermensch, der Verklärer des Daseins". Damit tritt aber nun „die übermenschliche Auffassung der Welt" ins Spiel, die durch den Namen „Dionysos" gekennzeichnet wird.267 Dieser Name verweist in Nietzsches Spätphilosophie auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen. In ihm laufen die in dieser Abhandlung aufgeworfenen Fragen in mehrfacher Hinsicht zusammen.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme im Lichte des Wiederkunftsgedankens

16. Die Stellung des Menschen im Kreisgang der ewigen 'Wiederkunft des Gleichen Wir beginnen mit der Frage, was es für den Menschen bedeutet, sich vor die Möglichkeit der unendlichen Wiederkehr des Gleichen gestellt zu sehen. Diese Möglichkeit kann erschreckend wirken, ja Entsetzen hervorrufen. Der Gedanke, daß „das Dasein, so wie es ist, [...] unvermeidlich" wiederkehrt, „ohne ein Finale ins Nichts", kann uns, so schreibt Nietzsche, vor den Nihilismus über allem Nihilismus führen, in dem „das Nichts", dann verstanden als „,das Sinnlose'", „ewig" ist. „Die Dauer, mit einem ,Umsonst', ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke".268 Gegen solche Lähmung stellt Nietzsche einen anderen Aspekt, unter dem der Gedanke erscheinen könnte. Das Sinnlose muß nicht als Sinnloses hingenommen werden. Als das Sinn-lose ist es das Zufällige, das dem Menschen so zu-fällt, daß er es zu seiner Sache machen kann. Gegen „die lähmende Empfindung" ist zu halten: „Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse". Der Mensch kann im Zufälligen sich ,Ziele setzen', so ,Sinn stiften', neue Werte .schaffen'. Einmal mehr treffen wir bei Nietzsche auf das Tätigsein als die wesentliche Instanz. „Ich

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Nachlaß Mai-Juli 1885, 35[74, 73]; KGW VII 3, 263f. Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, Fragment Lenzer Heide: Der europäische Nihilismus 5 und 6; KGW VIII 1, [71], 217.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

erkannte die active Kraft" als „das Schaffende inmitten des Zufälligen", notiert er.269 Sein Zarathustra erlöst sich gänzlich vom Zufall, indem er schließlich sogar noch das schon Geschehene in seinen Willen hineinnimmt: „was ich habe geschehen lassen, das weiß ich hinterdrein mir gut machen; und deshalb hinterdrein wollen, was ich nicht vorher wollte".270 Wenn Zarathustra in solcher Aktivität, die noch das Vergangene in sich aufnimmt, „ganz in sich Ziel" ist,271 so sieht er sich selbst in der ,Mitte" der Kreisbahn, die „jedes Mal" erreicht ist, „wenn der Wille zur Zukunft entsteht: das größte Ereigniß steht bevor!"272 „Um die Mitte der Bahn entsteht der Übermensch", heißt es in den Aufzeichnungen zum Zarathustra. 273 Zum Ubermenschen gehört der Glaube an die Wiederkehr; „ihr Platz in der Geschichte" ist „eine Mitte".274 Diese Mitte ist der von Nietzsche häufig beschworene, noch im späten Nachlaß immer wieder als Titel auftauchende große Mittag.27S Am Ende von Also sprach Zarathustra wird der große Mittag heraufgerufen,276 nachdem ihn Zarathustra als „ein Weissager" schon mehrfach angekündigt hat.277 Und er führt aus, er werde immer wieder „das Wort" sprechen „vom grossen Erden- und Menschen-Mittage" und den Menschen den

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Nachlaß Winter 1883-1884, 24[28] ; KGW VII 1, 704, 703. Nachlaß Herbst 1883, 20[10]; KGW VII 1, 627. - Vgl. die Ausführung dieses Gedankens in Also sprach Zarathustra III, Von der Erlösung; KGW VI 1, 175ff. Ebd. Nachlaß Herbst 1883, 18[45]; KGW VII 1, 608. Nachlaß Herbst 1883, 17[56]; KGW VII 1, 584. Nachlaß Winter 1883-1884, 24[4]; KGW VII 1, 687. Nur im Sinne jener Mitte wird im folgenden von ihm gehandelt. Die Spannung der Bedeutungen des großen Mittags bei Nietzsche im unvermittelbaren Gegensatz der Vollkommenheit der Mittagsstille (der .Stunde des großen Pan') und der .kritischen Mitte' (als Stunde der Entscheidung über die Zukunft des Menschen) ist auch und gerade im Zarathustra sichtbar. Vgl. hierzu K. Schlechta, Nietzsches großer Mittag, Frankfurt a.M. 1954 (speziell zum großen Mittag im Zarathustra und im späten Nachlaß a.a.O., 4 6 - 8 4 ) ; K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 2 1955, in: Sämtliche Schriften 6, 228 - 2 3 7 . - Es ist M. Brusotti darin zuzustimmen, daß Schlechta wie Löwith „den metaphysischen Charakter der ewigen Wiederkunft und die Verwandtschaft dieser Lehre mit dem antiken Weltverständnis überschätzen" (a.a.O. [Anm. 9]), 620f., Anm. 149). Also sprach Zarathustra IV, Das Zeichen; KGW VI 1, 404. Also sprach Zarathustra III, Von den drei Bösen 2; KGW VI 1, 236.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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Übermenschen künden. 278 Zarathustras Tiere singen zwar in ihrem „Leier-Lied", über das er lächelt: „Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. [...] In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit." 279 Aber dies ist die abstrakte Betrachtung des Kreises, die Zarathustras Aufgabe der Steigerung menschlicher Möglichkeiten nicht entspricht. Wie der Mittag Höhepunkt des Tages ist, so soll er, nach Nietzsches späterer Ausführung, als „Augenblick des kürzesten Schattens" der „Höhepunkt der Menschheit" sein. 280 Die Phasen des (sich sichtbar wiederholenden) Tageslaufes dienen im Zarathustra nicht selten dazu, Aufgang und Niedergang der Menschheit darzustellen. „Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Ubermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert, denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen." 281 Es ist darauf hinzuweisen, daß Aufgang und Niedergang der Menschheit erst von Also sprach Zarathustra an zum vorrangigen Thema der Wiederkunftsproblematik werden. 1881 hatte Nietzsche z.B. noch die „falsche Analogie" von „werdenden und vergehenden Kreisläufe[n] z.B. der Gestirne oder Ebbe und Fluth Tag und Nacht Jahreszeiten zur Charakteristik des ewigen Kreislaufs" zurückgewiesen. Damals ist für ihn ,die Mitte' für den Menschen insofern .überall', als er „in jedem Augenblick" vor der „Aufgabe" steht, so zu leben, daß er „nochmals und in Ewigkeit" so leben will. Die Allgemeinheit dieser Forderung erlaubt je besondere, auch entgegengesetzte inhaltliche Erfüllungen: „Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe; wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche." 282 278

Also sprach Zarathustra III, Der Genesende 2; KGW VI 1, 272. - Vgl. schon das Ende von Also sprach Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend 3; KGW VI 1, 98: „,Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.' - dies sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille!"

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Also sprach Zarathustra III, Der Genesende 2; KGW VI 1, 268(. Götzen-Dämmerung, Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde; KGW VI 3, 75. Also sprach Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend 3; KGW VI 1, 98. - Vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1882, 2[5], C und D; KGW VII 1, 42f. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[137,161,163]; KGW V 2, 4 0 0 - 4 0 3 . - Vgl. dazu M. Brusotti, Leidenschaft, a.a.O. [Anm. 9], 343f. Er gibt einem umstrittenen Satz Nietzsches eine überzeugende Auslegung: „Meine Lehre sagt, so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe - du wirst es jedenfalls!"

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Wir fragen zuerst d e m Willen zur Zukunft nach, wie er sich bei Nietzsches Zarathustra geltend macht. Dieser mag „in alle Weiten und Fernen" hinausdenken k ö n n e n und „zwischen Aufgang, Mittag und Niedergang" M e n s c h e n .fischen', die er zu sich hinauf ziehen kann. 2 8 3 Aber w o sind wir Heutigen anzutreffen? Leben wir in der Zeit des Aufgangs oder in der des Niedergangs der Kreisbahn? Der Schöpfer des Zarathustra zweifelt nicht daran, daß er „einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit" vorbereitet, daß er sie auf „einen grossen Mittag" hinführt, „ w o sie zurückschaut u n d hinausschaut, w o sie aus der Herrschaft des Zufalls u n d der Priester heraustritt". 284 Solches Heraustreten erhält 1 8 8 8 bei Nietzsche die Tendenz auf gewaltsame Durchsetzung des Höheren, 2 8 5 während es 1 8 8 1 n o c h heißt: „Leben wir Einzelnen unser Vorläufer-Dasein, überlassen wir den K o m m e n d e n Kriege um unsere M e i n u n g e n zu führen - wir leben in der Mitte der menschlichen Zeit: größtes Glück!" 2 8 6

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(Nachlaß a.a.O.) - Brusotti hat zurecht darauf verwiesen, daß die Wandlungen des Gedankens der ewigen Wiederkunft bei Nietzsche „bis heute nur unzureichend beachtet" worden sind (a.a.O. [Anm. 9], 328; vgl. dazu die einleitenden Hinweise des Vfs. zu Methode und Voraussetzungen seiner Untersuchung a.a.O., 26 - 3 1 ) . Seine diachronische Lektüre macht Unzulänglichkeiten der bisherigen systematischen Erörterungen des Wiederkunftsgedankens sichtbar. Er zeigt, daß Gestalt und Hintergrund des Gedankens durchaus nicht „von Anfang an endgültig" feststehen (a.a.O., 328). So sind die Überlegungen, die in Heft M III 1 von 1881 Ausdruck finden, in bedeutsamen Hinsichten schon von der ersten öffentlichen Mitteilung' des Gedankens in Fröhliche Wissenschaft, erst recht aber von den Darlegungen der Wiederkunftslehre in Also sprach Zarathustra, inhaltlich zu unterscheiden. (S. dazu bei Brusotti die Kapitel 3.2., 4.5. und 5.2.) Also sprach Zarathustra IV, Das Honig-Opfer; KGW VI 1, 293. Ecce homo, Morgenröthe 2; KGW VI 3, 328. Die weite Perspektive wird im letzten Schaffensjahr Nietzsches immer wieder zu einem Tatwillen verengt, in dem der Sieg über den Zufall durch „das rücksichtsloseste N i e d e r - und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens" erzielt werden soll (Götzen-Dämmerung, Streifzüge 36; KGW VI 3, 128). Vgl. dazu oben S. 167ff. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[262]; KGW V 2, 439. - Gegen die Ungeduld des Nietzsche von 1888 sei noch eine Aufzeichnung vom Frühjahr 1884 gestellt: „Meine Aufgabe: die Menschheit zu Entschlüssen zu drängen, die über alle Zukunft entscheiden! Höchste Geduld - Vorsicht - den Typus solcher Menschen zeigen, welche sich dieser Aufgabe stellen dürfen!" (Nachlaß, 25 [406]; KGW VII 2, 114)

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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Wir stehen also im Aufgang der Zeitreihe, die sich (immer wieder) zum Kreis runden wird. 287 Gehört die Vorbereitung des großen Mittags in die Mitte der ewigen Zeitbahn, so ist dem Heutigen die Aufgabe gestellt, das Entstehen jener höheren Typen vorzubereiten, welche die Zukunft .bringen wird'. Dabei handelt es sich nicht um einen Bevorstand, der auch ohne den Heutigen eintreten könnte. Jeder Einzelne ist nicht nur auf seine Zukunft wie auf seine Vergangenheit hin anzusehen, „von Vorne und von Hinten", als „ein Stück fatum" dem notwendigen Geschehen im ganzen zugehörig. Er ist als „ein Gesetz mehr" ein aktiver .Teil' des ,Ganzen', an allem .mitwirkend', was (ewig) geschehen wird. 288 Was Zarathustra von sich selbst sagt, trifft auf jeden Menschen zu: „Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, - der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft." 289 Zarathustra ist allerdings .Ursache der Wieder Zu Nietzsches Verständnis der Reihe alles Geschehens, die zugleich als Kreis gedacht werden soll, habe ich unter systematischen Gesichtspunkten in Nietzsche, a.a.O. [Anm. 25], 182-188, gehandelt. 2811 Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur 6; KGW VI 3, 81. - Vgl. dazu in diesem Band Freiheit und Wille, Abschnitt 16, S. 97ff. Dort wird jene .Mitwirkung' des Einzelnen am Geschehen im ganzen unter dem Aspekt der Wiederherstellung der Unschuld des Werdens erörtert. 289 Also sprach Zarathustra III, Der Genesende 2; KGW VI 1,272. - Nietzsches Rede, jeder Einzelne sei .ein Gesetz mehr für das Ganze', kann formal in der Differenz zu Nicolai Hartmanns Auslegung von Kants .Kausalität aus Freiheit' bzw. .Freiheit im positiven Verstände' als eines J*lus an Determination" erläutert werden: „Ein Minus läßt der Kausalnexus nicht zu. Denn sein Gesetz besagt, daß eine einmal im Ablauf begriffene Reihe von Wirkungen auf keine Weise außer Kraft gesetzt werden kann." Dies gilt, ungeachtet von Nietzsches Kritik am Kausalitätsbegriff, auch für sein Verständnis des Gesamtgeschehens. Sein Verständnis der unendlichen Wiederkehr des Gleichen gestattet jedoch nicht, was Hartmann einräumt: „Ein Plus dagegen" lasse der Kausalnexus „sehr wohl zu - wenn nämlich es ein solches gibt - , denn sein Gesetz besagt nicht, daß zu kausalen Bestimmungsstücken eines Vorganges nicht noch anderweitige Bestimmungsstücke hinzutreten könnten. Legt man einen idealen Querschnitt durch das Bündel von Kausalfäden, so ergeben die BestimmungsstUcke, die in dieser Schnittfläche liegen, zwar allemal eine totale Determination aller nachfolgenden Stadien des Prozesses und bilden in diesem Sinne freilich selbst eine Totalität. Aber diese Totalität ist niemals eine absolut geschlossene, sie widersetzt sich nicht dem Hinzukommen neuer Bestimmungsstücke - wenn es solche gibt und der Prozeß wird durch solches Hinzukommen nicht unterbrochen, sondern nur abgelenkt." (Ethik, Berlin 4 1962, 649f.) 287

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

kunft' in dem exzeptionellen Sinn, daß seine Verkündung und Lehre erst ein Bewußtsein der Wiederkunft unter den Menschen schafft. 290 Der Gedanke der Wiederkunft gehört für Nietzsche selbst zu den .Ursachen' derjenigen Geschichte, die mit seinem Wirksamwerden eröffnet wird. Als der „Gedanke der Gedanken" soll er das Handeln des Menschen bestimmen. Fragen wir zunächst, wie dies möglich sein kann, wenn doch alles, was geschieht, mit Notwendigkeit erfolgt. Eine Antwort hierauf hat Nietzsche schon in den Aufzeichnungen zur Wiederkunft des Gleichen vom Sommer 1 8 8 1 gegeben. Sie kann hier ungeachtet der Unterschiede zwischen der ,Lehre', die Zarathustra vorträgt, und der vorhergegangenen Ausarbeitung des Gedankens durch Nietzsche herangezogen werden: „Der Gedanke und Glaube ist ein Schwergewicht, welches neben allen anderen Gewichten auf dich drückt und mehr als sie. Du sagst, daß Nahrung Ort Luft Gesellschaft dich wandeln und bestimmen? Nun, deine Meinungen thun es noch mehr, denn diese bestimmen dich zu dieser Nahrung Ort Luft Gesellschaft." Je tiefer der Mensch den Gedanken in sich verwurzelt, je stärker er ihn sich einzuverleiben vermag, desto mehr Festigkeit erhält

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Nehmen wir mit Nietzsche jedes Individuum als einen .Geschehensfaden', so bestimmt jedes auf seine besondere Weise das ganze Geschehen mit, welches jedoch eine .absolut geschlossene Totalität' darstellt. Auch die .Ursache' Zarathustra kann den Prozeß demgemäß nicht als etwas neu Hinzutretendes .ablenken'. Als ein .Determinationsplus' kann sie nur angesehen werden, wenn man sie (wie Nietzsche hier) in ein Verhältnis zum .Rest' des Kausalbündels setzt. Wird in der Analyse Hartmanns der Prozeß durch das, was hinzutreten könnte, nur abgelenkt, so ist nach Nietzsche dessen Fortgang durch jeden Einzelnen .nur' insoweit mitbestimmt, als der Prozeß ohne diesen nicht das Geschehen wäre, als das er in ewiger Wiederholung von ihm gedacht wird. Zarathustra ist also nicht nur in den „Knoten von Ursachen" im faktischen Sinne verschlungen; er .weiß', daß er in diesem Knoten auf die gleiche Weise unendliche Male hineinverstrickt war und immer erneut sein wird. Auch dieses .Wissen' kehrt immer wieder, nachdem es verloren gegangen sein wird. Mit diesem Wissen ist ein weiterer Knoten geknüpft. An seinem .Wort' zerbrechend, geht Zarathustra zugrunde; dies ist eine .Folge' des Gedankens. Dessen andere .Folge' ist die Heraufkunft des Übermenschen, die Zarathustra vorhersagt und immer wieder vorhersagen wird. (A.a.O., KGW VI 1 272f.) Auch dieser aber wird, sollte Zarathustra Vorhersage zutreffen, von einem Niedergang abgelöst werden, der aber die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der besonderen .Ursache' Zarathustras in sich birgt. Insofern dieser erst die ewige Wiederkehr aller Verknotungen lehrt, ist ein weiterer Knoten geknüpft.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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seine Verwandlung.291 Aber weder die Verwandlung noch ihre möglichen .Vorstufen' sind die Sache des .freien Willens' des Menschen292: „Wenn der Gedanke der ewigen Wiederkunft aller Dinge dich nicht überwältigt, so ist es keine Schuld; und es ist kein Verdienst, wenn er es thut."293

17. Das ,neue Mittel' gegen die Weltflucht und gegen das flüchtige Leben Der endlose Kreisgang ist somit kein dem Menschen äußeres Geschehen, zu dem er ein ihm selber äußerlich bleibendes Verhältnis gewinnen muß. Der Mensch ist immer auch Konstituens des Kreises. Und mehr noch: Er soll sich selbst als ewig wiederkehrend verstehen, den Gedanken verinnerlichen, sich durch den .Glauben' an ihn .verwandeln' lassen, ihn sich möglichst .einverleiben'. Für das Thema dieser Abhandlung ist von besonderer Bedeutung, daß Nietzsche den Gedanken als Schwergewicht gegen die Erfahrung der Vergänglichkeit ins Feld führt. Auch dies geschieht nachdrücklich schon in den Aufzeichnungen von 1881: „Wer nicht glaubt", so heißt es hier, „hat ein flüchtiges Leben in seinem Bewußtsein."294 „Der religiöse Glaube" gab „dem inneren Leben Schwere". Doch indem er abnimmt, lernt sich der Mensch „als flüchtig begreifen und als unwesentlich, er wird endlich dabei schwach". Das .alte' Schwergewicht forderte von ihm, sich „im Erstreben Ertragen" zu üben; nach seinem Fortfall will er nur noch „den gegenwärtigen Genuß, er macht sich's leicht - und viel Geist verwendet er vielleicht dabei".295 Nietzsches Zeitgenossen lächeln „über den religiösen Wahn früherer Zeiten", sie haben sich „Jenseits'" und .„Hinterwelt'" aus dem Sinn geschlagen. Aber Nietzsche lächelt nicht weniger über deren ,,Glaube[n] an die Welt", dessen politische „Frucht" er im Sozialismus sieht. Mit ihm wol-

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Nachlaß Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 1 1 [ 1 4 3 ] ; KGW V 2, 394. - Zu Unterschieden in der Einverleibung des Wiederkunftsgedankens und den daraus resultierenden Problemen vgl. Brusotti a.a.O. [Anm. 9], 329f., 335ff., 425f., 485ff. Der irrtümliche .Glaube' daran, daß unser Wille frei ist, ist uns so fest einverleibt (vgl. dazu Freiheit und Wille bei Nietzsche, Abschnitt 8, S. 5 4 - 6 2 ) , wie Nietzsche dies für den .Glauben' an die ewige Wiederkunft nur wünschen kann. Nachlaß a.a.O., 11 [144]; KGW V 2. 394f. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11 [160]; KGW V 2, 401. Nachlaß a.a.O., 11[172]; KGW V 2, 405.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

len „die flüchtigen Einzelnen [...] ihr Glück sich erobern, durch Vergesellschaftung, sie haben keinen Grund zu warten, wie die Menschen mit ewigen Seelen und ewigem Werden und zukünftigem Besserwerden."296 Wenn Nietzsche „ein Gegenmittel gegen das Glücksstreben des flüchtigen Individuums" sucht,297 so hat er von vornherein eine Rückwendung zu den Jenseits-Religionen ausgeschlossen. Würde mit ihr doch an die Stelle des Sichverlierens im Flüchtigen die bloße Flucht vor dem Flüchtigen treten, also das Ausweichen vor ihm. Zarathustra nennt diejenigen, die ihm zuerst in ihrer „Morgen-Tapferkeit" folgten, nun aber wieder .„fromm geworden'" sind, „die flüchtig-feige Menschenart".298 In beiden Weisen .flüchtigen Lebens' kann das Leben nicht wirkliches Leben sein. Geschichtlich betrachtet ist das Flüchtigwerden des Individuums eine späte Folge der Wertverankerung des Lebens in der .metaphysischen Hinterwelt'. Immer schroffer hat Nietzsche dargelegt, daß das Christentum mit und seit Paulus - „das Schwergewicht des Lebens nicht in's Leben, sondern in's Jenseits' verlegt" hat, - „in's Nichts", wodurch „dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen" wurde.299 Das Durchschauen solcher Nichtigkeit, der Schwund des Jenseits-Glaubens, die wachsende Gewißheit, „daß der christliche Gott .todt ist', daß in unseren Erlebnissen nicht mehr eine himmlische Güte und Erziehung, nicht mehr eine göttliche Gerechtigkeit", schließlich „nicht überhaupt eine immanente Moral, sich ausdrückt", führt zu jenem Zustand, in dem „es eine Zeit lang scheinen" wird, „als ob alles Schwergewicht aus den Dingen weg sei". Zwar kann es „noch ein paar Jahrhunderte" dauern, bis der Zerfall der alten Werte den Europäern zum vollen Gefühl gekommen ist.300 Der Glaube an jene Ewig-

296 297 298

2,9

300

Nachlaß a.a.O., 11[163]; V2, 402f. Nachlaß Sommer 1882, 21[3], 44; KGW V 2. 583. Also sprach Zarathustra III, Von den Abtrünnigen 1; KGW VI 1. 222f. - Im „Dunst und Dünkel aller Betbruderei" gehören die Eigenschaften zusammen: „weich flüchtig bescheiden". (Nachlaß Herbst 1 8 8 3 , 1 8 [ 4 6 ] ; KGW VII 1 . 6 0 8 . Vgl. Nachlaß Ende 1883, 22[1]; KGW VII 1 650) - Dagegen setzt Nietzsche als „Rede Napoleon's"', ein Volk sei „hart", „lang" und „stolz" zu machen „statt mild", „flüchtig" und „bescheiden". (Nachlaß Herbst 1883, 17[68]; KGW VII 1. 586f.) Der Antichrist 43; 215. Vgl. a.a.O., 42; 213ff. - Paulus habe „aus den Thatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu accentuirt, überall das Schwergewicht verlegt ..." (Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888; 11[282]; KGW VIII 2, 350f.). Nachlaß April-Juni 1881, 34[5]; KGW VII 3, 144f.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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keit versprach unbegrenzte Dauer im Gegensatz zum dauerlos-flüchtigen Leben. Der Verlust dieses Glaubens läßt das Flüchtige übrig, in dem schon ,heute' der Mensch aufgeht und in eine „Vielheit und Disgregation der Antriebe" zerfließt. Nietzsche hat das „Oscilliren" zwischen dem Mannigfachen, das sich anbietet, im späteren Werk immer schärfer als „Schwäche des Willens" und als Nihilismus beschrieben, deren Kennzeichen „der Mangel an Schwergewicht" ist.301 Daß das Schwergewicht allerorten verloren geht, legt sich als Last auf Nietzsches ,Gewissen'. Er fühlt „das ungeheure Schwergewicht der Verantwortlichkeit" auf sich ruhen als „Einer [...], welcher zu merken beginnt, daß alle Werthschätzungen, nach denen die Menschen leben, auf die Dauer den Menschen zu Grunde richten"?01 Dem .alten' Schwergewicht hat Nietzsche schon im ersten „Entwurf" von 1881 den Gedanken der ,Wiederkunft des Gleichen' entgegengestellt.303 Was als nichtig oder flüchtig erfahren wird, das .Diesseitige', erhält durch ihn als unendlich Wiederkehrendes unüberbietbares Gewicht zugesprochen. Nichts kann mehr bedeutungslos sein, ist es doch unvergänglich. Nietzsche fordert hier von uns: „Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten." 304 Der Gedanke des ,neuen Schwergewichts'305 erscheint in Nietzsches erster literarischer Mitteilung (im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, Aph. 341) 306 „als das grösste 301

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[219]; KGW VIII 2, 186. - Nietzsche stellt solche Niedergangsphänomene auch unter dem Vorzeichen physiologischer Widersprüchlichkeit dar. In Jenseits von Gut und Böse 208 z.B. beschreibt er eine entschlußlose Skepsis im ,heutigen' Europa: „In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in's Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit." (KGW VI 2,141ff., hier: 142) Bei solchen „Niedergangsnaturen [...] fehlt in den Instinkten das Schwergewicht", was zugleich besagt, sie eröffnen kein „Wohin?" (Nachlaß Frühjahr 1888, 14[94]; KGW VIII 3, 64)

302

Nachlaß April-Juni 1885, 34[140]; KGW VII 3, 187. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[141]; KGW V 2, 392. Nachlaß a.a.O., 11[159]; KGW V 2, 401. Nachlaß a.a.O., 11[141]; KGW V 2, 392. KGW V 2, 250. - Der Eigenart dieser ersten Mitteilung der Lehre wird hier nicht nachgegangen, weil die Detailerörterung zu weit vom Thema dieser Abhandlung

303 304 305 306

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Schwergewicht", das sich auf das Wollen und Handeln des Menschen lege, wenn er „Gewalt" über ihn gewinne. 307 Im Gegensatz zur Einbildung einer Existenz von ewiger Dauer im Jenseits, in welcher die Vergänglichkeit aufgehoben sein soll, denkt Nietzsche das Vergängliche als ewig. Dabei spricht er ihm keine neue ,Dauer', auch fortführen müßte. - Vgl. dazu J. Salaquarda, Der ungeheure Augenblick, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), 3 1 6 - 3 3 7 ; Brusotti, a.a.O. [Anm. 9], 478-489). Ich stimme Salaquarda darin zu, daß die Einführung' des ,neuen Schwergewichts' in der Fröhlichen Wissenschaft im engen Zusammenhang mit den Ausführungen zum ,Tode Gottes' und dessen nihilistischen Folgen zu verstehen ist, die Nietzsche nicht einfach nur,konstatieren' kann (a.a.O., 327). Einleuchtend sind Salaquardas Hinweise auf das sokratische Daimonion und auf Piatos Symposion als Hintergrund bei Nietzsches Suggestionen des Dämons in Die fröhliche Wissenschaft 341 (a.a.O., 325ff.). Problematisch (wenn auch diskutabel) erscheint mir seine These, in der Rede vom „ungeheuren Augenblick" der Zustimmung zur Wiederkehr gelange ein „mystisches Erlebnis" Nietzsches zum Ausdruck (a.a.O., 335). - Der mehrdeutigen Weise, in der Nietzsche im Umkreis des Wiederkunftgedankens vom .Augenblick' spricht, kann in diesem Zusammenhang nicht weiter nachgegangen werden. 307

Im Anschluß an Die fröhliche Wissenschaft 341 hat Georg Simmel den Gesichtspunkt der Stiftung des Bewußtseins von Dauer durch den Wiederkunftsgedanken besonders stark betont. Es steht gegen die Flüchtigkeit: „Was als auf den Moment beschränkte Handlung unwesentlich erscheint und - von dem Gefühl aus: vorbei ist vorbei - leichtsinnig aus dem Gewissen geschoben werden würde, erhält nun ein furchtbares Gewicht, einen nicht überhörbaren Akzent, sobald ihm ein unaufhörliches ,Nocheinmal' und ,Nocheinmal' bevorsteht." Für jede „Existenz" gilt: „wenn sie sich unendlich oft wiederholt, so ist ihre Dauer dieselbe, wie wenn sie ewig kontinuierte. In ganz anderm Maße sind wir für unser Tun verantwortlich, zum mindesten: erkennen wir unsre Verantwortlichkeit, wenn wir wissen, daß kein Augenblick des Lebens mit sich abgetan ist, sondern daß wir und die Menschheit ihn unzählige Male so erleben müssen, wie wir ihn jetzt gestalten." Wenn auch „die Handlung in ihrem innersten Wesen durch die unaufhörliche Rekapitulation nicht geändert" werde, so werden doch dadurch „wie unter einem Vergrößerungsglas [...] Bedeutsamkeiten ihrer sichtbar, über die die Flüchtigkeit ihres Nur-Einmal-Seins den Blick wegtäuschte". (Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907,247f.) Simmel sieht in Nietzsches Gedanken ein ethisches Regulativ in einer gegenüber Kant wesentlich modifizierten Gestalt: Wir sollen so leben, yflls ob wir ewig so lebten, d.h. als ob es eine ewige Wiederkunft gäbe" (a.a.O., 254f., 259f.). - Vgl. dazu die ähnliche Argumentation von Bernd Magnus: Nietzsche'Eternalistic Counter-myth, The Review of Metaphysics, 26 (1973); ins Deutsche übers, v. W. Peters unter dem Titel Nietzsches äternalistischer Gegenmythos, in: Nietzsche, hg. J. Salaquarda, Darmstadt 2 1996, 223ff.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

237

keine andere Kontinuität zu; es wird und vergeht, im gleichen Zusammenhang mit anderem Vergänglichen, immer erneut als das, was es schon war. Das Vergängliche bleibt so zwar auch flüchtig, aber es verliert den ihm immer wieder zugesprochenen Charakter bloßer Flüchtigkeit (im Sinne endgültigen Vergehens), auf Grund dessen man es ins Wesenlose oder Unwesentliche verstoßen hat.308 Nietzsche sind alle vergänglichen Dinge viel zu viel wert, als daß sie auf letztere Weise als flüchtig angesehen werden dürften.309 Mit ihrer Wiederkehr im Kreislauf erhalten die Dinge zwar nicht mehr und auch nicht weniger Dauer, als ihnen in den .früheren' Zeitreihen bemessen war und und in den .späteren' bemessen sein wird. Jedes Ding kommt in seiner je besonderen Dauerhaftigkeit im Kreisgeschehen immer wieder. Es stellt sich im Wiederkunftsgedanken zwar als begrenzt dar. Aber seine Dauer wird in ihm doch zugleich bewahrt. In jener Begrenzung erscheint jedes Ding als ,in Ewigkeit festgestellt', obgleich es nur im Werden ,ist' und im ununterbrochenen Fluß aller Dinge ,aufgeht'. Dieser Doppelaspekt findet in Nietzsches häufig zitiertem Satz Ausdruck: „Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins". Die von Nietzsche dabei als „Gipfel der Betrachtung" gekennzeichnete Ausführung ist in anderem Zusammenhang zu erörtern. Mit der ,Aufprägung' des Seins auf das Werden, das „der höchste Wille zur Macht" ist, wird nur der formell-allgemeine Aspekt der Möglichkeit des ,Fest-stellens' genannt. Dieser Wille zur Macht muß „als Wille zur Täuschung" verstanden werden.310 Die Not des Menschen, der im Werden immer Halt (und in ihm Dauerhaftes) suchen muß (schon um seiner Erhaltung willen), 308

309

3,0

Wenn Zarathustra, einem nachgelassenen Fragment zufolge, „die Insel der Einsamen" zu der der „Gastfreundschaft" werden läßt, so soll ihm hier „alles Werdende Schweifende Suchende Flüchtige [...] willkommen sein" (Nachlaß Sommer-Herbst 1882, 3, 1, Nr. 2 9 2 ; KGW VII 1, 88). Statt des Wortes „Flüchtige" hatte Nietzsche zuerst „Verstoßne" geschrieben (vgl. KGW VII 4 / 1 , 8 9 ) . So kennzeichnet er seine Gegenstellung zu Marc Aurel, der „sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge" vorhält, „um sie nicht zu wichtig zu nehmen und ruhig zu bleiben". Es ergeht Nietzsche so, „als ob die kostbarsten Weine und Salben ins Meer gegossen würden" (Nachlaß Herbst 1881, 12[145], KGW V 2, 499). In der erweiterten späteren Niederschrift heißt es: „[...] ich suche nach einer Ewigkeit für Jegliches [...] und mein Trost ist, daß Alles was war ewig ist: - das Meer spült es wieder heraus" (Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11 [94]; K G W V I I I 2 , 2 8 5 ) . Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[54]; KGW VIII 1, 320f. - Vgl. zur Interpretation dieser Aufzeichnung in diesem Band Über Freiheit und Wille, S. 109f.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

tritt in dieser Aufzeichnung Nietzsches auf besondere Weise hervor. Im Rückblick auf die Geburt der Tragödie erweist sich so der apollinische .Wille zur Schönheit' als Wille „zum Verharren in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel". Solcher scheinhaften Ewigkeit stellt Nietzsche die dionysische Auslegung der Vergänglichkeit entgegen, die „als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung" eine ewige Tätigkeit repräsentiert. Immer neu soll sich die aktive Kraft, das „Ewig-Schaffende", als Schwergewicht auf das Bestehende legen, vernichtend und schaffend in einem.311

18. Über Dauer und Wert menschlicher Existenz im Zeichen der Wiederkunft Im Gedanken und Glauben an die ewige Wiederkunft wird das ,Dauer-lose' bloßer Flüchtigkeit menschlicher Existenz .verwunden' und die Dauer aller Dinge bewahrt, ohne daß sie dem Werden und Vergehen entzogen sind. Damit rücken Nietzsches .ökonomische Überlegungen', von denen in den letzten Abschnitten des Zweiten Teils die Rede war, in ein neues Licht.312 In diesem Abschnitt ist die Bedeutung des Wiederkunftsgedankens (im Ausgang von der Dauer aller Dinge) für die Dauerhaftigkeit menschlicher Größe herauszustellen. Im Hinblick hierauf wird besonders (aber nicht allein) der späte Nachlaß Nietzsches herangezogen. Die .kosmologisch' relevanten Voraussetzungen des Gedankens werden hierbei nur in dem Umfang ins Spiel gebracht, als dies für die genannte Problematik unentbehrlich ist. Nach den vorangegangenen Ausführungen zur Thematik beschränken wir uns auf eine Zusammenfassung der Argumentation in sieben Gedankenschritten. A. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft bezieht die faktische Dauer von jedem und allem, was wird und vergeht, in die endlose Bewegung des Werdens ein. Nach den von Nietzsche genannten Voraussetzungen des Gedankens kann diese Bewegung nicht unendlich zu immer Neuem weitergehen. 3,1

312

Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886,2[10 6]; KGW VIII1, 111. - S. dazu Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen bei Nietzsche, Abschnitt 19, Nietzsche-Interpretationen I. 277ff. Vgl. dazu die Abschnitte 13 bis 15 in dieser Abhandlung oben S. 203ff.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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Sie kann aber auch nicht „metaphysisch geredet [...] in das Sein oder ins Nichts münden". Denn sonst hätte dieser Zustand schon erreicht sein müssen. Jedes „Ziel" der Bewegung, „das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse", scheidet damit aus.313 Vielmehr bilden sich die Konstellationen von Kraft im endlosen Kreisen immer wieder erneut in gleicher Weise. B. Jedes und alles, was wird und vergeht, macht sich in seiner endlichen Besonderheit geltend. Im Wiederkunftsgedanken wird das Endliche in dem, was es war und sein wird, festgestellt. In einem damit wird es als dieses Endliche verewigt, da es dem Gedanken zufolge in seiner unveränderlichen Besonderheit unendliche Male wiederkehrt. Nichts Gewesenes kann verloren gehen; nichts wird gewonnen, das nicht schon gewonnen war. Und alles Gewonnene geht immer wieder verloren, um ewig wiedergewonnen zu werden. C. Alles im Kreislauf endlich Dauernde ist eingebunden in die Machtkämpfe von ,Ganzheiten'. In diesen wird die je verschiedene Dauerhaftigkeit dessen, was ist, konstituiert. 314 Der Kreislauf des Werdens ist keine Bewegung von zunächst leerer Zeit, die sekundär .gefüllt' wird. Unter Nietzsches Voraussetzung, daß sich die Gesamt-Kraft nicht erschöpft, weil sie sich sonst schon erschöpft haben müßte, bedeutet „eine ewige Dauer [...] einen ewigen Wechsel der Stoffe", das heißt des Lebendigen,315 zu dem nach Nietzsches erweitertem Lebensbegriff auch das Anorganische gehört. D. Wenn Nietzsche, wie ausgeführt, mit Jahrtausenden für die Heraufkunft und Herrschaftsdauer der künftigen Herren der Erde, einer höheren Kaste und anderer höherer Menschen .rechnet', so gerät er damit nicht in Widerspruch zum solche Herrschaft begrenzenden Wiederkunftsgedanken. Denn alles Mächtige ist von sich her dauerfähig, solange seine 3,3 314

315

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[188]; KGW VIII 3, 167. Vgl. dazu den Exkurs 3 am Ende dieser Abhandlung: Zu Nietzsches Verständnis von Dauer und Erhaltung, S. 3 7 4 - 3 8 0 . Nachlaß Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 1 1 [ 8 4 ] ; KGW V 2 , 370f. - Daß der Wechsel der Stoffe auch als intern unendlicher Wechsel der qualitativen Zustände aufgefaßt werden kann und in diesem Falle nicht die ewige Wiederkunft des Gleichen nach sich ziehen muß, hat Nietzsche in späteren Aufzeichnungen des Heftes M III selbst herausgestellt. Hierauf wird in Abschnitt 22 eingegangen. - An dieser Stelle geht es darum, deutlich zu machen, daß für Nietzsche „die Zeit [...] ,Sach-Zeit"' ist (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[69]; KGW VII 2, 292).

240

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

,Kraft' das ihm Entgegenstehende zu beherrschen oder sich ihm gegenüber zu erhalten vermag. E. ,Wir Heutigen' stehen in der Phase des Aufgangs der Menschheit. Demgemäß können wir den künftigen Macht- und Wertreichtum der hohen Menschen vorbereiten helfen. Unter der Herrschaft der Starken soll er seinen Höhepunkt erreichen. Freilich ist in der Komplexität des Lebens jederzeit Aufstieg und Niedergang zugleich gegeben. Zur Beförderung des Aufstiegs gilt aber überall: „Jeder Einzelne darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt." Im Hinblick hierauf „hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth ausserordentlich, - und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. [...] Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, die Erkrankung dar [...], so kommt ihm wenig Werth zu."316 Daß der im Aufstieg gewonnene Reichtum im nachfolgenden Niedergang der Kreisbewegung wieder verloren geht, spricht nicht gegen die Notwendigkeit der von Nietzsche geforderten ,Anstrengungen'. Sie gehören in das Spiel und den Kampf hinein, die den Prozeß des Werdens vorantreiben. Nur aus der (freilich selbst er-nötigten) Kraft des Wollens heraus (und nicht als mechanistisch-deterministisches Geschehen) kehrt jene Höhe der Menschheit unendliche Male wieder. F. Die der Kraft des Wollens entstammende und gleichwohl ernötigte Wiederkunft führt das Hohe nur mit jener begrenzten Dauer herauf, welche aus dem Nachlassen der Kraft und dem ihm folgenden Machtverlust der Starken an die Schwachen erfolgt. Der ewigen Wiederkehr der Starken korrespondiert die ewige Wiederkehr der Schwachen. Schon vom Wiederkunftsgedanken abgesehen bildete die geschichtliche Dauerhaftigkeit der ,Schwachen' Nietzsches .Anfechtung'. Unterlagen doch im Verlauf der bisherigen Geschichte die Starken im natürlichen Daseinskampf immer wieder den .Schwachen' und Mittelmäßigen. Das Bewußtsein, daß auch der zu überwindende .kleine Mensch' zahllose Male wiederkehrt und auf diese Weise ebenfalls verewigt wird, steigert die Anfechtung für Zarathustra bis an die Grenze des Erträglichen. Er wird von dem Gedanken heimgesucht: 316

Götzen-Dämmerung, Streifzüge 33; KGW VI 3, 125f.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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,„Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch' - so gähnte meine Traurigkeit [...] Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! - Das war mein Überdruss an allem Dasein!"317 G. Aus Nietzsches ökonomischer' Sicht ist aber auch ,der Preis' der ewigen Wiederkunft des ,kleinen Menschen' nicht zu hoch dafür, daß der höchste Weltzustand unendliche Male erreicht wird, dessen jeweiliger (im Vergleich zur ,Herrschaft der Niedrigen' möglicherweise geringeren) Zeitdauer ungeachtet. Was .zählt' angesichts der Verewigung der höchsten Möglichkeiten des Menschseins (wie kurz oder lang sie auch in jeder Zeitreihe sei) die Zeitdauer davor und danach? Nietzsche bleibt nicht beim Quantitativen und beim Quantifizierbaren stehen.318 Dieses bildet, wie dargestellt wurde, zuletzt nur den Boden für das, was von diesem aus als (überflüssiger) Luxus erscheint, in Wahrheit aber den wahren Reichtum des Lebens ausmacht.319 Auf dem Scheitelpunkt der aufsteigenden Linie des Kreisgeschehens erscheint der höchste Mensch. Und er kehrt immer wieder, wenn auch das mit ihm Errungene in der Abstiegsbewegung endlose Male verloren geht. Die lange Dauer von Niedergang und allmählichem Wiederaufstieg ist durch seine Größe gerechtfertigt.320

19. Über die Vielheit und Gleichzeitigkeit von aufsteigenden und niedergehenden Lebensprozessen Die bisher vorgenommene lineare Betrachtung, die in der Rede von einer sich wiederholenden Zeitreihe von Aufstieg, Mittag und Niedergang des

317 318

3,9 320

Also sprach Zarathustra III, Der Genesende 2; KGW VI 1, 270. „Die Menschheit muß in Cykleti leben, einzige Dauerform. Nicht die Cultur möglichst lange, sondern möglichst kurz und hoch." (Nachlaß Sommer-Herbst 1882, 2[5]; KGW VII 1, 42f.) - Zum Quantitativen als Kennzeichen der Oberflächen-Welt vgl. z.B. Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5[16]; KGW VIII1, 194. Vgl. dazu oben Abschnitt 14, S. 208ff. Der höhere Typus, für den das Wort Übermensch Nietzsches „Gleichniß" ist, ist zugleich der rechtfertigende Mensch, der aller Verkleinerung des Menschen, einschließlich der „Machinalisirung der Menschheit" noch Sinn verleiht (Nachlaß Herbst 1887, 10[17]; KGW VIII 2, 128f.).

242

Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Lebens Ausdruck findet, erweist sich aber als zu einfach, um ihr die Vielfalt des Geschehens einordnen und unterordnen zu können. Denn zu jedem Zeitpunkt vollzieht sich auf unbeschreibbar vielfältige Weise Aufstieg und Niedergang zugleich. Nietzsche nimmt nicht nur eine .vertikale Betrachtung' der Menschheitsgeschichte vor, sondern er führt auch,horizontale Schnitte' durch, um solcher Vielheit gerecht zu werden. In der ersten Perspektive ist der Nihilismus der noch bevorstehende Niedergang, der im 19. Jahrhundert (z.B. im Pessimismus, Historismus, Positivismus) erst vorbereitet wird und der auf Piatonismus und Christentum als seine geschichtliche Wurzel zurückweist. Aus der letzteren Perspektive, in welcher ein Querschnitt durch das jeweilige Geschehen gelegt wird, erweist sich der Nihilismus als das Komplement alles Großen zu allen Zeiten; er ist dem Aufstieg zu höheren Gestalten des Menschseins immer schon zugehörig: „Thatsächlich bringt jedes große Wachsthum auch ein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich"; „die Symptome des Niedergangs gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens"; „jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung mitgeschaffen".321 Die Menschheit ist „eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen". Sie ist „kein Ganzes", das in seiner Einfachheit am Modell von Wachstum und Niedergang des menschlichen Einzellebens erfaßt werden könnte; sie hat „nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter" (gegen welche Auffassung Eduard von Hartmanns Nietzsche immer wieder zu Felde zieht). Vielmehr liegen „die Schichten [...] durcheinander und übereinander - und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit; überall giebt es Auswurf- und Verfallstoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfallsgebilde."322 In den Sozietäten bildet der Gegensatz schwach-stark eine überall vorfindliche Grundgegebenheit, ungeachtet der unterschiedlichen Ausprägungen, die jeweils in den geschichtlichen Gestalten anzutreffen sind. Wenn Nietzsche in seinem letzten Schaffensjahr allen Niedergang auf die .physiologische Grundlage' der décadence stellt (der Nihilismus wird dann zu deren Logik oder Ausdruck herabgesetzt), dann gilt schließlich „für die Hälfte fast jedes Menschenlebens", daß „der Mensch décadent"

321 322

Nachlaß Herbst 1887, 10[22]; KGW VIII 2, 134. Nachlaß November 1887-März 1888; 11[226] 1.; KGW VIII 2, 329.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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ist.323 Man kann sogar, wie Nietzsche von sich selbst sagt, décadent und dessen Gegensatz in einem sein.324 Die Bewegung von Aufstieg und Abstieg ist demnach nicht nur bei den (bloßen) Naturvorgängen eine Vielheit von unübersehbar ineinander verschlungenen Prozessen. Auch die kulturellen Gestaltungen des Menschen scheinen sich allein in Linien darstellen zu lassen, die vor und zurück laufen, kreuz und quer gezogen sind. Sie lassen sich nicht zu der einen Bewegung zusammenfügen, von der wir bisher gehandelt haben, sondern repräsentieren nichts anderes als das von Nietzsche beschworene Chaos. Auch wenn Nietzsche im Längsschnitt immer wieder Phasen höherer von solchen niederen Kultur in der Geschichte der Menschheit unterscheidet, so findet er in dieser als .ganzer' „nicht eine Entwicklung zum Besseren; oder Stärkeren; oder Höheren". Gegenüber dem historischen Selbstbewußtsein seiner Zeit stellt er fest, daß „Fortentwicklung [...] schlechterdings nicht mit irgend welcher Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung" ist. So steht, wie schon in anderem Zusammenhang dargelegt, „der Europäer des 19. Jahrhunderts [...], in seinem Werthe, bei weitem unter dem Europäer der Renaissance".325 Zugleich konstatiert er „in einem andren Sinne [...] ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Culturen heraus". Längsschnitt- und Querschnittbetrachtung werden von Nietzsche zusammengenommen, wenn er davon spricht, daß „es einmal möglich sein wird, isochronische Cultur-Linien durch die Geschichte zu ziehen". Dabei könne sich zeigen, daß von „den ältesten uns errathbaren Zeiten der indischen, ägyptischen und chinesischen Cultur bis heute [...] der höhere Typus Mensch viel gleichartiger ist als man denkt..." Nietzsche kann über die Vielfalt des Nach- und Nebeneinander der zufällig entstandenen höheren Typen nur hinausführen, indem er diese durch den erst zu züchtenden .höchsten' Typus zu überbieten sucht. Planung und Züchtung sollen die Stärksten der Zukunft widerstandsfähiger und dauerhafter werden lassen, als dies bei den früheren Großen der Fall war, die den Schwachen unterlagen. Zwar kann die Zeit der Herrschaft der Stärksten im Gesamtprozeß immer noch vergleichsweise kurz sein,

323 324 325

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[182]; KGW VIII 3, 158. Ecce homo, Warum ich so weise bin 2; KGW VI 3, 264f., vgl. 262. Nachlaß November 1887-März 1888, 11[413]; KGW VIII 2, 433. - Zu Nietzsches Einschätzung der Renaissance vgl. oben S. 216ff.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

selbst wenn sie Jahrtausende währen sollte.326 Aber ihre Steigerung und ihre Festigung kann gleichwohl angestrebt werden. Einen solchen Aufstieg der Menschheit zu befördern, steht Nietzsche als seine eigene Aufgabe vor Augen. In einer späten Aufzeichnung schreibt er: „Ich sehe mitunter meine Hand daraufhin an, daß ich das Schicksal der Menschheit in der Hand habe - : ich breche sie unsichtbar in 2 Stücke auseinander, vor mir, nach mir ,.." 327 Auch das, was Nietzsche abbrechen und damit hinter sich lassen will, die bisherige Geschichte, in welcher die höheren Typen sich nur zufällig einstellten, kommt unzählige Male wieder. Und immer von neuem soll sie in jene höchste Geschichte hinübergeführt werden, in der zur Vollendung kommen soll, was früher Bruchstück blieb. Auch die Geschichte ,nach Nietzsche' wird von der Vielfalt des Neben- und Nacheinander von Aufstiegen und Niedergängen angefüllt bleiben. Aber er will sie gleichwohl in den Zusammenhang einer Bewegung hineinzwingen. Nur so kann er dem Relativismus entgehen und den Aufgang zum ,großen Mittag', von dem schon sein Zarathustra gekündet hat, uns als die entscheidende Menschheitsaufgabe vor Augen führen.

20. Die Frage nach dem ,Wert des

Gesamtlebens'

Wir dürfen dabei den ökonomischen Aspekt nicht vernachlässigen. In der Vorstellung der gleichen Zeitreihe (die unendliche Male durchlaufen wird) ist ein (so scheint es) fixierbarer Ablauf vorgestellt, in dem wir immer wieder auf dasselbe Hohe und Niedrige treffen. Könnte man nicht, von Nietzsches Voraussetzungen her, indem man auf das Ganze eines Zeitumlaufs sieht, eine Art von Bilanzierung vornehmen, in der die geschichtliche Dauer der Herrschaft von Hohem mit der Dauer des Überwiegens von Niedrigem verglichen wird? Gibt es eine Möglichkeit, angesichts

326 327

Vgl. oben S. 218ff. Nachlaß Dezember 1888-Anfang Januar 1889, 25(5]; KGW VIII 3, 453. Vgl. Nietzsches Brief an Heinrich Köselitz v. 30.10. 1888, Nr. 1137; KGB III 5, 461f. - Nietzsche schreibt am Schluß von Ecce homo, wer (wie er) über die .christliche Moral' aufkläre, breche „die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke". Dabei umfaßt das zurückgelassene Stück die gesamte bisherige Geschichte. Auch hier heißt es in bezug auf den .Aufklärenden': „Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm ..." (Warum ich ein Schicksal bin, 8; KGW VI 3, 371)

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der Endlichkeit der sich unendliche Male wiederholenden Geschehensabläufe zu fragen: was überwiegt im Blick auf das »Gesamt-Leben'? Das Hohe oder das Niedrige? Anders formuliert: Ist ein Uberblick über das Gesamtgeschehen möglich, der eine Aussage über den ,Wert des Lebens' gestattet? Der philosophische Pessimismus seiner Zeit in Gestalt von Eduard von Hartmanns Philosophie hat Nietzsche mit dieser Frage konfrontiert. Die gewichtige Rolle, die diese Philosophie noch in seinen späten Aufzeichnungen spielt, ist bisher nicht herausgearbeitet worden. Die im Nachstehenden vorgenommene Beschränkung auf immanente Konsequenzen von Nietzsches Philosophie läßt sich nur vertreten, weil in einem Exkurs parallel zu ihr seine Auseinandersetzung mit jener Philosophie erörtert wird.328 Die hier gewählte Schrittfolge soll weitere Aspekte seines Wiederkunftsgedankens zum Vorschein bringen. Erstens. Die genannte Frage nach dem ,Wert des Gesamtlebens' erweist sich für Nietzsche als „ein für uns unzugängliches Problem". Denn „man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens haben, und andererseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt anrühren zu können".329 Die von Nietzsche konstatierte Notwendigkeit der Geschehensabläufe darf deshalb auch nicht als „einer übergreifenden, beherrschenden Gesammtgewalt" entsprungen aufgefaßt werden oder als das, was von sich aus „etwas Werthvolles" hervorbringt.330 Die angedeuteten Perspektiven der vielen (und auf vielfältige Weise) Lebenden lassen sich auch nicht auf eine Weise zusammenziehen und gar so zusammenrechnen, daß wir es mit Quantitäten von .Dauer' zu tun bekommen könnten, die eine Bilanzierung im Sinne der gestellten Frage gestattete. Wir kommen aus der Perspektivik nicht heraus.331 Man muß also zur Kenntnis

328

329 330 331

Vgl. hierzu Exkurs 4 im Anhang zu dieser Abhandlung: Nietzsche und Eduard von Hartmann. Zur Bilanzierung des Gesamtprozesses des Lebens, unten S. 378-390. Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur 5; KGW VI 3, 80. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888 11[72]; KGW VIII 2, 276f. Es ist immer der tiefer gehende Perspektivismus Nietzsches im Blick zu behalten, der ursprünglicher ist als alles Bewußtsein: „In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinander-arbeitens, wie es das Gesammtieben jedes Organismus darstellt, ist dessen beumßte Welt von Gefühlen, Absichten, Werthschätzungen ein kleiner Ausschnitt." (Nachlaß Herbst 1887,10[137]; KGW VIII 2,199). Hinter den Relationen ist auch nichts Konstantes anzutreffen: „Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete!" Nach seiner Auffassung hat „jedes Kraftcentrum [...] für den ganzen Rest seine Perspektive d.h. seine ganze bestimmte Werthung, seine

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

nehmen, daß von einem Lebenden schon deshalb „der Werth des Lebens nicht abgeschätzt werden kann [...], weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter".332 Wird die Wertabschätzung auf das Gesamt der Erde oder gar des Alls ausgedehnt, so tritt die Absurdität des Versuchs vollends zutage. Nietzsche verlangt gegenüber solcher Anmaßung, „daß man endlich die menschlichen Werthe wieder hübsch in die Ecke zurücksetze, in der sie allein ein Recht haben: als Eckensteher-Werthe."333 Zweitens. Nietzsche bleibt aber nicht dabei stehen, eine Abschätzung des Gesamtlebens lediglich als,objektiv unmöglich' zu erklären. Dem Faktum ist Rechnung zu tragen, daß „Werthurtheile über das Leben" gefällt werden, „für und wider" es. Was zeigt sich in diesem Sachverhalt? Mögen solche Urteile „an sich [...] Dummheiten" sein, so sind sie doch „Symptome", und zwar Symptome des Lebens, über das sie urteilen. Damit kehrt sich das Problem bei Nietzsche um. Primär fragen nicht wir nach dem Wert des Lebens, sondern wir urteilen vorgängig immer schon „unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen..." Nietzsche kehrt damit die Frage nach dem Verhältnis von Aufstieg und Niedergang im Gesamtleben um, indem er den Fragenden und Wertenden selbst befragt. Das uns Unzugängliche, das wir abschätzen wollen, schätzt uns ab. Wenn wir an den christlichen Gott und an die christlich geprägte Moral glauben, so stellen wir uns in bestimmter Weise zum Leben. Nach dem von Nietzsche vorausgesetzten Grundverständnis verurteilen wir es in solcher Jenseits-Bezogenheit. Aber noch diese Verurteilung ist „nur ein Werthurtheil des Lebens" selber: nicht eines von uns gesonderten, abgehobenen Lebens, dem Nietzsche etwa die Dimension eines An-sich zuspräche, sondern „des niedergehenden, des geschwächten, des müden, des verurtheilten Lebens" im Menschen.334 Für den Nietzsche von 1888, der weitgehend einem physiologischen Reduktionismus das Wort redet, ist es schon ein „Einwurf" gegen einen Philosophen, wenn er „im Werth des Lebens ein Problem" sieht. Sokrates und Plato sind da für ihn nur noch JJiedergangs-Typen" im physiologischen Sinne,335 in Schopenhauer ist demzufolge erst recht der décadence-Instinkt tätig.336

312 333 334 335 336

Aktions-Art, seine Widerstandsart". (Nachlaß Frühjahr 1888,14[184]; KGW VD 3,162f.) Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates 2; KGW VI 3, 62. Nachlaß November 1 8 8 7 - M ä r z 1888, 11[103]; KGW VIII 2, 292. Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur 5; KGW VI 3, 80. Götzen-Dämmerung, Das Problem des Sokrates 2; KGW VI 3, 61f. Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur 5; KGW VI 3, 80. -Vgl. dazu a.a.O., Streifzüge 36; KGW VI 3, 129f.

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Drittens. Wie kommt es überhaupt dazu, daß die Philosophen den Wert des Lebens problematisieren ? Nietzsche macht seinen „Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen K o s m o - undTheodizeen, gegen alle Warum's und höchsten Werthe in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie" daran fest, daß man in ihr immer wieder ein „Stück Bewußtsein" (z.B. „Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit") als Zweck angesetzt hat, dem das Leben (mit seiner primären Tendenz auf Machtsteigerung) als Mittel unterworfen wurde, während es sich de facto umgekehrt verhalte. Zwar sei das Leben mehr als jeder Zweck. „Aber wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen, er müßte vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich ..." Doch ,wir' sind in der Geschichte anders verfahren: aus „Faktoren des Bewußtseins (Lust und Unlust, Gut und Böse)" haben wir die „Wünschbarkeit" gewisser (z.B. angenehmer oder tugendhafter) Bewußtseinzustände als eine „Norm" abgeleitet, „nach der wir erst ansetzen, welcher Gesammtzweck wünschbar i s t . . . " Doch das auf diese Weise Gewünschte ist nur das von uns Erfundene, Erdachte, mit dem wir dem Leben selbst entfliehen. Der „Grundfehler" der Philosophen besteht demzufolge darin, daß sie „die Bewußtheit" (in welcher Ausprägung auch immer) ihres Werkzeugcharakters im Gesamtleben entkleidet haben und sie „als Maaßstab, als höchsten Werthzustand des Lebens ansetzten", - und damit über das Leben stellten. Sie imaginierten zuletzt „ein Gesammtbewußtsein", einen,„Geist"', einen „,Gott'", von dem her „das Dasein verurtheilt werden müßte...". Die Verneinung des Lebens ist die Konsequenz, der Nietzsche dadurch entgeht, daß er die Annahme eines solchen übergeordneten Bewußtseins als irreleitend ausscheidet. 337 Viertens. Wie hier erhalten in den späten Schriften und Niederschriften Nietzsches die physiologischen und affektiven Bestimmungen zumeist den Primat gegenüber dem Bewußtsein zugesprochen. Gedanke und Glaube der Wiederkunft geraten dabei in ein Spannungsverhältnis zueinander. - Wir gehen von der Aufzeichnung Der europäische Nihilismus von 1886/87 aus, die noch dem wechselseitigen und komplexen ,Einfluß' von Geistigem und Affektivem Rechnung trägt. Nietzsche beschreibt hier den nihilistischen Niedergang geistesgeschichtlich-genealogisch aus der,christlichen Moral'. Die von dieser großgezogene Wahrhaftigkeit wendet sich gegen „die lange Moral-Interpretation". Noch der Schritt von deren Auflösung zu der nihilisti-

337

Nachlaß Herbst 1887, 10[137]; KGW VIII 2, 199-201. - Hierzu und zum Voranstehenden sei auf Exkurs 4, Punkt 3 (S. 385ff.) verwiesen.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

sehen Überzeugung, es gebe „gar keinen Sinn im Dasein", wird aus der Geschichte von,Wahrheit' abgeleitet (und nicht, wie später, aus der physiologischen décadence). Wenn Nietzsche schreibt, daß „extreme Positionen [...] nicht durch ermäßigte abgelöst werden, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte", stehen geistige Prozesse im Vordergrund. Allerdings finden sie bei ihm immer auch eine affektive Einwurzelung. So spricht er vom E f fekt" des Glaubens „an die Sinn- und Zwecklosigkeit" des Daseins, die an die Stelle des Glaubens an Gott und an die Moral getreten sind. Ins Extrem führt Nietzsche den Affekt der Sinnlosigkeit, indem er ihn mit dem Gedanken der endlosen Dauer verbindet, der dem Dasein nicht einmal „ein Finale ins Nichts" offen läßt.338 Wenn er hierbei den Gedanken der Wiederkunft als furchtbarste Form des Nihilismus präsentiert, so geschieht dies, um den Menschen der Zukunft fundamental auf die Probe zu stellen. Dabei übernehmen das Physiologische und das Affektive den entscheidenden Part. Es werde sich ergeben, so heißt es in der zitierten Aufzeichnung, daß die ,Schlechtweggekommenen' den „Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden" werden; die Stärksten hingegen, „die ihrer Macht sicher sind", werden „die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren". Wie „ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft" dächte, ist nur mehr eine rhetorische Frage.339 In der äußersten Gegenbewegung zum Nihilismus soll die höchste Form der Lebensbejahung zu finden sein. Dafür ist nicht mehr nur die Negation des Gesamtzwecks nötig (gemäß dem dritten Gesichtspunkt), sondern es ist die „Zweckvorstellung aus dem Prozesse" überhaupt zu eliminieren. Dessen Bejahung wäre dann gleichwohl möglich, wenn jeder Moment des Prozesses als er selbst bejaht (und wiedergewollt) wird. Dies setzt voraus, daß allen Momenten des Geschehens die Bejahenswürdigkeit zugesprochen werden können muß. Spinoza hat dies Nietzsche zufolge auf seine Weise getan: in seinem „Pantheismus" findet sich eine „bejahende Stellung" zum Gesamtprozeß dadurch ausgedrückt, daß in diesem „jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat". Doch ist eine solche .Logik' tragfähig?340 Ihr gegenüber geht Nietzsche wieder auf die Selbsterfahrung des Individuums' zurück. Wenn dieses einen „Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvoll, mit Lust

338

339 140

Fragment Lenzer Heide. Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5 [ 7 1 , 1 - 6 ] ; KGW VIII1, 2 1 5 - 2 1 7 . Vgl. oben S. 228f. A.a.O., 1 4 - 1 6 ; KGW VIII 1, 220f. A.a.O., 7; KGW VIII 1, 217f.

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empfindet", so müßte es dazu getrieben sein, „trumphirend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen".341 Bei aller Vielfalt der Motive, die Nietzsche mit dem Wiederkunftsgedanken verbindet, bleibt dessen existenzielle Verwurzelung erhalten, die in seiner Frage an den Leser der Fröhlichen Wissenschaft ihren ersten Ausdruck gefunden hatte : Gibt es einen ungeheuren Augenblick, um dessetwillen du nach nichts mehr verlangen kannst als danach, daß alles Geschehene unzählige Male wiederkommt?342 Nietzsche trägt den Wiederkunftsgedanken von zwei Seiten her vor. Das Bewußtsein geht in der Lehre dem Affektiven voraus; sie stelle „die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen" dar, schreibt er sogar. „Energie des Wissens und der Kraft" sollen „zu einem solchen Glauben" zwingend Der Wiederkunftsgedanke werde gelehrte Voraussetzungen haben" können, heißt es.344 Oer .wissenschaftliche' Gedanke ist das Eine. Der Glaube, der die Wiederkehr bejaht, in dem der Gedanke existenziell angenommen wird, ist ein Zweites. Oder ist dieser für Nietzsche das Erste? Fünftens. Es ist eine Zwischenüberlegung anzustellen. Nietzsche präsentiert uns den Gedanken einer endlichen Geschehensreihe in endloser Wiederholung. Aber diese Reihe stellt sich, näher besehen, als unüberblickbare Vielheit aufsteigender und niedergehender Lebensprozesse dar, die sich mehr oder weniger unabhängig voneinander vollziehen. Wir haben die Frage aufgeworfen, ob eine Bilanz des Gesamtlebens, wie es in der Wiederkunftslehre gedacht wird, gezogen werden kann. Nietzsche verwirft eine derartige Möglichkeit mit dem Hinweis darauf, daß wir als perspektivensetzende Wesen keine Stellung außerhalb des Gesamtlebens einnehmen können, die uns eine Antwort auf die Frage nach dessen Wert gestattete. Gleichwohl fällen wir Werturteile über ,das' Leben; Nietzsche sieht sie aber letztlich aus ,dem' Leben selbst hervorgehen, das uns ,als es selbst' unzugänglich bleibt. Noch wenn wir es ,ent-werten', bildet es die .Basis' unserer Entwertung.

341

A.a.O., 8; KGW VIII1, 218. - Als .wertvoll' erweist sich im Leben des Individuums allein das, worin ein Grad von Macht erfahren wird. Der Wille zur Macht ist jener Grundcharakterzug, auf den Nietzsche in der herangezogenen Aufzeichnung abhebt (vgl. a.a.O., 9 - 1 1 ; KGW VIII 1, 219).

342

Fröhliche Wissenschaft 341; KGW V 2, 250. Fragment Lenzer Heide, a.a.O., 5, 6; KGW VIII1, 216. A.a.O., 13; KGW VIII 1, 220.

343 344

250

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Eine ,Gesamtabschätzung' des Lebens im erfragten Sinne erweist sich als unmöglich. Jede Gesamtbetrachtung des Lebens - nicht nur die pessimistische - ist ein (nichtursprünglicher) Ausdruck von je schon gesondertem ,Leben' als eines (mehr oder weniger) starken oder schwachen Machtwollens. Ist die .Hypothese' von der ewigen Wiederkunft des Gleichen eine Theorie des Gesamtgeschehens oder die Ausziehung menschlicher Selbstbejahung? Wenn der Gedanke beides sein soll, so bleibt doch das Verhältnis von .kosmologischer' Lehre und dem Leben aus dem .erfüllten Augenblick' heraus zu klären. Wir müssen die Verstehenszugänge zum Wiederkunftsgedanken unterscheiden. Eine Sache ist der Gedanke und Glaube an die ewige Wiederkunft des Gleichen, der als neues und größtes Schwergewicht den Menschen verwandeln können soll. Eine andere Sache stellt der Versuch dar, die ewige Wiederkunft des Gleichen als unendliche Kreisbewegung theoretisch zu .beweisen' oder wenigstens .plausibel' zu machen. Zwar drängt der Wiederkunftsgedanke aus sich heraus auf Entfaltung und Darstellung. Um der künftigen Einverleibung willen soll er .gelehrt' werden. Dazu muß er in mancherlei Gestalt auftreten können. Die Frage ist, ob Nietzsche ihn auch in einer wissenschaftlich plausiblen Gestalt zu präsentieren imstande ist.

21. Über die Lehre als Theorie und den Glauben an die Wiederkunft 21.1. Zur Problematik der theoretischen Begründung der Wiederkunftslehre Die ersten und zugleich bedeutsamsten Bemühungen Nietzsches, den Wiederkunftsgedanken kosmologisch zu begründen, finden wir in seinen Niederschriften von 1881, nachdem er Anfang August dieses Jahres seinen programmatischen „Entwurf" über „Die Wiederkunft des Gleichen" niedergeschrieben hatte. 345 Erst durch Montinaris Edition des Notizheftes M III mit der chronologischen Folge der Aufzeichnungen ist es möglich geworden, Nietzsches Argumentation in ihrer Entwicklung zu verfol-

345

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[141] ; KGW V 2, 3 9 2 - 3 9 4 .

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gen. 346 Marco Brusotti hat Nietzsches Gedankenweg subtil herausgearbeitet; wir ziehen zuerst die Hauptlinie dieses Weges nach. 347 Während Nietzsche zunächst herausstellt, alles „Werden sei innerhalb des Kreislaufs und der Kraftmenge", 348 so bringt er später die Möglichkeit ins Spiel, „daß die Kraftmenge nichts Festes sei und ebenso die Eigenschaften der Kraft". Wenn er ausführt, „uns" sei etwas „[/«-Festes an Kraft, etwas Undulatorisches [...] undenkbar", so macht er damit eine Aussage über die Grenzen menschlicher Erkenntnis, nicht aber über „den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens", der ,uns' unzugänglich ist. In Relation zu 346

Die Auswahl und Besonderung von darin aufgezeichneten Fragmenten Nietzsches in den früheren Nietzsche-Editionen hat eine Reihe von Mißverständnissen in den systematischen Erörterungen der Wiederkunftslehre nach sich gezogen. Für diese stellt auch die vorliegende Edition von M III in KGW V 2 noch keine zufriedenstellende Grundlage dar. Die Herausgeber haben diejenigen Aufzeichnungen Nietzsches, die sie als Vorstufen zur Fröhlichen Wissenschaft ansahen, nicht in die Heftedition aufgenommen, sie sind bisher nur (unvollständig und teilweise zerstückelt) im Kommentarband der KSA (14) abgedruckt. Erst der in Vorbereitung befindliche Nachbericht zu KGW V 2 (in KGW V 4) wird die erwünschte Textbasis bieten.

347

Leidenschaft, a.a.O. [Anm. 9], Exkurs: Wandlung der chemischen Qualitäten und absoluter Fluß: Nietzsches frühe Einsicht in die Aporie der Beweise, 358-375. - Zu den für Nietzsches Argumentationen in M III wesentlichen Bezugnahmen auf zeitgenössische naturwissenschaftliche und philosophische Publikationen sei auf Paolo D'Iorio, Cosmologie de l'éternel retour, Nietzsche-Studien 24 (1995), 6 2 - 1 2 3 [ital. Fassung: La Linea e il Circolo. Cosmologia e filosofia dell'eterno ritomo in Nietzsche, Genua 1995] verwiesen. D'Iorio betont zu Recht die große Bedeutung von Otto Casparis Schrift Der Zusammenhang der Dinge. Gesammelte philosophische Aufsätze, Breslau 1881, für Nietzsches kosmologische Überlegungen und hat Nietzsches Rezeption detailliert belegt. Vgl. hierzu Brusotti, a.a.O. [Anm. 9], insb. 360f., 364ff. - Hubert Treiber (,Das Ausland'- Die ,reichste und gediegenste Registratur' naturwissenschaftlich-philosophischer Titel in Nietzsches .idealer Bibliothek', Nietzsche-Studien 25 [1996], 394-412) ist der Bedeutung von Nietzsches (bisher unbeachtet gebliebener) Lektüre der Zeitschrift Das Ausland nachgegangen; Nietzsche konnte durch sie weitere Hinweise (über Caspari hinaus) auf die zeitgenössische kosmologische Debatte empfangen haben (a.a.O., 403-412). - Zu Nietzsches für die Aufzeichnungen von 1881 ebenfalls folgenreiche Beschäftigung mit Johannes Gustav Vogts Buch Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung, Bd. I, vgl. Martin Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff. Nietzsches Auseinandersetzung mit ]. G. Vogt, Nietzsche-Studien 13 (1984), 211-227. Vgl. hierzu auch Brusotti, a.a.O., 369ff.

348

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[157]; KGW V 2, 400. - Vgl. dazu z.B. auch Nachlaß a.a.O., 11[202]; KGW V 2, 421.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

ihm können wir „von keinem ,Naturgesetz' eine ewige Gültigkeit behaupten" und „von keiner chemischen Qualität ihr ewiges Verharren". 349 Die Reflexionen Nietzsches finden Ausdruck in Fragen wie z.B. diesen: „Sollte die Vielartigkeit der Qualitäten auch in unserer Welt eine Folge der absoluten Entstehung beliebiger Eigenschaften sein? Nur daß sie in unserer Weltecke nicht mehr vorkommt?" Diese und andere Überlegungen zu einem möglichen „Gegenbeweis gegen eine gleichmäßige Kreisform alles Bestehenden" verdichten sich zu einer „Gegenhypothese gegen den Kreisprozeß", welche wiederum in einer Reihe von Fragen formuliert wird. In ihnen wird zuletzt „eine Urdummheit" angenommen, die „eine wirkliche Ungesetzmäßigkeit" ist, fähig freilich „gesetzlich zu werden". „Ausnahmen und gewissermaßen Zufälle" sind demzufolge „die Gesetze der mechanischen Welt [...], als eine Möglichkeit von vielen unzähligen Möglichkeiten", innerhalb dieser Welt würde dann „aller Chemismus" und innerhalb seiner „der Organismus [...] die Ausnahme und der Zufall" sein. Bei Annahme der unendlichen internen (.zufälligen') Veränderbarkeit von Qualitäten kann selbst bei vorausgesetzter Bestimmtheit von Kraftquantität eine Kreis-Wiederholung des Geschehens nicht plausibel gemacht werden. 350

349

350

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11[292,293]; KGW V 2,451f., 452. - Vgl. dazu Brusottis detaillierte Ausführung in: Leidenschaft, a.a.O. [Anm. 9], 367-369. Zu beachten ist z.B., daß Nietzsche „nicht ernsthaft bezweifeln" will, „daß die Kraftmenge quantitativ bestimmt sei". Entscheidend ist, daß „auch eine quantitativ bestimmte Kraftmenge [...] qualitativ unbestimmbar sein" kann: „nämlich dann, wenn es eigentlich keine Entsprechung zwischen Quantitäten und Qualitäten gibt". (A.a.O., 368) - Zu Nietzsches Problem wird 1881 nicht die Bestimmtheit der Kraftmenge, sondern die mögliche Unbestimmtheit der Qualitäten. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881,11[311, 313]; KGW V2,458f.,460,459. - Vgl. hierzu die Ausführungen von Brusotti, Leidenschaft, a.a.O. [Anm. 9], 369-374. Er faßt den von ihm dargestellten Gedankenzusammenhang Nietzsches wie folgt zusammen: „Nachdem 1) die Veränderlichkeit der Qualitäten und die Kosmologie der ewigen Wiederkunft in Nietzsches Notizheft fast gleichzeitig aufgetaucht sind und sich fast unabhängig voneinander entwickelt haben und nachdem er 2) verschiedentlich versucht hat, sie zu vermitteln und zusammenzubringen, ist der Konflikt offensichtlich. Er zeigt sich schließlich in einer Gegenhypothese zur Kosmologie der ewigen Wiederkunft. Wenn weder die Formeln, die die Bildung der Qualitäten beschreiben, noch diese Qualitäten selber eine ewige Gültigkeit beanspruchen können, d.i., wenn zu verschiedenen Zeiten aus gleichen Verhältnissen verschiedene Qualitäten und aus verschiedenen Verhältnissen gleiche Qualitäten entstehen können, dann ist die ewige Wiederkunft aus dem quantitativ

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Auf den tiefgehenden Zweifel an der Hypothese des ewigen Kreislaufs von 1881 kommt Nietzsche nicht mehr zurück. Die Gründe hierfür sind komplexer Natur. Wesentlich ist dabei, daß er seine theoretischen Voraussetzungen für die Wiederkunftslehre an einem bestimmten Punkt abwandelt. Er nimmt die Empfindung und Wahrnehmung von Qualitäten in die spezifisch menschliche Perspektivik zurück. Im Grunde .erkennen' wir nur Quantitäten, „aber wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes", nämlich „als Qualitäten" zu empfinden, „die nicht mehr auf einander reduzirbar sind". Diese sind „unsere unübersteiglichen Schranken" oder auch „unsere eigentliche menschliche Idiosynkrasie".351 „Unter bestimmten Veränderungen der Quantitäten entsteht das, was wir als verschiedene Qualität empfinden." 352 Das bedeutet für Nietzsche aber nicht, daß wir es mit „einer rein quantitativen Welt" zu tun haben; in ihr „wäre alles todt, starr, unbewegt. - Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn", notiert er.353 Ohne die Annahme einer Qualität in den Quantitäten kommen wir nicht aus. Diese Qualität kann nicht den Charakter einer veränderlichen oder unveränderlichen Eigenschaft haben. Die allen Veränderungen zugrunde liegende einzige Qualität bezeichnet der spätere Nietzsche als ,Wille zur Macht'. Für ihn ist „alle treibende Kraft Wille zur Macht"; es gibt „keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem". 354 Aber es ist zu beachten, daß es die treibende Kraft nur in (quantitativen) Besonderungen, jeweils „als eben diese bestimmte Kraft" gibt, die „sich an einem Quantum Kraft-Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist".355

351

352 353

354 355

begrenzten Wesen der Kraft und aus der daraus folgenden notwendigen Wiederholung derselben quantitativen Verhältnisse nicht mehr ableitbar." (A.a.O., 369) Nachlaß Sommer 1886-Frühjahr 1887, 6[ 14]; KGW VIII 1, 244. Vgl. a.a.O., 5[36]; KGW VIII 1,201. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 27[31]; KGW VII 2, 283. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[157] ; KGW VIII 1, 140f. Es ist die mechanistische Weltauffassung, gegen die Nietzsche sich damit wendet. Diese „will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität: die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären." (A.a.O., 2[76]; KGW VIII 1, 94) Nachlaß Frühjahr 1888, 14[121]; KGW VIII 3, 92f. - Vgl. dazu oben S. 146ff. Nachlaß Herbst 1887,10[138]; KGW VIII2,202. - Auch im Hinblick auf Fragen menschlicher Moralität gilt: „Ein Quantum Kraft ist ein [...] Quantum Trieb, Wille, Wirken - vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch

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Ist die vorgestellte Qualitäten-Unendlichkeit auf die (einzige) Qualität des Willens zur Macht zurückgeführt worden, so müssen noch die Quantitäts-Differenzen, in denen allein die Kraft .gegeben ist', auf „Ein Quantum von Kraft" in der Welt eingeschränkt gedacht werden, um die Theorie der unendlichen Kreisbewegung theoretisch begründen zu können.356 1885 notiert Nietzsche: „die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden - wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff .Kraft' unverträglich"?57 Durch die beschriebene .Quantifizierung' werden die Qualitäten verendlicht; sie gehen im endlichen Gesamt-Quantum der Kraft auf, das Störpotential einer möglichen Qualitäten-Vielheit gegen den Wiederkunftsgedanken ist damit beseitigt. An diesem Punkte meldet sich der Einwand, Nietzsche habe das dargelegte Problem nur verschoben, es hole ihn aber im Hinblick auf die unendliche .Teilbarkeit' aller Quanten wieder ein. Hat Nietzsche nicht geschrieben, „die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von .Individuum' usw. zu reden; die .Zahl' der Wesen" sei „selber im Fluß"?358 Wir gehen hier zunächst der mathematischen Argumentation nach, die Arthur C. Danto im Hinblick auf das Verhältnis von Gesamtkraft zu den Kraftquanten gegen Nietzsche vorgebracht hat: Man dürfe nicht aus einer endlichen Summe die Endlichkeit ihrer .Teile' folgern. Als Beispiel führt er an: „The series 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 ... sums to a finite number 2. But there is not a finite number of members in the series."359

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358 359

ein .Subjekt' versteht und missversteht, kann es anders erscheinen". (Genealogie der Moral, 1. Abh. 13; KGW VI 3. 293) - Im 19. Jahrhundert ist „unsere Stellung in politicis" Nietzsche zufolge „natürlicher" geworden: „wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht beruht, sich durchzusetzen". (Nachlaß a.a.O., 10[53]; KGW VIII 2, 149.) Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 2[143]; KGW VIII1, 135. Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[15]; KGW VII 3. 281. - Davon, daß „das Maaß der All-Kraft [...] bestimmt, nichts .Unendliches'" ist, war Nietzsche schon 1881 ausgegangen (Nachlaß 11 [202]; KGW V 2, 421). Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[23]; KGW VII 3, 285. Nietzsche as philosopher, New York/London 1965, 206. - Wir greifen dieses Beispiel aus Dantos Argumentation auf, weil er mit ihm belegen will, daß die (für unseren Zusammenhang relevante) Proposition: „The number of states [Lagen] of energy is finite", von ihm als unabhängig von der Proposition der Begrenztheit der Gesamtsumme der Energie im Universum wie der Proposition der Erhaltung der

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Günter Abel hat Dantos Applikation mathematisch-logischer Unendlichkeit auf Nietzsches Verständnis zeitlicher Unendlichkeit der Weltprozesse zurückgewiesen; das von Danto ins Spiel gebrachte potentiell Unendliche gilt ihm als Synkategorema.360 Abels Argumentation gestattet eine Vertiefung der Problematik. Er weist zunächst die Vorstellung der einen Welt in dem Sinne zurück, als entwickle diese sukzessive ihre zeitlichen Akzidenzien und stehe dabei „vor dem Problem [...], zuerst die Hälfte ihres Weges, dann das nächste Viertel, dann das darauf folgende Achtel etc. zu durchlaufen".361 Dagegen handele es sich bei Nietzsche „in jedem Zustand der Welt um einen bestimmten Zustand der ganzen Kraftmenge".362 Es sei die Weltkonstellation in ihrer Gesamtheit, die sich im fortlaufenden Wandel befindet. Ihre Endlichkeit bleibt dadurch gewährleistet, daß in diesem Gesamtprozeß weder „das aktuell Unendlichgroße" noch das „aktuell Unendlichkleine" faktisch möglich sein sollen.363 Kann sich das Gesamt-Quantum der Kräfte weder vermehren oder vermindern, so liegt die „Nicht-Unendlichkeit der dieses verkörpernden Kraftzentren" zutage.364 Damit ist das genannte .Problem Nietzsches' aber natürlich noch nicht gelöst. Nach seinen Voraussetzungen kann der Teilbarkeit noch im aktuell Kleinsten keine Grenze gesetzt sein, weil man sonst quasi-substantielle Letztgegebenheiten annehmen müßte. Abel beschreibt nun, Nietzsche folgend, die un-endliche Teilung als faktische Disgregation von Machtgebilden. Dabei könnten aber nicht „aktuell-unendlich viele Kraftzentren" entstehen, „wenn deren jedes durch ein bestimmtes Quantum, das es verkörpert, definiert, und wenn die Gesamtmenge zu der auch jedes einzelne

360

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Energie angesehen wird (ebd.). Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 2 0 0 - 2 0 7 . - Zu Dantos zweitem Beispiel, das hier nicht herangezogen wird, vgl. a.a.O., 2 0 7 - 2 1 7 . -Einen mathematischen „Gegenbeweis" gegen Nietzsches .Lehre' hat schon G. Simmel vorgelegt (in Schopenhauer und Nietzsche, a.a.O. [Anm. 307], 250f.). Auf ihn geht Abel im zitierten Zusammenhang ebenfalls ein (a.a.O., 1 9 7 - 1 9 9 ) . Unter einem anderen Gesichtspunkt als er habe ich diesen Gegenbeweis in Nietzsche thematisiert (a.a.O., 178f.). A.a.O., 204. A.a.O., 201. A.a.O., 203. - Mit solcher Zurückweisung möglicher Aktualität von Unendlichgroßem und Unendlichkleinem entfallen nach Abel auch die Aspekte „des Aktuell-Unerschöpflichen und des Nie-Gleichen" (ebd.). A.a.O., 206.

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Quantum gehört, endlich ist".365 Vermehrt sich ,die Zahl der Wesen', z.B. durch Zerfall eines Organismus, so stellt dies nach Abel allein ein Problem „der Verkttüpfungsrelation und der Ereignis-Folge" dar. Die faktische Größe jener Zahl ändert am „Verständnis des Kräftevollzugs als solchen", d.h. als des Gesamten, nichts: „In diesem Sinne ist er ungeteilt."366 In Abels Argumentation wird besonders deutlich, daß für Nietzsches Beweisversuche der ewigen Wiederkehr des Gleichen die Annahme eines endlichen Gesamtquantums unentbehrlich ist. Dieses ist kein Ganzes in einem traditionellen Sinne; es ist auch in jeder seiner besonderen,Gesamtlagen' nicht ,mehr' als die Summe der fortlaufend sich wandelnden (nie aber aktuell-unendlichen) „Anzahl der Elemente".367 Abel baut die theoretischen Voraussetzungen für jenes .ungeteilte Gesamte' von Kraft aus, über die wenigen diesbezüglichen Nachlaßaufzeichnungen Nietzsches hinausgehend. Die Frage nach der unendlichen Teilbarkeit ist aber auch mit der Voraussetzung der Endlichkeit der Gesamtkraft noch nicht vom Tisch. Abel sieht, daß jene Unendlichkeit nur dann „ein Argument gegen die Möglichkeit der Wiederholung" darstellen könnte, „wenn sie gleichbedeutend wäre mit jener unendlichen zeitlichen Erstreckung, wie diese z.B. von Leibniz den Monaden zugesprochen wird". Gelangen diese doch „nie an ein Ende ihrer Perzeptionsfolge". Aber eine derartige „hochgradig metaphysische, eine göttliche Bestimmung der Monaden-Kraft" könne im Hinblick auf Nietzsche nicht ins Spiel gebracht werden.368 365

A.a.O., 2 0 6 .

366

A.a.O., 204f.

367

A.a.O., 2 0 6 . - Vgl. dazu (a.a.O., llOf.) Abels Auseinandersetzung mit Bernd Magnus' Ausführung in Nietzsche's Existential Imperative, London 1 9 7 8 , 83f.

368

A.a.O., 2 0 6 . - Abel sieht in Leibniz' Philosophie desungeachtet „eine produktive Hintergrundfolie" für Nietzsches Denken (a.a.O., 282f.). Das betrifft eine Reihe von Punkten, von denen weiter unten das Prinzip der Identität der Indiszernibilien heranzuziehen sein wird. - Natürlich ist es die von Leibniz aus der Kombinatorik gewonnene Apokastasis-Lehre, die nach Abel auf Nietzsche vorweist. Hier findet er die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis angemessen zugrunde gelegt. Daß Leibniz seine „Grenz-erfahrung [...] schließlich doch wieder zugunsten der metaphysischen Voraussetzungen seines Systems relativiert", gestattet es ihm, die Wiederkunftslehre Nietzsches „als kontrastive Überbietung der Leibnizschen Apokastasis-Welt" zu profilieren. Nach Abel ist es „allein der Gedanke einer identischen ewigen Wiederkehr eines jeden einzelnen Momentes des Weltprozesses, der ein erneutes Anheimfallen an letztlich weit-verneinende Metaphysmen und Gnostizismen verhindern kann". (A.a.O., 2 8 6 ) Es bleibe hier dahingestellt, ob

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

257

Mit der Herausstellung von Argumenten, welche es gestatten, nach der möglichen Unendlichkeit der Qualitäten auch die unendliche Teilbarkeit der Quanten zurückzuweisen, ist natürlich die ewige Wiederkunft des Gleichen nicht bewiesen. 369 Zunächst bleibt festzuhalten, daß allein durch die Voraussetzung einer Gesamtsumme an Kraft die Möglichkeit „aktuell-unendlich viele[r] Kraftquanta" ausgeschlossen wird. Diese Voraussetzung garantiert erst (gemeinsam mit anderen) die Beweisbarkeit der ewigen Wiederkunft des Gleichen. 370

369

370

bestimmte Voraussetzungen von Nietzsches (und damit Abels) Kosmologie, wie diejenige einer konstanten Gesamtkraft trotz ihres antimetaphyischen Charakters nicht selber metaphysischen (wenn auch nicht dualistischen) Charakters sind. Die kritische Bedeutung der Lehre Kants von den Antinomien der reinen Vernunft darf nicht einseitig aufgehoben werden. - Die Gefahr eines neuen Gnostizismus wird in Abels Buch so häufig beschworen, daß man sich fragen muß, ob seine vorrangige Bemühung um ihre Abwendung nicht von einem existenziellen Vorverständnis geleitet wird, nicht anders als bei Nietzsche. Wenn dieser 1881 Gegenargumente gegen den Kreisprozeß vorträgt (11 [311] und [313]), so steht zwischen beiden, einem Warnschild gleich: wer nicht an diesen glaube, müsse „an den willkürlichen Gott glauben" (11[312]; KGW V 2, 459). Derartiges soll nicht sein dürfen. Die .Endlichkeits-Argumentation' in bezug auf die Wiederkunftslehre werden wir im Zusammenhang mit der Problematik der Unendlichkeit der Interpretationen im nächsten Abschnitt noch einmal aufnehmen. S. unten Abschnitt 22.5, S. 291-297. Abel (Dynamik a.a.O. [Anm. 7], 206f. - Die unendliche Teilbarkeit im mathematischen Sinne ist unter der Voraussetzung einer endlichen Gesamtkraft in der Tat kein Problem mehr für die Wiederkunftslehre. Aber deren Auffassung als eines bestimmten Quantums, als einer Summe, wird den Konsequenzen von Nietzsches Gedanken des Prozeßcharakters der Vielheiten von Willen zur Macht, die sich aus sich heraus faktisch .teilen' oder sich andere Machtwillen .einverleiben', doch nicht gerecht. Diese Konsequenzen führen in eine uneinsehbare Un-endlichkeit der Vorgänge hinein, von der im nächsten Abschnitt gehandelt werden wird. - Die u.a. auch von mir vorgebrachte These (a.a.O., 180f.), die Machtwillen seien in sich unbegrenzt teilbar, bewegt sich außerhalb des (unter einem Summenverständnis) Vorstellbaren. Abels auch gegen mein Verständnis gerichtete Kritik (Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 202) geht von Dantos „Version logischer Unendlichkeit" aus (a.a.O., 201), nicht aber von jenem Unendlichen interner Prozesse, das sich dem Quantifizieren entzieht. Allerdings kann Abel sich hier zurecht auf Nietzsche berufen. Hat dieser ja jene für den Wiederkunftsgedanken kritische Konstellation beseitigt, auf die er sich 1881 .zubewegte'. Freilich gilt dann auch gegenüber Nietzsche, was Brusotti schreibt: „ A b e r auch eine quantitativ bestimmte Kraftmenge kann qualitativ unbestimmbar sein: nämlich dann, wenn es eigentlich keine Entsprechung zwischen Quantitäten und Qualitäten gibt." (A.a.O. [Anm. 8], 368)

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

In der Diskussion über Nietzsches Begründungsversuche sind seine Argumentationen nicht nur kritisch aufgenommen worden. Oskar Becker hat 1936 bedauert, daß man in Deutschland „die rein theoretische Seite" der Wiederkunftslehre nicht ähnlich ernst genommen habe, wie dies Abel Rey und Charles Andler in Frankreich getan haben.371 Wie er ist auch Abel davon überzeugt, daß Nietzsche „alle erforderlichen Aspekte" angeführt habe, welche die Argumentation „vollständig und gültig machen". - Abel wendet noch Dantos Kritik an Nietzsche ins Positive. Er sieht die von Danto herausgestellten sieben Propositionen als „vorzüglich geeignet" an, die „theoretische Plausibilität" von Nietzsches Wiederkunftsargument darzutun. Man dürfe diese „Bedingungen" allerdings nicht als logisch unabhängig voneinander ansehen, sondern müsse sie „im Sinne von Erfordernissen, Verweisungen und Implikationen miteinander verschränkt" sehen.372 Es wird zu fragen sein, ob Nietzsche solche .Bedingungen' nicht selbst schon kritisch unterlaufen hat.

21.2. Nietzsches Logik- und Wissenschaftskritik und die theoretische Begründbarkeit der Wiederkunftslehre Wir haben uns auf Aspekte der Diskussion über die Wiederkunftslehre bezogen, ohne zu fragen, ob diese sich nicht von Nietzsches Logik- und Wissenschaftskritik gelöst hat. Gleichwohl will dieser selbst die Wieder371

372

Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft (1936), in: Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufsätze, Pfullingen 1 9 6 3 , 4 1 - 6 6 , hier: 41f. - Zu Rey und Andler sei auf Abels Hinweise (a.a.O. [Anm. 7], 267-276) verwiesen. A.a.O. [Anm. 7], 2 1 5 - 2 1 7 . - Zu den Bedingungen der Wiederkehr gehört nach Danto, daß erstens die Summe der Energie bzw. Kraft im All endlich ist, wie zweitens auch die Anzahl der Kraftlagen; daß drittens und fünftens die Energie sich erhält (gemäß dem .Erhaltungssatz') und von unendlicher Dauer ist, daß viertens die Zeit unendlich ist und daher sechstens der Wechsel der Dinge sich ewig vollzieht; daß schließlich siebentens das Prinzip des zureichenden Grundes für alles Geschehen in Geltung gebracht wird. {Nietzsche, a.a.O. [Anm. 359], 206ff.) Abel hat von seinem Ansatz aus die Notwendigkeit dargelegt, an die Stelle jenes Prinzips „die wirklichen Kraftvollzüge" der Kämpfe der Willen zur Macht zu setzen. Als achte These fügt er noch die „Nicht-Unendlichkeit, aber Unbegrenztheit des Raumes" hinzu (a.a.O., vgl. auch 395-401).

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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kunftslehre als ,die wissenschaftlichste aller möglichen Welthypothesen' in Anspruch nehmen. 373 Soweit damit z.B. auf Mathematik und Naturwissenschaft Bezug genommen wird, bleibt zu beachten, daß beide nach seinen Grundeinsichten „nichts mehr und nichts weniger sind als angewandte Logik". Sie setzen ihrerseits schon voraus, „daß es identische Fälle giebt". 374 Schon bei der Annahme identischer Fälle aber handelt es sich um Zurechtmachungen, Vereinfachungen, Fälschungen des Wirklichen. 375 Auf das von ihm als täuschend Entlarvte kann Nietzsche seine eigene Lehre nicht gründen. 376 Wohl aber kann er den .Glauben und Gedanken' mit seiner Hilfe vortragen und argumentativ ausbauen. Denn sein Umgang mit den Möglichkeiten von formalem und wissenschaftlichem Denken ist zuletzt nicht an deren eigenem Wahrheitsanspruch orientiert. Wir haben oben darauf hingewiesen, daß er die mechanistische Denkweise seiner Zeit (noch mehr die teleologische und kaum weniger die dynamistische) als eine die wirklichen Vorgänge verdeckende und deshalb verfehlende Auslegungsart auffaßt. 377 Andererseits läßt ihr besonderer Zeichencharakter sie uns vielfältig nützlich, ja unentbehrlich sein, auch wenn wir uns mit ihr nur auf der Oberfläche der Erscheinungen bewegen. Und schließlich haben wir auch davon gehandelt, daß Nietzsche die mechanistische Machinalisation als Mittel der Starken beschreibt, den Beherrschten bestimmte Funktionen anzuzüchten. 378 Daß die Logik und die Wissenschaften uns über die Wirklichkeit täuschen, läßt sie also nicht unbrauchbar werden. Sie bewähren sich vielmehr, jenseits des von ihnen erhobenen und uneinlösbaren .Wahrheitsanspruchs', 373

374 375

376

377 378

Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5[71, 6]; KGW VIII1, 217. - Vgl. oben S. 249. Nachlaß August-September 1885, 40[27]; KGW VII 3, 375. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[307); KGW VII 2, 85f. - Vgl. dazu Das Problem des Gegensatzes, Nietzsche-Interpretationen I, S. 3ff. „Nietzsche war die .wahre Welt' zur Fabel geworden: um so mehr verwundert, daß er die kosmologischen Fabeleien von der Wiederkehr seit Sommer 1881 auf wissenschaftliche Beweise gründen will, die in Gegensatz zu seinem abgründigen erkenntnistheoretischen Pessimismus stehen", schreibt Klaus Spiekermann, Nietzsches Beweise für die ewige Wiederkehr, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 496f. Vgl. Abschnitt 3, S. 146-148. Vgl. oben S. 161ff., 166. - Zu den hier genannten Aspekten von Nietzsches Verständnis der wissenschaftlich-mechanistischen Interpretation vgl. auch Vf., Das Willenswesen und der Übermensch. A.a.O. [Anm. 201], 158-160.

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als Instrumente des Macht- und Herrschaftswillens. Weil es Nietzsche darum geht, daß „in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt [...] erst Einem, dann Vielen, dann allen" der Wiederkunftsgedanke als „der mächtigste Gedanke auftaucht",379 bedarf er auch der Durchsetzung gegenüber anderen Weltkonzeptionen. Deshalb begrüßt er „das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen götter-erdichtenden", das sich als „der Satz und Glaube" zum Ausdruck bringt: „die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden". 380 In der Auseinandersetzung mit anderen Weltdeutungen muß Nietzsches Gedanke als „neue Welt-Conception" sich im übrigen auf deren begrifflicher Ebene bewegen. Zeitgenössischen Kritikern an „dem Begriff Zeit-Unendlichkeit der Welt", welchen die Wiederkunftslehre .voraussetzt', begegnet er auf deren eigenem Terrain. So bezieht er sich auf den „correcten Begriff eines regressus in infinitum" gegen dessen Gleichsetzung durch Eugen Dühring „mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines progressus bis jetzt". Es ist aber charakteristisch für seine Argumentationsweise, daß sie vom phänomenal einleuchtenden Sachverhalt ausgeht, nichts könne mich hindern, „von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen, ,ich werde nie dabei an ein Ende kommen': wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus". Wenn Dühring „die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent" setzt, so wirft ihm Nietzsche bezeichnenderweise nicht einen formalen Fehler vor, sondern hält eine sehr anschauliche Metapher dagegen: dabei „würde ich den Kopf, diesen Augenblick, als Schwanz zu fassen bekommen". 381 Nietzsche nimmt aber auch selbst logisch, mathematisch oder auch mechanistisch orientierte Argumentationen auf, wenn ihm dies für die Durchsetzung des Wiederkunftsgedankens nützlich erscheint. Ihm ist durchaus daran gelegen, die theoretischen Voraussetzungen aufzustellen, unter denen „ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen" werden könnte. 382 Er 379

380 381

382

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 1 1 [148]; KGW V 2 , 3 9 6 . - Die „Lehre" soll nicht „wie eine plötzliche Religion" gelehrt werden, heißt es in einer anderen Aufzeichnung von M III 1, sondern im Bewußtsein, daß er „langsam einsickern" muß. „Für den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende - lange lange muß er klein und ohnmächtig sein!" (Nachlaß a.a.O., 11 [158]; KGW V 2, 401) Nachlaß Juni-Juli 1885, 36[15]; KGW VII 3, 281. Nachlaß Frühjahr 1888, 14[188,3]; KGW VIII3,167. - Zu Dührings Argumentation und zu ihrer philosophiegeschichdichen Bedeutung vgl. G. Abel, a.a.O. [Anm. 7], 388ff. Nachlaß a.a.O., 14[188, 5]; KGW VIII 3, 168.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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notiert etwa: „Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden darf - und jede andere Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar - so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Combinationen, im Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat." Die Kondition der Brauchbarkeit ist - in letzter Instanz wohlgemerkt - zweifellos keine .wissenschaftliche'. Nietzsches .Glaubens-Artikel' sollen gelten, auch wenn, wie er 1888 schreibt, „der Mechanismus der Consequenz eines Finalzustandes nicht entgehen könnte", welche er bei William Thomson gezogen findet. Thomson hatte die schließliche Dissipation der Energie gemäß dem Entropiesatz angenommen. In diesem Falle wäre „der Mechanismus widerlegtschreibt Nietzsche bezeichnenderweise. 383 Oskar Beckers Ausführungen zu Nietzsches Lehre sind für die Differenz zwischen solcher ,Glaubensvoraussetzung' und einer .Glaubensfolge' auf theoretischem Grunde aufschlußreich. Becker sieht, vom Primat der Theorie her ganz konsequent, die Beweisbarkeit als Voraussetzung für die ethische oder religiöse Bedeutung der Lehre an. In seinem zweiten Beweisgang kennzeichnet er Nietzsches Schlußfolgerung als „tadelsfrei" und „zwingend". Ob Nietzsches Voraussetzungen für diese freilich „in der wirklichen Welt zutreffen", müsse die „Sache umfangreicher physikalischer Forschungen" bleiben.384

383

Nachlaß Frühjahr 1888, 1 4 [ 1 8 8 , 4 ] ; KGW VIII 3, 167. - Zu Nietzsches Kenntnis von Schriften über die kosmologische Ausweitung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik' zur sog. Wärmetod-Theorie' vgl. die Hinweise von Alfred Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952, 3 6 5 - 3 6 9 . Vgl. auch Abel, a.a.O. [Anm. 7], 3 8 1 - 3 8 8 . - Nietzsche ist auch in seiner Lektüre von Herrmanns Cultur und Natur auf den Entropie-Satz gestoßen, der besonders auf Clausius und Thomson eingeht. Herrmann schreibt: „Das Gesetz der Erhaltung der Energie ist von unumstößlicher Wahrheit; man darf aber niemals von dem Zusätze abgehen, daß es nur dann wahr ist, wenn es für das ganze Weltall gedacht wird. Sobald man die Möglichkeit zugiebt, daß Processe in einzelnen Fällen nicht umgekehrt werden können und darauf verzichtet, diese Umkehrung in fernen Theilen des Weltalls zu erwarten, verliert das Gesetz seine Bedeutung als ganz allgemeines". (CN 7 8 - 8 1 ; hier: 80) - Zur systematischen Diskussion über die kritische Potenz der .Wärmetod-Theorie' gegenüber einer Theorie von der ewigen Wiederkunft vgl. auch Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 25], 1 7 4 - 1 7 9 .

384

Nietzsches Beweise, a.a.O. [Anm. 374], 66, 4 3 - 4 5 . - Vgl. hierzu Vf., Nietzsche, a.a.O. [Anm. 25], 1 6 4 - 1 7 4 . Heidegger hat in seiner Nietzsche-Vorlesung über die ewige Wiederkehr des Gleichen im SS 1937 mit polemischer Wendung gegen

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Doch weil Nietzsches „neue Welt-Conception" primär nicht mathematisch und auch nicht physikalistisch ist, kann Nietzsche sie auch nicht-mechanistisch formulieren. Er tut es am Anfang des hier mehrfach herangezogenen Textes in organizistischer Metaphorik: „Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie aufgehört zu werden und nie aufgehört zu verge-

Oskar Becker (freilich ohne dessen Namen zu nennen) ausgeführt, „neuerdings" gebe es gerade unter dem Einfluß von Sein und Zeit „Versuche", Nietzsches Beweise ernstzunehmen, man zeige „sogar mit mathematischen Aufwand, daß die Beweise gar nicht so schlecht sind, von einigen .Fehlern' abgesehen. Ja, Nietzsche habe sogar, man staune, einige Gedanken der heutigen Physik vorausgenommen, und was kann es für einen heutigen Menschen Größeres geben als seine heutige Wissenschaft." Ihm zufolge beruhen „sowohl die Ablehnung wie auch die Zustimmung zu den Beweisen" auf der „gemeinsamen und gleichen Voraussetzung", daß es sich bei ihnen „um .naturwissenschaftliche Beweise' handle". (HGA 44, 112; vgl. 121) Nietzsches Wiederkunftslehre ist für Heidegger hingegen als Lehre vom Seienden im Ganzen eine philosophische Konzeption, deren „Bestimmungen des Weltwesens" wie „Kraft, Endlichkeit, Endlosigkeit, Gleichheit, Wiederkehr, Werden, Raum, Zeit, Chaos, Notwendigkeit" nicht wissenschaftlichem Denken entnommen sind (a.a.O., 117ff.). Doch sind diese Bestimmungen vor allem (wenn auch nicht nur) in Nietzsches Beschäftigung mit zeitgenössischer wissenschaftlicher Literatur erhärtet worden. Andererseits darf man den eigenen Sinn, den er ihnen im Zusammenhang seines Philosophierens verleiht, nicht geringschätzen. Denn es geht ihm letztlich darum, praktikable Grundschemata für die .Lehre' der Wiederkunft zu gewinnen. Diese Schemata stellen in bezug auf die wissenschaftlichen Auffassungen Vereinfachungen dar. Mit ihnen löst er sich in gewisser Weise von jenen, um sie zu unterlaufen. Hierin liegt meiner Meinung nach das Wahrheitsmoment von Heideggers These. - Im Anhang zu der zitierten Vorlesung Heideggers, der in HGA 44 veröffentlicht ist, heißt es in einer für eine „Wiederholung" bestimmten Aufzeichnung: „Der Anschein: Aus der Verfassung des Seienden im Ganzen wird auf die Weise des Seins im Sinne der ewigen Wiederkunft des Gleichen geschlossen. Nur Anschein: In Wahrheit dieses scheinbar Gefolgerte und Nachgetragene das Erste und Maßgebende: der Entwurf. Was als Beweis sich darstellt, ist Entwurfsentfaltung (nicht Entwurfsbegründung, es gibt überhaupt keine, sondern nur Gründung), d.h. Darstellung des in ihm Mitgesetzten in seinem inneren Zusammenhang." (A.a.O., 243f.) - Der .Entwurfsentfaltung' nachzufragen, scheint auch mir die vordringliche Aufgabe im Verständnis von Nietzsches Wiederkunftslehre zu sein. Ich stimme Heidegger jedenfalls darin zu, daß dessen Lehre „nicht mit beliebigen Maßstäben zu messen ist, sondern aus ihrem eigenen Gesetz" (a.a.O., 111).

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

263

hen - sie erhält sich in Beidem ... Sie lebt von sich selber: ihre Excremente sind ihre Nahrung ..." 38S

21.3. Zum Verhältnis von theoretischer und,existentieller' Wiederkunftsgedankens

Bedeutung des

Man könnte meinen, es laufe auf dasselbe hinaus, ob die ,kosmologische Argumentation' als Voraussetzung des Glaubens an die ewige Wiederkunft vorgestellt wird oder ob der Glaube selbst auf die Konsequenz der argumentativen Entfaltung drängt. Dies ist aber nicht der Fall. Die Frage nach der Beweisbarkeit des unendlichen Kreislaufs spielt keine Rolle, wenn Nietzsches Zarathustra sich dem Gedanken der ewigen Wiederkunft ausgesetzt sieht, ihn durchleidet und ihn schließlich verkündet. Der Gedanke tritt in Also sprach Zarathustra als die elementare Herausforderung des Lebens auf, zu der man Ja oder Nein sagen muß. Zarathustra fordert schließlich die Heraufkunft des Ubermenschen, weil er selbst den Gedanken nicht zu bejahen vermag. Der Gedanke der Gedanken soll nach einem Plan zu einem 5. Teil dieses Buches „als Religion der Religionen" sogar in einem höheren Sinne „tröstlich" sein können.386 Ob der Wiederkunftsgedanke als Triumph des Lebens gutgeheißen oder als Fluch erfahren wird, entscheidet nach Nietzsche über die Zukunft des Menschen. Der Gedanke, der plötzlich „Gewalt" über den Menschen gewinnen kann und ihn damit,verwandelt', kann ihn „vielleicht zermalmen". Aber der Mensch kann ihn auch .annehmen', sich „selber und dem Leben gut" werdend, „um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung".387 Die selektive Funktion des Gedankens für die Bildung zukünftiger Starker bei dem von ihm prognostizierten Absterben derjenigen, die ihn nicht ertragen können, ist unter diesem Gesichtspunkt von Bedeutung. Es geht später allein um die Geschichte, die

385 386

387

Nachlaß Frühjahr 1888, 14[188, 1]; KGW VIII 3, 166. Nachlaß April-Juni 1885, 34[199]; KGW VII 3, 208. - Zu diesem Projekt Nietzsches vgl. M . - L . Haase, Zur Überlieferung und Entstehung von ,Also sprach Zarathustra', in: Nachbericht zu KGW VI 1; KGW VI 4, 9 7 2 - 9 7 5 . Die fröhliche Wissenschaft 341; KGW V 2, 250.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

dem Menschen unter solcher Herausforderung bevorsteht. An Overbeck schreibt Nietzsche 1 8 8 4 : „[...] es ist möglich, daß mir zum ersten Male der Gedanke gekommen ist, der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Dieser Zarathustra ist nichts als eine Vorrede, Vorhalle - ich habe mir selber Muth machen müssen, da von überall her nur die Entmuthigung kam: Muth zum Tragen jenes Gedankens! [...] Ist er wahr oder vielmehr: wird er als wahr geglaubt - so ändert und dreht sich Alles, und alle bisherigen Werthe sind entwerthet." 388 Die Geschichte, welche die Menschheit durch den Glauben an die Wiederkunft spaltet, 389 ist nicht die Geschichte, die (auch als Menschheitsge 388

389

Brief an Franz Overbeck v. 8.3.1884, Nr. 494; KGB III 1, 484f. - Nietzsche schreibt hier, er sei „noch weit davon entfernt," den Gedanken „aussprechen und darstellen zu können". Abel findet in diesem Brief nur das Vorläufige des Existenziellen, das durch die theoretische Grundlegung im Nachlaß Nietzsches überholt werde (Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 254ff.). Zu dieser Geschichte vgl. Vf., Nietzsche, a.a.O.[Anm. 25], 153-161. - Ich habe Abel in einer Diskussion darin zugestimmt, daß ich „in meinem Nietzsche-Buch die theoretischen Begründungen der Wiederkunft als Verkehrung von deren wahren Sinn verstanden habe" (Nietzsche-Studien 10/11 [1981/82], 403). Hierauf beruft sich Abel in Dynamik, a.a.O., [Anm. 7], 311. Ich habe sie dadurch aber nicht in ihrer theoretischen Triftigkeit anerkannt, sondern lediglich die Auffassung revidiert, die .wissenschaftlichen Argumentationen' seien mit dem existenziellen Sinn unvereinbar (vgl. dazu Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretation, A.a.O., [Anm. 201], 158-161, insbes. Anm. 38). Die Vereinbarkeit besteht für mich freilich lediglich in der Nutzbarmachung jener Argumentationen zur Durchsetzung der ,Lehre'. Auch Abel geht darauf ein, daß Nietzsches Wahrheitsverständnis formale Logik und Wissenschaft unterlaufen hat. Er schreibt: „Diese Aspekte hat Nietzsche auch und gerade im Zusammenhang der Wiederkunftslehre nicht vergessen. Es ist allerdings nicht immer einfach, sie auch dann noch mitzudenken, wenn Nietzsche selbst sich einer wissenschaftlich-theoretischen Ausdrucksweise bedient. In solchen Fällen ist Nietzsche gegen Nietzsche zu lesen. Auch das gehört zu Nietzsche selbst noch hinzu." Abel liest Nietzsches Ausführungen in Fröhliche Wissenschaft 341 und im Zarathustra (a.a.O., 190) als persuasive Argumentation. Er sollte dies auch für die theoretischen Ausführungen Nietzsches gelten lassen. Aber er will diese nicht im Sinne der „Verwissenschaftlichung einer an sich vor-theoretischen und vor-wissenschaftlichen Struktur" verstehen. Es gehe vielmehr um „einen Gedanken, der auch unter bestimmten Rahmenbedingungen neuzeitlicher Wissenschaft konzipiert werden kann." Die Vereinbarkeit des Glaubens und Gedankens der Wiederkehr mit der neuzeitlichen Rationalität wird von Abel überschätzt. Er erkennt nicht den instrumentalen Charakter der

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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schichte) aus den vor-menschlichen Naturprozessen herauswächst. Der Gedanke, daß alles faktische Werden und Vergehen sich in der Kreisbewegung von Wille-zur-Macht-Prozessen vollzieht (einschließlich des Werdens, Vergehens und Wiederkommens der Menschheit usf.), kann andere Folgerungen nahelegen als die Frage nach der Bedeutung des Wiederkunftgedankens für die Existenz der Menschen. Diese Frage koppelt sich von der Naturentwicklung gewissermaßen ab. Nietzsches kosmologische Argumentation kann dabei als Voraussetzung seines auf den Menschen zentrierten Gedankens und Glaubens ins Spiel treten, wobei gefragt werden muß, ob sie auf das Existenzielle zurückführen kann, von dem sie ausgegangen ist.390 Auseinandersetzungen um die Tragfähigkeit solcher Theorien stellen zunächst .logische' Herausforderungen dar. Dadurch erhalten sie ein eigenes Gefälle, wie schon die wenigen herangezogenen Hinweise auf die diesbezügliche Diskussion zeigen. Je komplexer die theoretische Plausibilisierung des .Gedankens' wird, desto weniger macht er vielleicht betroffen. Einerseits tritt mit der begründeten .Theorie' vom ewigen Kreislauf eine Instanz ins Spiel, an der sich die .Wahrheit' des Gedankens an die Wiederkehr messen lassen kann. Andererseits kann selbst aus einem .Beweis' der ewigen Wiederkunft des Gleichen zunächst lediglich das Für-wahr-halten einer Theorie hervorgehen, nicht aber der lebendige und geschichtswirksame Glaube, um den es Nietzsche geht. Verselbständigt sich der theoretische Erkenntnisanspruch, so löst sich die Lehre von der .existenziellen Relevanz' des Gedankens. Diese kann in der Orientierung an der Theorie verblassen, sich in Abstraktionen verflüchtigen. Aus ihr kommt .das Ich' auf sich selbst als auf ein Abstraktum zurück. Daß .mein Ich' im Jetzt' unveränderbar das wiederholt, was ,es' schon unzählige Male getan hat und tun wird, kann mir gerade durch die Reflexion auf die sich meiner Erfahrung entziehende Unendlichkeit gleichgültig werden. Nach Auffassung einiger Interpreten kann die Reflexion dem Sinn, den Nietzsche jenem Glauben verleiht, den Boden entziehen,

390

wissenschaftlichen Argumentation Nietzsches für ein Existenzideal. Zustimmen kann ich nur Abels Schlußsatz der herangezogenen Stelle: „Nietzsche benutzt die Wissenschaften, ohne ihnen oder gar einem Szientismus zu verfallen." (A.a.O., 190f.) In diesem Sinne haben wir sie schon in Abschnitt 18 (unter A), oben S. 238f., vorläufig herangezogen.

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wenn man sie zuende geführt hat. Dies sei an zwei Beispielen aus der Diskussion über die theoretische Plausibilität der Wiederkunftslehre und deren Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen deutlich gemacht. 1. „Die tiefe Erschütterung und Weihe", mit der Nietzsche von der Realität der Wiederkunftslehre spricht, wird, wie es Georg Simmel scheint, „nur durch eine gewisse Ungenauigkeit in ihrer logischen Auffassung erklärlich. Denkt man sie nämlich mit voller Schärfe aus, so verschwindet ihre innerliche Bedeutung vollkommen, weil die nächsten und die soundsovielsten Wiederholungen des genau Gleichen durchaus keine Synthese eben dieser gestatten. Wenn sich ein Erlebnis in meiner Existenz wiederholt, so kann diese Wiederholung als solche für mich die ungeheuerste Bedeutung gewinnen; aber doch nur, weil ich mich dabei des ersten noch erinnere, nur, wenn das zweite auf einen durch das erste modifizierten Zustand meines Seins oder Bewußtseins trifft." Träfe mich „das zweite Erlebnis [...] „in dem absolut gleichen Zustand" wie das erste, „so würde meine Reaktion darauf die absolut gleiche wie die auf das erste sein und daß es eine Wiederholung ist, würde nicht die geringste Bedeutung für mich haben können". Daran ändert sich auch nichts, wenn der Gedanke der Wiederkunft, über seine „ethisch-psychologische Bedeutung" hinaus (die Simmel anerkennt und die er gegen die kosmologische stellt), als „dieser gedachte Gedanke" in das ,reale' Wiederkunftsgeschehen hineingenommen wird. „Die Wirklichkeit dieser Wiederholungen" kann „keiner von ihnen das Geringste hinzufügen, was jede einzelne von ihnen eben schon durch jenen bloßen Gedanken besitzt".391 391

Schopenhauer und Nietzsche, a.a.O. [Anm. 307],251ff. - Vor allem aber ist die von Simmel als unentbehrlich eingeklagte Synthese auch auf dieser Ebene der Betrachtung nicht möglich. Ohne sie bleiben die (gemäß der Fiktion) sich ständig faktisch wiederholenden .Reihen' ohne die Möglichkeit einer Zusammenfassung, welche nur von einem „Zuschauenden, Reflektierenden" vollzogen werden könnte. Aber wie ein solches ,Gesamtbewußtsein' von Nietzsches Metaphysikkritik schon bei jeder series rerum ausgeschlossen wird, wie wir oben dargelegt haben (vgl. S. 244ff.), so gilt dieser Ausschluß erst recht für die Annahme eines Beobachters, der außerhalb des unendlichen Weltprozesses stünde und über die sich,durchhaltende' Identität, den .Abbruch' des mit ,sich' Identischen oder die Nichtidentität eines wiederkehrenden ,Ich' mit den seriell vorangegangenen ,Ichen' Aussagen zu machen imstande sein sollte. Das mir unzugängliche Vergangene, das mein Handeln bestimmt, kann mir nicht zu einem .Gewesenen' werden, welches mein faktisches Selbstverständnis und Weltverhältnis durch Erinnerung zu modifizieren gestatten würde. Gerade dadurch kann der Gedanke auch zur schweren Last werden. Dieser

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Simmel unterliegt freilich selbst logischer Ungenauigkeit, wenn er bemüht ist, die Trennung des Ich von ,seinen' mit ihm identischen Wiederholungen in den Kreisreihen zu demonstrieren. „Wenn im unendlichen Räume viele, einander absolut gleiche, aber einander absolut unbekannte Welten existierten, so würde mein Ich sich seinem Inhalte nach in jeder derselben identisch wiederholen; aber dennoch würde ich nicht sagen dürfen, daß ich in jeder dieser Welten lebe. Und offenbar würden sich diese nebeneinander existierenden, schlechthin gleichen Personen genau so verhalten, wie die nacheinander lebenden, von denen die ewige Wiederkunft des Gleichen redet." 392 Aber Simmeis Analogisierung von Vervielfachung der Identität im Räume und identischer Wiederkehr in der Zeit läßt außer acht, daß Nietzsche allein den Zeitzusammenhang für die Wiederkehr derselben Konstellationen, die auch .mich' wieder hervorbringen werden, geltend macht. Die Fiktion der Isolierung von gleichen Ichen in getrennten Welten kann nicht als Argument gegen die Ich-Repetition in der endlosen (aber kontinuierlichen) Zeit ins Feld geführt werden. 2. Auch Bernd Magnus gibt wie Simmel der existenziellen Betroffenheit durch Nietzsches Wiederkunftsgedanken Ausdruck. Das „Joch der ewigen Wiederkunft", so schreibt er, „wirke niederschmetternd, weil unsere Handlungen zu unendlichen Wiederholungen verdammt sind". Andererseits lasse sich „nur schwer einsehen, wie ich mich mit jener Person identifizieren können soll, die meine Handlungen bereits früher unzählige Male vollzogen hat und sie vermutlich auch künftig unendlich oft vollziehen wird". Auch er argumentiert mit der Simmeis Überlegung nahen Vorstellung, „daß es irgendwo im Universum einen Planeten gibt, der dem unseren gleicht". Er stellt sie unter den Aspekt der Gleichzeitigkeit der Abläufe, wenn er die Annahme verfolgt, daß „dort eine Person namens Bernd Magnus" existiert, die „genau für dasselbe Publikum diese Abhandlung schreibt. Im Moment vergegenwärtigt sich jener Bernd Magnus neben anderen Sachverhalten auch den, daß er nicht ich ist, obwohl zwischen uns beiden Identität von Nichtunterscheidbaren besteht. Und ich glaube, er hat recht damit." 393 Magnus beruft sich dabei auf Leibniz' Prinzip der Identität

392

393

Aspekt scheint bei Nietzsche anzuklingen, wenn er schreibt, daß der Gedanke der endlosen Dauer lähmt (vgl. Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, 5[71,4]; KGW VIII 1, 217). A.a.O., 253.

Gegenmythos, a.a.O. [Anm. 307], 230.

268

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

der Indiszernibilien. Es bildet in seinem Buch Nietzsche's Existential Imperative394 das Fundament seiner Kritik an der Möglichkeit der Wiederkunft. Magnus formuliert das Prinzip „simply" so: „If an entity, a, has exactly the same characteristics as an entity, b, then a is numerically identical with b. In consequence, if a and b are numerically identical, there is only one entity to which to refer. Β is not another entity in addition to a."395 Das Resultat seiner Argumentation unter der Voraussetzung der „Identity of indiscernibles" führt zu dem Ergebnis: „If time is cyclical, we cannot in any meaningful way distinguish events, world-states, and their recurrences. We cannot mark their befores und afters. If time is not cyclical, we have one event bearing two names. Ergo, either occurence or noncircular time. ,This identical life' can occur but once, it would appear."396 Die Argumentation von Bernd Magnus ist darauf angelegt, als Theorie der Bestreitung jeder denkbaren Wiederkunftslehre (nicht nur der Nietzsches) zu dienen. Günter Abel hat sich mit Magnus' Inanspruchnahme des Pii (welche Abkürzung beide Autoren für das Leibnizsche Prinzip verwenden) kritisch auseinandersetzt. Zurecht wendet er gegen Magnus' Beispiel vom gleichzeitigen und mit mir identischen Ich auf einem anderen Planeten ein, daß es sich hierbei nicht um einen echten Fall von Pii handele. In ihm wird „von Anfang an zweierlei Ununterscheidbares als tatsächlich unterschieden" festgestellt, „was es, dem Pii zufolge, in Wirklichkeit gerade nicht gibt".397 Mit der durchgehaltenen Annahme der Distinktheit von Ich als A und Ich als A' ist „der Aufweis geliefert, daß es sich nicht um dasselbe A handelt. Dann aber geht es um einen Fall, der weder gegen das Pii noch gegen das Wiederkunftsargument gemünzt werden kann. Und entsprechend ist umgekehrt herauszustellen: Wenn das Zweierlei Einunddasselbe ist, so folgt daraus weder die zeitliche Einmaligkeit noch die Unmöglichkeit einer Wiederkehr als Dasselbe."398 Mit der zuletzt beschriebenen Diskussion sind wir über den Rahmen dessen weit hinausgegangen, was Nietzsche selbst unter den theoretischen Aspekten seines Wiederkunftgedankens in den Blick genommen hat. Die existenzielle Bedeutung dieses Gedankens trat zurück. Sie soll auch im

394 395 396 397 398

Bloomingtom & London, 1978. A.a.O., 98f. A.a.O., 110. Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 223. A.a.O., 224f.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

269

nächsten Abschnitt zunächst zurückgestellt werden, um der Auseinandersetzung mit Abels Deutung der Wiederkunftslehre Raum zu geben. Dafür, daß ihr ein eigener Abschnitt gewidmet sein soll, ist ausschlaggebend, daß Abel Nietzsches Verständnis von Interpretation zur Grundlage seiner Auslegung erhebt. Damit geht er über die früheren theoretischen Begründungsversuche der ewigen Wiederkunft hinaus und in eine wesentliche philosophische Grundbestimmung Nietzsches zurück. Die Erörterung von Nietzsches Lehre ist dadurch auf ein neues Niveau gestellt worden.

22. Nietzsches Wiederkunftsgedanke

in Günter Abels Philosophie der

Interpretation Abel steht den logisch-wissenschaftlich begründeten Versuchen, den ewigen Kreislauf allen Geschehens plausibel zu machen, positiv gegenüber. Er sieht sogar die „Verpflichtung, die Wiederkunftslehre nicht vom Verstandesdenken und der Wissenschaft einfach abtrennen zu können und zu dürfen". Seine These, „daß der Wiederkunftsgedanke auch verstandesmäßig und wissenschaftlich theoretisch entfaltet werden kann", erfährt dabei die Einschränkung, daß der „philosophische Sinn" des Gedankens nicht darin bestehen könne, „prämissen-folgerndes Beweisargument zu sein" oder „a/s Theorie im Sinne hypothesenorientierter, prinzipien-geordneter und empirisch-verifizierbarer Wissenschaft" erfolgreich auftreten zu können.399 Abel will Nietzsches Wiederkunftsgedanken „von einer objektivistischen und szientistischen Verkürzung" freihalten.400 Wenn dieser Gedanke für ihn auch „seinem Wesen nach vor-theoretischen Charakters" ist, so stellt Abel sich doch entschieden gegen dessen ethische und existenzielle Auslegung.401 Seine Darstellung sucht sich durchgängig sowohl von der ,objektivistischen' wie von der .existentiellen' Deutung der Lehre abzuheben. Uberzeugend gelingt ihm dies in Hinsicht auf die letztere, während er selbst auf eine eigene Weise in einen Objektivismus 399 400

401

A.a.O., 196. A.a.O., 270. - Vgl. dazu u.a. auch 256f., wo Abel Nietzsches Wissenschaftskritik in die Nähe zu der des späteren Wittgenstein rückt. - Unter dem Schirm seines Interpretationsverständnisses räumt Abel der wissenschaftlichen Argumentation freilich größere Bedeutung ein, als aus den oben zitierten Äußerungen hervorgeht. A.a.O., 196. - Vgl. zu seiner Kritik an letzterer insbes. a.a.O., 259ff.

270

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

(freilich nicht-szientifischer Art) hineingerät. Soll doch der Wiederkunftsgedanke einer inneren ,Logik des Geschehens' entspringen. Abel stellt Nietzsche in die große „Tradition der philosophischen Logik, die mit den Namen Leibniz, Kant, Hegel und Wittgenstein verbunden ist". Auch das Interesse von Nietzsches Denken richte sich, so schreibt er, „letztlich auf das Erfassen" der „Struktur" der „nicht noch einmal hintergehbaren und auch nicht operational herstellbaren prozessualen sowie schema-internen Vollzüge des ursprünglich-einheitlichen Welt- und Selbstverständnisses".402

22.1. Die Bedeutung Hegels für Abels

Nietzsche-Deutung

Abel stellt eine „Beziehung" zwischen Nietzsches Denken und „Grundmerkmalen" von Hegels Verständnis des Logischen her. Nietzsches Philosophie ist ihm zufolge eine zweite geschichtliche Stufe der „Überwindung des endlichen Sprach- und Verstandesdenkens".403 Nun ist aber Hegels .Überwindung' aus der direkten Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Schelling erwachsen, deren Vernunftdenken er in seine spekulative Dialektik aufnimmt, um es zur philosophischen Vollendung zu bringen. Für Nietzsches Denken hingegen ist die gesamte Philosophie des deutschen Idealismus ohne ernsthafte Bedeutung gewesen. Sein Kant-Verständnis wird schon früh durch die Lektüre von Schopenhauers und Friedrich Albert Langes Schriften in eine ganz andere Richtung gewiesen als das der idealistischen Rezeption. Unser Denken und Erkennen ist für Nietzsche durch .unsere Organisation' bedingt, die entwicklungsgeschichtlichen Gegebenheiten entsprungen und dem Wandel unterworfen ist.404 Nietzsches .Überwindung des überlieferten Sprach402 403 404

A.a.O., 163, VIII. A.a.O., 163f. Vgl. dazu J. Salaquarda, Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie, in: Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie. Hg. v. M. Lutz-Bachmann, Frankfurt a. M. 1985, 2 7 - 6 1 ; zu Nietzsches Radikalisierung des Ansatzes von Lange vgl. a.a.O., 35ff. - Wenn Nietzsche „die Form der Wahrheit, deren sich das Sprach- und Verstandessubjekt" vergewissert, destruiert, so handelt es sich daher nicht, wie gegen Abel zu sagen ist, um „einen Prozeß immanenter Selbstüberwindung", der in „einer gewissen Nähe" zu Hegels spekulativem Satz

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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und Verstandesdenkens' besteht in dessen Destruktion, welche die grundlegende Orientierung am ,Logischen' ausschließt. Seine Kritik richtet sich nicht nur und auch nicht „vor allem auf das formelle Denken" der Logik, wie Abel schreibt. Sie kommt auch nicht angemessen zur Sprache, wenn er Nietzsche im Sinne einer „,philosophischen Logik'" mit der Versicherung in Anspruch nimmt, er habe den „Unterschied" zwischen dieser und „der, formalen Logik'" nicht beachtet. 405 Zwar ist auch für Abel wesentlich, daß nach Nietzsche „die ganze Evolutionsgeschichte des organischen Lebens und die ganze ihn bedingende Welt des Vor-Organischen" im Menschen fortwirken. 406 Die ,zweite geschichtliche Stufe' hat ihre Pointe sogar darin, daß bei Nietzsche „die Leib-Organisation" an die Stelle des „spekulativen Vernunftdenkens" gerückt wird: „gleichsam als tatsächliche Vernunft". Es wird jedoch zu zeigen sein, daß in Abels Deutung der Wiederkunftslehre zuletzt das quasi-Hegelsche über das entwicklungsgeschichtliche Modell triumphiert. Zuerst aber zu Abels Distanznahme von Hegel. In seinem Verständnis des .Logischen' fallen die .metaphysischen' Bestimmungen Hegels dahin: es gibt für Abel keine Vernünftigkeit .hinter' dem faktischen Geschehen, keine

gesehen werden kann, welcher den gewöhnlichen Satz „zerstöre". Abel zieht (a.a.O., 165f.) die Phänomenologie des Geistes heran (nachstehend zit. n. der Ausg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 6 1952, 48ff., hier: 50-52), derzufolge „die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird". Doch trifft dies nach Hegel nur die sich absondernde Meinung, die im (abstrakten) Satz Ausdruck findet. Von den Prädikaten her erfolgt jener berühmte „Gegenstoß", der lediglich ,die Natur' des Für-sich-setzens des Urteils oder des Satzes zerstört; die .Meinung' wird korrigiert und „das Wissen" genötigt, „auf den Satz zurückzukommen und ihn nun anders zu fassen". Das Überwundene wird bei Hegel in allem Fortgang bewahrt. 405

A.a.O., 163. - Nietzsche Kritik an „Hegel's gothische[r] Himmelsstürmerei ( Nachziiglerei)" ist radikaler, als Abel es wahrhaben will. Gegenüber Hegels „Versuch, eine Art von Vernunft in die Entwicklung zu bringen", sieht sich Nietzsche „am entgegengesetzten Punkte, sieht er „in der Logik selber noch eine Art Unvernunft und Zufall". Bemüht er sich doch darum, herauszufinden, „wie bei der allergrößten Unvernunft, nämlich ganz ohne Vernunft die Entwicklung bis herauf zum Menschen vor sich gegangen ist". (Nachlaß Sommer-Herbst 1884, 26[388]; KGWVII 2, 251)

406

A.a.O., 159.

272

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

.vorausgesetzte Wahrheit', keine Teleologie, auch keine .dialektische' Bewegung, und erst recht kein .System'.407 Abel „zerstört" durch seine „Uminterpretation des alten Vernunftbegriffs" die Voraussetzungen Hegels, indem er die Vernunft „als Interpretation" faßt. Aber er benötigt für seine Nietzsche-Deutung die Folie eines .logischen' Zusammenhangs des Gesamtgeschehens. Deshalb schreibt er, daß die der Vernunft „vormals als spezifische Leistungen zuerkannten Komponenten jetzt an die Interpretationsprozesse selbst" übergehen. Diese werden von ihm schon auf einer Ebene als in sich logisch angesprochen, welche vor dem menschlichen Bewußtsein liegt.408 Bedeutsam bleibt bei alledem, was Abel bei seiner Hegel-Uminterpretation verwandelt bewahrt und in Nietzsches Philosophie einträgt.409 Verwiesen sei auf seine Rede von der „absoluten Geschehens-Notwendigkeit" bei Nietzsche, die dem „ametaphysischen Chaos-Charakter der Wirklichkeit" nicht widerstreiten soll.410 Sein (säkularisierter) Begriff logischer Absolutheit dient Abel dazu, einen „weiten Sinn des Interpretations-Geschehens" zu konstituieren. .Absolut' notwendig besagt mehr und anderes als (im besonderen Vollzug) .unbedingt' notwendig. In letzterer Bedeutung ist für Nietzsche „der Satz .Geschehen ist notwendig'" in der Tat „quasi ein analytischer Satz".411 Abel hat aber bei seiner Rede vom absolut Notwendigen immer schon den gesamten „Vollzug" der aus den „internen 407 408

409

410 4,1

A.a.O., 164-166, vgl. auch 174. A.a.O., 168. - Hier (wie auch in anderen Zusammenhängen, vgl. z.B. oben S. 256f. Anm. 368) bezieht sich Abel auf Leibniz, für den „das bewußt werdende Denken [...] nur der .kleinste' Teil der Geschehensprozesse" ist (a.a.O., 167, vgl. 26ff.), wobei er auch in diesem Falle die metaphysische, philosophisch-theologischen .Basis' destruiert. Gelegentlich vereinfacht Abel Hegels Begriff von Vernunft. So hebt er diese als „eine durchgängige und sich-gleich-bleibende Vernunft-in-der-Sache, als ein metaphysisch Gründendes", von seiner „Interpretations-,Vernunft'" ab (a.a.O., 168). Doch ist die Durchgängigkeit des Interpretierens im Gesamtprozeß für Abel ebenfalls nicht entbehrlich; dasSich-gleich-bleibender„Interpretativitätalssolche[r]" (a.a.O., 145) eine Voraussetzung für die „vollständigefn] Betrachtungsweise der Geschehensvollzüge" (a.a.O., 175). Auch ist die Rede vom metaphysisch Gründenden wie die von der .hinter' der Sache stehenden „.Vernünftigkeit'" bei Hegel (a.a.O., 164) mißverständlich, zumal Abel auch bei Hegels Übergang von der Logik zur Naturphilosophie „das dualistische Schema" zu Unrecht ins Spiel bringt (a.a.O., 166f.). A.a.O., 165. A.a.O., 348.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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Ereignis-Relationen" sich „selbst-konstituierenden Notwendigkeit" im Blick, der sich im Gedanken der ewigen Wiederkunft „symbolisiert". Deshalb kann er in diesem Zusammenhang auch „die absolute Faktizität" des Chaos ins Spiel bringen, die mit jener Notwendigkeit zusammengehört. 412 Abels Ausgang von der ,Internität' des .Gesamt-Logischen', eröffnet ihm eine an Hegel gemahnende, über Nietzsche hinausgehende Rede von Absolutheit'. Er sieht schließlich das „Interpretations-Unendliche" seiner Deutung von Nietzsches Wiederkunftslehre „in gewisser Weise" als den „ametaphysische [n] Nachfolger" der absoluten Idee Hegels in deren Anspruch auf .wahrhafte Unendlichkeit'. 413 Wenn Nietzsche jedoch vom absoluten Fluß des Geschehens spricht, so meint er damit das uns wesenhaft Unzugängliche, von allem Logischen Ab-solute. 4 1 4

22.2. Die Urlogik des ,geschehens-logischeti

Interpretations-Zirkels'

Auch Abels Verständnis ursprünglicher „Einheit des Verhältnisses von Mensch und Welt" 415 , das schon seiner geschichtlichen Einordnung von

412

413 414

415

Abel hat darin die allen „Auftrennungen immer schon vorausliegende Ebene" seines „Interpretations-Zirkels" angesetzt, um „das faktisch-interpretative Willen-zurMacht-Geschehen, in dessen Vollzügen es sich um Relationen absoluter Notwendigkeit handelt", auf den Wiederkunftsgedanken hin ausziehen zu können. (A.a.O., 168) A.a.O., 151f. S. dazu im folg. Abschnitt 22.5, S. 291ff. - Nietzsche gebraucht den Begriff .absolute Notwendigkeit' auch deshalb selten, weil er ihm metaphysikverdächtig ist. Einmal ist bei ihm von der ,,absolute[n] Nothwendigkeit im All" die Rede, ein anderes Mal spricht er „von absolut identischen Reihen" des ewigen Kreislaufs (Nachlaß Frühjahr 1888,14[188];KGWVIII3,168). Nietzsches häufige adverbiale und adjektivische Verwendung des Begriffs .absolut', die wir bei ihm finden (im Sinne von .ganz und gar', .völlig' oder .ausschließlich': etwas ist .absolut nötig', .inkonsequent', .unnachweisbar', .gleich' usw. usw.), hat keine terminologische Bedeutung; sie geht nicht zuletzt auf seinen zum Hyberbolischen neigenden Stil zurück. - Daß für Nietzsche „absolute Erkenntniss [...] eine contradictio in adjecto in sich schließt" (Jenseits von Gut und Böse 16, KGW VI 2,23), wie auch „absolute Geistigkeit" eine alte „Begriffs-Fabelei" darstellt (Zur Genealogie der Moral, 3. Abh. 12; KGW VI 2. 383), ist natürlich auch für Abel Grundlage seiner Interpretation. A.a.O., 300.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Nietzsches Philosophie zugrunde liegt,416 gehört zu den von Abel uminterpretierend aufgenommenen und untergründig konstitutiven Elementen jener Tradition. Von solchem .Einheitlichen' aus unterläuft er auch Nietzsches Destruktion von Einheit zugunsten der Vielheit.417 Abel gewinnt den genannten .weiten Sinn des Interpretationsgeschehens' aus einer Formalisierung des Gegeneinanders der sich wechselseitig interpretierenden Willen zur Macht. Die von ihm dabei herausgestellte fünf-stellige Struktur des Interpretations-Zirkels, die sich aus der Bewegung immer erneut hervortreiben soll, erinnert an Hegels,Kreis von Kreisen'.418 Aus dem .Geschehenscharakter' jener Struktur soll abgeleitet werden können, daß .aus' dem Zirkel „und in ihm alles, was ist, wird". Dieser selbst aber habe „weder einen Anfang noch ein Ende, gar ein Endziel." In diesem Zirkel soll der Wiederkunftsgedanke „seinen systematischen Ort" finden.419 Doch stellen die aus jener Struktur erhobenen Charakteristika der Anfangs- und Endlosigkeit nur negative Bestimmungen dar, die ohne Zusatzannahmen und erweiternde Erörterungen nicht einmal für die Plausibilität der Wiederkehr des Gleichen ausreichen. Nur resultativ sind hier Abels hochkomplexe Argumentationen heranzuziehen, in denen Faktizität und Interpretativität untrennbar zusammengeschlossen werden und in die (allen Besonderungen) vorgängige (einheitliche) Zusammengehörigkeit von Werden, Wert und Aeternität überführt werden.420 Für die Diskussion über das Verhältnis von theoretischer und existenzieller Begründung des Wiederkunftsgedankens ist es wesentlich, daß es nach Abel nicht erst der Mensch ist, in dem sich der Zirkel entfaltet. Dabei bringt er die Entwicklungsgeschichte im Sinne Nietzsches ins Spiel. Einerseits sieht Abel sich vom .Naturprozeß' her auf den besonderen .Entwicklungsstand' des menschlichen Interpretierens verwiesen. Andererseits führt er dieses Interpretieren auf die Internität des Interpretations-Zirkels zurück.421 Er hat 416 417

418 4,9 420 421

A.a.O., VIII, vgl. oben S. 270f. Vgl. dazu z.B. a.a.O., 106f., 110, 1 1 4 - 1 1 7 , 3 2 5 - 3 2 8 . - Nietzsche notiert hingegen, sich auch auf Hegel beziehend: „Die Einheit (der Monismus) ein Bedürfniß der inertia; die Mehrheit der Deutung Zeichen der Kraft." (Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - Herbst 1886, 2[117]; KGW VIII1, 118) A.a.O., 174. A.a.O., 173f. Vgl. a.a.O. insbes. 300ff. Wenn nun „durchgängig und von jedem Kraftzentrum aus der Vorrang des aktiven Hineinsteckens vor dem .hermeneutischen' Herauslegen und dem .wissenschaftli-

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diese Verdoppelung der Genese des Interpretierens vom Grenze-sein des Menschen her aufzuheben versucht.422 Dieser ist ¿lis Leiborganisation die Grenze seiner Welt" sowohl im entwicklungsgeschichtlichen als auch im interpretations-logischen Sinn. Die Priorität des letzteren zeigt sich darin, daß Abel „beide Grenzmomente" als „Ingredienzien der einen Struktur" auffaßt. Daß die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung im Sinne Nietzsches nicht zu einer solchen logischen Grenze führen, kann, wird noch darzulegen sein.423 Die genannte Priorität tritt auch dort hervor, wo Abel „Veränderungen der Gegebenheitsweise der Welt" als „Verschiebungen der Interpretations-Horizonte innerhalb der Leib-Organisation und deren Typus der Interpretation" thematisiert. Geht man von Nietzsche aus, so sieht man sich bei derartigen Verschiebungen auf die je besondere Perspektivik leibgebundener Wesen verwiesen, deren Relativität auch auf die menschliche Horizontbildung durchschlägt. Obwohl Abel hier den Wiederkunftsgedanken auf die „Zurückübersetzung des Menschen in die Natur" hin bedenkt und ihn „nicht auf die Strategien des bewußt werdenden Denkens begrenzt", bezieht er sich allein auf „die schema-interne Welt-Erzeugung", die im geschehens-logischen Interpretations-Zirkel systematisch verankert ist. Dies gestattet es ihm, die ewige Wiederkunft des Gleichen als diejenige „bestimmte Interpretation der Verlaufsform und des Wertes alles Daseins" aufzufassen, welche „vor" jeder „So-und-so-Erfahrung der Wirklichkeit und des Sinnes" liegt; „jede Forderung nach zusätzlicher externer Verifikation käme notwendig zu chen' Wiederfinden" gelten soll (a.a.O., 176), so verliert Abels formale Abweisung der Bestimmung von Durchgängigkeit gegenüber der Hegeischen Vernunft (vgl. oben Anm. 409) ihre Bedeutung. Die Durchgängigkeit gilt auch für die fünf Stellen des Interpretationsgeschehens bei Abel, die sich formal,durchhalten'. - Auch bei Hegel ist kein „sich-gleich-bleibender Bestand" .gegeben', auch bei ihm handelt es sich um „Produktion, nicht um Wiedergabe oder Spiegelung", wie Abel gegen die überlieferte Ontologie schreibt (a.a.O., 173). 422

Abel erweitert Wittgensteins Satz: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" (Tractatus logico-philosophicus, 5.6., Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984, 67) auf die Interpretation (Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 169). Wie Wittgensteins Verständnis von Sprache (Tractatus, a.a.O., 5.61.) ist auch Abels Interpretationsverständnis logisch fundiert.

423

A.a.O., 304. - Abel konstatiert zwar das Gegeneinander der beiden aufgezeigten Bestimmungen: „Innerhalb ihrer Einheit konterkarieren sie sich zugleich positiv." (Ebd.) Die ,Einheit' ist jedoch immer nur von der Vorordnung einer der beiden Betrachtungsweisen herzustellen; Abel hat diese zugunsten des Logischen vollzogen.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

spät". Zwar ,gibt es' nur Interpretationen, und auch der Wiederkunftsgedanke ist „nur als Interpretation". Aber er ist für Abel darin zugleich Interpretations-Apriori und Interpretation des Totum. Abel präsentiert ihn deshalb als Jnterpretation der Interpretationen". Die Grenze, die Abel mit seiner „Urlogik des Interpretations-Zirkels" zieht,424 steht als uniiberschreitbar vor uns.425 Diese Logik weist aber nicht nur ab; das wäre zu wenig, weil sie andere Deutungen dann außerhalb ihrer bestehen ließe. Vielmehr zieht sie diese in sich hinein. Nur „innerhalb des Zirkels" erlangen „unterschiedliche Komponenten" Geltung. Anderen Ausgangspunkten des Verstehens wird damit der Boden entzogen; so läßt der Zirkel z.B. eine „Fragestellung nicht mehr zu", die der Transzendentalphilosophie entspringt.426 In welchem Maße davon auch die existenzielle Fundierung des Wiederkunftsgedankens betroffen ist, wird noch darzulegen sein. Zunächst gilt es noch, den umfassenden Anspruch der Urlogik herauszustellen. Der in ihr gründende Wiederkunftsgedanke läßt nicht nur alle anderen Weltkonzeptionen zurück, deren „Scheitern" noch „ein apagogisches Argument" zu seinen Gunsten darstellt. Früher dominierende Interpretamente werden aber „nicht einfach .falsch'", weil ,ihre Zeit' vorüber ist. Vielmehr sind sie als überlieferte „auch jetzt noch ,wahr"', wenn sie auch ihre „Deutungs- und Orientierungskapazität" an die Wiederkunftslehre abgegeben 424 425

426

A.a.O., 306. Gegenüber dem Einwand, die Jnterpretation der Interpretationen' sei ,auch bloß' Interpretation, verweist Abel auf die Unhintergehbarkeit des Interpretierens. In der Tat kann der Einwendende darauf verpflichtet werden, „dem Interpretieren als solchem nachzufragen". Freilich braucht er sich deshalb nicht in den „Interpretations-Zirkel" .schicken zu lassen', wie Abel ihn „im Hinblick auf eine optimale Kompossibilität von Werden, Wert und Aeternität intern" so durchläuft, daß „zuletzt" der Wiederkunftsgedanke „als der Gipfel der Betrachtung" hervortritt. (A.a.O., 456) - Wenn die „perspektivische Konstruktion der Welt von einem jeden der vielen faktischen-interpretativen Kraftzentren" erfolgt, „nicht nur vom Menschen" aus, (a.a.O., 4 5 5 ) so relativiert sich auch die von diesem entworfene Wiederkunftslehre als eine besondere interpretative Weltkonzeption. Um diese Relativität aufzuheben, muß Abel die Interpretation der ewigen Wiederkunft durch den Menschen als die äußerste und unüberholbare Interpretationsmöglichkeit überhaupt herauszuarbeiten suchen. A.a.O., 307. - Abels fundamentales Interpretationsgeschehen läßt damit auch den hermeneutischen Ausgangspunkt zurück. Vgl. dazu Hofmann, Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik, Berlin/New York 1994, 195ff., 383ff.

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haben.427 Unweigerlich wird man damit an Hegels absolute Philosophie erinnert, die alle früheren Philosophien zu Momenten des logischen Prozesses herabsetzt, um sie zugleich für dessen Fortgang als bewahrte zu affirmieren. Auf eine Hegel strukturell verwandte Bewegung treffen wir auch, wenn wir uns in diesem Zusammenhang Abels gesamte Geschehens-Kette vor Augen stellen. Auf den „Gipfel des geschehens-logischen Zirkels", den der Wiederkunftsgedanke darstellt, führt er im Ausgang von den vor-menschlichen Interpretationsvollzügen. Wie bei ihm der „Fortgang" der Urlogik „in die .höchste Ausdeutung' [...] ineins erzeugender Rückgang in deren Grund" ist, so schließt sich bei Hegel der vollendete Geist mit dem .Anfang' der Logik zusammen.428 Die .zweite geschichtliche Überwindung der Entgegensetzungen des endlichen Verstandesdenkens', als welche Abel Nietzsches Philosophie interpretiert, 429 steht der ersten Überwindung .formal' näher, als dies in seiner Interpretation ausdrücklich wird.430 Die strukturelle Verwandtschaft tritt noch deutlicher hervor, wenn das Interpretationsgeschehen den genannten ,Gipfel' erreicht hat. Im Rückblick von ihm aus erscheint der gesamte Prozeß wie eine teleologische Bewegung auf ihn hin. Soll doch „zuletzt erst [...] die Wiederkunftslehre in ihrem vollen Gehalt" hervortreten, „nachdem ein Höchstmaß an Individualität erreicht worden ist". Es ist „das voll entfaltete Individuum", in dem sich dies ereignet. Dieses „erfährt und weiß 427 428

429 430

A.a.O., 3 0 7 - 3 0 9 . A.a.O., 3 1 5 - 3 1 8 ; hier: 318. - Gerade in den hier herangezogenen Ausführungen finden sich wohl nicht zufällig indirekte und direkte Distanznahmen Abels von Hegel. Daß er, auf die Phänomenologie des Geistes anspielend, den „sinn -logischen Ort" des Wiederkunftsgedankens „nicht einfach und direkt an sinnlichen Gewißheitserlebnissen, an Verstandesbestimmungen" u.a. „deskriptiv abgreifen" kann (a.a.O., 315f.) und daß sich die .Lehre' auch nicht an der „Dialektik zwischen dem wissenden und dem darin gewußten Selbstbewußtsein" festmachen läßt (a.a.O., 317), ist gegenüber der Struktur der Bewegung, die er in Analogie zu der Hegels ausarbeitet, nur Vordergrund. Die in jener anzutreffende Gemeinsamkeit ist hier herauszustellen. A.a.O., 164, vgl. oben S. 270. Hier und im folgenden geht es nicht darum, Abels Nietzsche-Deutung in eine philosophiehistorische Abhängigkeit zu Hegel zu bringen. Die Unterschiede sollen nicht verwischt werden. Verbindend aber ist der systematische Anspruch, .das Logische' als vorgängig, ganzheitlich zusammenhaltend und unüberholbar abschließend anzusetzen, der bestimmte gedankliche Operationen unentbehrlich macht. Dem Anspruch kann unter Inanspruchnahme einander ausschließender Methoden gefolgt werden.

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

sich [...] als die ganze es bedingende und auch alle Zukunft in sich schließende Interpretations-Kette selbst". Dieses Individuum steht „nicht am Anfang, sondern am Ende der Entwicklung".431 Die Lehre selbst gewinnt dabei „ihre Sinnstelle erst, nachdem Endlichkeit, Werdecharakter, Geschichtlichkeit und Interpretativität als solche hervorgetreten und intern zu Ende gedacht und erfahren worden sind". 432 Auf die Hegel-Folie aufgetragen hieße das: Das ,Αη-sich' der Willen-zur-Macht-und-Interpretations-Prozesse ist bei seinem ,An-und-Für-sich' angelangt. Nun weist aber Abel, Nietzsche darin folgend, jede teleologische Deutung des Willen-zur-Macht-und-Interpretations-Geschehens und der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zurück.433 Das .Logische', das in seiner säkularisierten .Überwindung von Entgegensetzungen' den Gesamtprozeß tragen soll, kann nicht wie bei Hegel auf die .Erkenntnis seiner selbst' angelegt sein. Indem Abel die metaphysischen Voraussetzungen Hegels zerstört, entzieht er dem Logischen zugleich und unvermeidlich - gegen seine Konzeption die Grundlage dafür, sich abschließend und letztinstanzlich geltend machen zu können. Dies vermag das Logische nur als das Absolute, das alles Relative in sich einbezieht. Abel aber erhebt das Relative zu einem logischen Quasi-Absoluten, insofern ihm zufolge im voll entfalteten Individuum (erst und allein) der Weltprozeß als ganzer gewußt wird. 434

431 432

433

434

A.a.O., 318. A.a.O., 319. - Vgl. dazu a.a.O., 4 4 9 , wo Abel die Vielfalt der ,Nachdems' zusammenstellt, die dem .erst zuletzt' durch den „Vollbegriff der ewigen Wiederkehr" vorangehen. Relativ einfach ist es, darauf zu verweisen, daß „das In-sich-selbst-zurück-laufen des Kreises [...] bereits seiner Form nach einer teleologischen Deutung kaum zugänglich" ist (a.a.O., 439). Aber dabei abstrahiert Abel von dem oben dargestellten Entwicklungsprozeß, an dessen Ende erst, im voll entfalteten Individuum, „sich der Wiederkunftsgedanke in seinem vollen Sinn" erschließt (a.a.O., 318). - Zu Abels Aufnahme von Nietzsches Teleologie-Kritik vgl. a.a.O., 1 2 0 - 1 3 9 . Ohne die Eintragung immanenter zielgerichteter Notwendigkeit in den Gesamtprozeß kann das Logische nicht die .Einheit' konstituieren, die Abels Nietzsche-Deutung herzustellen sucht. Die Voraussetzungen von Hegels Philosophie des absoluten Geistes mögen obsolet sein, mit ihnen fällt jedoch zugleich die Möglichkeit der plausiblen Darstellung eines .vernünftigen Gesamtprozesses' dahin. Abels Deutung steht vor der Schwierigkeit, zweierlei überzeugend zusammenzubringen: zum einen muß er den Menschen als .Zufallsprodukt' der gleichwohl notwendigen Naturentwicklung ansehen und dessen Interpretieren damit grundsätzlich relativieren; zum anderen muß er ihn zugleich als mit einer .Logik'

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

22.3. Der Mensch im

279

Willen-zur-Macht-und-Interpretationsgeschehen

Abel denkt die Wiederkehr „ganz aus dem Geschehenscharakter der Willen-zur-Macht-Vollzüge selbst heraus, als die sich in ihrem Vollzuge endogen selbstkonstituierende Notwendigkeit allen Geschehens".435 Das Geschehen selbst soll sich in sich und aus sich selbst heraus entfalten. Doch kann nur der Mensch darum ,wissen'. Andererseits gehört er gänzlich in es hinein. Er ist „eine bestimmte, nicht die Ausgestaltung des Willen-zurMacht-Geschehens", „Bestandteil, letztlich Durchgangsstation" des Gesamtprozesses, schon gar nicht dessen Zweck oder Ziel.436 Auch ist ihm ein „Beobachtungspunkt externer Art" versagt; die „selbstreferentielle Zugehörigkeit zu dem Geschehen, dessen Ausgestaltung man selbst ist und auf dessen Verlaufsform das Interesse gerichtet ist", ist unaufhebbar. Der Mensch steht „unter den Bedingungen der Endlichkeit [...] und der Relativität der Weltprozesse".437 Diese Bedingungen fordern, daß man von ihnen ausgeht, wenn man die Verlaufsform des Prozesses beschreiben will. Abel schreibt, daß nach Nietzsche „der Mensch nicht das interpretierende Wesen, das er ist, sein könnte, wenn nicht auch die ihn ausmachende Leib-Organisation, mithin das Organische und darüber hinaus auch das Anorganische, d.h. alles, was im und als Leib tätig ist, essentiell vom Charakter des Interpretierens wäre".438 Er bezieht sich hierbei auf eine Ausführung von mir. Ich habe ihr freilich vor-

befähigt verstehen, die den wirklichen Prozeß als ganzen in der .Interpretation der Interpretationen' zu erfassen vermag. Der vergleichbare Zusammenschluß bei Hegel bietet keine Probleme. Für ihn ist das menschliche Bewußtsein dasjenige „Material", „worin sich der Begriff gleichsam als der Plan ausführt". Nur wenn die Vernunft des Menschen „Vernunft überhaupt" ist, religionsphilosophisch gesprochen: wenn sie „das Göttliche im Menschen" ist, kann der Mensch sowohl Durchgangsstation des Prozesses als auch der ,Ort' seiner .Vollendung' im philosophischen Wissen sein. Bei Hegel ist der Geist Gottes, der nicht ein Geist „jenseits der Welt" ist, beides in einem: „Geist im Geiste und in den Geistern" (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Einleitung, hg. G. Lasson, Hamburg 1925, 71, 74ff.) 435

436 437 438

So Abels bündige Formulierung in der Diskussion über seinen Vortrag Nietzsche contra Selbsterhaltung, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 406. Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 160. A.a.O., 231. A.a.O., 160f.

280

Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

angestellt, der Mensch könne nach Nietzsche das naturhaft Seiende als vielfältiges Interpretieren interpretieren, weil er selber interpretierenden Wesens sei. Allein im Ausgang von der Selbsterfahrung des Menschen kann plausibel gesagt werden, daß alles, was ist, Interpretation sei. Innerhalb des ,Interpretations-Zirkels' kann sich der Mensch auch umgekehrt als Synthesis von Interpretationen interpretieren: er .versteht' dann sein Interpretieren so, daß in diesem das selber schon interpretierende anorganische und organische Seiende ,zusammenfließt'.439 Abel geht über meinen Versuch einer Interpretation des Interpretierens hinaus. Er räumt gerade noch ein, daß der Mensch als Leiborganisation, „wenn man so will", als „die daseiende, vollzugs-interne Quasi-Transzendentalität des menschlichen Interpretierens und damit der menschlichen Welt-, Selbst- und Fremd-Auslegung" aufgefaßt werden könne. Aber ihr „noch vorgängig" weise der Leib „darin zugleich auf das ihn Bedingende und damit über sich selbst hinaus auf alles andere Seiende". Nach Abels Auffassung solcher Vorgängigkeit geht das Interpretieren des Menschen aus dem Interpretieren des anderen Seienden auf eine Weise hervor, durch die es als das Ergebnis von jenem erscheint. Daß aber allein in diesem Erscheinen selbst das Vorgängige als Vorgängiges interpretiert werden kann, wird bei ihm nicht in angemessener Weise zum Problem. Hier ist allein auf die Schwierigkeiten einzugehen, in die Abels Versuch gerät, von Nietzsches Voraussetzungen her die Gültigkeit der ewigen Wiederkunft des Gleichen als der Verlaufsform des Weltprozesses aus dem entwicklungsgeschichtlich verstandenen Prozeß der Interpretationen selbst heraus zu erweisen. Abel sucht die unaufhebbare Geschlossenheit der Kreisbewegung des faktischen Geschehens darzustellen. Dafür bietet sich die von Nietzsche

439

Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, Abschnitt 10: Wille zur Macht und Interpretation, Nietzsche-Studien 3 (1974); ergänzte Fassung in: Nietzsche-Interpretationen I, S. 6 8 - 8 8 . - Dort wird versucht, die Frage nach dem ,Interpretieren als solchem' (69) dadurch zu klären, daß der ,transzendentale Ausgangspunkt' Nietzsches so herausgearbeitet wird, daß dessen Selbstkonstitution ,auf naturalistische Weise' erfolgt. Ich spreche von einer .Symbiose' von transzendentalem und naturalistisches Denken bis hin zu ihrer .Verschmelzung' bei Nietzsche (a.a.O., S. 84, in Anm. 187 zu J. Habermas' Deutung). - Abel radikalisiert auf seine Weise den naturalistischen Gesichtspunkt, indem er ihm das Logische zugrundelegt und ihn dadurch unterläuft und aufhebt. Dadurch verengt er jedoch (wie zu zeigen sein wird) Nietzsches Interpretation der Interpretationen.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

281

verwendete Metapher der Kette an. Auch der Mensch ist Glied in der Geschehens-Kette, zugleich aber mehr als das. Er ist, wie Abel schreibt, auch „die ganze Geschehens-Konkatenation in sich". Auf seine Erörterung des Wiederkunftsgedankens vorweisend betont er, daß das menschliche Individuum „die ganze Kette des in ihm wirkenden und und es bedingenden Organischen und Anorganischen in sich trägt und diese selbst ist". Mit solchem Zusammenschluß soll die Möglichkeit ausgeschieden werden, das Individuum sei „ein isoliertes Vererbungsresultat".440 Nach Nietzsche jedoch gibt es faktisch nicht die eine „Entwicklungskette", auf die Abel sein Verständnis des voll entfalteten Individuums abstellt.441 Nietzsche zufolge ist „die Vergangenheit [...] für jeden von uns eine andre: insofern er eine Linie hindurchzieht, eine Vereinfachung (wie bei Mitteln und Zwecken)". 442 Auf vereinfachende Linienziehung kann natürlich auch Nietzsche nicht verzichten, seine Differenzierungen ,der' Kette in sich sind jedoch in seinen Ausführungen immer mitzudenken. Abel hält sich allein an jene, wenn er Nietzsches Satz aufnimmt: „Wir sind mehr als das Individuum, wir sind die ganze Kette noch mit den Aufgaben aller Zukünfte dçr Kette".443 Die Zukunft der Kette ist bei Abel eine doppelte. In ihrem weitesten Sinne gehört die Zukunft in den Kreisgang hinein, das faktische Geschehen beginnt wieder ,νοη vorn'. Als die nähere Zukunft geht dem Rückgang zum Vorgängigen im Kreis aber der Aufstieg voraus: zunächst steht die Aufgabe bevor, das Gesamtgeschehen in seiner unendlichen Wiederkünftigkeit zu denken, es als die Interpretation der Interpretation zu interpretieren. Es ist daran zu erinnern, daß es nach Abel das Wille-zur-Macht-und-Interpretationsgeschehen als solches ist, das diese Aufgabe aus sich hervortreibt. Dazu bedarf es des Menschen als des höher entwickelten Individuums. Dieses „erfährt und weiß sich" schließlich „als die 440

A.a.O., 159, 135. - Abel beruft sich auf Nietzsches Ausführung, daß das „Ego des menschlichen Leibes nicht bloß ein Glied in einer Kette" sei. Dieser wendet sich dabei, und darin folgt ihm Abel in anderem Zusammenhang, gegen die Auffassung des Menschen als Gattungswesen, welche das „Muster einer fehlerhaften Interpretation" darstelle: „die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit". Wenn Nietzsche in dem herangezogenen Fragment schreibt, das Ego sei „hundert Mal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern" (Nachlaß Herbst 1887, 10[136] ; KGW VIII 2, 199), so weist er auf Vielschichtiges und Hintergründiges hin, das bei Abel zugunsten der Oberflächen-Konkatenation des Geschehens zurückbleibt.

441

A.a.O., 318. Nachlaß Frühjahr 1884, 25[396]; KGW VII 2, 112. Dynamik, a.a.O., 159. - Nachlaß Herbst 1887, 9[7]; KGW VIII 2, 6.

442 443

282

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

ganze es bedingende und auch alle Zukunft in sich schließende Interpretations-Kette selbst". 444 Schon in Abels Ausarbeitung der Interpretation als Fundamentalvorgang heißt es im Vorgriff auf die Wiederkunftslehre, „die schließlich am Ende, ganz zuletzt hervortretende Individualität, die sich auf ihrer Spitze ineins gleichen Wesens mit der Grundstruktur alles Seienden weiß", stelle die „volle, zu sich selbst gekommene und bei sich bleibende Verkörperung des Wirklichen" dar. 445 Das ,zuletzt' hervortretende Individuum löst gewissermaßen eine allgemeine Aufgabe, insofern es sich nicht nur als strukturell gleichen Wesens mit allem Seienden interpretiert (,weiß l ), sondern zugleich, in der Interpretation der Interpretation, das Wirkliche zu sich selbst bringt. Nun ist aber alles Interpretieren perspektivisch, darin liegt seine unaufhebbare Relativität. Nietzsche hat diese, worauf Abel hinweist, bis in die v o r individuellen „Austragungen der Spannungsverhältnisse der dynamischen Macht-Quanten untereinander" zurückverlagert. Abel führt die „Vorgänge des wechselseitigen A u f - s e i n e n - W e r t - h i n - , des Auf-seine-Funktionalität-hin-Interpretierens, des Macht-Schätzens, des Kräfte-Taxierens" an, um in ihnen zugleich Vorgänge „des perspektivischen Zurechtmachens und Vereinfachens als Modi des Übermächtigen- und Stärker-werden-wollens" herauszustellen. 446 Dieser Perspektivismus der vielfältigen Täuschung, dem auch die mannigfachen Weisen von Selbsttäuschung der jeweiligen .Individuen' 444 445

444

Dynamik, a.a.O., 318. A.a.O., 135; vgl. oben S. 277ff. Auch hier ist der Anklang an Hegeische Bestimmungen unüberhörbar. - Abel knüpft an Nietzsches Rede von der „Erhöhung und Stärkung des Typus" an, wobei er jedoch im Individuellwerden „die äußerste Aufgabe" des Menschen sieht. Sie soll in „immanenter Uberwindung und Selbst-Uberwindung der vom Gattungscharakter bestimmten AllgemeinheitsStrukturen (etwa der Grammatik, der Sozialität, der Institutionalität)" gelöst werden. Die Stärkung versteht er als „Steigerung der Komplexität sowohl nach innen wie nach außen sowie als Pluralität und Erweiterung der Interpretations-Horizonte". - Daß „der .Übermensch' neue Werte-Tafeln schafft, die den vom .Herdeninstinkt' bestimmten Mittelmäßigen vorgesetzt werden", ist für Abel „der andere Aspekt von Nietzsches Denken", den er nicht „unterschlagen" will, der aber in seiner Auslegung beiseite gelassen wird. - Nietzsche sieht in solchem Schaffen und Herrschen das (auch in seiner Gewaltsamkeit nötige) .Herstellen von Geschichte' oberhalb des nie überwindbaren Abgrunds der .widervernünftigen' Wirklichkeit. A.a.O., 133.

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

283

zugehören, wird für Abel deshalb nicht zum Problem radikaler Relativität, weil er in allen perspektivischen Besonderungen den ,Vollzug im ganzen' im Blick hat. Als die .Struktur gleichen Wesens alles Seienden' zieht er die Interpretativität als solche, einem roten Faden gleich, heraus, die durch alle Perspektiven hindurchläuft.447 Für ihn besteht „die Radikalität des Interpretationsgedankens" darin, daß jede, „wie subtil auch immer geartete Differenz" zwischen „.Interpretation' und .Geschehen"4 ausgeschlossen wird.448 Alles Interpretieren wird dadurch in den faktischen Prozeß eingebunden, der im Kreis verlaufen soll. Dieses Faktische seinerseits hat Abel in die Urlogik des Interpretations-Zirkels eingewurzelt. Die ewige Wiederkunft des Gleichen scheint damit nicht nur als Interpretation der Interpretationen, sondern zugleich auch als die „absolute Faktizität"449 erwiesen zu sein.

22.4. Einwände gegen Abels Deutung von Nietzsches

Wiederkunftslehre

Nach Abel gilt: „Alles, was ist, interpretiert, und Interpretation ist alles, was ist." Doch nicht alle Interpretationen sind in Abels Sinn des Faktischen. So sind „die Interpretationen", wie er sie versteht, „keine reinen Erfindungen oder Wunschphantasien".450 Interpretieren heißt für ihn Produzieren als Konstruieren der Wirklichkeit. Es handelt sich dabei auch nicht „um Wiedergabe oder Spiegelung". Abel bestreitet natürlich nicht, daß es die genannten Phänomene gibt. Sie erwachsen daraus, daß die Interpretierenden „ihrem subjektiven Empfinden nach als absolute Initiativen" mißverstehen, was in den „konstruierenden Interpretationsprozessen" einer ihnen zugrundeliegenden Vielheit geschieht.451 Solches

447

So verweist Abel zwar „auf den fiktionierenden Charakter allen Weltauslegens", sieht auch die Unmöglichkeit, die .großen bereits einverleibten Täuschungen' rückgängig zu machen", nimmt aber dies und weiteres „in die Interpretativität als solche" hinein, um deren Prozessualität es ihm geht. (A.a.O., 143ff.)

448

A.a.O., 172.

449

A.a.O., 3 6 6 . - Faktizität bestimmt Abel als „Vollzug der relativen Einheit, Dauer und Stabilität der vielheitlichen und f o r m - sowie vor allem sinn-flüssigen Kräfte-Organisationen" (a.a.O., 182).

450

A.a.O., 182.

451

A.a.O., 173.

284

Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Mißverstehen stellt demnach eine sekundäre Interpretation derselben grundlegenden (primär konstruktiv interpretierenden) faktischen Willen-zur-Macht-Organisation dar. Das Phänomen sekundärer Interpretationen (wie wir es nennen wollen) von interpretierendem Faktischen spielt für Abels (Nietzsche folgender) Teleologie-Kritik eine wesentliche Rolle. In ihr „wird das äußere Schema mutmaßlicher Identität zwischen einem Geschehen nach Zwecken und dem wirklichen Geschehen aufgebrochen und zerstört". Zwischen dem Interpretieren im „ursprünglicheren Kräfte-, und das heißt Willén-zurMacht-Geschehen" und der „vom Bewußtsein im nachhinein und fälschlicherweise" gesetzten Zweckmäßigkeit ist demgemäß zu unterscheiden. Dabei wird das sekundäre Interprétât, hier der Zweck, obwohl nur ein Derivat, von Abel wesentlich als Reiz aufgefaßt, der faktisches Geschehen auslöst.452 Die Vortäuschung eines Zweckes wird so als Folge in die primären Kräfte-und-Interpretationsprozesse hineingenommen. 453 Uns kommt es hier auf den Täuschungs- und Fälschungscharakter der sekundären Interpretationen an. Wenn die Einbildung von Zwecken und Zielen, von Erfindungen und Phantasien in die Kette der Primärinterpretationen zurückgenommen werden muß, gilt dies dann nicht auch notwendig vom ,Gedankenexperiment' der ewigen Wiederkunft des Gleichen? Diese Frage verschärft sich, wenn darauf reflektiert wird, daß auch das höchstentwickelte Individuum, das als Glied am Ende der Geschehenskette steht, noch dieser Kette zugehört und damit der durch Einverleibungsprozesse konstituierten Irrtümlichkeit verfallen ist. Die ,Wesen', die diese Kette bilden, haben jeweils besondere, für die Erhaltung und Lebenssteigerung ihrer Art nützliche, darin gerade durch Täuschung und Irrtum gekennzeichnete Perspektiven entwickelt, durchgesetzt und (im Falle ihrer Bewährung im Lebenskampf) vererbt.

452 453

A.a.O., 122, 121f. Die Abhebung sekundärer von primären Interpretationen ebnet Abel ein und entspricht damit auf seine Weise Nietzsches radikalem Genealogisieren. Auf „das macht-interpretative Verhalten der Quanta" in ihrer Flüssigkeit hin angesehen und „aufgrund der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Interpretierens erweist sich [...] eine jede Interpretation wieder als interpretationsbedürftig". Es gibt auch für Nietzsche in der Tat keine abschließende „Gesamt-Interpretation" (a.a.O., 149, 151).

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

285

Abel sieht sich der Aufgabe gegenüber, den M e n s c h e n als ein Glied der Entwicklungskette mit einer Perspektivik befähigt darzustellen, in die nicht nur die faktischen Perspektiven der vorangegangenen Glieder eingegangen, modifiziert oder auch erweitert w o r d e n sind, sondern in der darüber hinaus die gesamte faktische Geschehenskette aller bisherigen wie auch aller künftigen Perspektiven umfassend und abschließend interpretiert wird. 4 5 4 Die Faktizität solchen Interpretierens soll die Leib-Organisation des M e n s c h e n darstellen. Abel m u ß in deren Ausarbeitung den M e n s c h e n gegenüber anderen ,Wesen' besonders qualifizieren. D a dieser zahlreiche Sekundär-Interpretate, insbesondere solche des Bewußtseins, in den primären L e i b - P r o z e ß zu überführen hat, beschreibt Abel ihn als „eine im Vergleich zu den Vorgängen im Bereich des Anorganischen u n d Organischen stark spezifizierte, besonders .flüssige' Ausgestaltung" des „Interpretationsgeschehens". 4 5 5 Dabei legt er „Bewußtheit, D e n k e n und selbst das Existie-

454

455

Auf formale Probleme, die sich daraus ergeben, daß aus dem Interpretationsprozeß als ganzem ein bestimmtes Interpretierendes hervorgeht, das den gesamten Prozeß in seinem faktischen .Verlaufscharakter' abschließend und endgültig zu interpretieren imstande sein soll, sind wir oben (S. 280ff.) schon eingegangen. - Hier sei darauf hingewiesen, daß Abel Nietzsches radikalen Perspektivismus bis zu einem gewissen Punkt aufnimmt; hierfür ziehe ich eine Ausführung von ihm a.a.O., 15 lf. heran. Er beruft sich dort auf Nietzsches Satz: „Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet" (Nachlaß Frühjahr 1988, 14[184]; KGW VIII 3, 163). Allerdings berücksichtigt er andere Sätze aus dieser Aufzeichnung im Hinblick auf seine Konzeption der „Interpretations-Unendlichkeit" nicht. Diese soll, an die Stelle von Hegels absoluter Idee tretend und „auf den Kreischarakter hin bedacht", selber nicht im Sinne eines „Relativismus mißverstanden" werden. In dem herangezogenen Fragment Nietzsches heißt es u.a. aber, „jedes Kraftcentrum" habe „für den ganzen Rest seine Perspektive". Auch die Perspektive des unendlichen Kreislaufs ist auf die Spezifität menschlichen Interpretieren-könnens zu relativieren. Für Nietzsche ist „die spezifische Art zu reagirert, [...] die einzige Art des Reagirens: wir wissen nicht wie viele und was für Arten es alles giebt". (Zu solcher Unabgeschlossenheit des Interpretierens vgl. im folg. Abschnitt 22.5.) Abel hat die logische .Interpretativität als solche' dem entwicklungsgeschichtlichen Relativismus v o r - und übergeordnet. Deshalb kann er diesen gewissermaßen .tolerieren'. Zuletzt gehört „jede einzelne endliche Interpretation [...] in die Zeichen- und Interpretationskette, die die Geschehensvollzüge als Konkatenationen der Kräftefelder sind, hinein und ist eben darin im Sinne der Internität absolut notwendig und unverzichtbar." (Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 152.) A.a.O., 173.

286

Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten* in Nietzsches Philosophie

ren im Sinne der Existenzphilosophie" als „verfeinertes Leib-Geschehen" aus. Die „als plurales System m i t - und gegeneinander wirkender Willen-zur-Macht-Komplexe aufgefaßte[n] Leib-Organisation" wird als Preformation des menschlichen Bewußtseins interpretiert. 456 Ist doch die Dynamik des Leibgeschehens als Interpretieren schließlich derart auszuweiten, daß ein „,Wissen'[...] des Ewigen-Wiederkunft-Gedankens" in ihm eingewurzelt werden kann. 457 Aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht wäre es konsequent, wenn Abel dieses .Wissen' auf die Besonderheit jenes Gliedes in der Willen-zur-Macht-und-Interpretations-Kette relativierte. Auch die .große Vernunft des Leibes' dürfte dabei allein unter den für sie spezifischen Bedingungen herangezogen werden. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen kann in jene .Vernunft' als die ,Weltdeutung' integriert werden, durch welche die Möglichkeiten des Machtgebildes Mensch in ihrem höchsten Steigerungscharakter verstanden werden können. 458 Der Gedanke bleibt darin sekundäres Interprétât, ungeachtet seiner Wirksamkeit für das faktische Verhalten des Menschen. Abel aber will den Wiederkanitsgedanken aus den faktischen LeibProzessen hervorgehen lassen. Er stellt den Menschen dabei vor die Aufgabe der „Einverleibung des absoluten Flusses allen Geschehens". 45 ' Dazu

456 457 458

459

A.a.O., 158. A.a.O., 158f., Anm. 68. Die im Zarathustra beschworene .große Vernunft des Leibes' ist „eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt". Die Leib-Vernunft ist in ihrem Machtwollen selbst-bezogen, auch und gerade in ihrem Ausgreifen auf anderes, in ihrem Schaffen „über sich hinaus". Zarathustra sagt, der .mächtige Gebieter' und .unbekannte Weise', der hinter allen „Gedanken und Gefühlen" stehe, „heißt Selbst". Das Selbst ist „das Gängelband des Ich's und der Einbläser seiner Begriffe". In der Bildung und Erfindung von Begriffen ist der „Geist" tätig, den „der schaffende Leib" sich „als eine Hand seines Willens" schuf. (Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes; KGW VI 1,35-37). Es ist der je besondere Lebens-Wille des Menschen, dem seine .große Vernunft' dient. Er macht die Grenzen seiner Perspektivik aus. Ihr ist ein Verfälschen eigentümlich, das, entwicklungsgeschichtlich vqrgeprägt, mit dem Bewußtsein immer schon gegeben ist. - Um leben zu können, müssen wir dem Irrtum über uns und die Welt ausgeliefert bleiben. Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 312ff. - Abel knüpft hierbei an Die fröhliche Wissenschaft 110 und den Nachlaß von 18 81 an, um die Frage nach der Möglichkeit der Einverleibung der .Wahrheit' in die Wirklichkeit der lebenerhaltenden Grundirrtümer auf-

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

287

soll die emotive und kognitive, die ästhetische und erkenntnismäßige Verfeinerung des /ate'scA-interpretativen Leib-Geschehens führen. 460 Nietzsche schreibt nun aber, „die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge" vertrage „die Einverleibung nicht", da „unsere Organe (zum Leben) [...] auf den Irrthum eingerichtet" sind. Man kann sagen, daß er sich (auch) angesichts dieser letzten Unmöglichkeit die Einverleibung des Gedankens und Glaubens an die ewige Wiederkunft zum Ziele setzt. 461 Abel hingegen hebt diese Unterscheidung auf; was er die Einverleibung des Werdens' nennt, weist auf die Wiederkunft vor und soll durch die Einverleibung des Wiederkunftsgedankens gestützt werden. 462 Er muß das Werden zugleich logifizieren, um in seinem Sinne vom faktischen Prozeß ausgehen und bis zum ,Faktum' der Bewegung des Wiederkehrens in ihm bleiben zu können. Wenn Nietzsche die Einverleibung des Wiederkunftsgedankens anstrebt, so sucht er die alt einverleibte Irrtümlichkeit des Denkens mit ihr auszubauen und zu überbauen. 463 Die Grundirrtümer bleiben auch in der Wiederkunftslehre als unaufhebbar vorgegeben. 464 Abel will dartun, daß das Werden als „das fort

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zuwerfen. - Vgl. hierzu oben Über Freiheit und Wille, Abschnitte 7 und 8, S. 51 -62. A.a.O., 158, vgl. 176ff., 312. Nachlaß a.a.O., 11 [162]; KGW V 2 402. - Alles Philosophieren vollzieht sich demnach für Nietzsche über dem Abgrund des Un-logischen, aus dem es hervorgeht, ohne in ihn hinabdringen zu können. „Nietzsches Vermächtnis" kann demnach nicht in einer Interpretations-Logik liegen, derzufolge Philosophie als Jnwendigkeit des Interpretierens" aufgefaßt wird. (Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 175.) So schreibt er, „die Einverleibung des Wiederkunftsgedankens festigt" die mit dem Prozeß des Werdens „verknüpfte Welt-Auslegung, macht sie organisch und zu dem die Erfahrung organisierenden Grundgedanken" (a.a.O., 314). Daß Nietzsche das Denken „als eine Art Fiktion und Irrtum" ansprechen kann, wird von Abel allein als „ein Stück notwendiger Selbst-Aufklärung" über metaphysische und objektivistische Illusionen angesehen. Auch damit bewegt er sich nur im Vordergrund von Nietzsches Destruktionen. Wenn er das Denken auf „das Interpretations-Schema" und in „die Interpretativität als solche" zurückführt, (a.a.O., 145) so führt er damit selber einen jener „allgemeinsten" Begriffe ein, die nach Nietzsche weder am Anfang noch am Ende, sondern „gar nicht kommen" sollten. (Götzen-Dämmerung, Die .Vernunft' 3 und 4; KGW VI 3, 69f.) Auch für den Gedanken der Wiederkunft des Gleichen bringt Nietzsche in Anschlag, daß „Erkenntniß an sich im Werden unmöglich" und daher nur „als Irrthum über sich selbst, als Wille zur Macht", der zugleich „Wille zur Täuschung" ist, „möglich" ist. Uber die Fälschung" hinaus, die durch die Sinne erfolgt, fälscht der Geist ein zweites Mal, wenn „der höchste Wille zur Macht" in diesem Gedanken dem

288

Über ,das G a n z e ' u n d über . G a n z h e i t e n ' in N i e t z s c h e s Philosophie

währende Übergehen von einem Zustand in einen nächsten", aus sich heraus als Prozeß auf die ewige Wiederkunft des Gleichen hinausläuft. Nach ihm ist auch Nietzsches,letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge' „keine ,objektive' Wahrheit". Eine solche Wahrheit ist ,der Fluß' in der Tat auch für Nietzsche nicht, er ist für ihn das .wahre' (das wirkliche) Abgründige. Doch Abel hat vor allem den Gegensatz von .Objektivem' zum „Prozeß der Willen-zur-Macht-und-/«íe^rctóí/o«s-Vorgange" im Blick.465 Weder die Verfeinerung des Leib-Geschehens noch auch die „interne Modifikation des Typus der Interpretation auf der Ebene der .großen Vernunft' des Leibes, derzufolge das Werden Priorität vor dem Fest-stellen (von ,Sein') erhalten soll, kann zur faktisch-interpretativen Konsequenz der ewigen Wiederkunft führen. Dies zeigt sich gerade dort, wo Abel ausführt, der Wiederkunftsgedanke werde „erst mit seiner Einverleibung realiter und im vollen Sinne zu der neuen Form des Welt- und SelbstVerständnisses". Die Wiederkunft wird darin „gewissermaßen instinktiv"; zugleich könne man „auch sagen, daß sie analytisch wird".466 Nach Abel wird die .sachliche Berechtigung' dafür, gerade diesen Gedanken einzuverleiben (instinktiv zu machen), durch theoretische Betrachtungen begründet, die seine Überlegenheit über andere Gedankenmodelle darlegen. Nur über den Wiederkunfts-Gedew^e« kann die von ihm für die .große Vernunft des Leibes' geforderte Einverleibung des Werdens für das .neue Verständnis' erfolgen.467 Nun ist das Werden in und für die Leib-Organisation in dessen „fortwährendefm] Fest-Stellen" zwar nicht

Werden „ d e n Charakter des Seins aufzuprägen" versucht. (Nachlaß 1 8 8 6 - F r ü h j a h r 1 8 8 7 , 7 [ 5 4 ] ; K G W VIII 1, 3 2 0 f . ) Vgl. dazu oben S. 2 3 7 f .

Ende

465

A . a . O . , 3 1 4 . - M i t der Unterstreichung des Interpretierens wird dieses einmal mehr als vorgängig und als durchgehend einheitstiftend angesetzt. Damit ist auch das nach Nietzsche Unzugängliche schon in Abels Interpretations-Ganzes eingeholt. Er nimmt zwar Nietzsches G e d a n k e n über .die letzte Wahrheit des absoluten Flusses' auch mit d e m Hinweis „auf deren identitätszerstörende und damit lebensgefährliche Einverleib u n g " auf. D o c h erscheint die G e f a h r , die als G e f a h r nur a m R a n d e erörtert wird, durch die wirksam werdende Wiederkunftslehre endgültig gebannt werden zu können. (A.a.O., 3 1 2 f f . ; vgl. dazu 2 2 7 , Anm. 7 2 )

466

A . a . O . , 3 1 4 f . - Hervorheb. v. Vf.

467

D a Abel diesen Gedanken als „die Urgeschichte des Werdens" auffaßt, ist für ihn ,¿eine Einverleibung mit der hier in Frage stehenden [sc. der des Werdens] gleichbedeutend" (a.a.O., 3 1 4 ) .

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme

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als erkennbar gegeben, aber es ist nach Nietzsche ,erschließbar'.468 Daß der Gesamtprozeß sich in Kreisläufen ohne Ende vollzieht, kann aber aus der Leib-Erfahrung heraus nicht einmal .erschlossen' werden. Nur auf der Grundlage logischer Operationen vermag Abel den Schritt vom faktischen Werden zum .Faktum' der ewigen Wiederkehr zu vollziehen. 469 Es ist bezeichnend, daß Abel im erörterten Zusammenhang auf seine theoretische Auseinandersetzung mit Magnus über Identität und Wiederkehr zurückverweist. 470 In ihr hat er, „auf der Ebene reiner Verstandesoperationen", den Wiederkunftsgedanken, der „die ununterscheidbare Wiederkehr der Ereignisse" lehrt, „als die einzige, dem ewigen Fluß des Werdens angemessene Weltkonzeption, ja als dessen Konsequenz" herausgestellt. 471 „Konsequenz" kann sie für Abel aber z.B. nur unter einer Reihe von „Endlichkeitsbedingungen" sein.472 Die Verstandesebene hat er aber zugleich schon in seinem weiten Verständnis von Interpretation überschritten. Jede Weise von Bewahrheitung wird von ihm unter den Aspekten von „Herbeiführung und Plausibilisierung" dem „Interpretationsgeschehen" untergeordnet. 473 Vom „geschehens-logischen Interpretations-Zirkel" aus können

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A.a.O., 312. - In Die Fröhliche Wissenschaft spricht Nietzsche vom „continuum" des Werdens, das wir aus den uns zugänglichen „theilbaren Zeiten" gerade noch „erschliessen" können (512; KGW V 2,151 ; vgl. dazu insbes. Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, 11[281]; KGW V 2, 447). Für die Einverleibung der Wiederkehr als .Gedanke' und .Glaube' ist die theoretische Stimmigkeit der Lehre eines unendlichen Kreisgeschehens nicht ausschlaggebend. Einverleibt worden ist bisher immer das (für eine Art) Lebensnützliche. In der Geschichte der organischen Wesen wurden bisher nur Irrtümer einverleibt. Vgl. dazu oben S. 268f. Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 226, 227 (Anm. 72). A.a.O., 219. - Von solchen .Endlichkeitsbedingungen' haben wir oben schon unter Abschnitt 21.1 und 2 gehandelt (s. S. 250ff.) An diesem Punkte geht es darum, daß es der Lehre zufolge „viele numerisch-distinkte und doch zugleich indiszernibel-identische Geschehens-iünge geben muß", die weder objektivistisch noch (primär) existenziell verstanden werden sollen. Die „Endlichkeit" setzt darin voraus, „daß der externe Beobachter ausgeschlossen, und daß alle Kraftzentren, nicht nur der Mensch, notwendig perspektive-gebunden, daß sie in ihrer Perspektivität gefangen sind. Die Wiederkunftslehre ist keine auf eine außer-weltlichen Standpunkt angewiesene Theorie. Sie ist intern mit dem Weltprozeß verknüpft." (Dynamik, a.a.O. [Anm. 7], 219f.) Aa.O., 155. - Abel geht hierbei von Nietzsches Destruktion der traditionellen metaphysischen und korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffe aus (a.a.O., 152-157). Der Problematik von Wahrheit als Interpretation (so der Titel einer späteren Abhandlung

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Über ,das Ganze' und über .Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

Argumentationen des Verstandes eingeordnet und bewertet werden; von ihm aus ist auch die „Zurückweisung der formellen logisch-theoretischen Kritik an der Wiederkunftslehre" problemlos möglich.474 Aber die Wiederkunftslehre bedarf gleichwohl der theoretischen Plausibilisierung. Sind bestimmte argumentative (hier nicht im einzelnen aufzuführende) Bedingungen gegeben, „dann ist schwerlich einzusehen, wieso die Ereignis-Kette als Zeitreihe nicht auch so prolongiert gedacht werden kann, daß, unter Heranziehung weiterer Bedingungen (vor allem der endlichen Gesamtenergie, der Gesamtgestalt des Raumes, der Zeit-Unendlichkeit, der GeschehensNotwendigkeit), die diese Welt ausmachende Ereignis-Konkatenation notwendig in eine als Weltenm/g zu symbolisierende, in sich selbst zurücklaufende Periodizität führt". 475 Hier (und in anderen Zusammenhängen) zeigt sich, daß es bei Abel letztlich der Wiederkunfts-Geiimfee, die .Theorie', ist, durch die der Mensch zur .neuen Welt-Auslegung' geführt werden kann. Nicht entspringt jener aus den .prozessualen Ereignissen' selbst, aus dem Leib-,Geschehen' in dessen faktischer Entwicklung. Und wenn Abel diese Disjunktion unter Hinweis auf die von ihm behauptete .Unauftrennbarkeit' von Faktizität und lnterpretativität nicht gelten lassen will,476 so ist zu sagen, daß er selbst das Interpretative vom Faktischen des Leib-seins gelöst hat, um das argumentative Gewicht der .Lehre' zuletzt auf das Interpretative legen zu können. Gerade bei der Plausibilisierung des Wiederkunftsgedankens treten Faktizität und lnterpretativität auseinander, die Abel vor allem seinetwegen miteinander verschmolzen hat.477

474 475 476 477

Abels in: Krisis der Metaphysik, hg. von G. Abel/J. Salaquarda, Berlin/New York 1989, 331 -363) wird hier nicht nachgegangen. Wir beschränken uns auf Abels Thematisierung von Nietzsches Wiederkunftsgedanken. A.a.O., 240. A.a.O., 239. - Vgl. dazu oben S. 258, Anm. 372. A.a.O., 18 lf. Nach Abel soll das höchstentwickelte Individuum, das es „als Leib-Organisation ist", „in ein und demselben Willen-zur-Macht-und-Interpretations-Gefiige [...] das Selbst und die Welt untrennbar ineinander" haben: es soll „diese in jenem und jenes in dieser" finden. „Ein solches Individuum ist seine Welt." (A.a.O., 318; vgl. auch 240) Es ist seine Welt nicht nur als je besonderes verstehendes In-der-Welt-sein im Sinne Heideggers. Nach Abel ist das Individuum ontisch und ontologisch .Welt'. - A n diesem Punkte, an dem das Scheitern von Abels Versuch, „.Interpretation' und .Geschehen' [...] in ihrem vollständigen Ineinanderstehen" zu erfassen (a.a.O., 172), zutage tritt, sei auf die Kritik von Hans Lenk an Abels hervorgehobenem Gebrauch des Wortes „ist" hingewiesen. Ausgehend von dessen Satz: „Realität ist Interpretation"

Dritter Teil: Über Dauerhaftigkeit und andere ökonomische Probleme 2 2 . 5 . Nietzsches

Relativierung

des

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Interpretierens

Wenn Nietzsche schreibt, im M e n s c h e n lebe auf der Grundlage v o n Jilteren Werthschätzungen" das „ G e s a m m t - O r g a n i s c h e in Einer bestimmten Linie" fort, so ist damit für ihn nur „bewiesen, daß eine Gattung v o n Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) auch bestanden hat, daß das System der Interpretation nicht gewechselt hat". 478 Aus der diese Überlegung leitenden entwicklungsgeschichtlichen Sichtweise ergibt sich eine weitgehende Selbstrelativierung des menschlichen Interpretierens. Dieses stellt zum einen einen Fortbau des Interpretierens dar; als gewachsener Vielheit und Synthesis der anorganischen und organischen Kräfte könnten sich d e m M e n s c h e n durch Verstärkung u n d Erweiterung seiner Macht neue Perspektiven auftun, durch die engere Interpretationen (a.a.O., 145), fragt Lenk, ob das Wort ,ist' im Sinne von Identität aufgefaßt wird. „Dann müßte es symmetrisch sein, eine Umkehrung erlauben, es müßte nicht nur Realität Interpretation sein, sondern auch umgekehrt (alle?) Interpretation Realität!" (Philosophie und Interpretation. Vorlesungen zur Entwicklung konstruktivistischer Interpretationsansätze, Frankfurt a.M. 1993,216, vgl. 223f., 229ff.) Lenk vermißt eine Erläuterung von Abel hierzu. Er nimmt die Unentbehrlichkeit jener Ineinssetzung für dessen Aufweis von Interpretativität und faktischem Verlauf des Wiederkunftsgeschehens nicht wahr (wie er in seinen Ausführungen zu Abels Nietzsche-Deutung die Wiederkunfts-Thematik überhaupt ausspart). Den Weg eines quasi-transzendentalen, „kritisch-interpretationistischen Realismus", den Lenk vorschlägt (217ff. hier: 228), hatte Abel schon verlassen, als er über meine Auffassung von Nietzsches Interpretationsverständnis hinausging (vgl. dazu oben S. 279ff.). - Lenk dehnt seine Kritik an Abel auf Nietzsche selbst aus, indem er jenem folgend unterstellt, daß für Nietzsche „Interpretation im wesentlichen das einzige Grundgeschehen" sei „und daß die Welt eine Geschehenswelt ist, die allein durch Interpretation aufgespannt, entfaltet wird". Er findet (über Abels Deutung) bei Nietzsche demgemäß eine „prozeßontologische bzw. metaphysische Hypostasierung" des Interpretationsgeschehens „als des einzigen Geschehens". (A.a.O., 23Of.) Meine auch von Abel herangezogene Ausführung über den Zusammenhang von Wille zur Macht und Interpretation habe ich mit dem Gedanken abgeschlossen, der Mensch könne nach Nietzsche nicht erfahren, was ihn im .Geschehen' treibe. Wenn ich schreibe, für Nietzsche gebe es zwar Geschehniszusammenhänge, nicht aber ,das Grundgeschehnis' (Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, Nietzsche-Interpretationen 1,87f.), so gilt dies (inzwischen auch) gegenüber Abels Deutung und ihrer Aufnahme durch Lenk. 478

Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887; KGW VIII 1, 259. - Zu den daraus sich ergebenden Überlegungen Nietzsches vgl. schon Vf., Nietzsches Lehre vont Willen zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, 83ff.

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Über ,das Ganze' und über ,Ganzheiten' in Nietzsches Philosophie

überwunden werden.479 In jeder Überwindung werden zugleich die auf einer früheren Entwicklungsstufe das Interpretieren leitenden Gesichtspunkte durch andere abgelöst; damit modifiziert sich zugleich die für jede Perspektivik spezifische Horizontbildung und aus ihr jeder besondere Aspekt in der interpretativen ,Konstitution von Geschehen'.480 Zum zweiten gilt, daß die bestimmte ,Gattung von Interpretation' einen Ausbau über den Menschen hinaus erfahren könnte. So erhofft Zarathustra, daß der künftige Übermensch die ewige Wiederkunft des Gleichen rückhaltlos bejahen kann, welche Bejahung ihm selbst nicht möglich ist. „Der bisherige Mensch" könnte „gleichsam ein Embryon des Menschen der Zukunft" sein; demgemäß wäre der „Übermensch [...] das Ziel". Dann wird, so mutmaßt Nietzsche, „die Erkenntniß [...], bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nöthig sind".481 Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß eine weiter fortschreitende Erkenntnis eine Perspektivik entfaltet, in welcher schließlich noch der Wiederkunftsgedanke als,irrtümliches Relikt' einer früheren Entwicklungsstufe zurückbleibt. Zum dritten schließt Nietzsche die Möglichkeit nicht aus, daß ,das System der Interpretation' wechseln kann. Ist doch ihm zufolge unter bestimmtem Evolutionsdruck, der zur Einverleibung wie auch zur Modifikation von Grundirrtümern in der Entwicklungskette bis zum Menschen hin geführt hat, alles zugrunde gegangen, was gegenüber ,dem Normalen' in einer gesellschaftlich nicht integrierbaren Weise .„Ausnahme"' war.482 Ob es noch andere .Systeme' 479

Nachlaß Herbst 1 8 8 5 - H e r b s t 1 8 8 6 , 2 [ 1 0 8 ] ; KGW VIII 1, 112.

480

Innerhalb der .Gattung des Interpretierens' gehört zur Erweiterung von Perspektiven auch der Verlust von bestimmt und fest strukturierten Hinsichtnahmen z.B. im Vergleich zu Perspektiven von Tieren. In der .Offenheit' des Menschen als des .noch nicht festgestellten Tieres' (die nicht im Sinne einer Freiheit im Verständnis von Willkür mißdeutet werden darf) sieht Nietzsche sowohl die Möglichkeit des besonderen Mißratens als auch die seiner künftigen Gestaltbarkeit. Dabei gilt: „je höher der Typus eines Menschen ist, der durch ihn dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit, daß er geräth: das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesammten Haushalte der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in seiner zerstörerischen Wirkung auf die höheren Menschen", jenseits von Gut und Böse 6 2 ; K G W VI 2, 6 9 )

481

Nachlaß Sommer-Herbst 1 8 8 4 , 2 6 [ 2 3 1 , 2 3 2 , 2 3 6 ] ; K G W VII 2, 2 0 8 .

482

Nachlaß Frühjahr-Herbst 1 8 8 1 , 1 1 [ 2 5 2 ] ; K G W V 2, 4 3 5 . - Nietzsche führt hier im Ausgang von unserer Sinneswahrnehmung und unserem Empfinden aus, zuerst müsse „die allergrößte Unsicherheit und etwas Chaotisches dagewesen sein, erst in ungeheuren Zeitstrecken ist das Alles so fest vererbt; Menschen, die wesentlich anders empfanden, über Raumentfernung, Licht, Farbe usw. sind bei

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von .Interpretieren' gibt oder geben kann, ist zwar eine unbeantwortbare Frage. „Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte", heißt es in Wir Furchtlosen. Aber Nietzsche findet unsere „Unbescheidenheit" lächerlich, „von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe". Er stellt uns vor ein .neues Unendliches', das über die mit der Renaissancephilosophie aufkommenden Vorstellungen von Raum- und Zeit-Unendlichkeit auf besondere Weise hinausgeht. „Die Welt" ist für ,uns' nämlich „noch einmal unendlich geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass die Welt unendliche Interpretationen in sich schliesst."m Die Ausführung ist mehrdeutig. Man kann sie, andere Aufzeichnungen Nietzsches heranziehend, auf die „unendliche Ausdeutbarkeit der Welt" hin lesen, die dem Menschen aufgehen kann.484 Abel geht in seiner Deutung von Nietzsches philologischer Einsicht aus, daß jeder Text „unzählige Auslegungen" erlaubt und es „keine .richtige' Auslegung" gibt.485 Abel weist auf die „Unabgeschlossenheit des Interpretierens" hin, in der sich „jede Interpretation wiederum als interpretationsbedürftig" erweist. Insofern er diesen Prozeß in das „Interpretations-Unendliche" (in Analogie zu Hegels .wahrhaft Unendlichem') hinein .aufhebt', entgeht seine Deutung der sogenannten .schlechten Unendlichkeit'. Nietzsches Zertrümmerung unserer .Interpretations-Unbescheidenheit' hält diese jedoch als Möglichkeit gerade offen. Er treibt unsere .Neugier' in die .Hoffnungslosigkeit': Wir wissen nicht, „was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektiven geben könnte: zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre)". Seite gedrängt worden und konnten sich schlecht fortpflanzen" (ebd.). - „Der .Verrückte', die Idiosyncrasie beweisen nicht die Unwahrheit einer Vorstellung, sondern deren Abnormität; es läßt sich mit ihr nicht für eine Masse leben." (Nachlaß a.a.O., 11[156]; KGW V 2, 399) - Vgl. hierzu Freiheit und Wille, oben S. 5 Iff. 483 484

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Die fröhliche Wissenschaft 5 7 4 ; KGW V 2, 308f. Vgl. z.B. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1 8 8 6 , 2 [ 1 1 7 ] ; KGW VIII1,118. - So habe auch ich den Aphorismus noch in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht ausgelegt (Nietzsche-Interpretationen I, 79f., 8 Iff.). Nur angedeutet habe ich seine Ambivalenzen in meinem Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Eric Blondel (Nietzsche-Tagung Schloß Reisensburg 1980), abgedruckt in Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), 556f. Zur Abgründigkeit von Nietzsches Interpretationsbegriff vgl. in diesem Buch auch schon Uber Freiheit und Wille, S. 85f. Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 1[120]; KGW VIII 1, 35.

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Indem Nietzsche derartige Interpretationen ,als real möglich' in seine Überlegung einbezieht, relativiert er zugleich den Wiederkunftsgedanken auf die Besonderheit einer Interpretation des Menschen, wie er entwicklungsgeschichtlich .wirklich' geworden ist. Denn ein Wesen, das z.B. die Zeit abwechselnd vorwärts und rückwärts empfände, würde die Vorstellung des kontinuierlichen Kreisganges (wenn sie ihm denn zu vermitteln wäre) als widersinnig, u.U. als atavistisch interpretieren. - Mit der Einblendung solcher Möglichkeiten weist Nietzsche offenkundig die naturgeschichtlich dogmatische Feststellung ab, das Interpretieren des Menschen sei nicht relativ und seine äußersten Einsichten seien unüberholbar. - Und schließlich besteht Nietzsche in unserem Text nicht einmal darauf, daß alles Dasein interpretiere bzw. sich im Interpretieren erschöpfe. Er schreibt, es müsse offen bleiben, „wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat". Die Relativierung der Wiederkunftslehre durch die Möglichkeit unendlicher Interpretationen stellt keinen Einwand gegen ihre Beweisbarkeit oder Plausibilisierung unter den oben herausgestellten Voraussetzungen Nietzsches dar.48