Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit: Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte 9783110930054, 9783484365100


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German Pages 344 Year 1992

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Table of contents :
Vorwort
Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius)
Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Medizin und Literatur im Zeitalter des Barock
Utopie und Medizin. Der Staat der Gesunden und der gesunde Staat in utopischen Entwürfen des 16. und 17. Jahrhunderts
Der Arzt und das Reisen. Zum Anleitungsverhältnis von Regimen und Apodemik in der frühneuzeitlichen Reisetheorie
Anmerkungen zur »Medicus Politicus«- und »Machiavellus Medicus«-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts
Arzt und Patient in der medizinischen Standesliteratur der Frühen Neuzeit
Der wundärztliche Werbetext am Beispiel der Werbezettel des Johann Andreas Eisenbarth
»Kurier die Leut auf meine Art ...« Jahrmarktskünste und Medizin auf den Messen des 16. und 17. Jahrhunderts
Pathographie des Poeten. Zur Bedeutung von Leiden und Melancholie für das frühe Tasso-Bild
Affektpathologische Aspekte und therapeutische Handlungszitate in Lohensteins Agrippina
Beschreibung und Bewertung von Krankheit in der Predigtliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts am Beispiel der Bergpredigten
»Ad vestras, medici, supplex prosternitur aras ...« – Zu Jacob Baldes Medizinersatiren
Die Darstellung der Geisteskrankheit in der Barockliteratur
Die medizinisch-politischen Lehrromane des Dichterarztes Johann Christoph Ettner (1654–1724)
Die »Balsam=Kraft« von innen. Dichtung und Diätetik am Beispiel des B. H. Brockes
Namenregister
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Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit: Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte
 9783110930054, 9783484365100

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FRÜHE NEUZEIT Band 10

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Gotthardt Frühsorge, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann und Jan-Dirk Müller

Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte Herausgegeben von Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit : Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte / hrsg. von Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Frühe Neuzeit ; Bd. 10) NE: Benzenhöfer, Udo [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-36510-2

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck und Einband: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten

Inhalt

Vorwort

VII

Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius)

1

Dietrich von Engelhardt (Lübeck) Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Medizin und Literatur im Zeitalter des Barock

30

Jörg Jochen Berns (Marburg) Utopie und Medizin. Der Staat der Gesunden und der gesunde Staat in utopischen Entwürfen des 16. und 17. Jahrhunderts

55

Wolfgang Neuber (Wien) Der Arzt und das Reisen. Zum Anleitungsverhältnis von Regimen und Apodemik in der frühneuzeitlichen Reisetheorie

94

Wolfgang U. Eckart (Hannover) Anmerkungen zur »Medicus Politicus«- und »Machiavellus Medicus«-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts

114

Barbara Elkeles (Hannover) Arzt und Patient in der medizinischen Standesliteratur der Frühen Neuzeit

131

Jürgen Konert (Halle/S.) Der wundärztliche Werbetext am Beispiel der Werbezettel des Johann Andreas Eisenbarth

144

Katrin Kröll (Kopenhagen) »Kurier die Leut auf meine Art ...« Jahrmarktskünste und Medizin auf den Messen des 16. und 17. Jahrhunderts

155

Achim Aurnhammer (Heidelberg) Pathographie des Poeten. Zur Bedeutung von Leiden und Melancholie für das frühe Tasso-Bild

187

VI

Inhalt

Thomas Rahn (Marburg) Affektpathologische Aspekte und therapeutische Handlungszitate in Lohensteins Agrippina

201

Irmtraut Sahmland (Gießen) Beschreibung und Bewertung von Krankheit in der Predigtliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts am Beispiel der Bergpredigten

228

Hermann Wiegand (Mannheim) »Ad vestras, medici, supplex prosternitur aras ...« - Zu Jacob Baldes Medizinersatiren

247

Wolfram Schmitt (Saarbrücken) Die Darstellung der Geisteskrankheit in der Barockliteratur

270

Udo Benzenhöfer (Hannover) Die medizinisch-politischen Lehrromane des Dichterarztes Johann Christoph Ettner (1654-1724)

283

Wolfram Mauser (Freiburg) Die »Balsam=Kraft« von innen. Dichtung und Diätetik am Beispiel des B. H. Brockes

299

Namenregister

331

Vorwort

Der vorliegende Band versammelt die ausgearbeiteten Fassungen von Vorträgen, die im Rahmen eines Arbeitsgesprächs vom 10. bis 12. Oktober 1990 in der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel gehalten wurden. Der interdisziplinäre Gedankenaustausch von Literatur- und Medizinhistorikern galt Aspekten des Wechselverhältnisses von Heilkunde und Krankheitserfahrungen in der frühen Neuzeit. Im Mittelpunkt standen dabei Untersuchungen zu Rollenbildern des Arztes und des Patienten im Blick auf Phänomene des körperlichen und psycho-physischen Leidens in verschiedenen Formen und Traditionen des nicht fachgebundenen Schrifttums. Den Ausgangspunkt der zu behandelnden Fragen bildete ein weit gefaßter, d.h. historisch adäquater Literaturbegriff. Mit wechselndem thematischen Schwerpunkt widmen sich die einzelnen Beiträge sehr verschiedenen Quellen und Textkorpora. Dazu gehören Gedichte und didaktische Lyrik (W. Kühlmann, W. Mauser), Dramen (Th. Rahn) und Romane (W. Schmitt, U. Benzenhöfer); ferner Verssatiren (H. Wiegand), die utopische Literatur (J. J. Berns), die Reiseanleitungen (W. Neuber) neben »Werbezetteln« (J. Konert), Bergpredigten (I. Sahmland) und biographischen Darstellungen (A. Aurnhammer). K. Kröll rekonstruiert anhand einschlägiger Akten soziale Phänomene der nicht-akademischen Heilpraxis. Die Ausführungen von W. U. Eckart und B. Elkeles werfen ein Licht auf standesspezifische und >deontologische< Texttraditionen. D. von Engelhardt umreißt den thematischen Zusammenhang in einem systematischen Überblick. In diesem weitgespannten Rahmen bot sich die Möglichkeit, jenseits einer lediglich fortschrittsorientierten und einer nur auf Lehrbücher fixierten »Medizingeschichte der großen Männer« mentale und soziale Zusammenhänge der frühneuzeitlichen Körper- und Krankheitsvorstellungen zu erhellen und in fachübergreifenden Diskursen zu verankern. Die Funktionalisierung medizinischer Themata in Textfeldern zu beobachten, die sonst unter anderen Gesichtspunkten behandelt werden, erwies sich als reizvolle und, wie wir hoffen, erkenntnisfördernde Ausweitung der literarhistorischen Perspektive. Daß dieser »medicoliterarische« Zugang weiterer Ergänzung durch sozial-, mentalitäts- und institutionsgeschichtliche Studien bedarf, steht außer Frage. Auch hätten weitere Textsorten herangezogen werden können: so etwa die Flugblattliteratur oder das Erbauungsschrifttum. Doch als ein bisher wenig erprobter Versuch, Erkenntnisinteressen von Medizin- und Lite-

Vili

Vorwort

rarhistorikern am »Grenzrain« ihrer Disziplinen zusammenzuführen, kann und soll der Sammelband über die vorgelegten Ergebnisse hinaus die Richtung für künftige Bemühungen weisen. Zwei der in Wolfenbüttel gehaltenen Vorträge konnten aus verschiedenen Gründen nicht ausgearbeitet bzw. aufgenommen werden. Die Aufsätze von J. Konert und K. Kröll wurden aus Zeitgründen bei der Tagung nicht referiert. Der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, namentlich Herrn Prof. Dr. Friedrich Niewöhner, danken wir für die generöse Unterstützung und Betreuung des Arbeitsgesprächs. Dem Verlag Max Niemeyer, insbesondere Frau Birgitta Zeller, gilt unser Dank für ihr spontanes Interesse an unserem Projekt. September 1991 Udo Benzenhöfer (Hannover ), W. Kühlmann (Heidelberg)

Wilhelm

Kühlmann

Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius)

D i e Notwendigkeit einer umfassenden Ansicht leuchtet aber auch schon aus der B e s c h a f f e n heit der Literatur selbst hervor. D i e europäische Literatur bildet ein zusammenhängendes Ganzes, w o alle Z w e i g e innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gründet, durch dieses erklärt und ergänzt wird. Friedrich Schlegel Geschichte der europäischen Literatur, 1803/04.

I

Krankheiten gehören zu den elementaren Erfahrungen des Menschen, Erfahrungen mit dem eigenen Körper und der Hinfälligkeit des Nächsten, von dessen Schicksal man sich betroffen fühlt. Nur scheinbar sind diese >pathogenen< Erfahrungen dem historischen Prozeß sozialer Selbstverständigung entzogen. Jenseits eines - immerhin vielleicht möglichen - sprachfernen und begriffslosen, gleichsam vegetativen Vorgangs des Erleidens artikuliert sich in der spontanen wie auch in der literarisch bewußt geformten Rede über eigenes und fremdes Krank-Sein immer eine Vielfalt von Selbst- und Fremdbeobachtungen, ein Komplex spontaner Deutungen und kulturell vermittelter Einstellungen. Bereits die Diagnose der somatischen Störung setzt Leitbilder der Gesundheit, der körperlichen Harmonie, voraus, zugleich aber auch die Position, die der Wert der Gesundheit in der mentalen Hierarchie des Gewünschten, und des überhaupt Wünschbaren einnimmt. 1 Erst die begründeten oder begründbaren Erwartungen, in denen sich Wohlbefinden bestimmt, umreißen Art

Weiterführendes zu diesen Vorüberlegungen bietet eine Reihe von Abhandlungen und Darstellungen, von denen ich nur nenne: Emanuel Berghoff: Entwicklungsgeschichte des Krankheitsbegriffs. Wien 2 1947; Walder Brednow: Der Kranke und seine Krankheit. Leipzig 1961 (Nova Acta Leopoldina, N. F. Nummer 152, Bd. 24); Heinrich Schipperges: Homo Patiens. Zur Geschichte des kranken Menschen. München 1985; Dietrich von Engelhardt: Der Umgang des Kranken mit der Krankheit im Medium der Literatur. In: Ethische Probleme der modernen Medizin. Hg. von Helmut Piechioviak. Mainz 1985, S. 158-176; Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. Hg. von Arthur E. Imhof. München 1983.

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Wilhelm

Kühlmann

und Ausmaß des Schocks, der durch Schmerzen und das Versagen der leiblichen Funktionen ausgelöst wird. Das Verhältnis, in dem Krankheitssymptome als Abweichung vom Normalzustand erscheinen, regelt sich dabei nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie nach den Parametern des somatischen Funktionierens, dem Postulat der Selbsterhaltung, jedenfalls nicht in der Frühen Neuzeit, in der Leiden und Tod in übergreifenden Sinnzusammenhängen gedeutet waren. Diese Sinnzusammenhänge, die jeden rein säkularen Erklärungs- und Handlungskonnex der Medizin - in der Spannweite von Diagnose, Prognose und Therapie - überwölbten, prägten alltagsweltliche Wertvorstellungen und mentale Gewißheiten, ja vorab bereits den Fragezusammenhang, in dem die Grenzziehung zwischen dem Gesunden und dem Kranken überhaupt zur Sprache kommen und problematisiert werden konnte. Von der Verinnerlichung dieser Sinnangebote hing zweifellos auch der psychische Anteil der Krankheitserfahrungen ab. Denn der Umgang des Kranken mit sich selbst oder der des Gesunden mit dem kranken Anderen umgreift in der Auseinandersetzung mit somatischen Störungen damals wie heute auch die emotionale Reaktion auf das Versagen der eigenen Leiblichkeit. Körperliche Störungen sind und waren zugleich psychische Anfechtungen, Herausforderungen und Verstörungen. Es ist unbestreitbar, daß in der Frühen Neuzeit die Bewältigung der Krankheitserfahrungen in der sinnstiftenden Rede über die psycho-physische Gefährdung des kranken Menschen besondere Dringlichkeit besaß: angesichts der Omnipräsenz des Todes in einer Wirklichkeit, die - nicht nur in den großen Seuchenzügen - medizinische Kunst immer wieder zur Ohnmacht verdammte und Gefühlsreaktionen der Angst und der Wehrlosigkeit hervorrief.2 Die ungeheure Masse des christlichen Gebrauchsschrifttums, in dem die Tröstungen der christlichen Heilszusage in Konzepte geistlichen Handelns umgesetzt wurden und das - im Horizont der meditatio mortis - die Energien des Einzelnen auf die Bewältigung des Sterbens als exemplarischer, moralisch und soteriologisch entscheidender Lebensleistung hin konzentrierte, 3 diese Masse des geistlichen Schrifttums zeigt ebenso die lebenswirksame Macht des Christentums wie Bedürfnisse, denen sich die christliche Verkündigung und ihre Vertreter zu stellen hatten. Über die maßgeblich vom christlichen Erbauungsschrifttum getra2

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Vgl. das bekannte Werk von Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Reinbek b. Hamburg 1985 (Rowohlt-Taschenbuch 7919/7920). Vgl. Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento Mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966; zur Tradition Rainer Rudolf: Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens. Köln-Graz 1957 (Forschungen zur Volkskunde 39); Luise Klein: Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern. Diss. Göttingen 1959; sehr ergiebig Rolf Hartmann: Das Autobiographische in der Basler Leichenrede. Basel-Stuttgart 1963; Rudolf Mohr: Protestantische Theologie und Frömmigkeit im Angesicht des Todes während des Barockzeitalters, hauptsächlich auf Grund hessischer Leichenpredigten. Diss. Marburg 1964. Am bekanntesten, jedoch für die deutschen Quellen weniger von Belang: Philippe Ariès: Geschichte des Todes (franz. 1978). München 1982 (dtv-Taschenbuch 4407); als anregend, jedoch nicht historisch ausgerichtet, oft auch eher assoziativ verfahrend er-

Selbstverständigung im Leiden

3

gene Literatur- und Mentalitätsgeschichte des Todes liegt mittlerweile, wie bekannt, eine Fülle von Darstellungen und Untersuchungen vor. 4 Als damit nicht identisch, wenngleich als in mancher Hinsicht nahestehend bzw. konkurrierend erweist sich eine lyrische Schreibtradition, der ich mich im folgenden zunächst zuwenden möchte: dem Gedichttypus mit der topischen Uberschrift De se aegrotante. Dieser Typus hatte seit dem Renaissancehumanismus, d.h. zunächst in lateinischer Sprache einen beachtlichen Anteil am Erscheinungsbild und Themenradius zahlreicher Gedichtsammlungen.5 Der strukturelle Zusammenhang dieses lyrischen Genres war gewährleistet durch seinen autobiographischen Aussagemodus und durch die gleichbleibende situative Voraussetzung der lyrischen Rede. In ihr setzt sich ein dichtendes Ich mit dem - wie auch immer authentischen - Erlebnis seiner Erkrankung und des körperlichen Leidens auseinander. Für eine literatur- und mentalitätsgeschichtliche Einordnung ist die Tatsache bemerkenswert, daß derartige Gedichte über das kranke Ich in der frühen Aufklärungsepoche aus dem poetischen Kanon weitgehend verschwanden und später eigentlich nur bei Heinrich Heine - in der Parodie etablierter Aussagemuster - noch einmal aufgegriffen wurden. 6 Das von Leibniz und Christian Wolff formulierte Denkpostulat der >besten aller Weltenbarocker< und in der Konkurrenz eher säkulär-diesseitiger und entschieden christlich-transzendenter B e w ä l t i g u n g v o n Krankheitserfahrungen.

II A l s Ausgangspunkt e i n e s analytischen V e r g l e i c h s bietet sich Andreas Gryphius' zu Recht berühmtes Sonett Threnen

in schwerer

Kranckheit

an (Erstdruck

1643; datiert 1640). Es gehört zu einer Gruppe thematisch verwandter Sonette, in denen weniger der m ö g l i c h e biographische A n l a ß als der Impuls zu meditativer R e f l e x i o n z u m Ausdruck k o m m t , der sich für den Dichter Gryphius o f fensichtlich mit Krankheitserfahrungen verband. D a s Gedicht lautet: 1 0 Threnen in Schwerer Kranckheit MJr ist ich weis nicht wie / ich seufftze für vndt für. Ich weine tag vndt nacht / ich sitz in tausend schmertzen; Vndt tausendt fürcht ich noch / die krafft in meinem hertzen Verschwindt / der geist verschmacht / die Hände sincken mir. Die wangen werden bleich / der schönen äugen zier Vergeht / gleich als der Schnee der schon verbrandten kertzen Die Seele wird besturmbt gleich wie die see im mertzen.

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gen noch Nikolaus Dietrich Giseke: In einer langwierigen schweren Krankheit. In ders.: Poetische Werke. Hg. von Carl Christian Gärtner. Braunschweig 1767, S. 84. Über die einschlägige Forschung unterrichtet Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing Yearbook XIII (1981), S. 253-277; zum weiteren Umkreis jetzt die referierenden und bibliographischen Beiträge in der Zeitschrift »Das achtzehnte Jahrhundert«, Jahrgang 14, Heft 2 (1990): »Die Aufklärung und ihr Körper. Beiträge zur Leibesgeschichte im 18. Jahrhundert«. Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 4), S. 267: »Die Linie der Lyrik in Deutschland verläuft nicht über Hans Sachs zu Opitz, sondern über Celtis, Eoban Hesse, Petrus Lotichius Secundus, Schede Melissus und Posthius ins 17. Jahrhundert. Es bedürfte gesonderter (dringend erwünschter), umfangreicher Einzeluntersuchungen, auch die thematischen Verflechtungen freizulegen und zu beschreiben. Erst nach Erfüllung dieser Aufgabe wäre die Gültigkeit der Behauptung vom Zusammenhang der Lyrik beider Jahrhunderte ganz erwiesen.« Andreas Gryphius: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1963 (Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 1), S. 59; vgl. hier auch die thematisch verwandten Gedichte S. 8f„ 60f. und 78.

Selbstverständigung

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im Leiden Was ist dis leben doch! was sindt wir / ich vnd ihr? Was bilden wir vns ein! was wündtschen wir zu haben? Jtzt sindt wir hoch vndt gros / vndt morgen schon vergraben: Jtz blumen / morgen kott / wir sindt ein windt ein schäum. Ein nebel / eine bach / ein reiff / ein taw' ein schatten. Jtz was vndt morgen nichts / vnd was sind vnser thaten? ein mitt viel herber angst durchaus vermischter träum.

Wolfram Mauser hat den Text im größeren Zusammenhang der vanitas-Topik gültig interpretiert und unter anderem die heilsgeschichtliche Botschaft der Verse herausgearbeitet. 11 Freilich ist von >Heil< nicht ausdrücklich die Rede, vielmehr geht es dem Autor zunächst nur um die Evokation der emotionalen Erschütterung und der geistigen Verunsicherung, die durch »tausend Schmerzen« hervorgerufen werden. Vergleicht man dies Gedicht mit geistlichen Liedern des 16. Jahrhunderts, fällt auf, daß die im Christusglauben angelegte Heilshoffnung nicht mehr ausgesprochen wird. 12 So entspricht etwa ein autobiographisches Pestlied (1519) Zwingiis (Ein Christenlich

gsang gestelt durch H. Z. als er mit pestilenti

angriffen

ward)li

ganz und gar nicht der bei Gryphius zu beobachtenden Textstrategie. Zwingli gliedert sein Gedicht in drei Teile: »Im anfang der kranckheit - In miten der kranckheit - Jn der Besserung«. Im Mittelteil findet sich auch hier die von Gryphius im Sonetteingang ästhetisch intensivierte Diagnose: »Wee vnd angst faßt / min seel und lyb«. Doch diese Feststellung ist eingerahmt von der Bitte um Gottes Trost, von der Gewißheit der Erlösung und der Hoffnung auf göttliche Gnade. Christus soll in der Anfechtung der Krankheit für den Leidenden den Kampf führen. In diesem Anruf ist bereits der Anhaltspunkt für die Perspektive auf »besserung« gegeben, auf ein Leben, das freilich auf den Tod als >der Sünde Sold< unweigerlich zuläuft. 14 Trotz solcher Gewißheit aber stellt Zwingli die Auseinandersetzung mit der Krankheit als einen nicht aussichtslosen Kampf dar, in dem die Glaubensenergien des Ich geweckt, mit der körperlichen auch die moralische restitutio in integrum< nicht ausgeschlossen wird und zuletzt gar das »fröhliche« Ertragen von »trutz und boch in dieser wält«, 11

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Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die >Sonette< des Andreas Gryphius. München 1976, bes. S. 138ff.; ders.: Was ist dies Leben doch? Zum Gedicht »Thränen in schwerer Krankheit« von Andreas Gryphius. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1. Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1982 (Reclams U B 7890), S. 223-230. Zum Vergleich s. etwa die bei Philipp Wackernagel (Hg.) abgedruckten Lieder: Das deutsche Kirchenlied [ . . . ] , Dritter Band. L e i p z i g 1870: Nr. 840, 866, 1259; Vierter Band. Leipzig 1874: Nr. 176, 674, 678, 790, 1294. Weiteren Aufschluß geben die Sachregister! Hier zitiert nach: Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts. Hg. von Adalbert Eischenbroich. Zwei Bde. München usw. 1981, Bd. I, S. 64f.; vgl. Andreas Walther: Zwingiis Pestlied. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte der Reformationszeit. In: Neue kirchliche Zeitschrift 12 (1901), S. 813-827; Oskar Fahrner: Huldrych Zwingli. Seine Entwicklung zum Reformator 1506-1520. Zürich 1946, S. 347-376. Zur Rolle der Krankheit im Zusammenhang einer Theologie der Sünde vgl. das äußerst aufschluß- und materialreiche, auch für Gryphius belangreiche Werk von Endre Zsindely: Krankheit und Heilung im älteren Pietismus. Zürich-Stuttgart 1962, bes. S. 53ff.

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Wilhelm Kühlmann

also eine Stärkung des von geistlichem Trost ermutigten Willens zur Selbstbehauptung angesagt ist. Von Gryphius dagegen werden nicht Heilshoffnung und Kampfbereitschaft beschworen. Vielmehr macht er Front gegen eine offenbar als bedrohlich empfundene, weil im eigenen Ich angelegte säkulare Einstellung zur Welt. Gerade in der genuin lutherischen Tradition und gerade in Predigten zu Katastrophen und Seuchen hatte die Polemik gegen das »sichere Leben« des >Weltmenschen< einen festen Platz: das sichere Leben derer, die, im Alltag religiöser Sinngebung nicht bedürftig, nicht Geduld und Frömmigkeit oder gar Rechtgläubigkeit demonstrieren wollten, sondern sich in >SicherheitExperientznatürlichen< Menschen, mit dem Menschen, soweit er nur >Natur< ist. Seine Hinfälligkeit bildet sich hier nicht in der biblischen Geschichte ab, sondern in jener - u.a. durch die Psalmen vermittelten Metaphernreihe (V. 11/12), in der nicht die schöne Ordnung der natürlichen Dinge, sondern ihre Vergänglichkeit herausgestrichen ist. Die fatale Vergänglichkeit der Dinge als Prinzip universaler Naturgesetzlichkeit begrenzt dogmatisch den Spielraum der Ich-Aussprache. 16 Diese aber zielt - latent polemisch - auf die anthropologische Selbstverständigung im Horizont säkularer Gottlosigkeit. Die Frage nach der Substanz »dieses« Lebens (V. 8) - suggestiv wird das andere, das jenseitige Leben vorausgesetzt, aber nicht genannt - denunziert grundlegende Überzeugungen und Verhaltenssicherheiten des modernen Menschen. In der Krankheit und durch sie scheint widerrufbar, was in Wahrheit moderne Personalität charakterisiert: der Stolz auf die eigene Leistung, die sich in Taten manifestiert (»und was sind unser Thaten?«, V. 14), mehr noch: die Art und Weise, wie sich dieses Ich in seinen Wünschen und in seiner Phanta-

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Krieg, Teuerung und Pest sind als Strafe Gottes und Vorboten des jüngsten Gerichts exemplarisch z.B. behandelt bei Cyriacus Spangenberg: Historia von der flechtenden Kranckheit der Pestilentz [...]. o.O. 1552; hier auch die Vorrede von Nicolaus Gallus (fol. A ij v.): »Der andere teil [der Menschen - W.K:] als auff unser Seiten / bessert sich sein fast nichts uberai / viel missbrauchens noch zum schantdeckel jrer Sünde / oder zum sicherern leben ...«; Krankheit und Not sind Erziehungsmittel zum rechten Glauben, denn: »Die Menschen sind in der Wahrheit allezeit sicher, meinen, es werde immer also bleiben und kein Noth, noch Fahr haben.« So Luther: Tischreden. WA, 6. Bd. Weimar 1921, Nr. 6579, S. 53; vgl. auch ebd. S. 33 sowie Luther: Briefwechsel. WA. 12. Bd., S. 188.

1Botschaftvanitas< verdammten natürlichen Existenz der Welt und des Menschen - den Christus medicus18 unmittelbar erfahren zu können. In Opposition zu moderner Lebens-Sicherheit bejahte und begriff Gryphius - in der Interdependenz von Leiden und Heil 1 9 - die Krankheit so, wie es Blaise Pascal dogmatisch prägnant konstatierte: »les maux de mon corps ne sont autre chose que la punition et la figure tout ensemble des maux de l'âme.« 2 0 17

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Vgl. Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings »Grabschrift«. In: Gedichte und Interpretationen, w i e Anm. 11, S. 168-175. Dazu Martin Honecker: Christus medicus. In: Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance. Hg. von Peter Wunderli. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora, Bd. 5), S. 27-43. Zu dieser zentralen Denk- und Sinnfigur des »barocken« Jahrhunderts v g l . Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft, wie Anm. 10, S. 152ff. Das Zitat aus Pascal: Prière Pour Demander de Dieu Le Bon Usage D e s Maladies. In:

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Wilhelm

Kühlmann

Der psychosomatische Verismus wird hier deutlicher in eine religiös-metaphysische Meditation umgeformt als in früheren Sonetten, wo die Elemente der Valediktionsrede im Angesicht des Todes, also auch die schmerzliche Vergegenwärtigung sozialer Beziehungen (An die umbstehenden Freunde) eine bedeutende Rolle spielt. 2 1 Daß Gryphius nicht auf eine Traditionslinie einschwenkt, die vor allem auf den sechsten Psalm rekurriert, also den Charakter des Gebets betont (»Miserere mei Domine, quoniam infirmus sum . . . « ) , 2 2 hängt damit zusammen, daß in seinen Krankheitsgedichten trotz lutherischer Vanitas-Protreptik der humanistische Typus der lebensgeschichtlichen Momentaufnahme bzw. krisenhaften Selbstvergewisserung und die Gattungstradition der >Klage< immer noch lebendig waren. Wenn Gryphius ein Sonett aus dem Jahre 1636 Trawerklage des Autors / in sehr schwerer Kranckheit nennt, 23 so bleibt trotz der unantiken Form offensichtlich die Aussagehaltung der Elegie, also die seelische Bewegung der klassischen >querimonia< bzw. >miseratio< erhalten. 24 Zwar ist es richtig, wie Erich Trunz hervorhob, daß Gryphius' Krankheitsgedichte als Sonette auf entsprechende und in ihrer Art beeindruckende, teilweise von Martin Opitz übersetzte Vorbilder der französischen Pléiade zurückweisen: Ronsards Derniers vers und Desportes' Zyklus De la mort vor allem. 25 Doch hinter und teilweise neben allen muttersprachlichen Versionen wirkte das lateinische Vorbild, d.h. in und durch alle Varianten der europäischen Renaissancedichtung gleichsam als Prototyp des Genres vorab Tibulls dritte Elegie des ersten Buches, daneben auch Ovid, Trist. III, 3. Hierauf bezogen sich die in >imitatio< und >aemulatiocarmina< namhafter italienischer Neulateiner, z.B. des Marcus Antonius Flaminius (1489-1550), 2 6 Fran-

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ders.: Oeuvres Complètes, ed. Jaques Chevalier. Paris: Gallimard 1954 (Bibliothèque de la Pléiade 34), S. 605-614, spez. S. 609. Gryphius: Sonette, wie Anm. 10, S. 60f.; zur poetischen Valediktionsrede des »Dahinsterbenden« an die Freunde vgl. aus dem neulateinischen Bereich beispielhaft ein Gedicht des Domenicus Baudius (1561-1613): »Alloquium moribundi ad Amicos«. In ders.: Poemata. Nova editio et prioribus Auctior. Amsterdam 1640, S. 47-53; Referat bei Ellinger; Bd. II, wie Anm. 26; S. 164. Vgl. die Verarbeitung dieses Psalms bei Hermann Hugo S. J.: Pia Desideria. Nachdruck der Ausgabe Antwerpen 1632. Hg. von Ernst Benz. Hildesheim-New York 1971 (Emblematisches Cabinet, Bd. 1), S. 19-29, (Lib. I. 3) mit dem Kommentar des Verfassers. Gryphius: Sonette, wie Anm. 10, S. 8. Zu diesem schon antiken Verständniskonzept - neben der Tradition der erotischen Elegie - s. im einzelnen Walther Ludwig: Petrus Lotichius Secundus and the Roman Elegiste: Prolegomena to a Study of Neo-latin Elegy. In: Classical Influences on European Culture A. D. 1500-1700. Ed. by R. R. Bolgar. Cambridge 1976, S. 171-190 (spez. 174177); abgedruckt nunmehr auch in W. Ludwig: Litterae Neolatinae. Schriften zur neulateinischen Literatur. Hg. von Ludwig Braun u. a. München 1989 (Humanistische Bibliothek, Reihe I. Abhandlungen, Bd. 35), S. 202-217. Nachwort des Herausgebers zu: Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Zwei Teile/zwei Bände. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1975 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, Bd. 2-3), spez. Bd. II, S. 76-78; hier auch die Stellennachweise zu Ronsard, Desportes, Sponde. »De se aegrogante«; Carmina. Padua 1743, S. 67f. (carm. II, 5); mit deutscher Übersetzung auch bei P. A. Budik: Leben und Wirken der vorzüglichsten lateinischen Dichter

Selbstverständigung

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ciscus Maria Molza (1498-1544), 2 7 und Johannes Iovianus Pontanus (14261503), 2 8 aber etwa auch des aus Ungarn stammenden Janus Pannonius (14331472). 2 9 Gerade bei Pannonius - ebenso wie in einer bei den späteren Humanisten zurücktretenden Lyriktradition, dem Votivpoem, wie wir es paradigmatisch in Conrad Celtis' Mariengedicht dum morbo Gallico levatus esset studieren können 3 0 - trat die krasse Schilderung, ja die anatomisch und pathologisch geradezu akribische Registratur der einzelnen Krankheitssymptome auffällig in den Vordergrund. Dieser in der antiken Elegie kaum ausgeprägte Darstellungshabitus bestimmte nicht nur den Typus »De se aegrogante« zumindest in Deutschland, sondern griff manchmal auch auf verwandte Genera über, die hier nur am Rande erwähnt werden können: auf die Danksagungen und Grüße nach überstandener Krankheit, 3 1 die wiederum - im sozialen System der Schreibanlässe - den Soteria entsprachen, den Glück- und Segenswünschen an den Freund oder Bekannten bei oder nach der Krankheit. 32 Erst recht stoßen wir auf Züge eines scientifischen Verismus in den vergleichsweise wenigen Gedichten, die - dankend oder hilfesuchend - an den Arzt gerichtet waren. 33

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des XV.-XVIII. Jahrhunderts [...]. II. Band. Wien 1828, S. 116-119; hier S. 76-98 eine noch immer wertvolle Vita des Autors samt Verzeichnis der Editionen. - Die folgenden Stellenhinweise verstehen sich nur als exemplarische Belege zur Umgrenzung des möglichen Untersuchungsfeldes. Auf die kursorisch genannten Texte kann ich hier selbstverständlich ebenso wenig wie auf die autorenbezogene Forschung eingehen. Zu diesem Gedicht und ähnlichen Carmina Flaminios vgl. auch Georg EUinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. Bd. I-III/l. Berlin und Leipzig 1929-1933, hier Bd. I. Italien und der deutsche Humanismus in der neulateinischen Lyrik. Berlin und Leipzig 1929, S. 213. »Ad sodales, cum morbo gravi et mortifero premeretur«; Abdruck mit englischer Übersetzung bei Alessandro Perosa/John Sparrow (Hg.): Renaissance Latin Verse. An Anthology. London 1979, S. 265-67; mit deutscher Übersetzung auch bei Budik (mit Autorenporträt), wie Anm. 26, S. 62-69; vgl. auch die Paraphrase bei Ellinger, ebd. S. 216f. »Casim fontem segrotus alloquitur«: Carmina. Ed. Benedetto Soldati. Volume Secondo. Florenz 1902, S. lOOf. »Elegia XIII. Conqueritur de aegrotationibus suis, in mense Marti 1466«, abgedruckt bei Harry C. Schnur: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch und deutsch. Stuttgart 1967 (Reclams UB 8739-45), S. 316-321. Abgedruckt bei Kurt Adel (Hg.): Conradi Celtis Quae Vindobonae Prelo subicienda Curavit Opuscula. Leipzig 1966, S. 24-26. Vgl. exemplarisch Jacob Balde S. J.: Sylv. VIII. Ode I.: »Ad Martinum Sibenium S. J. Post quinqué mensium prostratam valetudinem, ut Auetor convaluerit«. In: Opera Poetica Omnia. Vol. I-VIII. Nachdruck der Ausgabe München 1792. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Frankfurt 1990 (Texte der Frühen Neuzeit 1), hier Vol. II, S. 227-230. Nach dem Vorbild der »Soteria Rutili Gallici« des Statius (silv. 1. 4); exemplarisch die große Sammlung von Glückwunschgedichten, die Caspar Dornau (1577-1632), dem Lehrer des Martin Opitz, nach seiner Krankheit (1616/17) übersandt wurden: »Exequiae Viventis«. In: Casparis Domavi Dulc-Amarum [...]. Beuthen 1618, spez. Buch V. Julius Cäsar Scaliger bestimmte den Gedichttypus im Anschluß an Statius: Poetices Libri Septem. Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561. Hg. von August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 156 (Lib. III, cap. CIII). Vgl. exemplarisch den kleinen Zyklus von vier Elegien bei Henricus Husanus (Hausen, 1536-1587): Horarum sueeivisarum libri duo. Elegiarum libri totidem. Ed. Nathan Chytraeus. Rostock 1577, hier El. I. 2-5 (S. 71v.-75v.): »Precatio ad Filium Dei. - Cum

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Vorbilder der lateinischen Tradition finden ihren Nachhall etwa in Simon Dachs beeindruckendem Gedicht Als er die gantze nacht für engbrüstigkeit nicht geschlaffen,34 Anders als Gryphius verstand sich Dach hier auf eine biographische Direktheit, die jede metaphysisch-religiöse Überhöhung aussparte, das rhetorische Ornament und die pointierte Sentenz fast vermied und den Wunsch nach Heilung, die ärztliche Kunst gewähren sollte, zuletzt mit praktischen Folgen und sozialen Reaktionen begründete. Der Kranke ist auch der potentiell Arbeitsunfähige: 35 Nur ich sitz über ende Und nehme mit beschwer Mein haupt in beyde hände Und winsle so daher. Solt jemand jetzt mich schauen, Er hett ob meiner quahl Mitleiden oder grauen, Auch war er harter stahl Erbarmt euch meiner schmertzen, Ihr ärtzte, kommt zu hauff, Nehmt meine noth zu hertzen, Schlagt eure biicher auf. Was euer raht wird bringen, Auch war es gassen-koht, Ich wil ihn in mich schlingen, So groß ist meine noth. Ach, daß ich nur verdrossen Mach eure Wissenschaft! Ich hab umbsonst genossen So manchen tranck und safft, Mein leid ist nicht zu heben,

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in extremo vitae discrimine constitutus, conflictaretur cum tremoribus cordis. Anno M.D. LXXIII. prid. Non. Mart. - Cum iam exhalaturus animam videretur. - Ad Henricum Brucaeum medicum CL. Anno M. D. LXIX.« Zum Autor das Weitere in dem Artikel von Wilhelm Kühlmann (sub verbo). In: Literatur Lexikon. Hrsg. von Walther Killy. Bd. 6. München 1990, S. 23. - Zu beachten wären etwa auch die vier Elegien »Ad D. Andream Eberstorferum Medicum V. Cl.« von Michael Abel (1542-ca. 1609): Edesmata Kai Hedysmata hoc est docta & iucunda Carmina (...). Frankfurt/Oder 1598, hier Carminum Lib. I. Elegia XII.-XV. (unpag., fol. Ν lv-02); zum Autor alles Nötige in dem Artikel von Fidel Rädle (sub verbo). In: Literatur Lexikon, Bd. 1. München 1988, S. 29f. Simon Dach: Werke. Hg. von Hermann Österley. Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1876. Hildesheim - New York 1977, S. 803-805; vgl. auch ebd. S. 805f. (»Klaggedicht bei seiner schmerzlichen Krankheit«); im Spätbarock setzt sich diese Traditionslinie fort bei Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz: »Abend=Lied. In des Verfassers letzter Krankheit«. In: ders.: Gedichte. Hg. von Jürgen Stenzel. Tübingen 1982, S. 220; ferner zu vgl. etwa: (Anonymus) »Als er von einer beschwerlichen Kranckheit angegriffen, und auf das kranckenbette geleget wurde.« In: Benjamin Neukirchs Anthologie. Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen [...] Gedichte. Vierdter Teil. Glückstadt 1704. Hg. von Angelo George de Capua und Erika Alma Metzger. Tübingen 1975 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke N.F. 24), S. 472f. Wie Anm. 34, S. 804f., ich zitiere die letzten Strophen.

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Es kriegt den sieges-preiß, Ich muß verlohren geben, Umbsonst ist kunst und fleiß. Mein fieber ist verschwunden, Mich hungert allgemach, Ich gebe den gesunden Fast nirgends etwas nach, Mein durst hat sich geleget, Nur daß der zähe wust Die athem-kiirtz erreget In meiner engen brüst. Mein ampt muß gantz erliegen, Vielleicht lest manches maul Von mir ein urtheil fliegen, Ich sey so arbeit-faul. gott lasse mich genesen, So soll es kundbahr seyn, Was hie die schuld gewesen, Die kranckheit oder wein.

Durch Tibull, um auf ihn zurückzukommen, war das Thema >Krankheit< mit einem für die Zukunft wichtigen Motivkomplex verknüpft: der Leidende ist in der Fremde erkrankt; Krankheit bedeutet Entfernung von den Nahestehenden, den Freunden, ggf. der Familie - und im Gattungsschema der erotischen Elegie zu betrachten - vor allem von der Geliebten. Krankheit definierte also eine Situation, in der aus einem Mangel, einem Defizit, einer augenblicklichen Isolation Wünsche aufsteigen und Vorstellungen gelungenen Lebens, ja sich der Tagtraum der Goldenen Zeit zu Wort meldet. Die Krankheit des Dichters wirkt schöpferisch, beflügelt die Phantasien verwirklichter Gerechtigkeit und zärtlicher Liebeserfüllung. Das eigene Unglück entbirgt Erinnerungen und Entwürfe aus dem Ansatz der Klage heraus; ja noch die gedankliche Vorwegnahme des Todes führt zur Vision neuen Lebens und idyllischer Zweisamkeit. 36 Zu den gewiß bedeutendsten Nachfolgern Tibulls gehörte in Deutschland Petrus Lotichius Secundus (1528-156o), nicht nur für die Zeitgenossen, sondern auch für Martin Opitz und über die Epoche hinaus »der Fürst aller Deutschen Poeten«. 37 Krankheitslyrik des oben umrissenen Spektrums nimmt in 36

Tibulls Gedicht ist vielfach behandelt; einen Überblick über die Forschung geben Christoff Neumeister: Tibull. Einführung in sein Werk. Heidelberg 1986; Niklas Holzberg: Die römische Liebeselegie. Eine Einführung. Darmstadt 1990, S. 61-86; vgl. auch den detaillierten Kommentar von Kirby Flower Smith: The Elegies of Albius Tibullus. Darmstadt 1971, spez. S. 232-262; zur Komposition des Gedichts vgl. im einzelnen H. Eisenberger: Der innere Zusammenhang der Motive in Tibulls Gedicht I., 3. In: Hermes 88 (1960), S. 188-197; C. Campbell: Tibullus: Elegy I. 3. In: Yale Classical Studies XXIII (1973), S. 147-157. - Zum thematischen Zusammenhang auch ergiebig Erhard Holzenthai: Das Krankheitsmotiv in der römischen Elegie. Diss, masch. Köln 1967, hier spez. S. 14-22.

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Zu den Ausgaben, zur Rezeption und zur Forschungslage mit der älteren Literatur grundlegend Bernhard Coppel: Bericht über Vorarbeiten zu einer neuen Lotichius-Edition. In: Daphnis 7 (1978), S. 55-106; zusammenfassend auch ders.: Lotichius Secundus, Petrus. In: Literatur Lexikon. Hrsg. von Waither Killy. Bd. 7. München 1990, S. 352f.

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Lotichius' Elegienzyklus einen beachtlichen Raum ein. Konzentrieren möchte ich mich hier auf die sechste Elegie des ersten Buches, gerichtet an den Freund und namhaften Gelehrten Michael Beuther. Lotichius' Elegie De se aegrotante läßt sich biographisch recht genau situieren; das Gedicht (erschienen 1551) nimmt Bezug auf die Erkrankung des Autors gegen Ende des Schmalkaldischen Krieges, an dem Lotichius als Soldat teilnahm (geschrieben ca. Mai 1547). 38 Hundert Jahre ungefähr trennen also die Schöpfungen des Humanisten und die des >barocken< Lutheraners Gryphius. Die Elegie gliedert sich in drei Teile (V. 1-20; 21-78, 79-102). Lotichius setzt ein mit Bildern der ungestörten, sinnenhaft erfreulichen Frühlingsnatur. Das sprechende Subjekt ist hier offenbar in poetischer Absicht noch nicht anwesend. Die Natur, mit Zügen des >locus amoenus< in ihrem Wandel vom Winter zum Frühling gezeigt, kontrastiert dem, was in der Geschichte geschieht: der Sphäre dessen, was Menschen tun und Menschen erleiden. Natur in ihrem gesetzlichen Gang wirkt friedlich; in ihr ist der Mensch geborgen, der sich als Bauer ihrem Walten anvertraut (V. 9f.). Scharf wird in abruptem Übergang (V. 10-11) an den Krieg als Zerstörung solcher Idylle erinnert, einer Idylle, die ästhetisch durch Anklänge an jene Pastoraldichtung symbolisiert ist, die seit Vergil und Tibull immer wieder Krieg und Bürgerkrieg als dunklen Hintergrund utopischer Entwürfe des Zusammenlebens einbezog. Wenn nach dieser Einleitung mit V. 21 f. die psychosomatische Erschütterung durch die Krankheit ausgesprochen wird, ist ein semantisches Feld geschaffen, das sich vom Darstellungsmuster des Gryphius markant unterscheidet: dort bestätigte sich in der Krankheit das Schicksal der natürlichen Welt, ihr Angelegt-Sein auf Zerstörung und Untergang. Hier rückt das Leiden in die Antithese zur Vergegenwärtigung natürlicher Harmonie und in Analogie zu einer vernichtenden Macht, die sich in der kollektiven Geschichte als Krieg darstellt. Mit V. 23ff. geht Lotichius - der Kenner assoziierte Tibull und seine

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Zitiert nach Burmann: s. Text, Übersetzung und Nachweise im Textanhang! Zum Biographischen vgl. Stephen Zon: Petrus Lotichius Secundus. Neo-Latin Poet. New York usw. 1983 (American University Studies. Series I, Vol. 13), S. 91-93. Einen Stellenkommentar bietet neben der Burmanniana und über sie hinausweisend auch Katherine Anne O'Rourke Fraiman: Petrus Lotichius Secundus. Elegiarum Liber Primus. Edited with an Introduction, Translation and Commentary. Diss, masch. Columbia University New York 1973, bes. S. 315ff. (Ein Jammer, daß diese wertvolle Arbeit nicht gedruckt ist!) Neben dieser Elegie wären andere Krankheitsgedichte in Lotichius' Elegienbücher heranzuziehen: vgl. I 7; III 6, bes. III 9 (Zählung nach Burmann). Nicht auszuschließen ist, daß Lotichius gerade mit seinen Krankheitsgedichten auf die späteren Neulateiner eingewirkt hat: so etwa auf Sebastian(us) Scheffer(us): Elegiarum Liber Secundus. El. I.: »De se aegrotante Lipsiae 1566«. In: ders.: Poemata. Frankfurt/M. 1572, S. 17-19; vielleicht auch schon auf Henricus Husanus: »Elegia, In festo Paschantis 1559. Patavii scripta, cum ibidem decumberet ardentissima febri« (Horarum Succisivarum [...], wie Anm. 33, El. I 7, S. 80v.-83). Freilich sind neben den antiken Anregungen auch die Beispiele des früheren Humanismus zu bedenken: Die verstreuten Hinweise in den drei Bänden Ellingers, wie Anm. 26, die leider nicht durch ein Sach- und Themenregister erschlossen sind, bieten vielerlei Anhaltspunkte für ergänzende Studien. Ich verweise exemplarisch auf Bd. I, S. 430 (Locher), 499ff. (Hadelius); Bd. II 26f. (Cordus).

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Nachfolger - auf sein Erleben, damit gleichzeitig aber auf den Motivkomplex >Krankheit und Tod in der Fremde< über. Das Thema >Krankheit< verschiebt sich zum Entwurf der eigenen, gewünschten, gelungenen Existenz: Aus der Situation, in der die Vernichtung des Ich droht, entsteht das poetische Phantasiebild sinnvoller Zukunft, einer Zukunft, die ungestörte Identität des Subjekts mit seinem Ideal, der Figur des gekrönten Dichters, verheißen sollte. Die Gewißheit des akuten Leidens und das Elend des maladen Soldaten sind so Signaturen vereitelten Glücks, einer um ihr Telos gebrachten Existenz. Bedacht wird ein Lebensweg, der sowohl ins Künftige projiziert als auch in die Vergangenheit, bis zur scheinbar nun täuschenden Weissagung des »norischen Greises« (J. Camerarius?) und der Gestirne zurückverfolgt wird. Lotichius erinnert an einen Anfang, der nicht mehr einholbar ist. Das Wiedersehen mit der Heimat (V. 43ff.) erscheint illusorisch. Krankheit erweist sich als die Krise der biographischen Selbstfindung, die das Leben als zielgerichtetes Kontinuum begreifen will. Mit V. 53ff. rückt in den Mittelpunkt, was bei Gryphius in religiöser Katechese ausgeblendet wurde: Die Sehnsucht und die Suche nach Heilung, Heilung seelischer Erschütterung zunächst durch die »Musen«, deren Gesang freilich in Fieber und Siechtum nur in der trauernden Klage der Nachtigall ihr symbolisches Äquivalent finden kann. Nur scheinbar steht die folgende Vorwegnahme des Todes, die Hinnahme der Wirkungslosigkeit aller Therapie, in Kontrast zum Verlangen nach Besänftigung der Emotionen. Der singende Dichter und der sich gegen den Tod nicht mehr sträubende Mensch (V. 7Iff.) rücken im Zeichen geistiger Souveränität in eine Figur zusammen. Lotichius schreibt über sich in der Rolle des Poeten und als Leidender und beschreibt sich ebenso als Leidenden, als Sänger und stoisch gefaßten Sterbenden. Das gelungene Gedicht in seinem antikisierenden ästhetischen Glanz, ja bereits im Vorgang der Entstehung, beweist die Unanfechtbarkeit der musischen Existenz: Es wird im Akt lyrischer Aussprache selbst zum >performativen< Argument für das, was gegenständlich zur Sprache kommt, die psychische Unanfechtbarkeit des Ich im Leiden, aber auch die Hoffnung des Dichters, die sich im Nachruhm erfüllen soll. Lotichius imitiert schließlich die pragmatische Form der Abschiedsrede: an den Freund, an die Mutter, auch die Form des testamentarischen Vermächtnisses (V. 7Iff.). Sozusagen als >Tibullus redivivus< schwenkt der Dichter ein auf die Vorstellung des Wanderers, der am Grabstein des Verstorbenen vorbeigeht, den der Freund gesetzt hat. 39 Jedoch nicht durch diesen Grabstein, der die Misere der Wirklichkeit, den Tod des Soldaten festhält, wird Nachleben verheißen und gewünscht, sondern im liebenden Gedenken der Nächsten: der Familie und der Freunde. Gerade als Abwesende sind sie gegenwärtig, denn die Krankheit als poetisch bewältigtes Ereignis ist der Moment höchster Vergewisserung und emotionaler Intensivierung des Ichs in der ganzen Spannwei39

Das fiktive Grabepigramm gehört zum geläufigen Repertoire der römischen Elegie: vgl. z.B. Prop. 11.13, 35f.; IV.7, 85f.; Tibull 1.3.54-56; Ovid Trist. III.3.73-76.

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te seiner Lebensbezüge. Indem dieses Ich ganz bei sich ist, auf seine Körperlichkeit zurückgeworfen, bewährt sich die Schöpferkraft des Dichters und gleichzeitig die moralische Integrität des Freundes und des Sohnes. Krankheitsgedichte dieser Art sind als Kunstwerke Symbol musischer Weltbewältigung und zugleich Indizien für die Energie des moralischen Subjekts. Dies gilt auch für die ästhetische Funktion des Krankheitsgedichts bei Gryphius, wobei hier allerdings die Rolle des souveränen Dichters in Widerspruch gerät zur religiösen Aussagedimension des Textes. Wenn alles eitel ist, warum schreibt der Heilsbedürftige anspruchsvolle Sonette? Warum predigt er nicht, warum schreit und mahnt er nicht? Der kranke Gryphius ist im Text nicht mehr der Dichter wie bei Lotichius, doch er ist immer noch der, der in der Rolle des Sterbenden virtuos zu dichten weiß. Ein Dilemma, das dem humanistischen Poeten erspart blieb. Gryphius dichtet und weint, Lotichius wehrt selbst die Tränen der Mutter ab (V. 86f.), denn der im Leiden noch Dichtende lebt weiter in der Dichtung des Freundes. Es liegt nahe und ließe sich - freilich nicht in dem hier gegebenen Darstellungsrahmen - nachweisen, daß zwischen Gryphius und Lotichius, also zwischen den polaren Möglichkeiten des Typus De se aegrotante, mancherlei Übergangsformen und Varianten, 40 auch Interferenzen zwischen lateinisch-elegischen und muttersprachlich-liedhaften Formen zu verfolgen wären. Sie würden die Entwicklung eines Genres erhellen, das - wie andere thematische Traditionen der lateinisch-deutschen Kultursymbiose der Frühen Neuzeit - mit der Fortdauer der lyrischen Sprechsituation zugleich die markante, epochenspezifische Verlagerung und Auswechselung von Motiven und Bedeutungsdimensionen ansichtig macht.

III Ausgeklammert wurde bisher das dem Anlaß nach verwandte, trotzdem aber in wichtigen Voraussetzungen zu unterscheidende Textcorpus der Pestgedichte und Pestlieder. Gegenüber dem bereits behandelten Lyriktypus haben wir es hier zu tun mit Straf-, Dank- und Bittgedichten, 41 daneben mit Trauerelegien 40

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So etwa die Verschränkung des Krankheitsthemas mit der Meditation des herannahenden Alters bei Paul Schede Melissus (1539-1602) in seinem Zyklus der »Acanthae« (»Dornen«); vgl. mit den Texten Eckart Schäfer: Die »Dornen« des Paul Melissus. In: Humanística Lovaniensia 22 (1973), S. 217-252, bes. S. 248ff. Eine zusammenfassende Darstellung dieser Lyrik, die ggf. auch die muttersprachlichen »Pestlieder« einbeziehen würde, existiert m.W. nicht und kann hier selbst in den Grundzügen nicht angedeutet werden. Im neulateinischen Bereich, für den die verstreuten Hinweise Ellingers, wie Anm. 26, ( B . l , S. 219, 421, 440, 482 usw.) zu verfolgen sind, haben wir es mit einer bisher kaum übersehbaren Fülle von Darstellungen und Anlässen zu tun, insofern meiner Beobachtung nach mehr als ein Drittel aller größeren Lyriksammlungen einschlägige Verstexte enthalten, wobei auch die Verarbeitung in den benachbarten Textsorten (Hodoeporicon, Lehrdichtung) zu beachten ist. Einzusetzen wäre beispielsweise im deutschen Frühhumanismus bei Conrad Celtis (Amorum. Lib. III, El. 14; Odarum Liber III, carm. 17); Gedichte an Maria und die Pestheiligen (vor allem St. Rochus) finden sich

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auf den Tod von Pesttoten, also mit Gedichten, die Strukturen des Epicediums aufnehmen, dabei bei aller Rücksicht auf Gattungskonventionen durchaus sehr persönlich gehalten sein können. 4 2 Zwingiis Pestlied, das die Situation des Kranken in seinem Mittelteil imaginiert, ist eine Ausnahme. Pestkranke schrieben selten, sie starben, und zwar meist sehr schnell. Dazu kommt ein anderer Differenzpunkt. Die Pest als Massenkrankheit, als universale Bedrohung, ging zwar den einzelnen an, war aber als Seuche, auch als Ursache anarchischer Auflösung der sozialen Ordnung, eine öffentliche Angelegenheit. Pestliteratur medizinischer (präservativer bzw. therapeutischer) oder geistlich-katechetischer Provenienz erfüllte ihre Aufgabe im Rahmen der guten >Policeyinstitutio vitaemalum physicum< in der Welt mit theologischen Aussagen über die Güte Gottes und seine Lenkung des Weltgeschicks vermittelt werden mußte. Auch der folgende Text, den ich noch in gebotener Kürze vorstellen will, umkreist die in der Pestliteratur virulenten Fragen. Nathan(ael) Chytraeus (1543-1598), seit 1564 Professor in Rostock und einer der wichtigen norddeutschen Späthumanisten,46 nennt sein Gedicht Epistola Satyrica, wohl nicht nur, weil er im Briefgedicht auf die Frage eines Freundes antwortet, sondern auch, weil er sich die stilistische Zwanglosigkeit der Versepistel und der Verssatire zu eigen macht. 47 Der Autor gibt sich »sorglos« (»securas«, V. 6), hingegeben Pest 1348 in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen. Hg. und übersetzt von Klaus Bergdolt. Mit einem Nachwort von Gundolf Keil. Heidelberg 1989; von literaturwissenschaftlicher Seite geben Einblicke in das literarische Wirken zu Pestzeiten Erich Trunz: Johann Matthäus Meyfart. [...]. München 1987, S. 64f., sowie ein sehr ergiebiges Kapitel bei Dick van Stekelenburg: Michael Albinus >Dantiscanus< (1610-1653). Eine Fallstudie zum Danziger Literaturbarock. Amsterdam 1988 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 74. Bd.), S. 259-334. - Einen Eindruck des Fach- und Gebrauchsschrifttums gewinnt man aus dem von Joachim Teile herausgegebenen Wolfenbütteler Ausstellungskatalog: Pharmazie und der gemeine Mann. 2. Aufl. Weinheim 1988, hier spez. S. 108-111. 44

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Vgl. - unter zahlreichen Darstellungen - Jürgen Grimm: Die literarische Darstellung der Pest in der Antike und in der Romania. München 1965 (Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie, Bd. 6). So die Elegie Heinrich Bebels: »Elegia hecastosticha pro institutione vitae suae peste grassante Tubingae«, abgedruckt bei Bebermeyer, wie Anm. 42, S. 32-35. Im Gegensatz zu seinem Bruder David Chytraeus ist N. Chytraeus bisher wenig beachtet worden; vgl. den Artikel von Fromm (ADB 4, 1876, S. 256), Baur bei Ersch-Gruber (1. Sektion, 17. Teil, S. 181) und Ernst Heinrich Rehermann (Enzyklopädie des Märchens Bd. 3, 1981, Sp. 25-29). Zu seinen Sammlungen von Hodoeporica vgl. Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung. Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritualia, Bd. 12), S. 13ff., 95ff., 464ff.; zu den lateinischen Fabeln Edgar Papp: Deutsche Fabeln um 1700. In: Zwischen Renaissance und Aufklärung. [...] Hg. von Klaus Garber und Wilfried Kürschner unter Mitwirkung von Sabine Siebert-Nemann. Amsterdam 1988 (Chloe, Bd. 8), S. 201-246, spez. S. 209-211; ferner Robert Peters: Variation und Tradition. Kleinwörter im »Nomenciator Latinosaxonicus« des Nathan Chytraeus. In: Niederdeutsches Wort 20 (1980), S. 147-177. Soeben erschienen: N. Chytraeus. Ausstellungskatalog. Bremen-Rostock 1991. Vgl. Quellenangaben, Text und Übersetzung im Textanhang! - Abgesehen von ersten Ansätzen zu Naogeorg (Hans-Gert Roloff) fehlen Arbeiten zur Geschichte der neulateinischen Verssatire in Deutschland, ja das Material ist bisher kaum gesichtet. Chytraeus' Begriff des »Satirischen«, hier mit dem Terminus der Vers-»Epistel« kontaminiert, umfaßt wohl nicht nur die aggressive Zielrichtung, sondern rekurriert wohl auch auf den alten Begriff der »satura lanx«, des poetischen »Mischmasch«, also die Freiheit, den thematischen Schwerpunkt zu wechseln. In den drastischsten Partien seines Gedichts spielt Chytraeus auf Horaz, Serm. 1. 8, 37f. an.

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den humanistischen Studien trotz der gleichsam als Belagerungssituation (V. I) 4 8 geschilderten Lage. Woher dieser Gleichmut? Ratlosigkeit und Angst vor dem Ausweichen in die Fremde treten unvermittelt an die Seite des Vertrauens auf Christus. Der kritischen Offenheit und dem realistischen Gegenstandsbezug der Satiretradition ist es wohl zu verdanken, daß das Gedicht nun eine unerwartete, im versgebundenen Pestschrifttum seltene Wendung nimmt (V. 19ff.). Die akute Bedrohung erscheint dabei nicht mehr als fatale Katastrophe oder als die über den Sündern geschwungene Zuchtrute Gottes; sie hat vielmehr mit menschlichem Versagen, mit einem Mangel an Rationalität und Vorsorge zu tun (V. 30f.). Chytraeus kontrastiert die an sich klimatisch günstige Lage Rostocks mit der Blindheit des »Volkes«. Nicht mehr der Erkrankte und der Verschonte, der Bleibende und der Fliehende bilden den typischen Kontrast, sondern die Antithese des Wissens und der Klugheit zum bornierten Schlendrian. Was nun folgt (V. 42ff.), zeichnet in krassen Zügen ein Genregemälde mangelnder öffentlicher Hygiene. Die Stadt, ja selbst - hier die Spitze des Dichters gegen die zur Vorsorge aufgeforderten öffentlichen Institutionen - Kirchen und Schule (V. 62, 65f.) sind wahrhaft ein übelriechender, von Unrat und Kot verseuchter »Schweinestall«. Die Stadt ist verseucht, weil sie eigentlich nur Vorstadt ist, ein System von Gewölben und Straßen, in denen nicht Menschen wohnen, sondern »Schweine«. Daß Chytraeus hier nicht nur auf Horaz, sondern auch auf drastische Texte der muttersprachlichen (»grobianischen«) Invektive zurückgreift, erscheint mir wahrscheinlich. Noch deutlicher ist die Tatsache, daß er als Humanist den Leitbegriff der >humanitashumanitas< und sozialer Wirklichkeit. Aus der >indignatio< über diese Diskrepanz erwächst die aggressive Haltung des Autors. Sie setzt sich fort im letzten Teil des Gedichts (V. 1 lOff.), in dem - ein höchst sensibler Argumentationsbereich - die theologische Deutung und Bewältigung der Seuche zur Sprache kommen. In offenkundiger Anspielung auf einen Rostocker lutherischen Geistlichen 49 attackiert Chytraeus borniertes Gottvertrauen, in dem Frömmigkeit zum Vorwand für Tatenlosigkeit verkommt. Mit der fiktiven Rede »Buffalions«, der den drohenden Tod in floskelhafter Katechese und mit billigen Trostparolen bewältigen will, wird eine Konvention geistlicher Rede gebrandmarkt, die außer Acht läßt, worauf Chytraeus Wert legt: Die Bedeutung der Kategorie des »Nützlichen« für die Steuerung menschlichen Handelns und die Synthese von wahrer Frömmigkeit und weltimmanenter »Klugheit« (V. 141: »prudentia sancta«). Das Publikum und der Angegriffene dürften bemerkt haben, daß Chytraeus in der Opposition von blindem Gottvertrauen und praktischer Sorgfaltspflicht der Verantwortlichen zum Teil wörtlich auf den >locus classicus< der protestantischen Pestliteratur anspielte, nämlich auf Luthers Behandlung der Frage Ob man vor dem Sterben fliehen möge (1527). 50 Luther hatte, in offenkundigen argumentativen Schwierigkeiten, eine Kasuistik der moralischen und sozialen Verpflichtungen für die von der Pest Betroffenen entwickelt, die Möglichkeit sozusagen regungs- und aktionslosen Gottvertrauens eingeräumt, aber nicht verabsolutiert. Im Schlußteil seiner Epistel entnimmt Chytraeus dem Lutherschen Gutachten die modellhaften Paradigmen und Paradoxa, an denen sich die natürliche Reaktion des Menschen und sein natürliches Recht auf Selbsterhaltung demonstrieren ließen. Der lutherische Prediger sollte mit den Waffen des Reformators geschlagen werden. 51 Die Erfahrung der Pest bildet für Chytraeus den Anstoß zur Änderung des privaten und öffentlichen Lebens, einer »emendatio vitae« (V. 175). Die Seuche ist kein Gegenstand frommer Meditation und geistlicher Exerzitien, sondern die Gelegenheit, den Freiraum auszumessen und durch die Tat zu bekräftigen, der dem einzelnen auf Grund seiner >humanitas< trotz der Unausweichlichkeit des Übels zukommt. Ob sich in dieser Haltung des Autors bereits Konflikte andeuten, die ihn später zur Konversion zum Calvinismus veranlaßten, wäre weiter zu überprüfen. 49

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Ich konnte ihn bisher aus der mir zugänglichen lokalgeschichtlichen Literatur nicht identifizieren. Ob Chytraeus' spätere Gegner, die ihn wegen »Kryptocalvinismus« vertrieben, zu der Zeit des Gedichts schon in Rostock wirkten, weiß ich nicht. In Frage kommen ggf. D. Schacht, Prof. der Theologie und Archidiakon an St. Marien, und Lucas Bacmeister, ebenfalls Theologieprofessor und Pastor an St. Marien; nach M. Krey: Andenken an die Rostockschen Gelehrten aus den letzten Jahrhunderten. Zweites Stück. Rostock 1815, S. 36-40, spez. S. 38. Vgl. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe. 23. Bd. Weimar 1901, S. 337-386 (mit den Anmerkungen). Vgl. ebd. S. 347 (der natürliche und biblisch gerechtfertigte Trieb der Selbsterhaltung); S. 352 (Vergleich mit dem brennenden Haus); S. 365 (Warnung, Gott nicht zu versuchen).

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Nicht nur für die Deutung der einzelnen Gedichte, sondern gleichermaßen für eine ordnende und historisch gewichtende Bestandsaufnahme der Leidensund Krankheitslyrik des deutschen Kulturraums in ihrer thematischen und formalen Bandbreite ist literatur- und mentalitätsgeschichtlich noch viel zu tun. Es dürfte klar geworden sein, daß globale Begriffsraster wie etwa die Subsumierung auch dieser Lyrik unter die Epochensignaturen des Konfessionalismus das komplexe literarische Bild des 16. und 17. Jahrhunderts verzerren.

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PETRUS LOTICHIUS SECUNDUS: Elegiarum Liber I, Elegia VI.: AD MICHAELEM BEUTHERUM: De se aegrotante

Zitiert nach: Petrus Lotichius Secundus: Poemata Omnia. Ed. Petrus Burmannus Secundus. Tom.I/II. Amsterdam 1754, hier Tom.I., S. 42-50 lam tepet a Zephyris iterum spirantibus aër, Blandaque purpurei tempora veris eunt. Fugit hiems adoperta gelu, Boreaeque furentis Frigore concretas Sol liquefecit aquas. Alma parens laeto se vestit cespite tellus, Arbor & umbrosas induit alta comas. Et nemorum solamen avis sub fronde latentem Unguibus & docili construit ore larem. Agricolamque seges molli delectat in herba, Heu seges hie domino non resecanda suo! Sed trucis hoc belli Vitium est, frugesque recentes Praedator celeri proterit Hunnus equo. Vere nitent sulci, ver mollibus utile pratis; Natus & aprici tempore veris Amor. Cultus ager pecori victum, custodibus umbram Sufficit herbosi vallis opaca soli. Dumque levi tenerum meditatur arundine carmen Pastor, & alternis ludit avena modis: Luxuriant saliuntque greges, & saepe canentis Rustica balatu carmina rumpit ovis. Interea tácitos calor ossibus excitât ignés, Ipsaque cum tota corpora mente vigent. Ergo erat, ut patriam (reditum si fata dedissent) Hiberno peterem non remorante gelu. Aut doctis viridi Musis operatus in aevo, Niterer ingenio nomen habere meo. Forsitan & nítidos olim pro casside crines Ambiret foliis laurus odora suis. Nunc iaceo cunctis defectus viribus aeger, Solus, in ignotis, miles inopsque locis. Omne perit iuvenile decus, totumque perurit Immensus lateris, non sine febre, dolor. Deficit & ducens vitales spiritus auras, Oraque vix praestant arida vocis iter. Scilicet haec moris dantur mihi signa propinquae. Viximus: exacto tempore, fata vocant.

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At non hoc olim puerum sperare iubebat Fatidico Celebris Noricus ore senex. Sed fore qui seros famam proferret in annos, Sacraretque alta nomen in arce suum. Astra fefellenint, primoque in flore iuventae Auferor. heu, fallax & breve vita bonum! Non mihi iam patriae superest spes ulla videndae, Manibus haec tellus est habitanda meis. Ergo nec in nota saltern regione quiescam, Nec monumenta meum corpus avita tegent? Qua pater ilicibus ripam praetexit & alnis Cythius, & leni murmurât unda sono. O mihi si gelidae, rigui de fonte petitus Acidis, has fauces haustus inundet aquae! Quam iuvat herboso versare in cespite corpus! O ripae medio dulce cubile die! Frigida Pegásides vestro date pocula vati, Utilis & rapido me levet igne liquor. Ferte salutíferas herbas, & si qua per orbem Gramina Paeoniis usibus apta virent. Me miserum, quanto succensus torqueor aestu! Quam rápidos ictus sentit utrumque latus! Nec cibus ora juvat, nec mulcet lumina somnus, Astra licet prono fessa Boote cadant. Cuneta silent, carpunt hominesque feraeque soporem, Densaque compositas occulit arbor aves. Sola dolet mecum, nostras imitata querelas, Et plenum gemitus dat Philomela sonum. Hortorumque sedens vicinis abdita ramis, Arguto varios intégrât ore modos. Carminibus sua fata levât felicior ales Daulias: invalido nil opis ilia ferunt. Nil artes herbaeque valent, succique potentes: Nil placidum coeli tempus & aura iuvant. Testor, amice, Deos, fortunatosque piorum Vos adeo manes, Elysiumque nemus. Non ego, quod rapior primis inglorius annis, Fata moror, quamvis vivere dulce foret. Tu facis, ah miseranda parens, tua serior aetas, Tempus in exiguum cur superesse velim. Ne tanti tibi morte mea sim caussa doloris, Et desolatae certa ruina domus. Si tarnen importuna feret m e Parca, leguntque Ultima fatales hic mihi fila Deae: Officium saltern tumulo largire supremum. Cum répétés patriae, culte poeta, solum. Ossaque praeteriens ne calcet operta viator, Fac lapis inscriptis indicet ilia notis. Et duo sint versus: HIC MILITIS OSSA SECUNDI, IPSAQUE, PRO PATRIA Q U A E TULIT, A R M A JACENT. Perfer & haec miserae mandata novissima matri, Ne violet lacrimis gaudia nostra suis. Nec tibi apud Superos sit vilis fama sepulti, Floreat in libris sed diuturna tuis. Illam post obitus, lucis solamen ademtae, Si mereor, ciñeres spem sine ferre meos. Tunc ego non Parió caesum de marmore bustum, Gentis odoriferae nec mihi dona velim.

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Sed laetus pietate tua, divisa beatis Manibus Elysii sancta vireta colam. Arentemque sitim relevans felicibus undis, Ipsius ex vitae fonte perenne bibam. Cara vale genetrix, & tu germane, sororque, Et memor absentis si quis amicus eris. Tuque loci, vates, consors natalis, & aegro Terra mihi patriae non repetenda, vale.

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Übersetzung nach: Des P. Lotichius Secundus Elegieen. Aus dem Lateinischen übersetzt von Ernst Gottlob Köstlin [...], herausgegeben von Friedrich Blum. Halle 1826, S. 29-35. Mild ist wieder die Luft von der Zephyrn laulichem Anhauch, Und in dem purpurnen Lenz wiegt sich die heitere Zeit; Winter entfloh von Gestöber umsaust; und alle Gewässer, Jüngst vom Norde gelähmt, thauen an feurigem Strahl. Lieblicher Rasen umhüllet die freundliche Mutter, die Erde, Und mit schattigem Laub ragt der gebreitete Baum; Vögel, die Wonne des Hains, bau'n nun mit geschmeidigem Schnabel Und mit der Klau, ihr Haus unter dem bergenden Zweig; Ackerer freun sich der Saat, die weich aufsprossend umherwallt. Ach! doch ernten sie hier nicht die gereifete Frucht. Folgt ja dem Kriege der Fluch! Da malmet der plündernde Hunne Mit dem getummelten Roß' nieder die keimende Saat. Frühling schimmert aus Furchen, und Frühling kleidet die Wiesen; Amors schlummernde Macht wecket der sonnige Lenz. Heerden erquicket saftreiches Gefild, und die Hüter im Thalgrund Ruhn auf kühligem Gras unter dem Schattengebüsch. Während der Hirt ein Lied auf schmächtigem Rohre sich aussinnt, Und zu der Flöte Getön mischet den hellen Gesang, Schwelgt frohtrippelnd die Heerd'; und oft durch hallende Lieder Drängt sich der heisere Laut blockender Lämmer hindurch. Aber indeß wühlt fiebrische Gluth durch meine Gebeine, Reget in Seel und Leib wechselnde Schauer empor. Hätt' ich die Heimath doch (so Geschick mir gönnte die Rückkehr) Auch kalt lähmenden Frost männlich bekämpfend, erstrebt! Wohl, vom Jüngling herauf ein Vertrauter belehrender Musen, Schuf ich in sinnendem Geist Werke für ewigen Ruhm; Oder ich trug vielleicht, statt eiserner Haube des Krieges, Lorbeers duftendes Laub über dem schimmernden Haar. Und nun lieg' ich erkrankt und gelähmt an den innersten Kräften Einsam, dürftig und fremd zwischen dem Lagergeräusch. Jugendglanz bleicht mählig dahin; bei herrschendem Fieber Quält mich unendlicher Schmerz, welcher die Seite durchglüht. Selber nach Luft, die stärkend belebt, ringt bänglich der Athem, Schwer drängt Stimme sich vor aus dem verstrockneten Mund. Sichere Zeichen fürwahr! des behend annahenden Todes. Habe gelebet! die Zeit endet, es ruft das Geschick! Aber der Norische Greis, der gefeierte, hatte dem Knaben, Zukunftahnend vordem andere Dinge vertraut. Sieh! verkündet' er mir, dich preisen die späten Geschlechter, Und dein Denkmal strahlt einst in der Halle des Ruhms. Und nun täuscht das Gestim, hin welk' ich im Lenze der Tage. Gabe des Lebens! wie kurz bist du, wie trügerisch nur! Jegliche Hoffnung schwindet, die Heimath wieder zu sehen: Künftig umirrt mein Geist diesen entfernten Bezirk. Also werd' ich auch nicht ausruhn in befreundeter Erde,

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Also decken auch nicht ahnliche Maale den Leib? Wo mein Vater gepflanzt Stecheichen an Cinthius Ufern, Der mit Erlen und Fluth holdes Gemurmel erregt. O daß Sprudel, geschöpft an bewässerndem Borne des Acis, Diesen vertrockneten Gaum letzten mit kühlendem Guß! Wie so behaglich, den Leib auf grasiger Wiese zu dehnen, Mittagsschlummer zu fahn neben dem säuselnden Bach! Musen! reicht den Pocal, den erquickenden, euerem Dichter, Daß dein Linderungs=Quell dämpfe die sengende Gluth; Reicht heilkräftige Pflanzen und einsam keimende Kräuter, Die Päonische Kunst suchet in Thal und Gebirg. Ich Elender verschmacht' an der dörrenden Flamme des Fiebers: Welch ein stechender Puls rieselt die Hüften hinab! Nahrung widert dem Gaum, kein Schlummer erquicket die Augen, Neige Bootes im Schwärm sinkender Steme sich auch. Ringsum Schweigen und Schlaf, hold Menschen und Thiere betäubend, Vögel, zur Ruhe gesellt, hegt der umlaubete Baum. Nur Philomela, mit mir zu gemeinsamem Kummer vereinigt, Zieht langstöhnenden Hall aus der beklommenen Brust; Sitzet versteckt in dem dichtesten Baum angränzender Gärten, Stets a u f ' s neue mit Macht schmetternd in wechselndem Ton. Klagruf mildert den Harm dem beglückteren Daulischen Vogel: Mir hinsiechendem, ach! schmeicheln die Lieder umsonst! Wirkungslos sind Kunst und Kraut und die edelsten Säfte, Unwohlthätig sogar Lenz und die kosende Luft. Mögen die Götter, o Freund! und die Manen verstorbener Frommen Und der Elysische Hain zeugen: ich sträube micht nicht, Auch in des Lebens Beginn, ruhmlos zu den Schatten zu wandern, Wünschte der Jüngling gleich, länger die Sonne zu schaun. Du nur wirkst, o Mutter! j a du Trostwürdige Greisin, Daß ich noch einige Zeit wünschte dem Leben zu weihn. Siehe, damit mein Tod nicht kränkenden Schmerz dir bereite, Nicht das verödete Haus sinke zu Trümmern dahin. Raffte die Parze mich hier feindselig, und drehten des Schicksals Göttinnen meines Gespinnst's äußersten Faden hinab: Letze sodann, zum Abschiedsgruß, mir den Hügel des Grabes, Wie du den Heimathgrund, lieblicher Sänger! betrittst; Und daß Wanderer nicht am Gebein hinschreiten mit Kaltsinn, Zeichne den Ort ein Stein, dem du die Worte vertraust, Nur zwo Zeilen: »das Grab des Lotichius. Neben der Waffe, Welche dem Lande gedient, schlummert der Krieger anitzt.« Melde du auch dies letzte Begehr der bekümmerten Mutter, Daß mit Thränen sie nicht unsere Freuden vergällt. Und dann ehre den Ruf des Verstorbenen unter den Menschen: M ö g ' er für und für blühen in deinem Gesang. Bin ich des Nachruhms würdig, des Trostes im düsteren Tode: O so schenke dem Staub diesen erquicklichen Trost! Und ich wünsche mir nicht aus Parischem Marmor ein Grabmal, Wollte des Weihrauchs nicht, welchen Arabien beut; Sondern bewohne sofort Elysiums heilige Fluren, Deiner beharrlichen Treu unten den Manen gedenk, Lösche den brennenden Durst aus heiterer Woge des Bornes, Welcher in seligem Thal ewig dem Leben entquillt. Mutter, gehabe dich wohl! Lebt wohl, o Bruder und Schwester! Und ihr Freunde gesammt, die ihr des F e m e n gedenkt. Heil dir Jugendgenoß, o Sänger, und dir du geliebte Heimath, die das Geschick sehnlichen Wünschen entrückt.

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CONTRA PESTEM EPISTOLA SATYRICA Ν ΑΤΗ ANIS CHYTRAEI [...] ROSTOCHII APUD IACOBUM LUCIUM Anno MDLXXIIX

Nach dem Einzeldruck; Exemplar in Konvolut der UB Freiburg, Signatur: D 8152 b; vorhanden auch in HAB Wolfenbüttel. Mit geringfügigen Abweichungen vor allem der Leseradresse auch abgedruckt in: Nathan Chytraeus: Poematum Praeter Sacra Omnium Libri Septendecim. Rostock 1579, S. 315-320. Zur Textwiedergabe: Der Wechsel von u/v und i/j ist normalisiert; ß erscheint als ss; Ligaturen und Abkürzungen sind mit Ausnahme von »&« aufgelöst. Zwei o f f e n k u n d i g e Druckfehler sind verbessert.

LECTORI CANDIDO S. Hic ego non unam gentemve urbemve, sed omnes Hoc ipso, si sint, nomine pungo reos. Non alios igitur, sed te quoque crede notari, Si labem hie videas, conscius ipse tuam. Quin illam emenda, licuit semperque licebit Parcere personis, dicere de vitiis.

NATHANIS CHYTRAEI EPISTOLA SATYRICA CONTRA PESTEM. AD D. ANTONIUM WITTERSHEMIUM, IC. CL. ET PATRONUM S. observandissimum. Dum lue pestifera circumdamur undique, & oras Nunc etiam nostras pestis primordia tangunt, Vis scire ecquid agam? Antoni carissime Musis, Astraeae Themidisque decus, Suadaeque disertae: Accipe, ni grave sit, studiis, velut hactenus, omni Conatu incumbo, securus caetera, quamvis Paulo post ad me ventura pericia videnti Neptunum procul e terra spedare furentem Forte esset satius. Sed quem fugiamve sequarve Nescio, tam late cirum haec contagio serpit. Praeterea aegrotare foris cum coniuge, natis Et teneris, homini quam sit grave, triste, dolendum, Cuivis credibile est. his caros adde libelles, Quis sine vitalem despero ducere vitam. Aequo igitur promptoque animo cum coniuge fida, Cumque libris, totaque domo, natisque manebo, CHristo uno fretus, custos qui maximus olim Ut potuit, sic in mediis defendere flammis Iam quoque vult poteritque suos. Veruntamen idem Torqueor interdum, nonnunquam rideo miros Hoc sub sole homines, satis expurgare cicutae Quos nullae poterunt. decimus vix labitur annus, Cum saevam, immanem, et solo sermone tremendam Experti pestem, heu aliquot millena per urbes Amisere hominum, tantum exsuperante veneno. Quin multos, qui nunc vivunt, aggressa, fideli Indignos medicorum opera indignosque salute, Restituì pestis passa est, ut postmodo nossent Cum sibi, tum patriae, carisque cavere propinquis. Sed nihil effectum est, antiqua incuria, (dura Molliter ut dicam) cunctos tenet, inde venenum Spernitur, & η i h il i est, patet atrae ianua pesti, Quandocunque volet certam hic sibi ponere sedem.

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Cur ita persuasum mihi sit, nisi displicet, audi. Optimus hic equidem est ipsisque Aquilonibus aër Pervius, & putridus non crebro obnoxius austris. Temperies coeli, ratione situsque locique Non culpanda foret, nisi stulti insania vulgi Ipsam se inficeret, cunctis rationibus aures Turpiter occludens, atque ingeniosa sagaxque Perniciem in propriam, servari velie negaret. Si libet aspicito plateas, quam sordibus illae Omnimodis sint infectae. iam putre cadaver Anseris, aut suis, aut felis, capraeve canisve Olfacies mane impransus. mictum atque cacatum Ex olidis multos cernes erompere cryptis, Una ubi cum porcis (quis non porcescere dicat) Sunt geniti, facti, educti, pascuntur ibidem Turpis harae indigenae a pueris ad sera senectae Tempora, communi sine sensu, & naribus orbi. Quas cryptas si praetereat quis mane, cloacae Halitus usque adeo taeter sentitur, ut ipse Miretur se non motu vel sensibus orbum Concidere, accepta ut plaga procumbit humi bos. Quod si olidis iterum obscoeni subiere cavernis, Pondere deposito; in vicis hinc inde trilibres Aspicies merdas, cognatis pabula porcis. Hinc vetula effundens lasanum f u m o s a loquaxque Prodit, & indigno refugit foetore relicto. Procede ulterius, iam te lutulenta premet sus, Iam vacca aut hircus. quin ipsis denique templis, Inque sepulchretis porcos errare videbis, Et voripernarum tumulos atque ossa (nefandum) Impune eruere, ut clades mortesque suilli Sic ulciscantur generis, quid docta lycea Iam tibi commemorem, quid castas Palladis arces? Sub quibus impuros turpes iam pascere scrofas Non pudet, usque adeo porcis sunt omnia plena, Excipiasque nisi bípedes, evicero, non tot Esse homines hie quot porci, numerare licebit, (Quid rides?) me si dubites tibi dicere verum. Crede mihi, invenies, teque ipso iudice, multos, In quis, nil hominis, praeter vocemque oculosque Agnosces, corpusque illos sine pectore dices. Quin porcis mage degeneres quandoque videbis Non paucos. nam porcellos scrofa ipsa putatur Quos peperit, sic complecti, & constanter amare, Ut flammas quoque per medias, per tela, per enses Irritata ruat, si quis fortasse tenello Vi noceat catulo. Verum hi, mirabile, porci, Quos bípedes modo dicebam, sine corde, voracem Exosi sobolem ablegant, o turpe relatu! In loca pestifera, ut citius lethale venenum Imbibere, atque mori possint, patresque levare Impensis, quas turba fami indignata requirit. Verum si natos ista ratione liceret Tollere, cur illos idem non reste vel ense, (Tantundem est) tollis? minor est cruciatus in illis, Et mortis brevior via, quam si peste peribunt. O infelices cerebri, quos ipse Melampus Cum tribus Anticyris nulla sanaverit arte!

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Verum de porcis haec hactenus. altera labes Hanc sequitur, non dissimilis par paene priori: Quod pestis quoque cum rabies mire effera saevit, Nilominus tarnen in templis extraque sepulchra Extinctis statuunt, plenisque cadavera acervis Accumulant; templum est cunctos commune sepulcrum. Atque adeo qui non sacram tumulatur ad aram, Is coelo excludi quoque creditur. ergo sepulcra In templis effossa patent noctesque diesque: Iuxta homines supraque sedent, dum sacra frequentant. Saepe etiam, quos non aliquot videre per annos, Correptos peste invisunt, ultroque salutant. Si velit ipsa Salus nequeat servare saluti Infensos propriae. vere sic mortua vivam Turba vorat: totis luctatur fuñera vicis: Campanum sonat aes semper, pluresque subinde Allicit admonitu, pallentes morte futura, Ut totam paulatim urbem Libitina peragret. Verum Buffalion, sapientum octavus, & inter Coecos non lusco absimilis, cum pestis inaudit Sic meminisse alios, irritamenta veneni Ut tollenda putent, neglecta incendia vires Sumere quod videant, non restinguenda labore Quantumvis magno, scintillam extinguere primam Cum minimus possiti cum, dico, talia inaüdit Octavus sapiens, barba trepidante profatur: Cur me pestiferis properas arcere venenis? Nil opus est. Deus ipse suos custodiet, etsi Porcorum in stabulis degant, mediisve cloacae Latrinis. quem mors atris circumvolat alis Concedente Deo, nullum hune apotheca, vel ullae Mundiciae poterunt subducere, terminus il li A fato fixus nulla evitabilis arte est. Usque adeone mori miserum? mors ultima meta Imponit curis finem finemque labori, Quam qui sustinuit praesenti peste peremptus, Hune neque dira fames, nec Turcicus auferet ensis, Non laterum dolor, aut tussis, non curva podagra. Dii tibi dent libram ellebori, si forte recuses; Dent pro sermone hoc tria tintinnabula calvo Gestamen capiti, cui tantum subsit acumen. Nil opus est risu, talem fert iure corollam, Qui sequitur nocitura, fugit, quae profore cemit. Attamen interea sapientum octave, roganti Auscultare mihi non sit grave, paucula dicam. Vult Deus & servare potest, Deus ille Deorum Omnipotens, qui cuncta videt, qui cuncta gubernat, A mediis non dependens causisque secundis. Quis negat hoc? nemo, verum Deus optimus idem Vult etiam ut quaedam prudentia sancta periclum Declinet, non ut mediis iustisque piisque (Namque hi se indignos plane divina ope reddunt) Neglectis, vel de celsae te vertice turris Deiicias, cum per scalas descendere possis. Non pedibus te vult fluvios transiré lacusque, Scapha tibi aut pontes cum sint: non denique rupem Aut fossam te vult praeter non ire patentem Sed te praecipitare, licet vicinia clamet,

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Wilhelm Kühlmann Hic fossa est ingens, hic ñipes maxima, cepto Tramite desiste, & certum non quaere periclum. Num, si aliquando tuum Vulcanus scandere tectum Incipiet, veterem fiamma incendente culinam, Dum ruere atque omnes ignem restinguere cernes, Tu superis fretus, socors segnisque sedebis, Aut etiam magno insanus clamore vetabis, Ne dextram admoveant operi, quando omnia possint Numina neglecto nobis praebere labore. Pulchre equidem sapies, lacrymoso non sine fine. Quid faciunt aliud? qui nullo muneris ipsos Urgente officio, nullo cogente, venenis Mortiferis sese obiiciunt, cum vivere possint. Si tamen illa animosa fides in pectore regnat O sapiens octave tuo, ut vel sponte perire Sic libeat: licitum esto tibi, non patria magnam Iacturam faciet tali pereunte cuculo. Invitum servare nefas, morere ergo libenter, Dum solus pereas, nec totam audaculus urbem Exemplo inficias pravo dictisque silendis. Haec tibi dictabam, merito celebrande patrone, Cum nuper primae lethalia semina pestis Hic sese exererent, paullatim & spargere virus Latius inciperent. quod nunc tamen optimus ille AEternusque parens miro compressit amore. Aut potius, nisi nos vitam emendemus, in horas Distulit haud multas, tu quae tibi mitto benigno Accipe & humano, velut accipis omnia, vultu. ROSTOCHII, Ibid. Novemb. ANNO M. D. LXXVII.

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Übersetzung (für Mithilfe danke ich Herrn Robert Seidel). Dem geneigten Leser einen Gruß. Hier bezeichne ich nicht ein Volk oder eine Stadt, sondern alle, wenn sie es denn sind, mit diesem und keinem anderen Namen: Schuldige. Glaube daher nicht, nur andere seien gemeint, sondern fühle dich ebenso angesprochen, wenn du selbst hier, schuldbewußt, deinen eigenen Makel siehst. Beseitige ihn vielmehr; es war immer erlaubt und wird immer erlaubt sein, die einzelnen zu schonen, aber über ihre Fehler zu sprechen! Während wir auf allen Seiten von einer verderbenbringenden Seuche umgeben sind und schon jetzt die ersten Ausläufer der Pest unser Land berühren, willst du wissen, was ich da mache, Anton, Liebling der Musen, Zierde der Astraea und Themis und der gewandten Suada? (5) Vernimm dies, wenn es dir nicht lästig ist: Den Studien bin ich wie bisher mit allem Eifer hingegeben, im übrigen sorglos, obgleich es vielleicht besser wäre für mich, der ich die Gefahr bald schon herannahen sehe, fem von diesem Lande dem wütenden Neptun zuzusehen. Doch wen ich fliehen oder wem ich folgen soll, (10) weiß ich nicht, so weit breitet sich die Seuche schon ringsum aus. Außerdem: In der Fremde krank zu sein mit der Gattin und den zarten Kleinen - wie schlimm, wie traurig, wie schmerzlich das für einen Mann ist, kann jeder verstehen. Nimm dazu die lieben Büchlein, ohne die ich am wahren Leben verzweifle. (15) Daher werde ich gleichmütigen und bereiten Sinnes mit der treuen Gattin, mit den Büchern, dem ganzen Hausstand und den Kindem hierbleiben, allein auf Christus vertrauend, der, wie er es einst vermochte, so auch nun als der große Beschützer die Seinen inmitten der Flammen schützen will und kann. Aber dennoch (20) ärgere ich mich auch bisweilen, und manchmal lache ich über die seltsamen Menschen unter diesem Himmel, die kein Schierling hinreichend wird kurie-

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ren können. Kaum vergeht das zehnte Jahr, seitdem sie die wilde, rasende und schon bei der bloßen Erwähnung zittern machende Pest erfahren und - ach - Tausende von Menschen in ihren Städten (25) verloren haben, und nur die Seuche obsiegte. Ja sogar viele von denen, die jetzt noch leben, hat sie angegriffen - unwürdig sind sie der treusorgenden Hilfe der Ärzte und unwürdig der Rettung - und hat es gestattet, daß sie wiederhergestellt würden, damit sie es später verstünden, für sich selbst, für die Heimat und die lieben Angehörigen Vorsorge zu treffen. (30) Aber nichts ist erreicht worden, die alte Sorglosigkeit - daß ich Schlimmes mit milden Worten sage! - hält alle gefangen. Daher wird die Seuche mißachtet und gilt für nichts, die Tür steht der schwarzen Pest offen, wann immer sie sich hier ein festes Lager aufschlagen will. Warum ich davon überzeugt bin, das vernimm, wenn es dir nicht mißfällt: (35) Das beste Klima herrscht hier, es läßt selbst die Nordwinde herein und ist dem fauligen Süd nicht häufig ausgesetzt. Die Wetterverhältnisse wären von der Beschaffenheit der Lage und des Ortes her nicht verantwortlich zu machen - wenn nicht das Volk in seinem törichten Wahnsinn selbst die Ansteckung vorantriebe, die Ohren vor allen Vernunftgründen (40) schmählich verschließend, und überschlau und besserwisserisch in sein eigenes Verderben stürzte und es ablehnte, sich retten zu lassen. Wenn es dir recht ist, so schau die Straßen an, mit wie vielfältigem Schmutz sie verseucht sind. Schon wirst du den faulenden Leichnam einer Gans oder eines Schweins riechen, einer Katze, eines Hundes oder einer Ziege - (45) morgens vor dem Frühstück! Du wirst viele sehen, die zum Pissen und Scheißen aus den stinkenden Gewölben hervorkommen, wo sie zusammen mit den Schweinen gezeugt - wer wollte nicht sagen: »zu Schweinen gemacht«? - , hervorgebracht, aufgezogen worden sind und sich ebendort auch ernähren, Bewohner eines schändlichen Kobens, von Kindheit an (50) bis in die spätesten Zeiten des Alters, ohne Gemeinsinn - und ohne Nasen! Wenn an diesen Gewölben einer morgens vorübergeht, zieht ihm solch ein widerlicher Geruch in die Nase, daß er sich wundert, nicht der Bewegung und der Sinne beraubt zusammenzubrechen, so wie ein Rind, das einen Schlag bekommen hat, auf die Erde fällt. (55) Wenn die schmutzigen Kerle dann wieder in ihre stinkenden Keller schleichen, nachdem sie ihren »Ballast« abgeworfen haben, dann wirst du in den Gassen überall drei Pfund schwere Scheißhaufen sehen, Futter für die Schweine, ihre Verwandten! Dort kommt eine verräucherte und geschwätzige Vettel hervor, leert ihren Nachttopf aus und verschwindet, ekligen Gestank zurücklassend. (60) Geh weiter, bald stößt dich ein kotbeschmiertes Schwein, bald eine Kuh oder ein Bock. Ja selbst in den Tempeln schließlich und auf den Friedhöfen wirst du Schweine umherlaufen und in den Gräbern und Knochen der Schinkenverzehrer - scheußlich! - ungestraft herumgraben sehen, (65) die sich so für das Töten und Schlachten des Schweinegeschlechtes rächen wollen. Was soll ich dir noch von den gelehrten Schulen berichten, was von den reinen Burgen der Pallas, vor denen die schändlichen Kerle sich nicht mehr scheuen, ihre schmutzigen Säue weiden zu lassen; so sehr ist alles von Schweinen voll. Und wenn du nicht die zweifüßigen (sc. Schweine) ausnimmst, werde ich dir beweisen, (70) daß es hier nicht so viele Menschen gibt wie Schweine. Du magst nachzählen - was lachst du? - wenn du daran zweifelst, daß ich dir die Wahrheit sage. Glaub mir, du wirst, auch wenn du selbst urteilst, viele finden, in denen du nichts von einem Menschen erkennst außer Stimme und Augen, und du wirst sagen, diese seien Körper ohne Seele. (75) Ja du wirst zuweilen nicht wenige finden, die noch verkommener als Schweine sind. Denn man sagt, daß selbst eine Sau die Ferkel, die sie geboren hat, so entschlossen umsorgt und liebt, daß sie sogar in ihrer Wut mitten durch Feuer, Geschoßhagel und Schwerter stürzt, wenn einer vielleicht ihrem Jungen (80) Gewalt antun will. Aber diese Schweine hier - nicht zu glauben - die ich gerade zweifüßig genannt habe, hassen auf herzlose Weise ihre »gefräßigen« Kinder und schaffen sie - wie furchtbar zu berichten! - an verseuchte Orte, damit sie schneller die todbringende Seuche aufnehmen und sterben und die Väter von den Ausgaben befreien, (85) die die kleine Schar, den Hunger verachtend, fordert. Aber wenn es erlaubt wäre, die Kinder auf diese Weise zu beseitigen, warum beseitigst du sie nicht gleich mit einem Strick oder einem Schwert - das ist ebensoviel. Kleiner ist die Qual mit diesen, und der Weg zum Tode ist kürzer, als wenn sie durch die Pest zugrundegehen. (90) O ihr Verstandesberaubten, die selbst ein Melampus mit drei Anticyras wohl durch keine Kunst heilen dürfte! - Doch soviel über die

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Schweine; eine andere Verseuchung folgt dieser, nicht unähnlich der vorigen, ja ihr sogar fast gleich. Weil man nämlich, auch wenn das Wüten der Pest überall rast und tobt, (95) nichtsdestoweniger in den Kirchen und davor den Dahingerafften Gräber errichtet und die Leichname auf große Haufen stapelt, deshalb ist die Kirche für alle ein gemeinsames Grab. Und wirklich: Wer nicht bei dem heiligen Altar begraben wird, der, so glaubt man, wird auch vom Himmel ausgeschlossen. (100) Also stehen in den Kirchenbezirken die ausgehobenen Gräber Tag und Nacht offen. Davor und daneben sitzen die Menschen, die den Gottesdienst besuchen. Oft suchen sie auch die, die sie jahrelang nicht gesehen haben, auf, nachdem sie von der Pest dahingerafft sind, und entbieten ihnen freiwillig den letzten Gruß. Selbst die Göttin der Gesundheit könnte, auch wenn sie wollte, diejenigen nicht retten, (105) die ihre eigene Gesundheit bekämpfen. So verschlingt in der Tat die Schar der Toten die der Lebenden: In allen Gassen kämpft der Tod. Das Erz der Glocken erklingt immerzu, und immer mehr Menschen, bleich vom bevorstehenden Tod, lockt es mit seiner Mahnung an, so daß Libitina allmählich durch die ganze Stadt zieht. (110) Doch als Buffalion, der achte der Weisen und unter Blinden einem Einäugigen nicht unähnlich, davon hört, daß andere über die Pest so reden, daß sie glauben, der Herd der Seuche müsse beseitigt werden, weil man sehe, daß vernachlässigte Brände an Gewalt zunähmen und durch keine (115) noch so große Mühe zu löschen seien, während den ersten Funken schon die kleinste Anstrengung ersticken könne - als, sage ich, der achte Weise dies hört, spricht er mit bebendem Bart: »Warum beeilst du dich, mich von der todbringenden Seuche fernzuhalten? Das braucht es nicht. Gott selbst wird die Seinen beschützen, (120) auch wenn sie in Ställen leben oder mitten in den Abwasserkanälen. Wen der Tod mit Zustimmung Gottes auf schwarzen Flügeln umflattert, den werden nichts, keine Apotheke und keine feinen Kniffe, ihm entziehen können, dem Ende, das ihm vom Schicksal gesetzt ist, kann man durch keine Kunst ausweichen. (125) Ist denn Sterben so ein Unglück? Der Tod, die letzte Wegmarke, setzt den Sorgen und der Mühe ein Ende. Wer ihn erleidet, von der gegenwärtigen Pest dahingerafft, den wird nicht bitterer Hunger und nicht das türkische Schwert töten, nicht der Schmerz in der Brust, nicht der Husten und nicht die lähmende Podagra.« (130) Die Götter mögen dir ein Pfund Nieswurz gegen den Wahnsinn geben. Wenn du das aber ablehnst, sollen sie dir für diese Worte drei Schellen als Zierde für deinen kahlen Kopf geben, in dem solch ein Scharfsinn ist. Da gibt es nichts zu lachen, einen solchen Ehrenkranz trägt mit Recht, wer dem Schädlichen folgt und vor dem flieht, was er als nützlich erkennen muß. (135) Dennoch, mein achter Weiser, möge es dir einstweilen nicht lästig sein, mir, der ich darum bitte, zuzuhören; ich will etwas Weniges sagen: Gott will und kann retten, jener allmächtige Gott der Götter, der alles sieht und alles lenkt und von Zweit- und Zwischengründen nicht abhängig ist. (140) Wer streitet das ab? Niemand. Doch der beste Gott will ebenso auch, daß eine gewisse f r o m m e Klugheit die Gefahr ablenkt, und nicht, daß du, rechtschaffene und fromme Mittel vernachlässigend - denn solche Menschen machen sich der göttliche Hilfe völlig unwürdig - (145) dich von der Spitze eines hohen Turmes hinabstürzt, wenn du über die Treppe hinuntersteigen könntest. Er will nicht, daß du mit den Füßen Flüsse und Seen überquerst, wenn dir ein Kahn oder Brücken zur Verfügung stehen. Endlich will er auch nicht, daß du an einem Abgrund oder einer offenen Grube nicht vorübergehst, sondern dich hineinstürzt, obgleich die Herumstehenden rufen: (150) »Da ist eine große Grube, da ein gewaltiger Abgrund, laß ab von dem eingeschlagenen Weg und suche nicht die sichere Gefahr!« Wirst du etwa, wenn einmal Vulkan dein Dach zu besteigen beginnt und die Flamme die alte Küche in Brand steckt, wirst du dann, während du alle heranstürzen und das Feuer löschen siehst, (155) den Göttem vertrauend, sorglos und untätig herumsitzen oder gar - Wahnsinniger! - mit großem Geschrei verbieten, Hand ans Werk zu legen, weil die höheren Mächte uns ja alles ohne eigene Mühe gewähren? Da wirst du schön verständig sein, doch nicht ohne Tränen am Ende! - (160) Was tun aber anderes diejenigen, die, ohne daß eine Verpflichtung dazu sie drängt und zwingt, sich der todbringenden Seuche entgegenwerfen, obwohl sie leben könnten? Wenn aber dennoch dieser glühende Eifer in deiner Brust herrscht, du achter Weiser, daß es dir also beliebt, sogar freiwillig zugrunde zu gehen: (165) Das sei dir erlaubt. Keinen großen Verlust wird die Heimat erleiden, wenn ein solcher Gimpel untergeht. Einen gegen seinen Wil-

Selbstverständigung im Leiden

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len zu retten ist Unrecht, stirb also mit Freuden, wenn du nur allein stirbst und nicht Waghalsiger! - die ganze Stadt mit deinem schlechten Beispiel und deinen unseligen Reden ansteckst. (170) Dies habe ich dir diktiert, mein zu Recht verehrenswiirdiger Förderer, als seit einiger Zeit die ersten tödlichen Keime der Seuche sich hier zeigten und die Ansteckung weiter zu verbreiten begannen. Diese hat nun aber doch jener beste, ewige Vater mit seiner unglaublichen Liebe unterdrückt (175) oder vielmehr, wenn wir nicht unsere Lebensverhältnisse verbessern, für wenige Stunden aufgeschoben. Du aber nimm, was ich dir schicke, mit gütigem und freundlichem Blick auf, so wie du alles aufnimmst. Rostock, den 13. November 1577

Dietrich

von

Engelhardt

Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Medizin und Literatur im Zeitalter des Barock

I.

Historische Hintergründe

Das Verhältnis zwischen Medizin und Literatur reicht bis in die Antike zurück und hat seit jener Zeit zahlreiche Veränderungen in Umfang, Modus und Intensität erfahren. 1 Die Ursachen dieser Veränderungen liegen in der Geschichte der Medizin, in der Entwicklung der Literatur wie im Wandel der Wirklichkeit. Zugleich lassen sich über Struktur und Aspekte dieses Verhältnisses einige übergreifende Aussagen machen, die in dieser Studie im Blick auf das Zeitalter des »Barock« vorgetragen werden sollen. Hintergrund des Verhältnisses zwischen Medizin und Literatur ist die allgemeine Entwicklung der Beziehung zwischen Kunst, Wissenschaft und Wirklichkeit. Die Medizin der Renaissance wird ebenso von Impulsen in der Literatur und in den Künsten angeregt, wie sich die Literatur und die Künste von der Medizin anregen lassen. Leonardo da Vinci, Raffael, Michelangelo, Dürer studieren für ihre Gemälde und Zeichnungen die Anatomie des tierischen und menschlichen Körpers. Boccaccio gibt im Decamerone (1349/53) nicht nur eine medizinisch-sozialkulturelle Beschreibung der Pest, die Flucht vor dieser Seuche läßt zugleich die literarischen Erzählungen entstehen. Der Mediziner Fracastoro verfaßt 1530 sein berühmtes Lehrgedicht über die Syphilis und veröffentlicht neben weiteren Gedichten die kunsttheoretische Studie Naugerius, sive de poetica dialogas (postum 1555). Im 17. Jahrhundert gewinnt das Verhältnis von Medizin und Literatur neue Züge. 2 Abbildung der Realität gilt nicht mehr als das oberste Ziel der Kunst; Vgl. allgemein: Léon Binet u. Pierre Vallery-Radot: Médecine et littérature. Paris 1965; Fred A. Dudley: The literature and science: a selected bibliography 1930-1967, Ann Arbor 1968; Dietrich v. Engelhardt: Medizin in der Literatur der Neuzeit. I. Darstellung und Deutung. Hürtgenwald 1991; Lieselotte Fauler: Der Arzt im Spiegel der deutschen Literatur vom ausgehenden Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Freiburg i.Br. 1941; Luis S. Granjel: Medicos novelistas y novelistas medicos. Salamanca 1973; Gerhard Irle: Der psychiatrische Roman. Stuttgart 1965; Norman Kiell: Psychiatry and psychology in the visual arts and aesthetics. A bibliography. Madison 1965; Joanne Trautmann u. Carol Pollard: Literature and medicine: topics, titles and notes, Philadelphia 1975. Vgl. für die Zeit des Barock Christine Ottilie Hedwig Albert: Leiderfahrung und Leidüberwindung in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Phil. Diss.München 1956; Carl Joachim Classen: Barocke Zeitkritik in antikem Gewände. Bemerkungen zu den medizinischen Satiren des »Teutschen Horatius« Jakob Balde S. J. In: Daphnis 5 (1976), S. 67-125; Henri Couléon: L'étrange folie de Don Quichotte: Cervantes et la psychia-

Literatur im Zeitalter des Barock

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Analogien, Metaphern, Hyperbeln, Paradoxien, Antithesen sollen Entlegenes in Verbindung setzen, sollen die physische Welt transzendieren. Dichter greifen medizinische Themen in ihren Werken auf, geben ihren Schriften medizinische Titel (John D o n n e : Anatomie of the World, 1611) und stellen den Streit der Fakultäten und Künste um die höchste Position in der Welt des Geistes dar »Competían las Artes y las Ciencias el soberano título de reina, sol del entendimiento y augusto emperatriz de las letras«, 3 heißt es im Criticón ( 1 6 5 1 - 5 7 ) des Baltasar Gracián. S e l b s t b e w u ß t wird in d i e s e m E s s a y v o n der M e d i z i n gefragt, w a s an Wert über d e m L e b e n und der Gesundheit stehe: » S e ñ o r e s míos, aquí no va menos que la vida. Qué vale todo sin salud?« 4 V o n dem Arzt und Dichter T h o m a s Bartholin erscheint 1 6 6 9 die Studie De medicis poetis, die 2 0 0 Jahre später in einer französischen Übersetzung erneut publiziert wird. Dichtkunst erklärt Bartholin für die Ärzte für e b e n s o nützlich wie angenehm: » P o e s e o s Studium non alios magis quam M e d i c o s afficit, s i v e utile expendas sive jucundum«. 5 trie. In: Annales Médico-Psychologiques 122 (1964), S. 555-566; Klemens Dieckhöfer: Vernunft und Narrheit: zur Psychopathologie im Werk Cervantes. In: Deutsches Ärzteblatt 72 (1975/76), S. 1380-1381; Wolfgang Eckart: Medizinkritik in einigen Romanen der Barockzeit - Albertinus, Grimmelshausen, Lesage, Ettner. In: Heilberufe und Kranke im 17. und 18. Jahrhundert: die Quellen- und Forschungssituation, hg. v. Wolfgang Eckart u. Johanna Geyer-Kordesch. Münster 1982, S. 49-75 (= Miinstersche Beiträge zur Geschichte und Theorie der Medizin, Nr. 18); Oswald Feis: Paul Fleming und seine Beziehungen zur Medizin. In: Sudhoffs Archiv 9 (1916), S. 185-199; Isidor Fischer: Die Heilkunde bei Hans Sachs. Wien 1937 (= Wiener Medizingeschichtliche Beiträge 3); Aliene S. Goodman: Explorations of a baroque motif: the plague in selected 17th-century English and German literature. Phil, diss., Univ. of Maryland 1981; Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966; Edith Ites: Grimmelshausen als Quelle für medizinische Vorstellungen und Erfahrungen seiner Zeit. Med. Diss. Münster 1944; C. Stephen Jäger: Grimmelshausen's Jupiter and the figure of the learned madman in the 17th Century. In: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen Gesellschaft 3 (1981), S. 39-64; Joseph Knepper: Ein deutscher Jesuit als medizinischer Satiriker. Zum Jubiläum Baldes am 4. Januar 1904. In: Archiv für Kulturgeschichte 2 (1904), S. 38-59; Barbara Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. München 1966; Leopold Kretzenbacher: Die Legende vom heilenden Schatten. Grundlagen, Erscheinungsformen und theologische Funktion eines Erzählmotivs. In: Fabula 4 (1961), S. 231-247; Wilhelm Leschmann: Die Psychopathologie des Cervantes. Ein Versuch ihrer Darstellung auf kulturgeschichtlicher Grundlage. In: Zeitschrift für Neurologie 160 (1938), S. 767-792; U. Neuburger: Jakob Baldes medizinische Satiren. In: Wiener Medizinische Presse (1905), S. 341-347; Klara Obermüller: Studien zur Melancholie in der deutschen Lyrik des Barock. Bonn 1974; Albert Richard Riep: Krankheit, Medizin und Arzt in den Werken Grimmelshausens. Phil, diss., Indiana Univ. 1966; Artur Hermann Scheunert: Arzt, Krankheit und Kurpfuscherei in den medizinischen Satiren von Jacobus Balde S. J. (1604-1668). Med. Diss. Freiburg i. Br. 1967; Heinz-Günther Schmitz: Phantasie und Melancholie: barocke Dichtung im Dienst der Diätetik. In: Medizinhistorisches Journal 4 (1969), S. 210-230; Wilhelm Weygandt: Don Quijote des Cervantes im Lichte der Psychopathologie. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 154 (1936), S. 159-185; Anneliese Wittmann: Kosmas und Damian im Jesuitendrama des deutschen Sprachraumes. In: Sudhoffs Archiv 41 (1957), S. 223-243. 3 4 5

Baltasar Gracián: El Criticón. Barcelona 1972, S. 278. Gracián, wie Anm. 3, S. 279. Thomas Bartholin: De medicis poetis. Kopenhagen 1669. S. 1.

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Dietrich von Engelhardt

Von den Naturwissenschaftlern und Medizinern der Aufklärung werden die Unterschiede zur Literatur und den Künsten zwar stärker betont, aber auch sie heben sinnvolle Möglichkeiten gegenseitiger Beeinflussung hervor. Buffons Discours sur le style (1753) findet bei Literaten, Philosophen und Naturforschern seiner Zeit gleichermaßen Beachtung. Haller ist Naturforscher, Mediziner und Dichter, seine Gedichte greifen Themen der Natur auf - berühmt wird das Lehrgedicht Die Alpen (1732) - , seine Urteile über literarische Werke sind naturwissenschaftlich beeinflußt. Der Chemiker, Mediziner und Professor der Dichtkunst Jakob Reinbold Spielmann hält 1756 an der Straßburger Universität eine Rede über den Nutzen der Literatur für die Medizin. Naturwissenschaftliche und medizinische Erkenntnisse werden den Gebildeten in öffentlichen Vorlesungen nahegebracht. Mit der Popularisierung verwischen sich die Grenzen zwischen Literatur, Wissenschaft und Wirklichkeit. Auf die Identität neben aller Differenz von Kunst, Medizin und Leben wird von den Dichtern und Künstlern, Philosophen und philosophisch beeinflußten Medizinern und Naturforschern der Klassik und Romantik um 1800, die nicht selten - wie zum Beispiel Schubert, Carus und Heinroth - selbst literarische Werke verfassen oder malen, großer Wert gelegt. Nach Novalis sollen die Grenzen zwischen den Disziplinen überwunden werden, soll jeder Mensch zugleich Arzt sein: »Der allgemeinen Forderung der Vernunft zufolge sollten alle Menschen Ärzte, Dichter und so fort, sein«.6 An Werke der Literatur erinnert bereits die oft fragmentarische oder aphoristische Form der wissenschaftlichen Beiträge der romantischen Mediziner und Naturforscher. Die integrativen und ganzheitlichen Versuche der Idealisten und Romantiker in Kunst und Wissenschaft, Literatur und Medizin können sich bekanntlich nicht durchsetzen. Die Trennung der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften etabliert sich während des positivistischen 19. Jahrhunderts. Zu Verabsolutierungen kommt es auf beiden Seiten; der Bildungsbegriff wird überwiegend literarisch-geisteswissenschaftlich bestimmt, entschieden opponieren zahlreiche Naturwissenschaftler. Die Naturwissenschaft ist für Du Bois-Reymond »das absolute Organ der Kultur« und folgerichtig »die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit«. 7 Zugleich unterwirft sich die realistische und noch expliziter die naturalistische Literatur dem naturwissenschaftlichen Methodenverständnis und Wissenschaftsbegriff (Zola: Roman expérimental, 1880). Naturwissenschaften und Medizin schließen ihre neuzeitliche Emanzipation von der Theologie und Philosophie mit einer eigenen Hegemonie über Geisteswissenschaften, Künste und auch die realen Lebensverhältnisse ab. Die Anzahl der wissenschaftlichen Studien über die Beziehung von Medizin und Literatur nimmt im vergangenen Jahrhundert rapide zu. Die Beiträge über dieses Thema lassen sich heute kaum noch überschauen. Höchst unter6 7

Novalis: Glauben und Liebe, Nr. 65. In: Schriften, Bd. 2, Darmstadt 3 1981, S. 502. Emil Du Bois-Reymond: Kulturgeschichte und Naturwissenschaft, 1877. In: ders.: Reden. Bd. 1, Leipzig 2 1912. S. 596.

Literatur im Zeitalter des Barock

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schiedlich sind die Perspektiven und Schwerpunkte: untersucht wird das komplexe Verhältnis von Medizin und Literatur im allgemeinen oder die Wiedergabe der Medizin in literarischen Texten; behandelt werden Zusammenhänge zwischen Psychologie und Pathologie des Schriftstellers, seiner Kreativität und thematischen Orientierung; studiert wird die literarische Darstellung spezifischer Krankheiten, besonderer Arztrichtungen oder der Subjektivität und Lebenssituation des kranken Menschen; analysiert wird die Rezeption der Medizin in einzelnen Werken oder im gesamten Oeuvre eines Schriftstellers oder auch für eine literarische Epoche; erörtert wird der Beitrag der Literatur für die medizinische Ausbildung und ärztliche Therapie. Mit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert kommt es zu neuen Ansätzen und neuen normativen Orientierungen in der Medizin und auch in der Literatur. Skepsis an einer naturwissenschaftlichen Medizin und ihrem Fortschritt sowie an der Technisierung und Verwissenschaftlichung der Wirklichkeit breitet sich aus. Die Bedeutung des Kranken als einer Person mit Bewußtsein, Sprache und sozialen Beziehungen wird gegen eine übertriebene Objektivierung gesetzt (V. v. Weizsäcker), Medizin wird mit Nachdruck wieder eine Stellung zwischen den Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zugewiesen (K. Jaspers). Für die Gegenwart stellt sich die ebenso wichtige wie faszinierende Aufgabe, Übereinstimmungen und Unterschiede oder die Einheit aller Wissenschaften und zugleich das Spezifische jeder Einzelwissenschaft zu beachten. Literatur spielt eine Rolle in der Medizin und für das reale Leben, Realität wird in der Literatur und Wissenschaft aufgenommen; ebenso wichtig sind die Differenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Wirklichkeit. Zutreffender als die Rede von zwei Kulturen (C. P. Snow, 1959) oder drei Kulturen (W. Lepenies, 1985) ist die Rede von den vier Kulturen der Naturwissenschaften, der Geisteswissenschaften, der Künste und des Lebens.

II.

Die Welt der Medizin

In der Literatur und ihren unterschiedlichen Gattungen erscheint die Medizin mit ihren unterschiedlichen Ebenen: Patient, Arzt, Umwelt, Diagnose, Therapie, Pflegeperson, Krankenhaus, Wissen, Methoden und Theorien. Das Gewicht der Medizin im literarischen Werk kann überaus abweichend ausfallen, medizinische Themen können im Mittelpunkt stehen oder nur am Rande vorkommen. Erhellend kann ihre Darstellung aber auch in Texten sein, deren Blick im wesentlichen auf andere Wirklichkeitsbereiche gerichtet ist - erhellend für Literatur, Medizin und Wirklichkeit. Reale Ärzte werden mehrfach von Schriftstellern aufgegriffen; Paracelsus etwa von Paul Fleming, der auch über seinen medizinischen Kollegen Hartmann Gramann ein Gedicht verfaßt: »Die Krankheit, die zog aus, wo du nur gingest ein. Du liessest keinen nicht in Furcht deß Elends sein. Deß Todes Tod

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Dietrich von Engelhardt

warst du [...] Ein ieder denkt nach dir, begehret dich bei sich. Wie dich der Kranke hofft, so wiindscht der Frische dich«. 8 Von Abraham Cowley stammen Gedichte auf Harvey (Ode upon Dr. Harvey) und Scarborough (Ode upon Dr. Scarborough): »Let nature, and let art do what they please, when all's done, life is an incurible disease.« Medizinische Autobiographien, Tagebücher und Briefwechsel von Schriftstellern sind ebenfalls wichtige Quellen. Madame de Sévigné vermittelt in ihren Briefen an ihre Tochter einen anschaulichen Eindruck von Ärzten, medizinischen Vorstellungen und vom Verhalten französischer Aristokraten in Gesundheit und Krankheit während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 9 Von der Literatur des Barock werden nicht nur allgemeine Aspekte des Arztseins, sondern ebenso spezifische Besonderheiten der einzelnen Fachrichtungen wiedergegeben, behandelt wird auch die Beziehung des Arztes zum Apotheker, zum Bader und Barbier, zum Quacksalber. Die literarische Wiedergabe dokumentiert die verbreitete Einschätzung der Zeit gegenüber dem Arzt und den verschiedenen Spezialisierungen: Hofarzt, Hausarzt, Landarzt, Chirurg, Forscher. Die Darstellung des Arztes muß auf die jeweiligen Leitbilder des Menschen bezogen werden - im französischen Barock auf den >honnête hommegentlemanobjektiv< wahrgenommen wird, sondern wird immer auch >subjektiv< in der Perspektive individueller Erfahrungen und Vorstellungen wie überindividueller Symbole und Ideen gedeutet. Besonders vielseitig ist das Bild des Arztes im barocken Drama. Die großen und berühmten Beispiele stammen von Shakespeare und Molière. 1 0 Bei

8

9

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Paul Fleming: Poetische Wälder. Buch 4. In: ders.: Deutsche Gedichte. Bd. 1. Darmstadt 1965. S. 146. Vgl. zu Madame de Sévigné: Ives M. Burill: La Marquise de Sévigné. Docteur en médecine. Paris 1932; Georges Dillemann u. R. Lemay: Les médicaments de Madame de Sévigné. In: Revue d'Histoire de la Pharmacie 18 (1966), S. 97-110, S. 273-293; Aimé Dupuy: Madame de Sévigné et ses proches devant l'épreuve de la maladie et de la mort. In: La Presse Médicale 760 (1962), S. 1825-1827; Fritz Nies: Rheuma und sprachliche Kreativität. Zu den Sévigné-Briefen des Jahres 1676. In: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 208 (1971), S. 35-37; Jules Roger: Madame de Sévigné malade. Étude historique et médicale. Paris 1895. Zu Shakespeare und Molière vgl.: Petra Böse-Hölzel: Der Wahn in Shakespeares großen Tragödien King Lear, Othello, Hamlet und Macbeth. In: Studium Generale 20 (1967), S. 709-723; F. J. Chamant u. a.: Madame de Sévigné. Molière et la médecine de son temps. Marseille 1973; Rosemarie Deubner: Shakespeare und die Medizin. Medizinische Hinweise in seinen Dramen und Sonetten in heutiger Sicht. Med. Diss. Aachen 1972; Luzie Drach: Das medizinische Vokabular Molières. Med. Diss. Bonn 1970; Irving I. Edgar: Shakespeare, medicine and psychiatry. London 1971; Robert Ritchie Simpson: Shakespeare and medicine. Edinburgh 1959; Guy Goldlewski: Des médecins et des hommes. Paris 1972; J. Lemaire: Molière devant la mort et la critique de la médecine. In: Pensée Hommes 16 (1973), S. 338-350; Silvia Porst: Gynäkologische, geburtshilfliche, embryologische und teratologische Beschreibungen im Werke Shakespeares. Med. Diss. Würzburg 1981; Hubertus Teilenbach: Hamlet - Das Alternieren schwermü-

Literatur im Zeitalter des Barock

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Shakespeare, in dessen Stücken Ärzte verschiedentlich auftreten, wenn auch keineswegs im Vordergrund stehen, fällt ihre Schilderung in auffallendem Unterschied zu zeitgenössischen anderen Dramatikern ausgewogen und positiv aus. Der Arzt weiß um die Grenzen seines Faches und um die Notwendigkeit der Mitarbeit oder Selbstverantwortung des Kranken und vor allem um die Heilkraft der Natur sowie den Wert der Diätetik: Licht und Luft, Bewegung und Ruhe, Essen und Trinken, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und Affekte. Das wissenschaftliche Experiment wird für bedenklich erklärt, gepriesen dagegen die >learned charityiatrós philósophos isótheosVanitas< steht hinter jedem Glück wie Leid; der sinnlichen Schönheit kontrastiert das Skelett, Leben heißt Tod, Tod heißt Leben. Zu den Erscheinungsformen des Todes gehören die Krankheiten. Adam und Eva denken in Miltons Paradise Lost nach dem Sündenfall an Selbstmord und Verzicht auf Kinder, um die Macht des Todes auf ihre Generation zu begrenzen; der Glaube an Gott läßt sie diesen Gedanken aber wieder aufgeben - »No more be mentioned, then, of violence against ourselves, and wilful barreness« 24 - , verleiht ihnen die Kraft, Schmerzen, Krankheit und Tod im irdischen Leben in der Hoffnung auf die jenseitige Welt zu ertragen. Der Tod und die Krankheiten als seine Vorboten werden zum geistigen Rettungsmittel: »so Death becomes his final remedy«. 25 Neben den Ärzten, Patienten und der Phänomenologie der Krankheit werden in der Literatur auch die Ursachen der Krankheit, medizinische Theorien, Methoden und Systeme, die mannigfachen Formen der Diagnose, der Prävention und Rehabilitation wie besonders das Spektrum der Therapie, das Hospital und ebenfalls die Einschätzung der Krankheit und des Kranken durch die Gesellschaft behandelt. Die literarische Wiedergabe von Wundern und Wunderkuren wie ihre reale Verbreitung nehmen entsprechende Strömungen des späten 18. Jahrhunderts, der Romantik und in gewissem Grade auch des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorweg. Diätetik spielt neben medikamentöser Therapie und Chirurgie in der barokken Literatur eine wesentliche Rolle. Alle sechs Bereiche (sex res non naturales) des antiken Schemas der Diätetik werden beachtet. Langes Leben setzt nach Don Quijote »buena complexion y pocos cuidados« (gute Konstitution und wenig Sorgen) voraus. Jupiter bedroht Springinsfeld im Simplizissimus des Grimmelshausen mit der »Plag Erysichthonis«, 26 d.h. mit einem nie zu stillenden Hunger. Diätetik wie Psychophysiologie des Altems werden in der gedoppelt kosmologisch-anthropologischen wie religiösen Dimension interpretiert. Ein Leben in Mäßigkeit bringt nach Milton einen sanften Tod (Euthanasie) mit sich, einen Verlust an physischen und geistigen Kräften ganz im Sinne der antiken Humoralpathologie: »Alt wirst du so; doch überlebst du dann auch deine Jugend, Kraft und Schönheit; welk und schwach und grau, an allen Sinnen stumpf, mußt du verzichten auf Genuß und Reiz; statt heitrer, hoffnungs-

24 25 26

John Milton: Paradise Lost. In: Poetical Works. London 1950. S. 231. Milton, wie Anm. 24, S. 234. Grimmelshausen, wie Anm. 14, S. 224.

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reicher Jugendlust schleicht trübe Schwermut durch die Adern dir, drückt kalt und trocken deinen Geist danieder und zehrt zuletzt den Lebensbalsam auf«. 27 Liebeskummer führt ebenso zu Narrheit wie zu exzessiver Beschäftigung mit den Wissenschaften und Künsten. Der närrische Doktor ohne Bart in Johann Beers Narrenspital hat seinen Verstand über den drei Galgenvögeln Hoffart, Stolz und Ehrgeiz verloren. 28 Seine therapeutischen Vorschläge für die unterschiedlichsten Leiden versieht dieser närrische Arzt - eine Anspielung auf den hippokratischen Aphorismus >ars longa, vita brevis< - mit dem Satz: »Das Jahr ist lang, der Tage sind viel, der Stunden sind noch mehr, was heute nicht geschieht, das kann morgen geschehen«. 29 Die religiöse Dimension bleibt auch für die barocke Darstellung des Hospitals beherrschend; die zunehmende Konzentration des Hospitals in der Entwicklung der Neuzeit auf die Behandlung von Kranken schlägt sich ebenfalls in der Literatur nieder. Adam in Miltons Paradise Lost sieht bereits ein erschreckendes Hospital der Zukunft vor sich: »Trübselig, dumpf und finster, angefüllt mit Leidenden an jeder Krankheitsform: an grausem Kampf, der Glied um Glied verzerrt, Herzkrankheit, Ohnmacht, Fiebern aller Art, Verzukkung, Fallsucht, heftigem Katarrh, an Stein und Krebs, der Eingeweide Kolik, an Wahn- und Blöd- und Tiefsinn, Raserei, m o n d s ü c h t ' g e m Wandeln, Schwindsucht, schleichender Verzehrung, an gefräß'ger Pestilenz, Engbrüstigkeit und Gicht und Wassersucht - welch Ächzen, Stöhnen, Ringen! Eifrig ging Verzweiflung hin und her als Wärterin, und im Triumph schwang seinen Pfeil der Tod, den Wurf verzögernd, wiewohl oft und heiß als höchstes Gut und letzter Trost erfleht«. 30 Hospitäler für Geisteskranke werden in der barocken Literatur mehrfach beschrieben, z. B. bei Cervantes ein Irrenspital in Sevilla im Don Quijote oder ein entsprechendes Hospital für Geisteskranke in den Novelas ejemplares (1613). Die Inschrift des Spitals, in dem alle Narren der ganzen Welt als Vertreter der Wissenschaften und Künste sowie Stände und Geschlechter im Narrenspital von Beer versammelt sind, lautet: »Hic Stultorum est Concilium, quod Sapientibus dat Consilium«. 31 Den Besuchern wird - im Sinn des Topos von der verkehrten Welt - in einem Spiegel vorgeführt, daß sie selbst die Narren seien, umgekehrt erklärt sich der Spitalmeister zum »vornehmsten in diesem Haus« und zugleich Gründer desselben, was ihm viel Ungemach eingebracht habe: »Und was ist es wunder, daß ich wegen dieses Gebäudes geneidet werde, haben doch wohl früher viel katholische Herzen aus großer Barmherzigkeit und aus inbrünstigem Eifer, ihrem Nächsten Gutes zu tun, unterfangen, mit großen Unkosten schöne Spitäler aufzuführen, welches ihnen doch von andern Religionsgenossen zum schlimmsten ist ausgelegt worden«. 32 Die Ver27 28 29 30 31 32

Milton, wie Anm. 24, S. 246. Beer, wie Anm. 16, S. 95. Beer, wie Anm. 16, S. 97. Milton, wie Anm. 24, S. 244f. Beer, wie Anm. 16, S. 89. Beer, wie Anm. 16, S. 84.

Literatur im Zeitalter des Barock

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kehrung von Ärzten und Patienten taucht in der Literatur später wiederholt auf; so zum Beispiel in der Erzählung The System of Dr. Thaer and Prof. Fether (1845) von Poe, der sich seinerseits von einem Bericht des amerikanischen Schriftstellers Ν. P. Willis über einen Besuch 1832 in dem Irrenhaus von Palermo anregen läßt, dessen Direktor die Besucher mit dem Satz begrüßt: »Je suis le premier fou«. 3 3

III. Die Gattungen der Literatur Neben der Wiedergabe der Bereiche der Medizin in der Literatur steht umgekehrt die Aufnahme der Medizin in den verschiedenen literarischen Gattungen, so problematisch ihre Unterscheidung auch sein mag. Verschiedene Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang: Gibt es zum Beispiel spezifische Affinitäten zwischen Gedicht, Roman oder Drama oder nach der Unterscheidung von Martin Opitz (Buch von der deutschen Poeterey, 1624) zwischen Gedicht, Tragödie, Komödie, Satire, Epigramm, Ekloge, Elegie, Echo, Hymne, Gelegenheitsgedicht und bestimmten Bereichen der Medizin wie Patient, Arzt, Umwelt, Diagnose, Therapie, Krankenhaus, Wissen, Methoden und Theorien. Wird die Subjektivität des Krankseins häufiger und angemessener in der Lyrik wiedergegeben, die Arzt-Patienten-Beziehung dagegen eher im Schauspiel? Unterscheidet sich in dieser Beziehung die Literatur des Barocks von der Literatur der Romantik oder des Realismus, wirken sich ihrerseits die Veränderungen der Textartendifferenzierung auf den Wandel der wissenschaftlichen Publikationen der Medizin aus? Den verschiedenen Gattungen werden im Barock unterschiedliche Themen oder Stände zugeordnet: dem Drama und Roman die Welt der Politik, der Herrscher und des Adels; der Komödie und Satire das Volk, Land- und Stadtleben. In Satiren wird die Aufmerksamkeit auf Mängel der ärztlichen Persönlichkeit und des ärztlichen Berufes wie auf übertriebene Ängste und Hoffnungen des kranken Menschen und das Versagen der Mitmenschen gelenkt. Utopie und Pessimismus können sich verbinden, Kritik und Resignation können ineinander übergehen. Satiren fallen meist nicht absolut aus, einzelne Züge oder Passagen können auch zustimmend gemeint sein, hinter dem negativen Bild kann ein positives Ideal stehen. Medizin wird immer wieder von der Satire aufgegriffen. Medizin und Satire besitzen nach Balde sogar ähnliche Aufgaben: »Jene vertreibt Erkrankungen des Körpers mit bitteren, doch wirkungsvollen Arzneien, die mit süßem Saft versetzt sind, damit sie nicht verschmäht werden. Die Satire dringt in die Herzen, sucht die Laster hinauszuwerfen und maßvollen Sitten Eingang zu verschaffen«. 3 4 Jakob Baldes Satiren werden bereits 1669 von Thomas Bartholin anerkennend erwähnt: »Medicinae gloria 33

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Nathaniel P. Willis: First impressions of Europe, 28. 6. 1832. In: Prose writings. New York 1845, S. 103-105; vgl. auch die Erzählung von Willis >The madhouse of Palermo< (1836), a.a.O., S. 457ff. Balde, wie Anm. 15, S. 98.

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per Satyras XXII. asserta à Jacobo Balde soc. Jesu, reperitur in Pamasso Poetico Soc. Jesu«. 35 Eine besondere Richtung verbindet sich mit dem pikaresken Roman, dem Picaro- oder Schelmenroman, der im ausgehenden 16. Jahrhundert in Spanien entsteht und seine Nachfolger auch in der Literatur anderer Länder hat. Die abenteuerlichen Fahrten lassen den Helden auch mit der Medizin, mit Krankheiten, Ärzten und Hospitälern in Verbindung geraten - wie zum Beispiel im Guzmán de Alfarache (1599/1602) des Mateo Alemán, der in einer deutschen Erweiterung von Albertinus Aegidius unter dem Titel Landstörtzer: Gusman von Alfarache oder Picaro genannt 1615 erscheint und die Schilderung einer Syphiliserkrankung des Gusman sowie seiner Behandlung in einem königlichen Hospital (Hospital Réal) der spanischen Universitätsstadt Alcalá unter recht deplorablen Umständen enthält: »Die halb gesundt wurden von den gar Krancken nit abgesondert / sondern lagen alle in einerley Zimmer beysammen und durch einander / das verursachte nun einen so großen gestanck / daß einer / der sein Nase in solches Zimmer recket / in Ohnmacht fallen möchte«. Vorsteher des Spitals, Seelsorger und Pfleger weichen ebenfalls von den erwähnten Vorbildern von Madrid, Sevilla, Rom und Neapel ab: »derwegen sähe ich viel Krancke trostloß sterben und verderben«. 36 Wichtige andere Zusammenhänge werden von Scaliger, Ronsard und Opitz in Riickerinnerung an die Antike zwischen Stilen und Themen hergestellt; hoher Stil entspricht dem Hof, mittlerer Stil dem Bürger, niederer Stil dem Bauer. Diese Stile werden wiederum den literarischen Gattungen und innerhalb einer Gattung verschiedenen Typen derselben zugewiesen. Zu analysieren sind in diesem Zusammenhang auch mögliche Konsequenzen formaler Unterscheidungen der Epochen Renaissance und Barock wie etwa der von Heinrich Wölfflin aus dem Jahre 1888 (linear - malerisch, Fläche - Tiefe, geschlossene Form - offene Form, Einheit - Vielheit, Klarheit - Unklarheit) oder von anderen Literaturwissenschaftlern und Kunsttheoretikern auf Darstellung und Deutung medizinischer Themen in der Literatur. Ebenso ließe sich der Einsatz des rhetorischen Instrumentariums, entwickelt und gerechtfertigt in den zeitgenössischen Poetiken, für die Wiedergabe von Krankheit und Leiden, Arzt und Patient, Therapie und Hospital untersuchen. Wichtig ist schließlich das Verhältnis von Kunstliteratur und Erfahrungsliteratur; Simon Dach (1605-1659) verfaßt in den letzten Tagen seines Lebens Gedichte über sein Lungenleiden, über Alter und Tod. 37 In den poetischen Lexika oder Schatzkammern des Barock werden auch Zitate medizinischen Inhalts zusammengestellt. Ein bekanntes Beispiel ist 35 36

37

Bartholin, wie Anm. 5, S. 143; vgl. dazu hier den Beitrag von H. Wiegand. Aegidius Albertinus: Der Landstörtzer: Gusman von Alfarache oder Picaro genannt, München 1616. S. 236; vgl. auch Eckart, wie Anm. 2; Gerhart Hoffmeister: Das spanische Modell: Alémans >Guzmán de Alfarache< und die Albertinische Bearbeitung. In: Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext. Amsterdam 1987, S. 29-48. Simon Dach: Unterthänigste letzte Fleh-Schrifft an Seine Churfürstl. Durchl. meinen gnädigsten Churfiirsten und Herrn. In: Poetische Wercke. Königsberg 1696, S. Zv.

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Gotthilf Treuers Deutscher Dädalus / Oder Poetisches Lexicon aus dem Jahre 1660. Eine weitere Gruppe stellen die >Apophthegmen< dar, jene knappen, historischen oder fiktiven Geschichten, von denen Georg Philipp Harsdörffer 1665 eine Sammlung herausgibt (Ars Apophthegmatica, Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Gespräche und Ergötzlicher Hofreden). Eine Gattung für sich ist das medizinische Lehrgedicht, deren antik-mittelalterliche Tradition im Barock nicht abbricht, auch wenn mit der eingenommenen Distanz gegenüber dem Horazischen >prodesse< die didaktische Orientierung eingeschränkt wird. 38 Nach der Antike mit den berühmten Beispielen von Hesiod (Erga), Lukrez (De rerum natura), Vergil (Geórgica), Horaz (Ars amatoria) und mit Dantes Divina Commedia im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bedeuten Renaissance, Barock und Aufklärung ihrerseits eine spezifische Fortsetzung; zugleich kommt es in der Ausführung wie in der theoretischen Begründung zu neuen Impulsen. Erinnert sei an die bekannten Texte von Erasmus von Rotterdam, Sebastian Brant, Johann Fischart, Thomas Murner, Alexander Pope. Klassik und Romantik stellen eine Zäsur dieser Gattung dar, die auch als Ende der Lehrdichtung gelten kann; prinzipielle Einwände formulieren Lessing, Goethe, Friedrich Schlegel, Hegel.

IV. Funktionen der Beziehung Die Beziehung von Literatur und Medizin steht vor allem unter drei Funktionen oder Perspektiven, die auch für die historische Betrachtung des Barock Gültigkeit besitzen: a) Funktion der Medizin in der Literatur (literarische Funktion der Medizin), b) Funktion der Literatur in der Medizin (medizinische Funktion der Literatur), c) Funktion der Literatur für ein allgemeines Verständnis der Medizin (genuine Funktion der literarisierten Medizin). Die literarische Funktion der Medizin< bezieht sich auf die Bedeutung von Krankheit, von Patient und Arzt für Thema und Struktur des literarischen Werkes, für die Behandlung von Raum und Zeit, für die Entwicklung der Personen und ihrer Beziehungen, für die formalen Merkmale des literarischen Textes. Der Charakter einer Krankheit kann in der Struktur eines literarischen Textes oder seiner symbolischen Orientierung auftauchen; krankheitsbedingte Persönlichkeitsveränderungen können soziale Beziehungsstile einsichtig machen; die Logik von Diagnostik und Therapie kann fiktionale Situation und Dynamik bedingen. 38

Zum Lehrgedicht vgl. Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur. Aarhus 1967; Bernhard Fabian: Das Lehrgedicht als Problem der Poetik. In: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Die Nichtmehrschönen Künste. Poetik und Hermeneutik. Bd. 3. München 1968, S. 67-87 u. 549-557; Helga Hajdu: Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Budapest 1936; Georg Willy Vontobel: Von Brockes bis Herder. Studien über die Lehrdichter des 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Bern 1942.

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Von einer medizinischen Funktion der Literatur< läßt sich im Blick auf die Bedeutung der Literatur für die Medizin sprechen. Literarische Texte können zur Lebenshilfe und Therapie (Bibliotherapie/Graphotherapie) beitragen und zu Dokumenten früherer Phasen der Medizingeschichte werden. Literatur berichtet von den Veränderungen der Krankheitserscheinungen (historische Pathomorphose) und vom Wechsel der Krankheiten im Verlauf der Menschheitsgeschichte (Panoramawechsel der Krankheiten). In Romanen werden Bedingungen der Hospitalwirklichkeit geschildert, die sich aus der Architekturgeschichte nicht entnehmen lassen. Literatur kann sogar zukünftige Entwicklungen vorwegnehmen oder an grundsätzliche Dimensionen des Krankseins und der therapeutischen Zuwendung erinnern: an die ganzheitliche Wirklichkeit des Menschen, an die Verbundenheit des Individuums mit der Natur und Kultur, an die Personalität und soziale Umwelt des Kranken. Auf die Frage, welche Bücher er für seine praktische Ausbildung lesen solle, antwortet im 17. Jahrhundert der Mediziner Thomas Sydenham dem Arzt und Dichter Richard Blackmore: vor allem Don Quichote von Cervantes. 39 Literarische Texte besitzen auch eine >genuine Funktion< in ihrer Darstellung von Gesundheit und Krankheit, Arzt und Patient. Literatur ist ein allgemeiner Zugang zur Welt des Kranken und seiner Subjektivität, zum Selbstverständnis des Arztes und seinem therapeutischen Tun und stellt damit eine wesentliche Ergänzung der Philosophie, Theologie und Sozialwissenschaften dar. Literatur wird in dieser Funktion zu einem Medium der Verbreitung medizinischer Kenntnisse und kann damit allen Zielen dienen, die mit der Popularisierung der Medizin oder medizinischen Aufklärung angestrebt werden. Literatur kann die Aufnahme therapeutischer Verfahren wie vor allem präventiver und rehabilitativer Maßnahmen unterstützen. Aus der Vergangenheit und Gegenwart lassen sich viele Beispiele anführen, in denen die Grenzen zwischen Sachbuch und Belletristik fließend sind. Daß medizinische Informationen auch von der Trivialliteratur verbreitet werden, ist eine bekannte Tatsache. Zur genuinen Funktion literarischer Darstellung gehört, daß die Perspektive der wissenschaftlichen Medizin überschritten wird. Literatur läßt Zusammenhänge medizinischer Phänomene mit anderen Wirklichkeitsbereichen und anderen Wissenschaften deutlich werden; sie bildet ein Gegengewicht zur Spezialisierung, Technisierung und Anonymisierung der modernen Medizin und ihrer Institutionen, macht auf allgemeinere Strukturen und Hintergründe aufmerksam, verbindet Deskription mit Deutung, entwirft überzeitliche Ideen, Metaphern und Symbole, kann zu einer Humanisierung im Umgang mit der Krankheit und dem kranken Menschen beitragen. Zwischen der literarischen oder fiktionalen Funktion der Medizin, der medizinischen oder szientifischen Funktion der Literatur und der genuinen oder bildenden Funktion der literarisierten Medizin bestehen ohne Zweifel Übergänge; eine strenge Trennung ist mit dieser Unterscheidung nicht gemeint. Was 39

Ludwig Edelstein: Sydenham and Cervantes, 1944. In: ders.: Ancient medicine. Selected papers, Baltimore 1967. S. 455-461.

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eine bestimmte Zeit der Kunst zuordnet, kann eine spätere Epoche für ein wesentliches Moment der Wissenschaft halten; ebenso wirkt sich der Wandel des Kunstverständnisses und der Literaturwissenschaft auf die Abgrenzung der literarischen Funktion der Medizin von der genuinen Funktion der literarisierten Medizin aus.

V. Arztschriftsteller - Schriftstellerarzt Neben der historischen Einordnung der Beziehung von Medizin und Literatur, den drei zentralen Funktionen der Beziehung von Medizin und Literatur sowie der Darstellung und Deutung der Medizin in der Literatur allgemein und in den verschiedenen literarischen Gattungen sind für die Beziehung von Literatur und Medizin einige weitere Aspekte wesentlich; teils können sie in die genannten Perspektiven eingefügt werden, teils verlangen sie nach einer gesonderten Betrachtung. Schriftsteller sind oft zugleich Ärzte gewesen oder Ärzte Schriftsteller. Den Arztschriftstellern oder Schriftstellerärzten Girolamo Fracastoro (1478-1553), François Rabelais (1494-1553) und Petrus Lotichius (1528-1560) in der Renaissance folgen im Barock Paul Fleming (1609-1640), sein ebenfalls frühverstorbener Freund Georg Gloger (1603-1631), Thomas Bartholin (1616-1680), dessen Gedichte auch medizinische Themen enthalten, Johann Christoph Ettner von Eiteritz (1654-1724), bekannt wegen seiner Medizinkritik, Richard Blackmore (1654-1729), Leibarzt Williams III. und Königin Annes, Verfasser verschiedener Epen und auch des Gedichts Creation: A Philosophical Poem (1712). Selbst Cervantes soll kurzfristig Medizin studiert haben, auf jeden Fall hat er sich ärztlich betätigt; sein Vater war Apotheker. Bartholin wußte um die Probleme der Doppelbegabung oder Doppeltätigkeit; in der Zueignung seiner Carmina von 1669 empfiehlt er sich dem Urteil der Leser, »qui Poetam me credant, si Medici, Medicum, si Poetae sint«. 40 Paul Fleming studiert Medizin, respondiert bei verschiedenen medizinischen Disputationen (Salomon Fischer, Exercitium physicum de sanguine, 7.4.1632; Johannes Zeidler, De carbunculo pestilenti, 20.6.1632), wird am 23.1.1640 mit der Dissertation De lue Venerea zum Doktor der Medizin promoviert, besucht Vorlesungen über Dialektik, Rhetorik und Poetik. Vor allem während seiner Teilnahme an Expeditionen nach Rußland und Persien entscheidet er sich zum Dichter: denn »auch in der Barbarei Alles nicht barbarisch sei«. 41 In seinen literarischen Texten werden von Fleming wiederholt Gegenstände der Medizin aufgegriffen. Das Gedicht auf den Arzt Hartmann Gramann, medizinisch verantwortlich für die Teilnehmer auf der Expedition in den Orient, enthält Theorie und Geschichte der Medizin des 17. Jahrhunderts, gibt Auffassungen der Anthropologie und Ethik des Arztes dieser Zeit wieder. 40 41

Bartholin, wie Anm. 5, S. 143. Fleming, wie Anm. 8, Buch 3, S. 86.

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Abgelehnt wird die überkommene Therapie, plädiert dagegen für die Medizin des Paracelsus: »Ihr, Kinder der Natur, geht einen weisern Weg! Salz, Schwefel und Merkur sind euer fester Grund, die, wie sie alle Sachen zu diesem, was sie sein, und eignen Dingen machen, und so ihr Ursprung sind, so auch ihr Ende sein«. 42 Am 31. März 1640 stirbt Fleming; am 28. März hat er im Wissen um sein baldiges Ende noch für sich selbst eine Grabinschrift gedichtet: »Verzeiht mir, bin ichs wert, Gott, Vater, Liebste, Freunde, ich sag' euch gute Nacht und trete willig ab. Sonst Alles ist getan, bis an das schwarze Grab. Was frei dem Tode steht, das tu er seinem Feinde. Was bin ich viel besorgt, den Othem aufzugeben? An mir ist minder nichts, das lebet, als mein Leben«. 4 3 In der Perspektive der Arztschriftsteller oder Schriftstellerärzte stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise medizinische Ausbildung und ärztliche Tätigkeit Inhalt und Form der literarischen Werke prägen, wie umgekehrt literarische Bildung und Produktivität ärztliches Handeln und medizinische Schriftstellerei beeinflussen. Im Vergleich der literarischen Texte von Medizinern und Nichtmedizinern wird sich beurteilen lassen, was an künstlerischer Produktivität auf eigene Beobachtung als Arzt oder unmittelbare Lektüre wissenschaftlicher Texte zurückgeht, was aus Erfahrungen als Patient oder was aus poetischer Imagination geschöpft wurde, welche Möglichkeiten und Grenzen mit anderen Worten für die literarische Einbildungskraft charakteristisch sind. Flemings Gedicht Auf H. Görg Glogers seine Disputation von den Nachtwanderern (1631) ist im Rahmen des medizinischen Studiums entstanden. Wissenschaftliche Texte wie auch der theoretische und praktische Umgang mit der Krankheit und dem Kranken können ihrerseits von der eigenen poetischen Begabung beeinflußt sein. Das Verhältnis von medizinischer Profession und literarischer Produktion hat aber auch eine historische Dimension; Interdisziplinarität unterliegt dem geschichtlichen Wandel, es sei nur an den Untergang der Artistenfakultät als Vorstudium für Medizin, Jurisprudenz und Theologie im Verlaufe der neuzeitlichen Universitätsgeschichte erinnert. Das Interesse an der Person des Schriftstellers muß im übrigen nicht dazu führen, seine Werke in Form und Inhalt aus biologisch-psychischen Voraussetzungen oder sozial-kulturellen Bedingungen abzuleiten. Immanente Werkinterpretation kann aber mit Gewinn auf Zusammenhänge der fiktionalen Welt mit der Realität des Schriftstellers, seiner sozialen Wirklichkeit und Ausbildung eingehen. Produktion und Rezeption des Kunstwerkes sind bei aller Überzeitlichkeit auch an Raum und Zeit gebunden. Biographien und Autobiographien von Arztschriftstellern oder Schriftstellerärzten erhellen Psychologie und Soziologie des Arztseins wie Künstlerlebens. Die historisch sich wandelnden Gesundheitsbedürfnisse spielen ihrerseits eine Rolle bei den Veränderungen des Kunstinteresses der Bevölkerung. Künstlerische Tätigkeit und therapeutisches Handeln kommen sich nahe oder 42 43

Fleming, wie Anm. 8, Buch 4, S. 144. Fleming, wie Anm. 8, S. 460.

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sind in manchen Momenten miteinander identisch. Dichten wie Behandeln heißt Gestalten und Umwandeln, beruht auf Einbildungskraft und Empathie, führt Realität auf Ideen zurück oder setzt Ideen in Realität um.

VI. Die Krankheit des Schriftstellers Kunst und Krankheit in eine Verbindung zu bringen, steht in einer langen Tradition. Der antike Topos vom göttlichen Wahnsinn des Dichters behält auch in späterer Zeit seine Gültigkeit. Neben die Aussagen von Dichtern, Theologen und Philosophen treten in der Neuzeit Beobachtungen von Medizinern und Psychologen. Juan Huarte (Examen de ingenios para las ciencias, 1575) und Bernardino Ramazzini (De morbis artificum, 1700) erörtern im 16. und 17. Jahrhundert psychische und physische Voraussetzungen verschiedener Berufe; auf die künstlerische Produktivität wird von ihnen ebenfalls eingegangen. Verstand und Einbildungskraft stehen nach Huarte in Übereinstimmung mit antiken Auffassungen in einem Gegensatz: »Ich nehme es also für ganz ausgemacht an, daß derjenige Knabe welcher mit einer besondern Fähigkeit zur Dichtkunst gebohren wird und dem sich die Gleichlaute und Reime von selbst ohne Mühe darbieten, gemeiniglich in Gefahr ist, es in der lateinischen Sprache der Dialektik, der Weltweisheit, der Medicin, der scholastischen Theologie und in allen übrigen Künsten und Wissenschaften welche von dem Verstände und dem Gedächtnisse abhangen, nicht besonders weit zu bringen«. 44 Gedächtnis, Verstand und Einbildungskraft bestimmen Huartes Gliederung, die auch von Francis Bacon später aufgegriffen wird. Die spanischen Dramatiker des >Siglo de Oro< - Lope de Vega, Calderón, Ruiz de Alarcón, Tirso de Molina lassen sich in ihren Stücken von Huarte ebenfalls anregen; auch in der humoralpathologischen Charakterisierung des Don Quijote durch Cervantes wird ein Einfluß des Examen angenommen. 4 5 Bemerkenswert ist die Nähe zwischen Arzneikunst und Dichtkunst, die von Huarte wegen der in beiden Bereichen notwendigen Einbildungskraft hergestellt wird; der Arzt benötige nicht nur Verstand und Gedächtnis, sondern auch Einbildungskraft. Zugleich sollen in 44

Juan Huarte: Examen de ingeniös para las ciencias. 1968, S. 144f. Zu Huarte vgl. Elvira Arquiola: Biología política en el Examen de Ingenios de Huarte de San Juan. In: Asclepio 36 (1984), S. 85-121; Martin Franzbach: Lessings Huarte-Übersetzung (1752). Die Rezeption und Wirkungsgeschichte des »Examen de Ingenios para las ciencias« (1575) in Deutschland. Hamburg 1965; Mauricio de Iriarte: El Doctor Huarte de San Juan y su examen de ingenios. Contribución a la historia de la psicologia diferencial. Santander 1939; George Mora: Juan Huarte. The examination of men's wits. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 13 (1977), S. 67-78; Karl Schultheiss: Juan Huartes »Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften«. In: Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung 53 (1959), S. 1447-1449.

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Vgl. F. Escobar Manzano: Huarte de San Juan y Cervantes en la locura de D. Quijote de la Mancha. Breve estudio psicosomàtico. Granada 1949; Mauricio de Iriarte: El Ingenioso hidalgo y el >Examen de Ingenióse qué debe Cervantes al doctor Huarte de San Juan. In: Acción Española 7 (1933), S. 445-458; Rafael Sallilas: Un gran inspirador de Cervantes: el doctor Juan Huarte y su >Examen de Ingeniosa Madrid 1905.

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der Einbildungskraft besondere Unterschiede zwischen Arzt und Dichter bestehen: »So viel glaube ich ergründet zu haben, daß sie eine Hitze erfordert, welche einen Grad geringer als diejenige Hitze ist mit welcher die Einbildungskraft Verse und Reime macht. Doch auch hiervon bin ich noch nicht ganz überzeugt, weil ich angemerkt habe, daß fast alle gute Practici sich mit der Poesie ein wenig abgeben, doch so daß ihre Verse eben nicht allzu tiefsinnig und allzu bewundernswürdig sind«. 46 Barocke Literatur - wie später romantische und expressionistische Literatur - ist nicht selten insgesamt in die Nähe von Krankheit und von Abnormem gebracht worden. Krankheit und Leiden der Schriftsteller sollen demnach Symptome für den Charakter bestimmter Literaturrichtungen und Kulturepochen sein können. Ressentiment und Unverständnis gegenüber neuen Kunstrichtungen spielen bei diesen Urteilen eine Rolle; in diesen Einstellungen gehen die Urteile aber nicht auf. Goethes bekannte diagnostische Wendung über die Romantik findet sich bereits im Barock vorgeprägt, wenn der jansenistische Theologe Pierre Nicole (1667) meint: »Ein Romanschreiber und ein Theaterdirektor ist ein öffentlicher Vergifter nicht der Körper, sondern der Seelen«. 47 Das Schicksal des psychisch erkrankten Torquato Tasso hat seit der Spätrenaissance Literaten wie Literaturwissenschaftler, Philosophen, Psychologen und Mediziner fasziniert.

VII. Literatur als Therapeutikum Literatur ist nicht nur ein Spiegel der Medizin und Symptom von Krankheit, ihr wird seit der Antike therapeutische Kraft zugesprochen, nicht allein für den Schriftsteller, sondern ebenso für den Leser. 48 Zugleich wird an mögliche Gefahren erinnert; Dichtung soll Krankheiten auslösen oder krankhafte Dispositionen auch verstärken können, Dichtung geht in Therapie nicht auf. >BibliotherapieGezieltes< und >ungezieltes< Verleihen von Büchern als psychotherapeutische bzw. psychohygienische Maßnahme. In: Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie 12 (1962), S. 21-30.

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den klassischen Aufgaben der Diätetik, ist dem Bereich der Affekte im antiken Schema der »sex res non naturales« zugeordnet, jenen sechs Lebensbereichen, die sich nicht von selbst verstehen, die vom Menschen vielmehr zur Gesundheitserhaltung und Krankheitsüberwindung in die Hand genommen, stilisiert werden müssen. Der Begriff >bibliotherapy< wird allerdings erst 1916 von Samuel McChord Crothers geprägt. 4 9 Eine Krancken-Bibliothec veröffentlicht bereits 1705 der Theologe Georg Heinrich Götze. Bibliotherapie stellt im Prinzip die folgenden Fragen: 1) Lesen in Gesundheit und Krankheit; 2) Einfluß der verschiedenen Krankheiten auf das Lesen; 3) Einfluß der unterschiedlichen Therapiearten auf das Lesen; 4) Vermittlung der literarischen Texte an den Kranken; 5) Berufsbild des Bibliotherapeuten. Bibliotherapie meint auch Schreiben; hier wird genauer von Graphotherapie oder Poesietherapie gesprochen. Produktion und Rezeption schließen sich nicht aus, es gibt auch eine Aktivität in der Passivität. Schreiben muß nicht unbedingt konstruktiver oder schöpferischer als Lesen sein; Rezeption öffnet für kulturelle Allgemeinheit, Produktion entäußert subjektive Individualität. In den unterschiedlichen Krankheiten und abweichenden Therapiearten haben unterschiedliche Themen und Modi ihre jeweilige Berechtigung. Literatur kann in Prävention, Therapie und Rehabilitation aufgegriffen werden, sie spielt eine Rolle in der Lebenskunst (ars vivendi) und Sterbekunst (ars moriendi). Die Medizin der Antike nutzt psychotherapeutische Verfahren, bestimmte Schriftsteller und bestimmte Themen werden den Kranken zur Behandlung empfohlen, vor anderen wird gewarnt. Der Katharsisgedanke der griechischen Kunst und Medizin, philosophisch erörtert von Aristoteles, ist eine Wurzel der Bibliotherapie. Mittelalter und Neuzeit sind Fortsetzungen, zu neuen Impulsen kommt es im 20. Jahrhundert. Im berühmten Literaturkapitel des Don Quijote werden von einem Pfarrer die Werke der Literatur auch im Blick auf ihre psychischen Auswirkungen geprüft; Ritterromane, die Don Quijote um den Verstand gebracht haben und auch andere Menschen gefährden könnten, werden den Flammen übergeben. Dichtwerke sollen verschont werden, obgleich auch Don Quijotes Nichte um ihre Verbrennung bittet, wenn sie ihren Onkel dazu verleiten könnten, »ein Dichter zu werden, was, wie die Leute sagen, eine unheilbare und ansteckende Krankheit sein soll«. 50 Der Schäferroman Galatea (1585) von Cervantes, der »erfahrener ist im Leid als im Lied«, 51 wird ebenfalls nicht verbrannt. Dichter äußern sich selber zur Wirkung ihrer Werke auf leidende und kranke Menschen; Folgen haben nach ihnen Inhalt wie Form. Beer empfiehlt sein Narrenspital im Untertitel zur »Verkürtzung der Melancholischen Stunden«, genauer zur Vertreibung der »langweiligen Stunden« und der »wunderlichen Grillen«, 52 unter denen die Melancholischen zu leiden hätten. Mit den Novelas 49

50 51 52

Samuel McCord Crothers: A literary clinic. In: The Atlantic Monthly 118 (1916), S. 291-301. Cervantes, wie Anm. 22, S. 59. Cervantes, wie Anm. 22, S. 61. Beer, wie Anm. 16, S. 5.

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amorosas y ejemplares (1637) von Maria de Zayas y Sotomayor wollen zehn Madrider Damen und Herren der an Liebeskummer erkrankten Lisis beistehen. 1645 meint Harsdörffer über den Zusammenhang von Affekt und Stil: »Die kurtzlangen Reimarten sind zu den Erzehlungen / die langkurtzen zu Bewegungen der Gemühter / wie die langgekiirtzten oder Dactylischen / (welche von den dreysylbigen Worten entstanden), zu freudigen Sachen beqwemlich«. 53 Der Form wird im Barock zugleich ein metaphysischer Sinn zugeschrieben; Klangmalerei ist, was von Harsdörffer ebenfalls ausdrücklich betont wird, immer zugleich auf die Offenbarung Gottes in der Sprache bezogen. In einem weiteren Sinn gehören in diesen Zusammenhang auch die Trauerschriften, die im 17. Jahrhundert sehr verbreitet sind. 1665 erscheint in Breslau die Anthologie Schatz-Kammer Unterschiedener Glückseelig-erfundener hertzdringender Trauer-Reden und Abdanckungen. Abdankungen enthalten neben der >laudatio< und >gratiarum actio< auch eine >consolatioIter subterraneum< (1741) bieten.

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Fragt man nach genusspezifischen Konstanten und Varianten der inselutopischen Texte unter dem Interesse ihrer medizingeschichtlichen Aussagefähigkeit, so empfiehlt es sich, zunächst schematisierend die formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten in Erinnerung zu rufen und dann erst einzelne Probleme herauszuheben, die die Differenzen der verschiedenen Autoren hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen und moralisch-didaktischen Ansätze sinnfällig zu machen geeignet sind. Einzusetzen ist deshalb mit der sehr generellen Frage, wo denn in einem inselutopischen Text Medizinisches überhaupt erheblich werden kann und womöglich erheblich werden muß. Da ist zunächst zu erinnern, daß keiner unserer fünf Utopisten Mediziner ist. Keiner von ihnen verfaßte also seine Utopie aus medizinischem Fachinteresse, und keiner verfaßte sie für ein medizinisches Fachpublikum. Doch gehören alle fünf Autoren dem Gelehrtenstande an, und sie schreiben primär für gelehrtes, lateinsprachiges Publikum (obschon der italienische Dominikaner Tommaso Campanella und der englische Politiker und Naturwissenschaftler Francis Bacon ihre Utopien zunächst in ihrer Muttersprache niederschrieben). Alle fünf Utopisten haben somit die medizinischen Kenntnisse, die ein gebildeter Nichtmediziner ihrer Zeit hatte; und sie setzten solche Kenntnisse auch bei ihrem Publikum voraus. Es wird sich übrigens zeigen, daß die naturwissenschaftlichen Interessen und Kenntnisse bei unseren fünf Gewährsleuten unterschiedlich weit reichen. Das Grundmodell der inselutopischen Erzählung ist bekanntlich der Bericht eines einzelnen europäischen Reisenden, eines Ich-Erzählers, der, zu Nutz und Frommen der daheimgebliebenen Europäer, über Struktur und Einrichtungen eines europafernen Staatswesens Auskunft gibt. Besteht der Reiz der utopischen Erzählung generell in der allegorisch-satirischen Kontrastierung von Neuer, utopischer und Alter, europäischer Welt, so müßte das speziell auch für die Kontrastierung von utopischer Medizin und europäisch-realer Medizin gelten. Da jeder inselutopische Text sich als Stadt- und Staatsbeschreibung - im Sinne frühneuzeitlicher >StatistikCivitas Solis< gab. Die in der älteren Forschung mehrfach vertretene These, Andreae habe mit seiner Christianopolis-Vtopie die Civitas Solis weitgehend nur aus- und abgeschrieben, ist inzwischen nicht mehr aufrecht zu erhalten. Vgl. Richard van Dülmen: Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin Andreae (1586-1654). Teil 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978. - Ferdinand Seibt, wie Anm. 4, S. 120ff. - Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 1981 (= Hermaea NF, Bd. 45). - Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989. Andreae vertritt hier deutlich die Linie Luthers, der ja in vielen Traktaten und Predigten dafür eintrat, daß Kinder nicht gegen den Willen ihrer Eltem sich ihre Ehepartner aussuchen sollten, obschon auch die Eltern ihre Kinder nicht in bestimmte Ehen zwingen sollten. Bacon, wie Anm. 7, S. 152. - »Du wirst sehen, daß es unter dem Himmel keine zweite Nation gibt, die so keusch ist wie die von Bensalem, und keine, die so frei ist von aller Befleckung und Fäulnis. Sie ist die Jungfrau schlechthin auf dieser Welt.« Morus, wie Anm. 2, S. 222. - »Denn fast alle halten es für sicher und erwiesen, daß die Glückseligkeit der Menschen (dereinst) so unermeßlich sein werde, daß sie zwar die Krankheit eines jeden, aber niemandes Tod beklagten, es sei denn, sie sähen, daß jemand angstvoll und widerstrebend aus dem Leben gerissen werde.«

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Einwilligung in ihre Tötung überredet; obschon allerdings niemand gegen seinen Willen getötet wird: Caeterum si non immedicabilis modo morbus sit uerumetiam perpetuo uexet atque discrutiet: tum sacerdotes ac magistratus hortantur hominem, quandoquidem omnibus uitae munijs impar alijs molestus ac sibi grauis morti iam suae superuiuat, ne secum statuat pestem diutius ac luem alere, neue quum tormentum ei uita sit mori dubitet, quin bona spe fretus acerba illa uita uelut carcere atque aculeo uel ipse semet eximat: uel ab alijs eripi se sua uoluntate patiatur: hoc illum quum non commoda, sed supplicium abrupturus morte sit prudenter facturum, quoniam uero sacerdotum in ea re consilijs, id est interpretum dei sit obsecturus, etiam pie sancteque facturum. Haec quibus persuaserint: aut inedia sponte uitam finiunt, aut sopiti sine mortis sensu soluuntur. Inuitum uero neminem tollunt nec officij erga eum quicquam imminuunt persuasos hoc pacto defungi honorificum. 3 1

Stiblin und Campanella thematisieren das Sterben und die Todesvorbereitung nicht, wohl aber Andreae. Seine Argumentation erinnert an die Mores insofern, als auch die Bürger von Christianopolis im Glauben an ein ewiges Leben zuversichtlich sterben. Als lutheranische Christen sehen sie ihr ganzes Leben als Sterben und dies Sterben als Weg zu einem ewigen Leben: Quis dicat, Christianopolitanos, cum bene vivant, male mori? imo, cum semper moriantur, quis victuros aliquando dubitet? 3 2

Bacon stellt keine Betrachtungen über Sterben und Tod an, berichtet aber von Versuchen zur Lebensverlängerung. 33 Zur Ernährung: Fragen der gesundheitserhaltenden Speisenauswahl und Speisenzubereitung werden von Morus im Interesse der das Zusammengehörigkeitsgefühl fördernden gemeinsamen Mahlzeiten angesprochen. 34 Bei Stiblin wird die Genügsamkeit gelobt, Völlerei und vor allem Trunksucht werden als

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Morus, wie Anm. 2, S. 186. - »Wenn übrigens eine Krankheit nicht nur unheilbar ist, sondern auch ständig quält und martert, dann ermahnen Priester und Beamte den Kranken, da er doch allen Beschwernisses des Lebens nicht mehr gewachsen, anderen lästig, sich selber unerträglich schon seinen eignen Tod überlebe, solle er nicht darauf bestehen, die Krankheit und Pest länger zu nähren, und nicht zögern zu sterben, da das Leben ja nur eine Qual für ihn sei; er solle sich also hoffnungsvoll und getrost aus dem Kerker und der Schmach dieses bitteren Lebens befreien oder darein einwilligen, daß er von anderen herausgerissen werde; so werde er klug handeln, da der Tod ja keiner Annehmlichkeit, sondern nur Martern ein Ende bereite; auch werde er damit fromm und gottesfürchtig handeln, weil er in dieser Sache ja dem Rat der Priester, der Mittler Gottes, folge. Diejenigen, die sie auf diese Weise überzeugt haben, beenden ihr Leben entweder freiwillig durch Hungern, oder sie werden durch Einschläferung, ohne den Tod zu fühlen, erlöst. Gegen seinen Willen töten sie niemand, und sie vermindern deshalb auch nicht seine Pflege. Auf solche Verabredung hin sein Leben zu enden gilt als ehrenvoll.«

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Andreae, wie Anm. 6, S. 220. - »Wer könnte sagen, daß die Christianopolitaner, da sie gut leben, schlecht sterben? Ja, dieweil sie ständig sterben, wer wollte bezweifeln, daß sie dereinst leben werden?« Bacon, wie Anm. 7, S. 159. Morus, wie Anm. 2, S. 128 und 140f.

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staatszerstörende Laster perhorresziert. 35 Am ausführlichsten befaßt sich wiederum Campanella mit der Frage der gesundheits- und damit auch staatserhaltenden Speisenzusammenstellung: Ärzte diktieren den Köchen den Speisenplan, 36 wie sie auch in Fragen der Genetik, des Sports, der Hygiene und der Kleidung weisungsbefugt sind. Medizin wird so zu einem alle gesellschaftlichen und privaten Bereiche durchwaltenden und miteinander verbindenden dirigistischen Herrschaftsinstrument. Insofern geht es bei Campanella nicht um utopische Medizin, sondern um eine medizinisch angeleitete Utopie. Andreae theologisiert demgegenüber stärker. Auch bei ihm gibt es wie bei Morus und Campanella zentrale Ackerwirtschaft, zentrale Vorratshaltung, gemeinsame Schlachthäuser und Garküchen. Doch wird die Mahlzeit im Familienkreise eingenommen. Schleckereien und Alkoholkonsum sind verboten, statt der sonst so begehrten exotischen Gewürze würzen hier fromme Reden die Speisen. 37 In Bacons New Atlantis entspricht die Herstellung, Zusammenstellung und Zubereitung der Nahrungsmittel den aus den anderen Utopien bekannten Genügsamkeits- und Gesundheitskriterien. Jedoch macht sich eine breitgefächerte experimentelle curiositas bemerkbar: man mischt Säfte verschiedener Früchte, gewinnt Sud aus Blättern, Kernen und Wurzeln, man verbessert das Wasser, man erprobt die Konservierung verschiedener Nahrungsmittel mit verschiedenen Methoden und rationalisiert so die Vorratshaltung.38 Die gesundheitserhaltenden Aspekte von Kleidung (sie soll schlicht, einheitlich und funktionsgerecht sein), von Körperpflege, Badekultur, von Leibesübungen in sportivem und militaristischem Interesse ließen sich durch weitere, ähnliche Zitatreihen belegen. Ihre Organisation und Reglementierung folgt ebenfalls den Maximen von allgemeiner Wohlfahrt, Einfachheit, Genügsamkeit, Schlichtheit, Keuschheit, Gemeinschaftlichkeit, wie sie schon im Zusammenhang der Problembereiche Zeugung, Sterben, Ernährung sich als wirksam erwiesen; Maximen mithin, wie sie sich in den christlichen Ethiken aller Konfessionen und in den frühneuzeitlichen Policey-Ordnungen der Kommunen, Territorien und des Reiches finden. 39 Zu arbeitsmedizinischen Fragen: Besondere Beachtung verdient der Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit, der in den Utopietexten nuancenreich reflektiert wird. Daß dieser Zusammenhang überhaupt problematisiert wird, ist neu und zukunftsweisend. Hier sind humanitäre, sozialethische Prinzipien benannt, Forderungen zu Arbeitszeiteinteilung, Arbeitsplatzeinrichtung, Arbeitsplatzrotation, Arbeitsteilung aufgestellt oder gar als verwirklicht dargestellt, die

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Stiblin, wie Anm. 4, S. 103ff. Campanella, wie Anm. 5, S. 146. Andreae, wie Anm. 6, S. 60. Bacon, wie Anm. 7, S. 157-160. Vgl. Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland. Neuwied u. Berlin 1966. S. 83ff. - Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969, passim.

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in den heutigen Gesellschaften der industrialisierten Welt zum Teil immer noch unerfüllt sind. Ganz augenfällig wird das schon bei Kalkulation der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Morus propagiert den Sechsstundentag. Drei Stunden sind vormittags, drei auch nachmittags zu arbeiten. Die verbleibende Freizeit, die zur individuellen Disposition steht, wird zumeist zur Fortbildung genutzt. 40 Auffällig ist das ausgeprägte Interesse für Arbeitszeittakt und Reproduktion der Arbeitskraft, für die Arbeitsplatzrotation zwischen agrarischen und städtischen Tätigkeiten, für geschlechtsspezifische Arbeitszuteilung und für die Findung von Eignungs- und Neigungskriterien bei der Berufswahl. 41 Dies alles geschieht aus der Überlegung, daß ein Optimum an individueller Gesundheit Voraussetzung für die Gesundheit des Staatskörpers ist. Nicht verschwiegen sei, daß Morus in seiner Utopie doch aber das Problem der Arbeitsteilung und Arbeitsbewertung vermöge seiner Empfehlungen zur Arbeitskräfterotation zwischen Stadt und Land nur auf einer gewissen sozialen Ebene löst. Für schmutzige und ekelerregende Arbeiten und auch für bestimmte militärische Aufgaben benötigt er Sklaven. 42 Noch weniger Gedanken zum Problem der Arbeitsteilung hat der durchweg in einem antikisierenden Konservativismus befangene Stiblin zu bieten. Er ächtet kurzerhand die Handarbeit, die manuellen Tätigkeiten der artes mechanicae, läßt, in Tradition der klassischen Arbeitswertlehre, nur agrarische Produktion als produktiv gelten und will nur die artes liberales als freier Bürger des Eudaemonenserstaates würdig anerkennen: Artes, quas Mechanicas et sedentarias uocant, parum liberales habentur Eudaemonensibus: primum quod corpora ipsorum incommodent & atterant, qui hisce utuntur. Corporum autem detrimenta, animorum quoque uim minuunt. Praeterea ad Rempublicam inutiles putantur manuarij, qui in humiles tantum, sordidasque res oculos defigunt, animoque sunt deiecto. ob quam causam has artes quondam apud Spartanos quoque solum mancipia attingebant. Agriculturam tamen liberali homine dignißimam iudicant. Caeterum non indigent opificio negotioso ad quaestum, cum paruo contenti uiuant: diuitias autem in totum ñeque admirentur, neque magnopere desiderent. 43

Stiblins Darlegungen geben Anlaß, daran zu erinnern, daß die Neubestimmung des Verhältnisses von artes mechanicae, artes liberales und Agrarwirtschaft das Grundproblem der Wirtschaftsordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaften in Europa war. Es fand seinen Ausdruck auf ganz unterschiedlichen Fel40 41 42 43

Morus, wie Anm. 2, S. 126 und 178. Morus, wie Anm. 2, S. 126, 140f., 158ff. Morus, wie Anm. 2, S. 140 und 214. Stiblin, wie Anm. 4, S. 116f. - »Jene Künste, die sie als mechanische oder sitzend zu betreibende bezeichnen, halten sie für wenig frei: zunächst weil sie die Körper derjenigen beeinträchtigten und schwächten, die sie ausübten. Körperliche Beeinträchtigung mindert aber auch die Geisteskraft. Überdies sehen sie die Handarbeiter als für den Staat unbrauchbar an, da sie ihre Augen nur auf niedere und schmutzige Dinge richten, derweil ihr Geist niedergedrückt ist. Deshalb kamen einst bei den Spartanern auch nur Sklaven mit diesen Künsten in Berührung. Sie sind aber der Auffassung, daß der Ackerbau einem freien Menschen wohl anständig sei. Übrigens benötigen sie die Arbeit nicht zur materiellen Bereicherung, denn sie leben sehr genügsam. Reichtum bewundern sie überhaupt nicht und ersehnen ihn auch nicht.«

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dem, in Zunftunruhen zum Beispiel, in ersten Streiks in der Montanindustrie, in der Verelendung von Landarbeitern (wie Morus sie engagiert beschreibt), in Sektengründungen, aber auch in zahlreichen Akademie- und Sozietätsgründungen (die mit den Utopieentwürfen in engstem Zusammenhang standen 44 ). Die Fortschrittlichkeit utopischer Empfehlungen läßt sich darum nicht zuletzt daran erkennen, ob sie bemüht und geeignet sind, die herkömmliche Schranke zwischen artes mechanicae und artes liberales zu kritisieren und zu überwinden. Medizinhistorisch sind solche Empfehlungen insofern aussagekräftig, als damit das Verhältnis von körperlicher (auch maschineller) und geistiger Arbeit erstmals auch in seinen physiologischen und individual- sowie sozialpsychologischen Dimensionen in den Horizont öffentlicher Reflexion rückt. Bei Campanella gilt eine Tagesarbeitszeit von nur vier Stunden als gesellschaftlich notwendig, während die übrige Zeit der Reproduktion der Arbeitskraft durch Ruhe, Spiel und Sport oder der freigewählten Bildung und geistigen Übung dienen soll: Ast in Civitate Solis, dum cunctis distribuuntur ministeria et artes et labores et opera, vix quatuor in die horas singulis laborare contigit; reliquum licet tempus consumatur in addiscendo iucunde, disputando, legendo, narrando, scribendo, deambulando, exercendo ingenium et corpus, et cum gaudio. Nec permittitut ludus illis, qui fit sedendo, ñeque talorum, ñeque alearum, ñeque scacchorum aut similium etc. Ludunt pila, folliculo, trocho, lucta, iaculatione pali, sagittae, archibugio etc. 4 5

Deutlich wird hier auch, daß Spiel und Arbeit aufeinander - im Interesse der Gesundheitserhaltung! - bezogen sein sollen. Ist zu konstatieren, daß Campanella die artes mechanicae nicht ächtet, so fällt doch aber auf, daß er jene Arbeiten, die Stiblin als freier Menschen unwürdig abtut - Arbeiten nämlich, die im Sitzen zu verrichten sind (artes sedentariae) - nun den Frauen zuweist: Sunt et artes communes mechanicae et speculativae masculis et foeminis, hac cum discretione: quod artes operosae magis et ubi iter requiritur, tractantur ab masculis, siculi arare, seminare, fnictus legere, in area laborare, forte et in vindemia. At ad mulgendas oves et caseum formandum soient et mulleres destinari; itidem et ad hortos prope civitatis pomerium ad colligendas herbas et excolendas similiter vadunt. Artes vero quae sedendo et stando tractantur ad mulieres spectant, veluti texere, nere, suere, tondere capillos et barbas, pharmacopia et omnia vestimentorum genera conficere; excluduntur tamen ab arte lignaria et ferraría et fabrica armorum. At si quae picturae est idonea, non

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Zum Zusammenhang von utopischen Entwürfen und Akademieprogrammen vgl. Jörg Jochen Berns: Zur Tradition der deutschen Sozietätsbewegung im 17. Jahrhundert. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 28. bis 30. Juni 1977. Vorträge und Berichte hg. v. Martin Bircher und Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 7). S. 53-74; hier: S. 58f. Campanella, wie Anm. 5, S. 135. - »Aber in dem Sonnenstaat genügt es, wenn jeder einzelne kaum vier Stunden arbeitet, denn allen sind die Ämter, Künste, Arbeiten und Aufgaben zugeteilt. Die übrige Zeit kann man mit Lernen, Diskutieren, Lesen, Erzählen, Schreiben, Spazieren, mit geistigen und körperlichen Übungen und Vergnügungen verbringen. Doch ist ihnen kein Spiel erlaubt, das sitzend gespielt wird, weder Würfel, noch Schach, noch andere ähnliche Brettspiele. Sie spielen vielmehr mit Bällen, Ledersäcken, Reifen, Ringen, Pfahlwerfen, Pfeil- und Armbrustschießen und dergleichen.«

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prohibetur. Musica tarnen solis est data mulieribus, quia delectant magis, quin et pueris: non tarnen buccinarum et tympanorum usus. Item epulas parant et mensas sternunt; sed mensis ministrare proprium est puerorum munus et puellarum usque ad vigesimum annum. 4 6 A n d r e a e propagiert für C h r i s t i a n o p o l i s e i n e ä h n l i c h e g e s c h l e c h t l i c h e A r b e i t s t e i l u n g , fordert z u g l e i c h aber d i e Z u l a s s u n g v o n Frauen zu S c h u l e u n d S t u d i u m und äußert s e i n B e f r e m d e n , d a ß das w e i b l i c h e G e s c h l e c h t a n d e r s w o - z u m B e i s p i e l in D e u t s c h l a n d - v o n d e r l i t e r a r i s c h e n B i l d u n g , d e m G e l e h r t e n t u m , a u s g e s c h l o s s e n ist: » N e s c i o a u t e m , cur h i c s e x u s n i h i l o natura indocilior, alibi a literatura e x c l u d a t u r . « 4 7 D i e g a n z e Stadt Christianopolis, als K o o p e r a t i v e v o n H a n d - und Kopfarbeitern, definiert er als e i n e e i n z i g e riesige Manufaktur: »Est e n i m urbs tota v e l u t u n i c a o f f i c i n a , s e d d i v e r s i s s i m o r u m a r t i f i c i o r u m . « 4 8 J e d e Art v o n A r b e i t s o l l n i c h t nur d e m Staatskörper, s o n d e r n a u c h d e m e i n z e l n e n m e n s c h l i c h e n K ö r p e r zuträglich s e i n ( w a s z u g l e i c h heißt, daß in Christianopol i s S k l a v e r e i a u s g e s c h l o s s e n ist): Quamvis omnino ita laboribus adsunt, ut bene, non male facere corpori palam appareant. Ubi servitus abest, nihil taedii in corpore humano superest, quod aggravet, aut enervet. 4 9 A u c h in B a c o n s New Atlantis

ist ( s o w e i t m a n das a n g e s i c h t s der fragmentari-

s c h e n F o r m d i e s e s T e x t e s s a g e n k a n n ) d i e H a n d a r b e i t m i t d e r K o p f a r b e i t in E i n k l a n g . V o n g e s c h l e c h t s s p e z i f i s c h e r A r b e i t s t e i l u n g ist nicht d i e R e d e ; Fraue n k o m m e n in B a c o n s M u s t e r s t a a t und g a r in d e r e n i n t e l l e k t u e l l e m Z e n t r u m s o gut w i e überhaupt nicht in d e n B l i c k . I m » H a u s e S a l o m o n s « , e i n e r a k a d e m i e a r t i g e n Institution, w e r d e n c h e m i s c h e , p h y s i k a l i s c h e und b i o l o g i s c h e E x p e r i m e n t e u n t e r n o m m e n und t e c h n i s c h e K o n s t r u k t i o n e n erprobt, d i e a u f H a n d 46

Campanella, wie Anm. 5, S. 128f. - »Auch die mechanischen und spekulativen Künste sind Männern und Frauen gemeinsam zugewiesen, jedoch mit einer Unterscheidung: daß die Arbeiten, die anstrengender sind und einen Anmarsch erfordern, von Männern verrichtet werden, wie Pflügen, Säen, Ernten, Dreschen und wohl auch die Weinernte. Aber Schafe zu melken und Käse zu formen ist Sache der Frauen; auch gehen diese in die Gärten an der Stadtmauer, um Pflanzen zu sammeln und sie zu pflegen. Die Arbeiten fürwahr, die im Sitzen oder Stehen verrichtet werden, stehen den Frauen zu, wie Weben, Spinnen, Nähen, Haar- und Bartscheren, Arzneizubereitung und die Herstellung aller Arten von Kleidung; ausgeschlossen sind sie hinwiederum von Holz- und Metallverarbeitung und der Waffenherstellung. Wenn eine für die Malerei begabt ist, wird sie nicht daran gehindert. Die Musik aber ist allein den Frauen vorbehalten, weil sie am meisten damit erfreuen, gelegentlich aber auch Knaben, doch haben sie weder Pauken noch Trompeten. Ebenso bereiten sie die Speisen und decken die Tische; bei Tisch aber aufzuwarten ist Sache der Knaben und Mädchen bis zum zwanzigsten Lebensjahr.«

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Andreae, wie Anm. 6, S. 130. - »Ich weiß auch nicht, warum dies von Natur aus ja nicht weniger gelehrige Geschlecht andernorts von der Gelehrsamkeit ausgeschlossen wird.« Andreae, wie Anm. 6, S. 60. - »Denn die ganze Stadt ist gleichsam nur eine einzige Werkstätte, aber von den verschiedensten Künsten.« Andreae, wie Anm. 6, S. 62. - »Gleichwohl verrichten sie ihre Arbeiten durchweg in der Weise, daß offensichtlich wird, daß sie dem Körper zuträglich und nicht abträglich sind. Denn wo kein Dienstzwang ist, da gibt es auch keinen Überdruß im menschlichen Körper, der ihn beschwerte oder entkräftete.«

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werkerwissen aufbauen und auf Handwerkerarbeit zurückwirken. Der Zweck dieser eigentümlichen Anstalt - die in vielem an die Royal Society in London erinnert - ist Naturerkenntnis zwecks Erweiterung der Naturbeherrschung: The End of our Foundation is the knowledge of Causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of Human Empire, to the effecting of all things possible.50

Im naturwissenschaftlichen und technologischen Interesse ist hier die Trennung von artes mechanicae und artes liberales aufgehoben. Im Experiment müssen beide zusammenwirken. Auch die Optimierung von Gesundheit und die Verlängerung des menschlichen Lebens ist in dies Programm einbezogen.

3.

Krankenbehandlung

Der Aspekt der praktischen Krankenbehandlung und der Bekämpfung akuter Krankheiten muß in utopischer Sozietät schon deshalb geringere Berücksichtigung finden als der der Gesundheitserhaltung, weil ja die Bürger der utopischen Kommunen doch die denkbar gesundesten sind. Krankheit gelangt in den utopischen Wahrnehmungshorizont und Lebensraum nur auf zwei Wegen: von außen, indem Nichtutopier Krankheit einschleppen; oder von innen, infolge von Mißachtung der gesundheitserhaltenden Gebote der utopischen Kommune. Wenn somit Krankheit prinzipiell nur als Effekt eines Verstoßes gegen die gesundheitserhaltenden Maximen der utopischen Sozietät begriffen wird eines unwillentlichen Verstoßes seitens eines Nichtutopiers oder eines absichtlichen und deshalb lasterhaften Verstoßes seitens eines Utopiers - , so ist das nächstliegende Interesse utopischer Medizin die Separierung des Kranken von den Gesunden und damit der Schutz des prinzipiell gesunden Kollektivs vor dem kranken Einzelnen. Wie diese Sortierung, Separierung, Isolierung in den verschiedenen möglichen Fällen zu leisten sei, darauf verwenden unsere Utopisten viel policeyliche Phantasie. Sie bekundet sich nicht nur im Nachdenken über Quarantäne- und Schleusensysteme für Besucher von auswärts, sondern auch in (graphischen und verbalen) Plänen zur Spitalarchitektur und deren Zellen als Separier- und Sortiersystem und schließlich in Vorschlägen zu Rekrutierung und Schulung des Pflegepersonals, das die ansteckungsfreie Kommunikation von Kranken und Gesunden zu gewährleisten hat. Neben der Spitalarchitektur ist auch die Lage und Einrichtung anderer Institutionen zu beachten: die der Apotheken, der Kräutergärten, der Bäder, der medizinischen Demonstrationsgebäude und anderes mehr. Die utopische Stadt Mores bildet ein großes Quadrat, das seinerseits in vier Quadrate unterteilt ist, Stadtviertel, die identisch strukturiert sind. Jedes dieser Stadtviertel verfügt über ein eignes Hospital: 50

Bacon, wie A n m . 7, S. 156. - »Der Zweck unserer Gründung ist die Erkenntnis der Ursachen und der geheimen B e w e g u n g e n der Dinge; und die Erweiterung der Grenzen der Herrschaft des Menschen, zu Bewirkung aller möglichen Dinge.«

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Jörg Jochen Berns Sed prima ratio aegrotorum habetur, qui in publicis hospitijs curantur. Nam quatuor habent in ambitu ciuitatis hospitia, paulo extra muros tarn capacia ut totidem oppidulis aequari possint, tum ut ñeque aegrotorum numerus quamlibet magnus anguste collocaretur, & per hoc incommode, tum quo hij qui tali morbo tenerentur, cuius contagio solet ab alio ad alium serpere, longius ab aliorum coetu semoueri possint. Haec hospitia ita sunt instructa, atque omnibus rebus quae ad salutem conférant referta, tum tam tenera ac sedula cura adhibetur, tam assidua medicorum peritissimorum praesentia, ut quum illuc nemo mittatur inuitus, nemo tarnen fere in tota urbe sit, qui aduersa ualetudine laborans, non ibi decumbere quam domi suae praeferat. 5 1

Dreierlei ist hier besonders bedenkenswert: erstens, daß die Hospitäler vor den Mauern der Stadt liegen und damit aus dem Schutz des Fortifikationssystems ausgegrenzt sind, wie umgekehrt auch ihr eignes Ansteckungs- oder Aggressionspotential damit abgewehrt ist; zweitens, daß jedes Hospital als oppidulum, als Städtchen, die große Stadt in sich spiegelt, so wie der Mikrokosmos den Makrokosmos in sich reproduziert;52 und daß, drittens, die Hospitäler lediglich über die Logistik der Lebensmittelzuteilung an die Großkommune angeschlossen sind. Stiblin kommt auf Hospitäler nicht zu sprechen. Bei Campanella in der Civitas Solis ist das Anlegen von Hospitälern insofern nicht nötig, als die gesamte Kommune als ein einziges riesiges Spital betrachtet werden kann, aus zwei Gründen: zum einen, weil Ärzte das gesellschaftliche Leben in allen Bereichen dirigieren und die Differenz von privatem und öffentlichem Leben aufheben; zum andern aber deshalb, weil Heilpflanzen, Essenzen und gar die Anatomie des menschlichen Körpers im konzentrischen Straßen- und Ringmauersystem der Kommune zur Belehrung und Nutzung für jedermann demonstriert und bereitgehalten werden. 53 In Andreaes utopischer Kommune wiederum gibt es eigne Hospitäler, über deren Lage allerdings nichts gesagt wird. Doch betont Andreae die Bedeutung der psychologischen Betreuung der Patienten für deren Gesundungsprozeß. Nicht von ungefähr wohl haben bei ihm Frauen diese Betreuung wahrzunehmen (zumal in der protestantischen Kommune, als die Christianopolis von dem schwäbischen Pastor ja imaginiert wird, spezielle mönchische Bruderschaften für diesen Dienst 54 nicht bereitgestellt werden können): 51

Morus, wie Anm. 2, S. 138/140. - »Aber zuerst werden dabei die Kranken berücksichtigt, die in öffentlichen Hospitälern gepflegt werden. Denn es gibt im Stadtbereich vier Hospitäler, ein wenig außerhalb der Mauern und so geräumig, daß sie in jeder Hinsicht kleinen Städten verglichen werden können: zum einen deshalb, daß eine beliebig große Zahl von Kranken unbeengt und somit nicht unbequem darin untergebracht werden könnte; zum andern darum, daß sie die, die von einer Krankheit befallen sind, deren Ansteckung vom einen zum andern zu schleichen pflegt, weit von der Menge der anderen entfernt halten können. Diese Hospitäler sind derart eingerichtet und mit allen Dingen, die zur Heilung beitragen, ausgestattet, die Pflege wird so rücksichtsvoll und fleißig ausgeübt, und ständig sind die erfahrensten Ärzte präsent, daß es in der ganzen Stadt fast niemanden gibt, der es im Krankheitsfall nicht vorzöge, dort statt zu Hause zu liegen, obschon niemand gegen seinen Willen dorthin geschickt wird.«

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Zur Form der Hospitäler im Europa des 16. und 17. Jahrhundert vgl. die zahlreichen Grundrisse bei Dieter Jetter: Das europäische Hospital. Von der Spätantike bis 1800. Köln 1982. Campanella, wie Anm. 5, S. 120ff. Vgl. Jetter, wie Anm. 52, S. 83ff.

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Mulienim et viduarum maxima hic opportunitas est atque dexteritas, quibus respublica languentium curam perhumaniter c o m m e n d a t : quin etiam hospitia habet, huic rei destinata. Solent autem prae reliqua medicina aegrotorum ánimos excitare, et pristini roboris admonere, ne quid fortitudini christianae decedat; deinde solitae temperantiae commonefacere, ne nimium tumultuanti corpori indulgeant; postea etiam ad obsequium medicinae attemperare, ut insuavitatem curationis non abhorreant. 5 5

Am vielseitigsten gestaltet Bacon das architektonische System von Heilstätten. In New Atlantis gibt es zunächst ein Fremdenhaus (Stranger's House), in welchem die 51 Briten (17 von ihnen sind krank), die Bacons Held anführt, zuerst ihre Krankheiten auskurieren müssen. Ein Beamter weist sie dort ein: The Stranger's House is a fair and spacious house, built of brick, of somewhat a bluer colour than our brick; and with handsome windows, some of glass, some of a kind of cambric oiled. [...] then he [sc. the officer] led us to see the chambers which were provided for us [...]. The chambers were handsome and cheerful chambers, and furnished civilly. Then he led us to a long gallery, like a dorture, where he showed us all along the one side (for the other side was but wall and window) seventeen cells, very neat ones, having partitions of ceder wood. Which gallery and cells, being in all forty, (many more than we needed,) were instituted as an infirmary for sick persons. And he told us withal, that as any of our sick waxed well, he might be removed from his cell to a chamber ... 5 6

Ist diese Quarantänestation deutlich einem englischen Kloster- oder CollegeGebäude nachempfunden, 57 so verhält es sich mit den anderen Heilstätten ganz anders. Da werden nämlich die Kranken je nach Krankheitsart besonderen Gelassen zugeteilt. So werden zum Beispiel bestimmte Patienten in Höhlen verbracht, weil deren besonderes Klima therapeutisch zu nutzen sei: We have large and deep caves of several depths: the deepest are sunk six hundred fathom; [...] These caves we call the Lower Region. And we use them for all coagulations, indurations, refrigerations, and conservations of bodies. [...] W e use them also sometimes, (which may seem strange) for curing of some diseases, and for prolongation

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Andreae, wie Anm. 6, S. 218f. - »Hier erweist sich die beste Anlage und Gewandtheit der Frauen und Witwen, denen der Staat aufs freundlichste die Pflege der Siechen anvertraut: es gibt auch Hospitäler, die dafür bestimmt sind. Vor aller andern Medizin pflegen sie aber die Gemüter der Kranken zu ermuntern und sie ihrer früheren Kraft zu erinnern, damit nichts von dem christlichen Mut verloren geht; dann erinnern sie sie der gewohnten Selbstbeherrschung, damit sie dem unbotmäßigen Körper gegenüber nicht zu nachsichtig sind; hernach halten sie sie auch zur Befolgung der Medizin an, damit sie nicht vor der Unannehmlichkeit der Behandlung zurückschrecken.« Bacon, wie Anm. 7, S. 133. - »Das Fremdenhaus ist ein ansehnliches und geräumiges Haus, aus Backstein errichtet, der eine etwas bläulichere Farbe hat als unser Backstein, mit hübschen Fenstern, teils von Glas, teils von geöltem Linnen. [...] Dann führte er [sc. der Offizier] uns zur Besichtigung der Kammern, die für uns hergerichtet waren. [...] Die Kammern waren hübsch und licht und gefällig möbliert. Dann führte er uns zu einer langen Gallerie, einer Art Dormitorium, wo er uns auf der ganzen Länge der einen Seite (denn die andere bestand nur aus Wand und Fenstern) siebzehn Zellen zeigte, jede sehr freundlich und mit Zedemholz abgeteilt. Diese Gallerie mit insgesamt vierzig Zellen (viel mehr als wir benötigten) war als Spital für kranke Personen eingerichtet. Und er sagte uns, daß, falls einer von unseren Kranken gesund werde, er von seiner Zelle in eine Kammer verlegt werden sollte.« Vgl. Jetter, wie Anm. 52, S. 131 ff.

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of life in some hermits that choose to live there, well accomodated of all thins necessary; and indeed live very long; by whom also we learn many things. 5 8

Andere Patienten werden zu Trinkkuren an künstliche Brunnen geschickt: We have also a number of artificial wells and fountains, made in imitation of the natural sources and baths; as tincted upon vitriol, sulphur, steel, brass, lead, nitre, and other minerals. And again we have little wells for infusions of many things, where the waters take the virtue quicker and better than in vessels or basons. And amongst them we have a water which we call Water of Paradise, being, by that we do to it, made very sovereign for health, and prolongation of life. 5 9

Auch Heilbäder sind wichtig: We have also fair and large baths, of several mixtures, for the cure of diseases, and the restoring of m a n ' s body from arefaktion: and others for the confirming of it in strength of sinews, vital parts, and the very juice and substance of the body. 6 0

Sogar künstliche Luftbäder hat die Kommune für ihre Kranken zu bieten: We have also certain chambers, which we call Chambers of Health, where we qualify the air as we think good and proper for the cure of divers diseases, and preservation of health. 6 1

Aus alledem wird deutlich, daß Bacon ein experimentelles Interesse an diversen Heilungsmöglichkeiten hat, aber auch an diversen Krankheiten und Krankheitsfällen. Es sind keine schlichten Naturheilmittel und Naturheilverfahren mehr, die hier zur Anwendung kommen, sondern deren Extrakte, Kondensate, Konzentrate, Kombinationen und Abstraktionen. Und die Patienten sind in New Atlantis immer auch Objekt des Experiments: Versuchspersonen. 58

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Bacon, wie Anm. 7, S. 156f. - »Wir haben große und tiefe Höhlen von unterschiedlicher Tiefe. Die tiefsten reichen sechshundert Faden hinab. [...] Diese Höhlen nennen wir die »Untere RegionRomischer Keyserlicher Majestat Ordnung vnd Reformation guter Pollicei im Heyligen Römischen Reich Anno M.D.xxx. zu Augspurg vffgericht.< Mainz 1530. Bl.Dij. verso.

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Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Integration bezeichnet. Und um die geht es ihm. Während der psychiatrische Ernst, mit dem die gegenwärtige westliche Zivilisation geistig Behinderten begegnet, ein Ernst der Verwahrung, der Stillstellung, der Separierung und Unsichtbarmachung ist. (Erst eine Kunsttherapie, wie Leo Navratil sie in Gugging praktiziert, kann als freundschaftliche Wiederbelebung der utopistischen Empfehlung Mores interpretiert werden. 68 ) Für Stiblin haben Geisteskrankheit, Narrheit, Wahn nichts Heiliges, ja selbst nichts Erstaunliches mehr. Sein tugendpoliceylicher Rigorismus duldet kein Zögern und Differenzieren. Geistesschwäche gilt ihm als Indiz moralischen Versagens, als Effekt ausschweifender Lebensführung. Deshalb kann und darf es derlei im Eudaemonenser-Staat nicht geben: Nulla quippe praesentior Reipublicae pestis, quam luxuria, quae cum uita libidinosa & intemperante coniuncta est: quam mox sequitur animus nullum facinus aut scelus horrens, frangitur & emasculatur iuuentus, & inutilis ad omnem functionem intemperantia uita redditur. Hinc tot morborum agmina ueniunt: substantia exhauritur. Mentis quoque stupiditas, animique leuitas comitatur immodicam deliciarum affluentiam: denique seditiones, adulteria, proditiones, rapinae, & (ut semel dicam) ipsius Reipublicae euersio, ex hoc malo pullullant. 6 9

Campanella, der zwar, wie schon deutlich wurde, der göttlichen Krankheit Epilepsie in der Sonnenstadt eine Heimstätte gibt, spricht doch aber nirgends davon, daß in seiner Sozietät auch geistig Behinderte leben könnten. Das ist bei ihm jedoch schon deshalb nicht zu erwarten, weil er ein eugenisches Zucht- und Selektionsprinzip propagiert, das die Geburt von behinderten Kindern ausschließt: »nam inter eos deformitas non invenitur.« 70 Invaliditäten und Verkrüppelungen gibt es deshalb nur als Folge von Unfällen oder Krieg. Und diese Behinderten aber werden gemäß den ihnen verbliebenen Möglichkeiten voll in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß eingebunden: Hoc egregium est illis, imitatione dignum, quod nullus defectus ociosos reddit homines, excepta decrepita aetate, quando etiam ad consulendum adhibentur. At qui claudus est, servit in excubiis speculans oculis, quos habet; qui caecus est, carminat manibus lanam, exspoliando plumas pilis quibus replentur anaclinteria et pulvinaria; qui caret oculis et manibus, usum aurium reipublicae commodat vel vocis etc.; et tandem si unum modo membrum habet, cum ilio servit vel in villis, et bene tractantur et sunt exploratores rempublicam admonentes quaecunque audierint. 71

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Vgl. Leo Navratil: Schizophrenie und Dichtkunst. München 1986. Vgl. Stiblin, wie Anm. 4, S. lOOf. - »Keine Krankheit des Staates wirkt allerdings schneller als die Genußsucht, die mit libidinösem und unmäßigem Leben verbunden ist. Ihr folgt bald eine geistige Haltung, die vor keiner Untat und keinem Verbrechen mehr zurückschreckt, die die Jugend zerbricht und verweichlicht und die durch zügelloses Leben für jede Aufgabe untauglich wird. Von hier kommen so viele Krankheitsarten; die Substanz wird erschöpft. Schwachsinn und Wankelmut begleiten den unmäßigen Zufluß der Vergnügungen. Schließlich erwachsen Aufruhr, Ehebruch, Verrat, Vergewaltigung und (daß ich es einmal sage) die Zerrüttung des Staates selbst aus diesem Übel.« Campanella, wie Anm. 5, S. 134 - »Denn unter ihnen gibt es keine Mißbildungen.« Campanella, wie Anm. 5, S. 137. - »Diese ausgezeichnete und nachahmenswerte Sache aber gibt es bei ihnen: daß keine Behinderung die Menschen zur Untätigkeit zwingt, außer Altersschwäche, doch auch dann wird man noch zur Beratung herangezogen. Wer

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Andreae schließlich fragt nicht mehr nach der besonderen Erheiterungsfähigkeit von Geistesschwachen und auch nicht mehr nach der Arbeitsfähigkeit von Behinderten, sondern nach der gesellschaftlichen Zumutbarkeit. Damit aber ist ein neues Kriterium eingeführt, das seiner Unbestimmtheit wegen sehr viel härter und weiterreichend eingesetzt werden kann als alle früheren: Quibus mens emota aut vitiata est, si tolerari possunt, inter se patiuntur; sin minus, humaniter asservant. Quod idem cum enormiter monstrosis habetur: id enim ratio iubet, ut, quibus natura fuit iniquior, humana societas benignior esse velit, nam et nos Deus non, quales vult, habet, sed quales sumus, infinita mansuetudine, et longanimitate sustinet. 7 2

Über das Entstehen von Demenz und Therapierbarkeit von Geisteskrankheiten lassen sich die Utopisten nicht aus. Auch bietet keiner ein Konzept für ein »Narrenspital«, ein Sonderspital für Psychopathen, wie sie doch im Europa des 17. Jahrhunderts durchaus schon eingerichtet wurden. 73

4.

Zu den theoretischen Grundlagen utopischer Medizin

Die Erkenntnisse der Medizin als akademischer Wissenschaft werden bekanntlich in der Frühen Neuzeit weitgehend noch nicht in den Hospitälern, sondern primär aus Büchern, aus Vorlesungen, gelegentlich durch Sektion von Tierund Menschenkadavern und nur selten durch die Praxis am Krankenbett gewonnen. Denn weite Bereiche der praktischen Medizin - wie z.B. Geburtshilfe, Chirurgie, Zahnmedizin, Ophtalmologie, Badekuren, Wundbehandlung finden an den Universitäten im Medizinstudium noch keine Berücksichtigung und bleiben weithin Fachleuten mit handwerklicher Ausbildung - z.B. Hebammen, Badern, Zahnbrechern, Starstechern, Bruchschneidern, Feldscheren, Theriakkrämern - überlassen. Die Korrektur- und Lernmöglichkeiten sind deshalb sowohl auf Seiten der akademischen Medizin wie auf Seiten der außerakade-

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aber lahm ist, dient mit seinen Augen, die er ja hat, als Spähposten. Wer blind ist, krempelt Wolle mit seinen Händen oder rupft Federn, mit denen Betten und Kissen gefüllt werden. Wer aber weder Augen noch Hände hat, der dient dem Gemeinwesen mit den Ohren oder mit der Stimme usw. Und überhaupt, wenn jemand nur irgendeinen brauchbaren Körperteil hat, so macht er sich damit auf den Landgütern nützlich. Auch werden sie gut behandelt, und sie dienen als Kundschafter, indem sie dem Gemeinwesen melden, was immer sie hören.« Andreae, wie Anm. 6, S. 220. - »Diejenigen, deren Geist aber verrückt oder zerrüttet ist, dulden sie unter sich, wenn sie zu ertragen sind; wenn aber nicht, verwahren sie sie menschenwürdig. Dasselbe tun sie mit besonders mißgestalteten Personen. Und zwar aus der Überlegung heraus, daß die menschliche Gesellschaft mit denen besonders behutsam umgehen sollte, gegen die die Natur besonders ungerecht war. Denn auch Gott nimmt uns ja, die wir nicht so sind, wie er will, sondern so, wie wir eben sind, und er erträgt uns in Milde und Langmut.« Zur Geschichte der Separierung von geistig Behinderten und der Baugeschichte von »Narrenspitälern«, »Irrenhäusern«, »Zuchthäusern« und dgl. m. vgl. Dörner, wie Anm. 65. - Jetter, wie Anm. 52, S. 193ff. - Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München 1973 (Titel der Originalausgabe: Naissance de la Clinique. Paris 1963).

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mischen Heilpraxis beschränkt. Auch in den utopischen Sozietätsmodellen ist diese bornierende Arbeitsteilung noch nicht vollends überwunden, obschon es Ansätze gibt, sie zu kritisieren und aufzuheben. Kooperationsansätze von Praxis und Theorie, von Praktikern und Gelehrten, lassen sich erkennen, wenn man die erkenntnistheoretische, ethische und theologische Axiomatik utopischer Medizin herausstellt und den Zusammenhang der dort auftretenden Natur-, Moral- und Gottesbegriffe erfragt. Welche Bedeutung der Natur-Begriff, das Naturstudium und die Naturnachahmung für die Bewohner von Utopia hat, macht Morus mit folgenden Sätzen deutlich: Quin in re medica quoque sodalis meus Tricius Apinatus aduexerat secum parua quaedam Hippocratis opuscula, ac Microtechnen Galeni, quos libros magno in precio habent: siquidem & si omnium fere gentium, re medica minime egent, nusquam tamen in maiore honore est, uel eo ipso quod eius cognitionem numerant inter pulcherrimas atque utilissimas partes philosophiae: cuius ope philosophiae dum naturae secreta scrutantur, uidentur sibi non solum admirabilem inde uoluptatem percipere: sed apud autorem quoque eius, atque opificem summam inire gratiam: quem caeterorum more artificum arbitrantur: mundi huius uisendam machinam homini (quem solum tantae rei capacem fecit) exposuisse spectandam: eoque chariorem habere: curiosum ac sollicitum inspectorem, operisque sui admiratorem: quam eum qui uelut animal expers mentis: tantum ac tam mirabile spectaculum, stupidus immotusque neglexerit. Vtopiensium itaque exercitata Uteris ingenia mire ualent ad unuentiones artium, quae faciant aliquid ad commodae uitae compendia. 7 4

Bemerkenswert ist, daß Morus seine europäischen Reisenden Standardwerke der antiken Medizin an die Utopier überreichen läßt, die des Hippokrates (ca. 460 - ca. 370 v.Chr.) und Galens ( 1 2 9 - 199 n.Chr.). In der Tat ist die Lehre der Utopier, daß Medizin Teil der Philosophie und der Arzt selbst Philosoph sein solle, eine Grundforderung hippokratischer und galenscher Medizin. Insofern werden die Utopier in ihrer medizinischen Ethik durch die europäischen Buchgeschenke also lediglich bestätigt. Indes gehen die Mediziner Utopias über antike Vorstellungen dann hinaus, wenn sie voller Emphase Medizin als ein Mittel begreifen, Einblick in die Geheimnisse der Natur (secreta naturae)

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Monis, wie Anm. 2, S. 183. - »Mein Gefährte Tricius Apinatus hatte sogar einige kleinere medizinische Schriften des Hippokrates mitgeführt und die >Mikrotechne< des Galen, welche Bücher sie sehr schätzen. Denn obschon sie wohl unter allen Völkern der medizinischen Kunst am wenigsten bedürfen, genießt diese gleichwohl nirgends höhere Wertschätzung, und zwar deshalb, weil sie deren Kenntnis zu den schönsten und nützlichsten Teilen der Philosophie zählen. Sie meinen, wenn sie mit Hilfe dieser Philosophie die Geheimnisse der Natur ergründeten, so gewähre ihnen das nicht nur wundervollen Genuß, sondern trage ihnen auch bei dem Urheber und Werkmeister derselben [sc. der Natur] höchste Anerkennung ein. Sie glauben nämlich, dieser habe nach Art anderer Künstler die sehenswerte Maschine der Welt dem Menschen (den allein er dazu befähigt habe, ein so große Sache zu verstehen) zur Betrachtung vor Augen gestellt. Er habe deshalb einen wißbegierigen und engagierten Betrachter und Bewunderer seines Werkes lieber als einen, der wie ein unverständiges Tier dies große und wunderbare Schauspiel stumpf und unbewegt überhaupt nicht wahrnimmt. Die Utopier sind vermöge wissenschaftlicher Schulung erstaunlich qualifiziert für Erfindungen auf dem Gebiet der Künste, die irgend zur Erleichterung des Lebens beitragen.«

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und in die von Gott gebaute Weltmaschine (machina mundi) zu nehmen. Solche Einblicknahme sei dem Menschen von Gott selbst aufgegeben. Insofern sind Naturwissenschaft und Technologie nur Konsequenz und Ausfluß einer Medizin, die ihrerseits Gottesdienst als Gotteserkenntnis (qua Schöpfungserkenntnis) ist. Zu unterstreichen ist, daß Natur- und Gottes-Begriff hier schon eng zusammengeführt sind. Das mechanische Weltbild beginnt in ein maschinistisches überzugehen. Der Schritt zur Interpretation des menschlichen (und tierischen) Körpers als Maschine, wie er in unterschiedlicher Radikalität von della Porta, Descartes und anderen bis hin zu de La Mettrie vollzogen wird, ist nicht mehr groß. Tatsächlich ist die theologische Emphase des Natur-Begriffs wie umgekehrt auch die physikoteleologische Aufladung des Gottes-Begriffs auch da bestimmend, wo Morus die Lust-Lehre der Utopier als Gesundheitslehre entfaltet: als Apologetik eines körperlichen Wohlbehagens, das nur im Einklang von Natur, sozietärer Vernunft und Gott Bestand haben kann: Voluptatem appellant omnem corporis animiue motum statumque, in quo uersari natura duce delectet. 7 5 - Nunc uero non in omni uoluptate felicitatem, sed in bona, atque honesta sitam putant. ad eam enim uelut ad summum bonum, naturam nostram ab ipsa uirtute pertrahi, cui sola aduersa factio felicitatem tribuit. Nempe uirtutem definiunt, secundum naturam uiuere ad id siquidem a deo institutos esse nos. Eum uero naturae ductum sequi quisquís in appetendis fugiendisque rebus obtemperat rationi. Rationem porro, mortales primum omnium in amorem, ac uenerationem diuinae maiestatis incendere [...]. 7 6 - Corporis uoluptatem in duas partiuntur formas, quarum prima sit ea, quae sensum perspicua suauitate perfundit [...]. Alteram corporea uoluptatis formam, eam uolunt esse, quae in quieto atque aequabili corporis statu consistât, id est nimirum sua cuiusque nullo interpellata malo sanitas. Haec siquidem, si nihil eam doloris oppugnet, per se ipsa delectat, etiam si nulla extrinsecus adhibita uoluptate moueatur. 7 7

In Stiblins Schrift sind die Erkenntnisprinzipien und Erkenntnisinteressen, die für die Mediziner des Eudaemonenser-Staates wegweisend sein könnten, nicht ausdrücklich benannt. Doch bietet die Beschreibung des Medizin-Auditorums der Hohen Schule von Makaria (der Hauptstadt des Eudaemonia-Staates) und seiner ikonographischen Ausstattung gewisse Anhaltpunkte, sie zu erschließen:

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Morus, wie Anm. 2, S. 166. - »Als Lust bezeichnen sie jede Regung und jeden Zustand des Leibes und der Seele, die für den, der sich darin gemäß der Natur befindet, genußvoll ist.« Morus, wie Anm. 2, S. 162. - »Nun glauben sie jedoch nicht, daß jeder Lust Glück innewohne, sondern nur guter und ehrenhafter. Zu dieser aber als dem höchsten Gut werde unsere Natur durch die Tugend selbst hingezogen, welcher doch die entgegengesetzte Fraktion [der Philosophen] allein das Glück zuschreibt. Sie definieren nämlich Tugend als naturgemäßes Leben, zumal wir ja von Gott dazu geschaffen seien. Derjenige aber folge der Weisung der Natur, der in allen erstrebens- und meidenswerten Dingen der Vernunft gehorche.« Morus, wie Anm. 2, S. 172. - »Sie unterscheiden bei den körperlichen Lüsten zwei Arten: deren erste bestehe darin, daß eine deutliche Wohligkeit die Sinne durchströme. [...] Die andere Art körperlicher Lust besteht ihrer Vorstellung nach in einem ruhigen und ausgeglichenen Zustande des Körpers: das ist freilich die durch kein Übel unterbrochene Gesundheit. Wenn diese durch keinen Schmerz behelligt wird, erfreut sie schon an sich, auch wenn sie durch keine von außen erregte Lust bewegt wird.«

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Jörg Jochen Berns Medici quoque satis frequens auditorium habent, quod horum scientia in República necessaria uideatur. quod enim aliud perfugium in medijs morbi angustijs, quam medicorum consilium, et auxilium? Suae igitur diatribae parietes ornarunt Chirone, Aesculapio, Apolline, et Paeone, deorum medico: item Galeno, Hippocrate, Auicenna, et Nicandro, praecipuis medicinae cultoribus atque patronis. 7 8

Deutlich sind hier die mythischen Heilgötter und Götterärzte Chiron, Aeskulap, Apollo und Paionios von den historischen Ärzten geschieden, unter denen die schon von Morus erwähnten Griechen Hippokrates und Galen die Galerie eröffnen, der dann aber noch der griechische Medizinpoet Nikandros (etwa 3. oder 2. Jh. v. Chr.) und der persische Mediziner Avicenna (980 - 1037) eingereiht sind. Mit solcher Tradition in Einklang fundieren auch Stiblins Idealstaatsbürger ihre Ethik- und Gesundheitslehre mit Naturgemäßheit und Natürlichkeitsmaximen. Die Eudaemonenser erkennen in sich das Bild göttlicher Natur - »in se expreßam diuinae naturae imaginem« 79 - und leiten daraus ihre Verpflichtung zur naturgemäßen Tugend ab: Ad hoc consummatißimum uirtutum exemplar, ceu ad speculum se componunt, uitamque suam moderantur: et nihil tarn secundum naturam esse putant, quam caste, sobrie, seuere, iuste et pie, omnesque conatus suos ad communem utilitatem conferre. contra omnium maxime naturae aduersari, turpem, libidinosam et impiam, sineque contentione aliqua, traducere aetatem. Quare sedulo cauent, ne quid Deum & Naturam peccent, ac délinquant: non tarn propter impendentis supplicij metum, quam quia turpe sit, quod ex sui natura fugiendum arbitrantur. 8 0

Natur- und Gottes-Begriff liegen also auch hier eng beisammen und fundieren gemeinsam die Tugendlehre. Es ist jedoch ein undynamischer, lustfeindlicher Natur-Begriff, den Stiblin gegen die stoische Lustapologetik Mores stellt: Nullum scelus, nullum facinus est, ad quod suscipiendum non impellat uoluptatis libido. Constat bonis uiris, nihil praestabilius mente homini esse datum. 8 1 - qui uero se uoluptatibus dediderint, & impulsu libidinum omnia iura uiolarint, íIiis nullum accessum ad superna patere consortis. 8 2 78

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Stiblin, wie Anm. 4, S. 97. - »Auch die Mediziner haben eine hinreichend zahlreiche Hörerschaft, weil auch deren Kenntnis im Gemeinwesen für notwendig erachtet wird. Denn welche Zuflucht gibt es in der Mißlichkeit einer Krankheit als Rat und Beistand der Ärzte? Sie haben also die Wände ihrer Gelehrtenschule mit Chiron, Aeskulap, Apollo und Paionios, dem Götterarzt, geschmückt, und ebenso mit Galen, Hippokrates, Avicenna und Nikander, den hervorragendsten Gründern und Patronen der Medizin.« Stiblin, wie Anm. 4, S. 79. Stiblin, wie Anm. 4, S. 80. - »Nach diesem höchst vollendeten Muster der Tugenden, das sie sich als Spiegel gegenüberstellen, richten sie auch ihr Leben ein: und sie glauben, daß nichts so naturgemäß sei, wie keusch, nüchtern, ernst, gerecht und fromm und mit aller Anstrengung zum gemeinen Nutzen beizutragen. Hingegen sind sie der Auffassung, es sei durchaus widernatürlich, ein schimpfliches, wollüstiges, unfrommes Leben ohne irgendwelche Anstrengung zu verbringen. Daher hüten sie sich eifrig davor, sich irgend wider Gott und die Natur zu versündigen oder zu vergehen: nicht so sehr aus Furcht vor der drohenden Strafe als vielmehr deshalb, weil sie glauben, es sei schimpflich, aus der eignen Natur zu fliehen.« Stiblin, wie Anm. 4, S. 101. - »Es gibt kein Verbrechen, keine Untat, zu denen nicht die Lustbegier treibt. Für wackere Männer steht fest, daß dem Menschen nichts vorzüglicheres gegeben ist als der Verstand.« Stiblin, wie Anm. 4, S. 88f. - »Die sich aber den Lüsten hingegeben und durch Antrieb

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Es versteht sich, daß aus solcher lustfeindlichen Moral auch keine Lust am Wissen, an Naturwissenschaft und Naturnachahmung erwachsen kann, wie es bei Morus, dann aber auch bei Campanella, Andreae und Bacon zu beobachten ist. Stiblins Eudaemonenser sind prinzipiell neuerungsfeindlich: Rerum nouandarum Studium prorsus damnant, ueterum institutis manent. Intelligunt enim, innouationes radices esse magnarum seditionum. 8 3

In der Civitas Solis Campanellas werden Gott und Natur wiederum in engster Verbindung gesehen: Gott ist der Ursprung aller Kausalität, die allgemeine Ursache aller Wirkungen, der Naturnotwendigkeiten wie des freien menschlichen Handelns: Igitur aiunt: Deus dédit causas omnibus futuris effectibus et universales et particulares, quae particulares operari non possunt nisi et universales operentur. Non enim planta floret nisi sol propinque calefactat. Tempora autem ab universalibus sunt causis, scilicet a coelestibus, omnia ergo coelo operante operamur. 8 4

Religion und tugendhaftes Handeln folgen aus der Einsicht in die kausalitätssetzende Schöpfertat Gottes und der Betrachtung der Weisheit und Gesetzmäßigkeit, die in der Schöpfung waltet. Religion ist demnach im Sonnenstaat Physicotheologie: At vero qui constructionem mundi contuetur et hominis anatomiam (quam ipsi in condemnatis ad necem experiuntur saepe) et planetarum et belluarum et usus partium ac particularum earundem, cogitur Dei sapientiam ac providentiam altis acclamationibus confiteri. Itaque debere hominem religioni se totum dare propriumque auctorem venerari semper. Hoc autem non bene perficere posse vel non facile, nisi qui Dei opera perquirit et pernoscit eiusque observât leges et probe philosophatur in operibus suis. 8 5

Wo die Philosophie aus dem Studium der Werke Gottes - namentlich aus dem des himmlischen Kosmos und des menschlichen Körpers, die einander auf geheimnisvolle Weise entsprechen - erwächst, hat die Medizin theologische Würde. Dies erklärt, weshalb im Sonnenstaat, stärker als in allen anderen uto-

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der Begierden alle Gesetze verletzt hätten, denen stehe kein Zugang zu den himmlischen Gemeinschaften offen.« Stiblin, wie Anm. 4, S. 98. - »Sie verurteilen ganz und gar das eifrige Bemühen um Neuerung der Dinge; sie verbleiben vielmehr bei den Einrichtungen der Alten. Sie meinen nämlich, daß Neuerungen die Wurzeln großer Zerwürfnisse seien.« Campanella, wie Anm. 5, S. 161. - »Sie sagen also: Gott gab allen zukünftigen Wirkungen die Ursachen, sowohl die universalen wie die partikularen. Und die partikularen können nur wirken, wenn auch die universalen wirken. Denn die Pflanze blüht nicht, wenn nicht die Sonne sie von nahem erwärmt. Die Zeiten aber kommen von den universalen Ursachen, nämlich von himmlischen. Also tun wir alles aus himmlischem Antrieb. Campanella, wie Anm. 5, S. 159. - »Wer aber die Konstruktion der Welt betrachte und die Anatomie des Menschen (die sie selbst oft an den zur Hinrichtung Verurteilten erforschen) und die der Planeten und der Tiere und den Gebrauch ihrer Teile und Teilchen, der sei gezwungen, die Weisheit und Vorsehung Gottes mit höchster Beistimmung einzugestehen. Daher müsse sich der Mensch ganz der Religion anheimgeben und seinen eignen Urheber immer verehren. Dies aber könne er nicht gut oder nicht so leicht ausführen, wenn er nicht Gottes Werke erforsche und begreife und seine Gesetze beobachte und eifrig philosophiere in seinen Werken.«

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p i s c h e n Staaten sonst, ein Arzt W e i s u n g s b e f u g n i s hat in fast allen B e r e i c h e n sozietärer Vitalität. B e z e i c h n e n d e r w e i s e richtet er seine W e i s u n g e n nach d e m k o s m i s c h e n R h y t h m u s . G e s u n d leben heißt im Einklang mit der W e l t l e b e n , die selbst als riesiges L e b e w e s e n - animal

ingensS6

- gedacht wird.

A u c h Andreae fundiert die M e d i z i n v o n Christianopolis

theologisch. Chri-

stus nämlich gilt dort als der oberste Arzt, w e i l er Herr über L e b e n und T o d ist. S o ist verständlich, daß auch hier die m e n s c h l i c h e M e d i z i n als Einblick in und Lernen aus der göttlichen S c h ö p f u n g p h y s i c o t h e o l o g i s c h legitimiert s e i n muß: Praestat autem, inter has corporis humani afflictiones nostrae imperfectionis, vel potius supplicii memores esse, et hinc facilius vanitatis cristas ponere: inde ad eum recurrere medicum, cui non tantum aegrota sanare, ablataque restituere; sed mortuos etiam excitare, et in minutissimum pulverem dispersos recolligere, perfacile est. Medicinam autem honorabimus, non quod longaevitatem supra dimensum ea impetret, aut morti se opponat, sed quia ut creaturis, ita creaturarum adhibitione optimus creator nobis benefieri voluit. 8 ' Konkret sieht A n d r e a e die M e d i z i n als W i s s e n s b ü n d e l u n g anderer Naturwissenschaften: »in physicis, c h y m i c i s , anatomicis et pharmaceuticis, quibus max i m e c o n s t a t « . 8 8 V o n d i e s e n W i s s e n s c h a f t e n v e r d i e n e n d i e P h a r m a z i e und A n a t o m i e in u n s e r e m F r a g e n z u s a m m e n h a n g b e s o n d e r e B e a c h t u n g . D e n n die A p o t h e k e gilt den Christianopolitanern nachgerade als geordnete Z u s a m m e n f a s s u n g der Natur: Quia enim in physicam maxime propendent cives, haec illis apotheca velut naturae totius compendium est. Quicquid elementa conférant, quicquid ars expolit, quicquid creaturae omnes suppeditant, huic infertur, non tantum ab sanitatis curam, sed etiam in mentis instructionem. 89 Spiegelt die A p o t h e k e die Natur wider, s o ermöglicht die A n a t o m i e einen Einblick in die Werkstatt (fabrica)

des Körpers, der seinerseits wiederum als ver-

kleinertes Abbild der g e s a m t e n W e l t g e n o m m e n wird:

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Bacon, wie Anm. 7, S. 156. Andreae, wie Anm. 6, S. 180. - »Es steht uns an, unter all diesen Bedrängnissen des menschlichen Leibes unserer Unvollkommenheit oder besser unserer Strafe eingedenk zu sein und desto leichter den Federbusch unserer Eitelkeit abzulegen; von da aber zu jenem Arzt Zuflucht zu nehmen, dem es nichts Großes ist, Krankes zu heilen und Verlorenes zu ersetzen, ja, dem es selbst ein Leichtes ist, sogar Tote zu erwecken und die in Form feinsten Staubes zerstreuten wieder zusammenzufügen. Also werden wir die Medizin nicht deshalb ehren, weil sie uns eine außergewöhnlich lange Lebenszeit erwirkt oder dem Tod opponiert, sondern weil der beste Schöpfer sowohl den Geschöpfen als auch uns, durch Verwendung der Geschöpfe, wohltun wollte.« Andreae, wie Anm. 6, S. 180. Andreae, wie Anm. 6, S. 114. - »Da nämlich die Bürger zur Physik große Neigung haben, gilt ihnen die Apotheke als Kompendium der ganzen Natur. Was die Elemente zusammenbringen, was die Kunst ausbildet, was alle Geschöpfe darbieten, wird hier hineingetragen, nicht allein zur Erhaltung der Gesundheit, sondern auch zur Unterrichtung des Verstandes.«

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Habent etiam anatomiae, sive sectioni animalium attributum locum, quod nihil tarn prope sit miraculo, quam corporum animatorum, ac imprimis hominis, quem mundi minutum exemplar, et epitomen aiunt, fabrica. 90

Andreae spinnt mit seiner Rede von der fabrica corporis, die die Welt verkleinert widerspiegelt, Mores Rede von der machina mundi, die den menschlichen Körper vergrößert widerspiegelt, fort. Ähnlich wie Mores Utopia-Bewohner beobachten und messen auch die Christianopolitaner die Bewegungen der Himmelskörper, doch benutzen sie diese Beobachtungen nicht zur Wahrsagerei. 91 Vor allem zu Campanellas Astrologiefreudigkeit wahrt der Lutheraner Andreae skeptische Distanz. Auch in New Atlantis ist die Medizin als Wissenschaft vom menschlichen Körper eine Naturwissenschaft, die theologischer Legitimation bedarf. Die Erforschung des göttlichen Schöpfungswerkes ist dem Menschen aufgegeben, und zwar aus drei Gründen: um Gott zu bewundern und zu loben, um ihn zu imitieren und schließlich um sein Schöpfungswerk - und insbesondere die menschliche Gesellschaft - zu verbessern. Deutlich wird dies aus dem Programm der akademieähnlichen Kernzelle des neuen Atlantis-Staates, des »Hauses Salomons«: It is dedicated to the study of the Works and Creatures of God. 9 2 - [...] for the finding out of the true nature of all things, (whereby God might have the more glory in the workmanship of them, and men the more fruit in the use of them). 93 - The End of our Foundation is the knowledge of Causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of Human Empire, to the effecting of all things possible. 9 4

Generell geht es in den Laboratorien und Werkstätten des Hauses Salomons um die Nachahmung (imitatio) und Abbildung (repraesentatio) von Naturverhältnissen und Naturereignissen; mithin nicht allein um einen Einblick in Gottes Werk, sondern auch um dessen Fortsetzung! So dient die Naturwissenschaft - und mit ihr die Medizin - der Optimierung der individuellen und kollektiven Lebensbedingungen. Bei diesem Bestreben stoßen die Experimentatoren, Konstrukteure und Ingenieure von New Atlantis bis in Bereiche der Nachahmung und künstlichen Ersetzung von Leben und Lebendigem vor, in Bereiche der Roboterei, Illusionsbildnerei, künstlichen Sprache und dergleichen mehr:

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Andreae, wie Anm. 6, S. 116. - »Sie haben auch einen Ort, der der Anatomie oder Zergliederung der Lebewesen gewidmet ist. Denn nichts ist so wunderbar wie die Werkstatt der beseelten Körper, zumal des des Menschen, welchen sie als verkleinerten Abriß der Welt und deren Auszug bezeichnen.« Andreae, wie Anm. 6, S. 154ff. Bacon, wie Anm. 7, S. 145. - »Es ist der Erforschung der Werke und Kreaturen Gottes gewidmet.« Bacon, wie Anm. 7, S. 146. - »... für das Herausfinden der wahren Natur aller Dinge (wodurch Gott den größeren Ruhm ihrer Erstellung wegen haben sollte, die Menschen aber den größeren Nutzen im Gebrauch derselben).« Bacon, wie Anm. 7, S. 156. - Übersetzung wie Anm. 50.

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Jörg Jochen Berns We have divers curious clocks, and other like motions of return, and some perpetual motions. We imitate also motions of living creatures, by images of men, beasts, birds, fishes, and serpents. We have also a great number of other various motions, strange for equality, fineness, and subtility. [...] W e have also houses of deceits of the senses; where we represent all manner of feats of juggling, false apparitions, impostures, and illusions; and their fallacies. 9 5

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in den meisten frühneuzeitlichen Utopien sich die Tendenz bemerkbar macht, Medizin als Teil einer Naturerforschung zu fassen, die Natur als bewahrenswertes, aber auch als zu nutzendes und schließlich gar als zu vervollkommnendes Schöpfungswerk Gottes begreift. Der Mensch ist als Erforscher und Imitator der machina mundi und fabrica corporis selbst nicht nur Geschöpf (natura naturata), sondern auch sekundärer Schöpfer (natura naturans). Dabei macht die Tatsache, daß der Monotheos der utopischen Sozietäten von Morus, Stiblin und Campanella kein christlicher ist, der der Sozietäten von Andreae und Bacon aber wohl, bemerkenswerterweise keinen Unterschied. Für die Entwicklung des Toleranzdenkens ist es doch höchst bedeutsam, wenn als möglich gilt und gedacht werden darf, daß Medizin und ärztliche Moral zwar nicht ohne Monotheos, wohl aber ohne christliches Bekenntnis auskommen.

5.

Staatskörper und Staatskrankheit

Daß unsere fünf Utopisten bei Erläuterung ihrer Staatsmodelle sich der Corpus-Metapher bedienen, ist nicht eben erstaunlich. Denn die Tradition dieser Metapher reicht bekanntlich bis in die Antike zurück, 96 und sie ist bis heute vital geblieben, da ja auch bei uns noch - meist unbedacht und also selbstverständlich - von »Staatsoberhaupt«, »Staatsorganen«, »Körperschaften« und dergleichen mehr die Rede ist. In unserem medizinhistorischen Fragenzusammenhang verdient gleichwohl die Verwendungsweise dieser Metaphorik nähere Beachtung, weil sie in den fünf Texten unterschiedlich häufig und in verschiedenem Variantenreichtum auftritt und damit unterscheidbare Problemperspek-

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Bacon, wie Anm. 7, S. 164. - »Wir haben verschiedene merkwürdige Uhrwerke und andere mit Rücklaufbewegung und einige mit immerwährender Bewegung. Wir imitieren auch die Bewegungen lebender Kreaturen, etwa in künstlichen Menschen, Vierfüßlern, Vögeln und Schlangen. Wir haben auch eine große Zahl verschiedener anderer Automaten, die sich durch Gleichmäßigkeit, Feinheit und Subtilität auszeichnen. [...] Wir haben ferner Häuser für Sinnestäuschungen, wo wir alle möglichen Gaukeleien, Trugbilder, Schwindeleien, Illusionen und Blendwerke hervorrufen.« Vgl. Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974. - Barbara StollbergRilinger: Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin 1986. - Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983 (= Münstersche Mittelalterschriften, Bd. 30). - Ernst-Wolfgang Böckenförde/ Gerhard Dohrn-van Rossum: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper. In: Geschichtliche Grundbegriffe, wie Anm. 63, Bd. 4, S. 519-622.

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tiven eröffnet. Diskutierbar werden anhand der Metaphemverwendung Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv und damit nach dem Verhältnis von individueller und kollektiver Gesundheit; oder die nach der induktiven oder deduktiven Potenz der Analogik von Menschenkörper, Staatskörper, Weltkörper und damit die Frage nach dem Verhältnis von Anatomie, Politologie und Astronomie/Astrologie; oder die Frage nach dem strukturlogischen Verdeutlichungsinteresse der Metaphernverwendung (z.B. Funktionen der verschiedenen Körperglieder und Arbeitsteilung im Staatskörper, Hierarchie der Körperglieder und soziale Hierarchie, angebliche Naturgegebenheit bestimmter Staats- und Herrschaftsformen etc.). Morus bedient sich der Staatskörper-/Staatskrankheits-Metaphorik sehr selten, aber mit Selbstverständlichkeit. So bezeichnet er die Gerechtigkeit als Lebensnerv des Staates (»iustitia ... fortissimus reipublicae nervus« 97 ), hingegen den Privatbesitz als Krankheitsherd des Staatskörpers. 98 Den Herrscher vergleicht er mit dem Arzt: Denique ut imperitissimus medicus est, qui morbum nescit nisi morbo curare, ita quis vitam civium non novit alia via corrigere, quam ademptis vitae commodis, is se nescire fateatur imperare l i b e r i s . "

Die sehr spärliche Verwendung dieser Metaphorik im Gesamttext zeigt, daß für Morus die Analogie von menschlichem und politischem Körper keine weittragende konstruktive Bedeutung hat. Ganz anders ist das aber bei Stiblin. Der nämlich legt dar, daß die Statur des menschlichen corpus und die Kooperation seiner membra bei Gründung des Eudaemonenser-Staatswesens das gottgegebene Konstruktionsvorbild waren: Primum ciues Eudaemonenses persuasum habent, se non temere confluxisse, sed numinis prouidentia uitae communione sociatos coisse: ut a priore uiuendi ritu, quo sparsim in agris & syluis currebant, omniaque uiribus, nihil autem prudentia & ratione administrabant, ad mansuetiorem cultioremque aetatis degendae rationem traducerentur: èque multis ueluti membris quibusdam, unum corpus, quod ciuitatem uocarent, conflaretur, congregareturque: cuius salus & incolumitas ex aequo omnibus curae esset. 1 0 0

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Morus, wie Anm. 2, S. 196. Morus, wie Anm. 2, S. 104/106. Vgl. oben Anm. 14. Morus, wie Anm. 2, S. 94/96. - »Schließlich, wie der ein höchst unerfahrener Arzt ist, der Krankheit nur durch Krankheit zu heilen weiß, so sollte der, der das Leben der Staatsbürger nicht anders als durch Entzug aller Annehmlichkeiten des Lebens zu korrigieren weiß, eingestehen, daß er über freie Menschen nicht zu gebieten versteht.« Stiblin, wie Anm. 4, S. 78f. - »Zuvorderst sind die Eudaemonensischen Bürger der Überzeugung, daß sie nicht zufällig zusammengeströmt, sondern daß sie durch Vorsehung des Höchsten Wesens zu einer Lebensgemeinschaft gesellschaftlich zusammengetreten seien: auf daß sie von ihrer früheren Lebensweise, in der sie verstreut in Feldern und Wäldern lebten und alles mit physischer Kraft, nichts aber mit Klugheit und Verstand bewältigten, zu einer gesitteteren und kultivierteren Lebensweise geführt würden. Damit ebenso, wie aus vielen verschiedenen Gliedern ein einziger Körper besteht, etwas, das sie Staat nennen, zusammengeschmolzen und zusammengesellt werde; etwas, dessen Heil und Gesundheit der Sorge aller in gleicher Weise anheimgestellt sei.«

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Das Körperbild muß dann auch dazu herhalten, die sozialen Standesdifferenzen (die hier allerdings nicht nach Geburt, sondern nach Tugend bestimmt sind) zu legitimieren: Caeterum ut in corpo re humano alia membra alijs digniora sunt, & nobiliora, alia in conspicuo, alia uero occulta & recondita: ita in Eudaemone non omnium est eadem dignitas & conditio, sed personanim multiplex discrimen. Hi quippe plebeij sunt, illi patricij: hi in magna ueneratione & spedati, illi obscuri & ignobiles: & ut quisque República meretur, prudentiaque & uirtute praestat, ita quoque honoribus augetur. 1 0 1

Mit der Körpermetapher verbindet Stiblin die Augenmetapher, die ja in der utopistischen Literaturtradition, zumal durch die Gleichsetzung von Sonne und Auge, seit der Antike ein Leitmotiv ist. 1 0 2 Die metaphorische Verkettung reicht von Gott/Herrscher über Sonne/Auge in städtische Obrigkeits- und Aufsichtsvorstellungen. So ist nicht von ungefähr das Staatsemblem der Eudaemonenser ein Auge: Curijs autem, ubi conseßus & frequentia senatorum fieri soient, appinxerunt oculum cum sceptro: qua imagine Aegytij quondam, principis simulachrum repraesentabant. illi magistratus sic figurant: nimirum quod oculus in animalis corpore, idem magistratus sit in República. Oculorum beneficio caute faeimus gradum, ne toto corpore impingamus: cemimus enim, qua uia pateat. Sic magistratus muñere Respublica floret, ac confirmatur. Quod item sol in coelo, idem magistratus in ciuitate. Sol oculus mundi est, magistratus multitudinis oculus. 1 0 3

Für die Reichweite der Körpermetaphorik ist weiter bedeutsam, daß Stiblin durchgängig Laster als Krankheiten metaphorisiert. 104 Da Stiblin ein strenges, lustfeindliches Strafregiment befürwortet, wird die Unterbindung und Verfol-

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Stiblin, wie Anm. 4, S. 80f. - »Wie übrigens auch im menschlichen Körper die einen Glieder würdiger sind als die anderen und edler, die einen sichtbar, die anderen versteckt und verborgen, so ist auch in Eudaemon nicht jeder von gleicher Würde und gleichem Stand, sondern es gibt zwischen den Personen vielfältige Unterscheidung. Die einen sind natürlich Plebejer, die anderen Patrizier, die einen stehen in höchster Verehrung und sind angesehen, die anderen sind unbekannt und unedel; und wie ein jeder sich um den Staat verdient macht, sich durch Klugheit und Tugend auszeichnet, so nimmt er auch an Ehren zu.« 102 v g l . Adolf Rosenzweig: Das Auge in Bibel und Talmud. Ein Essay. Berlin 1892. David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Frankfurt a.M. 1987 (engl. Erstausg. 1976). - Jürgen Manthey: Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie. München und Wien 1983. - Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter. 2 Bde., München 1985. 103 Stiblin, wie Anm. 4, S. 84f. - »In den Kurien aber, wo die Sitzungen und Zusammenkünfte der Senatoren stattzufinden pflegen, hat man ein Auge mit einem Szepter angemalt; mit welchem Zeichen die Ägypter einst das Bildnis eines Fürsten repräsentierten. Jene Beamten nun aber drücken damit folgendes aus: Was das Auge im Körper eines Lebewesens, das sei der Magistrat im Staate. Mit Hilfe der Augen machen wir vorsichtig einen Schritt, damit wir nicht mit dem ganzen Körper hinschlagen, denn wir nehmen wahr, welcher Weg gangbar ist. So blüht der Staat dank des Magistrats und wird gestärkt. Dasselbe was die Sonne für den Himmel ist, das ist der Magistrat für die Bürgerschaft. Die Sonne ist das Auge der Welt, der Magistrat das Auge der Menge.« 104 Stiblin, wie Anm. 4, S. 102ff.

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gung von Lastern zur Staatssache, in der individuell-moralische und kollektivpolitische Differenzen verschwinden. Dem lustfeindlichen, aber gesunden Eudaemonenser-Staat wird dann als Kontrastbild ein angeblich lustverfallenes, luxus- und alkoholliebendes Deutschland gegenübergestellt. So entsteht hier in ersten Konturen der Topos von der deutschen als der kranken, monströsen oder verspäteten Nation (von dem noch die Rede sein soll). Auch bei Campanella hat die Körpermetapher für die Funktionsbeschreibung des Idealstaates konstitutive Bedeutung. Die Bürger der Civitas Solls betrachten sich als Glieder eines Körpers, einer ist Teil des anderen: »Videntur omnino esse eiusdem corporis membra et alter alterius.« 105 Der Bürger, der lasterhaft gegen das Prinzip des Gemeinwohls verstößt, wird als räudiges Glied des Staates (»membrum reipublicae putridum« 106 ) bezeichnet, das von Gerichtspersonen wie von Ärzten behandelt wird: »reus accusatori conciliatur et testibus, tanquam medicis suae aegritudinis«. 107 Zu unterstreichen ist, daß Campanella denselben metaphorischen Komplex zu ganz anderen politischen Erklärungen nutzt als Stiblin. Während der nämlich, wie wir sahen, aus der unterschiedlichen Lage und Funktion der membra innerhalb des corpus die Notwendigkeit einer sozialen und politischen Hierarchie im Staate ableitet, begründet eben damit Campanella ganz im Gegenteil die Gleichwertigkeit aller membra innerhalb des Staatskörpers aus ihrer unaustauschbaren eigentümlichen Funktion: Sed vocant disciplinam omne ministerium et aiunt ita honorificum esse pedi ambulare et culo cacare, sicut oculo videre et linguae loqui: nam ille lacrymas et ista sputum, excrementa excernunt, cum opus est. Idcirco cuicunque quilibet ministerio deputatus operatur illud tanquam honestissimum. 1 0 8

Noch wichtiger aber ist - wie wir oben schon in anderem Zusammenhang darlegten - , daß Campanellas Sonnenstaatsbürger die Konstruktion der Welt mit der Anatomie des menschlichen Körpers analogisieren. So ist von dem einen auf das andere zu schließen und von dieser durchgehenden Entsprechung der Schöpfungsdinge und deren Spiegelung ineinander auf die Weisheit Gottes. 1 0 9 Eben weil der Makrokosmos denselben Gesetzen gehorcht wie der Mikrokosmos, können, nach Auffassung der Sonnenstaatler, die Sterne das menschliche Schicksal spiegeln, ja, das Schicksal ganzer Völker ist aus ihren Konstellationen abzulesen. 110

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Campanella, wie Anm. 5, S. 150/152. Campanella, wie Anm. 5, S. 149/151. Ebd. Campanella, wie Anm. 5, S. 135. - »Sie nennen jeden (Tätigkeits-)Bereich >Dienst< und sagen, es sei für den Fuß ebenso ehrenhaft zu gehen und für den Arsch zu kacken wie für das Auge zu sehen und für die Zunge zu sprechen: denn jenes scheidet Tränen und diese da Speichel als Exkremente aus, wie es notwendig ist. Deshalb erfüllt jeder jeden Dienst, zu dem er bestellt ist, als den denkbar ehrenhaftesten.« Vgl. Campanella S. 159/161. Vgl. Campanella S. 159ff.

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Daß in Andreaes Christianopolis der menschliche Körper als Abriß der Welt in verkleinertem Maßstab, als »mundi minutum exemplar« und »fabrica« gilt, hatten wir schon zitiert. Es gilt festzuhalten, daß es aber bei der bloßen Erwähnung dieser Gegebenheiten bleibt und daß nirgends entfaltet oder auch nur thesenhaft ausgesprochen wird, welche Konsequenzen denn diese Entsprechung von Menschenkörper und Weltkörper für die verschiedenen Wissenschaften wie Biologie, Astronomie, Anatomie oder gar Politologie haben müßte. Zu einem rechten Erkenntnisschlüssel oder gar zu einer Allegorie entwikkelt er die Körperanalogie also nicht. Das ist insofern inkonsequent, als Andreae in der Vorrede an den christlichen Leser seinen Ich-Sprecher erklären läßt, er habe sich die Stadt Christianopolis nach Maßgabe seines eignen Körpers konstruiert: ... urbem mihi ipse construxi, ubi dictaturam exerceam, quam si corpusculum meum dicas, non abs re divinaveris. 1 1 1

Ironisch alludiert ist hier der berühmte Stadt/Körper-Vergleich der AristotelesSchrift >De animalium motuDissertatio de ratione status in imperio nostro Romano-Germanico< (1640)) und Samuel Pufendorf (mit seinem >De statu imperii Germanici liber unus< (1667)) die wichtigsten Leuchttürme sind. Die b a r o c k e Reichs- und D e u t s c h l a n d - K r i t i k , die in P u f e n d o r f s b e k a n n t e r monstrositas-Diagnose118 kulminiert, wurzelt ihrerseits in den Gravamina-

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Bacon, wie Anm. 7, S. 137. Campanella, wie Anm. 5, S. 135. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verfiihrbarkeit bürgerlichen Geistes. Frankfurt a.M. 1974. S. 36. Zedlers Universal-Lexicon, Bd. 43, Leipzig und Halle 1745. Sp. 184-196. Wichtig auch der Artikel »Staats-Kranckheiten« in Bd. 39 (1744), Sp. 652-665. Vgl. /Samuel Pufendorf:/ Severini de Monzambano Veronensis, de stabu imperii Germanici ad Laelium fratrem, dominum Trezolani, liber unus. Genevae, apud Petrum Columesium, 1667. Über die >monstrositas< und >irregularitas< des Reichs: Cap. VI., § 9. Vgl. auch die Ausgabe: Samuel Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Horst Denzer. Stuttgart 1976. S. 106ff.

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Katalogen und der Reichsreformliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts,119 sie bereichert ihre Argumentation historisch und metaphorisch an der erst in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wiederentdeckten, 1470 erstmals gedruckten und sogleich breit kommentierten und fortgeschriebenen >Germania< des Cornelius Tacitus, 120 und sie findet eine ostinate Begleitung in der seit 1530 erlassenen, mehrfach ergänzten und bekräftigten Reichspolizeiordnung. 121 In diesem Felde nun findet auch ein Stiblin mit seiner lust- und neuerungsfeindlichen Deutschlandkritik seine Anknüpfungspunkte und seine politische Aktualität. Denn wenn er seufzt: Intelligo nunc, quantum malorum Germaniae sit inuectum, ex hoc, quod recesserit a maiorum institutis, qui frugalitatem colebant, luxum horrebant, simplicitatem morum probabant: at ipsa aetas nostra peregrinarum nationum admixtu corruptißima, et luxu barbarico effoeminatissima facta est. Quotusquisque enim non patrium cultum fastidit [,..]? 1 2 2

- dann sind die Erinnerungen an frugalitas und simplicitas der alten Deutschen dem Bericht des Tacitus entnommen; 123 wenn er hingegen die Luxusliebe, die Schmuck- und Kleiderliebe, die Blasphemieneigungen und vor allem die Sauffreudigkeit der neuen Deutschen brandmarkt, dann durfte er sich in bestem Einverständnis mit der Reichspolizeiordnung wissen. Denn die handelt lang und breit »Von vnordenlicher vnnd kostlicheit der cleydung« bei den verschiedenen Ständen, 124 handelt »Von gottszlesterung vnd gotts schwüren«, 125 wie sie gerade durch die Konfessionsauseinandersetzungen gefördert wurden. Und wenn sie »Von zutrincken« im Deutschland des 16. Jahrhunderts meldet: Vnnd nach dem auß trunckenheit wie man teglich befindet/ vil lasters/ Übels vnnd vnrathts entsteet/ Auch jnn vergangnen Reichstagen des zutrinckens halb geordnet vnnd

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Vgl. Frank Ganseuer: Der Staat des Gemeinen Mannes. Gattungstypologie und Programmatik des politischen Schrifttums von Reformation und Bauernkrieg. Frankfurt a.M., Bern, New York 1985. Das Germanienbild, das Tacitus als Kontrastbild für die römische Gesellschaft seiner Zeit entworfen und deshalb geschönt hatte, wurde von allen deutschen Patrioten schon des 16. und 17. Jahrhunderts aus- und fortgeschrieben. Seine Topik wurde zur Topik der Germanistik vom 16. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber auch medizinhistorisch ist die Wirkungsgeschichte des Werkleins beziehungsreich, weil hier sowohl rassische, physiologisch-physiognomische, wie auch sexuelle, hygienische und moralische Daten mitgeteilt wurden, die in der deutschen Geschichte selbst normative Kraft gewannen. Es wäre durchaus eine genauere Prüfung wert, ob das Germanienbild des Tacitus nicht auch schon auf die Konzeption der Utopie des Morus eingewirkt hat. Vgl. die Literaturangaben zur Geschichte der Polizei/Policey in Anm. 63 und 67. Stiblin, wie Anm. 4, S. 108f. - »Wieviele Übel nach Deutschland eingefallen sind, erkenne ich nun daraus, daß es abgewichen ist von den Ordnungen der Vorfahren, die die Mäßigkeit pflegten, den Luxus verabscheuten, die Einfachheit der Sitten guthießen. Dagegen ist unser Zeitalter durch Vermischung mit fremden Nationen völlig verdorben und durch barbarischen Luxus völlig verweichlicht worden. Wer verachtet denn noch nicht die Kultur unserer Väter?« Vgl. P. Cornelius Tacitus: GERMANIA Bericht über Germanien, lateinisch und deutsch. Übers., komment. u. hg. v. Josef Lindauer. München 1975. No. XIX, S. 34; No. XXIII, S. 38f.

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gesatzet/ das eyn yede oberkeit sollich zutrincken abstellen/ vnnd das zuuermeiden/ die vberfarer emstlich straffen soll. Sein doch sollich ordenung vnd Satzung bißanher wenig gehalten oder volntzogen worden. Sonder hat der angetzeiget mißbrauch vnnd vnwesenheit des zutrinckens allenthalben yhe lenger yhe mher eingewurtzelt sich gemeret/ vnnd vberhandt genommen. Darauß Gotslesterung/ Mordt/ Todtschlege/ Ehebruch/ vnd dergleichen vbelthatten gefolget/ vnd noch zu dem/ das etwan durch trunckenheit die heimlicheitten so pillich verschwiegen offenbart werden. Auch solche lasten den Teiitschen deren manheit von alters hohe berümpt bey allen frembden Nationen verechtlich. /.../ Zugeschweigen das das zutrincken eyn entlich vrsache ist alles vbels/ vnnd dem menschen an seiner seelen Seligkeit/ Erhen/ gunst/ vemunfft/ vnnd manheit nachteilig. Demnach gepieten wir allen vnnd yeden Churfürsten/ Fürsten vnnd anderen Stenden was wirden/ wesens/ standts/ oder landts die sein/ das sie jren vnderthanen zu exempel vnd das sie die selben zustraffen destomehr vrsach haben/ Das zutrincken gentzlich für sich selbs meiden/ Auch an jren hofen/ allem hoffgesinde vnnd jnn jren fürstenthumben herschafften landen gebieten vnd oberkeiten allen jren vnderthanen ernstlich bey zimlichen peenen vnnd straff das zutrincken zumeiden/ verpieten vnnd darüber ernstlich halten.' 2 6

- so heißt es entsprechend bei Stiblin: At apud nos Germanos usque adeo uulgaris est ί Π α ο ί ν α γ χ η , 1 2 7 seu angina uinaria, ut iam non dedecus habeatur uinolentia: sed ceu iucundum & amoenum spectaculum, omnibus risum excitet, ac beneuolentiam apud quosdam conciliet: fauemus enim tarn facetis & festiuis combibonibus: nulla ciuitas, nullus uicus, nullus angulus per omnem Germaniam est, qui non oleat uinolentiam, qui non crapulis sordeat. Vident hoc magistratus, proceres, principes: sed cum eodem in luto haereant, eadem in charybdi laborent, conniuuent. qua enim modestia alios corriperent, ipsi eodem uitio inquinatiores? 1 2 8

Die Übereinstimmungen zwischen Stiblins Argumentation und der der Reichspolizeiordnung sind, auch an anderen Stellen, so verblüffend, daß einmal genauer zu prüfen wäre, ob er nicht tatsächlich in vielen Punkten die Polizeierlasse paraphrasieren wollte. So würde denn die utopische Medizin zur Gesundheitspolizei.

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Reichspolizeiordnung 1530, wie Anm. 67, Bl. Bij ff. Reichspolizeiordnung 1530, wie Anm. 67, Bl. Aij ff. Reichspolizeiordnung 1530, wie Anm. 67, Bl. Bverso - Bij. Stiblins Terminus ο ί ν α γ χ η k a n n als griechische Version des Terminus >ZutrinckenReiseReisekunst< als Methodik der Sozialforschung vom Humanismus bis zur Aufklärung. In: Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.-18. Jahrhundert. Bericht über ein interdisziplinäres Symposion in Wolfenbüttel, 25.-27. September 1978. Hg. v. Mohammed Rassem u. Justin Stagi. Paderborn/München/Wien/Zürich 1980 (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik, 1). S. 131-204 (mit Quellenbibliographie S. 172-187); ders.: Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hg. v. Peter J. Brenner. Frankfurt a.M. 1989 (suhrkamp taschenbuch 2097). S. 140-177; Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen, 121). Kapitel Β II (S. 58-108); ich greife im folgenden auf Teile dieses Abschnittes zurück. - Literaturangaben können im vorliegenden Kontext nur exemplarisch gemacht werden.

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Eine vorapodemische Reisetheorie - wenn dieser Begriff denn gerechtfertigt wäre - ist gattungsgeschichtlich zum einen in den Itineraren, den Routenhandbüchern meist zum Zweck einer Pilgerreise, greifbar; zum anderen findet man sie in Reise-Consilia und Reise-Regimina ausgeformt, die ausschließlich medizinischen Inhalts sind. Dieses Genus schöpft aus dem Fundus arabischer Medizin (Rases, Haly Abbas, Avicenna) und ist um 1300 bereits gut dokumentiert. 2 Folgende Bereiche werden von ihm topisch abgedeckt: Land- und Seereisen, Reisen in Hitze und Kälte (mit Berücksichtigung von Erfrierungen, Schneeblindheit etc.), Durststillung, Hunger, Entkräftung, Nahrung, Trinkwasser, Auswahl und Bebauung der Lagerplätze, Seekrankheit, Läuse und Flöhe, Wundlaufen und -reiten sowie andere Verletzungen. Dieses reisediätetische Genre zielt auf die Bewahrung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit während des Reisens und ist daher mit Rezepturen angereichert, die eine Medikation ermöglichen sollen. Reise-Consilia und -Regimina können integrale Bestandteile medizinischer Compendien sein, wie etwa in Bernhard von Gordons Lilium medicinae (ca. 1305, gedruckt als Tractatus de conservatione vitae humanae. Lipsiae 1570) oder im Compendium medicinae (um 1300, Druck Lugduni 1510) des Engländers Gilbertus, das zwei Regimen-Schlußkapitel enthält: De regimine iter agentium und De regimine transfretantium? Sie können sich aber auch auf bestimmte Routen beziehen und solcherart in Kontakt mit den Itineraren treten. In einer Handschrift der beiden Nürnberger Ärzte Hermann und Hartmann Schedel etwa findet sich ein Abschnitt Die reigerung uff dem wege gen Jherusalem zu.4 Reise-Consilia wurden des öftern auch ad personam verfaßt, wie zwei Texte belegen, die erneut mit einem Nürnberger Arzt in Zusammenhang stehen: Der Stadtphysicus Dr. Johannes Lochner hat seinem Sohn, dem Pfarrer an der Sebald-Kirche daselbst, zu dessen Romreise 1480 zwei solcher Anweisungsschriften übermittelt.5 Die erste ist ein consilium sew regimen sanitatis hier werden also die Begriffe analog bzw. synonym eingesetzt - mit einem Pest-Regimen, die zweite umfaßt weitere auf Hygiene-Vorschriften abstellende Pest-Regimina. 6 Medizingeschichtlich gesehen ändert sich an den skizzierten Verhältnissen bis zum Auftreten der Apodemik nichts. Der Fall von Georg Pictorius,7 dessen Schriften in unmittelbarer zeitlicher Nähe der ersten Apodemiken erschienen, kann dies veranschaulichen. Pictorius, ein Arzt mit den für diesen Stand zu 2

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Vgl. dazu generell Karl Sudhoff: Ärztliche Regimina für Land- und Seereisen aus dem 15. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte der Medizin 4 (1911). S. 263-281. Vgl. ebd. S. 265f. Das Ms. vgl. Bayerische Staatsbibliothek, clm. 441. Fol. 188f. Vgl. Hans J. Vermeer: Johann Lochners »Reisekonsilia«. In: Sudhoffs Archiv 56 (1972). S. 145-196, mit weiteren, analogen Belegen S. 145 und vollständiger Edition S. 157192. Das erste Pest-Regimen wurde von Hartmann Schedel in den oben erwähnten clm. 441 (Fol. 243 r -245 v ) wörtlich durch Abschrift übernommen, vgl. ebd. S. 147 u. 153. Vgl. immer noch Ernst Georg Kurz: Georg Pictorius von Villingen, ein Arzt des 16. Jahrhunderts. Freiburg i.Br./Leipzig 1895.

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dieser Zeit gewohnt starken philologischen Interessen, 8 ist der Verfasser zahlreicher >Compendia sanitatis< (Aderlaßbüchlein, Diätetiken etc.). 9 Aus seiner Feder stammt aber auch ein eigenes Reise-Regimen, im Lateinischen der Erstausgabe (Miilhusen 1558) Itinerarium peregrinantium betitelt, als Reißbuchlein in Frankfurt 1566 und öfter gedruckt. Zwei Dinge daran sind wert, hier festgehalten zu werden. Erstens: Die generalistische Diätetik stellt ihrer Topik nach einen unspezifischen Teilbereich der spezialistischen Reise-Regimina dar. Pictorius' Diätetik Ein gantz fruchtbare Ordnung/ gegenwirtige gesundtheit zu erhalten10 etwa handelt von der Luft und damit vom Atmen, hierauf detailliert von Speise und Trank, von Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Völle und Entleerung (Erbrechen, Purgation, Nasenbluten, Harn, Schleim, Aderlaß, Schröpfen, Blutegel, Samen) sowie von den Affekten und ihren physiologischen Wirkungen. Die sechs großen Kategorien, die hiermit angezogen werden, sind die >sex res non naturales< - die Ordnung nach den sechs dingen so die artzt die nicht natürlichen

ding

nennet heißt es im Titel des Werks - , ein traditionelles Gliederungsschema medizinischer Traktate, die sich mit der Lebensführung innerhalb eines Regimen sanitatis beschäftigen. 11 Zweitens: Das Reise-Regimen steht auf denselben humoralpathologischen Grundlagen und bedient sich grundlegend derselben Kategorien, die ihren spezifischen Anleitungscharakter - d.h. ihre Amplificatio - aber aus der Reisetätigkeit beziehen. Das Reißbuchlein zerfällt, wie schon die spätmittelalterlichen Vorläufer, in einen Land- und einen Seereiseteil. Der umfänglichere Landteil hat 37 Kapitel, die sich unter Einschluß von Rezepturen für Medikamente mit den folgenden Fällen befassen: Purgation, Diät, Hunger, Durst, Schlafmangel, Leibesschwäche, Appetitlosigkeit, Verstopfung, Sodbrennen, Kopfschmerz, Harnbrennen, Nasenbluten, Durchfall, Von dem blutfeber, Von der Breune (d.i. verm. Diphtherie), Vergiftungen, Fußwundheit, Schneeblindheit, Unterkühlung, Erfrierungen, Von getoß der orent vnd gebresten der äugen/ so von schiessen entstanden, Trunkenheit, Katerbehandlung, Biergenuß, Tollwutbissen, Läusen, 8

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So ediert er u.a. Marsilio Ficinos Traktat De Studiosorum tuenda sanitate, eine neoplatonische Melancholieschrift, und versieht sie mit ausführlichen diätetischen Scholien. Seine OPERA noua (Basel 1569), die diese Arbeit enthalten, weisen das Buch auf dem Titelblatt aus als Werk GEORGII P1CTORII [...] Polyhistoris, medicique celeberrimi. U.a.: Rei medicae totius compendiosa traditio. Basel 1558. - Baderbuchlein. Miilhusen 1560. - Laß Buchlein. Frankfurt 1569. Ein gantz fruchtbare Ordnung/ gegenwirtige gesundtheit zu erhalten/ vnd zukünfftige kranckheit zu vermeiden/ auß den hocherfamen artzten/ Hippocrate/ Geleno [!] / Auicenna/ vnd anderen/ nach den sechs dingen so die artzt die nicht natürlichen ding nennet. Mülhusen [...] A N N O M. D. LXI. - Um eine Pathologie sowie eine Schrift gegen judische und Wanderärzte vermehrt u.d.T. Leibs Artzney. Frankfurt am Mayn. A N N O M. D. LXVI. Vgl. Gundolf Keil: Organisationsformen medizinischen Wissens. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Kolloquium 5.-7. Dezember 1985. Hg. v. Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1987 (Wissensliteratur im Mittelalter, 1). S. 221-245. Hier S. 238. - Vgl. zudem grundlegend Wolfram Schmitt: Theorie der Gesundheit und Regimen sanitatis im Mittelalter. Med. Habil. Heidelberg 1973 [masch.]. S. 32-38.

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Weinkühlung im Sommer, Sonnenbrand, verdorbener Speise und Lebensmittelvergiftung, Müdigkeit, geschwollenen Füßen, stinkenden Füßen, Körpergeruch durch Schweiß, Rachenzapfenschwellung durch Sonne, Hämatome. Das Schema ist zudem nahezu identisch mit der eingangs zitierten Topik der arabischen Reise-Regimina. Es ist in seiner Disposition keineswegs das Resultat beliebiger Verfügbarkeit, was klar wird, wenn man ein weiteres, nur wenig später veröffentlichtes Reise-Regimen betrachtet. DE REGIMINE ITER AGENTIVM12 des aus Bergamo gebürtigen calvinistischen Konvertiten Guglielmus Gratarolus 13 zerfällt ebenfalls in einen Teil Land- und einen Teil Seereise. Der Landteil ist in gegenüber Pictorius auf die Hälfte reduzierte 19 Kapitel gegliedert, umfaßt aber mit Ausnahme von wenigen Punkten die identischen Katagorien in einer Abfolge innerer Logik. Er beschäftigt sich mit den Reisevorbereitungen aus medizinischer Sicht (Pugation, Aderlaß, Diät etc.), mit Hunger und Durst, dem Essen und Trinken auf der Reise, mit Mitteln gegen Magenverstimmung, Zungentrockenheit, Magenbrennen und für die Regeneration eines verlorenen Appetits sowie gegen versäumten Schlaf. Schließlich widmet Gratarolus die verbleibenden zwei Drittel (nämlich die Kapitel 7-17) dieses ersten Teils der Prävention und der Heilung von körperlichen Beschädigungen durch das Reisen: Erschöpfung und Schwäche, Durchfall und Verstopfung, Kopfschmerz, Stillung von Blutungen und Harnbrennen, Fieber, Vergiftungen und verdorbene Speisen, Fußpflege, Winterreise und Schneeblindheit, Erfrierungen, Trunkenheit und Katerkur, Läuse und Flöhe, Sonnenbrand. Kapitel 18 und 19 schließlich haben Pferdekrankheiten und Vorsichtsmaßnahmen auf dem Weg und bei der Wahl von Herbergen sowie Überlegungen zum Reisewagen zum Gegenstand. Daß Reise-Regimina von Ärzten verfaßt, ausgeschrieben, kompiliert und weiterverbreitet wurden, ist damit in Umrissen gezeigt, ebenso, daß eine grundlegende topische Übereinstimmung der Reise-Regimina einerseits mit den Vorgaben der arabischen Gattungstradition und andererseits mit dem diätetischen Muster der >sex res non naturales< besteht, die von der spezifischen Gebrauchsorientierung definiert wird. Um die systematische Homogenisierung von Regimen und Apodemik historisch erklären und darüber hinaus zeigen zu können, wieso gerade vornehmlich Ärzte unter die frühesten und wichtigsten Apodemiker zu zählen sind, ist allerdings ein Blick auf eine wissenschaftliche 12

Guglielmus Gratarolus: DE REGIMINE ITER AGENTIVM, V E L EQVITVM uel peditum, uel naui, uel curru seu rheda, &c. uiatoribus & peregrinatoribus quibusque utilissimi libri duo, nunc primùm editi: Guilhelmo Gratarolo, philosopho & Medico. B A S I L E A , M. D. L X I . - In der Einleitung verweist Gratarolus auf Pictorius (vgl. Fol. a 4 V bis 5 r ) . Für einen ähnlich großen Erfolg wie das Reißbuchlein sprechen die Auflagen Straßburg 1563 und Köln 1571.

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Gratarolus ( 1 5 1 6 - 1 5 6 8 ) stammte aus Bergamo, studierte in Padua Medizin und lehrte das Fach u.a. in Marburg und Basel; er befaßte sich mit Hygiene, Drogenkunde, Physiognomik, Memorialtheorie, Prognostik, Alchemie. Vgl. immer noch Giovambattista Gallizioli: Della vita degli studi e degli scritti de Guilelmo Grataroli Filosofo e Medico. Bergamo 1788, sowie Hans Biedermann: Handlexikon der magischen Künste von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert. 3., verb. u. wesentl. verm. Aufl. Bd. 1. Graz 1986. S. 191ff.

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Kerndisziplin des Humanismus nötig - eine Disziplin, die zwischen Apodemik und Medizin zu vermitteln in der Lage ist. Die Rede ist von der Kosmographie, zu deren Vervollständigung die Apodemik eine systematische Hilfswissenschaft darstellt. Die topischen, d.h. systematisch-kategorialen Wurzeln der Apodemik liegen im kosmographisch-geographischen Interesse des Humanismus, dem die Bedeutung des Reisens als eines empirischen Erkenntnisinstruments bewußt wurde und der sich seiner gezielt bediente. 14 Die große Anzahl der Ärzte unter den Kosmographen ist des öfteren thematisiert worden. 15 Wenn es erlaubt ist, auch den Liber chronicarum unter die frühen Kosmographien zu zählen, dann ist hier Hartmann Schedel zu nennen. Weitere Beispiele für geo- bzw. kosmographisch tätige Ärzte sind der Nürnberger Jobst Ruchamer, der Straßburger Michael Herr, der Colmarer Johann Adelphus, der St. Gallener Joachim von Watt und der Marburger Johann Dryander, 16 unter den als Geographen bekannten Humanisten war etwa Bernhard Varenius Arzt, unter den Apodemikern waren es Hieronymus Turler, Hilarius Pyrckmair und Thodor Zwinger; der berühmte Mediziner Hieronymus Cardanus schließlich äußerte sich in seinen philosophischen Schriften zum Reisen. 17 Als Gründe für die genannte Affinität mögen durchaus einerseits die Ausbildung der akademisch gebildeten Ärzte im Studium generale der Sieben Freien Künste sowie in Botanik, Zoologie, Alchemie, Mineralogie angenommen werden bzw. andererseits ein besonderes ärztliches Interesse für Astrologie (Prognostik), die in Teilen eine systematische Überschneidung mit der zum Quadrivium zählenden Astronomie besitzt. 1 8 Diese Erklärungen befriedigen jedoch ebenso wenig wie der Hinweis auf freundschaftliche Beziehungen von Ärzten zu geographisch interessierten Humanistenkreisen (Ruchamer war ein Freund Willibald Pirckheimers, der in Nürnberg das Zentrum des humanistischen erdkundlichen Interesses bildete) 19 oder auf diätetische Nutzanwendungen des Lesens (Michael Herr etwa empfiehlt 1534 in der Vorrede seiner Kosmographie Die New weit das Erzählen von Neuigkeiten als Mittel gegen die Melancholie). 20 14

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Ich kann hier nicht auf Probleme eingehen, die mit der beschriebenen Situation in weiterer Verbindung stehen (Geschichte der humanistischen Kosmographie; Volkssprachlichkeit vs. Latinität in den Genera Regimen und Apodemik; Empirismus und Kategorienbildung; Diskursivität der Erfahrung und Systematik ihrer Abbildung; Verhältnis zur Reiseliteratur etc.); sie sind Gegenstand meiner in Anm. 1 zit. Arbeit. Vgl. zuletzt Hannes Kästner: Der Arzt und die Kosmographie. Beobachtungen über Aufnahme und Vermittlung neuer geographischer Kenntnisse in der deutschen Frührenaissance und der Reformationszeit. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hg. v. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände, V). S. 504-531. Vgl. ebd. S. 505. Zu den entsprechenden Werken der vier Letztgenannten vgl. unten. Vgl. Kästner: Arzt, wie Anm. 15, S. 506f. Vgl. ebd. S. 513. Vgl. [Michael Herr:] Die New weit, der landschaften vnnd Jnsulen, so bis hie her allen Altweltbeschrybern vnbekant/ Jungst aber von den Portugalesern vnnd Hispaniem jm

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Einen schlüssigeren Konnex zwischen Medizin und Kosmographie offenbart ein Blick auf die zeitgenössische Wissenschaftssystematik. Zunächst ist festzuhalten, daß der Begriff >Physica< in der Frühen Neuzeit die Naturlehre auf aristotelischen Grundlagen meint und »vor allem auf die qualitativen, direkt mit den Sinnen wahrnehmbaren Veränderungen [der Welt] gerichtet« 21 ist. Gregor Reisch stellt entsprechend in seiner Margarita Philosophica die Physik unter die philosophia theorica realis, wobei er zur Physica bemerkt: sub qua & medicina theorica continetur.22 Die theoretische Medizin (d.h. Anatomie, Physiologie, Pathologie: die letzten beiden Bereiche entscheidende Konstituenten eines jeden Reise-Regimen) kommt solcherart unter die philosophia theorica realis, und zwar sub specie physicae, zu stehen; an deren erster systematischer Stelle aber rangiert De celo & mundo,23 also die Kosmographie. Der andere Teil der Medizin, die nichtakademische Praxis, welche die Wundärzte betrifft, gehört zur philosophia practica factiua, cuius partes sunt artes mechanice;24 damit zählt sie zu den sieben sogenannten Eigenkünsten, die nach Hugo von St. Viktor, dem hier gefolgt wird, systematisiert sind in >lanificiumarmaturanavigatiovenatiomedicinatheatricaerfarungsex res non naturales< als gliedernde Kategorien klar erkennbar ist: Zur Gesunderhaltung des Körpers sei auf Luft, Speise und Trank zu achten, auf Sättigung und Entleerung, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen sowie auf die seelische Affizierung. 32 Turler ist jedoch auch in der Lage, aus einer physiologischen Begründung des Reisens ein humanistisches Bildungsprogramm zu entwickeln, das erstmals Züge einer systematischen Apodemik anzunehmen beginnt. Nach einer Definition der peregrinano als labor, also >Mühegenus demonstrativum< - , um schließlich den theoretischen Teil seiner Schrift 39 mit einer Passage zum Abschluß zu bringen, die den topisch-rhetorischen Aspekt mit einer Rückkehr zur Physiologie bzw. Psychologie vereint, mit einer Memoriallehre. Was man sieht, das bleibe länger im Gedächtnis als das, worüber man bloß gehört habe; nichts sei angenehmer, als das selbst zu sehen, worüber man gelesen oder gehört habe, und später das Gesehene sich zu vergegenwärtigen, es im Geiste zu betrachten: Quid uero iucundius esse potest quàm coram cernere, ea de quibus uel legisti aliquid uel audiuisti ex alijs, & rursum mente contemplari quœ uidisti aliquando, atque ad usum transferre [...].'40

Abhängig sind medizinisch-physiologischer wie deskriptionstheoretischer Teil von einem Methodenkonzept, das durch eine radikale Hinwendung zur empirischen Erkenntnisbildung definiert ist. Das coram cernere, das persönlich WahrnehmeninvestigatioPeregrinatio academica< bzw. der Kavalierstour ein angemessenes Betätigungsfeld fand, sich also der Jugenderziehung programmatisch annahm. Diese Möglichkeit nutzt der Commentariolus DE ARTE APODEM1CAAA des Arztes Hilarius Pyrckmair, 45 ein Werk, das dieser in seiner Eigenschaft als Hofmeister dreier Grafen von Sulz verfaßte, die er auf ihrer Kavalierstour nach Italien begleiten sollte. Nur noch verstreut tauchen hier Reste eines ärztlichen Reise-Regimen auf: Vor Krankheiten solle man sich hüten, heißt es da allgemein, 46 Luft und Lage eines Ortes seien für die Gesundheit eines Reisenden entscheidend, 47 und auf Diät sei ebenso zu achten wie auf die Lage des Quartiers, das man nicht bei Flüssen oder in Südlage wählen sollte. 48 Ansonsten nimmt Pyrckmair die Position Turlers insofern ein, als er im Nutzen des Reisens seine zentrale Rechtfertigung erblickt. Und Gelehrsamkeit gewinne man allemal eher aus usus et experientia als aus Büchern, man möge sich daher auf Reisen diuersitatem Regionum, & mores hominum dißidentium, & vitœ exempta49 ansehen. Letzter Sinn der Reise ist auch für ihn der Bericht über die in der Fremde gefundenen

41 42 43 44

45

46 47 48 49

Vgl. ebd. S. 19. Ebd. Fol. [A 3] r . Vgl. ebd. S. 20. Hilarius Pyrckmair: Commentariolus DE ARTE APODEMICA, SEV VERA PEREG R I N A C I RATIONE. INGOLSTADT Ex Officina Dauidis Sartorij. M. D. LXXVII. Hilarius Pyrckmair (Lebensdaten unbek.) stammte aus Landshut; er war Katholik, hatte in Freiburg studiert, wo er durch seinen Lehrer Johann Thomas Freige mit dem Ramismus in Berührung kam. Pyrckmair hatte zweimal Italien bereist. Vgl. Pyrckmair: Commentariolus, wie Anm. 44, S. 13. Vgl. ebd. S. 25. Vgl. ebd. S. 72. Ebd. S. 2.

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Tugenden; 50 er schlägt daher vor, man möge zur Sicherstellung des genauen Berichtes ein Tagebuch führen, weil man nicht alles Bemerkenswerte im Gedächtnis bewahren könne. 51 Pyrckmair, Katholik und Hofmeister, orientiert sein Konzept ganz auf zwei Reisetypen, die Pilgerfahrt (sei es nach Rom, Santiago oder Jerusalem) und die Bildungsreise: Omnis autem peregrinatio, quœ recta ratione suscipitur, aut Religionis, aut studiorum caussa [!] instituitur.52 Seine ausführliche Reisetopik ist daher als ein für die Unterrichtung reisender Jünglinge ausgelegter Katalog konzipiert. Zu achten sei auf Berge, Flüsse, Meere, Wälder, Weiden, heilige Orte, Haine, Wild, Jagd, Fruchtbarkeit des Landes, Städte (die Topoi der Stadtbeschreibung sind nahezu identisch mit jenen bei Turler), die Herrschaftsform und die Untertanen (ihr Leben, ihre Frömmigkeit, ihre Sitten, ihren Handel, ihre Subsidenz). 53 Wenn Pyrckmair zu Ende sein Werk eine Reiseanleitung nennt, non quidem oratorio more, sed pro ingenij tenuitate & in meam, et aliorum vtilitatem conscripta,54 so bedeutet das nicht, daß er auf eine durch die Rhetorik vermittelte Topik Verzicht leistet, sondern lediglich, daß er ihre argumentative Anordnung und Zielsetzung einem pädagogisch-erzieherischen Programm unterordnet. Die topische Grundlage als solche bleibt in der Reiseanleitung davon unberührt, wird allerdings, wie es das Zitat andeutet, der rhetorischen Strukturierung entledigt und in Richtung auf ein enzyklopädisches pädagogisches Programm hin neu formiert. Die topische Diskursivität wird zu einer topischen Systematik, 55 was hier nichts anderes bedeutet, als daß der Weg einer ciceronianischen Topik mit ihrer Bindung der Topoi an argumentative Muster verlassen wird, um zu einer aristotelischen Topik zurückzukehren. Diese zielt nicht auf die argumentative Einbindung der Topoi in die Beweisführungspraxis ab, sondern systematisiert lediglich die zu den Schlüssen notwendigen wahrscheinlichen Prämissen. 56 Radikaler noch verfolgt ein Werk diesen Weg, das ein wenig später im selben Jahr publiziert wurde. In der METHODVS APODEMICA57 von Theodor Zwinger, 58 erschienen 1577 in Basel, ist jede Form von diskursiver Dar50 51 52 33 54 55 56 57

58

Vgl. ebd. S. 11. Vgl. ebd. S. 21f. Ebd. S. 17. Vgl. ebd. S. 25-69. Ebd. S. 72. Die sich freilich erst im ramistischen Konzept der Apodemik Zwingers voll ausprägt. Vgl. dazu Arist. Top. 100 a 18. METHODVS APODEMICA IN EORVM GRATIAM, QVI cum fructu in quocunque tandem uitae genere peregrinari cupiunt, A THEOD. ZVINGERO BASILIENSE typis delineata, & cùm alijs, tum quatuor praesertim ATHENARVM uiuis exemplis illustrata. CVM INDICE. B A S I L E A EVSEBII EPISCOPII OPERA A T Q V E IMPENSA M D LXXVII. Theodor Zwinger (1533-1588) war zuerst Druckerlehrling in Lyon und ging dann nach Paris, um Philosophie zu studieren. Dort lernte er Petrus Ramus kennen, dessen Schüler und Freund er wurde. In Padua, wo Zwinger Medizin studierte, hatte er Umgang mit Turler, der ebenfalls von Ramus beeinflußt war. In Basel bekleidete Zwinger bis zu

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Stellung zugunsten von stemmatologisch-enzyklopädischen Tabellen aufgegeben, die Argumentations- bzw. Suchgesichtspunkte werden begriffszerlegend deduziert, d.h. vom Oberbegriff zum Unterbegriff bzw. zum konkreten Einzelfall, der dann auch historisch belegt und solcherart argumentativ vorgestellt wird, abgeleitet. Auch Theodor Zwinger fand im Ramismus einen erkenntnistheoretischen Apparat vorgebildet, der sowohl auf weltanschauliche wie auf systemlogische Probleme - eine freilich rein hypothetische Trennung - angewandt werden konnte. Das Werk gliedert sich in vier Bücher. Das erste trägt die Überschrift De Peregrinationum Causis, Accidentibus, & Speciebus.59 Hier systematisiert Zwinger die Absichten, Arten und Zwecke des Reisens. Das zweite Buch ist De Praeceptis Peregrinationum tum uniuersim, tum singillatim60 betitelt und stellt allgemeine Reisevorschriften sowie einen nach Berufsständen detaillierenden Katalog dar. Unter den allgemeinen Reisebedingungen versteht Zwinger Aspekte, die in summa eine vollständige Topik von Zwecken des Reisens ergeben, als da sind: grammatische (lingua), topographische (loci), die Sitten betreffende (mores), pragmatische (res), religiöse (religio), militärische (militia), die Eigenkünste betreffende (artes mechanicae), gesundheitliche (sanitas), auf Werke bezügliche (opus) und die Freundschaft betreffende (amicitia). Mischungen von einzelnen Aspekten werden ebenfalls berücksichtigt. Das Ständeregister enthält Reisen von Gelehrten, Studenten, Theologen, Juristen, Ärzten, Soldaten, Botschaftern, Kaufleuten, Pädagogen, Knaben, Fürsten, Gesandten, Armen sowie Gesellschaftsreisen. Die Reiseformen werden gegliedert in Reisen zu Fuß, zu Pferd, mit dem Wagen, dem Schiff und über Eis. Als vierter, materieller Aspekt schließt sich hier eine Systematisierung von Gastfreundschaft und Gesundheitslehre an. Betrachtet man die lateinischen Namen der vier Topoi dieses zweiten Buchs, so läßt sich unter den Begriffen finis, efficientes, forma und materia das topisch-inventionelle Schema der Aristotelischen >causae< wiedererkennen. Buch drei nimmt unter der Überschrift Eorum quae peregrinanti singillatim obseruanda sunt ENA ΕΙΞΙΣ^ ' die in den Titel des Werks gesetzte Ankündigung der quatuor [...] ATHENARVM auf, die hier als das Schweizer Athen, Basel, das französische, Paris, das italienische, Padua, und die antike Stadt selbst kenntlich werden. Die drei modernen Städte markieren nichts anderes als Zwingers Lebens- und Studienorte. Allen vier widmet Zwinger eine ausführliche systematisch-historische Beschreibung und Würdigung nach dem erweiterten Muster des antiken Städtelobs.

59 60 61

seinem Lebensende verschiedene Professuren. Vgl. in diesem Zusammenhang auch J. Karcher: Theodor Zwinger und seine Zeitgenossen. Episoden aus dem Ringen der Basier Ärzte um die Grundlehren der Medizin im Zeitalter des Barocks. Basel 1956; Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung und Spekulation. Theodor Zwinger und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 77 (1977). S. 57-137 u. 79 (1979), S. 125-223. Zwinger: METHODVS, wie Anm. 57, S. 1-42. Ebd. S. 43-158. Ebd. S. 159-391.

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Buch vier schließlich, De Particularium quorundam Obseruatione genannt' 62 spezifiziert eine Methodus Particularis (als Gegenstück zur Methodus Universalis des ersten Buchs) unter den Gesichtspunkten einer obseruatio multiplex und einer obseruatio simplicior. Diese hat unter dem Topos der Res die beschreibende Erfassung der antiken Gymnasien sowie des venezianischen Colleoni-Standbildes zum Gegenstand, unter dem Topos der Actio eine Systematisierung von Typographie und Buchdruck. In der Vorrede spricht Zwinger dezidiert von seinen didaktischen Absichten, die das Werk nicht allein für Knaben, sondern auch für Erwachsene als Anleitung tauglich machen sollen, und er lobt die stark didaktisch geprägten Apodemiken seines Studienkollegen und Freundes aus Paduaner Tagen, Turlers, sowie Pyrckmairs. Alle anderen Apodemiken überträfe seine METHODVS, weil sie auf den allgemeinen Grundlagen der Philosophie basiere. 63 Zwingers Apodemik erschließt im Konzept eines humanistischen Programms über die Ständelehre systematisch auch Bereiche der Reiseperzeption, die den engeren Bereich lateinsprachlicher Wissenschaft bereits verlassen, weil er die Erfahrungsbildung auch dem nicht humanistisch Gebildeten (Händler, Soldaten etc.) aufträgt. Die Möglichkeit dazu erschließt Zwinger sich über einen Begriff von Philosophie, der den Realismus der medizinischen Anweisungen auf die Epistemologie verlegt, sich zunehmend deutlich dem empirischen Wissenserwerb zuwendet und den aristotelischen Sensualismus nunmehr als Selbstverständlichkeit begreifen kann: Tritum est illud apud philosophes, Nihil esse in intellectu, quin prius fuerit in sensu.64 Die Absolutsetzung der Aristotelischen Kategorien verursacht in Zwingers Apodemik die fast völlige Eliminierung aller medizinischen Topoi, die aus den Regimina stammen. Das bedeutet nun nicht, daß die Medizin preisgegeben worden wäre, im Gegenteil. Im zweiten Buch zerlegt er die allgemeinen Praecepta itionis; die Kategorie des >efficiens< zerfällt in die Teile »princeps« und »Instrumentalis«, was die äußeren Reisebedingungen betrifft, 65 als da sind Reisevehikel, Sicherheit, Reisebegleiter, Bekleidung u.ä. Der Teil »princeps«, betreffend eum scilicet qui peregrinatur,66 wird weiter zerlegt nach dem, was Requiruntur ergo in peregrinante bona Animi bzw. Corporis.67 Hier ist nun der kategoriale Ort erreicht, wo die medizinischen Elemente der ehemaligen Reise-Regimina noch auftreten dürfen. Hier ist die Rede von den körperlichen Anforderungen an das Reisen (robusto sit corpore prœditus68), vom richtigen Alter des Reisenden (Pueri ergo & senes ineptiores, œtas media aptior69), von

62 63 64 65 66 67

68 69

Ebd. S. 392-400. Vgl. ebd. Fol. ß v . Ebd. Fol. [ a 4 ] v . Die zugehörigen Tabellen vgl. ebd. S. 57-61. Ebd. S. 46. Ebd. Die zugehörigen Tabellen des Aspekts »corpus«, aus denen im folgenden zitiert wird, vgl. S. 51-56. Ebd. S. 51. Ebd. S. 56.

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der Luft, der Diät, von Heilmitteln (Flatus fœniculi saccharo conditi semine, uel gingibere cocto, uel quo alio simili dißipato70). Die tatsächlichen medizinischen Hinweise, d.h. eine kasuistisch oder situativ applizierte Diätetik sowie eine ätiologische Pathologie mit Rezepten, sind nur noch fallweise anzutreffen. Die genannte Hilfe gegen Fenchel-Blähungen steht nicht bloß für ein vereinzeltes, sondern doch auch kurioses und vermutlich nicht allzu oft benötigtes Beispiel einer heilenden Rezeptur. Die Begründung für den geringen Praxiswert findet sich im Ausgangspunkt Zwingers. Weder der Reiseverlauf noch die >sex res non naturalessex res non naturales< oder situativ aus den Zugehörigkeiten des Wegs, des Klimas, der etwaigen Unfälle und anderer - vom Subjekt her betrachtet - Akzidentien entwickelt werden könnte. Was Zwinger den Blick verstellt, ist die Zerlegung des falschen Begriffs, der falschen Kategorie, nämlich des Individuums anstelle der von ihm vollzogenen Bewegung oder der Diätetik. Mit der subjektzentrierten Perspektive der »bona corporis« insistiert er jedoch scheints bewußt auf der einer Wahrnehmung von >res naturales< anstelle der >res non naturalesPrudentia civilis< werden, wo sie doch als Medium des investigativen Empirismus schlechthin gedacht war. Diese Bewegung, die ins 17. Jahrhundert hineinführt, ist sowohl bei den Verfassern apodemischer Schriften zu beobachten, die nicht medizinisch gebildet waren, als auch bei einigen der berühmtesten Ärzte, die sich über das Reisen nicht anders als genau in diesem Kontext der >Prudentia civilis< geäußert haben. Für die erste Gruppe mögen in einem kurzen Überblick Georg Loysius und Johann Heinrich Aisted, für die zweite Girolamo Cardano und Hermann Conring angeführt werden. Eine deutlich abgeschwächte Sachzugewandtheit bzw. empirische Offenheit tradiert >Merkurs NachtfeierLoci communes< im Sinne von Melanchthon, also moralisch verbindlichen Maximen) 79 aus der Antike (griechische, lateinische und biblische Zitate stehen hier nebeneinander), Zitaten aus der Patristik und dem lateinischen (Scaliger, Reusner u.a.) sowie dem volkssprachlichen Humanismus italienischer und französischer Provenienz belegt und beglaubigt er seine Vorschriften. Kennzeichnenderweise bedient er sich dabei auch volkssprachlicher >Loci communes< des Deutschen, indem er Sprichwörter in deutscher Sprache in dieser rhetorisch beweisenden Funktion einsetzt. 80 Inhaltlich geht Loysius nicht über das hinaus, was seine apodemischen Vorläufer in anderer Gestalt behandelt hatten. Als vorbildlich empfiehlt er so auch namentlich Zwinger, Pyrckmair und Gratarolus. 81 Manches Charakteristische unterscheidet ihn allerdings von diesen. So übernimmt er die verbreitete Argumentation, Kinder und Alte sollten nicht reisen. Als Beweis dafür gilt ihm aber nicht die physiologische (Hinfälligkeit, Mangel an Stärke) oder moralische (Mangel an judicium) Begründung, wie sie mehrfach anzutreffen war, sondern ein Zitat von Cornelius Gallus: Diversos diversa iuvant, non omnibus annis Omnia conveniunt, res prius apta nocet. Exultât levitate puer: gravitate senectus: Inter utrumque manens stat iuvenile decus. Hunc taciturn tristemque decet: fit clarior ille Lœtitia, & linguce garrulitate sutz?2

»Jeden erfreut etwas anderes, nicht allen Jahren / ist alles zukömmlich; was früher angemessen, schadet. / Der Knabe zeichnet sich durch Leichtigkeit aus; durch Schwere das Alter; / die Würde der Jugend bleibt zwischen beiden bestehen. / Diesen schmücken Schweigen und Trauer; jener wird ansehnlicher / durch seine Freude und die Geschwätzigkeit seiner Zunge.« - So lautet, in freier Übersetzung, das Zitat. Wenn Loysius auf Physiologisches in diesem Zusammenhang zu sprechen kommt, dann in geänderter Perspektive. Dem schwachen Alter sei das Ansehen, Erfassen und Nachahmen gemäß, nicht das Beurteilen und das Auswählen. 83 Die Medizin verflüchtigt sich im Horizont von vita et mores, der Ethik, im Rahmen der europäischen Bildungsgeschichte. Das Beweisen durch >Loci communes< aus der kulturellen, der bildungsgeschichtlichen und der sozialen Tradition belegt, wie sehr Loysius in seine Verhaltensvorschriften auf Endoxa und damit eine allgemein anerkannte Wirklichkeitsdeutung im Sinne der >Prudentia civilis< zielt. Wenn das Eigene aller79

80 81 82 83

Vgl. dazu Paul Joachimsen: Loci communes. Eine Untersuchung zur Geistesgeschichte des Humanismus und der Reformation. In: Luther-Jahrbuch VIII (1926). S. 27-97. Vgl. Loysius: PERVIGILIUM, wie Anm. 77, S. 36 und 39. Vgl. ebd. S. 5. Ebd. S. 36. Vgl. ebd. S. 37.

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dings die ultima ratio verkörpert, dann ist für ein empirisches Erfassen des Fremden wenig erkenntnistheoretischer Raum. Doch muß der Rahmen beachtet werden, in welchen er die Rechtfertigung des Reisens stellt. Seine Begründung für diese Tätigkeit zieht er aus der Existenz des Handelsverkehrs, dessen Patron der im Titel geführte Merkur ist. Der Handel habe die schöpfungsgeschichtlich begründete ungleiche Güterverteilung auf Erden auszugleichen: PREPOTENTI ET summo rerum omnium architecte, tùm ad demonstrandam sapientiam suam admirabilem; tùm ad coniungendas hominum societates placuit nullum locum adeò fertilem; nullam provinciam adeò frugiferam; nullam denique regionem adeò felicem esse, quœ non indigeret auxilio alteriusM

Um seine bewundernswerte Weisheit zu zeigen und die Gesellschaften der Menschen zu verbinden, habe es Gott gefallen, daß kein Ort so ertragfähig, keine Provinz so fruchtbar und keine Region so glückselig sei, daß sie nicht der Hilfe einer anderen bedürfte. - In Übereinstimmung mit der Tradition der protestantischen Erdkunde 85 verbindet Loysius eine realitätszugewandte Weltwahrnehmung mit einer heilsgeschichtlichen Rechtfertigung des Reisens, das als Erkenntnisinstrument der Schöpfung diese dem Menschen offenbart, der, indem er reisen muß, um sich zu erhalten, gleichzeitig auch Gott zu erkennen genötigt wird. Empirisch genannt zu werden, verdient dieses Konzept nicht; pragmatisch ist es allemal. Von dieser Ansammlung von >Loci communes< ist nur ein kleiner Schritt zur Integration der Apodemik in das Gesamtgefüge der europäischen Wissenschaften, wobei gerade dies den Verlust des empirischen Impetus durch die Reduktion auf das systematische Wissen unterstreicht: Die Enzyklopädie als Kontrafaktur des Buchs der Natur macht das empirische Sich-Beziehen auf die Natur selbst überflüssig. Das folgende Beispiel kann dies verdeutlichen. Mit Ausnahme weniger Neuakzentuierungen ist der Bezug von Johann Heinrich Alsteds 8 6 apodemischen Passagen in seiner Encyclopœdicfî1 auf 84 85

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Ebd. S. 1. Vgl. dazu Neuber: Welt, wie Anm. 1, Kap. Β I, und zahlreiche Arbeiten von Manfred Büttner, v.a.: Die Geographia Universalis vor Varenius. Geographisches Weltbild und Providentiallehre. Wiesbaden 1973 (Erdwissenschaftliche Forschungen, VII); ders.: Die Bedeutung der Reformation für die Neuausrichtung der Geographie im protestantischen Europa und ihre Folgen für die Entfaltung der Providentiallehre. Ein Beitrag zur Geschichte der wechselseitigen Beziehungen zwischen Theologie und Geographie. In: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977). S. 209-225; ders.: Philipp Melanchthon (1497-1560). In: Abhandlungen und Quellen zur Geschichte der Geographie und Kosmologie. Hg. v. Manfred Büttner. Bd. 1: Wandlungen im geographischen Denken von Aristoteles bis Kant. Dargestellt an ausgewählten Beispielen. Hg. v. Manfred Büttner. Paderborn/München/Wien/Zürich 1979. S. 93-110. Johann Heinrich Aisted (1588-1638) wurde während seines Studiums in Herborn vom Ramismus geprägt, dessen umfassende Wissenslehre ihn zur Abfassung seiner berühmt gewordenen »Enzyklopädie« führte. Ioannes Henricus Alstedius: SCIENTIARVM OMNIVM E N C Y C L O P E D I E TOMVS IIV. LVGDVNI, Sumptibus IOANNIS ANTONII HVGVETAN Filij, & MARCI ANTONII RAVAVD, viâ Mercatoriâ ad insigne Sphairx. M. DC. XLIX. APODEMICA: Tom. IV. Lib. XXXV. Sectio I. S. 247-251. - Die Erstausgabe erschien 1630; zu Aisted und der Entwicklungsgeschichte der Encyclopœdia vgl. Schmidt-Biggemann: Topica, wie

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Zwinger und Loysius sehr eng. Im Rückgriff auf jenen führt er unter dem Titel der PR/ECEPTA die Gliederung nach den vier >causae< (finis, efficiens, materia, forma) durch, ohne ihm aber in die Begriffszerlegung zu folgen. Die Disposition orientiert sich vielmehr an Loysius, was vor allem der zweite Hauptabschnitt vorführt, die REGULAï, die in 29 sequentielle Einzelschritte zerfallen. Diese 29 Schritte reichen von der platonisierenden Begründung des Reisens selbst (ungleiche Güterverteilung durch Gott) über die Spezifizierung ständischer Reisen bis hin zu praktischen Ratschlägen bezüglich der Fortbewegung (zu Fuß, zu Pferd, mit dem Wagen, über Eis). Wie Zwinger bestimmt Aisted den Nutzen von libri itinerarij & geographici, diaria88 im Rahmen dessen, was allgemein zu einer Reise erforderlich ist; >Reisebücher< geraten so allerdings aus dem Kontext der erst sekundär praktischen Applikation (so bei Zwinger) in die Nachbarschaft von rein praxisorientierten Reisebehelfen, wie Geld, Fuhrleuten, Gastgebern, Seefahrern, Kleidung und Waffen. 89 Die Darstellung der Peregrinano topica, seu localis, quce locorum causâ instituitur, bewegt sich in den >klassischen< apodemischen Beschreibungsmustern: vom Ortsnamen möge ausgegangen werden, die Umgebung führt auf den Ort selbst hin, der schließlich strukturell zergliedert und innerhalb dieser Struktur auch historisch beschrieben wird. 90 Daran schließen sich die erwähnten ständisch diversifizierten Reisen, erweitert um die Reisen sanitatis, opum, & amicitiœ wegen. D.h. die Gesundheitslehre, ehemals ausführlich dargelegtes Erbe der Regimina und solcherart Teil der allgemeinen Reiseanleitung, wird untergeordnet und bildet - wie schon bei Zwinger - einen eigenen Reisetypus. Erneute Anweisungen, die die Gesundheit betreffen, gibt Aisted dann allerdings nochmals im abschließenden 29. Kapitel, das er Peregrinado pedestris, equestris, currulis, nautica, & glacialis91 betitelt. Hier finden sich kurze Ratschläge zur Bekämpfung von Schweiß, Müdigkeit und Durst, aber ebenso Mahnungen zur Sorgfalt bei der Wahl des Bettes u.a.m. Eine Medikation im eigentlichen Sinn gibt es nicht mehr, spärliche Ratschläge zur Diätetik wie der folgende zur Durststillung kommen ihr noch am nächsten: Sitim ut sine periculo extinguat aqua frigidä, secum ferat allium, vel micam panis cum saccaro,92 Ein Wesentliches macht die Gesundheitslehre nach Stellung und Umfang jedenfalls nicht mehr aus. Rezepte wie das eben genannte und die allgemeine zivilprudentiell-ethische Orientierung lassen bei Aisted die spezifische, wenn auch im Kontext nicht ausgewiesene, Rezeption von Cardanus 93 plausibel erscheinen. Der Mailänder

88 89 90 91 92 93

Anm. 27, S. 100-139, und Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977 (Archiv für Begriffsgeschichte. Supplementheft 2). S. 18f. Aisted: Encyclopaedia, wie Anm. 87, S. 248a. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 249a. Ebd. S. 251a. Ebd. Girolamo Cardano (1501-1576), ein konfessionell wenig gebundener Katholik, war Mathematiker und Arzt, promovierte 1524 in Padua zum Dr. med., wurde 1539 Mitglied

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Arzt erreicht zwar in seinen kurzen Ausführungen De Itinere innerhalb seiner PRVDENTIA CIVILIS94 nicht die standesethische Differenziertheit eines Aisted oder gar eines Zwinger, doch ist sein Werk ja noch fast zur Gänze in vorapodemischen Zeiten entstanden; es wurde an die Nachwelt allerdings durch das 17. Jahrhundert in einer zehnbändigen Folio-Ausgabe (Ed. Carolus Sponius, Lyon 1663) nahezu lückenlos vermittelt. Cardanus empfiehlt zum überwiegenden Teil Praktisch-Technisches, wie einen Führer, ein Inventar der eigenen Reisegüter, sichere Geldverwahrung, ein gutes Pferd usf., bzw. Praktisch-Ethisches, wie etwa sexuelle Abstinenz, Vorsicht gegenüber Unbekannten, kein Kartenspiel mit Gastwirten und Matrosen etc. Pathologisches wird gar nicht, Diätetisches nur im Zusammenhang der allgemeinen Proviantierung berührt. Brot, Öl, Salz und Essig seien mitzuführen; Knoblauch, Zwiebeln, Porree, Artischocken, Salat, Zichorie, Fenchel, Wurzeln und Keime seien Leckerbissen, weil sie sich leicht beißen lassen, nicht schlecht riechen, nicht bitter und nicht ungesund seien. 95 Es ist offensichtlich, daß selbst bei einem berühmten Arzt des 16. Jahrhunderts, wie Cardanus, der übergreifende Aspekt der >Prudentia civilis< jede Form von medizinischem Regimen, die über Ansätze der Diätetik hinausgeführt hätte, ausschloß. Die deutsche Apodemik mit ihrer propädeutischen Orientierung, im Grunde nichts als eine Sonderform der >Prudentia civilise, führte zu denselben Konsequenzen. Wenn Hermann Conring 96 schließlich, ein berühmter Arzt und Universalgelehrter des 17. Jahrhunderts, in einem - ebenfalls nach den vier Aristotelischen >causae< gegliederten - Buch DE CIVILI PRVDENTIA Reiseratschläge 97 gibt, dann ist weder von Diätetik, noch von Medizin an irgend einer Stelle mehr die Rede.

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des Collegium medicum in Mailand, war zunächst in Pavia und schließlich (bis 1570) Professor der Medizin in Bologna. Ich beziehe mich auf folgende Ausgabe: Hieronymus Cardanus: [Lib. XIII:] PROXENETA, SEV DE PRVDENTIA CIVILI. In: HIERONYMI CARDANI MEDIOLANENSIS Philosophi ac Medici Celeberrimi OPERA OMNIA: [ . . . ] Curâ CAROLI SPONII, DOCTORIS MEDICI COLLEGIO MEDD. Lugdunsorum Aggregati. TOMVS PRIMVS: QVO CONTINENTVR PHILOLOGICA, LOGICA, MORALI A. LVGDVNI, Sumptibus IOANNIS ANTONII HVGVETAN, & MARCI ANTONII RAVAVD. M. D. LXIII. S. 355-474 (Cap. LXXXVI: De Itinere. S. 425b-426b). - Das Werk erschien also im selben Verlag wie Alsteds in Anm. 87 zit. Encyclopœdia. Vgl. Cardanus: De Itinere, wie Anm. 94, S. 425b. Hermann Conring (1606-1681), ein Lutheraner, wirkte in Helmstedt, wo er 1636 zum Dr. med. promovierte und im folgenden Jahr eine Professur für Medizin erhielt; er war ferner als Staatsrat, Polyhistor, als Professor für Physik, Naturphilosophie und Politik tätig. Conring war Aristoteliker und Empirist. - Vgl. Hermann Conring 1606-1681. Ein Gelehrter der Universität Helmstedt. Ausstellung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 1981 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek Nr. 33). Vgl. Hermann Conring: DE CIVILI PRVDENTIA LIVER VNVS. Quo Prudentis Polit i c s , cum Universalis Philosophies, tum Singularis pragmatics, omnis Propsdia acroamatice traditur. HELMESTADII MDCLXII. Typis & sumptibus HENNINGI MVLLERI Acad[.] Iulis Typographi. Cap. XIII: De iis quae in Politico, cum Philosopho, tum versaturo in actu rerum, requiruntur: deque recta utriusque institutione. S. 250-296. Ad Reise zur Bildung vgl. S. 289-295.

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Dies ist bloß ein Befund. Fragen, die sich daran knüpfen, müssen indessen vorläufig unbeantwortet bleiben. Es wäre etwa zu untersuchen, wieso die Zeitgenossen und Ärzte Gratarolus und Cardanus innerhalb des Genus >De itinere< zu so unterschiedlichen Anleitungsumfängen der medizinischen Systematik und Substanz gefunden haben. Gibt es für das 16. Jahrhundert ein dazu analoges Konkurrenzverhältnis von Regimen und >Prudentia civilis