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German Pages 386 [389] Year 2003
KURT KLUXEN
England in Europa
Historische Forschungen Band 77
England in Europa Studien zur britischen Geschichte und zur politischen Ideengeschichte der Neuzeit
Von Kurt Kluxen
Herausgegeben von Frank-Lotbar Kroll
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-10599-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @
Vorwort des Herausgebers Kurt Kluxen hat in seiner sich über fast fünf Jahrzehnte erstreckenden Lehrund Forschungstätigkeit neben seinen mittlerweile als Standardwerke geltenden Büchern zur englischen Geschichte und zur Problematik des Parlamentarismus eine Vielzahl kleinerer Abhandlungen vorgelegt, die in ihrer Summe das Werk des Gelehrten nicht nur ergänzen, sondern es durch neue, ungewohnte Facetten bereichern und abrunden. Der hier erarbeitete Band versammelt 21 dieser „kleinen Schriften" des Erlanger Historikers - eine repräsentative Auswahl von Beiträgen aus seinem Gesamtoeuvre, von denen einige stark in die Forschung hineingewirkt haben und aufgrund ihres anregenden, auch methodisch innovativen Charakters heute als wissenschaftliche „Klassiker" gelten können. Die Aufsätze gruppieren sich um vier große Themenbereiche. Kurt Kluxen begann seine wissenschaftliche Laufbahn in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren mit Untersuchungen zur politischen Ideengeschichte vornehmlich des 16. und 17. Jahrhunderts. Das stand in Zusammenhang mit seiner 1949 bei Theodor Schieder in Köln gefertigten, 1967 als Buch veröffentlichten Dissertation über Machiavelli, dem auch die beiden den Band einleitenden Beiträge gewidmet sind. Die 1955 in der „Historischen Zeitschrift" veröffentlichte Antrittsvorlesung über Bossuet gehört ebenso in diesen ideengeschichtlichen Rahmen wie die in den 1980er Jahren erschienenen Fest- bzw. Gedenkschriftbeiträge über Thomas Morus und John Locke. Seinem Lehrer Theodor Schieder hat Kurt Kluxen zweimal durch Widmungsaufsätze Referenz erwiesen: 1968 in der Festschrift zum 60. Geburtstag mit einer vielzitierten Analyse des Verhältnisses von Französischer Revolution und industrieller Klassengesellschaft, und ein Jahrzehnt später, in der Festschrift zu Schieders 70. Geburtstag, mit einer knappen Analyse der Balanceideen im 18. Jahrhundert. In enger Verbindung zu seinen der politischen Ideengeschichte gewidmeten Arbeiten stehen Kurt Kluxens Studien zur Entwicklung und Problematik des modernen Parlamentarismus, die den zweiten Teil des Bandes ausmachen. Der Lehre von der Gewaltenteilung gilt eine frühe Grundsatzabhandlung aus dem Jahr 1957. Die berühmt gewordene Schrift über die geistesgeschichtlichen Grundlagen des englischen Parlamentarismus verweist, ebenso wie die Untersuchungen über den Formwandel des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien und wie der verfassungsgeschichtliche Vergleich zwischen deutschem und britischem Parlamentarismus, auf ein Themenfeld, das seit den späten 1960er Jahren zum bevorzugten Forschungsbereich Kurt Kluxens zählen sollte: die Geschichte Englands.
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Vorwort des Herausgebers
Bereits in der 1956 publizierten Kölner Habilitationsschrift hatte sich Kurt Kluxen dem Problem der politischen Opposition am Beispiel der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert zugewandt. Zwölf Jahre später, 1968, war dann die in der deutschen wie internationalen Geschichtswissenschaft vielbeachtete und vielfach wiederaufgelegte „Geschichte Englands", sowie schließlich 1987 sein drittes England-Buch erschienen, die das Mittelalter behandelnde „Englische Verfassungsgeschichte". Die den dritten Teil des Sammelbandes bildenden Beiträge gelten verwandten Themen britischer Politik, vor allem des 18. Jahrhunderts und behandeln - in strukturgeschichtlicher Perspektive - die Rolle der Kirche und des Adels sowie die Bedeutung der englischen Aufklärung in Politik und Gesellschaft. Wieder stärker ideengeschichtlich ausgerichtet sind die Beiträge zur Herausformung politischer Parteirichtungen und zum Gedanken der politischen Opposition, während die späte Studie zur „Glorreichen Revolution" Ausblicke auf die traditionsbildende und mythenschaffende Kraft dieses politischen Fundamentalereignisses in den nachfolgenden Jahrhunderten eröffnet. Der vierte und letzte Teil der Sammlung gilt Themen und Problemen aus der Geschichte des 19. Jahrhundert. Neben allgemeinen Erwägungen zum Verhältnis zwischen „Nation" und „Religion" sowie einer Spezialuntersuchung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bismarckzeit dominiert auch hier die britische Perspektive. Nicht zufällig gelten dabei zwei Abhandlungen der Person des Prinzen Albert, der als Gemahl der Königin Victoria, vor allem in seinen sozialund kulturpolitischen Initiativen, weit über England hinauswirkende Strahlkräfte entfaltete. Die nach dem Prinzgemahl benannte „Prinz-Albert-Gesellschaft" hatte Kurt Kluxen 1980 zu ihrem ersten Vorsitzenden gewählt. Auch in dieser Funktion hat er sich um eine Intensivierung der kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen England und Deutschland bemüht - als Organisator wissenschaftlicher Konferenzen ebenso wie als Mitherausgeber der seit 1983 erscheinenden „Prinz-Albert-Studien". Das Interesse an der englischen Geschichte zieht sich mithin wie ein Leitmotiv durch das wissenschaftliche Lebenswerk Kurt Kluxens. Dem trägt der Titel dieser Sammlung Rechnung: „England in Europa", womit zugleich zum Ausdruck gebracht wird, daß, bei aller Betonung der Einzigartigkeit der britischen Entwicklung, die Geschichte des Inselreichs doch niemals nur selbstreferentiell, sondern stets in ihrem auf den Kontinent ausstrahlenden, transnationalen Bezugsrahmen analysiert und interpretiert wird. In diesem Sinne hofft der Herausgeber, mit Kurt Kluxen, daß die hier präsentierte Sammlung Bausteine zu einer grenzüberschreitenden gesamteuropäischen Geschichtsbetrachtung zu liefern vermag. Chemnitz, am 10. September 2002
Frank-Lothar Kroll
Inhaltsverzeichnis
I. Politische Ideengeschichte der Frühen Neuzeit Die necessità als Zentralbegriff im politischen Denken Machiavellis
11
Machiavelli und der Machiavellismus
23
Thomas Morus und seine „Utopia" als Wegbereiter moderner Sozialanalyse
38
Politik und Heilsgeschehen bei Bossuet. Ein Beitrag zur Geschichte des Konservativismus
60
John Locke. Vom ständischen zum bürgerlichen Widerstandsrecht
77
Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert
106
Französische Revolution und industrielle Klassengesellschaft
122
II. Zur Problematik und Geschichte des Parlamentarismus Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung
153
Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des englischen Parlamentarismus
169
Die Umformung des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien beim Ubergang zur Massendemokratie 187 Britischer und deutscher Parlamentarismus im Zeitalter der industriellen Massengesellschaft 216
III. Beiträge zur Geschichte Englands Staatskirche und Nonkonformismus in England
239
Die Glorreiche Revolution von 1688/89. Eine konservative Fassade für revolutionäre Wandlungen 251
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Inhaltsverzeichnis
Der politische Ancient-Modern-Streit im England des 18. Jahrhunderts
267
Die Idee der legalen Opposition im England des 18. Jahrhunderts
282
Die Auswirkungen der englischen Aufklärung auf Politik und Gesellschaft
300
Der englische Adel im 18. Jahrhundert
313
IV. Geistige und politische Formkräfte des 19. Jahrhunderts Religion und Nationalstaat im 19. Jahrhundert
329
Prinz Albert - Wegbereiter moderner Kultur- und Sozialpolitik
344
Prinz Albert und Europa
352
Soziale und wirtschaftliche Faktoren in Reichsgründung und Reichsgeschichte
367
Nachweis der Erstveröffentlichungen
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I. Politische Ideengeschichte der Frühen Neuzeit
Die necessità als Zentralbegriff im politischen Denken Machiavellis In 1 der europäischen Geschichte läßt sich ein eigentümliches Ablaufsphänomen für einige ihrer bedeutenden Entwicklungszüge erkennen: keine Machtposition und keine Bewegung kann sich auf die Dauer behaupten oder durchsetzen, die nicht ideale Tendenzen verwirklichen will; selbst Machtauseinandersetzungen größeren Formats verbinden sich stets mit geistigen Positionen; ja das Neue wird oft in Gedanken vorweggenommen. Jede tiefere Veränderung beruht auf geistiger Orientierung oder strebt auf sie hin und setzt sich dem geltenden Alten entgegen. Das Kontinuierliche in den Veränderungen wird von einer Dialektik des Geistes überdeckt oder negiert. Der Gedanke eilt der Wirklichkeit voraus; im Entwerfen und Verwerfen geht der lebendige Geist der menschlichen Existenz voran. Die Denker stehen vor den Tätern; in Kriegserklärungen an die Wirklichkeit schafft sich die moderne Welt. Das gilt jedenfalls für die vorausgreifende Ideengeschichte der Neuzeit. Columbus entdeckte Amerika, nachdem vorher die Welt als Kugel begriffen und die Umseglung der Erde theoretisch vorweggenommen worden war. Europa eroberte die Welt, nachdem sie vorher theoretisch in ein Gradnetz eingefangen und verortet war. Bacons Methode setzte eine Naturwissenschaft voraus, die noch drei Generationen auf ihre Vollendung in Newton warten mußte. Politische Revolutionen waren oder wurden oft der Nachvollzug geistiger Revolutionen; selbst ihre Methode war seit 1789 der reale Nachvollzug der Methode des revolutionär-naturrechtlichen Denkens, das die Gesellschaft in Einzelne zerstückelte und dann wiederaufbaute. Die moderne Welt verstand sich erst in der gedanklichen Vorwegnahme ihrer selbst, d. h. unter einer Kategorie der Zukunft 2, auf die hin sich der unermüdlich selbst entwerfende und nach Sinngebung suchende Geist artikulierte. Das braucht vielleicht nicht Eigenart menschlichen Geistes überhaupt zu sein, ist aber gewiß Grundzug des europäisch-neuzeitlichen Kulturkreises, der deswegen als „faustisch" (Spengler) bezeichnet worden ist und sich als Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit erlebt. 1 Dieser Aufsatz bildete das Einleitungsreferat zu einem Seminar über Machiavelli, das Professoren und Dozenten der Universität Erlangen-Nürnberg im Wintersemester 1966/67 gemeinsam veranstalteten. - Die eingehende Grundlegung der hier vorgebrachten Thesen findet sich in Kurt Kluxen, Politik und menschliche Existenz bei Machiavelli, Stuttgart 1967. 2
Vgl. K. D. Erdmann, Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 198 (1964), S. 44-61.
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I. Politische Ideengeschichte der Frühen Neuzeit
Dazu gehört, daß viele Wandlungsverläufe und Umwälzungen nicht nur im Kopf vorausgedacht, sondern auch in nuce, auf kleiner Bühne, vorweggenommen oder vorexperimentiert wurden, ehe sie ihren weitreichenden Nachvollzug fanden. So wurde das europäische Mächte-System des 18./19. Jahrhunderts im Oberitalien des 15. Jahrhunderts auf kleiner Bühne vorweggenommen und bereits unter dem Bilde des Gleichgewichts verstanden; so wurde auch die industrielle Massengesellschaft auf dem Theater des revolutionären Paris von 1793/94 vorgespielt in einem Drama, das die ganze Entwicklung des nächsten Jahrhunderts in nuce vorwegnahm, längst vor der Industriellen Revolution in Kontinental-Europa. Im Kleinen wird die Grammatik durchexperimentiert, die im Großen bestimmend ist. Die neuzeitlichen Denkbemühungen auf Weltverständnis und -durchdringung hin stehen in einem Kontext, den sie nicht einfach spiegeln oder interpretieren, sondern über den sie hinaus wollen. Die wirksamen Gedanken gehen über die Wirklichkeit hinaus oder werden, wo sie Ausdruck eines besonderen Zustandes sind, wie etwa bei John Locke in England, anderswo als Herausforderung genommen, abgewandelt, generalisiert und gesteigert. Der in seinem Kontext eingebundene Geist ist immer zugleich Rückgriff und Vorgriff, nach vorne integrierend und nach rückwärts desintegrierend, zudem in den wachsenden Kommunikationsprozeß der Moderne hinein sich abwandelnd, reflektierend und provozierend, uminterpretierend und abstrahierend, eine dynamische Größe, die stets auch gegen sich selbst streitet. Das Wagnis einzelner Denker integriert sich als Herausforderung oder als geistige Möglichkeit jenem lebendigen Kommunikationsprozeß einer sich allmählich freisetzenden Konkurrenz- und Bildungsgesellschaft ein, der in der Auflösung aller sichernden Sozialformen sich entweder als rationalisierten, selbstregulierenden Funktionszusammenhang begreift oder sich den planenden Vorgriffen gegensätzlicher Entwürfe zuordnet3. Die rationale Bewältigung der sich freisetzenden Welt war eine Aufgabe, die nur in einer Region und einer Epoche sich stellen konnte, die sich selbst in Auflösung sah und in der die bisher tragenden Ordnungselemente fragwürdig geworden waren. Die Antwort auf einen solchen Zustand war eine Form der Daseinsorientierung, die sich anderen Ordnungszusammenhängen gegenüber als Provokation, als hybrides Experiment, aber auch als Wagnis des Geistes und als menschliche Möglichkeit darstellen mußte. Machiavellis Analyse seiner Zeit nahm eine Welt vorweg, die ihre Mitte verloren hatte, und zog Folgerungen, bei denen die Methode des Welterfassens und der Selbstbehauptung, Theorie und Praxis, zusammenfielen. Machiavelli ist der erste politische Denker von Rang, der aus den existenziellen und ideellen Nötigungen seiner Zeit ein politisch gerichtetes Denk3
Vgl. dazu etwa: Daniel Mornet, Les origines intellectuelles de la Révolution française 1715-1787, 2. Aufl., Paris 1954; Roland Mousnier et C. Labrousse , Le XVIIIe siècle: révolution intellectuelle, technique et politique, Paris 1952; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962; C. E. Labrousse, Voies nouvelles vers une histoire de la bourgeoisie occidentale; X. Congresso internazionale de science storiche IV, Firenze 1955, S. 365-396.
Die necessità im politischen Denken Machiavellis
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modell entworfen hat, das entscheidende Elemente der modernen wissenschaftlich-rationalen Durchdringung von Natur, Gesellschaft und Politik enthält. Die politische und soziale Mobilität seiner Umwelt hatte Autorität, Werte und Bindungen, Oben und Unten, feste Formen und sichere Richtpunkte versinken lassen. Der Kampf aller gegen alle in Form einer schrankenlosen Konkurrenz wirtschaftlicher, sozialer und politischer Kräfte hatte eine Art permanenten Belagerungszustand hervorgerufen, einen ungesicherten gesetzlosen Notstand, der als Grunderfahrung menschlichen Existierens ertragen und irgendwie bewältigt werden mußte4. Dem machtpolitischen Vakuum entsprach eine allgemeine geistigmoralische Desorientierung, angesichts derer die geistige Elite eine Bildungsorientierung an der als exemplarisch erscheinenden idealen Welt der Antike suchte. Die Kluft zwischen einem nahezu rechtlosen gesellschaftlichen Naturzustand und einem anspruchsvollen geistigen Bereich, zwischen elementarer Daseinssorge und hochentwickelten rezipierten Ausdrucks- und Denkmitteln, die beide auf eine immanente weltliche Daseinsgestaltung zu beziehen waren, stellte für den in beiden Welten lebenden Machiavelli eine Aufforderung zu einer geistigen Anstrengung dar, die Welt nicht als Seinsproblem, sondern als Existenzproblem in ihrem Hier und Jetzt, in ihren gegeneinander wirkenden Kräften und Ablaufsformen und nicht in ihrer unerkennbaren Sinnhaftigkeit zu begreifen. Seine Bildungserlebnisse, seine staatspolitischen und diplomatischen Aufgaben, sein unmittelbares Engagement in den Wirren seiner Zeit und sein geschärfter Blick für die gegeneinander streitenden Interessen und Kräfte veranlaßten ihn zu einer inquisitorischen Daseinsanalyse von Gesellschaft und Politik, die in ihrer entschlossenen Reduktion auf politische und soziale Kräfteverhältnisse und in ihrer praktischen Zielsetzung auf Daseinsbewältigung und -Veränderung moderne Formen der Weltdurchdringung und -gestaltung vorwegnahm5. Der Formalismus seines Denkens ergab sich offenbar aus der Ablehnung der Wirklichkeit oder Wirksamkeit ideeller Gehalte und Ordnungen und aus dem Vorrang des Momentan-Existentiellen. Wie weit dabei seine radikale Absage an Heilsgeschichte, Theologie und Metaphysik methodische Einschränkung oder Einfluß des lateinischen Averroismus gewesen ist, mag dahingestellt sein. Immerhin hatte Nicoletto Vernia (1420- 1499) Physik und Metaphysik getrennt und als erster die Autonomie der Naturwissenschaften vertreten und Pietro Pomponazzi (14621525) mit seiner Verselbständigung der Naturerkenntnis die Reduktion wissenschaftlichen Eindringens auf die Erfahrung eingeleitet. Die averroistisch-naturalistische Spekulation von Padua beanspruchte das Recht, im Bereich des Naturhaften, also im Bereich des begrifflichen Wesens, gleichsam im Sinn einzelwissenschaftlicher Forschung so fortzuschreiten, daß die Wahrheit einer Aussage nur 4 Vgl. dazu: Rudolf von Alberimi, Das florentinische Staatsbewußtsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat, Bern 1955; Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance. 2 Bde., Princeton 1955. 5 August Buck, Machiavelli e la crisi dell'umanesimo, in: Rinascimento 3 (1952), S. 195 — 210; Frederico Chabod, Civiltà fiorentina. Il Cinquecento, Firenze 1955.
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I. Politische Ideengeschichte der Frühen Neuzeit
noch im Rahmen der angesetzten Begrifflichkeit zu bestimmen war. Damit war aber der Umriß einer denkerischen Disposition gegeben, deren Verwendbarkeit und atmosphärischer Einfluß auf Machiavelli gewiß in Rechnung gestellt werden darf, wenn auch Machiavellis Anliegen nicht eigentlich spekulativ, sondern immer auch praktisch war 6. Seine Methode will nicht nur erkennen, sondern verändern. Sie richtet sich in erster Linie auf das, was sich verändert und verändert werden kann, nämlich auf Gesellschaft und Politik. Der besondere Ansatz seines Weltbegreifens läßt sich am schlüssigsten aus seinem Zentralbegriff der necessità klarlegen, der einen angemessenen Einstieg in seine besondere Denkweise eröffnet. Machiavellis Denken widerstrebt einer geschlossenen Systematik; es kreist vielmehr um wenige Grundbegriffe, die den Schritt seiner Gedanken untergründig bestimmen7. Drei Schlüsselbegriffe herrschen vor: virtù, fortunà und necessità, bei denen es naheliegend ist, an die Modi von Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit zu denken, was nicht falsch, aber irreführend wäre, da sich bei Machiavelli Weitbestimmungen, bildhafte Vorstellungen und allegorische Bezüge damit verbinden. Unter diesen drei Begriffen tritt die necessità scheinbar zurück. Das liegt nicht nur an der Abstraktheit dieses Begriffs, sondern noch mehr daran, daß er allgegenwärtig ist und nicht nur die akute Notlage und den äußeren Zwang der Dinge, sondern auch deren innere Bestimmtheit und darüber hinaus die logische Natur des Denkens, den Modus der Erfahrung sowie die rational-gesetzliche Seite jedes Seienden bezeichnen kann. Eine Wortgeschichte würde gerade bei diesem Begriff nicht allzu weit führen, weil er keine inhaltliche Bestimmung zuläßt und bestenfalls in seiner Variationsbreite abschreitbar wäre; seine Allgegenwart im Weltbild Machiavellis ist entscheidender oder belangvoller 8; sein Gewicht erhält er aus seiner strukturbestimmenden Funktion. Wichtig ist, daß er der qualifizierende Zentralbegriff seines Denkens ist, also weniger einen fixierbaren Begriff als den transzendentalen Modus seines Argumentierens überhaupt bezeichnet. Vermerkt sei lediglich, daß Machiavelli seine zugespitzte, generalisierende, provozierende und apodiktische Ausdrucksweise dem vulgären Sprachgebrauch entnimmt, wie er sich in zahlreichen toskanischen Sprichwörtern niedergeschlagen hat. Er entnimmt den Begriff necessità aber auch dem gehobenen Sprachgebrauch 6 Zur bisher immer noch lückenhaften Klärung der geistigen Welt des Quattrocento vgl. etwa Hans Baron (Anm. 4); ferner Francesco Ercole, La politica di Machiavelli, Roma 1926; Leonardo Olschki, Bildung und Wissenschaft im Zeitalter der Renaissance, Leipzig 1922; Leonardo Olschki, Machiavelli, the Scientist. Berkeley 1945; Carlo Curzio, Storia delle dottrine politiche. Firenze 1951; /. R. Hale, Machiavelli and the Renaissance Italy. New York/ London 1960. Eine zusammenfassende Geschichte des politischen Denkens Machiavellis liefert das wichtige Werk von Gennaro Sasso, Niccolò Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens. Stuttgart 1965. 7 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. 3. Aufl., München 1929, S. 46. 8 Meinecke (Anm. 6), S. 36.
Die necessità im politischen Denken Machiavellis
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der zeitgenössischen Dichtung und Philosophie und vor allem der Antike 9 ; er findet ihn in der Vorstellung eines zwangsläufigen Kreislaufs der Dinge oder in der Idee der ewigen Notwendigkeit im Weltbild der Stoa oder schließlich auch als ein einfach der Zufälligkeit entgegengesetztes regelhaftes Moment. Er konnte ihn bei Thomas von Aquin oder in Dantes Kapitel de necessitate monarchiae, bei Marsilius von Padua und anderen finden. Wo mittelalterliche Denker von der Providentia Dei sprechen, steht bei ihm meist necessità, da das, was im ganzen von oben als ewige Vorsehung erscheinen mochte, dem Menschen im Teil von unten als ewige Notwendigkeit entgegentreten mußte. Ebenso wie er die antike virtus - etwa im Sinne der recta ratio Senecas10 - zur virtù als bloßer politisch-moralischen Energie in Antithese zur,Tugend 4 übersteigerte und verallgemeinerte, war ihm auch necessità ein jedem Dasein Mitgegebenes - nicht nur als ewige Notwendigkeit im ganzen, sondern auch als wechselnde Notwendigkeit in den Einzeldingen. Das Entscheidende dabei ist, daß necessità das Formprinzip der Veränderung, überhaupt ist. Machiavelli sieht necessità dabei nicht als Ausfluß einer vorgegebenen normativen Ordnung, sondern als Richtungselement eines kontingenten Bewegungsprozesses, in welchem keine Formsubstanzen oder Ordnungsstrukturen Bestand haben. Die Natur ist keine Welt fester zweckgerichteter Formen, sondern in ständiger Veränderung und nur als Funktionszusammenhang begreifbar. Soweit dieser erkennbar ist, sind Notwendigkeiten wirksam. Necessità macht ihn erkennbar; in größeren Wirkungszusammenhängen betrachtet verfährt die Natur logisch. Das Prinzip der Übereinstimmung des Erkennens mit dem Erkannten liegt in der logischen Natur des Bewegungsprozesses, also in seiner Gesetzlichkeit. Das ist auch seine Grenze. Das Bewegte am Individuellen ist logisch und erkennbar. Das Individuelle selbst bleibt undurchdringbar. Die Bewegung dagegen ist allgemein. Die Dinge an sich sind unerkennbar, nicht aber ihre Veränderungen zueinander. Die Notwendigkeit ist ausnahmslos, weil sonst keine Einheit in der Welt sein würde. Das bedeutet aber, daß das Denken und nicht das Wahrnehmen oder Schauen die allgemeingültige Erkenntnisquelle ist. Gerade mit der Auflösung entelechetischer Formen und vorgegebener Zwecke ordnet sich das Reale in seinem Notwendigkeitszusammenhang den Prinzipien des logischen Denkens zu. Die necessità öffnet den Zugang zu einem heraklitischen Weltbild, ohne welches der Begründungszusammenhang des machiavellischen Denkens nicht ablesbar wäre. Daß es sich so verhält, ergibt sich aus einem kurzen Abschreiten dessen, was necessità bei Machiavelli ist. Die äußere Notwendigkeit meint durchaus nicht den aktuellen Notstand. Höchste Not wird bei Machiavelli stets anders bezeichnet, nämlich als estremità, calamità miseria, bisogni urgenti usw. Der zufällig äußere 9
Vgl. H. de Vries, Essai sur la terminologie constitutionelle chez Machiavelli. Amsterdam 1957; Hans Baron, Machiavelli: the Republican Citizen and the Author of the Prince, in: European Historical Review 75 (1961); Friedrich Mehmet , Machiavelli und die Antike, in: Antike und Abendland 3 (1948), S. 152-186; Fredi Chiapelli, Studi sul linguaggio del Machiavelli. Firenze 1952. 10 Seneca, Ep. 66.32, vgl. auch Ep. 76.10.
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I. Politische Ideengeschichte der Frühen Neuzeit
Zwang wird meist mit forza bezeichnet. Die necessità wird allgemeiner genommen und ist immer da. Per forza heißt: aus nackter Gewalt; per necessità aber heißt auch: aus Einsicht. Handeln per necessità heißt Handeln aus Einsicht oder realpolitisches Handeln11. Die Florentiner führen Krieg per necessità, d. h. nicht gezwungen, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit12. Machiavelli schildert die Geschichte Gesamtitaliens zum Verständnis der florentinischen Geschichte, um die necessità klarzulegen, wobei diese Notwendigkeiten den historischen Begründungszusammenhang ergeben 13. Necessità kann hemmend und auch begünstigend sein. Sie verlangt forza bis prudenza; sie ergibt sich aus Diagnose und Prognose 14. Necessità als forza verlangt den „Löwen" im Menschen, aber als Ergebnis der Einsicht verlangt sie den „Fuchs" in ihm 1 5 . Statt in einer bleibenden Norm eingebettet zu sein, relativiert sich jede Situation in die necessità (Notwendigkeiten) des Hier und Jetzt, so daß dem handelnden Menschen keine Rezepte oder Ideale gegeben werden können, sondern lediglich der Typus beschworen werden kann, der jeder Situation am ehesten gewachsen ist 16 . Antonio Gramsci, der Theoretiker des italienischen Kommunismus, beschwört, der Linie Machiavellis folgend, nicht einen Principe, sondern die Partei 11. Als innere Notwendigkeit erscheint Machiavelli die den Dingen eingegebene Dynamik. Auch die Menschen gehorchen inneren Triebkräften. Wenn keine äußere Notwendigkeit sie zwingt, treibt sie ihr ewiger Ehrgeiz. Deshalb sind die Menschen immer in Bewegung auf neue Ziele zu halten. Sie werden von innen getrieben und von außen gehemmt18. Die Welt zeigt sich als ein dynamischer Prozeß, der sich wechselseitig einschränkt. Alles wirkt auf alles und gegen alles und ist bedingt durch alles 19 . Aus dem blinden Widerspiel der Kräfte resultiert eine necessità als Gesamtverrechnung des Kräftehaushalts, die sich zeitweilig zu einer Balance 11
Dazu bedarf es keiner Nachweise, die sich beliebig finden ließen. Soweit auf Zitate verwiesen wird, ist die Ausgabe von Panella herangezogen: Niccolò Machiavelli, Opera a cura di Antonio Panella. 2 Bde., Milano/Roma 1938 (hier abgekürzt: Panella). Im allgemeinen lassen sich die angeführten Zitate beliebig vermehren. Die gesamten Nachweise sind in meinem angeführten Machiavelli-Buch geliefert (Anm. 1). 12 Istorie fiorentine VII, 1 (Panella I, S. 401). 13 Dadurch überwindet Machiavelli die Annalenform und bettet die Stadtgeschichte von Florenz in große geschichtliche Zusammenhänge ein. Vgl. Pasquale Villari, Niccolò Machiavelli und seine Zeit. Leipzig / Rudolstadt 1877/83, Bd. 3, S. 387; Richard Fester, Machiavelli, Stuttgart 1900, S. 186. 14 Vgl. Istorie fiorentine VII, 5; II, 8; II, 37, {Panella Bd. I. S. 409, 115 ff., 163), Principe S (Panella Bd. II, S. 37 ff.). 15
Nach Principe 18. Vgl. Hans Freyer, Machiavelli, Leipzig 1938, S. 149. 17 Antonio Gramsci, Note sul Machiavelli, sulla politica e sullo stato moderno. Torino 1955. is Vgl. etwa Discorsi I, 37; I, 46; I, 53 (Panella II, S. 190, 209, 221, 224); ferner besonders Discorsi III, 9 (Panella II, S. 387). 19 Vgl. Achille Norsa, Il principio della forza nel pensioro politico di Niccolò Machiavelli. Milano 1939. 16
Die necessità im politischen Denken Machiavellis
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stabilisieren läßt. Die Notwendigkeit im Elementaren kann durch prudenza in einem rationalen Bereich eingefangen werden, nämlich eine Notwendigkeit der anderen entgegengesetzt werden, dem inneren Trieb das äußere Gesetz oder auch dem Ehrgeiz des einen der Ehrgeiz des anderen. Die Summe der Kräfte und Triebe ist nicht die Summe, sondern ein Ineinander von Subtraktion und Addition, von Hemmung und Steigerung, plus und minus, das sich wechselseitig lenkt, einschränkt und kanalisiert. Darüber hinaus gibt es freilich eine überwölbende necessità im allgemeinen Naturablauf, die nicht veränderbar oder beherrschbar ist. Da nämlich die Welt nur als ein endliches System mit endlichen Dimensionen und begrenzten Möglichkeiten genommen wird, ist der ewige Prozeß in ihr nur als Kreislauf von Aufstieg und Verfall, von periodischer Umbildung, denkbar, wobei die Welt als solche der Form und dem Ablauf nach dieselbe bleibt 20 . Der Wechsel schließt Beständigkeit dieses Wechsels nicht aus. Gleichbleibende Ablaufsformen sind das Gerüst des Ganzen, Ausdruck seiner Endlichkeit. Hier findet das einzelne seinen gesetzmäßigen kausalen Ort, aber nicht eine teleologische Deutung. Ortsbestimmung nicht Zweckbestimmung ist möglich. - Die Unendlichkeit der Weltbewegung und die Begrenztheit der Dinge machen den Kreislauf als Denkformel möglich und notwendig. Diese Notwendigkeit ist zugleich deduzierbar und empirisch unterbaut, und sie zeugt von der Identität der logisch-kausalen und realen Gesetzlichkeit. Sie bezeugt die Identität von naturhaften und logischen Gesetzen. Die erfahrbaren Einzeldinge gehorchen nur sich selbst, bringen dabei aber doch gemeinsam die nur erschließbare Determination des Ganzen hervor. Alle Dinge zusammen, also die Welt wie sie ist, bewirken oder produzieren eine providenzähnliche, ewige Notwendigkeit. In der Beschränkung des einen durch das andere bringt sich von unten gesehen das Gesetz des Ganzen hervor. Nur das einzelne existiert, aber die Summe der Einzeldinge produziert jedem seinen Ort, so daß das Ganze aus der Gesetzlichkeit des einzelnen umgekehrt erschlossen werden kann. Aus dieser Vorstellung bestimmt Machiavelli auch den Menschen. Er ist nicht moralische Substanz an sich, sondern wird durch seinen Ort in der Welt das, was er eigentlich ist, nämlich zeitliches Wesen in einem wechselnden Prozeß 21. Er wird durch necessità erst voller Mensch; er entfaltet sich dadurch erst. Necessità fà virtù ; necessità ist der beste Lehrmeister und offenbart, was ist. Selbst die Soldaten werden im Kriege gut durch Notwendigkeit; im Frieden werden sie es durch eine künstliche Notwendigkeit (Reglement). Außere Bedrängnis oder innere Notwendigkeit (Ehrgeiz) müssen den Menschen aufrütteln und seine Kräfte steigern 22. 20 Discorsi II (Panella Bd. II. S. 244); Istorie fiorentine V, 1 (Panella Bd. I. S. 280). 21 Vgl. August Buck (Anm. 5); deutsche Übersetzung: Die Krise des humanistischen Menschenbildes bei Machiavelli, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen, 189 (1953), S. 304-317. 22 Discorsi II, 12; III, 6; III, 12 (Panella Bd. II, S. 280, 360, 371, 380) 394. Arte della guerra lib. IV, lib. II (Panella Bd. II, S. 588, 527). 2 Kluxen
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I. Politische Ideengeschichte der Frühen Neuzeit
Seine daran sich entwickelnde Energie oder virtù ist der ihm angemessene Weitmaßstab. Eine bleibende Friedensordnung ist nicht nur illusionär, sondern läßt den Menschen verkümmern. Deshalb verfiel das Imperium Romanum. Besser ist Vielheit der Staaten - um der größeren Energieentwicklung willen; besser als Ruhe ist Kampf, die Freiheit besser als der Friede 23. Europa ist besser als das Imperium Romanum. Seine Kriege sind notwendig und darum gerecht; seine Waffen sind fromm 24 . Necessità rechtfertigt sie. Das Sittengesetz und das Völkerrecht mögen vorgegeben oder sogar wirksam sein, erscheinen aber nicht im Kalkül der Notwendigkeiten oder lediglich als wirkende und manipulierbare Faktoren, nicht aber als eigenständige Größen oder Einzeldinge. Die Universalien als solche sind keine Kausalitäten. Daraus ergibt sich als viertes die necessità im politischen Kalkül. Der Prozeß ständigen Wandels läßt keinen Kalkül auf das Ideal eines endgültig gesicherten Daseins zu. Der Kalkül bezieht sich nicht auf ein utopisches Optimum, sondern auf das tatsächlich nutzbare Kräftespiel und auf die menschliche Selbstbehauptung und -bewährung in diesem Kräftespiel. Er ist Theorie und Praxis zugleich. Der Mensch produziert sich seinen Ort, indem er sich seiner vergewissert. Die Gründe des Denkens sind zwar stets auch logischer Natur, aber zugleich existentielle Notwendigkeiten oder physische Unausweichlichkeiten. Es bleibt keine Zeit zu zeitloser Betrachtung, sondern die Zeit selbst enthüllt die Wahrheit 25. Es gibt keine „sozial freischwebende Intelligenz" (Mannheim). „Die Zeit treibt alles vor sich her!" 2 6 Zeitgerechtes Entschließen ist notwendig. Was heute richtig ist, kann morgen falsch sein, und was heute der Freiheit dient, kann morgen zum Chaos führen. Der Kalkulierende steht selbst in der Zeit drin. Nicht die Erkenntnis des rein hypothetischen Verhältnisses von Situation und Zweck genügt, sondern der zeitgerechte Entschluß im Hier und Jetzt 27 . Die tatsächlich wirkenden Mächte sind wie Brennpunkte und Kraftlinien in einem Koordinatensystem, wo jeder Kraftpunkt und jede Linie jeweils durch eine andere charakterisiert und mitbestimmt ist und jeder Mensch selbst eingeflochten ist. Handeln ist nur sinnvoll in diesem oder jenem Ort und Augenblick und der Vollzug des sich notwendig zur jetzigen Selbsterhaltung und -Steigerung Ergebenden. Immer neue Maßnahmen sind im Fluß und Verfall der Dinge erforderlich. Der Mensch befindet sich in einem Belagerungszustand, wobei keinerlei Spekulation und Metaphysik sein Handeln lenken darf, sondern nur die Erkenntnis seiner einmaligen umdrohten Existenz im Parallelogramm der wechselnden Kräfte. Diese Notwendigkeit ist nicht nur Entschuldigung, sondern auch Rechtfertigung seines Handelns. 23 Discorsi I, 3; 38; III, 1; III, 3; Principe 2 (Panella II, S. 114, 193, 449; 87) Arte della guerre, lib. II (Panella II, S. 541). 24 Discorsi III, 12 (Panella II, S. 483). 25 Discorsi I, 3 (Panella II, S. 114); Discorsi III, 6; Arte della guerra, lib. I I (Panella II, S. 360, 54). 26 Vgl. Discorsi III, 9; Principe 1; vor allem auch Principe 3 (Panella II, S. 18). 27 Istorie fiorentine III, 13 (Panella I, S. 199).
Die necessità im politischen Denken Machiavellis
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Hier ist die Technik der Selbsbehauptung nicht nur methodisches Prinzip, sondern inhaltliche Überzeugung 28; diese Methode ist für Machiavelli nicht beliebig, sondern eine Form menschlicher Daseinsverwirklichung überhaupt. Aus dem Dasein erwächst dem Menschen die Aufgabe, welche zu verwirklichen sich dieses Dasein selbst als Mittel anbietet. Der existentielle und politische Kalkül ist Analyse des Hier und Jetzt, die Bestimmung der richtigen Diagonale zwischen positiven und negativen Kraftlinien, ein technisches Problem der Existenzsicherung. Das sich wechselseitig einschränkende Spiel von Kraft und Gegenkraft, die Bestimmung des einen durch das andere, durch seine Negation, ergibt eine Zwiespältigkeit des Wirklichen vom Blickpunkt des Menschen, die eine Grunderfahrung Machiavellis geworden ist. Jede menschliche Aktion erzeugt oder setzt Notwendigkeiten (Kausalreihen); aber sie entgleitet damit auch dem Menschen. Es besteht eine „Heterogonie der Zwecke". Man fängt Kriege an, wenn man will, aber man beendet sie nicht, wie man will. Jeder Erfolg treibt neue Gefahren hervor; jeder Sieg spaltet die Sieger 29. Jeder Lorbeer verwelkt. Jedes Positive schließt eine Negation in sich. Die Macht bedroht die Freiheit; Freiheit ohne Macht ist noch bedrohter; innere Freiheit schwächt nach außen und innen. Der Weg zur Freiheit negiert eben diese Freiheit 30 . Die Republik ist nur möglich durch Planung eines einzelnen, was sich widerspricht; der Diktator hebt die Verfassung auf, um sie zu schützen; der Principe ist „Zwingherr zur Freiheit". Die militärische Machtentfaltung von Florenz bedrohte die freie Stadtrepublik, und die institutionellen Gegensicherungen lähmten eben diese zum Schutz aufgestellte Macht. Es war die Grunderfahrung Machiavellis, daß die Mittel ihrem Zweck entgegengesetzt sind. In der Politik ist ein Ideal nur zu verwirklichen durch seine Verneinung; Friede verlangt Gewalt, Freiheit die Diktatur, Humanität Blutvergießen. Der unbegrenzte Machttrieb baut den Staat, ist sein wichtigstes Bauelement und zugleich seine Negation 31 . Eine vorgegebene Norm des politischen Handelns kann dem Wesen solcher Politik nach selbst nicht politisch sein. Das Zerstörerische, Selbstsüchtige ergibt den neutralisierenden Antagonismus auf Ordnung hin. Durch Unsittlichkeit (Gewalt) wird die Sittlichkeit erreicht, durch Notwendigkeit die Freiheit gesichert. Der Zirkel dieses Verhängnisses wird durch die Tat durchstoßen, die kein Gewissen haben darf, so weit sie politisch ist. Die Rettung aus diesem Dilemma gibt der Staat, der Staat als necessità ordinata dalle leggi 32. Der Staat ist die Rettung des Menschen als eine in die Wirklichkeit 28 Vgl. Hans Freyer (Anm. 16), S. 94. 29 Vgl. etwa Istorie fiorentine ΙΠ, 7; VII, 25; III, 10; III, 5 (Panella Bd. I, S. 185,439, 190, 182) und Proemio (Panella Bd. I, S. 48). 30 Vgl. Mandragola IV, 1 (Panella I, S. 582), Discorsi III, 28; I, 6; I, 2 (Panella II S. 430, 124, 121, 122, 111); Vgl. Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, 6. Aufl., München 1948, S. 37. 31 Trotz der Notwendigkeit des Bösen hält Machiavelli an der ethischen Wertung fest, wie etwa Principe 8 und 18 (Panella II, S. 35/36, 64) und ruft dadurch den Eindruck eines „Doktrinarismus sittlicher Skrupellosigkeit" (Dilthey) hervor. 2*
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eingebaute Vernunft oder als eine auf Vernunft abstrahierte Wirklichkeit; er ist die Produktion eines umhegten Ortes als Bedingung menschlicher Existenz über die Natur hinaus. Er lenkt die elementaren Notwendigkeiten der Triebe und der Dinge auf eine gesetzliche geplante Notwendigkeit hin. Auch hier steht an seinem Anfang notwendig die Gewalt. Und doch ist der Staat die vom Menschen für den Menschen entworfene Notwendigkeit, die Rettung vor der Willkür des Augenblicks und der Raum zeitweiliger Selbstverwirklichung. Er ist das lebendige Kunstwerk, das sich seine Gesetze, seine Architektur unter Nutzung der vorgegebenen äußeren und inneren Notwendigkeiten schafft und deren prekäre Balance als ordo etabliert, aber stets der allgemeinen unausweichlichen Notwendigkeit des Altwerdens und des Verfalls ausgeliefert bleibt. Im Staat erst gibt es vernünftige Existenz, wenn er selbst als Staat unter anderen Staaten auch im Naturzustand bleibt. Er ist Rettung und Steigerung des Menschen, seine Verlängerung in die Natur hinein. Er ahmt die Natur nach: Natura nisi parendo vincitur. Der Baumeister (Staatsmann) setzt die Elemente zu einer gewollten übersichtlichen und berechenbaren Notwendigkeit, wobei gerade die gegensätzlichen Interessen die Bauelemente darstellen. Der Mensch wird genommen wie er ist, und sein Egoismus ist gerade die Bedingung für die lenkende Konstruktion auf einen Gesamteffekt hin. Der Staat ist Gesetzesstaat; für Machiavelli ist er die vollendete rationale staatliche Selbstverwaltung, die gesellschaftliche causa formalis oder die integrierende Universalursache. Er nutzt die Mechanik des sozialen Lebens zu einer Konstruktion oder Regulierung und zwar nicht auf Grund eines Vertrages, sondern auf Grund einer gewalttätigen Planung des uomo virtuoso. Er ist wie eine erfundene Maschine, von einer gelenkten Energie, virtù, gespeist, und von einer Balance sich streitender und stützender Kräfte 33 gehalten, in welcher der Mensch nicht mehr als Naturwesen genommen werden kann, sondern wo, modern gesprochen, die Natur versachlicht und als Objekt menschlichen Verfügens zum Eigentum des Menschen wird. Staat ist die Befreiung des Menschen aus der Kontingenz. Der Staat bleibt lebendig durch ständige Rückerneuerung auf die Natur hin, das ritornar al principio , indem er die Ursachen seiner Entstehung, nämlich Furcht und Achtung, jederzeit erhält. Dieses eigengesetzliche Gehäuse aus entliehenen Lebensgesetzen, aber aus eigener Vernunft lebend, hat eine egozentrische, auf sich selbst bezogene, inhumane Zwecksetzung und bleibt selbst außerhalb seiner eigenen Ordnung. Das Element seiner Verneinung ist ihm eingegeben. Hinter ihm lauert der Ausnahmezustand. Wie der späte Nominalismus auch theologisch die Vorsehung aus dem Auge verloren hat bzw. einem Funktionszusammenhang der Einzeldinge opfert, und wie der nunmehr unergründliche Gott in seiner Willkür nur durch einen „Covenant" 32 Vgl. die berühmten Ausführungen in Discorsi I, 1 {Panella II, S. 105-107), wo die »ordinazione delle leggi', die »necessità di esercizio' und die ,necessità ordinata dalle leggi' als Rettung gegen die »corruzione' erscheinen. 33 Vgl. dazu: Vittorio de Caprarüs, Il pensiero dell'equilibrio nel pensiero del Machiavelli, in: Atti dell'Academia Pontiniana, 1949, S. 151-157; ferner: Paul Reiwald, Einleitung zu: James Burnham, Die Machiavellisten, Verteidiger der Freiheit. Zürich 1948, S. 11.
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gebunden und für die Vernunft wieder faßbar und erkennbar gemacht wird und die im Gottesbund vereinte Gemeinde herausgehoben ist, wie die Covenant-Theologie des 16. Jahrhunderts behauptete, schafft der Staat in der immanent bleibenden, nominalistischen Weltschau Machiavellis seinen ordo als herausgehobene, gestiftete Welt, nicht als Vollendung der Dinge, sondern als schützendes Haus gegen sie. Necessità schränkt dabei ein und erweitert zugleich; sie macht irdische Daseinsbeherrschung möglich. Politischer Kalkül über den Moment hinaus richtet sich auf den Staat. Staat ist politischer Kalkül auf Manipulation der Menschen zur Gesellschaft. Staat verhindert den Kampf, der ihn voraussetzt; er richtet sich gegen den Menschen um des Menschen willen. Er erscheint Machiavelli als Rettung vor dem Chaos, als Rettung des Menschen vor sich selbst, als geschaffene, zur Macht gewordene Vernunft das erhabenste Werk des großen Individuums, das nicht weiter gerechtfertigt zu werden braucht. Wichtiger als die zeitbedingte Vorstellung Machiavellis vom Staat und von Staatswerdung bleibt der methodische Weg seines Denkens. Die Sprengung des teleologischen Formdenkens und sein Ersatz durch ein funktionales Gesetzesdenken führte ihn zu einer Reduktion der Wirklichkeit auf Kraft und Gegenkraft sowie zu einer Auffassung von Politik als technischem Kalkül. Daraus entsprang ein neues Denken vom Staat als möglicher Lenkungsform der Einzelwillen und Gruppen, als institutionelle Vorkehrung zur Manipulation der Menschen in eine verordnete gesetzte Welt hinein. Wie die anhebende Naturwissenschaft sich auf die Mathematik der Natur reduzierte und sie nicht die Welt selbst zu durchdringen, sondern ihre bewegenden Kräfte zu errechnen suchte und sich in einer universalen Himmelsmechanik vollendete, tat es Machiavelli für die menschliche Welt, deren Vollendung eine optimale Verfassungsmechanik ist. Er gab keine metaphysische Sinnerklärung; er verwaltete keinen stabilen Wahrheitsbesitz, sondern gab lediglich eine Anschauungsweise, eine Methode, die Welt nachzudenken und nachzumachen. Gewiß war die auffällige Strukturidentität dieses machiavellischen Weltbegreifens mit der politisch-sozialen Organisationsstufe der zeitgenössischen Gesellschaft dabei wegweisend für eine solche Anschauungsform, die keine Grundform eindringenden Begreifens war, sondern sich mit methodischen Reduktionen auf das Politische begnügte und deren Mitte der handelnde Mensch ist 34 . Die Auflösung der Welt in allgemeine Bewegung und die in ihr waltende Notwendigkeit verschafft dem Menschen seine Souveränität in der Produktion einer eigenen Welt. Weit belangvoller als Machiavellis zeitbedingtes Welt- und Menschenbild ist die Methode, mit der er es gewinnt. Er formuliert bereits aus der Tendenz seines abstrahierenden Kalküls ein Gesetz der Erhaltung des Quantums der politisch34
Vgl. Judith Janoscha-Bend, Machiavelli. Politik ohne Ideologie, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 315-346.
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moralischen Energie, die nur ihre Verteilung wechselt, so daß sich ihm politische Gestaltgebung auf eine Änderung der Gewichtsverteilung der vorhandenen sozialen Moleküle reduziert - eine Vorform des Gesetzes der Erhaltung der Energie. Auch zeigt sich in der auf Kraftverhältnisse hin abstrahierten politisch-sozialen Anthropologie Machiavellis der Ansatz einer Theorie von der Gesetzmäßigkeit und Manipulierbarkeit der menschlichen Gesellschaft. Das war neu und revolutionär! Aus der strukturellen Verwandtschaft mit dem naturwissenschaftlichen Gesetzesdenken ergaben sich Elemente eines modernen Weltbildes, bezogen auf die politisch-soziale Welt. Im Schatten Machiavellis und unter Zufluß naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und anderer Antriebe bereiten die Sozialmechaniker und Experimentierer, Verfassungsingenieure, Wirtschaftsstatistiker und Gesetzeskonstrukteure des 17. Jahrhunderts jene moderne politische Wissenschaft vor, die keine Sinnerklärung des Daseins geben kann, sondern in der Welt wie sie ist die Möglichkeiten rationaler Daseinsbewältigung und Lebensgestaltung als technisch-pragmatisches Problem menschlicher Existenz erkennt. Machiavelli ist der Initiator eines rationaltechnischen Denkens von Politik und Staat; er ist gewissermaßen der Galilei der politischen Wissenschaft, die in Bacon und Hobbes die nächsten großen Schrittmacher findet. Sein Freund Guicciardini war mit kühlerem politischen Blick begabt; ja seine Methode verführte Machiavelli zu unzulässigen und oft dürftigen Generalisierungen. Aber sie gab ihm eine messerscharfe Optik, einen Adlerblick für die ihn umgebende politische und soziale Wirklichkeit. Nicht Guicciardini, sondern Machiavelli machte Geschichte. In dieser praktischen Unwirksamkeit und theoretischen Wirksamkeit ist er vergleichbar mit Karl Marx, dessen Optik der Zeit in ähnlicher Weise vorausgriff, und der nach leidenschaftlichen Studien aus seinem gequälten Körper den Gedanken gewann, daß der Mensch, um zu leben und zu denken, zuerst essen und trinken, also existieren, müsse. So stellt auch Machiavelli die elementare menschliche Existenz in seine Theorie hinein, bei der infolgedessen Theorie und Praxis, die Methode des Begreifens und des Ergreifens, des Erkennens und Beherrschens, ineinandergreifen 35. Damit nimmt er eine Denkfigur der modernen, technisch verstandenen Welt vorweg, aus der sich seine historische Bedeutung als Wegbereiter in die Moderne oder jedenfalls als Indikator eines veränderten Verhaltens zur Welt eindrucksvoll ergibt. 35
Damit könnte der Weg zu einer Überwindung der fortdauernden Machiavelli-Kontroverse zwischen historisierender und systematisierender Betrachtungsweise gewiesen werden. Vgl. dazu neben Gennaro Sasso (Anm. 6); Benedetto Croce, Una questione che forse non si chiuderà mai: la questione del Machiavelli, in: Quaderni di critica 5/14 (1948), S. 1 -9, Herbert Butterfield, Professor Chabod and the Machiavelli Controversies, in: Historical Journal 2 (1959), S. 78-83; Eric W. Cochrane, Machiavelli 1940-1960, in: Journal of Modem History 33 (1961), S. 113-136; Wolfgang Preiser, Das Machiavellibild der Gegenwart, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108 (1952), S. 1-38; vgl. auch: Pietro Conte, L'errore logico del Machiavelli e i fondamenti metafisici della politica. Roma 1955.
Machiavelli und der Machiavellismus Immer wieder haben führende Köpfe der letzten Jahrhunderte sich getrieben gefühlt, zum Thema Machiavelli und Machiavellismus Stellung zu nehmen. Jede Zeit sieht sich in ihren eigenen sozialen, politischen und sittlichen Anliegen in die erregende Problematik verwickelt, die in dem von Machiavelli so rücksichtslos herausgestellten Konflikt zwischen Politik und Moral liegt, und verbindet mit seinem Namen die Vorstellung einer dem Dasein wesentlich anhängenden Disharmonie, einer „ethischen Irrationalität der Welt" (Max Weber), die nicht in allgemeingültiger Weise zu beseitigen ist. In den Versuchen, Machiavelli zu verstehen oder zu widerlegen, spiegelt sich die Geschichte des neuzeitlichen Staatsdenkens. Aufschlußreiche Schulbeispiele für den Wandel der Anschauungen bieten etwa: die Rolle des Machiavellismus im England des 16. und 17. Jahrhunderts, die Wiederentdeckung Machiavellis in Deutschland am Anfang des 19. Jahrhunderts oder der Wandel des Machiavelli-Verständnisses im Liberalismus der Bismarckzeit. Gerade heute verbinden sich brennende Fragen der Gegenwart mit seinem Namen. Stimmen der Verdammung, der Zustimmung oder der Vermittlung werden laut. In Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, in den Seminaren der Universitäten und den Diskussionsabenden politischer Gruppen stehen Machiavelli und der Machiavellismus mehr als bisher zur Debatte. Es hängt dies mit dem Bedürfnis nach einer allgemeinen Revision unseres politischen, geschichtlichen und ethischen Denkens zusammnen, die sich aus der fragwürdig gewordenen Gegenwart heraus zu den Ursprüngen und Bedingtheiten unseres modernen Staats- und Rechtsdenkens rückorientiert. Gerade die aus dem letzten Krieg sich ergebende Infragestellung des modernen Staatsgedankens und damit der bisherigen Staatspolitik nötigt zu einer Auseinandersetzung mit Machiavelli auf Grund der einzigartigen, die Struktur des Politischen zutiefst verändernden Erfahrungen unserer Zeit. In der populären Meinung führt der Name Machiavelli - wie schon Hegel sagt 1 „das Siegel der Verwerfung mit sich, und sie hat machiavellistische und abscheuliche Grundsätze gleichbedeutend gemacht". Es soll aber nicht übersehen werden, daß in dem Zwiespalt von Politik und Moral ein Moment des Politischen überhaupt getroffen ist, wie ja in jeder über ihre Gegenwart hinauswirkenden historischen Erscheinung allgemeine Momente sich mitverwirklichen. Es ist darum wohl - und auch auf Grund des allgemeinen 1 G.W. F. Hegel, Die Verfassung Deutschlands. Aus den Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hrsg. von F. Lasson, 2. Aufl., Hamburg 1923, S. 112.
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Sprachgebrauchs - erlaubt, mit Bénoist unter Machiavellismus eine ewige Methode des politischen Handelns2 zu verstehen, oder im machiavellischen Aspekt eine Ansicht zu sehen, „ohne die man sich freilich kaum mit der Weltgeschichte abgeben möchte" (Goethe)3. Hier liegt tatsächlich ein echtes Problem vor. Politischem Handeln läßt sich nicht mit absoluter „Gesinnungsethik", sondern nur mit politischer „Verantwortungsethik" (Max Weber) gerecht werden. Man könnte in einem „politischen Absentismus" (Alfred Weber), der freilich Verzicht auf geistige Daseinsgestaltung bedeuten würde, dieses Problem beiseitesetzen oder in einem pseudopolitischen Extremismus es mit der Behauptung ethisch-politischer Grundsätze genug sein lassen, ohne sich um deren Folgen oder die Möglichkeiten praktischer Verwirklichung zu kümmern. Ein solcher Rückzug in die akademische Opposition wäre Flucht vor politischer Entscheidung überhaupt und zugleich eine verfehlte und nicht vertretbare Wertung ethischer Grundsätze, die als moralisch gesollte ja gerade zur Verwirklichung, auch im Bereich des Politischen, hindrängen. Da nun jede politische Herrschaftsgestaltung auf Macht als ihrem nicht ausschließlichen, aber doch spezifischen Herrschaftsmittel sich gründet, ist der Politiker, der mit diesen Mitteln legitimer Gewaltanwendung paktiert, spezifischen Konsequenzen ausgeliefert und gezwungen, sich mit den diabolischen Mächten einzulassen, die in jeder Gewaltsamkeit lauern 4. Er ist verantwortlich für die über seine eigene Existenz hinausreichenden Folgen seines Handelns. „Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung ,guter' Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben, wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ,heiligt'." 5 Aber über dieses allgemeine Problem hinaus ist der „Machiavellismus" eine bestimmte historische Erscheinung, die in ihrer Eigenart vielleicht ein Moment jeder neuzeitlichen europäischen Staatspolitik ist, aber doch nicht mit jeder nur denkbaren Art von Politik notwendig und wesensmäßig verbunden ist. Er setzt vielmehr einen bestimmten politischen, sozialen, weltanschaulichen Hintergrund voraus, in dem der Universalismus der mittelalterlichen Einheitskultur in Auflösung ist und die Wende zum Individualismus, zum „antik-modernen" Staatsdenken, zur modernen Staatsatomistik, sich vollzieht. Für Machiavelli ist der moderne autonome Machtstaat mit seinem spezifischen Monopol der Gewaltanwendung der offenbar entscheidende Ordnungsfaktor, der trotz seiner rettenden Funktion in unvereinbarem Gegensatz zur universal denkenden christlich-kirchlichen Welt steht. Dieser 2
Charles Bénoist , Le Machiavellisme I, Paris 1903; II, Paris 1934. 3 Brief an Zelter 1823 (Briefe; Bd. 43, 195).
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Max Weber, Gesammelte politische Schriften, München 1923, S. 446. 5 Ebd., S. 442.
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das Jahrhundert quälende Bruch zwischen politisch-sozialer Wirklichkeit und dem religiös-moralischen Anspruch christlicher Religiosität tritt bei Machiavelli zum ersten Mal in bestürzender Eindringlichkeit und prinzipieller Verallgemeinerung zutage und wird als unausweichlich hingenommen und bejaht. Das eigentlich Erregende am Machiavellismus als historischer Erscheinung ist nicht schon die Empfehlung verwerflicher Methoden zur Behauptung und Sicherung politischer Herrschaft, sondern deren ernsthafte Verteidigung und Rechtfertigung aus einer bestimmten, nur am Diesseits orientierten Weltauffassung heraus; er gibt dazu das gute Gewissen. Machiavelli erkennt die verhängnisvolle Zwangsläufigkeit im politischen Handeln und bewertet sie positiv als Signatur unseres Daseins und notwendiges Vehikel menschlicher Bewährung. „Es war etwas wesentlich anderes, ob man das Sittengesetz in der Politik nun tatsächlich übertrat, oder ob man sich, wie es fortan nun möglich wurde und mehr und mehr geschah, rechtfertigen konnte mit einer unausweichlichen Notwendigkeit'. Im ersten Falle blieb das Sittengesetz in seiner absoluten Heiligkeit selber unversehrt als eine überempirische Notwendigkeit. Jetzt aber wurde die überempirische Notwendigkeit durchbrochen durch eine empirische Notwendigkeit, und das Böse erstritt sich einen Platz neben dem Guten, wo es nun auch als ein Gut, wenigstens als ein unentbehrliches Mittel zur Erhaltung eines Gutes sich gebärdete"6. Vor Machiavelli kann man also im strengen Sinne nicht von „machiavellistischer" Politik reden, ebensowenig wie etwa vor Calvin von calvinischer Religiosität. Daß dem so ist, ergibt sich auch daraus, daß die Antike den im „Machiavellismus" als notwendig behaupteten Konflikt zwischen Politik und Moral in dieser Form nicht gekannt hat, da die Ethik zugleich Staatsethik war und keine universale Religion die staatlichen Kräfte von außen einengte. Im Mittelalter gab es nur zerstreute Staatlichkeit. Recht und Sitte waren dem Staate vor- und übergeordnet, seine Aufgabe in erster Linie die Friedens Währung; er selbst wurde nicht als eigengesetzliche Potenz empfunden. In der Renaissance wird das grundlegend anders. Es bildet sich - vorerst in Italien - eine Reihe individueller Staaten verschiedener Struktur, meist auf illegitimer Gewalt gegründet und mit eigener politischer Zielsetzung. Diese autonomen Machtgebilde empfinden sich nicht als Teil-Ganze, abgeleitet aus der gottgewollten Harmonie des Weltganzen; sie rechtfertigen sich vielmehr aus sich selbst, indem sie in der Unsicherheit aller Verhältnisse immerhin als die entscheidenden, einen Zusammenhalt noch erzeugenden, autonomen Ordnungsfaktoren erscheinen. Bei dem Mangel an Legitimität und Kontinuität, bei dem Fehlen echter Autorität und eines moralischen, auf Vertrauen basierten Verhältnisses der Herrscher zu den Untertanen wird die staatliche Herrschaftsordnung durch Monopolisierung der politischen oder auch der wirtschaftlichen Macht erzwungen. Das Ineinander- und Gegeneinandersein dieser Staaten ist nicht mehr unter dem Bilde 6
Friedrich
Meinecke, Die Idee der Staatsräson. 3. Aufl., München 1929, S. 49.
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einer autoritären transzendenten Ordnungsidee als Einheit begreiflich zu machen. Vielmehr gebraucht Machiavelli im „Principe" das im Immanenten verbleibende Bild eines „Gleichgewichts" der Kräfte, um den politischen Zustand Italiens zu kennzeichnen. Die kleine Welt des damaligen Italien ist also in nuce die Vorwegnahme der politischen Entwicklung Gesamteuropas und brachte schon jenen Begriff hervor, der im 17. und 18. Jahrhundert zum Topos der hohen Diplomatie wurde. Diese modernen rationalen und souveränen Staatswesen und der in ihnen nie zur Ruhe kommende Wandel politischer Formen waren der empirische Hintergrund, für den Machiavelli sich geeignete Erkenntnismittel zu verschaffen wußte, um diese zerrüttete Welt sich im Bilde eines immerwährenden dynamischen Prozesses faßbar zu machen, in welchem gegensätzliche, sich in Spannung oder Gleichgewicht haltende Potenzen einen immer wieder verfallenden Zusammenhang produzieren. Als der größte Analytiker von Aristoteles bis Tocqueville (Dilthey) und mit einem unbedingten, wenig „machiavellistischen" Willen, sich nichts vorzumachen, sondern gleich Thukydides die Vernunft in der Realität zu sehen - und nicht in der „Vernunft", noch weniger in der Moral 7 - , entwickelt er eine Methode der Untersuchung, eine „Technizität" des Denkens, deren Wesen in der möglichst weitgehenden Reduktion aller politischen Gegebenheiten auf Machtverhältnisse, auf Kraft und Gegenkraft, auf Plus und Minus besteht. Sein Denken orientiert sich nicht aristotelisch an vorgegebenen teleologischen Ordnungsstrukturen, sondern löst alles in Kraftverhältnisse und dynamische Werdeprozesse auf. Nicht das Sein, sondern das Geschehen, nicht die Form, sondern die Kraft ist ihm das Wirkliche und Wirkende. Die Umwelt wird in Situationsschemata zerlegt, die sie einer Berechnung zugänglich macht; Bedingungskomplexe werden herausgelöst und jede Lage in entgegengesetzte Hypothesen aufgespalten. Alle Substanz- und Strukturwerte entfallen, und nur Funktionswerte bleiben; die Subjekte der Handlungen sind keine Personen, sondern lediglich die abstrakten Ausgangspunkte von Aktionen.8 Der politische Prozeß erscheint nur als Kampf um die Macht unter Ausklammerung aller moralisch und geistesgeschichtlich bedingten Vorgänge. Alle politische Tätigkeit wird infolgedessen nach dem optimalen Verhältnis von Kraftaufwand und Leistungseffekt beurteilt. Die politische Wissenschaft Machiavellis reicht nur so weit, als sich diese Reduktion auf das Freund-Feind-Verhältnis, auf Attraktion und Repulsion gewissermaßen, auf mathematikähnliche Allgemeinheiten zurückführen läßt. Machiavellis methodischer Ansatz ist mit den alles möglichst auf das Quantitative reduzierenden Methoden der modernen Naturwissenschaft und ihrem rücksichtslos inquisitorischen Verfahren durchaus verwandt. Wie bei dieser, wird auch in der politischen Wissenschaft Machiavellis die Schärfe und Generalisierbarkeit seiner Beobachtungen mit einem Modus des Erkennens erkauft, der sich von der Mannigfaltigkeit 7 8
Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung (Was ich den Alten verdanke). Hans Freyer, Machiavelli. Leipzig 1938, S. 96.
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des Wirklichen erheblich entfernt. Freilich macht diese methodische Einengung es ihm erst möglich, es in der Politik zu einer Wissenschaft, d. h. zu generalisierbaren Ergebnissen zu bringen. Diese methodische Form des Weltbegreifens ist für Burnham 9 das Wesentliche der „Machiavellisten". Gewiß ist damit schon etwas Entscheidendes und den Beginn der neuzeitlichen Geschichte Kennzeichnendes herausgehoben. Zudem gibt Machiavelli kein geschlossenes rationales System, keine metaphysische Weltformel und verwaltet keinen stabilen Wahrheitsbesitz, sondern seine Anschauungsweise gibt vor allem tatsächlich eine Methode, den Prozeß des politischen Geschehens zu denken. Doch trifft das keineswegs das Ganze seines Denkens. Seine neue Methode hat sich in Verbindung mit gewissen Grundvorstellungen ausgebildet und ist ohne diese nicht ganz verständlich. Es ist ohnehin bezeichnend genug, daß die großen Wenden in der Geistesgeschichte in der Regel auch neue Methoden hervorbrachten, die der Erkenntnis neue Räume öffneten: von Sokrates bis Descartes' Discours de la méthode oder Kants Kritik der reinen Vernunft, die Kant ja auch einen Traktat von der Methode genannt hat, oder bis zu Hegels Dialektik. Wie deren Methoden in Wechselwirkung zu ihrem Weltbild standen, so korrespondiert auch Machiavellis Methode des Weltbegreifens zu einer nicht immer offenkundigen, aber doch hinreichend formulierten und den Gang seiner Gedanken bestimmenden Weltauffassung, für die seine Methode das geeignete Erkenntnismittel ist. Wie aber für Machiavelli die politische Welt keine endgültige Form findet, in Macht-Gegensätzen geschichtlich unaufhörlich weiterschreitet und aus der Konstruktion ihrer entgegengesetzten Möglichkeiten erfaßt wird, so hat auch seine Begriffswelt nicht die Form einer endgültigen, aus formal-logischen Abgrenzungen und sich subordinierenden Abhängigkeiten gewonnene Systematik angenommen; vielmehr liegen seinen Gedankengängen einige wenige inhaltlich bestimmte Zentralbegriffe zugrunde, reale gegensätzliche Potenzen wie etwa virtù und fortuna, deren Geltungsbereich und Umfang nicht von vornherein festliegt, sondern sich aus ihrem Gegeneinanderspielen für jede Zeit selbst neu bestimmt. Sie lassen sich also aus zeitloser Logik allein nicht genügend bestimmen; sie sind als real erlebte, zeitverhaftete und gewissermaßen verflüssigte Inbegriffe anzusehen, die sich faktisch einschränkend - den allgemeinen Weltdynamismus konstituieren. Darum verläuft die Tiefenführung seiner Gedanken nicht nach dem Leitfaden einer festgelegten Systematik, sondern ein Gedankeninhalt tritt dem anderen antwortend entgegen, so daß seine Form des Denkens kein System erzeugt; eben dadurch erweist sie sich aber - selbst als Prozeß in Koordination gegensätzlicher Begriffe weiterschreitend - als geeignet, die Dynamik des Wirklichen sich geistig, wenn nicht in Form des abgezogenen Begriffes, so doch im Symbol anzueignen. 9
James Burnham, Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit. Zürich 1949.
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Es sind vor allem drei bedeutungsvolle Schlüsselbegriffe, die das Denken Machiavellis bestimmen: virtù, fortuna und necessità10. Im Frühhumanismus finden wir bereits die Dreiheit von virtus, fortuna und Providentia Dei 11 . Hier aber, auf der Ebene eines immanenten, naturalistisch-rationalistischen Denkens ist die Providentia Dei ersetzt durch die necessità, die nun bei Machiavelli als das Sinn erfüllende oder wenigstens Sinn ermöglichende Moment erscheint. In diesen drei Inbegriffen schwingt gleichzeitig das Urproblem von Freiheit (virtù), Zufälligkeit (fortuna) und Notwendigkeit (necessità) mit. Dabei ist necessità bei Machiavelli mehr als eine dem Menschen zufällige Grenzsituation. Sie ist ein dem Wechsel des Daseins Mitgegebenes und ihn Bestimmendes, der Ausdruck des in der Welt erkennbaren Zusammenhangs, der sich bis in die Grundtriebe der Einzelwesen auswirkt und die innere Einheit der Welt konstituiert. Necessità bringt in die Welt, was dem Denken sich erschließt, während virtù das Moment der Irrationalität im Subjekt, fortuna das Moment der Irrationalität im Objekt mitenthält. Für Machiavelli ist das Handeln secondo la necessità (nach Notwendigkeit) - ohne Rücksicht auf Recht und Moral - das eigentlich seinsgerechte Handeln. Von einer willkürlichen Wahl der Mittel darf bei ihm aber eben deswegen nicht die Rede sein. Was secondo Γ arbitrio (nach Willkür) oder per avarizia (aus Habsucht) oder per ambizione (aus Ehrgeiz) getan wird, ist vom Übel; was per necessità geschieht, gut und erfolgversprechend. Die Notwendigkeit ist das Begründende, das daraus folgende Handeln das politisch Berechtigte und Maßvolle. Dabei meint aber necessità nicht allein die Determination der Dinge auf Grund ihrer Gesetzlichkeit, sondern auch noch, und zwar sogar in stärkerem Maße, die Determination der Dinge auf Grund ihres Zusammenseins, ihrer Gegensätzlichkeit, ihrer wechselseitigen Einschränkung. Necessità erscheint darum für das Einzelwesen vor allem als Not, die seinem Dasein wesentlich ist, um den Zusammenhang und das Zusammensein des Ganzen für jeden Moment neu hervorzubringen. Der ständige Wandel und das ewige Auf und Ab aller Dinge, das Weitergehen der Zeit, die Unersättlichkeit und Veränderungssucht der menschlichen Natur, die Korruptibilität aller Verhältnisse ergeben für Machiavelli, daß Ruhe und Sicherheit der Staaten nur äußerer Schein sind und immer der Casus necessitatis gegeben ist, der also nicht Ausnahme, sondern Regel ist. Ihm ist das Sein des Menschen wesentlich permanenter Notstand. Diese Notwendigkeit rechtfertigt das politische Handeln, welches unabhängig von idealen Normen und Ideologien in die notvolle Realität der jeweiligen Situation eingetaucht ist. Der „Principe" ist der Prototyp des Politikers, der das im Augenblick Richtige und Notwendige tut, die Personifikation der „wahren", d. h. der der konkreten necessità gehorchenden und zugleich teilweise gebietenden Politik. Sein Tun ist Antwort auf die necessità seiner Gegenwart. Aus dem notvollen Dasein geht ihm die Aufgabe der Selbstbehauptung und -erweiterung hervor, die zu verwirklichen dieses Dasein sich selbst als Mittel 10
Meinecke (Anm. 6), S. 46. P. Joachimsen, Aus der Entwicklung des italienischen Frühhumanismus, in: Historische Zeitschrift 121 (1920), S. 203. 11
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anbietet. Diese politische Selbstbehauptung bedarf keiner besonderen Veredlung, sondern stellt in sich ein Maximum an Wert und Größe (grandezza) dar. Zweck und Ziel sind dem Menschen in seiner Existenz gesetzt, insofern das unter der necessità stehende Dasein selbst das Bewußtsein des eigenen Ziels produziert. Machiavelli bejaht die necessità, jenes maximum et ultimum telum (Livius IV, 28; Disc. 3, 12), weil sie den Menschen nötigt, seine virtù zu entwickeln und der Neigung zu Verfall und Müßiggang zu begegnen. Der Kampfcharakter des Daseins ist ihm zugleich das Vehikel der Bewährung. Necessità ist die medicina forte, die den inneren Zerfall aufhalten und heilen kann. Der Weg der Notwendigkeit selbst bedarf keiner moralischen Rechtfertigung, sondern ist in sich so gerechtfertigt wie die Wirklichkeit selbst es ist. Machiavelli sucht also nicht eine Sinngebung des ganzen Daseins aus der göttlichen Vorsehung, sondern eine Sinngebung des einzelnen Handelns aus der necessità. Die Umdrohtheit des menschlichen Daseins besteht in der mit der Existenz gegebenen, absoluten Überantwortung des Menschen an den konkreten Augenblick. Dieser Augenblick, und nicht ein vorgegebener ordo universi ist bestimmende Norm des menschlichen Daseins und die echte Realität (verità effettuale ), die durch dringende aktuelle Notwendigkeit sich als solche enthüllt. Seine politische Ethik setzt den Casus necessitatis als seinsmäßig gegeben voraus. Sie gestattet keine freie Entscheidung im Sinne einer absoluten reinen Ethik. Es ist nun eine Erfahrung Machiavellis und ein aus der ewigen Veränderung der Dinge sich ergebender Aspekt, daß die Mittel zur politischen Gestaltung der Realität dem Zweck, dem sie dienen, mehr oder minder entgegengesetzt sind; es herrscht indifférence des moyens au fin (Mesnard). Denn jedes Tun ist Versuch einer Stabilisierung der fließenden Verhältnisse und setzt sich mit fortschreitender Zeit in wachsenden Gegensatz zur Bewegtheit der Dinge, zur Neuerungssucht und Unersättlichkeit der menschlichen Natur, so daß immer neues Eingreifen erforderlich ist. Alles einmal Verwirklichte entgleitet der Hand des Menschen und geht im sich verändernden Fluß der Dinge weiter. Machiavelli sieht geradezu schon die allgemeine „Heterogonie der Zwecke". Alle Daseinsgestaltung ist darum dem Augenblick verhaftete Improvisation und behält den Charakter der Vorläufigkeit. In den Dingen selbst steckt ein „Keim des Verderbens4' (Hegel): Die Stabilität eines Staates ist Voraussetzung seines Bestandes, aber möglicherweise gerade Ursache seines Untergangs, da die Dinge sich wandeln. Oder: der Diktator, der die freie Verfassung schützen will, muß sie zu diesem Zwecke aufheben. Ferner: der Weg zur Republik führt über die Diktatur. Oder: der Principe paßt sich den verderbten Anschauungen seiner Zeitgenossen an, um schließlich moralischer Erzieher seines Volkes zu sein. „Mit den Mitteln des Cesare Borgia wollte er eine dauernde Ordnung der Gesellschaft gegründet wissen" (Dilthey). Der „furchtbare Selbstwiderspruch" in Machiavellis Denken und Planen begründet sich letzten Endes darauf, daß ihm die Welt wesentlich krank und verfallend ist, und er kühn genug war, ihr Gift zu verschreiben, um diese ewig gleiche Krankheit der Zeit zu heilen.
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Diese innere Disharmonie der Dinge ist bei Machiavelli der tiefere Aspekt, aus dem sich die Gefährlichkeit des politischen Handelns, sein „Machiavellismus", ergibt. Dieser, als Inbegriff verwerflicher Methoden in der Politik, ist also ein von ihm selbst als notwendig erachteter Bestandteil seines politischen Lehrgebäudes. Moral in der Wahl der Mittel wäre nach Machiavelli lebensfremd, da sie einen gegebenen Ordo unterstellt, der selbst in einer moralisch orientierten Politik erst mit „forza" konstituiert werden müßte, aber nicht vorausgesetzt werden darf, was sonst das auch vom sittlichen Standpunkt aus nicht zu verantwortende Scheitern solcher Politik nach sich ziehen müßte. Die necessità allein, der Alarmzustand des Hier und Jetzt entscheidet über die Wahl der Mittel. Dabei ist gerade - wie das Gift notwendig zur Heilung - das Böse notwendig zur Förderung des Guten. „Wahre" Politik, der Typus der Vollkommenheit in der Politik, ist immer „Machiavellismus". Nur dem, der sein eigenes Ich absolut setzt, der die Welt für seine Zwecke reduzierend vereinfacht und sie im Sinne des Freund-Feind-Verhältnisses umwertet, der im Handeln gewissenlos ist, wird es möglich, ganze und erfolgreiche Politik zu treiben. Bei dieser Ansicht der Dinge entsteht der Eindruck des Satanischen dadurch, daß Machiavelli die ethische Wertung beibehält, zugleich aber die Notwendigkeit des Bösen behauptet und so zu seinem „Doktrinarismus der Skrupellosigkeit" (Dilthey) gelangt. Er lehnt also ethisch ab (wenigstens seiner Ausdrucksweise nach), was er zugleich als seinsgerecht und existenziell gerechtfertigt anerkennt. Das Politische orientiert sich für Machiavelli nur an Außenwelt, Freund-FeindVerhältnis, Erfolg; das Sittliche an Innenwelt, Stimme des Gewissens, Selbsttreue: Das Ideale der sittlichen Welt gibt es in der Außenwelt nicht als Herrschaft eines Allgemeinen, der Idee - es sei denn über den Weg des Politischen, also der legitimen Gewaltanwendung, d. h. durch eben die Negation des Idealen hindurch. Im Sittlichen ist es die innere Idee, im Politischen die äußere Notwendigkeit, die das Handeln rechtfertigt. „Die Ethik ist zweifellos da, aber sie gehört zur Materie, die es zu formen gilt" (Maritain). Die Norm des Handelns liegt in der necessità der konkreten Situation, die, insofern sie ein Maßhalten in Hinsicht auf Ziele und Wünsche erfordert, dem politischen Handeln eine eigene vernünftige Begrenzung verleiht, die auf der Ebene des Staatspolitischen als ideale Maxime, d. h. als Staatsräson erscheint. Damit kommen wir zu einem Element machiavellischer Weltanschauung, das - ohne die immanente Betrachtung der Dinge zu überschreiten - eines idealen Zuges nicht entbehrt. Denn für Machiavelli ist Politik als Re-Aktion auf die Situation nicht die ganze Politik. Vielmehr ist sie auch Organisation der Macht nach innen und außen im Staat, der für Machiavelli vor allem Schaffer von Recht und Ordnung ist. Staatspolitik kommt zwar auch aus dem Moment, zielt aber auf Dauer. Zu den Elementarnotwendigkeiten der necessità di presente, dell'assicurarsi, al difendersi 12 bringt der Staat eine necessità ordinata dalle leggi 13 (Disc. 1,1) hinzu, die 12 13
Aktuelle Notwendigkeit; Notwendigkeit der Sicherung, der Verteidigung. Gesetzliche, geordnete Notwendigkeit.
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uomini eccellentissimi corruzione bedeutet.
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erzeugen könnte und die Rettung von der allgemeinen
Mit dem Staat beginnt erst menschliches und auch sittliches Leben, wird der furore naturale gebändigt zur virtù ordinata. Allerdings bleiben auch hier nicht Ruhe und Gleichgewicht, denn „alle menschlichen Dinge sind nun einmal im Fluß, sie können nicht stehen bleiben, sondern müssen steigen oder fallen ... Und vieles, was die Vernunft nicht rät, rät die Notwendigkeit" (Disc.l, 6). So kann auch der Staat Machiavellis kein idealer Staat der „Gerechtigkeit" sein, sondern er ist ein Notstaat, der das zum zeitweiligen Ausgleich bringt, was sonst lebensmäßig nicht zu bändigen ist (René König). Dem Ausdehnungsdrang des Staates, seiner dynamischen forza, steht die retardierende planende prudenza des Staatsmannes gegenüber. Denn die Zwecke der Macht selber beschränken die persönliche Willkür. Kratos und Ethos fallen bei Machiavelli zusammen. Auf der Ebene der höheren Politik, die über momentanen Kalkül hinaus eine dauernde und geordnete Organisation der Macht erstrebt, bildet sich aus der höheren Notwendigkeit, der necessità ordinata , ein neues, das Ganze bestimmendes Prinzip, die Staatsräson (nur die Sache, nicht der Terminus findet sich bei Machiavelli), deren Wesen diese Identität von Ethos und Kratos ist und welche sich an den realen Gegenkräften zu beschränken oder zu erweitern weiß, d. h. der Staatsgewalt aus ihren eigenen Interessen heraus Schranken zieht. Subjektive Maxime des Handelns und objektives Bewegungsgesetz des Staates zur Deckung gebracht ergibt Handeln nach Staatsräson. Diese ist freilich nichts Festliegendes, sondern behält in der Bewegung aller Dinge ihren normgebenden Charakter, insofern sie im ständigen Ausgleich mit der jeweiligen Gegenwart, gewissermaßen in der ständigen Weitererzeugung der idealen Maxime, ihr spezifisches Leben hat. Die Staatsräson ist für Machiavelli der letzte entscheidende Maßstab der Beurteilung. Ihr, als dem Inbegriff der Interessen des Staates, ist der Staatsmann verantwortlich. Seine Ethik ist nicht Gesinnungsethik, sondern Verantwortungsethik, die in erster Linie sich nicht dem eigenen Innern, sondern den Folgen seines Tuns, d. h. der Geschichte, verpflichtet fühlt. Machiavelli weiß deshalb wohl zu unterscheiden zwischen einem wirklichen Staatsmann, wie er ihn sich etwa in Castruccio Castracani idealisiert, und einem dissipatore di tutte le civiltà degli uomini. Er lehnt eine brutta cupidità di regnare ab. Groß sind ihm vor allem die Gesetzgeber und Ordner. Machiavelli ist nicht ein Mann der Revolution, des Egoismus oder Anarchismus, sondern ein Mann des Staates. Der Staat ist ihm Lebensideal und Sinnerfüllung des Daseins. Er schreibt an Vettori (16. April 1527) kurz vor seinem Tode: Amo la patria più dell'animo. So steht also seinem Machiavellismus der Mittel ein Idealismus der Zwecke gegenüber, der mitgesehen werden muß. Aber sein Staat dient keinen vorgegebenen Inhalten; er schützt nicht, sondern schafft die sittliche Substanz, da aus der staatlichen Ordnung sich die Vorstellungen von Recht und Unrecht erst bilden (Disc.l, 2).
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Die ethischen Normen hängen von den jeweiligen Bedürfnissen und Herrschaftsformen ab, so daß die Moral nur eine Form des Praktizismus und Pragmatismus zu sein scheint. Die äußere Legalität entwickelt erst die innere Moralität. Der schroffe Formalismus Machiavellis ergibt sich aus seiner Ablehnung der Wirklichkeit allgemeiner ideeller Gehalte und Ordnungen. Das Allgemeine ist nur da als das von einem Willen als Ordnung Gesetzte und nur durch den Willen (forza) sich als überindividuell allgemein in jedem Moment neu Erhaltende und Verwirklichende. Hier zeigt sich eine Schranke seines in anderer Hinsicht fruchtbaren, stark nominalistisch-voluntaristisch bestimmten Denkens. Auch die vom Staat erstrebte Steigerung der virtù verwirklicht keine bestimmten Inhalte, sondern erhöht die politische Energie und dient wiederum seinen eigenen Zwecken politischer Selbstbehauptung. Freilich sieht Machiavelli über den Staat hinaus im realen Ablauf der Geschichte eine immanente Vernünftigkeit, eine höhere Notwendigkeit sich auswirken, insofern das Erfolgreiche, sich auf sein richtiges Maß Beschränkende und auf das Kompossible Ausrichtende, in seiner Selbstbehauptung unter den vielen necessità, sich rechtfertigt und als das im tieferen Sinne Existenzberechtigte erweist. Der Gegensatz, die Gewalt und die weiterschreitende Zeit wirken als die entscheidenden Momente der Wirklichkeitsordnung, in der nur die größere moralisch-politische Energie sich im Ganzen behauptet, wenn auch im einzelnen die unberechenbare Zufälligkeit der Fortuna nicht ausschaltbar ist. Seine Situationsethik ist also bis zu einem gewissen Grade metaphysisch unterbaut und findet ihr Kriterium am Erfolg, so daß - im Großen gesehen - jede Vergangenheit an der Gegenwart ihren Richter findet. Der spätere Calvinismus kommt aus einer ganz anderen Richtung - nämlich von einer transzendent-religiös bestimmten Weltanschauung her - zu einem merkwürdig verwandten Ergebnis. Der „Machiavellismus" enthält also mehr als nur eine verwerfliche Methode. In ihm äußert sich eine weit-immanente Anschauungsweise; er ist eine von der Politik her bestimmte Form des Weltbegreifens; in ihm verbinden sich anthropologischer Pessimismus und optimistische Staatsgläubigkeit. Er setzt eine Welt der Unordnung und des mangelnden Zusammenhangs voraus, in welcher nur vom Staatlichen her, durch rationale Vergesetzlichung des Lebens, eine Rettung sich als möglich erweist, deren Mittel allerdings fatalerweise dem Zweck nicht entsprechen. Seine Ethik des Notstandes (auf den anthropologischen und metaphysischen Pessimismus sich gründend), seine Verantwortungsethik (auf den Staatsoptimismus sich gründend) und seine Situationsethik (die Relativierung der allgemeinen Normen begründend) dienen der geistigen Rechtfertigung des Machiavellismus, der - von konkreten geistigen und soziologischen Voraussetzungen her - von Machiavelli als eine vertretbare gedankliche Möglichkeit erkannt und zu Ende gedacht worden ist. Der „Machiavellismus" in der Politik wäre berechtigt und unausweichlich, wo einzig und allein der Staat die Ordnung schaffende Potenz wäre, und in einer Staa-
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tenwelt, wo autonome Machtgebilde ohne andere Beziehungen als die eines latenten oder offenen Machtkampfes nebeneinanderstehen. Aber eine bloße Machtpolitik ohne andere als wiederum politische Inhalte würde ins Leere und Sinnlose wirken und für den normalen Lauf des Lebens dem Einzelnen und der Gesamtheit keine ausreichende Sinnerfüllung bringen können. Soweit Geschichte überhaupt überliefert ist, ist das in reiner Form und auf das Ganze der einzelnen Konflikte gesehen nie der Fall gewesen. Ein „Gleichgewicht der Kräfte" wäre dabei auch nur ein zufälliges Ergebnis, und ein einebnender Sieg einer Seite ebenso möglich wie eine allgemeine Erschöpfung oder Chaos. Es ist nicht einzusehen, wie aus der reinen Machtauseinandersetzung bereits eine allgemeine Wirklichkeitsordnung entstehen könnte, ohne daß andere Momente als die eines reinen Freund-Feind-Verhältnisses, wie etwa die Vorstellung eines Zusammenhangs, eines Aufeinanderangewiesenseins und eines Minimums an gemeinsamen Rechts- und Ordnungsbegriffen nötig wären. Eine absolute Beziehungslosigkeit nebeneinanderstehender Machtgebilde würde sogar den Machiavellismus als Methode und Kunst eigentlich aufheben, da der offen gewordene Machtkampf sich schließlich nur noch in bestienhaftem Sichmessen auswirken würde. Machiavellismus war praktisch möglich und ohne Auflösung der europäischen „Völkerfamilie" zeitweise erträglich im Rahmen der Kabinettspolitik und einer als bewußter Kunst betriebenen Diplomatie, in der ein agonisch-spielerisches Moment und eine unbestrittene Geistes- und Gesellschaftskultur eine Gemeinsamkeit der Konvention, der Anschauungen und Lebensgewohnheiten voraussetzte, innerhalb welcher der „Machiavellismus" als „arcanum imperii" nicht so bedenklich und auflösend erschien, sondern sich auf einen bestimmten, nämlich den politischen Bereich, beschränkte und mehr die Form einer anerkannten und durchaus nicht als unehrenhaft empfundenen Spielregel angenommen hatte. Die „machiavellistischen" Staatsmänner bis auf Talleyrand und auch noch Bismarck waren im Grunde Kabinettspolitiker und fühlten sich als Glieder einer im tiefsten doch solidarischen Kulturwelt, als Europäer. Ihr Machiavellismus bestand in einer rational abgemessenen, kunstmäßigen Verwendung des Bösen, bei der die darin schlummernde Dämonie gemeistert und lenkbar erschien. Voraussetzung einer solchen politischen Kunst war, daß die Politik ihren eigenen Bereich hatte, der die allgemeinen menschlichen Anliegen nicht in Frage stellte. Die Substanz des Menschseins erschien lange als gleichbleibend und ungeschichtlich - nicht einbezogen in den Wechsel der Politik. Selbst in den Religionskriegen der Neuzeit erschien das nicht anders: hier handelte es sich um Fragen der Ewigkeit, nicht der Zeitlichkeit; es stand Glaube gegen Glaube und nicht Glaube gegen Nihilismus und Verzweiflung, so daß das Menschsein selber nicht umdroht erschien. Erst heute - vielleicht beginnend mit Rousseaus ethisch gemeinter Politisierung aller Individuen - ist es so, daß die ganze Welt und alle Schichten in die geschichtlich-politische Bewegung hineinbezogen sind. Es ist kein Bereich mehr da, der bei einem Versagen im Politischen ungestört weiterbestehen könnte. Die Politik bekommt einen Ernst, der sie über den Bereich einer nur politischen Verantwortlich3 Kluxen
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keit (im Sinne des 17. und 18. Jahrhundert) hinaushebt. Sie kann sich nicht wie bei Machiavelli nur auf den Staat als Mittelpunkt und Ziel konzentrieren. Man glaubt nicht mehr an die unumgängliche Notwendigkeit des modernen Machtstaates, als der nun einzig möglichen, schicksalbestimmten Form menschlichen Zusammenlebens. Diese rational organisierten Machtgebilde werden als historisch bedingt erkannt, und andere politische Formen, etwa mehr genossenschaftlicher Art und mit ethischer oder traditionsbestimmter Unterbauung, als geschichtliche Tatsachen nachgewiesen. Formen politischen Lebens sind also denkbar, unter denen der Machiavellismus als Lehre von der rücksichtslosen Staatsräson nicht mehr gilt, zumal in der Gegenwart, da geschichtsmächtige außerstaatliche Potenzen, wie soziale Bewegung, Weltwirtschaft und Technik, die Struktur des politischen Kraftfeldes so verändern, daß die rein politische „Technik" ihr nicht gerecht wird. Bei Machiavelli ist schon bemerkenswert, daß er - wenn auch mit Ironie, so nichtsdestoweniger aus Erfahrung sprechend - das Lebensgesetz der geistlichen Staaten aus seinem Blickfeld nicht verstehen konnte. Heute sind es neben kulturellen und religiösen Bewegungen weltumfassende gesellschaftliche Umschichtungen und technische Neuerungen, die in die Politik hineinwirken und politischer Meisterung zu spotten scheinen. Die Formen des politischen Lebens, in denen die wirtschaftlich-technischen Kräfte sich bewegen, entsprechen nicht mehr den Größenverhältnissen dieser Kräfte. Die „industrielle Revolution" ist das außerordentlichste gesellschaftliche Phänomen, der folgend sich die Gesellschaftsstruktur in erster Linie von der Art der Arbeit und ihrer Verteilung, und nicht von der aktuellen Politik her aufbaut. Der soziale Aufstieg der unteren Schichten, unter Appell an das Gewissen und im Bewußtsein seiner rechtlichen Notwendigkeit sich vollziehend, weist auf die Macht außerpolitischer Bewegungen hin, die sich nicht auf ein eindeutiges Freund-Feind-Verhältnis reduzieren lassen - es sei denn in Form der ideologischen Politisierung der gesellschaftlichen Vorgänge als „Klassenkampf 4, durch welche der Machiavellismus freilich bestehen bliebe und zur Form und zum Inhalt der Geschichte überhaupt (nicht nur der modernen Staaten, sondern der ganzen menschlichen Gesellschaft) würde und nur mit dem Ende der Geschichte als „aufgehoben" gedacht werden könnte. In Wirklichkeit kommt hier ein echteres Anliegen zur Geltung, das sich auf der Erfahrung einer gegenseitigen Ergänzungsbedürftigkeit und Solidarität gründet und mit sittlichem Anspruch auftritt; Ziel braucht eben nicht die Überwältigung und der Untergang der einen Seite zu sein, der den Untergang der Sieger nach sich ziehen würde, sondern der gerechte Ausgleich, der die in der Natur der Sache liegenden Spannungen und Polaritäten um des Ganzen willen bestehen läßt. Gewiß gibt es heute noch furchterregende Tendenzen des Gestaltens auf Trennung, Abschließung und Fanatisierung in Gruppen, aber daneben auch entscheidende Tendenzen des Zusammenschlusses auf große einfache Wahrheit hin (Jaspers). Im Hinblick auf diese und deren „Notwendigkeit" als Forderung der geschichtlichen Stunde an uns, kann der naive Amoralismus Machiavellis, selbst in der Form der Idealisierung der Macht, die er im 19. Jahrhundert erfuhr, unter
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den Aspekten der Gegenwart keine Rechtfertigung mehr finden, schon deshalb nicht, weil ihm einfach die erfolgversprechenden Voraussetzungen fehlen, die in der geschlossenen, kulturfreudigen Welt des 17. und 18. Jahrhunderts gegeben waren. An sich schon müssen dem Politiker die tatsächlich geltenden und die Staatsgrenzen überschreitenden Rechtsvorstellungen, da sie in ihrer Art eine politische Macht darstellen, zur Lage der Dinge hinzugehören. Ferner gehen die vielen Gemeinsamkeiten in den Formen des wirtschaftlichen Verkehrs, der Sprachverwandtschaft, des kulturellen Austauschs, der religiösen Bindungen, nicht in eine machiavellistische Rechnung auf und sind doch höchst real. Der Machiavellismus als Methode und in der Möglichkeit seiner Rechtfertigung steht in proportionaler Abhängigkeit vom Maße des staatlichen Autarkismus. Je mehr gemeinsame Elemente zwischen den Staaten sind, umso unwirklicher wird er. Auch wo Macht gegen Macht steht - etwa Regierung gegen Opposition, Herrscher gegen öffentliche Meinung - , ergibt sich aus dem einschränkenden Gegensatz zweier Mächte nur dann eine Sphäre der Freiheit, wenn darüber ein Gemeinsames in Form einer Verfassung, gemeinsamer Wertungsweisen und Rechtsvorstellungen steht. Der Antagonismus allein schafft noch keine Sphäre der Freiheit, wie James Burnham und die „Machiavellisten", die Verteidiger der „Freiheit", es behaupten. Nur wo die Auseinandersetzung die Form eines Wettspiels behält, d. h. im Raum einer Kultur sich vollzieht, wo der Gegner nicht „Feind" ist, sondern Verantwortung auf das Ganze hin noch fühlt, wie im englischen Parlamentarismus oder in der freien Konkurrenz der Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert, in der ein Element der Humanität, des Geltenlassens, des fair play, also ein Gemeinsames immer lebendig blieb, ermöglicht das Gegeneinander eine gesunde Auslese, einen Interessenausgleich und ein soziales und politisches Optimum. Auch eine Form des Gleichgewichts kann nie aus dem Zustand eines latenten absoluten Krieges zweier feindlich sich abschließender Mächte hervorgehen, wenn sich nicht gemeinsame Momente, wie es menschliches Miteinandersein früher oder später mit sich bringt, herausbilden, die den Weg zu einem Rechtsverhältnis eröffnen. Auch das „europäische Gleichgewicht" ist ja kein mechanisches Produkt von Machtpotenzen gewesen, sondern hatte den Charakter einer Idee und war nur unter bestimmten geistesgeschichtlichen und politisch-sozialen Voraussetzungen möglich. Die totale Entfremdung und Abschließung der Staaten über das Politische hinaus war Machiavelli nicht bekannt. Sein Italien hatte unendlich viel als selbstverständlich hingenommenes Gemeinsames in Sprache, Kultur, Denkweise, Religion, so daß das Gemeinsame uns offensichtlicher ist als die damaligen lokalen, aber heftigen politischen Gegensätze. Heute ist es gewissermaßen umgekehrt wie zu seiner Zeit: die Staaten waren damals neuartige und notwendig sich abschließende Ordnungsfaktoren; heute dagegen sind sie überkommene, altgewordene Ordnungselemente, die der Auflockerung bedürfen, um den erweiterten Bedürfnissen und den gesteigerten Bedrohungen noch begegnen zu können. Diese Bedrohung liegt darin, daß die Vielfalt der staatlichen Ordnungsfaktoren sich auf einen globalen Dualis3*
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mus zu reduzieren scheint, in dessen innerer Spannung freilich ein „totaler Machiavellismus" noch lebendig ist. Der Gedanke an ein Gleichgewicht zwischen beiden ist kaum vorstellbar, da keine gemeinsamen Geglaubtheiten mehr bestehen, es sei denn die „Räson", daß die technische Zivilisation in einem Krieg zur Zerstörung von Freund und Feind führen könne und daher der Friede aus Kalkül gewahrt werden muß. Ob aber der Kalkül allein eine genügende Hemmung bietet gegen die Dämonien einer sich verabsolutierenden und mit eschatologischen Hoffnungen operierenden Politik, ist sehr die Frage. Hier ist keine „Räson" sichtbar, die einem „Machiavellismus" als begrenzendes Maß dienen könnte. Aber Machiavelli hat selbst - in Anklang an antike Gedankengänge - einige Prinzipien herausgestellt, die den genuinen Machiavellismus eigentlich schon überschreiten, z. B. das ritornar al principio: Jeder Staat soll sich im Rückgriff auf seine Ursprünge, denen er seine Entstehung verdankt, erneuern. Dieses Axiom setzt eine Kontinuität der Lebensform, ein Prinzip der inneren Konsequenz des Handelns, als dem Staate lebensnotwendig hin, so daß er als ein sich erinnerndes Gebilde anzusehen ist, das im Effekt nur als eine Person mit einer für ihn selbst verbindlichen und bleibenden (wenn auch nicht unveränderlichen) Rechtssphäre vorgestellt werden kann. Ranke entwickelt an diesem Prinzip, das er bei Cicero vorfand (de re publica I, 25), das Wesen des Staates als lebendiger Individualität. Auf diesem Wege kam er dazu, die Staaten Europas nicht nur als Machtpotenzen, sondern als Ideenträger anzusehen, die jeweils eigene geistige Inhalte verwirklicht haben, gleichsam Personen, die nur wechselseitiger Anerkennung und Begegnung leben und sich fördern können, deren Abmachungen und Verträge nicht nur Interessenausgleich sind, sondern außerdem jene Solidarität erzeugen, die das eigentlich schaffende Moment im Leben der Völker ist. Wie sehr diese zugleich ein politisches Moment sein kann, beweist das Solidaritätsgefühl der westeuropäischangelsächsischen Welt. „Unser europäisches Gemeinwesen hat sich niemals dem Gebote der reinen Gewalt unterworfen; ... es kann kein richtiges Unternehmen gelingen, keine Macht zu allgemeiner Bedeutung emporsteigen, ohne daß zugleich in den Geistern das Ideal einer hervorzubringenden Weltordnung erschiene" 14. Politik ist hier mehr als Grammatik und Technik der Macht, sie verwirklicht bewußt sittlich-soziale Ziele, nicht nur nach innen, etwa als „Ausgleicher" zwischen den sittlichen Sphären der Gesellschaft, sondern auch nach außen durch Herbeiführung echter „Begegnungen" und „Gespräche". Die Völker sind heute für ihr gemeinsames Schicksal gegenseitig verantwortlich. Der Staatsmann ist zwar immer dem Staate verantwortlich, zugleich aber auch dem Ganzen der Staaten, das heute durchaus überschaubar ist. Weltwirtschaft, Technik und Zivilisation haben dazu beigetragen, die Völker voneinander abhängig zu machen. Die Bedingung der lebensnotwendigen Weltwirtschaft ist der Friede und eine gewisse gegenseitige Solidarität. Wissenschaft, Humanismus und Kirchen sind darin wie unerläßliche Bedingungen des Menschseins (Jaspers). Alle Politik wird Weltpolitik; die Außen14
Leopold von Ranke, Geschichte der Päpste, Berlin o.J., S. 184.
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politik erhält Momente der Innenpolitik. Dies ist keine graduelle Steigerung der bisherigen Staatspolitik, sondern etwas qualitativ anderes, insofern der Staat kein autonomes Ganzes mehr sein kann, sondern nur abhängiger Teil eines größeren Ganzen, im Hinblick auf das sich die Prinzipien der Politik verändern. Die endgültige Durchsetzung dieses neuen Moments entscheidet sich daran, ob es gelingt, den gegenwärtigen Weltdualismus zu überwinden und damit eine Gesamtordnung zu ermöglichen. Aber gerade Machiavelli würde nicht sein Auge davor verschließen; daß dieser bedrohliche Dualismus paradoxerweise die Bedingung ist, ohne welche die Gesamtordnung Idee bleiben würde. Denn nur aus der drängenden Notwendigkeit der Stunde sind die Völker bereit, die ersten Schritte zu tun und sich von den Widerständen zu lösen, die im Alten sitzen. Ein „Machiavellismus" alten Stils würde Europa keine Chance geben. Das Festhalten an der überlieferten Staatsidee könnte seinen Untergang bedeuten. Ein erster entscheidender Schritt darüber hinaus aber würde die immer noch bedeutenden geistigen Reserven Europas frei machen, die Impulse seines kulturellen Lebens steigern und ihm hierdurch mit Mitteln, die oberhalb jeglicher Machtpolitik liegen, die Welt vielleicht zum zweiten Male öffnen.
Thomas Morus und seine „Utopia44 als Wegbereiter moderner Sozialanalyse Wer war dieser Thomas Morus, der am 6. Februar 1478 als Sohn eines Richters von „King's Bench", dem obersten Common-Law-Gericht, geboren wurde, und der am 6. Juli 1535 auf dem Schafott sterben mußte1? Gegenüber der Größe seines Sterbens verblaßte fast sein Ruhm als Humanist; in Erinnerung blieb wenig mehr als die langwährende Freundschaft mit Erasmus (seit 1499) und seine kleine Schrift Utopia von 1516, die in fast alle Sprachen der Welt übersetzt wurde und noch in den letzten hundert Jahren über hundert Auflagen erlebte, also wohl die meistgelesene Humanistenschrift überhaupt ist 2 . Thomas Morus 3 erlebte als Page am Hofe des Kardinals John Morton 4 den Frühling des englischen Humanismus, hörte in Oxford den Humanisten John Colet5 und lernte Griechisch. Auf Drängen seines Vaters betrieb er seit 1494 das Rechtsstudium an der Londoner Juristen-Fakultät (New Inn und Lincoln's Inn, die das Privileg zur Ausbildung zugelassener Anwälte und Richter für die Common-LawGerichte besaßen). 1504 gelangte er ins Unterhaus und widersetzte sich hier den Finanzforderungen König Heinrichs VII. Er heiratete 1505 die älteste Tochter Colets (gestorben 1510), wurde 1510 Under-Sheriff (Vicecomes) von London, also Vertrauensmann der Londoner Kaufleute, deren Prozesse vor Chancery und Sternkammer er führte. Außerdem war er in Sonderkommissionen für Geschworenen1 Nachweis des genauen Geburtsdatums bei Raymund W. Chambers, Thomas More. London 1935, 3. Aufl. 1963, S. 49 (dt. Übersetzung 1946). 2 Erste Publikationen: Löwen 1516; Paris 1517; Basel 1518; erste deutsche Übersetzung Basel 1524; erste engl. Übersetzung von Ralph Robinson 1551 (nach Überwegs Grundriß, Dritter Teil, 12. Aufl. 1924/Darmstadt 1957, S. 183-185); Frank u. M. P. Sullivan, Moreana 1478-1945. Kansas City 1946; Rita Falke, Versuch einer Bibliographie der Utopia, in: Romanisches Jahrbuch 6 (1953/54). 3 Maßgebliche Darstellung seiner geistigen Entwicklung und seines Eintritts ins öffentliche Leben: Alistair Fox, Thomas More. History and Providence. Oxford 1982. 4 John Morton of Ely, 1420-1500, Erzbischof von Canterbury, Lordkanzler von England und Kardinal. 5 John Colet, 1466-1519, studierte in Italien, kannte Marsilio Ficino und Pico della Mirandola und die platonische Tradition, las in Oxford ab 1496 über die Paulus-Briefe anhand des griechischen Originaltextes und erstrebte einen Ausgleich zwischen Humanismus und scholastischer Überlieferung. Thomas Morus nannte ihn seinen „vitae magister", nach E. F. Rogers, The Correspondence of Thomas More. Princeton 1947, im 3. Brief; vgl. J. H. Lupton, The Life of John Colet. London 1887; Karl Bauer, John Colet und Erasmus von Rotterdam, in: Archiv für Reformationsgeschichte, Ergänzungsband 5 (1929), S. 166-187.
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gestellung, Friedenswahrung und Stadtentwässerung tätig. Offenbar erstickte er fast in einem „labor improbus" 6 . In einer königlichen Gesandtschaft kam er als Vertreter der Londoner Interessen 1515 nach Flandern, wo er i m Gespräch mit Petrus Aegidius und Hieronymus Busley den die Utopia , Buch II, konzipierte, welche er in London 1516 i m Gespräch mit Erasmus 7 abschloß; daraus entstand Buch I. I m Jahre 1518 trat er in die Dienste König Heinrichs V I I . , wurde Mitglied des Kings Council und Master of Requests, wo er nach dem Prinzip der „Equity" für Sonderfälle und Sozialfälle gegen Rechtsversagen und Rechtsverweigerung sich einsetzen konnte. 1521 wurde er Undertreasurer und zum Ritter geschlagen. Er war Sprecher des Unterhauses, welches sich 1523 den Finanzvorschlägen Kardinal Wolseys widersetzte. Er beriet den König bei dessen „Assertio Septem Sacramentorum" (1522). Schließlich wurde er 1529 Lordkanzler als Nachfolger Kardinal Wolseys, allerdings mit dem persönlichen Vorbehalt, nicht in die Eheaffäre Heinrichs hineingezogen zu werden. Er resignierte 1532 wegen der Supremats- und Ehefrage, verweigerte den Suprematseid und die Absage an Rom und wurde dann als Hochverräter 8 enthauptet, obgleich
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In der Vorrede zur „Utopia" stellt sich Morus als Mensch hin, der weder Zeit noch Muße hat: „Während ich ununterbrochen Prozesse führe, anhöre, schiedsrichterlich schlichte oder richterlich entscheide, während ich hier amtliche, dort geschäftliche Besuche mache, während ich draußen fast den ganzen Tag Fremden und den Rest zuhause den Meinigen widme, bleibt für mich ... nichts übrig" oder fast am Schluß des II. Buches aus dem Munde des Hythlydäus: Es geht nur darum, froh und ruhig zu leben, „ohne um sein täglich Brot zu bangen, ohne von der jammernden Ehefrau um Geld geplagt zu werden, ohne die Verarmung des Sohnes zu fürchten oder um die Mitgift der Tochter sich zu sorgen". Morus' persönliche Probleme werden eingehend von John H. Hexter (Anm. 11) beschrieben, und nach Russell Arnes: Citisen Thomas More and His Utopia, Princeton 1949, ist die mißliche materielle Lage von Morus mitzusehen, der sich als Literat ein Zubrot erhofft. Eher handelt es sich wohl um einen leittypischen Topos, ebenso wie seine Befürchtungen hinsichtlich der Aufnahme seines Werkes nach Demutsritualen klingen, was auch ein ironischer Hinweis auf die soziale Ortlosigkeit und das ewige Unterwegssein der humanistischen Literaten und Pamphletisten sein kann. Uber Mores Ironie vgl. Anm. 14. 7
Petrus Ägidius, 1486-1533, war niederländischer Humanist und Stadtschreiber von Antwerpen (seit 1510). Hieronymus Busleyden begründete 1517 in Löwen ein dreisprachiges Kollegium (Latein, Griechisch, Hebräisch), wodurch Griechisch und Hebräisch regulär gelehrt werden konnten. Vgl. The New Cambridge Modern History, Bd. I, The Renaissance 1493-1520 (hrsg. v. G. R. Potter), Cambridge 1967, S. 113; Desiderius Erasmus von Rotterdam, 1469-1536, hielt sich 1499-1517 mehrmals in England auf; sein längster Aufenthalt reichte von 1509 bis 1514; er war anderthalb Jahre Gast bei Thomas Morus, vollendete hier das „Lob der Torheit" (1509), las 1511 -1514 in Cambridge und gab 1516 das Neue Testament im Urtext heraus. Vgl. E. F. Rogers (Anm. 6), wo sich 24 Briefe von Morus an Erasmus und 26 Briefe von Erasmus an Morus finden. Vgl. Fr. Seebohm, The Oxford Reformers John Colet, Erasmus and Thomas Morus, London 1883, 3. Aufl. 1887. Erasmus erhielt vom Erzbischof von Canterbury eine Pfründe bei Aldington (Kent) 1514, die später in eine Rente von 20 Pfund jährlich umgewandelt wurde. 8 Die Anklage lautete auf „misprision of treason" (misprision = méprise = neglect); dies bedeutete Teilhabe am Verrat, ohne mit ihm übereinzustimmen, was also durch öffentliches Bekenntnis für die Sache des Königs hätte zurückgenommen werden können. Vgl. Anm. 25.
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er sich von den öffentlichen Geschäften zurückgezogen hatte. Der Lordkanzler war in der Regel ein Geistlicher, und ausgerechnet der erste weltliche Lordkanzler erlitt wegen einer religiösen Gewissensfrage den Tod; er wurde 400 Jahre später von Rom heiliggesprochen. Allgemeiner Anlaß zur Abfassung der Utopia war die heftige Kritik der Humanisten an ihrem Zeitalter, am Bildungsbetrieb, an sozialen Mißständen, am veräußerlichten Christentum und dergleichen mehr. Dazu hatte Erasmus in seinem „Encomium Moriae" (Lob der Torheit) von 1509 die schärfsten satirischen Waffen geliefert. Die Entdeckung solcher Mißstände war nichts Neues; aber sie als ein zusammenhängendes Ganzes aus der Organisation der gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen, dazu bedurfte es eines andersartigen Anstoßes, nämlich der Entdeckung Amerikas als einer ganz anderen „neuen Welt". Plötzlich erfuhr die Christenheit, daß eine Weltgegend existierte, von der man noch nie gehört hatte, und die eine andere Möglichkeit des Menschseins darzustellen schien. Amerigo Vespucci hatte von seinen vier Fahrten in die neue Welt über die dortigen Indianer berichtet 9, etwa über ihre daseinsfreudige Lebensweise, ihren Kommunismus, ihre Indifferenz gegen Gold und Geld, ihre Federn als Ehrenzeichen, ihre Frauen, die den Kriegspfad mitmachten oder ihre Gastfreundschaft gegenüber Fremden. Ferner hatte Pietro Martire d'Anghiere in seiner Schrift „De Orbe Novo" (1511) ihren Glauben an Gott und Unsterblichkeit geschildert. Ein Schiff Amerigos hieß „Raphael", dessen Name sich bei dem fiktiven Gewährsmann des Thomas Morus wiederfindet: Raphael Hythlodäus, der angeblich an den drei letzten Reisen teilgenommen hatte, auf der letzten aber, wie im Fahrtenbuch ersichtlich, an der brasilianischen Nordostküste mit einigen Gefährten zurückgeblieben war und weiter westwärts Utopia entdeckte, wo er fünf Jahre blieb. Das zweite Buch der Utopia bringt seinen Bericht über die (künstliche) Insel Utopia und das auf ihr eingerichtete menschliche Gemeinwesen. Ein dritter Anlaß war für Morus die Frage, ob er das Angebot Heinrichs VIII. annehmen sollte oder nicht. Sollte er Fürstendiener werden oder lieber aus der Unabhängigkeit heraus ideale Forderungen erheben? Das war das Thema, welches Morus mit Erasmus in London 1516 besprach. Es schlug sich im ersten Buch der Utopia nieder, im Dialog zwischen Morus und Raphael Hythlodäus. Hier entwickelte Morus das Problem von Theorie und Praxis, wobei Hythlodäus sich für den Vorrang von Theorie und Ideal, für eine „Philosophia Scholastica" ausspricht, während Morus für Praxis und Kompromiß, für eine „Philosophia Civilior" plädiert 10 9 Amerigo Vespucci, 1451-1512, stand in portugiesischen Diensten. Seine „Quatuor Americi Vesputii Navigationes", St. Dié 1507, waren das Fahrtenbuch der Jahre 1497 bis 1504, vorwiegend nach Südamerika (Brasilien); auf der Karte S. 18 erscheint die Bezeichnung „Terra America". 10 Vgl. dazu: Hermann Oncken, Einleitung zu Thomas Morus, in: Klassiker der Politik, Bd. 1 (hrsg. v. Gerhard Ritter), Berlin 1922.
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Die Utopia erschien erstmals 1516 in Löwen unter dem Titel: „De optimo Reipublicae statu deque nova insula Utopia libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus" - „von der besten Verfassung eines Gemeinwesens und von der neuen Insel Utopia, ein wahrlich goldenes Handbuch, nicht weniger nützlich als unterhaltsam" 11. Während das im gleichen Jahr erscheinende Handbuch des Erasmus für die Fürsten, die „Institutio Principis Christiani" von 1516, nur die Person des Fürsten im Auge hat, steht bei Morus die ganze Gesellschaft im Mittelpunkt. Es wird kaum vom Fürsten oder einem Einzelnen gesprochen sondern nur von den Utopiern. Selbst der Gründer Utopus wird nur durch sein gesetzgeberisches Werk sichtbar und nicht als Person. Das Ideal ist auch kein letztes Ideal, sondern eine provisorische Zurichtung, die sich bereitwillig der Einführung des Christentums und der griechischen Literatur öffnet. Dem Werk geht ein Geleitbrief an Petrus Agidius als eine Art Vorwort voraus. Dann folgt das Erste Buch über die Schwierigkeiten einer gerechten Politik und den Widerspruch von Ideal und Leben. Für Hythlodäus kann ein Philosoph weder Staatsmann noch Fürstendiener sein; das eigentliche Hindernis für gerechte Politik ist das Privateigentum. Das Gespräch mündet in die Erzählung des Zweiten Buches ein, das als Hauptteil den doppelten Umfang hat. Der Bericht des Raphael Hythlodäus über Utopia ist kein Staatsroman, sondern eher eine „Anatomie" des Gemeinwesens, dessen Funktionieren in dreißig Punkten abgehandelt wird, ausgehend von Lage, Umgebung, Besiedlung, Lebensweise, Wirtschaft bis zum Kriegswesen und zur Religion hin. Alle Teilbereiche erscheinen als Funktionen eines rationalen Beziehungsgefüges, welches menschlichem Kalkül sein Dasein verdankt, seinem tieferen Ursprung nach aber in mystische Zahlenverhältnisse eingebettet ist 12 . Der Gründer von Utopia ist Utopus, der vor 1760 Jahren die große Halbinsel Abraxa vom Festland trennen ließ und dann der künstlichen Insel die Einrichtungen gab, welche der Natur und den optimalen Bedingungen einer menschlichen Gesellschaft entsprachen. Mit dieser Zeit- und Ortsangabe, 1760 und Abraxa, ist der historische und mythologische Bogen geschlagen, welcher dem Thema die humanistische Dignität verleiht 13 . 11
Zur Entstehungsgeschichte ausführlich: J. H. Hexter, More's Utopia: The Biography of an Idea, Princeton 1952; ders., Einleitung zur Neuausgabe: The Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More, Bd. 4, 1965; Sten Β. Liljegren, Studies on the Origin and Early Tradition of the Utopian Fiction, in: Essais and Studies on English Language and Literature, Band 23, Upsala/Kopenhagen 1961. Neuere Ausgaben: Thomas Morus, Utopia, übertragen von Gerhard Ritter, mit Nachwort von Eberhard Jäckel, Stuttgart 1964; Klaus J. Heinisch (Hrsg.), Der utopische Staat. Morus: Utopia; Campanella: Sonnenstaat; Bacon: Neu-Atlantis. Reinbek, 4. Aufl. 1966 (mit Kommentar, Literatur und Register). Die Everyman's Edition der Utopia erschien London 1937. 12 Vgl. die scharfsinnige Charakteristik bei Thomas Nipperdey, Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 44 (1962), S. 357 ff.; ders., Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz, hrsg. von Karl Dietrich Bracher u. a., Tübingen 1966, S. 343-368.
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Utopia bestand anfangs aus Holzhütten, wuchs mit der Zeit aber zu einer kultivierten Städte-Insel empor. Auch die Sprache verfeinerte sich zu einer Art Persisch mit griechischen Spuren. Nur die gesetzlichen Einrichtungen des Utopus blieben unverändert bestehen und sicherten den optimalen Status der Republik, deren Berechenbarkeit gesetzlich fixiert war. Gegenwart und Vergangenheit sind in dieser Zahlengeometrie deckungsgleich. Auf der Insel gibt es 54 gleichförmige Städte, die von der jeweils nächsten Stadt einen Tagesmarsch, also 24 Meilen, entfernt sind. Um die Städte zieht sich Ackerland, das nach allen Seiten 12 Meilen breit ist. Es ist planmäßig auf 6000 Haushalte verteilt. Jeder ländliche Haushalt besteht aus mindestens vierzig Blutsverwandten und zwei, an den Boden gebundenen Dienstleuten. Die Leitung der Großfamilie liegt beim ältesten Hausvater und der Hausmutter. Jährlich gehen 20 Leute in ihre Stadt zurück, aus der 20 neue hinzuziehen, die zwei Jahre dort arbeiten müssen. Alle vierzig bleiben also zwei Jahre in der Landwirtschaft. Zur Erntezeit kommen alle Bürger aus den Städten aufs Land, so daß die Feldfrüchte an einem Tage gemeinsam eingefahren werden können. Der Ernteüberschuß wird in die Vorratshäuser der Städte eingebracht. Je 30 Großfamilien, also 1200 Personen, wählen einen Phylarchen; aus den 200 Phylarchen werden 20 Protophylarchen gewählt; desgleichen wählen die Phylarchen geheim ein Oberhaupt für die Stadt, und zwar aus vier Männern, die von den vier Vierteln der Stadt vorgeschlagen worden sind. Während die Protophylarchen und alle Beamten jährlich neu gewählt werden, ist das Stadtoberhaupt lebenslänglich in seinem Amt. Die einzelne Stadt umfaßt ohne den dazu gehörigen Landbezirk noch 6000 Familien mit je 10 bis 16 Erwachsenen und den Kindern, von denen überschüssige Kinder an kinderarme Familien aufgeteilt werden. Auch hier führen 200 Phylarchen die Aufsicht über je 30 Familien und wählen 20 Protophylarchen. Jeden dritten Tag kommen alle Protophylarchen beim Stadtpräsidenten zusammen, also 20 vom Land und 20 aus der Stadt, dazu im Turnus immer zwei einfache Phylarchen. Hier wird jede wichtige öffentliche Sache drei Tage lang behandelt, bevor Beschlüsse gefaßt werden. Schwierige Fragen werden der Versammlung der 200 bzw. 400 Phylarchen vorgelegt, die sie mit ihren Familien besprechen sollen, um sie dann wieder dem Senat der Stadt zuzuleiten. Außerhalb des Senats (der Protophylarchen) und der Volksversammlung (der Phylarchen) darf nicht über öffentliche Angelegenheiten diskutiert werden. Das wäre Hochverrat; und das strenge Verbot soll jede Änderung der Verfassung verhindern.
13 Die Zeitangabe „vor 1760 Jahren", also vom Erscheinungsjahr der Utopia 1516 minus 1760, bringt uns auf das Jahr 244 v. Chr., in welchem Agis IV. von Sparta alle Schulden aufhob und das Land an alle verteilte, aber deswegen umgebracht wurde. Abraxa (Sonneninsel) ist ein mythischer Name, welcher der Zahlenbedeutung der griechischen Buchstaben nach „365" bezeichnet und auf die 365 Himmel hinweist, welche nach dem Gnostiker Balilides (140 n. Chr.) dem Mithras als Sol Invictus zukommen.
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In der Mitte der 54 Städte liegt die Hauptstadt Amaurotum, die sich nur durch ihre zentrale Lage und als Sitz des Obersten Senats von den anderen Städten unterscheidet, sowie durch ihre Lage am Fluß Anydrus. Innerhalb der Stadtmauern sind alle Städte gleich: Die Straßen sind 20 Fuß breit, die Wohnhäuser sind Reihenhäuser mit Flachdächern, Glasfenstern und drei Stockwerken, sowie mit Gärten dahinter. Die Wohnungen werden alle zehn Jahre neu verlost. Je drei Vertreter der 54 Städte bilden den Obersten Senat in der Hauptstadt Amaurotum, die über alles beraten, was ganz Utopia angeht, wie etwa die Verteilung des Überflusses auf Mangelgegenden oder die Gefährdung des Gemeinwesens durch äußere Feinde. Die Versorgung der Städte geschieht über Markt und Vorratsspeicher, die in jedem Stadtviertel sich befinden. Die einzelnen Familienväter geben an, was sie brauchen, und erhalten es ohne Bezahlung. Die Mahlzeiten werden auf dem Lande großfamilienweise abgehalten, während in den Städten jeder Häuserblock mit einer Speisehalle ausgestattet ist, wo 30 Familien unter ihrem Phylarchen sich auf ein Trompetensignal zum Mahl versammeln. Die Mahlzeit beginnt mit einer moralischen Vorlesung, an die sich Gespräche anschließen; nach dem Abendessen unterhält man sich mit Musik oder erlaubten Spielen in der Halle oder in den Gärten. Die noch Unmündigen bedienen, während die Aufräumungsarbeiten von Sklaven verrichtet werden. Diese täglichen wohlerzogenen, beaufsichtigten, gesprächserfüllten und moralisierenden Bankette mit Räucherwerk, Dessert und Wohlgerüchen tragen reichlich komische Züge. Die rohen und schmutzigen Arbeiten werden von Sklaven geleistet, die teils mit Zwangsarbeit bestrafte Utopier (Unruhestifter, Ehebrecher) teils aus fremden Ländern geholte Kapitalverbrecher oder auch Kriegsgefangene sind, teils auch Freiwillige aus religiösen Motiven und schließlich auch Tagelöhner von auswärts, die jederzeit wieder fortgehen können. Nur die größere Arbeitsleistung unterscheidet sie von anderen Utopiern sowie, bei den Straffälligen, ihr reicher Schmuck. Alle Utopier haben zwei Jahre in der Landwirtschaft zu arbeiten und ein Handwerk zu lernen. Jeder hat täglich sechs Stunden zu arbeiten, drei am Vormittag und drei nachmittags. Nur 500 Personen sind für das Studium freigestellt, die in die Klasse der Wissenschaftler aufsteigen können und für die höheren Ämter bestimmt sind. Sie sind verpflichtet, an den öffentlichen Vorlesungen teilzunehmen, die täglich vor Arbeitsbeginn von 4 bis 9 Uhr stattfinden. Drückebergerei ist nicht möglich, da keine Schenke, kein Freudenhaus und keine Lasterhöhle in Utopia zu finden ist. Jedermann muß vor aller Augen seine Arbeit und seine Freizeit verbringen. Herumtreiberei wird mit Züchtigung und im Wiederholungsfalle mit Zwangsarbeit bestraft. Jede Reise bedarf der Genehmigung und muß den Tag der Rückkehr angeben. Alle Utopier tragen gleichgeschnittene Kleider, nur nach Geschlecht und Ehestand verschieden. Der Arbeitsanzug hält etwa sieben Jahre, das Obergewand, aus Leinen oder Wolle in einfacher Webarbeit und ungefärbt, reicht für zwei Jahre. Ein einziger Anzug genügt für den Sommer und ein anderer für den Winter. Da alle arbeiten, ist staatliche Verkürzung der Arbeitszeit möglich. Männer dürfen vom
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22. und Frauen vom 18. Lebensjahr an heiraten; sie müssen sich vorher einer Inspektion unterziehen. Trennung gibt es nur im wechselseitigen Einverständnis nach Zustimmung des Senats. Ehebrecher sind ehrlos auf Lebenszeit und werden mit Zwangsarbeit bestraft, bei Rückfall sogar mit dem Tode. Bei unheilbarer Krankheit ist der Freitod erlaubt. Der Grund des Freitodes muß von Priestern und vom Senat gebilligt sein, sonst ist es Selbstmord. Der Hausvater hat Strafgewalt über Frau und Hausgenossen, die Eltern über ihre Kinder. Nur in schweren Fällen wirken Volksversammlung und Senat mit, die auch Begnadigungen aussprechen können. In jeder Stadt gibt es 13 Gotteshäuser mit 13 Priestern, die geheim gewählt werden. Sie sind lediglich zu Rügen berechtigt, da nur die Behörden Strafen anordnen dürfen. Die ganze Insel betrachtet sich als eine Familie, in welcher weder Geld noch Eigentum noch äußere Ehren gelten. Der Export von Uberschüssen bringt Edelmetall ein, das teils für die Zwecke der Staats- und Handelspolitik aufgespeichert wird, teils für Schmutzgerät, Nachtgefäße oder auch als Schmuck für die Sklaven verwandt wird, oder, bei Perlen und Diamanten, den unmündigen Kindern als Spielzeug dient. In der Religion herrscht völlige Toleranz. Verbindlich ist nur das, was allen Gutwilligen einsichtig ist, nämlich der Glaube an ein höchstes Wesen, an Unsterblichkeit und an Lohn und Strafe. Wer nichts dergleichen glaubt, darf nicht öffentlich seine abweichende Meinung vertreten, sondern nur vor den Priestern und im geschlossenen Kreis erfahrener Bürger. Eiferer werden wegen Erregung öffentlicher Unruhen in Haft genommen. Abgelehnt werden Aberglaube, Astrologie und theologische Spitzfindigkeiten. Vor den Festtagen und am Anfang jedes Monats beichten die Frauen den Männern, die Kinder den Eltern, tun Buße und bitten um Vergebung. Danach erscheinen alle in weißen Gewändern zum Gottesdienst; nur die Priester in bunt, mit Vogelfedern als Zeichen ihrer Würde geschmückt. Die Wissenschaft erstreckt sich nur auf Naturwissenschaft und Sittenlehre; Medizin, Astronomie und Meteorologie werden in den Dienst der Menschen gestellt. Die Sittenlehre beschäftigt sich mit der Tugend als naturgemäßem Leben und dem Glück als Ziel der Menschlichkeit. Hauptfrage ist „das größte Glück der größten Zahl". Unsinnige Askese wird abgelehnt und in Heiterkeit und Genuß ein Endzweck gesehen, der sich in Gesundheit und seelischer Freude vollendet. Alle beteiligen sich an den moralphilosophischen Gesprächen. Als Hythlodäus ihnen von den Griechen und vom biblischen Christentum erzählt, finden sie sich in ihrer Lebensweise bestätigt. Ein eigentümliches Kapitel ist die Außenpolitik von Utopia. Die Utopier vertrauen auf die natürliche Solidarität der Völker und nicht auf Bündnisse. Sie verabscheuen den Krieg und bejahen nur den Verteidigungskrieg. Wenn den eigenen Kaufleuten Schwierigkeiten gemacht werden, brechen sie lediglich den Handel ab, zumal dabei nur staatliche Gelder verloren gehen können und niemand persönlich geschädigt wird. Nur bei Schaden an Leib und Leben verlangen sie Auslieferung der Schuldigen, widrigenfalls sie zum Krieg schreiten. Aber sie führen den Krieg
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möglichst unblutig mit List, Tücke, Bestechung; mieten Attentäter, zetteln Verschwörungen an, zahlen Subsidien oder holen sich Söldner (Zapoletaner), die sie ohne Bedenken jeder Gefahr aussetzen. Nur im äußersten Notfall nehmen sie selbst die Waffen auf und ziehen mit Frauen und Kindern als Zuschauern in den Krieg. Hier kämpfen sie beherzt, da sie sich um das Wohlergehen ihrer Angehörigen nicht zu sorgen brauchen. Sie töten nur die Unentwegten; die Gefangenen werden Sklaven, und nur die Übergabebereiten bleiben ungeschoren und erhalten einen Teil des Besitzes der Kriegstreiber. Als Kriegsentschädigung verlangen die Utopier nur Geld und Boden. Für sich erkennen sie nur einen gerechten Grund zur Herrschaftsausdehnung an, nämlich Übervölkerung. Sie gründen dann auf dem nächstgelegenen Festland Kolonien, in welche die dortigen Bewohner aufgenommen werden. Wenn diese sich weigern, werden sie aus ihrem Lande vertrieben, das sie bei dünner Bevölkerung ohnehin nicht ausnützen können. Leerer oder auch nur ungenutzter Raum ist ihnen ein legitimer Kriegsgrund. Kriegsauszeichnungen kennen sie nicht. Einen Adel gibt es ebensowenig wie Glanz und Würde. Alle sind gleich und unterscheiden sich nur dadurch, daß einige wenige als Magistrate und Priester von der Arbeit freigestellt sind. Die Ahrenbündel des obersten Präsidenten und die Vogelfedern der Priester beim Gottesdienst sind lediglich Amtsabzeichen. In Utopien herrscht die Tageshelle einfacher und klarer Gesetze, so daß professionelle Juristen entbehrlich sind. Die Utopier sind zugleich vollendete Asketen und Epikureer; das ganze Volk ist ein Kreis gebildeter Leute, aus denen die besten sich über die Wissenschaft für die Magistrate qualifizieren. Es gibt weder Krieger noch adelige Hoheitsträger noch eine aus der Gesellschaft hinausgehobene Staatlichkeit. Die Funktion öffentlicher Herrschaft ist auf ein Minimum reduziert. Es herrscht die Vernunft, welche die heidnischen Utopier besser macht als die europäischen Christen, die ohne Vernunft und sogar ohne Liebe seien. Gegen Ende seines Berichts ist Hythlodäus voll des Lobes für Utopia als das einzig wahre Gemeinwesen, wo allen alles gehört und weder Arme noch Bettler zu finden sind. „Obwohl keiner etwas besitzt, sind doch alle reich' 4! Er endet mit einer herben Kritik an den Regierungen in Europa, die „nichts anderes als eine Art Verschwörung der Reichen" sind. Der aufmerksame Thomas Morus lobte den Erzähler und erhob keine Einwände. Aber es fuhr ihm durch den Sinn, daß die eigentliche Grundlage dieses Gemeinwesens, nämlich die kollektive Lebensweise ohne jegliche private Verfügungsgewalt (Geldumlauf), alles zum Verschwinden bringt, was „nach allgemeiner Ansicht" „allen Adel, alle Erhabenheit, allen Glanz, alle Würde", „den wahren Schmuck und die wahre Zierde eines Staatswesens ausmacht"14. 14
In seinem Nachwort zum Bericht des Hythlodäus hält Morus mancherlei für „überaus unsinnig" (founded on no good reason), lobt aber trotzdem den Bericht, „da ich nicht recht wußte, ob er (Hythlodäus) Widerspruch ertragen könne". Es bleibt ungewiß, welche Meinung Morus selbst vertritt. Später setzt er seine „Utopia" auf eine Stufe mit dem „Moriae Encomium" des Erasmus: beide müßten wegen der ständigen Fehldeutungen besser verbrannt als
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Zur Interpretation ist allgemein zu sagen, daß Utopia eine künstliche Welt ist; sogar die Insel ist künstlich hergestellt worden. Das ganze Gemeinwesen ist in eine Zahlengeometrie eingespannt, die für alle Zeiten fixiert ist und die Lebensverhältnisse kalkulierbar und überschaubar macht. Die Herrschaft der Vernunft läßt keine naturwüchsige Subjektivität zu, sondern nur Bildung und kontrollierte Lebensführung. An hierarchischer Struktur ist nichts zu erkennen, und es überwiegt eine funktionelle Totalität, die keine eigenständige Substanz gelten läßt 15 . Es gibt Freizeit, aber keine Freiheit. Das einzige, was nicht künstlich ist, sondern vorgefunden wird, ist die Familie, die im Bereich des Konsums eine Rolle spielt, nicht in der Produktion, die im Zeichen der Kollektivierung stattfindet. Im Grunde hat das Gemeinwesen nur zwei Fundamentalprinzipien, nämlich Patriarchalismus und Kommunismus, die widersprüchliche Organisationsprinzipien darstellen, von denen das eine autoritär und das andere egalitär ist. Einmal sind allenthalben Familieneinheiten maßgebend; selbst die Magistrate werden „Väter" genannt. Dreißig Familien sind die politische Einheit. Ein anderes Gliederungssystem gibt es nicht. Der monogamische Patriarchalismus ist die durchgehende Autoritätsstruktur, eine väterliche Autorität, bei der die Frauen nur als Gattinnen mitwirken. Dies widerspricht völlig dem korporativen Denken des Zeitalters, das unendlich viele privilegierte Zwischenglieder kennt, die hier in Utopia samt und sonders außergesetzlich sind. Der Kommunismus der Utopier geht über Piatons elitären Kommunismus der Wächter hinaus, da ein ganzes Volk an ihm teilhat, eine völlig klassenlose Gesellschaft, die also mit dem frühchristlichen Kommunismus der Auserwählten oder dem praktischen Kommunismus solidarischer Fürsorge ebenso wenig zu tun hat wie mit einem kommunistischen Primitivismus als Ausdruck der noch unkorrumpierten menschlichen Natur. Vielmehr bedeutet die völlige Abschaffung des Privateigentums, des Geldes und des Konkurrenzkampfes keinen Rückfall in eine undifferenzierte Primitvform, sondern läßt eigenständiges Handwerk und Außenhandel bestehen, ersetzt aber die Mechanik der Geld- und Marktverhältnisse durch eine zentrale Vorrats- und Verteilungswirtschaft 16. übersetzt werden; nach Clive Staples Lewis, English Literature in the 16 th Century, excluding Drama. Oxford 1954, S. 167. Beide Schriften behandeln aktuelle Zeitprobleme polemisch und nur in unterschiedlicher Verschlüsselung. 15 Nach Nipperdey (Anm. 12) ist das Strukturprinzip der utopischen Welt die „universale Interdependenz" oder auch die Stimmigkeit des Gesamtgefüges von Wirtschaft, Arbeit, Erziehung, Kultur, Religion und Herrschaft; nicht die Kategorie der Substanz hat den Vorrang, sondern die Kategorie der Relation (S. 371). Es kommt mithin in erster Linie auf das Funktionieren an. 16
Deswegen ist die Kalkulierbarkeit des Systems unbedingt erforderlich; dies erfordert seine Geschlossenheit gegen außen und seine ewige Dauer, sowie seine starre Geometrie mit einfachen Größen, Maßen und runden Zahlen, bis in die Wohneinheiten und in den Privatbereich hinein. Auch Piatons Staat sah zwölf Bezirke und 5040 Lose vor, und Campanella ordnete seinen Sonnenstaat in sieben konzentrische Kreise. Morus geht noch mehr ins einzelne und läßt sich bei offensichtlichen Unstimmigkeiten seiner Zahlenangaben ertappen. Die
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Der Kommunismus der Utopier wird durch gesetzliche Maßnahmen geschaffen; er ist kein kommunaler oder genossenschaftlicher, sondern ein staatlicher Kommunismus. Die Produktions- und Arbeitsorganisation steht im Dienste des ganzen Gemeinwesens. Der Kommunismus des Produzierens und der Patriarchalismus des Konsumierens ergeben eine Reglementierung, die nichts mit einer kommunistischen Urgesellschaft zu tun hat. Utopia ist auf Vernunft, und nicht auf einem Naturstand gegründet. Aus der Gleichheit aller wird die Gleichheit der Lebensformen und Bedürfnisse abgeleitet und Autorität dort zugelassen, wo sie naturgegeben aus der Familie oder kulturgegeben aus Bildung erwächst 17. Beide Grundannahmen, Patriarchalismus und Kommunismus, erlauben eine gedankliche Versuchsanordnung oder ein Modell, in welchem die gesellschaftlichen Vorkehrungen pädagogische, soziale und moralische Funktionen erfüllen. Sie dienen also nicht einer vorgegebenen Gesellschaft, sondern formen und lenken die Gesellschaft auf eine Verfassung hin, die Ausdruck einer planenden Vernunft ist. Die Vernunft ist Basis und Uberbau zugleich. Utopia ist ein Steuerungssystem, das die individuelle Unvernunft ausschaltet und durch Gesetz die allgemeine Vernunft inthronisiert. Das rechte Leben wird durch Einrichtungen erreicht, die automatisch ein ganzes Sündenregister ausschalten, nämlich Diebstahl, Faulheit, Habsucht, Eitelkeit und die „Superbia" als die Hauptsünde des Menschen. Die Arbeit wird als Basis der materiellen Wohlfahrt angesehen und zur Bürgerpflicht erhoben - in der gesetzlich verordneten Dosierung. Die Auflösung der Eigentumsordnung und damit der privaten Sphäre bedingt eine Regulierung, die alle Lebensbezüge umgreift und alle Teilbereiche in den Funktionszusammenhang einordnet. Die einseitigen Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnisse der Arbeitsgesellschaft gehen in die funktionale Totalität des Produktionsprozesses ein, die selbst gar nicht problematisiert wird. Der politische Herrschafts- und Gewaltbereich, der damit angesprochen ist, tritt nicht in Erscheinung oder erschöpft sich in der Konstituierung des ZusammenVerfassung darf keinesfalls verändert werden. Vgl. Edward Surtz, The Praise of Pleasure. Philosophy, Education, and Communism in More's Utopia, Cambridge, Maas., 1957, S. 154. 17 Der Kommunismus der „Utopia" hat also nichts mit dem üblichen Topos zu tun, also dem status justitiae originalis oder der ursprünglichen Unschuld des gemeinsamen Lebens, wie er bei Seneca, den frühen Christen, den griechischen Kirchenvätern oder auch bei den Mönchsorden, bei Alexander von Haies, bei Bonaventura oder Duns Scotus und schließlich auch bei Marsilio Ficinos „Repùbblica" Buch IV sich findet. Bei Morus ist er eher eine Manifestation mittelalterlichen Konservativismus' gegen die Aggressionen des frühen Kapitalismus, insbesondere der profitsüchtigen Mittelstandsschicht. Vgl. J. H. Hexter (Anm. 11), S. 50, 65/66; Edward Surtz (Anm. 16), S. 189, betrachtet ihn auch als Antwort auf die sozialen, ökonomischen und politischen Mißstände. Indessen ist er bei Morus eher eine Spielregel seiner Konstruktion. Die Eigentumsordnung erweist sich als das Zentralproblem aller Utopien, die sich ihrem Anspruch nach nicht auf das Politische beschränken, sondern die Totalität aller Lebensbezüge umfassen wollen. Für Morus ist das Privateigentum weder Naturrecht noch göttliches Recht, sondern Ausdruck der menschlichen Schwäche und Ergebnis menschlicher Vereinbarung. Da aber Diebstahl als biblisches Verbot erscheint, ist Privateigentum hier vorausgesetzt. Nach E. Surtz (Anm. 16), S. 187/188.
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hangs zwischen patriarchalischer Familienstruktur und kommunistischer Produktionsordnung. Im Grunde kommt er nur in Außenpolitik und Außenhandel zur Geltung, in der Sorge um den Produktionsüberhang und den aufgespeicherten Goldschatz, der Handel, Außenpolitik und Krieg erst ermöglicht 18. Nach innen gesehen bedarf es in der Regel keiner Politik, weil die Regelung des öffentlichen Wesens notwendig die Willensrichtungen und Gesinnungen verändert, die nicht mehr auf Gewinn und Reichtum und gegen die Armut gerichtet sein können, sondern von selbst auf die Ebene der öffentlichen Anliegen verwiesen sind. Damit wird nicht nur das Laster, sondern auch die gesellschaftliche Heteronomie der privaten Tugend überwunden. Der Kommunismus legitimiert sich daraus, daß er allein die Ursünde des Stolzes ausschaltet und die üblen Gesetze zur Sicherung des Eigentums unnötig macht. Die Utopier sind nicht aus besserem Stoff als die Europäer, sondern haben bessere Einrichtungen, die ihnen Existenzangst und individuelle Sorgen abnehmen. Morus setzt dem zeitgenössischen Imperium des Stolzes ein ideales Regnum Hominia in Form eines öffentlichen Kommunismus entgegen, der sittliche Ziele verfolgt. Religiöse Demut und Selbstverleugnung bleiben möglich und lobenswert, sind aber irrelevant für den Bestand des Ganzen. Stattdessen werden persönliche Opfer auf ein Minimum reduziert. Ein solcher Kommunismus ist nicht aus der abstrakten Idee der Gerechtigkeit abgeleitet, sondern als Gegenbild zu den sozialen Mißständen der Zeit konzipiert. Dabei dringt Morus an die Wurzel des Übels vor, indem er diese Mißstände als ein zusammenhängendes Ganzes sieht, dem durch grundsätzliche Neuordnung abgeholfen werden muß. Die Utopia ist ein sozialkritisches Gegenmodell, welches die Denaturierung der menschlichen Beziehungen durch das Geld, die Auslieferung der menschlichen Existenz an die Schwankungen des Geld- und Arbeitsmarktes, den gesetzlichen Schutz des Reichtums und die ungesetzliche Schutzlosigkeit der Armut beseitigen will. Morus wendet sich gegen den vergeldlichten Bastardfeudalismus und die soziale Versumpfung, die durch die Verbindung von Söldner- und Gefolgschaftswesen mit kommerziell-bourgeoisen Projekten und Praktiken in England sich ausgebreitet hatte 19 . Die Abschaffung des Geldes und des Wettbewerbs auf dem Markt zugunsten einer Vorrats- und Verteilungswirtschaft, die Arbeit als Bürgerpflicht gegen den 18 Vgl. Gerhard M obus, Macht und Menschlichkeit in der Utopie des Thomas Morus. Frankfurt 1955; Gerhard Ritter, Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus. München / Berlin 1940/1947, sieht in „Utopia" einen spezifischen englischen Ausdruck der insularen Staatsidee. Nach Ritter scheitert der Versuch der Utopier, die Macht zu verrechtlichen, an der Dialektik der Macht, der die Utopier nicht entkommen können, weil sie nicht allein auf der Welt sind. Vgl. F. Brie, Machtpolitik und Krieg in der Utopia des Thomas Morus, in: Historisches Jahrbuch 61 (1941). 19 Vgl. Kurt Kluxen, Geschichte Englands, Stuttgart, 2. Aufl. 1976, über „livery and maintenance" (Gefolgschaftswesen) und „embracery" (Bedrohung der Geschworenen) 1504, S. 148; über größere Rechtssicherheit ebd., S. 174 ff.; über die Sternkammer (1500) ebd., S. 175, 180.
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adeligen Müßiggang, das Ethos von Leistung und Bildung, die Ablehnung von Pomp und Prunk als Kennzeichen für Torheit und Unfreiheit laufen auf eine umgekehrte Weltordnung hinaus. Das Glück des einfachen Lebens und sorgenfreier maßvoller Geselligkeit in den Gartenstädten Utopiens ist das humanistische Lebensideal, für welches Tugend, Bildung, Kultur und Wissenschaft das Lebenselixier ausmachen. Was an Straf- und Zwangsarbeit noch in Utopien geblieben ist, hat seine Wurzel in einem anderen Bereich, nämlich in jenem Rest von Subjektivität, der nicht auszuschalten ist und nicht in den utopischen Funktionalismus hineinpaßt. Utopia ist nicht allein auf der Welt, und in Handel und Krieg kommt es in Berührung mit anderen Völkern, denen gegenüber es notgedrungen seine Prinzipien nicht aufrecht erhalten kann 20 . Die eigentliche Utopie schränkt sich im Grunde auf das Produzieren und Konsumieren ein, also auf den ökonomischen Zusammenhang, während die letzten Punkte der Verfassung, nämlich das Kriegswesen und die Religion der Utopier, mit dem utopischen Ansatz wenig zu tun haben. Sie verabscheuen das Kriegshandwerk, Kriegsruhm und Kriegbeute und suchen mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln den Krieg überflüssig zu machen, also ihn möglichst durch andere führen zu lassen oder ihn durch Aufwiegelung, Bestechung, Attentat, Belohnungen, Sanktionen zu vermeiden, auch in der Form, daß sie auf den Kopf des Gegners einen Preis aussetzen. Ein völkerrechtliches „bellum justum" kennen die Utopier nicht, wenn sie auch Verträge halten und keine Rache üben. In der Religion sind sie tolerant und geradezu konfessionslos, indem der öffentliche Gottesdienst sich in einer Form vollzieht, in welcher alle Glaubensunterschiede übereinstimmen und die Würde des Menschen gewahrt bleibt. Sie rufen Gott nur als „Mythras" an, als Wesen von göttlicher Majestät, und ihre Gebete kann jeder von ihnen unbeschadet seiner religiösen Richtung nachsagen. Religiöses Eiferertum ist verboten 21. Offenbar fühlt sich Morus oder sein Gewährsmann Hythlodäus hier auf unsicherem Boden. Bedeutsamer bleibt die radikale Sozialkritik beider, welche die Mißstände und Unzuträglichkeiten nicht undurchsichtigen Kräften oder menschlicher Schuld und Bosheit zuschreibt, sondern ihre Ursache in der gesetzlich und rechtlich gestützten Organisation der menschlichen Angelegenheiten findet. Reichtum, Macht und Ansehen sind keine Naturgegebenheiten, sondern Ergebnis von Gesetzen und Verordnungen, die den Ehrgeiz, die Habsucht, den Stolz, den Reichtum 20
Vgl. Anm. 18
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Die hier geschilderte deistische oder konfessionslose Religiosität mutet wie eine Vorwegnahme der Aufklärungsreligion an; sie erinnert an die erasmische Verflachung von Christentum und Kirche zu einer pädagogischen Veranstaltung auf Christus hin, sowie an Herbert von Cherburys Schrift „De Ventate" (1624), wo aus den positiven Religionen ein consensus universalis und daraus eine allgemeine natürliche Religion abstrahiert wird. Nur ist hier das Gegenteil gemeint, insofern es sich um eine Vorstufe von Religion handelt, die sich auf die Offenbarung hin bewegt. Vgl. Josef Schmid, Die englischen Utopisten des 16. und 17. Jahrhunderts und die religiöse Frage. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in England, Dissertation Freiburg 1933; Edward Surtz, The Praise of Wisdom. Cambridge, Mass. 1957; ders. (Anm. 16); E. E. Reynolds, Saint Thomas More. London 1953. 4 Kluxen
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und den Müßiggang fördern und privilegieren. Damit wird die sittliche Substanz als Rechtstitel der Gesetze angegriffen und deren technisch-machtpolitische Funktion entlarvt. Der normative Sinn der geltenden Gesetze und die angeblich unaufhebbare Grundsituation des Menschseins im Verhältnis von Herr und Knecht werden angezweifelt oder jedenfalls probeweise außer Kraft gesetzt. Eine solche Kritik schließt die Möglichkeit einer grundsätzlichen Umgestaltung ein, indem das Widersprüchliche und Willkürliche in Recht, Gesetz und Konvention vor das Forum der Vernunft zitiert wird 2 2 . Die Sozialkritik geht also über bloßen Moralismus und über Satire weit hinaus, verlangt nach „Equity" und nach Statuierung entsprechender Gesetze, in der Tradition von Bracton, Fortescue und Littleton. Niemandem war das klarer als Morus selbst, der bald als „Master of Requests" (1518) hier sein eigentliches Feld fand. Aber er geht einen qualitativen Schritt weiter und wagt den Sprung in einen anderen Gesamtzustand aus seiner Kritik am ganzen System. Diese ist zu radikal, um praktizierbar zu sein. Er sucht Bedingungen für ein wirkliches „Commonwealth" in einem Gedankenexperiment, das sich auf eine neue Realität beruft. Amerika dient als einziger fiktiver Realitätsbezug, als glaubhafter Hinweis auf eine bisher nur mögliche und jetzt wirkliche „neue Welt". An dieser neuen Welt erweitert Europa erst den Horizont seiner Möglichkeiten und gewinnt eine neue Reflexionsstufe der Sozialanalyse, weil hier in der rechtlosen und friedlosen Welt „jenseits der Freundschaftslinien" der Mensch sich in seine abstrakte Ausgangssituation zurückgeworfen sieht. Dieser Sprung in die andere Welt entbindet vom Problem der Praktizierbarkeit und beschränkt sich auf den Ruf nach Veränderung überhaupt 23 . Es ist deshalb nicht von ungefähr, daß sich an dieser neuen Welt das Problem von Theorie und Praxis anders stellt. Für die Amerikafahrer steht am Anfang die Theorie und menschliches Planen. Die Erde wird zuerst in ein Gradnetz gefangen gesetzt oder verortet, bevor sie „erfahren" werden kann; und der Mensch stellt seine ganze Existenz auf eine technische Ausrüstung mit Uhr, Sextant, Kompaß und Segelmechanik und vertraut auf die wissenschaftliche Erkenntnis, daß die Erde rund ist. Columbus ist der erste moderne Mensch, der im Vertrauen auf Wissenschaft und Technik sein Leben einsetzt. Bisher gab es nur Küstenfahrten, nun aber werden Erdkugel, Sonne, Mond und Sterne als Richtmaße genommen. Wichtiger noch ist, daß jenseits der Alten Welt Menschen leben, die noch nie etwas von Europa und vom Christentum gehört haben und der europäischen Gegenwart völlig entrückt sind. Diese Menschen haben Offenbarung und Erlösung noch vor sich. Für die seefahrenden Europäer bedeutet die Entdeckung der anderen 22
Vgl. dazu: Bernard Willms, Planungsideologie und revolutionäre Utopie. Die zweifache Flucht in die Zukunft, Stuttgart 1969; Hermann Lübbe, Zur politischen Theorie der Technokratie, in: Der Staat 1 (1962), S. 21, 24. 23 Vgl. dazu Hans Frey er, Die politische Insel, Leipzig 1936; ders., Weltgeschichte Europas, Bd. II, Wiesbaden 1948, S. 779 ff.; Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, Berlin 1950.
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Welt die eigene Infragestellung und eine völlig neue Dimension. Bei Thomas Morus erscheint erstmals jene Welt auch als eine bessere Welt, in welcher niemand unter der Bürde der Vergangenheit zu leiden hat wie wir in Europa. Hier findet Hythlodäus ein Gemeinwesen, welches nur nach Vernunft sich richtet und fast eine „anima naturaliter Christiana" darstellt. Am Anfang steht der Gesetzgeber (Utopus), der nichts anderes im Sinn hat, als die Utopier zur Vollkommenheit zu erziehen. Seine Regeln des öffentlichen Zusammenseins eliminieren die Laster und fördern Tugenden. Am Anfang steht die Verfassung, die einen sittlichen Zweck hat. Sie wird auf jungfräulichem Boden errichtet und genügt damit erst ihrem eigentlichen und wahren Zweck: Sie dient keinem historischen, sondern einem moralischen Anliegen. Ihr Unschuldsstand macht den totalen Kommunismus möglich, der alle Habsucht, Raffgier, Eitelkeit, Ehrsucht, Neid, Diebstahl, Geiz und andere Laster ausschaltet. Nur dort in Amerika sind Theorie und Praxis identisch, nur hier konnten später die Gründungsväter von 1776 ihre Verfassung auf die grüne Wiese setzen. Natürlich wird im Ersten Buch die Kluft zwischen Theorie und Praxis in Bezug auf das persönliche Anliegen des Thomas Morus angesprochen. Aber der Disput findet doch zwischen dem daheim gebliebenen Morus und dem weitgereisten Hythlodäus statt - wobei die Radikalisierung der Frage sich aus der Grenzerfahrung des letzteren ergibt. Morus vertritt im Dialog mit Hythlodäus eine „Philosophia Civilior", die sich dem Leben anpaßt, selbst wenn sie mitgestalten will. Hythlodäus sieht darin jedoch einen Verstoß gegen die Wahrheit und vertritt eine unbedingte, kompromißlose Haltung. Auf die Argumentation des Morus geht er bezeichnenderweise überhaupt nicht ein; sein Gegenargument ist die Darstellung des einzig wahren „Commonwealth". Daran hält Hythlodäus unverrückbar fest, und an diesem Problem entzündet sich sein ganzer Bericht. Er ist der Anwalt der reinen, von der Geschichte und vom Leben abgelösten Theorie, wie auch Utopus als Gesetzgeber die geschichtslose Statik seiner Ordnung festgelegt hat - unbeschadet dessen, daß Verfeinerung von Kultur und Sprache sowie Vollendung der Religion im Christentum vorgesehen sind. Es gibt keine Fortentwicklung der Utopia, wohl aber eine Ausdehnung bei Bevölkerungsüberschuß in die nächstgelegenen unerschlossenen Gebiete hinein. Dabei wird unter Umständen sogar die Vertreibung sich weigernder Eingeborener in Betracht gezogen und gerechtfertigt. Das von Hythlodäus als unbedingt notwendig geforderte Prinzip ist die Aufhebung des Privateigentums. Nur dort herrsche Gerechtigkeit und seien alle glücklich, und nur dort könne er mitarbeiten, wo diese radikale Maßnahme durchgeführt sei; alles andere bleibe Flickwerk und habe keinen Bestand. Hier ist er der reine Tor, der nur die Wahrheit spricht und sich im Besitz der entscheidenden Spielregel glaubt. Dadurch erscheint die ironisch überzogene Idealisierung Utopiens eher wie eine zum Bild gewordene Spielregel des Denkens, und ist alles andere als eine Anweisung zum Handeln. Dies ergibt sich überzeugend auch daraus, daß es hier nicht um die traditionelle Anschauung vom Kommunismus als Lebensform der unkorrumpierten menschlichen Natur geht, sondern um eine 4*
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„unnatürliche" Gesellschaft, die durch Gesetzgebung erst kommunistisch gemacht werden muß. Der Kommunismus ist das Ergebnis der praktischen Vernunft und moralischer Erwägungen. Morus verteidigt dagegen den natürlichen Anspruch auf Eigentum und zugleich auch die natürliche soziale Abhängigkeit aller, die darin liege, daß jeder seinen Gewinn aus den Bedürfnissen des anderen ziehe. Später stellt Morus in seiner „Confutation of Tyndale" (1532) den aus der Bibel abgeleiteten Kommunismus als „horrible Heresy" hin und plädiert im „Dialogue of Comfort" für privaten Besitz, indem er meint, am besten bleibe alles, wie es ist 24 . Nur die Sozialkritik des Hythlodäus wird von ihm bestätigt, auch in der grellen Übersteigerung und Kriminalisierung am Schluß seines Berichtes. Diese kritische Analyse der englischen Rechts- und Sozialverhältnisse im Ersten Buch wird vielfach als der ernsthafteste und politisch gemeinte Teil der Utopia angesehen. In Wirklichkeit faßt More alle jene Mißstände des 15. Jahrhunderts zusammen, die das Land in Anarchie und Rechtlosigkeit gestürzt hatten, aber von den beiden ersten Tudor-Königen wirksam bekämpft worden waren und weiterhin durch eine sozial bezogene Rechtspolitik von ihnen verbessert wurden. Gerade Kardinal Wolsey über die Sternkammer und als Lordkanzler, und dann Thomas Morus als „Master of Requests" und späterer Lordkanzler, erhielten in den „Courts of Equity" die Möglichkeit, auch den Armen und Rechtlosen bzw. den Leuten, denen die erforderlichen Rechtstitel fehlten, ihr Recht nach Billigkeit zu verschaffen. Die großen Gesetze gegen „Livery and Maintenance" und gegen „Embracery", also gegen die Übermacht der lokalen Grundherren mit ihren Gefolgsleuten, waren längst durchgesetzt, und die Privatisierung der öffentlichen Gewalt längst rückgängig gemacht. Die Sternkammer war geradezu volkstümlich geworden. Andererseits war die Kritik am englischen Strafrecht, an den Einzäunungen und an der Teuerung noch aktuell, ebenso wie am Vagabundenwesen und an der Finanzpolitik. Sie nahm die Fäden auf, die in den Parlamentsverhandlungen sowie in den gesetzgeberischen und administrativen Maßnahmen bereits vorgezeichnet waren oder die mit Mores Tätigkeit als rechtskundigem Interessen Vertreter zusammenhingen. Morus hatte ein ironisches Verhältnis zu seiner Umwelt, solange er noch nicht in den Dienst des Königs getreten war. Das ergibt sich klar aus seiner „Historia Ricardi III." (1513 /14), die er kurz vor der Utopia verfaßt hatte. Hier ist alles scheinbar kritiklos über den Bösewicht Richard zusammengetragen, von der Teufelsschwangerschaft und der Geburt mit Hauern und Haaren bis zum Ehebruch und Meuchelmord, ob es zusammenpaßte oder nicht. Diese Anhäufung von höllischen Machenschaften und Kapitalverbrechen entsprach zwar der von den Tudors gewünschten Geschichtsklitterung, führte sie jedoch zugleich auch ad absurdum. Das Ironische in der Darstellungsweise des Morus muß stets mitgesehen werden, das ihn genau besehen sogar noch aufs Schafott begleitet hat 25 . 24 Ρ Albert Duhamel, Mediavalism of More's Utopia, in: Studies in Philology LH, Nr. 2 (1955), S. 119; Clive Staplee Lewis (Anm. 14), S. 169.
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Zugrunde liegt dem die schmerzliche Diskrepanz zwischen humanistisch-literarischer Lebenskultur und halbbarbarischer Umwelt. Eine Emanzipation davon war nur bis zum Grad und in Form einer Distanzierung möglich, welche auf der Stufe der Bildung und des gelehrten Gesprächs stattfand. Damit hing eine von Humanismus und Barock häufig gepflegte literarische Form zusammen, nämlich die „Palinodie", der dichterische Widerruf eines kritischen oder kränkenden Gedichts, der möglichst die gleiche äußere Form wie der erste Text hatte und vom gleichen Verfasser stammen mußte. Diese Palinodie (erneutes Lied) beschränkte sich indessen nicht auf Dichtung, sondern wurde schon seit Piatons „Phaidros" für jeden Widerruf gebraucht, bei dem der Verfasser seine in früheren Schriften aufgestellten Behauptungen mit denselben formalen Mitteln widerrief. Diese Rücknahme war bei den Humanisten vielfach ironisch gemeint, also wohl nicht im Sinne völliger Außerkraftsetzung der ursprünglichen Behauptung, sondern eher ihrer Relativierung oder Einschränkung - etwa im Sinne eines „never mind!" oder „nichts für ungut!". Diese Form war das Gegenteil einer eifernden Parteinahme, nämlich die Freisetzung eines Gedankenspiels, welches die Inkongruenz zwischen Theorie und Praxis, Ideal und Wirklichkeit in emanzipatorischer Absicht überspielte. Die Ironie ist bei Morus geradezu die Form der Rücknahme eines utopischen Denkens, welches nicht im einzelnen verbessern, sondern im ganzen verändern will - mit einer Konsequenz, die an der Wirklichkeit zerbricht. Das Versteckspiel und die Distanzierung von den eigenen Reflexionen dienen dem Selbstschutz, vor allem dem inneren Selbstschutz vor einer Hybris, deren Radikalität selbstzerstörerisch sein könnte. Die Furchtsamkeit und die Unschlüssigkeit des hellsichtigen Humanisten läßt Morus in die Ironie flüchten, die sich nicht ganz ernst nimmt und auch nicht ganz ernst genommen werden will. Es war die einzigartige Humanistenstunde gekommen, als „der Himmel lachte und die Erde von Freude erfüllt war", als nämlich der junge und kluge Heinrich VIII., die Hoffnung der Gelehrsamkeit, den Thron Englands bestieg (23. April 1509). Die Einladung des Erzbischofs von Canterbury (Warham) brachte Erasmus nach England zu dem liebsten aller Freunde, in dessen Haus er das „Encomium Moriae" oder die „Moria", das „Lob der Torheit", verfaßte, mit deutlicher Anspielung auf Thomas Morus, oder Thomas den Narren 26. Es war für beide eine hoffnungsvolle Zeit wechselseitiger Gespräche, aus denen freilich keine Sternstunde der Menschheit emporstieg, weil humanistische Ironie und kritischer Sarkasmus nicht die acherontischen Tiefen bewegten, wohl aber die beiden populärsten Schriften des Humanismus zur Welt brachten. Was Mores Utopia betrifft, ist bereits die Einführung seines fiktiven Gewährsmannes, des Portugiesen Raphael Hythlodäus, ein Meisterstück literarischer Irre25 R Brie, Thomas Morus, der Heitere. Freiburg 1939; vgl. Anm. 8 betr. „Miaprision": Er starb nicht wegen dem, was er gesagt hatte, sondern dem, was er nicht gesagt hatte, und trotz seiner Ausflucht „Qui tacet consentire videtur" und seines Rückzugs von den Geschäften. 26 Über den Aufenthalt des Erasmus in England 1509-1514 vgl. Fitz Caspari, Humanism and the Social Order in Tudor England. Chicago 1954, S. 31-33; hier über die Hoffnung der Humanisten auf König Heinrich VIII.
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führung wegen der Anknüpfung an die letzte Fahrt des Amerigo Vespucci, der Gefährten zurückließ, unter ihnen Hythlodäus, der dann über Taprobane (Ceylon) und Kalikut als erster Weltumsegler nach England kam, was mit den Zeitangaben bestens übereinstimmt. Auch die gnostischen Zeitbezüge sind, wie More an Agidius schreibt, Hinweise für Gelehrte, um die Unwirklichkeit darzutun. Noch mehr gilt dies für die barbarische Namengebung: Hythlodäus kann Dampfplauderer, glühender Phantast oder auch Feind des Geredes, erfahren in Unsinn, bedeuten. Raphael kann sich auf das Schiff Vespuccis beziehen, aber auch auf den Engel des Tobias, der diesen in eine fremde Stadt führt. Utopia bedeutet nirgendwo; ou-topos heißt Nicht-Land, oder als eu-topos Schönland, Idealland; Utopus ist soviel wie „Herr über nirgends". Amaurotum heißt Dämmer- oder Nebelstadt und mag auf London deuten. Der Fluß Anhydrus ist „ohne Wasser" und das auf Lebenszeit gewählte Oberhaupt nennt sich Ademos, d. h. „ohne Volk". Der Syphogrant (ältere Bezeichnung für Phylarch), der die Aufsicht über die Mahlzeiten führt, bedeutet Vielesser. Der Gefährte des Hythlodäus heißt Tricius Apinatus (nach Martial XIV, 1,7), was „Possen und Narretei" bedeutet. Die Nachbarvölker heißen Achorier (Landlose), Makarenser (Glücksleute) und Anemolier (Aufschneider). Krieg führen die Utopier mit den Nepheloeten (Nebelländer) gegen die Alaopoliten (Blindbürger). Ironisch wie die unflätige Namenbildung ist auch die Einteilung des Diskurses über die Utopia gemeint, die nach scholastischer Methode in neun Kapitel erfolgt, deren logische Ordnung den Kapiteln 4 bis 12 des VII. Buches der „Politik" des Aristoteles folgt, ohne in sie hineinzupassen. So wird etwa die Ehe im Kapitel über die Knechtschaft (de servis) abgehandelt. Die entscheidenden Angaben über Wirtschaft und Gesellschaft sind in diese Kapitel eingestreut und mit einer Flutwelle von Zahlen versehen, die in sich nicht stimmig sind 27 . Auch die Neutralisierung der Gier nach Gold durch dessen Verwendung für Eimer und Schmutzkübel oder als Schmuck für die Sklaven kann nicht als ernsthafter Vorschlag gemeint sein, da Gold ohnehin durch seinen Überfluß abgewertet wird und dann doch sein wirklicher Wert wieder hinzugedacht wird. Allerdings ist Gold nur für den einzelnen nutzlos, nicht für das Gemeinwesen, welches damit Außenpolitik und Außenhandel betreiben kann. Auch das rigorose Reiseverbot ist ironisch gemeint, da es der freien Lebensform der ständig reisenden Humanisten gänzlich widerspricht. Sicherlich ist auch die Verbindung von Puritanismus und Hedonismus oder von Askese und Epikureismus nicht ganz ernst zu nehmen; sie ergibt sich aus der Grundintention, welche eine Präzision der ökonomischen Maschinerie bei minimalen Opfern erreichen will. Alle Utopier sind vollendete Asketen und Epikureer, ein Kreis gebildeter und geistig interessierter Leute, und 27 Nach R Albert Duhamel (Anm. 24), S. 107-109, folgt die logische Ordnung des II. Buches den neun Kapiteln 4 - 1 2 des VII. Buches der Politik des Aristoteles (De situ; de urbibus; de magistratibus; de artificiis; de commerciis mutuis; de peregrinatone Utopiensium; de servis; de re militari; de religionibus Utopiensium); statt der Kapitel 13-15 der Politik schließt die Bestimmung der Norm der Moralität an die Diskussion über die Lust in Buch IX von Piatons Staat an, oder vielleicht auch an Cicero, De finibus, 7 - 8 .
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zwar nicht von Natur aus, sondern aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen 28. Hier kommt das Neue und Besondere zur Geltung, was die Utopia über eine bloße Posse hinaushebt. Sie ist ein Modell, das sich auf rationale Argumente beschränkt und alle gesetzlichen Vorkehrungen in den Dienst der Produktion einer allgemeinen Wohlfahrt stellt. Der Modus der Versuchsanordnung ist so gewählt, daß die Ursachen der gesellschaftlichen Konflikte bloßgelegt und zugleich eliminiert werden. Die arithmetische und geometrische Fixierung der Konstruktion ermöglicht einen technischen Kalkül auf ein soziales Gleichgewicht hin, welcher alle Störfaktoren durch Isolation, Reduktion und Abstraktion der tragenden Funktionen beseitigt; d. h. alle bisherigen Traditionen und Gesetze werden weggedacht und durch Manipulationen ersetzt, die das menschliche Verhalten steuern. Das hatte bisher noch kein Fürstenspiegel in Betracht gezogen, daß die Institutionen den Menschen schaffen, welcher diese Institutionen dann trägt. Das ist der Faden ernsthafter Gedankenarbeit, der die freie Imagination des Zweiten Buches durchzieht. Wie in der europäischen Gesellschaft die Selbstsucht rational richtig ist, so wird in Utopia der Gemeinsinn rational richtig; wie in einer korrupten Gesellschaft korruptes Handeln das einzig Vernünftige ist, so ist in einer idealen Gesellschaft nur gemeinnütziges Handeln vernünftig. Freilich wird diese Verhaltenssteuerung nur möglich bei einer öffentlich-staatlichen Allkompetenz und bei Gleichförmigkeit des ganzen Gemeinwesens, das wie ein Gebäude geplant ist und als durchgerechnetes System sich selbst trägt. Individuen werden in Utopia nicht erwähnt, und selbst der Gründer ist nur seiner Wirkung nach erkennbar. Die Institutionen rufen die Eigenschaften hervor, auf die ihre Einhaltung sich stützt. Die Abschirmung nach außen und der Einbau von Ventilen - etwa bei Uberoder Unterbevölkerung oder bei Krieg und Straftaten - verlangen eine durchgehende Reglementierung. Indem die Mißstände der Zeit aus den allgemeinen Verhältnissen der Gesellschaft und nicht aus dem Versagen einzelner gedeutet werden, muß auch die Antwort darauf die Änderung der Gesellschaft sein. Die allgemeinen Ursachen dieser Mißstände werden subtrahiert, also das Privateigentum, das Geld und der Markt bei der Konstruktion des neuen und besseren Zustandes weggedacht. Damit liegt der Schwerpunkt von selbst auf Gesellschaft und Wirtschaft. Dabei sieht Morus Europa als Ganzes und in Utopia ein Anti-Europa, eine neue Welt, in welcher optimale ökonomische Verhältnisse erreicht sind, die von selbst zum wahren Christentum hinführen, welches die bis dahin noch provisorische Ge28 Gerhard Möbus, Politik des Heiligen. Geist und Gesetze der Utopia des Thomas Morus. Frankfurt 1953, sieht darin eine Satire auf die heidnisch-vernunftgläubigen Utopier; Helmut Swoboda, Utopia - Geschichte der Sehnsucht nach einer besseren Welt. Wien 1972. Hier drückt sich die humanistische Sehnsucht nach einem sorgenlosen „vivere civile" aus, welches sein Ideal nicht im Beruf, sondern im Gespräch findet, in einer „philosophical City". Vgl. J. C. Davis, Utopia and the Ideal Society. A Study of English Utopian Writing 1516-1700. Cambridge 1981.
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meinschaft erst vollendet. Das moralische Anliegen dominiert; Politik, Ökonomie und Soziologie werden ihm untergeordnet. Utopia ist immer nur grundsätzliche Kritik am System, nicht an Personen. Sie begründet geradezu eine Gattung, deren Denkstruktur die sozialkritische Analyse mit einer Reduktion der Gesellschaft auf einen Funktionszusammenhang verbindet. Ihre Verbindlichkeit liegt darin, daß die Welt als veränderungsnötig und veränderungsfähig durchschaut wird. Ein Gemeinwesen ist nicht vorgegeben sondern aufgegeben. Was konstruiert wird, ist also kein organischer Aufbau im Anschluß an eine kosmische oder tellurische Harmonie, sondern eine funktionelle Totalität, wobei das Ineinandergreifen von Funktionen gleichförmiger Teilbereiche zusammengenommen die politische Ordnung konstituiert: Hier werden die Arbeitsverfassung, die Berufswahl, die Arbeitszeit und Arbeitsgesinnung, die Marktregulierung und die Familiengründung als manipulierbare Teilbereiche entdeckt. Erziehung, Bildung und Wissenschaft erhalten tragende Funktionen, wogegen die in Europa herrschenden Eigenbereiche von Recht, Gesetz, Verfassung und Stand als ideologische Systeme, als „Verschwörungen der Reichen", entlarvt werden 29. So wird hier ein Raum vorgestellt, der von den Übeln der Zeit freisetzt und Willkür oder Zufall auschließt, allerdings auch dem Menschen seine Rolle vorschreibt, wobei die Manipulation der Institutionen eine Manipulation der Personen nach sich zieht. Das Instrumentarium zur Sicherung von Existenz und Glück ergreift vollen Besitz vom Einzelnen, reduziert ihn auf seine öffentliche Rolle und verfehlt damit sein eigentliches und eigenes Glück. Das ist die Ironie des Schicksals! Das einzige „Commonwealth", das diesen Namen verdient, verschlingt den Einzelnen und ist nicht gegründet auf „good reason", wie Morus gegen Schluß des Berichts 29 Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie. Bonn 1929, 3. Aufl. 1952. Danach ist das wesentliche Formierungsprinzip eines konkreten Bewußtseins in dessen utopischer Schicht zu suchen. Mannheim merzt allerdings die prinzipielle Unverwirklichbarkeit aus dem Begriff der Utopie aus und hält die Uberzeugung von der Erreichbarkeit durch menschliches Bemühen für ein Wesensmerkmal. Vgl. dazu: Barna Horvâth, Der Sinn der Utopie, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 20 (1940), S. 198-230. Danach gibt es kollektivistisch-organisatorische Utopien (Piaton, Morus, Campanella, Bacon, Bellamy), anarchistische Utopien (Zenon, Rabelais, William Morris), rückwärts gewandte Utopien (Elysium, Arkadien, Goldenes Zeitalter), Fluchtutopien (zur Natur, zum einfachen Leben) und Zukunftsutopien (durch Fortschritt, Erziehung, Wissenschaft). Die moderne Utopie ist meist eine prognostische Utopie, die sich als künftiges Ergebnis geschichtlicher Entwicklung versteht. Dies kann die Form eines hypostasierten intelligiblen Reichs der Zwecke annehmen, oder aber dort, wo das kausalwissenschaftliche Denken auslösendes Moment ist, eine technologische Utopie sein, wo eine neue technische und soziale Organisation die Produktion eines neuen Menschen ermöglicht. Mores „Utopia" gehört nicht dazu. Sie weist keinen Weg zur Verwirklichung. Sie hat aber mit allen modernen Utopien gemein, daß der Mensch das Objekt einer kollektiv gesteuerten Sinnverwirklichung ist, die hier jedoch ironisch gemeint ist. Die Zeitgenossen kommentierten nicht die utopische Philosophie, sondern nur die politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen von Utopia, welche sie als verschlüsselte Polemik und Satire gegen die Krebsschäden der Zeit verstanden. Utopia war nicht konzipiert als Endergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, sondern als experimentum rationis, als Manifestation der Vernunft gegen die Torheiten der eigenen Zeit.
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über Utopia vermerkt, sondern voller Absurditäten wie die Wirklichkeit auch, und darüber hinaus auch in sich absurd. Der Sozialismus des Produzierens und Konsumierens erzeugt einerseits einen unglaublichen Überfluß, der zum siebten Teil in die Entwicklungshilfe geht, andererseits aber dem unermeßlichen Staatsschatz zufließt, der in Gefahr Sicherheit bieten soll, etwa zur Besoldung gemieteter Soldaten oder zur Bestechung der Feinde oder Unterhändler oder zur Führung eines kalten Krieges. Die zweite Ironie besteht darin, daß ausgerechnet die Aufhebung des Privateigentums einen „Staatskapitalismus" hervorbringt, der rücksichtslos und schamlos die niederen Begierden der Menschen außerhalb Utopias ausnützt, um den eigenen Bestand zu sichern. Innerhalb Utopias gibt es eigentlich keine Politik im Sinne von Machtausübung oder als Entscheidung zwischen substanziellen Alternativen, sondern nur noch Verwaltung, bei welcher Macht nur als gesellschaftliche Kontrolle erscheint. Man könnte auch sagen, die Herrschaft über Menschen sei hier durch die Herrschaft über Sachen ersetzt, welche das Funktionieren des Ganzen überwacht, das nur eine dosierte Subjektivität in der Freizeitgestaltung noch zuläßt. Die universale Interdependenz duldet keinerlei Störung von außen - und auch nicht von innen. Die Selbstisolation gegen Fremde zur Wahrung der reinen utopischen Praxis schließt eine Machtpolitik mit unsittlichen oder gewalttätigen Mitteln nicht aus. Hier heiligt der Zweck die Mittel! Wie dies sich zusammenreimt, kümmert Hythlodäus nicht; ihm kommt es nur auf das Gegenbild an, ja er rechtfertigt ausdrücklich seine Schilderung als gegen die schreienden Übel der Epoche gerichtet. Er hält ihr seinen Spiegel vor, wo die Wahrheit erscheint, um das Runzelgesicht der Gegenwart zu enthüllen. Die Vernunft des Gegenmodells soll die Unvernunft im Hier und Jetzt sichtbar machen. Zum Wesen der Utopia gehört also ihre Ernsthaftigkeit ebenso wie ihre Possenhaftigkeit. Wenn man sie schulmäßig einordnen will, ist sie im ganzen anti-feudal, anti-individualistisch und anti-kapitalistisch; ferner an bürgerlichen Kriterien von Arbeit, Leistung und Intelligenz orientiert. Außerdem sind Gemeinwohl, Bedürfnisbefriedigung und gerechter Preis Ausdruck spätmittelalerlichen Wirtschaftsdenkens. Damit bleibt man jedoch hinter dem Anliegen der Schrift zurück. Soll man Morus als Vorläufer des Kommunismus sehen (Ernst Bloch), oder als Sozialist (Karl Kautsky), oder als Ideologen des insularen Wohlfahrtsstaates (Gerhard Ritter), als Vorläufer des britischen Imperialismus (Hermann Oncken)? Oder ist diese Klassifizierung in sich verfehlt, weil sie Bezüge unterschiebt, die nachträglich gestiftet sind und der Utopia einen Stellenwert geben, der nur in den Köpfen der Historiker existiert 30? 30 Vgl. Karl Kautsky, Thomas Morus und seine Utopia. Stuttgart 1888, 2. Aufl., 1907; ders., Die Vorläufer des Sozialismus. Stuttgart 1895. Für Kautsky beginnt mit der „Utopia" der moderne Sozialismus. Ernst Bloch, Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozialutopien, Berlin 1947; ders., Das Prinzip Hoffnung. Bd. II, Berlin 1955; Ludwig Marcuse, Vom Wesen der Utopie. Frankfurt 1952; Gerhard Ritter (Anm. 18); Hermann Oncken (Anm. 10).
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Da Utopia historische Umstände ihrer Entstehung und ihrer Entdeckung einbezieht und ihre Systematik ironisch gemeint ist, kann sie nicht als reine Utopie bezeichnet werden. Da sie keinen Weg zur Verwirklichung weist, ist sie auch keine prognostische Utopie. Ihr historisch-kritischer Bezug erscheint ernst gemeint; das rein Utopische hingegen ist mit komischen Zügen ausgestattet, und die dabei verwandte Systematik eher als Verfremdungseffekt aufgestülpt. An eine Verwirklichung ist nicht gedacht; sie ist offenbar auch nicht wünschbar. Da das funktionale Zusammenspiel im Blickpunkt steht, ist weder eine verbindliche Dogmatik noch der Ansatz einer Anthropologie erkennbar. Das Exemplarische daran wird durch eingefügte Absurditäten wieder zurückgenommen. Es handelt sich mithin nicht um eine verbindliche Prognose, sondern um eine unverbindliche Spiegelperspektive, also mehr um ein Hilfsmittel zeitkritischer Analyse als um ein ernsthaftes Leitbild. Das Überzogene daran verstärkt den Spiegeleffekt ebenso wie die Beschränkung auf wenige Wechselbeziehungen, wie etwa die zwischen den ökonomisch-politischen Einrichtungen und der individuellen Sittlichkeit. Hier handelt es sich nicht um die fiktive Realisierung eines Naturstandes, aber auch nicht um eine primitivistische oder anarchistische Utopie, sondern lediglich um das Vehikel einer sozialen Analyse, um die Projektion der Zeitkritik in eine ideale ferne Welt hinein, deren Reduktion auf einen rationalen Funktionszusammenhang von providentiellen, theologischen und traditionellen Bezügen absieht und dadurch eine in sich schlüssige Zurüstung ermöglicht, deren defizienter Wirklichkeitsmodus das ökonomisch-moralische System als Mechanismus zu begreifen versteht. Die utopische Perspektive verschafft Morus den fiktiven Bezugsrahmen, der seiner Kritik ein Hinausgehen über die geltenden Ordnungsvorstellungen ermöglicht und den anonymen Zusammenhang der sozialen Kräfte erkennen läßt. Die Gesellschaft wird nicht vorgefunden, sondern gemacht, und zwar gemacht zum Gemeinwesen, durch das Wirken menschlicher Gesetze. Das Mittel dazu ist eine einheitliche oberste Gewalt, nämlich der Gesetzgeber, welcher durch seine Gesetze den Naturstand zur Geschichte erhebt, und nach ihm der Staat, durch den sie in Kraft bleiben. Hier stellt sich erstmals der Mensch auf den Kopf wie 1789. Der Entwurf des Thomas Morus war wegweisend für die Möglichkeiten einer rationalen Gestaltung des Ganzen einer Gesellschaft. Das war nicht mehr Mittelalter sondern Neuzeit und sogar Moderne - ein Vorgriff auf die Prägekraft des Staates und die Manipulierbarkeit der Gesellschaft in unserer Zeit. Mit Morus beginnt jene pragmatisch-rationale Sozialanalyse, welche die Grundlagenkrisis der zeitgenössischen Gesellschaft durchschaut, sie im utopischen Entwurf transzendiert und auf einen säkularen Funktionszusammenhang reduziert. Im Grunde setzte seine traditionskritische und untheologische Analyse der Sozial- und Herrschaftsordnung ein unübersehbares Fragezeichen der Selbstkritik, welche seitdem die „alte Welt" begleitet und die Berechtigung ihrer Selbstgewißheit bezweifelt. Mores „Civic Humanism" leitet zu jenem „Applied Humanism" der elisa-
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bethanischen Zeit über, welcher in Sir Thomas Smiths Prinzip des „größten Glücks der größten Zahl" (um 1552) programmatisch zum Ausdruck kommt und dann in dem zugleich konservativen und fortschrittlichen Utilitarismus der großen britischen Moralphilosophie und Sozialwissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zu einem bestimmenden Element britischen Denkens und Handelns wird 3 1 . Utopia als literarische Gattung oder als politisches Programm bedeutet nicht viel; aber als Ansatz eines neuen Denkens über Möglichkeiten menschlicher Daseinsgestaltung wies sie die Richtung auf jene „Moral Sciences" hin, welche der Dehumanisierung der neuen Sozialwissenschaften zu einem funktionalen Kalkül oder einer naturwissenschaftlich aufgezogenen „Anatomie" der Gesellschaft entgegenwirkten. Während die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants nach dem „Ort der Freiheit" fragte und ihn dort fand, wo das Allgemeine als „Kausalität aus Freiheit" das Besondere bestimmt, suchte die englische Moralphilosophie nach dem Ort der Gerechtigkeit. Sie fand ihr „Apriori" nicht im intelligiblen Ich oder in der „Achtung vor dem Sittengesetz", sondern im sozialen Zusammenhalt, nämlich im Engagement des unbeteiligten Zuschauers, im moralischen Consensus der Umwelt für Fairness und Billigkeit, in der Idee des Gemeinwesens als eines moralischen Potentials. Vielleicht ist es statthaft, als Zusammenfassung unserer Überlegungen und zugleich in possenhafter Anwendung der verdeckten Ironie des Thomas Morus zu sagen, daß als das Wichtigste an ihm seine Wirkungsgeschichte anzusehen ist.
31 Vgl. Arthur B. Ferguson, The Articulate Citizen and the English Renaissance. Durham, Ν. C. 1965, S. 176-179; Friedrich Heer, Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters, Frankfurt 1959, S. 140; Hans Süßmuth, Studien zur Utopia des Thomas Morus, Münster 1967 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Heft 95), S. 116; hier erscheint Morus als Vorläufer der „applied natural sciences".
Politik und Heilsgeschehen bei Bossuet Ein Beitrag zur Geschichte des Konservativismus Bossuet wird oft genannt als der Repräsentant seines Zeitalters. Aber es gibt nur wenige Schriften, die sich ihm eingehend widmen und ein vollständiges Bild von ihm als Denker zu geben suchen. Wenn sein Name fällt, denkt man im allgemeinen an den vielbeachteten Kanzelredner im Frankreich Ludwigs XIV., an den Verherrlicher des Absolutismus oder auch an den Geschichtstheologen, weniger an den Polemiker und den politischen Denker. Man erinnert sich seines berühmten „Discours sur l'histoire universelle" von 1681 und sieht darin das letzte und abschließende Zeugnis der im Gefolge des hl. Augustinus stehenden Geschichtstheologie oder, wie Auguste Comte sagt, „die letzte große Inspiration des Katholizismus". Dieses Urteil charakterisiert jedoch keineswegs den ganzen Bossuet. Karl Löwith hat nun in seiner Untersuchung über die theologischen Voraussetzungen der abendländischen Geschichtsphilosophie1 auch die Stellung Bossuets skizziert. Der „Discours" zeigt danach, verglichen mit Augustins „Gottesstaat", mehr historisches Verständnis für die Größe der politischen Geschichte und stärkeres Interesse für die pragmatische Verkettung von Ursache und Wirkung. Bossuet sei mehr Kirchenpolitiker als Augustinus; sein Werk zeige nicht die Geschichte des Gottesstäates, sondern die Geschichte der kämpfenden und triumphierenden Kirche nach dem Vorbild des Eusebius2. Die Grenze zur kritischen Umwandlung der Geschichtstheologie in eine Geschichtsphilosophie sei noch nicht erreicht wie bei Vicos „Neuer Wissenschaft", geschweige denn vollzogen wie bei Voltaire. Löwith sieht die Entwicklungslinie, die sich zwischen diesen drei Denkern ziehen läßt. Er entdeckt Züge moderner Wissenschaftlichkeit bei Bossuet. Diese sind aber bedeutsamer als sich das aus der Problemstellung Löwiths ergeben konnte. Der „Discours" zeigt nämlich, im Verein mit den übrigen politischen Schriften Bossuets, daß sein Werk doch mehr enthält als nur „eine neue, auf den zeitgemäßen Stand gebrachte Fassung von Augustins Geschichtstheologie"3. Sein Gesamtwerk ist nicht nur Abschluß, sondern auch Neubeginn. Gerade seine politisch-polemischen Schriften lassen erkennen, wie Bossuet zwischen den Zeiten steht, wie alte und neue Elemente in seinem Denken und Argu1
Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1953. 2 Ebd., S. 130. 3 Ebd., S. 100.
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mentieren sich verbinden. In ihm tritt der zwiespältige Geist seines Jahrhunderts zutage. Das Zeitalter der katholischen Erneuerung war zugleich das Zeitalter des autonom werdenden Geistes. Beide Seiten vereinigen sich bei Bossuet zu einer besonderen Art des politischen Denkens. Er hat es zum erstenmal verstanden, den kirchlichen Traditionalismus mit einer allgemeinen politischen Theorie und Weltanschauung in einer solchen Form zu verbinden, daß man in ihm nicht nur den letzten großen Geschichtstheologen, sondern auch den ersten großen Konservativen sehen darf. Der Nachweis dieses Zusammenhangs müßte ihm einen besonderen Platz in der politischen Ideengeschichte der Neuzeit sichern. Die katholische Welt des 17. Jahrhunderts entwickelte eine bedeutende Gesamtkultur, die von außerordentlichen religiösen, politischen und künstlerischen Impulsen getragen und von einem kämpferischen missionarischen Ethos erfüllt war. Diese Kultur war gegenreformatorisch gesinnt; sie ruhte nicht einfach in sich, sondern barg starke polemische und willensmäßige Momente in sich. Sie war zu einem guten Teil die katholische Negation der protestantischen Negation. Sie wandte sich gegen jede subjektive Zersplitterung und suchte ihre angemessene und rettende Welt in den objektiven Großformen von Staat und Kirche. Der von Bossuet verherrlichte Absolutismus war selbst eine solche neue und im Grunde revolutionäre Großform; er war zugleich eine dem Stil und dem Streben der Zeit entsprechende, gewaltsam zusammenfassende Ballung von Macht, Glanz und Erhabenheit, die sich sowohl transzendent aus dem Bilde der göttlichen Allmacht als auch aus einem gewandelten Staatsbewußtsein und dem Bedürfnis nach Einheit des politischen Lebens zu rechtfertigen suchte. Er war das mühsam erkämpfte Resultat modernen Staatswillens, eine Form der Uberbrückung tiefer Gegensätze, die sich ständigen theoretischen Angriffen ausgesetzt sah, welche sich aus den Lagern von Frondeuren und Emigranten, Jesuiten und Protestanten dagegen richteten. Die politische Theorie des Absolutismus war infolgedessen genötigt, von der Apotheose des göttlichen Herrscherrechts zu Antwort und Widerlegung überzugehen. Sie nahm dabei notgedrungen die Beweismittel der Gegner, ihre Wissenschaftlichkeit und Modernität, in sich auf und schwankte zwischen theologischer Fundierung und polemischer Rechtfertigung, zwischen transzendenter und innerweltlicher Begründung. In dieser bezeichnenden und oft erzwungenen Verbindung von Transzendenz und Weltlichkeit, die in allen Zweigen des geistigen Lebens, vor allem in Kunst und Literatur zum Ausdruck gekommen ist, spiegeln sich die enormen Spannungen und Gegensätze der Zeit wider. Alles das findet sich bei dem Theologen und aber auch bei dem Politiker Bossuet, so daß er das Höchste, nur noch theologisch Ausdeutbare, mit dem Nächsten, wissenschaftlich Faßbaren, Heilsgeschehen und Politik, in Beziehung zu bringen weiß. Er war Theologe von Format, aber auch politischer Theoretiker von Format. Daß er beides zugleich mit gutem Gewissen sein konnte, ist seine eigentliche denkerische Leistung, die nur demjenigen sichtbar wird, der auch den anderen Bossuet zu würdigen weiß, nämlich den Kämpfer im Ringen alter und neuer Geistesmächte.
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Es darf nicht übersehen werden, daß Bossuet der Mann der Gallikanischen Freiheiten, der Streiter gegen Quietismus, gegen Calvinismus und Monarchomachen gewesen ist und infolgedessen die politischen, polemischen und historischen Schriften in seinem Lebenswerk einen breiten Raum einnehmen. Er stand in lebendiger Berührung mit den geistigen Bewegungen seiner Zeit. In seiner Bibliothek befanden sich Werke von Galilei, Descartes, Grotius, Hobbes, Spinoza und sämtliche Schriften Machiavellis. Er war aufgeschlossen für die philosophischen und wissenschaftlichen Bestrebungen seiner Zeit 4 . Es ist bemerkenswert, daß er seine Hauptbemühung auf einen politischen Traktat richtete, auf die Abfassung seiner „Politique tirée des propres paroles de l'Ecriture Sainte". Darin lag etwas Ungeheuerliches im Frankreich Ludwigs XIV. Die Veröffentlichung stieß 1709 deshalb auf Schwierigkeiten; der Kanzler Pontchartrain entsetzte sich über eine Schrift, die ex professo von der Politik handelte5. „La Politique" war wirklich mehr als ein aus äußerlichen Gründen abgefaßtes Gelegenheitswerk. Sie diente der Erziehung des Dauphin, also einer öffentlichen Angelegenheit, die dem gleichzusetzen ist, was heute etwa die Volkserziehung bedeutet. Die individuelle Erziehung war gewissermaßen eine allgemeine Erziehung, die das ganze Land anging. In dieser Erziehung sollte Bossuets „Politique" die Krönung des Studiengangs bilden6. Sie war zudem Bossuets bevorzugtes Werk, das ihn in den letzten Jahren seiner Erziehertätigkeit (1677/78), dann kurz vor dem Quietistenstreit (1693) und schließlich in den letzten Jahren seines Lebens bis zu seinem Tode (1704) beschäftigte 7. Der umständliche Titel darf nicht über den wahren Charakter der Schrift hinwegtäuschen. Jenes „tirée des propres paroles de l'Ecriture Sainte" verdammte das Buch in den Augen aller Aufklärer und jener, die nach einer rational-wissenschaftlich begründeten Politik suchten. Aber ein solcher Bezug auf die Bibel fand sich in vielen Traktaten des 17. Jahrhunderts, selbst bei Hobbes, dem strengsten Verfechter einer deduzierenden politischen Wissenschaft. Für Bossuet war die Heranziehung der Heiligen Schrift ein polemisches Mittel gegen die protestantischen Theoretiker, die aus der Bibel ihre Lehrsätze begründeten und aus der Bibel widerlegt werden mußten. Aber die Gewaltsamkeit seiner Argumentierung beweist, daß er durch die Bibel nur bekräftigte, was er bereits für richtig hielt. Sein eigenes ,»raisonnement" leitete ihn bei der Aufdeckung der heilsgeschichtlichen Bezüge. In einer „tour de force de 4
F. Brunetière, La bibliothèque de Bossuet, in: Etudes critiques, Paris 1903, Bd. VII, S. 133-150; ders., Bossuet. Paris 1913, S. 201-214; vgl. Bossuet an Leibniz: „J'ai vu avec plaisir les nouveaux principes de votre philosophie. Autant que je suis ennemi des nouveautés dans la religion, autant je me plais à celles de la philosophie et à celles nouvelles découvertes" (zitiert nach Gonzague Truc, Bossuet et le classicisme religieux. Paris 1934, S. 200). 5
M. Nourrisson, La Politique de Bossuet. Paris 1867, S. 75. Vgl. De istitutione Ludovici Delphini ad Innocentium XI; Bossuet, Œuvres complètes. Paris 1846, Bd. V, S. 2-19. 7 Nourrisson (Anm. 5), S. 65-70. 6
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logique" (Lanson) verschaffte er seinem rationalen Lehrgebäude das göttliche Fundament. Er sammelte nicht einfach Maximen aus der Bibel, sondern suchte „des principes primitifs qui ont formé les empires" 8; er beschäftigte sich mit Ursprung, Natur und Geltungsbereich von Gesellschaft, Staat und Autorität und verfolgte dabei eine genetische Methode. Es darf nicht irreführen, daß die biblischen Bezüge und Interpretationen tatsächlich den weitaus meisten Raum einnehmen. Das „raisonnement" tritt zwar nur an Randstellen hervor; aber es zeigt sich schon in der geometrischen Anordnung der „Politique" nach Büchern, Artikeln und Propositionen und reguliert deutlich den Gang der Untersuchungen; es enthält schließlich die entscheidenden allgemeinen Sätze, in die sich seine „Politique" zusammenfassen läßt. Was Machiavelli in der Antike, im alten Rom fand, suchte Bossuet in der Bibel, nämlich „la plus belle et plus juste politique qui fut jamais" 9 . Die Vernunft genügte ihm im Grunde zur Entdeckung der politischen Prinzipien; denn der Heilige Geist sagt dasselbe, was Homer und Aristoteles auch gesagt, und was die weise Politik von Heiden und Römern seit jeher befolgt haben; er sagt es nur mit größerer Eindringlichkeit 10 . Das klingt bereits sehr aufklärerisch und rechtfertigt die Aufgeschlossenheit des Bischofs von Meaux für profane Wissenschaft und Welt. Vielleicht zeigt sich hier der Einfluß seiner Erziehung im Jesuitenkolleg von Dijon. Gerade die Jesuiten waren Wegbereiter der katholischen Frühaufklärung; sie erkannten ein mittleres Reich zwischen Gut und Böse und eine autonome Regelung des Lebens an, eine Welt zwischen Himmel und Hölle, in der die Sünde sozusagen nur bei besonderen Gelegenheiten hinzutritt. Ob der Mensch sündigt oder nicht, hängt hier gewissermaßen von den Umständen ab. Das religiöse Erleben erscheint mehr als Teilgehalt des religiösen Bewußtseins; das Gotteserlebnis hat die unmittelbare und sichtbare Verbindung mit der Totalität des Lebens verloren. Die Vorsehung durchwirkt zwar alles; bleibt jedoch für den Menschen im einzelnen unerkennbar; nur der Gang des Ganzen, der über den Einzelmenschen hinweggeht, verrät die Hand des göttlichen Lenkers 11. Diese Anschauungsweise öffnete Bossuet den Blick für den Eigencharakter der Welt und insbesondere der politischen Welt. Er bejaht ausdrücklich das weltliche Ideal des „honnête homme" und verlangt ein Mindestmaß an profanem geschichtlichen Wissen12. Dem Scharfblick Voltaires entging es nicht, daß Bossuet „des Sentiments philosophiques" hatte, die sich von seiner Theologie merklich unterschieden; er entdeckte in ihm etwas von dem mitragekrönten Ungläubigen13. 8 Bossuet, Politique, in: Œuvres complètes (Anm. 6), Bd. V, S. 134. 9 Ebd. 10 Ebd., Politique III, III, 3; III, III, 5; X, II, 16. Discours sur l'histoire universelle. Paris 1886, S. 73. 11 Vgl B. Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. Halle/Saale 1927, S. 210, 219, 220, 225, 333. 12 Vgl. die Einleitung von Bossuet, Discours sur l'histoire universelle (Anm. 10).
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In der Tat sucht Bossuet - im Gegensatz zu dem rein theologischen Anliegen des Augustinus, der nur negativ die Unergründlichkeit der irdischen Zwischengerichte betont 14 - Geschichte und Politik aus sich und aus der menschlichen Natur zu verstehen. So sehr für ihn die Weltgeschichte im tiefsten Grunde ihren Lauf nach den Plänen der Vorsehung nimmt, so können sie die Menschen doch nur verstehen, wenn die profane Welt von der transzendenten Einwirkung getrennt wird, wenn Heilsgeschehen (la suite du peuple de Dieu) und Weltgeschichte (la suite des grands empires) jeweils für sich betrachtet werden 15. Er strebt menschliches Verständnis für Geschichte und Politik an, wenn er auch immer wieder nach Bestätigung seiner Grundsätze in der Heiligen Schrift sucht. Dabei will er keine festen Regeln (règles invariables) aufstellen, sondern nur Aspekte (des vues) für eine Staatskunst geben, die sich von den Umständen und der Zeit leiten läßt. Erst die Berücksichtigung von Raum und Zeit (les lieux et les temps; toutes les circonstances) befähigt nach seiner Meinung die Geschichte, Lehrmeisterin für Politik und Regierungskunst und eine Schule des Urteils zu sein 16 . Bossuet reflektierte über Geschichte im Hinblick auf praktisches staatsmännisches Verhalten und wurde schon durch seine pädagogische Zielsetzung zu einer pragmatisch-psychologischen Erklärung der Geschichte angeregt 17. Die geschichtliche Erfahrung war die Basis seiner „Politique", und was er in der Bibel fand, erwies sich als die generalisierte und auf Gesetze zurückgeführte Beobachtung. Selbst seine Universalgeschichte ist keine rein theologische Geschichte, sondern zugleich eine Geschichte der Berechnungen und menschlichen Handlungen, der Gefühle, Leidenschaften und Irrtümer. Auf diesem Wege wollte Bossuet dem Dauphin Grundlagen der Regierungskunst vermitteln, die auf die faktischen Verhältnisse und Bedürfnisse Rücksicht nahmen. Darüber hinaus aber ging Bossuet - angeregt durch die großen antiken Historiker - die außerordentliche Erkenntnis von der überindividuellen Gesetzlichkeit der profanen Welt, von Aufstieg und Verfall der Reiche, „leur progrès" und „leur décadence", auf. Das große Paradigma für das Schicksal der irdischen Reiche ist ihm Rom. Hier entdeckt er die Vielfalt der Zusammenhänge, die den Untergang Roms herbeiführten: die finanzielle Verschuldung einerseits, die Kapitalanhäufung andererseits, das Anwachsen der sozial Heimatlosen, das Einströmen barbarischer Neubürger, die Vermischung des römischen Blutes, die Durchsetzung des Senats 13 M. Nourrisson (Anm. 5), S. 260. 14
Augustinus, Civitas Dei, XX, 9. Bossuet, Discours (Anm. 10), S. 116: „Ces deux choses (la suite du peuple de Dieu et Celle des Grands empires) roulent ensemble dann ce Grand mouvement des siècles, où elles ont pour ainsi dire un même cours: mais il est besoin, pour les bien entendre, de les déta,cher quelquefois l'une de l'autre, et de considérer tout ce qui convient à chacune d'elles". 16 Politique (Anm. 8), X, 11, 1; Discours (Anm. 10), S. 1. 15
17 De institutiones, Œuvres complètes (Anm. 8). Bd. V, S. 9: „nous avons, coutume, dans les endroits où elles paraissent en péril, d'en exposer l'état, et d'en examiner toutes les circonstances, pour désliberer comme on ferait dans un conseil, de ce qu'il y aurait à faire en ces occasions".
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mit Barbaren 18. Den allgemeinen Grund für die Veränderungen erblickte er in der menschlichen Natur, in Ehrgeiz und Leidenschaften. Alles entscheidet sich nach ihm letzten Endes durch den Zusammenprall von Interesse und Gewalt, und zwar zuguterletzt mit solcher Notwendigkeit, daß Polybios schon früh das Geschick Roms habe voraussagen können „par la seule disposition des affaires" 19. Damit gab Bossuet in genialem Entwurf den Umriß des erregenden Themas vom Untergang Roms, das Montesquieu dreißig Jahre später und Gibbon zwei Menschenalter später wieder aufnahmen und vertieften. Bossuet war sich durchaus der Neuartigkeit seiner Gedankengänge, die von Wundern und Offenbarung absahen, bewußt. Er spricht von „nouvelles réflexions, qui font entendre toute la suite de la réligion et les changements des empires, avec leurs causes profondes que nous reprenons dès leur origine" 20 . Er meint sogar, man müsse die ganze heilige und profane Geschichte umschreiben: „II faudrait transcrire toutes les histoires saintes et profanes, pour marquer ce que peuvent, dans les affaires, les temps et les contretemps" 21. Er hält es für „la vraie science de l'histoire", für jede Zeit „ces sécrètes dispositions" aufzudecken, welche die großen Veränderungen vorbereitet haben und jene bedeutenden Konjunkturen zu erkennen, die sie schließlich herbeigeführt haben. Wer die menschlichen Angelegenheiten wirklich verstehen will, muß außerdem die „Neigungen und Sitten" oder in einem Wort „den Charakter" von Völkern und Fürsten eingehend beobachten22. Das waren in der Tat programmatische Erklärungen, die unmittelbar auf Montesquieu und Voltaire hindeuteten. Dieses Verständnis für den Eigencharakter der profanen Welt führte Bossuet zu einer wissenschaftlichen Begründung seiner „Politique", die sich erstaunlicherweise auf den revolutionärsten Geist des Jahrhunderts, auf Thomas Hobbes, stützt 23 . Hobbes' Deutung des Menschen als eine durch tierische Instinkte gelenkte Maschine machte es Bossuet leicht, das „selfish system" mit dem Dogma der Erbsünde in Einklang zu bringen. Er übernahm das „homo homini lupus" als Gründls Discours (Anm. 10), III, 2, S. 342; vgl. auch III, 7, S. 422, 424-426: „on pourrait ajouter aux causes de la ruine de Rome beaucoup d'incidents particuliers". Hier folgen wirtschaftliche, soziale, biologische, kulturelle Gründe. 19 Discours (Anm. 10), III, 7, S. 422, 423, 426: „Vous voyez les causes des divisions de la république, et finalement de sa chute, dans les jalousies de ses citoyens, et dans l'amour, de la liberté poussée jusqu'à un excès et une délicatesse insupportable". Nach Wegfall der außenpolitischen Bedrohung gab sich das Volk „sans réserve" seiner Leidenschaft hin. „Tout se décidait par l'intérêt et par la force"; ferner: „les causes universelles et la vraie racine du mal... cette jalousie entre les deux ordres". Discours (Anm. 10), III, 7, S. 424: „les choses s'y disposaient par elles-mêmes, que Polybe, qui a vécu dans le temps le plus florissant de la république, a prévu, par la seule disposition des affaires, que l'état de Rome à la longue reviendrait à la monarchie". 20 De institutiones (Anm. 17). 21 Politique (Anm. 8), V, 1, 11. 22 Discours (Anm. 10), III, 2, S. 342, 343. 23 Vgl. G. Lanson, Bossuet. Paris 1890, S. 198.
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läge seiner politischen Wissenschaft 24. Der Krieg aller gegen alle versperrt den Weg zu den elementarsten Zielen des Lebens, zu Selbsterhaltung und Glück, zur „félicité publique". Die Natur des Menschen ist zwar auch auf soziales Verhalten hin angelegt, aber zugleich verursacht die Heftigkeit der menschlichen Leidenschaften seine Asozialität. Er ist, wie es schon bei Augustinus heißt, auf Grund seiner ursprünglich angelegten Natur ein soziales Wesen, aber auf Grund seiner selbstverschuldeten Verderbnis ein asoziales Wesen25. Eine allgemeine und öffentliche Disziplinierung der Leidenschaften und damit die Bändigung des irdischen Chaos zum Wohle der Allgemeinheit ist nur möglich durch Gewalt und Zwang. Die Notwendigkeit uns gegen uns selbst zu schützen, ist für Bossuet wie für Hobbes der Ursprung der menschlichen Herrschaft. Aus wechselseitigem Bedürfnis und Interesse kommt es zur Aufrichtung von Herrschaft und Regierung. Erst die dabei gewonnene Autorität vermag das Chaos zu ordnen, die Leidenschaften zu zügeln und die besseren Seiten der menschlichen Natur zu entfalten 26. Ohne Obrigkeit ist ein Volk nur Menge, ein Chaos von Einzelnen, „une multitude confuse", in welcher nur anarchische Gewalt, aber kein übergeordnetes Recht herrscht 27. Durch die ordnende und gliedernde Gewalt einer Autorität von oben kommt erst Gesellschaft und Volk zustande; durch sie erst werden Gesetze möglich, die ohne Sonderinteresse und Leidenschaft auf rechter Vernunft allein gegründet sind 28 . Die politische Autorität ergibt sich also aus einer natürlichen Notwendigkeit; nur mit ihrer Hilfe läßt sich das göttliche Gebot der Liebe und des Friedens allgemein durchführen. Damit erweist sich jede weltliche Herrschaft als gottgewollt und mittelbar göttlichen Rechts. Diejenige Regierung, die den Absichten Gottes am nächsten kommt, d. h. die am weitesten von Anarchie entfernt ist und somit am sichersten Ordnung, Einheit und Frieden verbürgt, darf dabei am ehesten göttliches Recht für sich in Anspruch nehmen. Das ist für Bossuet die Monarchie. Aber das göttliche Recht des Monarchen gründet sich auf innerweltlicher Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit, nicht auf einem besonderen transzendenten Akt der Vorsehung. Der Träger der Souveränität ist geheiligt als unentbehrlicher Hüter von Ordnung und Gesetz. Das gilt jedoch für jede Obrigkeit, die eine solche Hüterin ist. Jede bestehende Obrigkeit ist für Bossuet unverletzlich, selbst wenn sie überhaupt keine Religion hätte, sobald sie Stetigkeit und Ordnung geschaffen hat, durch Gewohnheit geheiligt ist und sich als beständig erwiesen hat 29 . Darum verpflichtet er jeden, derjenigen Regierungsform anzuhangen, die er in seinem 24 Politique (Anm. 8), VIII, IV, 2; VII, 11, 4; 5. Avertissement contre Jurieu, in: Œuvres complètes (Anm. 8), Bd. VII, S. 489; Politique (Anm. 8) I, 11, 1; I, 11, 4 (vgl. Hobbes, Leviathan I, 13). 2 5 Politique (Anm. 8), I, 11, 1 (Civitas Dei XII, 27). 2 6 Ebd., I, 11, 1 und 1,111,3. 27
5. Avertissement contre Jurieu (Anm. 24), Bd. VII, S. 489. » Politique (Anm. 8), I, 11; I, III, 4; I, IV, 2; vgl. auch 5. Avertissement (Anm. 24), S. 489. 29 Politique (Anm. 8), VII, II, 4; 5. Avertissement (Anm. 24), S. 488. 2
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Lande gerade vorfindet und die eine gewisse Stabilität erreicht hat 30 . Bossuet ist also durchaus kein absolutistischer Doktrinär, sondern wertet die temperierten und republikanischen Regierungsformen geringer, weil bei ihnen die Inkonvenienzen und Gefährdungen größer seien31. Bossuet folgt Hobbes so weit, daß er geradezu eine Theorie der Interessen entwickelt, freilich keine abstrakt-individualistische Interessentheorie im Sinne Benthams, sondern eine Theorie, die natürliche Bindungen anerkennt, welche nicht auf Vertrag oder ausdrücklicher Zustimmung beruhen, sondern in der Natur des Menschen liegen und sozusagen als dauernde gleichbleibende Interessen wirksam sind. Auf dem Interesse fundiert er die Regierungen; das eigene Interesse verpflichtet die Regierten, sich in die Hände der Regierenden zu begeben, und Interesse verpflichtet die Regierenden, die Regierten nicht willkürlich zu unterdrücken 32. Der Vorzug der erblichen Monarchie ergibt sich aus der Interessen-Identität bei Fürst und Volk 33 . Das Interesse begrenzt selbst da die Willkür des Fürsten, wo er der Vernunft und Billigkeit kein Gehör schenken möchte34. Gegen das Faktum der Leidenschaft und Willkür setzt Bossuet als Gegengewicht das Faktum des Interesses als das natürlichste Mittel gegen Willkür und Unterdrückung 35, so daß er in kühner Vorwegnahme des Gedankens der „checs and balances" sagen kann: „le gouvernement va tout seul et se soutient, pour ainsi dire, de son propre poids" 36 . Das Entscheidende bei Bossuet aber ist, daß der faktische Ursprung menschlicher Herrschaft aus Interesse, Bedürfnis und Notwendigkeit ihr noch keine genügende Legitimität gibt, ebensowenig wie eine bestimmte Form der Herrschaft aus sich schon sie legitimieren könnte. Ja der Ursprung der politischen Gewalt ist bei der gefallenen Menschheit im tiefsten Grunde immer illegitim. Erst die wohltätige und stabilisierende Wirkung der Herrschaft vermag nachträglich und im Laufe der Zeit eine Herrschaftsordnung zu rechtfertigen 37. Bossuets Synthesis zwischen naturwissenschaftlicher und katholisch-dogmatischer Staatsauffassung zeigt, wie Atomisten und Katholiken des Grand Siècle in gleicher Weise die Welt als Kampf zwischen Chaos und Kosmos, Leidenschaft und 30 Politique (Anm. 8), II, 1,12. 31 Über Bossuets Anerkennung anderer Regierungsformen vgl. Politique (Anm. 8), X, VI, 2; Discours (Anm. 10) III, 3, S. 347,412; 5. Avertissement (Anm. 24), Bd. VII, S. 488. 32 Vgl. Nourrisson (Anm. 5), S. 144/45; 5. Avertissement (Anm. 24), Bd. VII, S. 493/94; Politique (Anm. 8) V, IV, 2. 33 Politique (Anm. 8) V, IV, 2: „son vrai intérêt est celui de l'Etat". Vom Prinzip der Interessen-Identität her gesehen, ist der Satz „L'Etat c'est moi" eher eine Rechtfertigung der unbeschränkten Machtfülle als eine hybride Ausweitung souveränen Selbstbewußtseins, vgl. Politique (Anm. 8), V, VI, 1. 34 5. Avertissement (Anm. 24), Bd. VII, S. 493; Politique (Anm. 8), VII, V, 17. 35 5. Avertissement (Anm. 24), S. 493: „l'intérêt de l'Etat les retenait dans de justes bornes". 36 Ebd. S. 494. 37 Ebd. S. 461. 5*
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Vernunft ansahen. Ferner ergibt sich, wie weitgehend Bossuet seine „Politique" auf einem wissenschaftlichen „raisonnement" gründet. Andererseits ist freilich unbestreitbar, daß er immer wieder Heilsgeschichte und Offenbarung als Demonstrationsmittel verwendet. Daraus resultiert seine doppelte Argumentationsweise, die für die Erkenntnis des Leitgedankens seiner „Politique" erst den Schlüssel gibt. Auf der einen Seite erscheint ihm Geschichte als das zwar nicht völlig gesetzlose, aber doch im einzelnen wechselnde und verworrene Spiel menschlicher Kräfte; auf der anderen Seite als der sinnvoll zusammenhängende und kontinuierliche Weg des Heils- und Erlösungsgeschehens. Da nun Gott und Wahrheit unveränderlich und über den Wechsel der Dinge erhoben sind, muß es nach Bossuet auch ein entsprechendes, allgemein einsichtiges Kriterium für Wahrheit und göttliche Führung geben. Was damit nämlich in Einklang steht, muß irgendwie an dieser Unveränderlichkeit teilnehmen. Was im geschichtlichen Wandel der Dinge Dauer hat, steht offenbar mehr im Einklang mit der göttlichen Weltordnung als alles das, was kaum die Probe eines Tages besteht. Ewige Dauer („durée perpétuelle") ist infolgedessen das Kriterium der wahren Religion. Ihre Unwandelbarkeit hebt sich von den „grands changements des empires" ab. Die irdischen Reiche stürzen „presque tous d'eux-mêmes"; die wahre Religion erhält sich demgegenüber „par sa propre force" 38 . Indem die Kirche die feste Größe im Wechsel der entstehenden und vergehenden Reiche ist, wird sie als göttliche Stiftung und Trägerin der Wahrheit bestätigt; ihrer Einheit und Kontinuität steht l'inconstance et l'agitation" der menschlichen Angelegenheiten gegenüber39. Die Ewigkeit der christlichen Religion vom Anfang der Menschheit her bis zur Gegenwart und in die Zukunft hinein bei gleichzeitiger Geschichtlichkeit in Form des jüdischen Volkes und dann in Form der Kirche ist für Bossuet das entscheidende, nachprüfbare und wunderbare Zeugnis ihrer Wahrheit. Der ganze Zustand der Welt beruht auf dieser feststellbaren Zweiheit, nämlich der „suite des conseils de Dieu dans les affaires de la réligion" und dem „enchaînement des affaires humaines"40. Dieses Verhältnis erstreckt sich auch auf die Beziehung der Kirche zu den Häresien. Der Festigkeit der Kirche steht im Bereich des Religiösen die Variabilität der Häresien gegenüber, die sich damit für Bossuet als menschliche Angelegenheiten entlarven. Der Häretiker halte sich für berechtigt, nach seiner Privatmeinung („opinion") Veränderungen und Neuerungen einzuführen, obgleich der Glaube doch unveränderlich sein müßte41. Im einzelnen Häretiker könne sich dabei echte Gesinnung finden, wenn er auch nur seiner „opinion" folge; denn „l'opinion fait le même effet dans l'esprit-des hommes que la vérité" 42 . Aber das Auge Bossuets erkennt in der Häresie als Ganzem, in ihrer Geschichte, den Makel des Irrtums an 38 Discours (Anm. 10), III, 8, S. 429. 39 Ebd., III, S. 342 und II, S. 300; Politique (Anm. 8), VII, III, 1. 40 Discours (Anm. 10), S. 4 - 6 ; Politique (Anm. 8), VII, V, 12. 41 42
Bossuet, Histoire des Variations, Préface, in: Œuvres complètes, Bd. VII, S. 4-10. Nourrisson (Anm. 5), S. 135.
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ihrer Neuheit und Veränderlichkeit; sie verwickelt sich „par une suite inévitable" in Widersprüche 43. Es ist die Grundlage von Bossuets „Histoire des Variations", daß die Veränderung in der Exposition des Glaubens ein Kennzeichen der Irrigkeit und der Inkonsequenz dieser Glaubensabweichungen ist. Die Häresien zeigen damit an sich selbst, daß sie nicht „des choses divines" seien, „qui de leur nature sont durables" 44. Die Kirche dagegen erscheint ihm als unveränderlich; sie verkünde immer das gleiche Evangelium und sei unfehlbar, d. h. sie erlaube keine Abweichung von ihrer Lehre 45 . Bossuet sieht die Weltgeschichte nicht moraltheologisch wie Augustinus, nach welchem in der Brust des ersten Menschen die beiden Gemeinden, civitas Dei und civitas terrena, auf der Erde ihren Ausgang genommen haben46, sondern mehr kirchengeschichtlich, wonach die geschichtliche Kirche mit den politischen Reichen und den religiösen Irrlehren in Konflikt gerät oder in Kontrast zu ihnen steht. Die Kirche ist nicht wie Augustins civitas Dei in diese Zeitlichkeit „gleichsam verflochten und vermengt" 47 , sondern ein besonderer, abgehobener, sichtbarer, gleichbleibender Faktor in der Geschichte, unabhängig von Macht und Schicksal der Reiche48. Somit scheinen Politik und Heilsgeschehen bei Bossuet weit auseinanderzutreten. Wohl mag die Vorsehung in das Wirrsal der menschlichen Dinge hineinwirken; aber der Sinn der irdischen Zwischengerichte bleibt doch für den Menschen in undurchdringliches Geheimnis gehüllt. Es gibt keine konkrete politische Form, die eine notwendige Stufe des Heilsgeschehens darstellt. Ähnlich wie Augustinus wendet sich Bossuet gegen die Vier-Monarchien-Lehre und behält auch die sieben Weltzeitalter nur aus praktischen Gründen und in modifizierter Form bei, ohne sie für ganz überzeugend anzusehen49. Nur bei wenigen profanen Ereignissen wird der göttliche Heilsplan sichtbar, so etwa beim Römischen Reich, das als mächtiges Mittel der Vorsehung erscheint, um dem Evangelium weiteste Verbreitung zu sichern 50. Das Heilsgeschehen wird also für das Auge des Menschen nur fragmentarisch sichtbar im Material der Weltgeschichte. Es bleibt also trotz des sinnvollen Gesamtverlaufs der Geschichte ein Mißverhältnis zwischen den vielfältigen menschlichen Angelegenheiten und dem göttlichen Heilsplan. Freilich gibt dieses Mißverhältnis eben auch die Möglichkeit und Veranlassung, die Welt als Welt zu durchdringen und die Sondergesetzlichkeit und Notwendigkeit der Politik darzu43
Défense de l'histoire des Variations contre la réponse de M. Basnage, in: Œuvres complètes, Bd. VII, S. 509; vgl. auch S. 535. 44 5. Avertissement (Anm. 24), VII, S. 499. 45 Histoire de Variations (Anm. 41), VII, S. 315. 46 Civitas Dei (Anm. 14), XII, 28 (27); XIV, 1; 2; 15. 47 Ebd., XI, 1. 48 5. Avertissement (Anm. 24), VII, S. 451. 49 Discours (Anm. 10), S. 33, 116. 50 Discours (Anm. 10), III, 1, S. 337.
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tun. Wenn es nun keine notwendige Zuordnung von Weltgeschichte und Heilsgeschehen gibt, so ist doch eine faktische Zuordnung möglich und für das Heil des einzelnen Menschen erforderlich. Bossuet führt auf seine Weise den augustinischen Ansatz weiter, daß auch der irdische Staat Abbild des himmlischen Staates sein kann, insofern er Frieden erstrebt und die Eintracht seiner Bürger durch eine Willensübereinstimmung erreichen will 5 1 . Der Erdenstaat nimmt an der lex aeterna teil und ist für Augustinus überhaupt erst „legitim", insofern er in der lex aeterna sein Grundgesetz sieht 52 . Diese lex aeterna ist für Augustinus in erster Linie das Sittengesetz. Bossuet ist der gleichen Ansicht. Er geht jedoch in gewissem Sinne darüber hinaus, indem er dem Sittengesetz wiederum jenes geschichtlich erfahrbare Kriterium beilegt: Die Übereinstimmung einer Herrschaftsordnung mit der lex aeterna zeigt sich an ihrer Dauerhaftigkeit. Eine Politik, die Stetigkeit und Frieden erwirkt, ist der allgemeinen Weltordnung offenbar angemessen. Mit der Schaffung von Stetigkeit und Sicherheit nimmt eine Herrschaft etwas von jenem Zeichen an, das auch die wahre Religion hat. Nur dokumentiert sich darin keine absolute Wahrheit, ebensowenig wie eine Politik jemals absolute Stabilität erreichen kann, sondern die relative Wahrheit, die auf die Verhältnisse und den Geist der Nationen Bezug hat. Auch von diesem Gesichtspunkt her ergibt sich, daß die Zeit, und nicht der Ursprung oder eine bestimmte Form die Regierung legitimiert. Je älter die Regierung ist, um so legitimer ist sie 53 ; denn die Zeit streitet zugunsten des Rechts und der Unterdrückten 54. Freilich bleibt den Staaten durch ihren meist illegitimen Ursprung immer eine gewisse „perpétuelle instabilité" 55 . Bossuet legt sich auch hier nicht auf bestimmte politische Formen fest; denn jede Behörde legitimiert sich durch Friede und Dauer als dem Genius einer Nation und der Natur des Menschen angemessen56. Durch Dauer wird sie schließlich ein 51 Vgl. Civitas Dei (Anm. 14), XV, 2. 52 Sermo 81, 2: „nihil esse justum atque legitimum, quod non ex hac aeterna lege sibi homines derivaverint". 53 Politique (Anm. 8), II, I, 4: „Ces empires, quoique violents, injustes et tyranniques d'abord, par la suite des temps et par le consentement des peuples, peuvent devenir légitimes: c'est pourquoi les hommes ont reconnu un droit qu'on appelle de conquête"; Politique (Anm. 8), IX, III, 6: „On voit par là, que, pour le bien de la paix, et pour la stabilité des choses humaines, les royaumes fondés d'abord sur la rébellion, dans la suite sont regardés comme devenus légitimes, ou par la longue possession, ou par les traités et la reconnaissance des rois précédents"; Politique (Anm. 8), II, II, 2: „ce droit de conquête, qui commence par force, se réduit, pour ainsi dire, au droit commun et naturel, du consentement des peuples et par la possession paisible"; Politique (Anm. 8), IX, III, 6, sowie III. Reg. XIV, 26 und XII, 24, in Bezug auf das Verhältnis von Juda zu Israel: „la loi de la possession a eu lieu dans un royaume qui avait joint la révolte contre la révolution véritable à la défection." 54 Politique (Anm. 8), Vili, II, 1. 55 Ebd., IX, III, 6. 56 Ebd., II, I, 12: „On doit s'attacher à la forme de gouvernement qu'on trouve établie en son pays. Il n'a aucune forme de gouvernement ni aucun établissement humain, qui n'ait ses
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bedeutsames Moment im Gesamtverlauf der Weltgeschichte, dem eine geschichtliche Aufgabe zuzuschreiben ist. Kirchlicher Traditionalismus und deduzierendes Räsonnement führen Bossuet zum selben Ergebnis, zu einem Legitimismus eigener Prägung. Während Hobbes behauptete, daß jede Regierung sich durch den tatsächlichen Besitz der Macht bereits legitimiere, Herrschaft de facto immer auch Herrschaft de jure sei, und im Gegensatz zu ihm diejenigen, welche an das „Göttliche Recht" einer bestimmten Dynastie glaubten, behaupteten, daß eine durch ihr Charisma berufene Dynastie - auch wenn gestürzt und ohne Regierungsgewalt - einzig und allein legitime Herrschaft ausüben könne, vereinigte Bossuet den Gedanken der Tatsächlichkeit der Gewalt mit dem Gedanken des alt-überkommenen Besitzes der Herrschaft. Beide zusammen legitimieren erst eine Regierung. Er glaubt nicht an die ewige Legitimität einer abgesetzten Dynastie. Das Recht der Herrschaft bleibt nicht ohne den tatsächlichen Besitz der Gewalt. Andererseits genügt nicht jeder momentane Besitz der Gewalt schon zur legitimen Ausübung der Herrschaft. Gewalt wird erst rechtmäßig durch langen Besitz, durch „Ersitzung", durch „Verjährung", durch „praescriptio" 57. Der lange Besitz wird durch die von der Regierungsautorität errichtete und gesicherte Sozialordnung ermöglicht; er bezeugt die relative Wohltätigkeit und Zweckmäßigkeit einer Herrschaft und läßt ihren illegitimen Ursprung verjähren. Ersitzung und Verjährung machen aus einer Herrschaft de facto eine Herrschaft de jure. Dieser Zentralgedanke seiner politischen Theorie entspricht jenem Begriff des Römischen und auch des Kanonischen Rechts, der bereits in Tertullians De praescriptione zur Verteidigung der kirchlichen Tradition angewandt wurde 58 , der im späteren Mittelalter bei der theoretischen Begründung von Herrschaftsrechten (vor allem der Legitimierung der Landesherrschaften) eine Rolle spielte59 und später ein Schlüsselbegriff in Burkes Konservativismus war. Der Sache nach ist dieser Begriff Bossuet immer gegenwärtig geblieben; hier zeigt er sich als Konservativer schlechthin: „on doit s'attacher à la forme du gouvernement qu'on trouve établie dans son pays" 60 . Entscheidend ist für ihn die evidente Notwendigkeit und Utilität des Prinzips der Ersitzung zur Erhaltung der bestehen-
inconveniens, de sorte qu'il faut démeurer dans l'état auquel un long temps a accoutumé le peuple. C'est pourquoi Dieu prend en sa protection tous les gouvernements légitimes, en quelque forme qu'ils soient établis: qui entreprend les renverser, n'est pas seulement ennemi public, mais encore ennemi de Dieu"; vgl. 5. Avertissement (Anm. 24), VII, S. 488; vgl. Lanson (Anm. 23), S. 218. 57 Vgl. Lanson (Anm. 23), S. 219/20, 233. Der Terminus „prescription" findet sich freilich nur selten (ähnlich wie bei Burke), ist aber dem Sinne nach das entscheidende Legitimationsprinzip. 58 Vgl. Bossuets Bezug auf Tertullians De praescriptione im Préface der Histoire des variations (Anm. 41), Bd. VII und auch die häufige Anführung Tertullians, bes. im 5. Avertissement (Anm. 24). 59 Ε A. v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates. Regensburg 1952, S. 32 ff. 60 Politique (Anm. 8), II, 1, 2.
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den Ordnung, die, auch wenn noch so schlecht, immer noch besser als Anarchie ist. Er fand seine Haltung aus der Bibel bestätigt, wenn Christus, obgleich die Römer Usurpatoren waren, sagte: Gebet dem Caesar, was des Caesars ist. Das Verhalten Christi und auch der frühen Christen wurde von Bossuet im Sinne eines prinzipiellen Konservativismus ausgelegt61. Bossuet leugnete nicht die Möglichkeit einer Volkssouveränität als Regierungsgrundlage, wohl aber einer Volkssouveränität als Grundlage eines Widerstandsrechtes, das verändern will 6 2 . Eine Volkssouveränität, die sich jederzeit das Recht nehmen darf, eine neue Form der Herrschaft aufzurichten oder grundlegende Veränderungen herbeizuführen, lehnt er ab 63 . Das Volk in einer Demokratie hat für ihn nicht mehr Recht, sich selbst einen Herrn zu geben, als der König in einer Monarchie hat, eine Republik einzurichten 64. Die Veränderung als solche ist abzulehnen; sie hat die Kennzeichen des Irrtums an sich. Aus dem gleichen Grunde wendet sich Bossuet auch gegen jeglichen Despotismus, den er von der absoluten Monarchie unterscheidet. Der Despot kann das Gesetz jederzeit ändern; sein Augenblickswille ist entscheidend. Der Despotie fehlt das Moment der Kontinuität. Die vererbte königliche Macht in einer Monarchie aber bleibt mit sich selbst identisch. Sie ist keineswegs willkürlich, wenn sie auch unbeschränkt durch menschliche Gewalt ist; sie hat eine gesetzliche Ordnung: „c'est qu'il y a des lois dans les empires, contre lesquelles tout ce qui se fait est nul de droit chacun demeure légitime possesseur de ses biens" 65 . Was die Fürsten, auch bei entgegengesetzten Anlagen und Liebhabereien, übereinstimmend festhalten, ist das gleichbleibende Interesse des Staates, das die Gesetze ausdrücken, und das nach Bossuet notwendig mit Gerechtigkeit und Billigkeit übereinstimmt. Wer immer sich ändert, setzt vorläufig nichts Besseres oder Gleichwertiges an die Stelle. Der wahre „homme d'etat", „le vrai sage ne change jamais" 66 . Die guten Berater des Monarchen sind immer Bewahrer; sie sind „des registres vivants", die nichts ändern ohne besondere Notwendigkeit, und die Gesetze von der Stetigkeit erstreben, deren menschliche Dinge überhaupt fähig sind 67 . Es ist für Bossuet die erste Auswirkung wirklicher Gerechtigkeit, daß man jedem Glied des Gemein5. Avertissement (Anm. 24), VII, S. 463. 62 Vgl. Discours (Anm. 10), III, 3, S. 412; vgl. Lanson (Anm. 23), S. 230. 63 Vgl. Politique (Anm. 8), II, 1, 2: „Chaque peuple doit suivre comme un ordre divin le gouvernement établi dans son pays". 64 Lanson (Anm. 23), S. 236; vgl. Grotius, De jure belli ac pacis. I. c. 111, § 8 (Das Volk kann die Regierungsart nach Belieben wählen, hat aber, wenn es gewählt hat, kein Recht mehr, die Macht wieder an sich zu nehmen, wie eine Frau bei Wahl des Ehegatten, dem sie nach der Wahl Gehorsam schuldet). 65 Politique (Anm. 8), VIII, II, 1. 66 Ebd., X, III, 6. 67 Ebd., X, II, 3.
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wesens die ihm früher zugebilligten Rechte beläßt und an die vorhandenen Rechtsverhältnisse anknüpft. Damit erst genügt man dem „caractère" und dem „esprit des nations" 68 . Hier tritt der Fortschritt gegenüber Hobbes hervor: Der Fürst hat zwar die Macht, aber nicht das Recht, alles zu tun, weil er die Identität seines Staatswesens wahren muß, wenn er legitim bleiben will. Die legitime Herrschaft ist darum der Willkürherrschaft, sei sie von oben oder unten, entgegengesetzt69. Selbst das Recht des Eroberers ist nach Bossuet beschränkt durch die vorgefundenen Zustände. Je mehr er an sie anknüpft, um so sicherer wird er legitime Herrschaft begründen. Die Fäden mit der Vergangenheit, das Heimat- und Volksgefühl („le souvenir de la parenté, et des origines communes") sollen möglichst erhalten bleiben 70 . Der Konservativismus ist also bestimmend und verpflichtend für Herrscher und Beherrschte, Eroberer und Unterworfene. Gerade die Erhaltung alten Rechts und überkommener Sitten verbindet mit der Herrschaftsordnung die Idee der Unsterblichkeit und läßt sie wie das Universum regiert erscheinen durch Gesetze und Beschlüsse von unsterblicher Dauer. Ein solches Staatswesen nähert sich der Stabilität der Weltordnung 71. Aus diesem Konservativismus heraus entscheidet sich Bossuet persönlich als Franzose des 17. Jahrhunderts für die Monarchie. Zwar kehren die üblichen Gedankengänge vom göttlichen Königsrecht auch bei ihm wieder 72 , aber sie werden vorwiegend vom Kriterium der Stabilität und Stetigkeit her gefolgert. Das allgemein einsichtige Kriterium für den guten Staat liegt - ähnlich wie bei der Religion - in seiner Stetigkeit, im Übergewicht der ordnenden und erhaltenden Kräfte. Die Religion unterstützt diese Stetigkeit, gleichgültig - so heißt es erstaunlicherweise - ob sie wahr oder falsch ist 7 3 . Die wahre Religion tut das aber in erhöhtem Maße; sie macht die Konstitution eines Staates besonders fest und verbietet Widerstand gegen die Obrigkeit 74 . Die Religion ist zwar ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat, aber ihrer Wirkung nach staatsfestigend. Die Häresie ist dagegen, verglichen mit der wahren Religion und weil sie Neuerungen einführen will, staatszersetzend. Bossuet betrachtet es als üble Folge der Reformation, daß sie die 68 Ebd., X, II, 3; VIII, III, 2; VIII, III, 3. 69 Ebd., VIII, II, 1: „le gouvernement légitime, opposé par sa nature, au gouvernement arbitraire". 70 Ebd., IX, I, 6. 71 Ebd., VIII, III, 3: „La conservation de ces anciens droits et de ces louables coutumes, concilie aux grands royaumes une idée, non seulement de fidélité et de sagesse, mais encore d'immortalité, qui fait regarder l'Etat comme gouverné, ainsi que l'univers, par des conseils d'une Immortelle durée". 72 5. Avertissement (Anm. 24),VII, S. 488; Politique (Anm. 8), II, I, 7; II, I, 3 und 10; II, I, 10; V, IV, 2; V, IV, 1; IV, II, 2; I, I, 7. 73 Politique (Anm. 8), VII, II, 3. 74 Ebd., VII, II, 4; 5. Avertissement (Anm. 24), VII, S. 458,459,478.
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Untertanen gegen die Fürsten gewappnet und die Welt mit Bürgerkrieg erfüllt habe; Gehorsam und Treue gehörten aber zum echten Christentum 75. Die Staatsgewalt könne nur durch Bekämpfung der Häresie ihre alte Stärke zurückerlangen 76 So wird bei Bossuet der soziale und politische Wert der Religion ein Mittel, um ihren Wahrheitsgehalt zu erweisen - im äußersten Gegensatz zu Rousseau, für den die politischen Religionen des Altertums zwar nützlich, aber falsch waren, das Christentum hingegen wahr, aber politisch unbrauchbar ist. Für Bossuet wird die Wahrheit der Religion und die Naturgemäßheit der Politik am selben Zeichen sichtbar, an ihrer konservierenden, stabilisierenden und friedenstiftenden Kraft, an ihrer Kontinuität und Identität. Diesen Grundsatz wandte er auf die bedeutendste Macht seiner Zeit, auf das Frankreich Ludwigs XIV., an. Frankreich, so sieht es Bossuet, hat das außerordentliche Glück, daß es die älteste, natürlichste und stetigste Regierungsform, nämlich die erbliche Monarchie, mit der wahren, also damit auch der ältesten, natürlichsten und stetigsten Religion vereinigt 77 . Durch die unverletzte Verbindung mit Religion und Kirche hat Frankreich seit Jahrhunderten sich seinen Bestand und seine Kontinuität bewahrt 78. Die Könige von Frankreich waren stets Verteidiger der Kirche; Frankreich ist das einzige Königreich, in welchem eine königliche Familie seit sieben Jahrhunderten ohne Unterbrechung regiert habe und immer katholisch gewesen sei. Die Gallikanische Kirche insbesondere sei eine Kirche der Märtyrer, der heiligen und gelehrten Bischöfe gewesen79. Hier mache sich in der Regierung der menschlichen Angelegenheiten „une providence particulière" bemerkbar 80. Wie die christliche Religion vom Anfang der Welt her ihre Kontinuität hat, so habe Frankreich seine Kontinuität seit seiner Bekehrung zum Christentum. In ihm vereinigen sich die zwei Grunderscheinungen des geschichtlichen Lebens, Dauer und Wechsel, Heilsgeschehen und Weltgeschichte, zu gleichsinniger Wirkung. Die älteste Religion und die älteste Regierungsform, das Optimum der Religion und das Optimum der Politik, Wahrheit und Natur, kommen hier zusammen und bewirken die am weitesten zurückreichende „Ersitzung", ein Maximum an Legitimität, eine Identität von Macht und Recht und das dem Menschen mögliche Höchstmaß an Frieden. Die Einheit des in Gott ruhenden Weltgeschehens tritt in Frankreich zutage. Was früher getrennt war, was nämlich Israel in der Religion und Rom in der Politik verkörperten, vereinigt sich in Frankreich. Die unmittelbare und einseh75 5. Avertissement (Anm. 24), S. 451 ff.; 452. 76 De institutiones (Anm. 17), V, S. 9. 77 Politique (Anm. 8), II, I, 7; II, I, 3; II, 1, 10: „Ainsi la France peut se glorifier d'avoir la meilleure constitution d'Etat qui soit possible, et la plus conforme à celle que Dieu même a établie". 78 De institutiones (Anm. 17), V, S. 9. 79 Politique (Anm. 8), VII, VI, 14. so Ebd., VII, VI, 7.
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bare Zuordnung von Politik und Heilsgeschehen ist hier vollzogen. Ludwig XIV. ist der neue Konstantin, ist Theodosius und Karl der Große. In dieser Diagnose seiner Gegenwart ist Bossuet grundverschieden von Augustinus. Das Anliegen des Bischofs von Hippo bestand ausdrücklich darin, den Zusammenhang von Politik und Heilsgeschehen zu lösen. Die Geschichte der Civitas Dei, der Gottesgemeinde, ist nicht sichtbar gebunden an die profane Geschichte oder gar an das Geschick eines bestimmten Reiches. Augustins Wendung gegen die Vier-Monarchienlehre sollte gerade die Unvergleichbarkeit beider Bereiche dartun. Das Schicksal Roms und aller profanen Staaten berührt nicht die Geschichte der Gemeinde Gottes, die über den Wechsel der politischen Formen hinweg ihren eigenen inneren Zusammenhang hat. Augustinus löste dadurch die Kirche aus der Verbindung mit dem Imperium Romanum und rettete sie über den Untergang Roms hinweg in das Mittelalter hinein 81 . Für Bossuet hingegen hat die Civitas Dei deutlicher ein äußeres geschichtliches Kriterium, die sichtbare Kontinuität in der Kirche. Frankreich nimmt an dieser Kontinuität teil, weil es gleichzeitig in der Ordnung der Natur und der Wahrheit steht. Bossuet knüpft wieder enger zusammen, was Augustinus gelöst hat. Freilich vollzieht sich diese Verknüpfung nicht am Faden einer weltgeschichtlichen Logik und mit geschichtlicher Notwendigkeit, sondern aus einer providentiellen Gnade heraus. Frankreich ist für Bossuet durchaus nicht das Tausendjährige Reich Christi, sondern das relative und zeitbedingte Optimum der Vereinigung von Staat und Kirche. Es bildet keine notwendige Stufe im Heilsgeschehen, sondern bleibt der Kontingenz und Relativität des Geschichtlichen verhaftet und abhängig von menschlicher Entscheidung. Denn nur der allgemeine göttliche Heilsplan vollendet sich für Bossuet; unerachtet aller Wechselfälle in Politik und Geschichte; Anfang, Mitte und Ende der Weltgeschichte sind in ihm festgelegt. Dazwischen liegt das Feld menschlicher Entscheidung, die eigentliche Geschichte. Hier vermag die wahre Politik dem Heilsgeschehen im Einzelmenschen den Weg zu bereiten. Wie das Werk der Gnade beim Einzelmenschen die Natur voraussetzt, so setzt die geschichtliche Auswirkung des Erlösungswerkes eine naturgemäße, d. h. konservative Politik voraus. Diese erst schafft und sichert jene Ordnung, in welcher der Mensch am ehesten sich der Wahrheit öffnet. Die gute Politik ist für Bossuet Mithelferin am Heilsgeschehen; ihr Ergebnis ist Erhaltung und Friede, ihr Lohn der dauerhafte Erfolg. Dieser Erfolg zeigt zugleich ihre innere Berechtigung und das Berufensein zu einer größeren geschichtlichen Aufgabe. Frankreich ist dafür in den Augen Bossuets das eindrucksvollste Beispiel. 81 Vgl. Johannes Straub, Christliche Geschichtsapologetik in der Krisis des Römischen Reiches, sowie dersAugustinus' Sorge um die Regeneratio Imperii, in: Karl Rüdinger (Hrsg.), Unser Geschichtsbild. München 1954, S. 41 ff. und S. 73 ff.
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Bossuets Anschauung über Politik und Geschichte macht deutlich, wie der neuzeitliche Konservatismus im Traditionalismus des Christentums, im Gedanken der successio fidei, wurzelt. Bossuet hält diese Beziehung ausdrücklich fest; sein stärkstes Argument ist der Hinweis auf die innere Entsprechung, in welcher die Unveränderlichkeit der christlichen Wahrheit und die Unveränderlichkeit einer irdischen Friedensordnung zueinander stehen. Diese Entsprechung erst gibt seinen rationalen Argumenten für eine konservativ-autoritäre Politik ihre letzte Schlüssigkeit und Bestätigung. Beide Seiten vereinigen sich zu einer christlich-konservativen Weltanschauung. Es kennzeichnet den geschichtlichen Ort Bossuets, daß die beiden Wurzeln seiner Weltanschauung noch deutlich geschieden werden können, zugleich aber aus dem Impuls zu universaler, Transzendenz und Immanenz umfassender Weltschau zusammengeschlossen sind, fast vergleichbar jenen barocken Groß-Fresken, die trotz des Bruches in der Welt irdischen Raum und himmlische Unendlichkeit ineinander übergehen lassen und zu einem Bild des Universums zusammenschließen. Aber Bossuet ist doch schon ganz Konservativer, den nur die Intensität des religiösen Fühlens, das Bedürfnis nach Orientierung am Transzendenten und der Kreis der politisch-sozialen Anschauung von Edmund Burke unterscheidet. Für Bossuet und Burke legitimiert sich die Politik aus ihrem Zusammenhang mit der Überlieferung und aus ihrer konservierenden und stabilisierenden Kraft. Beiden dient die Politik nicht unmittelbar der Durchsetzung einer allgemeinen Idee oder Wahrheit, sondern der Aufrichtung des Friedens unter organischer Anknüpfung an die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Zustände. Der Friede erzeugt gegenseitiges Verstehen und bereitet der Wahrheit, die nur ihren eigenen Gesetzen folgend sich ausbreiten kann, den Weg 82 . Bei Bossuet ist vielleicht stärker der Gedanke gegenwärtig, daß nur eine Politik, die die „Methode der Natur" (Burke) befolgt, d. h. die konservativ ist, zur angemessenen Auswirkung des Heilsgeschehens im Laufe der menschlichen Geschichte beitragen kann. Bossuets deduzierendes Räsonnement vollendet sich also im christlichen Glauben; seine „Politique" dient dem Heilsgeschehen. Aber sie behält nichtsdestoweniger ihren eigenen rationalen Begründungszusammenhang und ist Ausdruck einer politischen Weltanschauung, die das konfessionelle Prinzip gegenüber dem konservativen Prinzip in allen Fragen zurückstellt, die politischer Natur sind. Bossuet ist mithin nicht nur der letzte große Geschichtstheologe, sondern auch der erste große Konservative, der in der Tat - ohne unbedingte Bindung an ideale politische Formen und Zustände - prinzipiell konservativ gesonnen war und aus dem Zusammenhang einer konservativen politischen Weltanschauung gedacht hat. Damit hat er dem politischen Denken seiner Zeit eine Möglichkeit der Orientierung und der Stellungnahme eröffnet, die in dieser Form neu war. Hierin liegt sein eigener Beitrag zur politischen Ideengeschichte der Neuzeit, der nicht übersehen werden darf.
82 Vgl. Edmund Burke, Works (hrsg. Bohn), Bd. VI, S. 98.
John Locke Vom ständischen zum bürgerlichen Widerstandsrecht 1. Zur politischen Theorie John Lockes Nach den eingehenden Forschungen von Peter Laslett und John Dunn1 ist es Gemeingut der Historie geworden, daß Lockes Two Treatises of Government ursprünglich nicht als Rechtfertigung der Glorreichen Revolution von 1688/89 gedacht waren. In der Publikation von 1689 nehmen zwar einige Textstellen ausdrücklich Bezug auf sie, aber die Substanz des Konzepts stammt aus den Jahren der ,Exclusion Crisis 4 (1679/82), bei der es um den Ausschluß des katholischen Jakob von York von der Thronfolge ging. Der zweite Traktat Essay concerning the True , Original , Extent and End of Civil Government wurde zuerst geschrieben. Der erste Traktat über The False Principles and Foundation of Sir Robert Filmer and His Followers war die Antwort auf die Veröffentlichung einiger ,Tracts4 von Filmer unter dem Titel The Freeholder's Grand Inquest (1679) und der postumen Erstpublikation seiner Patriarcha or the Natural Potiver of Kings (1680). Lockes politische Theorie war also ein ,Explosion Tract4 und kein Revolutionspamphlet. Von einer nachträglichen Rechtfertigung der Revolutionsereignisse kann keine Rede sein. Nichtsdestoweniger verdankte die Glorreiche Revolution ihre Langzeitwirkung als revolutionäres Ereignis der vermeintlichen Rechtfertigung aus der Feder von John Locke. Indessen war sie keine Revolution im modernen Sinne; schon weil ihr revolutionärster Vorgang, die Vertreibung des Königs, einem konservativen Anliegen, der Erhaltung der Monarchie, diente. Sie öffnete aber dem modernen England den Weg, und mancherlei auf diesem Wege wurde von Locke antizipiert oder aus Lockeschen Gedankengängen begründbar. Einige Dinge bleiben verwunderlich und haben Anlaß zu einer Revision der landläufigen LockeInterpretationen gegeben, die sich allzu lange von der enormen geschichtlichen Wirkung seiner Schriften beeindrucken ließen. Verwunderlich ist einmal, daß Locke als Verfasser der beiden Traktate anonym bleiben wollte und diese Anonymität auch bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus gewahrt hat. Nicht weniger verwunderlich ist ferner, daß er den Traktat gegen Filmer trotz seiner fragmentarischen Form und trotz seiner altertümlichen Begründungsweise seiner eigenen 1
John Locke, Two Treatises of Government. A Critical Edition with an Introduction and Apparatus Criticus by Peter Laslett, 2. Aufl., Cambridge 1970, Introduction S. 51, 61; John Dunn, The Political Thought of John Locke. An Historical Account of the Argument of the ,Two Treatises of Government', Cambridge 1969.
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politischen Theorie voranstellte, also auf seinen obsoleten Gegenpart von 1679/80 hin argumentierte. Er sah seinen Gegner nicht unter den zeitgenössischen Naturrechtsdenkern und Verfassungskonstrukteuren, sondern im Traditionalismus Sir Robert Filmers. Lockes Kontroverse mit Filmer war für die politische und soziale Ideengeschichte von grundlegender Bedeutung. Filmer war nämlich kein Einzelgänger, sondern ein repräsentativer Denker, welcher wie kaum ein zweiter die dominierenden geschichtstheologischen Vorstellungen auf seiner Seite hatte. Die Auseinandersetzung mit ihm nötigte Locke zu historisch-genetischen Begründungsweisen, welche ihm die Grenzen seines eigenen naturrechtlichen Rationalismus verdeutlichten. Er überschritt damit den Rahmen der üblichen Urvertragstheorien und sah sich genötigt, zusätzliche Argumente ins Spiel einzubringen. Lockes Abstraktionsvermögen im Verein mit seiner Imaginationskraft versetzte ihn in die Lage, die Argumente einer solchen vorwiegend historisch-parochialen Kontroverse über den Ursprung politischer Herrschaft auf die Ebene einer allgemeinen Theorie zu transponieren, die das Niveau der zeitgenössischen und literarischen Tradition hinter sich ließ und kommende Zusammenhänge antizipierte. Seine Polemik gegen den Filmerschen Paternalismus kam nicht umhin, die archaischen Stufen und Formen menschlichen Beieinanderseins zur Sprache zu bringen. Er relativierte Filmers Behauptung von der ursprünglichen Vatergewalt Adams durch Hinweise auf historische Fakten, denen zufolge bereits im Naturstand politische Herrschaft auf der Basis des Konsens freier und gleicher Individuen vorstellbar und auffindbar sei (§ 103). Locke gibt zu, daß „in the ferst ages of the world" (§§ 36, 47) die patriarchalisch-monarchische Herrschaftsform im »natürlichen4 Schutzinteresse aller derer lag, die noch auf der Ebene der Subsistenzökonomie lebten (§§ 107, 108). Damit verweist er Filmers Geltungsansprüche auf eine vergangene historische Stufe zurück, legitimiert aber so zugleich seine eigene politische Theorie historisch. Aus Lockes Zugeständnissen an Filmer ergibt sich erst, daß seine politische Theorie - entgegen dem ersten Eindruck - „als eine historisch orientierte Theorie seines eigenen Zeitalters" verstanden werden kann2. Nichtsdestoweniger geht es Locke um eine widerspruchsfreie Rechtsbegründung. Er weist ausdrücklich auf seine eigene normative Argumentationsweise hin, die über die historischen Fakten hinaus nicht das, was gewesen ist, sondern das, was recht ist, suchen will: denn „at best an argument from what has been to what should of right be, has no great force" (§ 103). Er hält mithin am Primat der moralisch-naturrechtlichen Normen gegenüber der Geschichte fest und hütet sich, die naturrechtliche Vernunft in Geschichte aufzulösen, unbeschadet der durchgehenden historischen Bedingtheit der Verwirklichungschancen solcher Normen. Lockes eigentümliche Verbindung rationaler und historischer Kriterien setzt seine Grundkonzeption in die Nachbarschaft von Edmund Burke und Ernest Renan3. 2 Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973, S. 123 ff.
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Der Naturstand ist bei Locke bereits das Ergebnis von Geschichte; er findet sich allenthalben auch noch in der Gegenwart. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß bei Locke der Naturstand beträchtlich erweitert und der status politicus beträchtlich eingeengt ist. Es gibt für ihn eine immanente Soziabilität und eine »natürliche4 Gerechtigkeit, also ein ,Jus4, das den ,Leges4 vorausgeht, eine Art Rechtskonstitution, deren Bewahrung in der »Political Society4 dem ,Government4 aufgegeben ist. Lockes Naturstand ist also für seine politische Theorie nicht regulierend, sondern konstituierend. Im Naturstand (§§ 4 - 1 5 ) gibt es keine Herrschaft von Menschen über andere Menschen. Keiner hat Gewalt oder Rechtskompetenz über den anderen. Das Naturgesetz der Selbsterhaltung bindet alle in gleicher Weise und verpflichtet alle wechselseitig zum Schutz von „Life, Health, Liberty and Possessions44 (§ 6), da jedermann dem Naturgesetz Geltung zu verschaffen und Verstöße dagegen zu ahnden hat. Jedermann ist Exekutor des Naturgesetzes und damit zugleich Richter in eigener Sache (§ 13). Das ungeschriebene Gesetz der Natur ist in Herz und Vernunft von jedermann lebendig, erkennbar „by the light of Nature44 und gleichzusetzen mit dem Willen Gottes (§ 135). Das Gebot Gottes als ,Divine Law 4 und das Naturrecht als ,Law of Nature4 sowie die menschliche Vernunft als ,Rule of Reason4 machen bereits ein Zusammenleben der Menschen in wechselseitiger Hilfe, aus gutem Willen und mit allgemeiner Friedensbereitschaft, möglich, bevor eine Obrigkeit installiert (§19) und bevor ein Obrigkeitsrecht als ,Law of the Law Courts4 in Geltung gesetzt ist - und auch bevor ein »Philosophical Law 4 der öffentlichen Meinung (Law of Opinion and Reputation) sich innerhalb einer politischen Gemeinschaft gebildet hat. Umgekehrt bringt der Status einer politischen Gemeinschaft den Naturstand nie ganz zum Verschwinden. Er bleibt gegenwärtig in vielerlei Grenzsituationen und Notständen, die den Menschen ad hoc nötigen, Richter in eigener Sache zu sein. Im Grunde gibt es bei Locke keinen qualitativen Unterschied zwischen natürlichen und politischen Daseinsbedingungen, zwischen einer ,Natural Community4 und einer »Political Society4 oder jedenfalls keinen so weitgehenden Unterschied, daß eine Rückkehr zur »Natural Community4 unmöglich wäre. Es ist gewiß abwegig, hinter Lockes politischer Theorie eine schlüssige Philosophie zu suchen. Für ihn gehört es zum Wesen der Politik, daß sie nicht in sich kongruent sein kann und mit den Gegebenheiten sich abgeben muß, die sich jeweils darbieten. Eine politische Entscheidung ist meist das Ergebnis der Umstände und höchst selten das Ergebnis einer geschlossenen Weltanschauung. Auch die dabei verwendeten Argumente sind meist ad hoc gemeint und stehen im Dienste politischer Selbstbehauptung. Eine holistische Weltansicht entspricht zwar einem Bedürfnis der Vernunft, hat aber mit Politik wenig zu tun und schließt sie, streng 3 Martin Seliger, Locke, Liberalism and Nationalism, in: John W. Yolton (Hrsg.), John Locke. Problems and Perspectives, Cambridge 1969, S. 24.
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genommen, sogar aus. Statt des Rahmenbezugs auf eine systematische Philosophie gilt der Rahmenbezug auf die konkrete Situation oder auf ein bestimmtes Gemeinwesen. Hier ist Locke Empiriker: Sein Absehen von letzten Gesichtspunkten schließt nicht aus, daß Politik sich von ihnen bestimmen lassen kann, insoweit sie zur Wirklichkeit der menschlichen Dinge gehören. Locke kam es auf die tagtägliche Handlungsweise des praktischen Politikers an und auch auf die vorgegebenen maßgebenden Standards menschlichen Urteilens und Meinens, also auf das praktische Sichzurechtfinden: „Our business here is not to know all things, but those, which concern our conduct'4, lautet sein klassisches Wort. Dieses ,Management of Public Affairs 4 hängt von tausend Faktoren ab und ist nach Locke nicht schlüssig demonstrabel: Der Mensch kann sich zwar aus geschichtlichen Beispielen und Analogien belehren lassen, aber mehr als eine vage Wahrscheinlichkeit (probability) ist ihm nicht erreichbar (Journal, 26. Juni 1681)4. Ohnehin ist Lockes Philosophie ambivalent. Einerseits ist er Sensualist und Empiriker, andererseits drückt er sich manchmal wie ein Cambridger Platoniker aus. Die Seele ist für ihn zuerst ,tabula rasa4, also „a white Paper void of all Characters44. Das leere Blatt des Geistes wird von der Erfahrung beschrieben, so daß für jeden die Welt neu anfängt. Das bedeutet indessen nicht, daß wir alle frei sind von dem, was vorausgegangen ist. Das Gegenteil ist richtig! Diese Doktrin löst den Menschen völlig in seine Geschichtlichkeit auf und sieht ihn als Produkt dessen, was er sich in seinem geschichtlichen Ort angeeignet hat. Lockes Property-Philosophie läßt sich damit gut vereinbaren. Locke streitet nicht angeborene Vermögen (faculties) der Seele ab und weiß zwischen äußerer und innerer Erfahrung (Sensation and Reflection) zu unterscheiden. Aber Allgemeinbegriffe sind ihm lediglich innerliche Zustände der Seele, die erst unter Mitwirkung von Zeichen, Symbolen und Sprache mitteilbar werden. Nur die in Mathematik und Moral erreichbare Gewißheit gilt ihm unabhängig von Erfahrung. Für ihn haben sittliche Grundsätze die gleiche Gültigkeit wie die mathematischen Axiome. Die Demonstrierbarkeit mathematischer Erkenntnisse und moralischer Urteile sowie die von ihm festgehaltene Gewißheit einer letzten Ursache der endlichen Substanzen, also das Dasein Gottes, weisen ihn als Sachwalter eines Piatonismus aus, den er vornehmlich von Ralph Cudworth (1617-1688) und aus dessen Buch The True Intellectual System of the Universe (London 1678) übernommen hat. Auch aus Lockes Terminologie ergibt sich, daß er ein ethischer Apriorist war; außerdem war er der Erzieher des Dritten Shaftesbury, des Philosophen der inneren Erfahrung, und schließlich verbrachte er seinen Lebensabend (1691-1704) zu Oates (Grafschaft Essex) im Hause von Sir Francis Masham unter der Obhut von Lady Damaris Masham, die eine Tochter von Ralph Cudworth war. Als Empiriker hielt Locke unbedingt an der Notwendigkeit der christlichen Offenbarung fest, und 4 Laslett(Anm. 1), S. 83 ff.
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als Platoniker war er von ihrer Wahrheit aus seiner inneren Erfahrung überzeugt. Die oft angeprangerte Inkonsistenz seiner politischen Theorie mit seiner Erkenntnistheorie sollte man nicht überbewerten, zumal jenseits seines Essay on Human Understanding sein System durchaus offen geblieben ist 5 .
2. Über,Property 4 oder den Ursprung der Ungleichheit Das vielbeachtete Kapitel ,Of Property' des zweiten Traktats (§§ 25-51) ist integraler Teil der Lockeschen Argumentation gegen Filmer. Hier findet sich der Drehpunkt einer Beweisführung, die von Locke durch eine Historisierung des Naturstandes zuwege gebracht wird. Das Kapitel bietet eine Entwicklungsgeschichte vom Urzustand unter dem ,Law of Nature4 und einer »natural Reason4 (§25) zum ,natural Government4 und dann zur »Private Property 4-Gesellschaft hin, welche zum Verlassen des Naturstandes und zum Eintritt in eine ,political Society4 genötigt wird 6 . Bemerkenswert ist hier bereits der unvermittelte Wechsel der Terminologie: statt von ,men4 als Individuen ist nun von »Mankind4 (§ 25) als gesamter Menschheit die Rede7, also der Übergang vom Teil aufs Ganze oder von einem Erfahrungsbegriff zu einem Vernunftbegriff vollzogen. Nicht weniger bemerkenswert erscheint Lockes Ankündigung, er wolle zeigen, wie der Mensch dazu gekommen sei, über das, was Gott der Menschheit im ganzen (in common) gegeben hat, nach individuellem Bedarf zu verfügen, und dies ohne Einwilligung (compact) der Mitmenschen (of all the Commoners) (§ 25). Filmer hatte nämlich behauptet, daß der Ubergang vom archaischen Kommunismus zum ,private Property 4 nicht ohne den Konsensus der gesamten Menschheit hätte stattfinden können8. Nach Locke waren am Anfang alle Menschen frei und hatten gleiches Recht an allem. Die Gaben und Güter der Welt standen jedermann offen. Gott verlieh den Menschen Vernunft und Kraft, sich diese Güter nach Bedarf anzueignen (appropriate) (§ 26). Aufgrund des göttlichen Naturgebots der Selbsterhaltung hatte jedermann ein ,Property 4 (Verfügungsgewalt) an seiner eigenen Person (§ 27), und auf5
Vgl. John W. Yolton (Hrsg.), John Locke. An Essay concerning Human Understanding. 2 Bde., Everyman's Library, London/New York, Einleitung, S. 17 f. 6 C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford 1962, S. 197; Hans Medick, Die geschichtsphilosophische Dimension der politischen Theorie John Lockes, in: Geschichte in der Gegenwart. Festschrift für Kurt Kluxen, hrsg. von Ernst Heinen und Julius H. Schoeps, Paderborn 1972, S. 45-62; vgl. dazu auch Medick (Anm. 2), S. 130-133, wo diese Zusammenhänge erstmals in größerem Rahmen aufgezeigt werden. 7 W. Kendall , John Locke and the Doctrine of Majority Rule, Urbana, 111., 2. Aufl., 1959 (1941), S. 77. 8 Peter Laslett (Hrsg.), Patriarcha and other Works of Sir Robert Filmer, Oxford 1949, S. 273.
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grund des gleichen Gebotes ein Recht auf Aneignung von Gütern, ohne welches das allen Gemeinsame nutzlos bliebe. Die Arbeit der Aneignung schafft neues Property und damit ein ,private right4, welches jeder nur sich selbst zu verdanken hat, und zu dem ein „Consent of all Mankind44 oder „the Assignment of consent of anybody44 nicht nötig ist (§ 28). Das Ergebnis persönlicher Mühe, sei es der Arbeit des Körpers oder sei es des Werks der Hände, ist „the unquestionable Property of the Labourer 44; von Natur aus fordern die Lebensbedingungen ,Labour and Materials4 und damit ,private Possessions4 (§ 35), für welche der einzelne nichts der Gesellschaft schulde. Dazu rechnet auch der Boden, dessen Besetzung (occupation) und Bearbeitung (labour) dem Menschen einen Rechtstitel verschaffen, welcher ihm nicht ohne ,Injury 4 genommen werden kann (§§ 32, 34). Durch Adams Sündenfall sei die Arbeit notwendig geworden. Das Gebot Gottes, sich die Erde Untertan zu machen, und das Verbot des Stehlens hätten das Appropriationsrecht der Menschen bekräftigt (§ 35). ,Labour and Possession4 stehen im Dienste des eigenen Ichs und schaffen Unterschiede und Gegensätze. Am Anfang der Menschheitsgeschichte streiten sich Kain und Abel. Locke schließt hier an die Levellers an, die mehr radikale Liberale als Demokraten waren, und argumentiert mit deutlichem Bezug auf Richard Overton, der im Gegensatz zu Filmer und auch zu Hugo Grotius und Samuel Pufendorf den Ursprung des Property ausschließlich auf die individuelle Arbeit zurückführt und im Einklang mit Locke ,the natural freedom 4 als Funktion des Property behandelt9. Damit ist jedoch keineswegs ein radikaler moralischer Bruch angekündet, wie ihn später Rousseau so dramatisch im ersten Satz des zweiten Teils seines Discours sur Γ inégalité (1755) beschrieben hat. Wohl aber ist eine Thematik ins Spiel gebracht, die Locke fernerhin dazu diente, über die gentilizischen Strukturen von Familie, Sippe und Stamm hinauszukommen und die Bildung einer »political Society4 zu erörtern. Eine political Community4 (§§ 130, 131) dämmert bereits herauf, wenn die Väter zum Schutz gegen äußere Feinde zu Herrschern aufsteigen, also Unterordnungsverhältnisse notwendig werden. Dies ist nicht mehr ganz der Naturstand der Gleichen, jedoch auch noch kein politisches Gemeinwesen, sondern ein »natural Government4, näher dem patriarchalischen Oikos als einer politischen Polis. Hier findet Locke ein ,Goldenes Zeitalter 4 des natürlichen Government in einer Naturalgeseilschaft, welche nach innen den Naturzustand bewahrt hat. Hier ergaben sich von selbst Regeln und Maße des Miteinanderauskommens, weil niemand mehr erwerben konnte als das, was er sich durch eigenes Arbeiten aneignete, und niemand mehr erwerben durfte, als er selbst sinnvollerweise verwenden konnte (§§ 31, 36, 37, 38) - nach dem Spruch: ,no right farther than his use4 (§ 37) 10 . 9 Macpherson (Anm. 6), S. 139, 141 f. 10 Vgl. H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem. Zur Geschichte und Gegenwart des bürgerlichen Verfassungsstaates, Darmstadt 1975, S. 76 f.
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Diese naturgegebene Begrenzung auf ein just property 4 entfiel mit der Einführung des Geldes und dessen allgemeiner Anerkennung als Wertmaßstab für alle Geschäfte und Abmachungen (§ 36). Mit diesem Konsensus (,Fancy and Agreement4) eröffnete sich die Möglichkeit unbegrenzter Appropriation. Nach der idyllischen Phase patriarchalischer Subsistenzökonomie folgte nun eine Phase wachsender Ungleichheit, und die ,Equal Balance of property 4, die schon James Harrington in seiner Oceana (1656) als beste Sicherung der Freiheit betrachtet hatte, ging verloren. Die Geldwirtschaft bewirkte verbesserte Lebensbedingungen (§ 41), vermehrte aber auch die Möglichkeiten des Mißbrauchs. Vor allem ging der Zusammenhang von Arbeit und Aneignung verloren. Locke ging über die property-Philosophie der Levellers, auch über die von Richard Overton, Richard Baxter und James Harrington hinaus, indem er die unbegrenzte Aneignung von Eigentum auch dort noch rechtfertigte, wo dieser Zusammenhang von Arbeit und Aneignung aufgelöst war. Er sah in der Trennung von Arbeit und Aneignung sogar die Voraussetzung für rationalen Landbau und industrielle Unternehmen, also für planmäßige Erschließung und Produktionssteigerung. Erst Geld und Markt machten ungeahnte Dinge möglich, die allen zum Vorteil ausschlügen. Er befürwortete ausdrücklich die über Arbeitsleistung und Bedarf hinausgehende Akkumulation, weil sie erst verbesserte Lebensgrundlagen und geregelte Arbeitsleistungen für alle ermögliche. Großgrundbesitz war für ihn sogar erwünscht, wenn nichts in ihm nutzlos vertan werde (§ 46). Leute ohne Land könnten hier weder aneignen noch akkumulieren, wohl aber im Dienste der Besitzenden eine wichtige Rolle spielen, zu der sie sonst nie in der Lage wären. Ihre Unfreiheit ist Bedingung für ihr eigenes Wohlergehen und kommt der Freiheit der anderen zugute. Locke denunziert wie die Levellers Reichtum und Macht; aber im Unterschied zu ihnen hält er am ,Right to unlimited Property 4 fest, das dem Government vorausgeht und mithin kein Objekt der Politik sein darf. Arbeit und Eigentumsbildung sind für ihn keine sozialen, sondern private Funktionen, denen gegenüber die Gesellschaft keine moralischen Ansprüche erheben kann. Locke entschied sich für ein ,unlimited Appropriation 4 zugunsten des »industrious people 411 . Er blieb sogar dabei, daß die Arbeitskraft ein subjektives Vermögen sei, über das jeder nach seinem eigenen Ermessen verfügen könne; sie ist verkäuflich und kann nach Vereinbarung anderen zum Eigentum verhelfen; jedermann ist absoluter Besitzer seiner Arbeitskraft (§ 27). Die wachsende Ungleichheit im Property veranlaßte nach Locke die Menschen über ihren Consensus zur Community hinaus zu einem zweiten Konsensus, welcher der Schaffung eines Government dienen sollte. Die Nötigung zu einem ,Power for the Regulating and Preserving of Property 4 (§ 3) war der Grund zum Eintritt in ein politisches Gemeinwesen, „to make one People, one Body Politick under one supreme Government44, und zwar „by setting up a Judge on Earth to determine all Controversies 44 (§ 89). Aus diesem Satz ergibt sich ganz klar, daß das Government 11
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Macpherson (Anm. 6), S. 231.
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nicht die Voraussetzung für eine an Geld und Markt orientierte Handelsgesellschaft war, sondern nach der Auffassung Lockes lediglich eine empirische Vorkehrung für deren ungestörten Fortbestand sein sollte. Das Government schafft überhaupt nichts Neues - außer einer obersten zivilen Instanz, die für die Wahrung der bisher subjektiv geltenden Rechte zuständig sein sollte. Es kann zwar Ordnung und Nutzung des Property allgemein regeln, hat aber keine Befugnis, darüber ohne Zustimmung der Eigentümer oder deren Repräsentanten zu verfügen (§§ 129, 135, 138, 140). Das Civil Government war nach Locke nicht berechtigt, jene natürlich zustande gekommenen Unterschiede im Property zu ändern, da sie „out of bounds of Society and without Compact" entstanden seien (§ 50). Für Locke waren die beiden Klassen, die er in England vorfand, also die Klasse mit Property und die eigentumslose Klasse (labouring class), naturgegeben. Wer ohne eigenes Property war und von der Hand in den Mund lebte, war zu einer rationalen Bewältigung der Lebensaufgaben unfähig und arbeitete nur fürs Überleben. Er war in Lockes Augen kein vollwertiges Mitglied des politischen Gemeinwesens und konnte bestenfalls ein wertvolles Objekt guter Verwaltung werden, welches sogar zum unentbehrlichen und wichtigen Bestandteil des nationalen Produktionspotentials zu rechnen sei 12 . Bei den zwei Klassen in England handelte es sich um freigeborene Engländer, welche aufeinander angewiesen waren, und denen das Government in gleicher Weise Schutz gewährte. Die Nicht-Besitzenden sind indessen nicht prinzipiell von der politischen Teilnahme ausgeschlossen, zumal die formale Rechtsgleichheit auch im Bereich der Markt- und Geldwirtschaft vorausgesetzt bleibt. Jedenfalls hält Locke an der fundamentalen Gleichheit des ,free-born people' fest, und auch die zunehmende Ungleichheit der Besitztitel hebt die Gleichheit vor dem Recht nicht auf, welches „für arm und reich . . . , für den Günstling bei Hofe ebenso wie für den Landmann hinterm Pflug" in gleicher Weise gilt (§ 142). Die Ungleichheit des ,Private Property' war aber der Grund dafür, daß die Menschen aus einer auf Gott und Natur bezogenen abstrakten Freiheit und Gleichheit in eine Ordnung konkreter politischer Freiheit eintraten, in welcher „the Right of Property and the Possession of Land ... by positive constitutions" geregelt wird (§ 50). Das Government tastet das „equal right to Property" formal nicht an, verteidigt aber das „Right to unlimited Property", also die freie Markt- und Geldwirtschaft, die kein Objekt der Politik sein darf. Locke erscheint im Property-Kapitel als Anwalt einer Vergeldlichung und Kommerzialisierung, was er indessen nicht war. In diesem Kapitel spricht er freilich nur von materiellen Gütern, also von Property im engeren Sinne, und nicht von den subjektiven Menschenrechten, die er ebenfalls zum Property rechnet, aber hier um der schlüssigen Argumentation willen außer Betracht läßt. An vielen anderen Stellen betont er ausdrücklich, 12 Ebd., S. 220 f., 231.
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daß „Life, Liberty and Estate", oder auch „Life, Health, Liberty, or Possessions" (§§ 94, 123, 134, 138) unter den Begriff des Property fallen. Property bezeichnet bei Locke den ganzen Umfang freier Verfügbarkeit, welcher nicht der Zustimmung anderer bedarf und ihrem Zugriff entzogen bleibt (§ 4); es ist jener Bereich, der nach dem Naturgesetz niemandem verweigert werden darf (ebd.), also auch das Recht auf eigene religiöse Uberzeugung, auf die eigene Muttersprache, auf die eigene Meinung, auf Heimat, Bildung und Lebensgestaltung beinhaltet. Für Locke ist „the Birth Right of Englishmen" absolutes und unveräußerliches Property, welches nicht, wie etwa die Arbeitskraft, auf Zeit verkäuflich ist. Jedermann ist proprietor' seiner eigenen Person, und diese proprietorship' nennt Locke ,Natural Freedom'. Die freie Verfügungsgewalt über sich selbst qualifiziert den einzelnen erst als Person zur politischen Mitwirkung dort, wo sein Property tangiert ist. Bei Fragen der Besteuerung muß allerdings materielles Property vorliegen. In der bürgerlichen Welt Englands galt seit jeher nur derjenige als freier Mann und damit als wahlberechtigt, der besteuert wurde - wie etwa die 40 ShillingFreeholders. Aus dem ,Natural Right to Property' - gegründet auf göttlichem Recht (Rainsborough), auf Naturgesetz (Clarke), auf Naturrecht (Overton) oder auf ,human constitution' (Ireton) - leiteten die Levellers sogar die religiöse, wirtschaftliche und politische Freiheit ab. Im Leveller-Manifest von 1648 wurden ,Liberty of the Person' und ,Property of Estate' in eins gesetzt13. Für den Bereich der Politik im Gemeinwesen lief dies bei den Levellers und auch bei Locke auf wirtschaftliche Unabhängigkeit als Bedingung für freie Mitbestimmung hinaus. Locke dachte im Grunde stets an den Substantial Gentleman', dessen politisches Mitwirkungsrecht auf seinem materiellen Property beruhte, dessen Sicherung der Zweck des politischen Gemeinwesens war. Der von den Levellers und von Locke sowie auch vom frühen Rousseau verfochtene Zusammenhang von Property und Entscheidungsfreiheit, also die Beschränkung des ,Voting Right' auf die Besitzenden und Selbständigen, sollte nur für das Gemeinwesen als Interessenverband und politische Ökonomie gelten (vgl. Abschnitt IV). Lockes politische Theorie entsprach einer neuen Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung Englands, in deren Verlauf er vom Apologeten einer autoritären Staatsgewalt im Anklang an Hobbes zum Verfechter bürgerlicher Interessen wurde. Er hielt die bürgerliche Gesellschaft als freien Interessenzusammenhang für lebensfähig. Der Naturstand war ihm nicht Chaos, wie Hobbes ihn jenseits der Friedenslinien' in der Friedlosigkeit des freien Meeres und Amerikas aufgefunden hatte, sondern schon eine bürgerliche Gesellschaft mit Privateigentum, Geldverkehr und Warenaustausch, die erst mit wachsender Ungleichheit in Konflikte geraten war, denen die Errichtung einer Staatsgewalt ein Ende setzen sollte. Besonders die Ungleichheit im Landbesitz machte die anfängliche Chancengleichheit in Arbeit und Aneignung zunichte. Die Staatsgewalt sollte gegen Übergriffe auf Leben und Eigentum schützen und Schiedsrichter zur Beilegung von Konflikten sein. 13 Ebd., S. 128 f.
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Locke hat das meiste dazu beigetragen, daß in England das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament aus dem Gegensatz zwischen ,Government4 und »Property 4 verstanden wurde. Dies hatte sich eindeutig mit den revolutionären Ereignissen seit 1641 angebahnt, als die Aufhebung der Zwangsgewalt des Privy Council eine fast völlige Autonomie der lokalen Institutionen zugunsten der Befugnisse der Friedensrichter erbrachte 14. Das Armengesetz von 1662 (Poor Law) trennte dann die landlosen Böcke von den landbesitzenden Schafen, und das Jagdgesetz von 1671 (Dame Act) lieferte jene armen Böcke dazu noch der Exekutivgewalt des allmächtigen Squire aus 15 . Den letzten und entscheidenden Anstoß zur politischen Privilegierung des Landbesitzes gab dann die ,Land Tax4 als permanente und wichtigste Hauptsteuer seit 1692, welcher gegenüber zusätzliche Steuern als außerordentliche Steuern galten. Die Grundbesitzer als Hauptsteuerbelastete leiteten daraus ein erweitertes Mitspracherecht ab. Im ,Landed Qualification Act 4 (1711) wurde für die Knights im Unterhaus ein Landbesitz zum Jahres wert von 600 Pfund Sterling und für die Citizens und Burgesses zum Jahreswert von 300 Pfund Sterling vorausgesetzt. Auch die Friedensrichter mußten ausreichenden Landbesitz nachweisen, und zu den Quarter Sessions in den Grafschaften wurden nur noch die Squires geladen. Damit war der soziale und politische Vorrang von Grundeigentum ausschlaggebend geworden, was dazu führte, daß der englische Landmarkt seit 1730 wegen Totalausverkaufs zu horrenden Preisen zum Erliegen kam. Nur wer,Estate4, also Land-Property, hatte, war zu politischer Tätigkeit legitimiert, da er jährlich bis zu 20 Prozent seiner Landrenten als Steuern abführen mußte. Der Dualismus von Government und Property war hier voll ausgebildet und allgemein anerkannt. Immer noch war der Boden mit Landwirtschaft und Bodenschätzen der Hauptfaktor im Sozialprodukt. Was daneben aus dem Uberseehandel und frühindustrieller Produktion an Reichtum und Kapitalien sich ansammelte, wurde anderweitig politisch verfügbar gemacht, nämlich über die Nationalschuld.
3. Über,Government 4 oder den Ursprung politischer Herrschaft Nach Locke entsteht ein politisches Gemeinwesen erst dort, wo jedermann auf seine naturrechtlich vorgegebene Macht verzichtet und sie dem Gemeinwesen für alle jene Fälle überantwortet, welche ihn berechtigen, den Schutz des Gesetzes oder der Justiz anzurufen (§ 87). Das damit zustande gekommene ,Ci vil Government4 ist zugleich ,Political Government4, insofern es effektive Macht ausübt, um das Property aller zu schützen und Verstöße seiner Mitglieder zu ahnden. Private Rechtsdurchsetzung ist damit ausgeschlossen und dem Gemeinwesen (the Publick) übertragen (§ 89), welches »Umpire4 (Schiedsrichter) bei allen Differenzen sein soll. Wo jeder selbst Richter und Vollstrecker in eigener Sache ist, herrscht Natur14 D. L. Keir, Constitutional History of Modern England, 3. Aufl., London 1948, S. 312. 15 Ebd., S. 287; J. R Kenyon, The Stuart Constitution, Cambridge 1966, S. 494.
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stand; erst die Schaffung einer obersten Rechtsinstanz macht das Gemeinwesen zu einem ,Body Politic' mit gleichem Recht und einer anerkannten Justiz (§ 87). Locke steht hier in der Reihe der großen Naturrechtsdenker des 17. Jahrhunderts; aber er unterscheidet sich von den meisten dadurch, daß er dem Naturstand bereits eine »Constitution' zuschreibt, auch wenn kein ausdrücklicher Urvertrag vorliegt. Samuel Pufendorf unterschied den einstimmigen Gesellschaftsvertrag (pactum unionis) des souveränen Volkes vom Herrschaftsvertrag (pactum subjectionis), der nach dem Majoritätsprinzip eine Regierung zustande bringt. Thomas Hobbes hingegen kannte nur den einstimmigen Grundkonsens, welcher der Form nach ein Gesellschaftsvertrag, dem Inhalt nach aber ein Unterwerfungsvertrag war. Bei Locke hingegen spielt der Urvertrag nur eine untergeordnete, oder jedenfalls keine zentrale Rolle. Der Terminus ,Contract' erscheint mehrmals in seinen beiden Traktaten, ist aber dabei nicht auf den Ursprung politischer Unterordnungsverhältnisse bezogem16. Hier verwendet er allgemeinere Ausdrücke wie »Compact' oder ,Original Compact' oder »Agreement' - wohl deshalb, weil »Contract' ein vorbelasteter Rechtsterminus war, der in der kirchlichen Jurisdiktion und in der englischen ,Equity'Praxis geläufig war und bereits bestimmte Rechtsverhältnisse voraussetzte, welche der Urvertrag eigentlich doch erst schaffen sollte. ,Compact' und ,Agreement' bedeuteten mehr jenen Konsensus, der einem Rechtsgeschäft in der Regel vorausgeht. Locke spricht mit Vorliebe vom Konsensus, auf dem jede ,Community' beruht, und meint damit die Übereinstimmung in Sprache, Gesinnung und Gesittung, die sich aus der wechselseitigen Kommunikation und den Lebensverhältnissen von selbst ergibt. Diese wechselseitige Übereinstimmung ist Symptom dafür, daß die gefundene Lebensform »natürlich' ist und der jeweiligen Phase des Naturstandes entspricht. Das einem solchen Kommunikationszusammenhang innewohnende Treueverhältnis ist moralischer Natur und seine Nichteinhaltung im strengen Sinne kein Rechtsbruch oder Vertragsbruch, sondern eher ein Treubruch (laesio fidei breach of faith). Er gewährt den Mitgliedern ein Maß an »natural freedom', nach welchem sich »the Frame of Government' zu richten hat (§ 10). Hier gibt es also bereits »Equity and Justice' im Sinne einer sich von selbst ergebenden Gewährleistung von Unabhängigkeit und Gleichberechtigung untereinander. Erst in der Spätphase der »Naturgeschichte' der Menschheit nötigen die aufkommenden Widersprüche der,Private Property'-Gesellschaft zur Errichtung eines Rechts- und Gesetzesstaates, dem die politische Vermittlung der naturrechtlich gebotenen Forderungen von Freiheit und Gleichheit mit den gesellschaftlichen Antagonismen der Markt- und Geldgesellschaft aufgegeben ist. Eine klare Differenzierung zwischen natürlichen und politischen Daseinsbedingungen - etwa im Sinne eines qualitativen Sprungs in eine andere oder zweite Natur - wird bei Locke nicht deutlich. Einzig und allein der,Common Consensus' schafft die öffentliche Gewalt als ,Res Publica' (§91). Locke beruft sich hier auf den judicious' Hooker, dessen 16 LaslettiAnm. 1), S. 112.
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,Laws of Ecclesiastical Polity4 (1594 ff.) im »Common Consent4 den Urgrund jeder politischen Verpflichtung sahen. Der Status der Zusammengehörigkeit allein ist ohne inhaltliche Bestimmung und ohne erzwingbare Folgen - nach dem alten Satz: ,Ex nudo pacto non oritur actio 417 . Erst der Verzicht des einzelnen auf Selbstjustiz und Gewalt bezeichnet den Ubergang vom Status zum gegenseitigen Kontrakt. Indessen bleibt das damit angesprochene pactum subjectionis bei Locke im Hintergrund. Außer dem »Common Consent4 gibt es keinen zweiten Vertrag - und zwar deshalb nicht» weil es keine Wechselseitigkeit der Partner wie im Geschäftsvertrag gibt. Ein Herrschaftsvertrag müßte die Gemeinschaft und die Regierung binden. Aber es gibt keine Regierung» weil die zu schaffende Instanz kein Partner, sondern Ergebnis der Ubereinkunft ist» wie schon Hobbes betont hat. Die politische Macht wird von der Gemeinschaft einer Regierung anvertraut, welche damit überhaupt erst geschaffen wird. Lockes Rekurs auf das Welt- und Geschichtsbild Richard Hookers und seine Auffassung von einer Naturgeschichte der Gesellschaft unterscheiden ihn von den radikalen Naturrechtsdenkern und ihren rationalistischen Vertragstheorien. Er fand eine geeignetere Formel, indem er das politische Verhältnis zwischen Herrscher und Gemeinschaft als einen ,Trust4 oder eine Treuhandschaft definierte, über deren Einhaltung nur die ,Community4 selbst urteilen kann. Das Government ist ein ,Trust 4, und die Inhaber der Regierung sind ,Trustees and Guardians4, Treuhänder eines ,Property 4, das behütet und bewahrt sein will. Die Ubergabe eines Rechtsgutes oder eines Besitztitels an das Government schafft kein ,Right4, sondern einen ,Trust 4, der eine diskretionäre Verantwortlichkeit bezeichnet18. Er ist ein Compact4 ohne genaue Festlegung und ohne erzwingbare Schuldverpflichtung, aber Ausdruck eines Treueverhältnisses, welches mehr ist, als eine vertragliche Ubereinkunft, aber auch weniger, insofern ihm die schriftliche Evidenz fehlt. Für Locke ist der Naturstand keine Ansammlung von Egoisten und Einzelindividuen, sondern alle Mitglieder einer Gemeinschaft stehen im ,Trust4 zueinander (§ 107) - etwa in Ehe, Familie, Nachbarschaft, Gemeinde oder in Spiel, Gespräch, Geschäft oder Geselligkeit. Die Menschen bringen von Natur aus eine Verantwortungs- und Kommunikationsbereitschaft mit, einen ,sense of duty4 oder eine ,natural political virtue 419 , welche über die Interessen des eigenen Selbst hinausreichen und die moralische Qualität des Gemeinwesens ausmachen. Für Locke ist der ,Trust4 ein Schlüsselbegriff für seine Vorstellung von Politik, insofern die Handlungen eines Government nicht von vornherein festlegbar sind wie etwa bei der Verwaltung. Politische Handlungen lassen sich nur auf einen allgemeinen, also regulativen Endzweck hin begrenzen und setzen ein treuhänderi17 Zit. nach Potter's Historical Introduction to English Law and Institutions, hrsg. von A.K.R. Kiralfy, 4. Aufl., London 1958, S. 460. is Vgl. J. W. Gough, John Locke's Political Philosophy. Eight Studies, 2. Aufl., Oxford 1974, Kap. 7, S. 154. 19 Laslett ( Anm. 1), S. 112, 116, 120.
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sches (fiduciary) Verhältnis voraus, also nicht eine Ausführungsethik und nicht nur eine Gesinnungsethik, sondern eine Verantwortungsethik. Ein fixierter Kontrakt würde strikte Gegenseitigkeit und evidente Textfassung erfordern, um justitiabel zu sein; er würde einen rechtskundigen Dritten verlangen, der über Einhaltung oder Bruch des Kontrakts entscheidet. Der,Trust 4 hingegen bedenkt „the fiduciary nature of all political power" (§ 149), über dessen Einhaltung allein ,the Community' oder ,the Public' zu entscheiden hat (§ 221). Die Regierten behalten gegenüber dem ,fiduciary Trust' (§ 156) eine ,residual Power', die zutage tritt, wenn das Government ,contrary to their Trust' (§ 221) handelt. Der ,Trust' versteht die Macht des Government nur als ein »personal Right' und als »personal Property', also als ausgeliehene und widerrufbare Befugnis, während die Gemeinschaft als Communitas Communitatum ein ,real Right' und ,real Property' innehat. Unter einen solchen ,Trust' fällt bei Locke auch die Prärogative des Fürsten als des obersten Trägers der exekutiven Gewalt. Eingedenk der Notwendigkeit einer unscheltbaren obersten Instanz hält Locke an der Prärogative der Krone fest, die sich auch innerhalb des Verfassungsstaates im Berufungs- und Auflösungsrecht der Legislative äußert, obgleich die Bildung der Legislative als solcher der oberste Akt des Gemeinwesens ist, der allen statuierten Gesetzen vorausgeht und einzig und allein von der Wählerschaft abhängt. Deshalb gesteht Locke der Legislative den obersten Rang zu. Eine Superiorität der Exekutive über die Legislative gibt es also nicht, wohl aber ein Trust oder auch eine ,Royal Trusteeship', gegründet auf „mutual Trust and Confidence" (§ 157). An sich bleibt die Wählerschaft der ,Establisher of the Government' (§ 158), sie soll sich darstellen in ,a fair and equal Representative', welche die volle Anerkennung der ,Community' verdient. Diese Repräsentation ist von Zeit zu Zeit auf ,the true Foundation' des Gemeinwesens hin zu korrigieren. In dieser ständigen Korrektur liegt eine weitere Aufgabe der Prärogative (§ 158), die nichts anderes ist als eine Kompetenz (personal Power) in der Hand des Fürsten, einmal bei verfassungsgesetzlich vorgesehenen Fällen, dann auch bei unvorhersehbaren Fällen, die keine eindeutige gesetzliche Handhabe bieten, im Hinblick auf das allgemeine Wohl und den Sinn des Regierungssystems nach eigenem Gutdünken und entsprechend dem Spruch ,Salus Populi Suprema Lex esto' (§ 158) zu handeln. Ohne eine solche diskretionäre Befugnis der obersten exekutiven Gewalt kommt nach Locke und auch nach Filmer kein politisches Gemeinwesen aus (Kap. ,Of Prerogative', §§ 159-168). In frühgeschichtlichen Phasen war das Government nach Locke ,almost all Prerogative' (§ 162); heute sei sie nur noch „the Power of Doing publick good without a Rule" (§ 166), wie Locke mit ausdrücklichem Hinweis auf England formuliert. Indem er die königliche Prärogative dem Trust zuordnet, sieht er in ihr kein Realeigentum (Dominium) der Krone, sondern nur ein übertragenes ,Personal Property'. Locke antizipierte hier die Regelung von 1689, wonach der König mit seinem Amtseid die ihm verbliebene Prärogative den Regeln des Common Law und der Billigkeit unterwarf.
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Lockes Ausführungen hatten nicht die Glorreiche Revolution vor Augen; aber sie dienten nachträglich dem Selbstverständnis der Revolution und gewannen in den uferlosen Verfassungsdebatten zeitweilig kanonische Geltung. Während das »Restauration Settlement4 sich von der Idee der Balance zwischen Krone und Parlament leiten ließ, war das »Revolution Settlement4 von der Idee des Trust beherrscht, wie Locke sie vertreten hatte. Sie bot sich im Verlauf der folgenden Jahre aufgrund der Wandlungen im konstitutionellen Bereich als geeignetes Argumentationsmittel an, besonders in Hinsicht auf das Finanzgebaren. Die Revolution brachte nur wenige sichtbare Formveränderungen im Government; dafür aber eine Verlagerung des Finanzsupremats auf das Parlament. Zur Restaurationszeit war noch um der Balance willen der Krone eine feste ,Revenue4 gewährt worden. Jetzt aber stiegen durch ,King William's War4 (1689-1697) die Finanzbedürfnisse der Regierung gewaltig an und konnten nur über das Parlament als Anwalt des property 4 verfügbar gemacht werden. Das Parlament garantierte den Zinsdienst für alle Kredite und leitete daraus ein Recht auf Appropriation 4 der Geldmittel ab, was seinen Einstieg in die hohe Politik umschloß20. Die ,Nationalschuld4 war ein aufgestapeltes Property, dessen Anwalt und Aufsichtsrat das Unterhaus war. Über die Figur des Trusts als Treuhandschaft ließ sich das Verhältnis zwischen Krone und Parlament am besten interpretieren und der tiefe Eingriff in die Property-Verteilung und deren Konsequenzen plausibel machen. Die Verfügung über die Nationalschuld bzw. deren Verwendung kam einem faktischen Supremat des Unterhauses gleich. Locke hielt jedoch unentwegt und ganz im Sinne der Revolutionsverteidiger an ,the Supreme Power4 des Königs für den Bereich des Government fest. Der König war nicht dem Parlament verantwortlich, wohl aber seine Minister, die seinen Trust betreuten. Von ihnen verlangte das Parlament Rechenschaft über die größte Kapitalinvestition des Jahrhunderts. Locke entsprach mit seinen Vorstellungen völlig dem, was im Sinne der Verfassung lag. Danach regierte der König und nicht das Parlament; das verbindende Moment lag darin, daß alle, auch der König, als Mitglieder des Government einem Trust der »Community4 unterstanden, was nichts anderes bedeutete, als daß die Quelle der politischen Autorität das gesamte Volk der Engländer war. Alle Inhaber von politischen Gewalten waren als solche ,Trustees of the People4 und nicht Eigentümer. 4. Über,Property 4 und,Government' oder die Schranken politischer Herrschaft Locke unterscheidet zwischen patriarchalischer, despotischer und politischer Gewalt (§ 169), wobei er die politische Gewalt als die legitime und wahre Form von Herrschaft ansieht. Die patriarchalische ist ,a natural Government4 und vom 20
Vgl. Clayton Roberts, The Growth of Responsible Government in Stuart England, Cambridge 1966, S. 248 f.
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Ursprung her noch keine eigentlich politische Gewalt (gegen Filmer); das despotische Dominium ist wider die Natur und bedeutet den Verlust des Property für alle; es ist also überhaupt keine Form einer ,ci vil Society4 (gegen Hobbes). Politische Herrschaft ist für Locke erst dann gegeben, wenn alle Bürger ihr »Property in their own disposal' behalten (§ 174); es ist hervorgegangen aus ,Compact' und »Agreement' (§ 171), also aus einer Ubereinkunft zwischen freien und gleichen Personen, und damit insoweit immer eine bürgerliche Republik. Damit gibt der Mensch allerdings seinen naturrechtlichen Bezug zur Menschheit, ,this great and natural Community' (§ 128), auf und verschreibt sich einer Partikularität, die ihm Schutz gewähren soll. Zugunsten dieses Bereichs gibt er zwei Gewalten auf, die er im Naturstand innehatte, nämlich seine Handlungsfreiheit im Rahmen des Naturrechts und bezogen auf die ganze Menschheit, und zweitens seine Befugnis, Verstöße gegen das ,Law of Nature' selbst zu ahnden. Beide Gewalten bleiben im politischen Gemeinwesen als Gesetzgebung und Exekutive erhalten. Der Mensch gibt also seine Universalität auf und tritt ein „in a private, if I may so call it, or particular political Society, and incorporates into a Commonwealth, separate from the rest of Mankind" (§ 128). Er gibt von seiner natürlichen Freiheit nur auf, was für den Bestand, für Sicherheit und Verfassung des Gemeinwesens erforderlich ist. Dies ist vorteilhaft für jeden und auch rechtens, insofern alle Beteiligten das Gleiche tun (§ 130). Die Wahrung von Freiheit und Property ist Voraussetzung für,Peace, Safety and Publick Good' (§ 131) und wird durch Legislative und Exekutive gesichert. Das politische Government darf das Property nicht antasten, dessen Erhaltung der Zweck von Herrschaft und die Schranke der Politik ist. „Das Eigentum (ist) die wahre Begründung der menschlichen Gesellschaft und der wahre Garant der Verpflichtung der Bürger" und „das Eigentumsrecht das heiligste von allen Bürgerrechten, welches in gewissen Beziehungen noch wichtiger als die Freiheit selbst" ist 2 1 , wie Rousseau im fünften Band der Enzyklopädie (1755) formulierte, nachdem er vorher auf Locke hingewiesen hatte22. Für Locke ist ,the political or civil Government' im wesentlichen Vollstreckungsgewalt mit AusführungsVerantwortung, und nicht der Souverän; entsprechend spricht auch Rousseau in seinem Discours sur l'Economie politique nur vom »Gouvernement', dessen Aufgabenbereich er mit der »economie politique' gleichsetzt. Locke definiert die politische Macht aus den Funktionen der normalen Behörde, also des ,ci vii Magistrate': „Das Gemeinwesen scheint mir eine Gesellschaft von Menschen zu sein, die allein zum Erwerb, zur Wahrung und Förderung der bürgerlichen Interessen gebildet wurde. Bürgerliche Interessen nenne ich Leben, Freiheit, Gesundheit und Unverletzlichkeit des Körpers sowie den Besitz äußerlicher Dinge wie Geld, Ländereien, Gebäude, Ausrüstungen und dergleichen"; die Macht eines 21 J.J. Rousseau, Discours sur l'Economie politique (1755), zit. nach ders., Politische Schriften, Bd. 1, Paderborn 1977, S. 38. 22 Ebd., S. 14, 19, 66, 93.
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solchen Government „kann und darf nicht in irgend einer Weise auf die Rettung der Seelen ausgedehnt werden" 23 . Sie hat eigentlich und im rechten Verstände genommen nur mit politischer Ökonomie zu tun. Die Säkularisierung des Government ergibt sich schon aus der Privatisierung der Religion, die als Property außerhalb der Kompetenz des Government, aber innerhalb der freien Verfügungsgewalt jedes einzelnen liegt. Sie ist geistiges Eigentum jedes Menschen, dessen Selbstsein sie mitkonstituiert. Religiöse Fragen dürfen also nicht zum Gegenstand einer Abstimmung oder einer Gesetzgebung gemacht werden. Der von Locke befürworteten independentischen Verinnerlichung der Religion entsprach eine Freisetzung oder Säkularisierung der äußeren Welt, welche damit in erster Linie eine Welt der bürgerlichen Interessen, des Erwerbs, des Besitzes und des Geschäfts wurde. Locke hält an der überlieferten christlichen Offenbarungsreligion fest, mit ihr verhält es sich ähnlich wie mit der Muttersprache, „the great Instrument and commontie of Society" 24 , die zum Property eines jeden gehört, aber nicht „man's private possession", sondern „the common Measure of Commerce and Communication" ist und somit „according to the Propriety of the Language" gebraucht werden soll 25 . Das Recht auf den angemessenen Nießbrauch der Muttersprache ist unantastbar. Für das Government als bestellten Hüter und Hirten der politischen Ökonomie ist das materielle Property maßgebend. Dies schließt indessen weder für Locke noch für den Rousseau von 1755 26 aus, daß alle subjektiven Zivilrechte ein materielles Eigentumsrecht voraussetzen, dessen Aufhebung früher oder später alle anderen subjektiven Rechte zerstören würde. Jeglicher Eingriff ins Property ist ohne den Konsensus des Inhabers rechtswidrig, „for this would be in effect to leave them no property at all" (§ 139). Mithin würden Steuern des Government ohne Konsensus der Betroffenen das fundamentale ,Law of Property 4 durchbrechen und den Zweck des Government verfehlen (§ 140). Das Property spielt bei Locke eine ausschlaggebende Rolle für Kontinuität und Identität des Gemeinwesens. Selbst die väterliche Gewalt erstreckt sich nicht auf das Property des Kindes (§ 169), weder auf seine Person noch auf sein Gut (§ 169). Sie beschränkt sich auf ein treuhänderisches Management für die Dauer der Minderjährigkeit, also nur auf ,possession and use of their Properties 4 (§ 173). Ein Familienvater kann seine Nachkommen nicht ohne weiteres auf das Gemeinwesen 23 A Letter Concerning Toleration (1689), in: The Works of John Locke, London 1824, Bd. 5, S. 10, zit. nach P.J. Opitz, Locke, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Politische Denker. Bd. 2, München 1974, S. 23. 24 John Locke, Essays on the Law of Nature, hrsg. von W. v. Leyden, Oxford 1954, S. 156 f. 2 5 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von John W. Yolton, London 1968, Bd. 2, S. 111. 26 Rousseau (Anm. 21), S. 217.
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verpflichten, dem er selbst sich zugehörig fühlt. Seine Nachkommen sind ,by nature4 frei, sich zu entscheiden: „by the practice of Governments themselves as well as by the Law of Right Reason ... a Child is born a Subject of no Country or Government" (§ 118). In Wirklichkeit jedoch stehen die Nachkommen in Ansehung ihres Property in einem Bedingungszusammenhang von Rechtsgütern und Besitzansprüchen, welche sie akzeptieren und auf die hin sie sich verpflichten müssen, wenn sie ,the Inheritance4 ihrer Eltern oder Vorfahren übernehmen wollen. Sie übernehmen den Landbesitz „at the Same terms their fathers did44 (§ 117). Dies gilt in gleicher Weise für alle ausgeübten oder ererbten Rechte in der Heimatgemeinde: Jeder Aufenthalt, jede Benutzung von Straßen und Einrichtungen, jeder auf dem Wege über ,Inheritance4, ,Purchase4 oder Permission 4 (Genehmigung) erworbene und benutzte Wohnsitz schließt die stillschweigende oder ausdrückliche Anerkennung des Government ein (§ 120). Uber das Property stellen sich die Verbindlichkeiten zwischen dem einzelnen und dem Government erst her. Der stillschweigende oder ausdrückliche Verzicht auf sein natürliches Entscheidungsrecht in Sachen des Property berechtigt den Einzelmenschen, vom Government den Schutz nach Gesetz und Recht für seine ,Inheritance4 zu beanspruchen. Umgekehrt findet sogar höchste und unbedingte Befehlsgewalt am Property ihre Schranke. So kann etwa ein General von seinen Soldaten blinden Gehorsam und größte Opfer verlangen; aber er darf ihnen nicht einen einzigen Penny aus der Tasche ziehen (§ 139). Auch das Recht des Eroberers nach einem formgerechten Krieg erstreckt sich nicht auf das Property der Bewohner; Macht allein schafft kein Recht und keinen Titel über die privaten Besitztümer, soweit es sich nicht um Wiedergutmachungen handelt (§§ 175 ff.) 27 . Frauen und Kinder behalten ihre Besitztitel (§ 183) und auch ein Anrecht ,to the Possessions of their Ancestors4 (§ 192). Alle Verträge, Verpflichtungen, Schenkungen, Überschreibungen und Versprechen der bürgerlichen Geschäftswelt bleiben gültig. In einem politischen4 Gemeinwesen gibt es kein ,Dominium4 über das ganze Volk und sein Property (§ 196). Selbst ein Usurpator eignet sich nur die politischen Herrschaftsrechte gewaltsam an; er läßt hingegen ,the Form and Rules of the Government4 bestehen, wenn er nicht überdies noch ein Tyrann werden will, dessen ,exercise of Power beyond Right4 ist (§§ 197, 199). Aus Lockes Auffassung von der Unverletzlichkeit des Property ergeben sich völkerrechtliche Einhegungen des Krieges, der auf den politischen Bereich beschränkt bleiben soll. Für Locke blieben die de facto Nicht-Besitzenden weiterhin de jure besitzfähig; er Schloß sie also nicht prinzipiell von der politischen Teilnahme aus. Nur hielt er die ständige politische Beteiligung der Besitzlosen nicht für erforderlich, da nur die Besitzenden direkte Steuern bezahlen konnten. Nur für sie war eine politische Repräsentation notwendig, über welche ihre benötigte Einwilligung eingeholt wer27 Vgl. Laslett (Anm. 1), S. 402; J.G.A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law, Cambridge 1957, Kap. 7 ,The Brady Controversy'.
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den konnte (§ 140). Darüber hinaus stand für Locke die fundamentale Gleichheit aller an der Markt- und Geldwirtschaft beteiligten Bürger fest, und auch die krasse Ungleichheit der Besitztitel in der zweiten Phase des Naturstandes hob keineswegs diese Gleichheit der Rechte auf. Die aus dieser Ungleichheit sich ergebenden Dienst- und Abhängigkeitsverhältnisse lassen nach der Auffassung Lockes die politische Freiheit und Gleichheit ausdrücklich unberührt - und zwar deswegen, weil dem Dienstherrn nur die im Arbeitsvertrag vereinbarten, zeitlich und räumlich begrenzten Rechte eingeräumt werden (§ 85). Die Nicht-Besitzenden können und dürfen sich nicht mit Leib und Leben der Willkür einer anderen Person ausliefern; dies wäre nur gegenüber dem politischen Gemeinwesen selbst möglich, welches ihnen Schutz gewährt und ihre politische Mitwirkung erwartet. Auch der geringste Mann ist noch Rechtssubjekt und Mitträger der Legislative (§ 94). Eine platte Verneinung der Rechte der Besitzlosen gibt es bei Locke also nicht, weder im Hinblick auf ihre Arbeitskraft noch im Hinblick auf ihr Geburtsrecht. Indem Locke allerdings den Zweck des politischen Gemeinwesens auf den Schutz des Eigentums beschränkt und nur den Steuerpflichtigen ein Mitbestimmungsrecht einräumt, wird diese Ungleichheit im öffentlichen Leben der fundamentalen Gleichheit aller Menschen nicht gerecht, wenn diese Besitzlosen nicht anderweitig mit ins Spiel gebracht werden. Locke beläßt es so, wie er es in England vorfindet: Die Besitzlosen und die Empfänger von Armengeld haben zwar kein Wahlrecht, aber sie haben andere eigenständige und auch einflußreiche Mitwirkungsrechte, sowohl bei den Wahlen als auch bei der Durchsetzung ihrer materiellen Sonderrechte. Die Aufhebung der polizeilichen Ordnungsgewalt vor Ablauf des Wahlgangs gab ihnen spektakuläre Möglichkeiten zu Wahllärm, Demonstrationen, Aufläufen, Störmanövern oder auch zu Petitionen, Ansprüchen auf Abgaben, Verpflegung, Trinkgelage und vor allem Vorkaufsrecht. Diese Aktionen waren faktisch anerkannt und wurden mit Zähnen und Klauen verteidigt. Sie waren beachtliche Formen der Willenskundgebung28, die das England des 18. Jahrhunderts in den Verruf der Aufsässigkeit brachten. Für Locke war das politische Gemeinwesen - von seiner »Private Property Philosophie aus betrachtet - ein Interessen verband rechtsgleicher Individuen; nur in Ansehung der subjektiven Rechtssphäre eines jeden Individuums als Property war es ungleich mehr, was über seine allgemein gefaßte politische Theorie hinausging. Locke reduzierte das Government auf ein bürgerliches Notinstitut, dessen Bestimmung sich im Schutz von Eigentum und persönlicher Freiheit erschöpfte; er reduzierte den Staat auf die vom Blickfeld des einzelnen Bürgers wichtigste Aufgabe, ohne deswegen zu leugnen, daß jedes Gemeinwesen über das Government hinaus noch eine konkrete Wertwelt repräsentierte und jedermann noch über seine politischen Rechte hinaus seine unantastbaren Geburtsund Individualrechte besaß. 28 Vgl. Rittstieg (Anm. 10), S. 80 ff.
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Lockes Ausführungen hatten natürlich England im Auge, und seine politische Theorie war in einem hohen Maße eine verallgemeinerte Interpretation der Verhältnisse seines Landes, welches dabei war, die Reste seiner Subsistenzwirtschaft aufzugeben, sich im Zeichen einer expandierenden Markt- und Finanzwirtschaft einzurichten und der Hauptträger der atlantischen Handelsgesellschaft zu werden. Locke bezog sich nur auf das Government als Regierungsbehörde, welche von dieser Dynamik ergriffen war, nicht auf jene substantielle Einheit des Gemeinwesens England, das jenseits der politischen Theorie in seiner Individualität und Partikularität gewissermaßen einen „absolut unbewegten Selbstzweck" (Hegel) darstellte. Lockes Reduktion des Staates nach innen entsprach eine Kompetenzerweiterung nach außen, der eine eigene Gewalt, ,the federal Power', zukam. - Lockes Unterscheidungen trafen auch insofern zu, als die Unterhausmitglieder schon seit den Tagen des Richters Sir Edward Coke nicht mehr nur die Interessen ihrer Wähler oder deren Gravamina vertraten, sondern das ganze Königreich. Nicht als Lokalvertreter, sondern als Vertreter der ganzen Nation und mitwirkende Gesetzgeber erlangten sie ihre besonderen Freiheiten und Privilegien, die über ihre alten Rechte als ,Grand Inquest' und ,High Court' hinausgingen. Locke enthielt sich zwar aufgrund der von ihm methodisch gewählten Abstraktionsstufe jeglicher Bezüge auf ,the Ancient Constitution' oder ,the Gothick Liberties' oder ,the Norman Yoke' und bevorzugte außerenglische, vornehmlich biblische Beispiele, nicht nur wegen seiner Polemik gegen Filmer, sondern weil er wirklich eine »Naturgeschichte' des politischen Gemeinwesens liefern wollte. Indessen sind Lockes Vorstellungen durchweg aus der englischen Geschichte gewonnen, und der Drehpunkt seiner ,Naturgeschichte' läßt sich ohne Schwierigkeiten auf englische Verhältnisse beziehen, wo sich der Übergang zur Handels-, Markt- und Geldwirtschaft schon in den Jahrzehnten vor der Glorreichen Revolution anbahnte, und zwar vor den Augen von Locke, als Sekretär der assoziierten Eigentümer von Carolina, als Sekretär des Board of Trade unter Ashley (Lord Shaftesbury), als Verfasser von The Fundamental Constitutions for the Government of Carolina (anonym 1669) und wohl auch als Fellow der Royal Society seit 166829. Allerdings antizipierte Locke eine Entwicklung, die erst nach der Glorreichen Revolution fast mit einem Schlage bestätigt wurde, als ,King William's War' (der Pfälzische Erbfolgekrieg 1689-1697) die machtpolitischen Verhältnisse auf einen anderen Fuß setzte und das Zusammenspiel von Parlament und königlicher Regierung aus den von Locke gewonnenen Perspektiven von »Government and Property' verstanden oder interpretiert werden konnte. Das Property war im Parlament repräsentiert, mit dessen Hilfe die Regierung erst in die Lage kam, den Krieg zu finanzieren, der England zur ersten Handelsnation gegen Frankreich und im Bunde mit Holland machte. Locke gewann als besoldetes Mitglied des Board of Trade seit 1696 Einblick in Zusammenhänge, an denen sich nachträglich seine politische Theorie vom Property bewährte. Erstmals 29 Lasten (Anm. 1), S. 25-36.
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gelang es über die Bank von England (seit 1694) und mit Hilfe des Parlaments, die ganze Finanzkraft des Landes in den Dienst der hohen Politik zu stellen. Das Parlament als Anwalt und Hüter des Property stieg in dieser Zeit zum Aufsichtsrat des staatlichen Kreditwesens empor, indem es den Schuldendienst der Regierung durch seine Steuerbewilligungen garantierte und zunehmend die Verwendung (Appropriation) der aufgenommenen Kredite überwachte. Im Lauf einiger Jahrzehnte wurde die Staatsschuld zur größten Finanzinvestition des ganzen 18. Jahrhunderts. Locke konnte eine solche Entwicklung natürlich nicht voraussehen, aber sie vertrug sich überaus gut mit seiner Property- und Trust-Theorie. Das Parlament als Anwalt des Property erhielt durch die Finanzrevolution sein maßgebendes Gewicht und war jetzt schon der eigentliche Träger der britischen Großmachtpolitik. Lockes Positionen ließen sich ohne weiteres auf das neue Verhältnis zwischen Regierung, Parlament, Bank von England und Nationalschuld anwenden, aus welchem heraus die aus der kolonialen, maritimen, kommerziellen und machtpolitischen Expansion zuströmenden Reichtümer der Regierungspolitik verfügbar wurden. Erst dadurch wurde die riesige britische Subsidienpolitik bis 1760 möglich gemacht. Hier spielt die englische Regierung genau die Rolle, die Locke für sein ,Political and Civil Government4 vorgesehen hatte, nämlich die Rolle als Treuhänder einer Joint Stock Company4, also einer Aktiengesellschaft, deren Aktionäre in die ,National Economy4 investierten und ihren Aufsichtsrat im Parlament sahen. In etwa galt dies auch für die kolonialen Neugründungen in Nordamerika: Sie beruhten zu einem guten Teil auf solchen Aktiengesellschaften und Handelskompanien und bildeten ihnen entsprechende Verfassungen aus, an denen auch Locke beteiligt gewesen war. Jedenfalls lag das, was die Engländer im Hinblick auf Property und Trust und mit Rücksicht auf die Nötigungen in Politik, Wirtschaft und Finanzen im Mutterland und auch in Nordamerika zustande brachten, auf der Linie Lockescher Argumente und Vorstellungen. Die enorme Langzeitwirkung Lockes hing natürlich auch mit seiner abstraktnormativen Darstellungsweise zusammen. Er fand keinerlei Schwierigkeiten dabei, wenn er die Vorstellungen seiner Zeit generalisierte und mit seiner Auffassung vom Naturstand in Verbindung brachte. Er ersetzte die ,Customary Principles4 der englischen Konstitution durch ,immutable Laws of Nature' 30 , isolierte seine Beispiele, löste sie vom englischen Mutterboden und ließ deren Erörterung in ein rationales Räsonnement einmünden. Damit gelangte er zu einem „brillant Abridgement of the Political Habits of Englishmen4'31.
30 W. H. Greenleafy Order, Empirism and Politics. Oxford 1964, S. 272. 31 M. Oakeshott, Rationalism in Politics and other Essays. London 1962, S. 121.
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5. Vom ständischen zum bürgerlichen Widerstandsrecht Der entscheidende Punkt der Widerstandslehre von Locke liegt darin, daß er das ständische Widerstandsrecht und den Ständestaat ablehnt und zum Verfassungsstaat fortschreitet. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung findet sich im elften Kapitel des zweiten Traktates On the Subordination of Powers in a Commonwealth, wo er den vielfach behaupteten Supremat des Parlaments emphatisch ablehnt. Hier hält Locke daran fest, daß es in einer verfaßten Gemeinschaft (Constituted Commonwealth) eine einzige höchste Gewalt geben muß, der sich alles andere unterzuordnen habe. Diese ,Supreme Power4 liege bei der Legislative. Damit ist aber nicht das Parlament, sondern der gesamte legislative Apparat mit König, Regierung, Oberhaus und Unterhaus gemeint, welcher als solcher keine eindeutig verortbare Handlungskompetenz hat und somit einer permanenten Instanz bedarf, welcher die oberste Exekutive anvertraut ist. Der Supremat liegt beim König als Inhaber der ,Supreme Executive Power 4, welcher außerdem Inhaber der,Federal Power4 (Außenpolitik) und der Prärogative sowie Teil der Legislative ist, die seiner Zustimmung bedarf und ihm nur übergeordnet ist, insoweit er sie anerkannt hat oder mit ihr übereinstimmt (§ 152). Der König hat zwar nicht volle oberste Gewalt zur Gesetzgebung, wohl aber ,the Supreme Executive' der Gesetze, von welcher alle Obrigkeiten ihre allgemeinen Kompetenzen ableiten, zumal wenn die Legislative vertagt oder aufgelöst ist. Über ihm steht keine höhere Legislative, weil es kein Gesetz ohne seine Zustimmung geben kann: „He is properly enough in this sense Supreme'4 (§ 151). Der König ist damit nicht absolut, wohl aber souverän, nämlich nur begrenzt durch Gesetze, die er selbst im Parlament verkündet hat, und die er nur in der gleichen Weise abändern kann, wie sie zustande gekommen sind (§ 222). Locke gestand dem König von England im Rahmen der Konstitution Unabhängigkeit, Supremat und Souveränität zu; schließlich hatte der Monarch - zu Lebzeiten Lockes - immer noch sein Vetorecht, empfing von niemandem Befehle und konnte jedermann Befehle geben. Ein Parlament ohne König hatte demgegenüber keine ausreichende Legitimation. Damit war nach Locke die traditionelle (ständische) Widerstandslehre auf England nicht anwendbar. Sie erwies sich nach der Kritik Robert Filmers und Samuel Pufendorfs an der geteilten Souveränität als revisionsbedürftig. Die Monarchomachen des 16. Jahrhunderts hatten den Ständen und gleichwertigen Zwischeninstanzen (magistrats inférieurs) ein Widerstands- und Absetzungsrecht zugeschrieben, welches mit der Majestas des Königtums unvereinbar war. Der Ständestaat war ein widersprüchliches Zwittergebilde, welches unscheltbares Königsrecht und ständisch-parlamentarisches Widerstandsrecht zu kombinieren versuchte. Darunter litten die englischen Revolutionäre von 1688/89, die die alte Verfassung bewahren wollten und jeden Bruch der Kontinuität von sich wiesen. Sie weigerten sich, den faktischen Supremat des ,Konventionsparlaments4 einzugestehen, das ohne königliche Writs zustande gekommen war und sich als vollgültiges Parla7 Kluxen
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ment deklariert hatte. Wer an der Unabhängigkeit des Königs festhielt und den Supremat des Parlaments leugnete, konnte sich nicht mit der traditionellen Widerstandslehre zufriedengeben. Die Ausflüchte der Parteien mit der Thronvakanzoder der Thronverzicht-These waren alles andere als überzeugend. Locke übernahm stillschweigend einen wesentlichen Punkt der Kritik Filmers an der ,gemischten Verfassung', in welcher die letzte oberste Instanz durch eine Balance der konstituierten Gewalten ersetzt war, wodurch der Sitz der Souveränität im ungewissen blieb 32 . Locke dagegen hielt im Einklang mit Filmer am Fortbestand einer obersten Gewalt und der Notwendigkeit einer Prärogative fest, ohne das Widerstandsrecht fallenzulassen. Seine Auseinandersetzung mit Filmer führte ihn einen anderen Weg, der in einigen Positionen auf der Linie des kommenden Konstitutionalismus lag. Im Streit der Whigs und Tories um das Widerstandsrecht konnten sich beide Seiten auf Locke berufen. Indessen durchschauten sie nicht, daß Locke dieses Problem auf eine andere Ebene hob, und zwar in einer Weise, daß nicht zu viel gesagt ist, wenn man ihn an die Eingangspforte zum modernen Parlamentarismus piaziert. Locke tat den Schritt über das ständestaatliche Denken hinaus auf Konstitutionalismus hin, als er zwischen konstituierender Gewalt im Naturstand und konstituierter Gewalt im politischen Stand unterschied, zwischen dem Gemeinwesen als Natur und dem Government als menschlichem Werk, zwischen rechtlich-sozialem Property und politischem Government. Für Locke blieb der König die Autorität, die keinen Höheren über sich anerkennt; allerdings war er nur die oberste politische Autorität, innerhalb der konstituierten Gewalten des Government wie Parlament, Behörden und König. Die letzte oberste und souveräne Instanz eines verfaßten Gemeinwesens lag nach Locke überhaupt nicht im Umkreis seiner politischen Institutionen, sondern war in einer ihnen vorausgehenden konstituierenden Gewalt verankert, die im Volk als Gesamtheit (Community) vorgegeben war. Alle Kapitel über den Ursprung und die Natur des Government im Second Treatise durchzieht der Gedanke der ,Community' als eines eigenständigen moralischen Potentials, dessen Majestät und Autorität nicht auf das Government übertragbar sind. Diese ,Community' ist die Ausgangsbedingung für die Errichtung eines Government mit bestimmten Befugnissen, deren oberste die Gesetzgebung ist. Diese ordentliche Gewalt wird von einer konstituierenden außerordentlichen Gewalt geschaffen. Innerhalb einer Konstitution wie der englischen gibt es keinen letzten und endgültigen obersten Richter, wie Filmer ihn als notwendig angesehen hatte, als er »Limited or Mixed Monarchy' mit Anarchie gleichsetzte. Locke weist eindringlich auf die übergeordnete, außerordentliche konstituierende Gewalt hin, 32
Vgl. Robert Filmer, The Freeholder's Grand Inquest..., London 1679, S. 264, zit. nach J. H. Franklin, John Locke and the Theory of Sovereignty. Mixed Monarchy and the Right of Resistance in the Political Thought of the English Revolution, Cambridge 1978, S. 95. Hier heißt es im Essay The Anarchy of a Limited Monarchy : „If the King be judge, then He is no limited Monarch. If the People be judge, He is no monarch at all. So farewell limited monarchy, nay, farewell all Government if there be no judge."
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die dann in Erscheinung tritt, wenn die ganze »ordentliche' Konstitution auf dem Spiele steht. Jenseits des politischen Government äußert sich die ,Community' in einem permanenten Konsensus, also jenem einstimmigen Gesellschaftsvertrag vor und jenseits des politischen Government, aus welchem durch Verzicht aller Einzelnen auf Rechtsdurchsetzung in eigener Sache erst die Verfassung hervorgeht. - Damit leitete Locke jene Transformation der Souveränitätsidee auf die konstituierende Gewalt (Constituante) hin ein, die über ihn den Weg in die modernen Staats- und Verfassungsgründungen fand 33 . John Locke fand eine plausible Lösung des Widerstandsproblems bei George Lawson in dessen lateinischer Schrift Politica sacra et civilis (1660) 34 . Er übernahm die von Lawson verwendeten Unterscheidungen, die sich den Prämissen seiner politischen Theorie fugenlos einordnen ließen, zumal beide an Gedankengänge der Levellers anschlossen. Lawson unterschied zwischen ,Ordinary Power' und Constituent Power', was schon die Levellers antizipiert hatten. Er verweigerte dem Parlament die letzte Souveränität und erkannte der Gemeinschaft (Community, Communitas Communitatum) die Kompetenz-Kompetenz zu, weil durch sie das ,Common wealth' ursprünglich geschaffen worden sei. Die Constituent Power' hatte ,Real Majesty' und die »Ordinary Power' lediglich »Personal Majesty'. ,Real Majesty' war gleichbedeutend mit »Ownership' der Souveränität, während »Personal Majesty' nur eine »Possessorship' beinhaltete, also lediglich ,use' oder ,usefruct' bedeutete, also Nießbrauch oder bedingungsweise Übereignung, was dann bei Locke auf einen »Trust' hinauslief. Aber unveräußerlich (inalienable) bleibt jene »Real Majesty', welche ausschließlich der Gemeinschaft als solcher zukommt 35 . Alle ,ordentlichen' Instanzen oder Gewalten des Political Government haben ihre Kompetenzen nur im Rahmen des politischen Zusammenhangs und der Verfassung. Hier gibt es kein ,Real Property', sondern nur ,Personal Property'. Das gilt auch für den Fürsten, der nur »Personal Majesty' hat und weder über die Thronfolge noch über sein Amt beliebig verfügen kann wie über sein privates Eigentum. Die »Constituent Authority' und die »Real Majesty' sind nicht auf ein Amt übertragbar. Wenn das Government aufhört, hört auch das Parlament auf, weil der Grund weggenommen ist, dessentwegen das Parlament eingerichtet wurde. Für Lawson residiert jene ,Real Majesty' in den vierzig County Courts der vierzig Grafschaften von England, deren Konföderation den ursprünglichen Stand der Freiheit darstelle. Diese nationale Communitas Communitatum habe auch den König eingesetzt und ihm das Schwert als eigenständigen Trust verliehen, ohne darüber dem Parlament Rechenschaft zu schulden. Aber dieser unabhängige König besitzt nur »Ordinary 33 Franklin (Anm. 32), S. 123. 34 Ebd., S. 53 ff. 35 Ebd., S. 89 ff.; vgl. die Besprechung dieses Buches von Kurt Kluxen in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 245 ff. 7*
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Sovereignty' und hat nicht jene ,Real Majesty', der einzig und allein jene Kompetenz-Kompetenz zustehe, „quae potest rem publicam constituere, abolire, mutare, reformare" 36 Selbst das Herrscherrecht des Königs, das aus der Eroberung eines Landes entstanden ist, gilt nur als ,Personal or Ordinary Majesty', und zwar deshalb, weil von einem legitimen Government erst gesprochen werden könne, wenn das unterworfene Volk stillschweigend oder ausdrücklich seinen Konsensus gegeben habe. Auch ein einzelner König oder ein einzelnes Parlament oder auch beide gemeinsam könnten niemals das »Fundamental Law' der Verfassung ändern, weil sie sich selbst den Boden entziehen würden, auf dem ihre Befugnisse beruhen; dies könnten nur die Mitglieder jener County Courts, also der Grafschaftsversammlungen, deren Föderation die nationale Gemeinschaft England geschaffen habe37. Die ordentliche Souveränität oder die höchste Prärogative des Königs ist in den Augen von Lawson ein unabhängiger, d. h. von der Gesamtheit verliehener Trust, für welchen der König niemandem Verantwortung schuldet. Aber die ,Real Majesty' eines Volkes bleibe immer, auch im Bürgerkrieg, bestehen, was jeden Bürger zur Treue für, their own dear Country' verpflichte 38. Nach diesen Gedankengängen Lawsons konnte die Konsequenz eines unlösbaren Konflikts zwischen König und Parlament nur die Auflösung des Government und der Rückfall der Macht an die ,General Community' sein, als der konstituierenden Gewalt. Dies lag völlig auf der Linie des Second Treatise mit seiner Historisierung des Naturstandes und der Relativierung des Political Government. Locke übernahm diese Rechtfertigungsfigur für Widerstand und setzte sich damit in Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Whigs, die von einer Auflösung des Government nichts wissen wollten. Locke hielt an dieser Version fest, einmal weil hier eine plausible Lösung des Widerstandsproblems in einer,Mixed Constitution' angeboten wurde, die eine Teilung der Souveränität auf der politischen Ebene vermied und eine ,supreme Power' innerhalb dieses Bereichs zuließ. Dann aber auch, weil dies der Lockeschen Auffassung von Property und Trust entgegenkam. Bei ihm gab es kein Vertragsverhältnis zwischen Community und Government, sondern nur jenes auftragsgebundene Treueverhältnis. Selbst die höchste Gewalt im Government, also die Legislative, konnte nur für vorbestimmte Aufgaben handeln, nämlich für die Gesetzgebung, und sie war außerdem nur innerhalb der Verfassung handlungsfähig und kompetent (§ 149). Die konstituierende Gewalt blieb gegenüber den ordentlichen Gewalten im Hintergrund, war aber durchaus präsent in jenem Trust, der überhaupt als Trust erst ganz verständlich wird, wenn man diese außerkonstitutionelle Wirklichkeit mit in Betracht zieht. Sie ist, wie eine ,volonté générale', die ,supreme Power' der Constituante', welcher die Legislative als »fiduciary Power' gegenübersteht, die 36 Ebd., S. 72. 37 Ebd., S. 72 f. 38 Ebd., S. 76 f., 84.
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beseitigt oder verändert werden kann, wenn sie ,contrary to the Trust' handelt (§ 149). Diese letzte und oberste Gewalt ist immer (perpetually) gegenwärtig und richtet sich auch gegen die Gesetzgeber, wenn sie so töricht oder boshaft sein sollten, „to lay or carry an designs against the Liberties and Properties of the Subject". Im letzten Kapitel seines Second Treatise handelt Locke über ,the Dissolution of Government' (§§ 211-243). Sein ganzes Bemühen geht dahin, Widerstand nur zu rechtfertigen, wenn das Political Government seinen Trust bricht, also die Legislative „acts against the Trust reposed in them, when they endeavour to invade the Property of the Subject, and to make themselves, or any part of the Community, Masters, or Arbitrary Disposers of the Lives, Liberties, or Fortunes of the People"
(§ 221). In diesem Kapitel richtet sich Lockes größte Sorge gegen den Vorwurf, er öffne damit dem Aufruhr und der Anarchie Tor und Tür. Er kann sich nicht genugtun, darauf hinzuweisen, daß die Auflösung eines Government immer nur ein ganz seltener Ausnahmefall bleiben muß, der erst am Ende einer langen Kette von Mißständen, Ärgernissen und Willkürakten sowie nach Ausschöpfung aller rechtlichen und verfassungsmäßig vorgesehenen Möglichkeiten als ultima ratio geboten ist. Nach Locke ist das Volk zu allen Zeiten unzufrieden und ignorant; seine Aversion gegen fragwürdige Abenteuer ist schwer zu überwinden (§ 223). Es ist kaum dahin zu bringen, seine eingefahrenen Lebensverhältnisse zu ändern. Ein Mismanagement in publick affairs' oder auch verfehlte Gesetze und alle möglichen ,slips of humane fraily' werden vom Volk ohne Murren (without mutiny and murmur) ertragen. Aber - und damit kommen wir zu dem berühmten Satz, der in der amerikanischen Pamphletistik vor 1776 seit James Otis eine große Rolle spielt 39 und schließlich in die Unabhängigkeitserklärung von 1776 eingegangen ist, um den Freiheitskampf der Amerikaner zu rechtfertigen - : „If a long train of Abuses, Prevarications, and Artifices, all tending the same way, make the design visible to the People, (and they cannot but feel, what they lie under, and see, whether they are going;) ,tis not to be wonderd', that they should then rouze themselves, (and endeavour to put the rule into such hands, which may secure to them the ends for which Government was at first erected)" (§ 225). Mißbrauch der Gewalt rechtfertigt nur Proteste und Petitionen. Gewaltsamer Widerstand als ,Appeal to Heaven' ist erst dann berechtigt, wenn klar erkennbar wird, daß die ganze Konstitution auf dem Spiele steht, also ein verschwörerischer Plan (design) zum Umsturz von Recht, Gesetz und Verfassung dahintersteht und die bestellten Gesetzgeber gegen ihren Trust verstoßen (§ 226). Wenn jemand die 39 B. Bailyn (Hrsg.), Pamphlets of the American Revolution 1750-1776. Bd. 1 (17501765), Cambridge (Mass.) 1965, S. 98, 429, 434; James Otis, The Rights of the British Colonies Asserted and Proved. Boston 1764, S. 720.
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Gesetzgebung beseitigt und ihre Gesetze aufhebt, nimmt er die eigentliche Friedensinstanz, den Schiedsrichter (the Umpirage), hinweg und stellt den Kriegszustand allgemeiner Selbstjustiz wieder her. Dieses »rebellare' macht die Regierung selbst zum Rebellen und Friedensbrecher (§ 227), zum Zerstörer des Property. Nur wenn öffentliche Gewalt selbst sich gegen Gesetz und Recht richtet, ist gewaltsamer Widerstand berechtigt. Locke sucht auf mannigfache Weise darzutun, daß seine Widerstandslehre nicht »destructive to the Peace of the World' sei (§ 228). Er führt als Kronzeugen sogar William Barclay an, einen der einflußreichsten absolutistischen Protagonisten 40, nach welchem ,Self-Defence' Teil des Naturgesetzes sei und der Community nicht einmal gegenüber dem König abgesprochen werden könne (§ 233). Für Locke kann das Volk als Ganzes kein Richter sein oder jedenfalls nicht mehr als ,any single Man' (§ 168). Aber die vielen Einzelnen treffen zusammen in der Berufung auf einen letzten Richter über Recht und Unrecht. Sie verlassen die Partikularität ihres Gemeinwesens und vereinigen sich in einem menschheitlichen Anliegen. So taten es die Amerikaner, als sie Gott zum Zeugen für ihre gerechte Sache und ihr Gewissen ins Spiel brachten und an die öffentliche Meinung der Welt appellierten. So gesehen ist nicht die Glorreiche Revolution, sondern der Abfall der amerikanischen Kolonien von 1776 eine Art Bilderbuchversion der Lockeschen Widerstandslehre. Der Appell an den höchsten Richter, wie Jephta (nach Richter 12,7) ihn an Gott richtete (§ 241), blieb aber nicht das letzte Wort Lockes. Er schob noch die §§ 242 und 243 nach, die aktuellen Bezug auf die Glorreiche Revolution nahmen. Im letzten Paragraphen (§ 243) heißt es: „Um zum Schluß zu kommen: Die Gewalt, welche jedes Individuum der Gesellschaft (Society) übergab, als es in sie eintrat, kann niemals zu den Individuen zurückkehren, solange die Gesellschaft besteht. Sie bleibt immer in der Gemeinschaft (Community), weil ohnedem keine Gemeinschaft mehr bestände ... Das gilt auch, wenn die Gesellschaft die Legislative einer Versammlung übertragen hat ... dann kann sie niemals zum Volk zurückkehren, solange das Government besteht. Sobald eine Legislative ohne zeitliche Begrenzung vorgesehen ist, hat es seine politische Gewalt zur Gesetzgebung aufgegeben und kann sie nicht wieder zurücknehmen. Aber wenn es der Dauer seiner Legislative Grenzen gesetzt hat und die oberste Gewalt in einer Person oder einer Versammlung nur temporär ist, oder auch wenn sie durch Fehlverhalten der Leute an der Spitze verwirkt ist, also entweder verwirkt durch die Herrschenden oder durch die zeitliche Begrenzung, kehrt sie zur Gesellschaft zurück, und jetzt hat das Volk ein Recht, als oberste Gewalt zu handeln und die Legislative selbst fortzusetzen oder eine neue Form aufzurichten oder auch sie in der alten Form in neue Hände zu legen nach seinem eigenen Gutdünken." 40 Laslett (Anm. 1), S. 437; William Barelay, De Regno et Regali Potestate adversus Buchananum, Brutum, Boucherium et reliquos Monarchomachos (1600); De Potestate Papae (1609).
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Diese Schlußwendung Schloß die lange Reihe der Beschwichtigungen ab, die Locke für notwendig befunden hatte. Hier wird über die temporäre Begrenzung der Legislative das Volk ins Spiel gebracht und ihm die Möglichkeit gegeben, als oberste Gewalt zu handeln. Zwischen Community und Government wird hier die Constitution4 eingebracht, die erst später bei Bolingbroke in Ergänzung Lockescher Gedankengänge eine Abwandlung der Widerstandslehre zur Oppositionstheorie ermöglicht. Die aufständischen Amerikaner nahmen indessen Rekurs auf den eigentlichen Locke, wobei es ihnen insbesondere auf die Legitimation ihrer Empörung aus Lockeschen Argumenten ankam. Danach war der einzige stichhaltige Anlaß zum gewaltsamen Widerstand eine planmäßige Verschwörung gegen Gesetz, Recht und Verfassung, wie sie etwa Karl oder Jakob im Schilde geführt hatten und in der Exclusion-Krise erkennbar geworden war. Die Kolonisten in Nordamerika begründeten ihren Abfall ebenfalls mit einer Verschwörung der Regierung in Westminster gegen das Geburtsrecht der Engländer. Das Verschwörungsmotiv spielte in der Französischen Revolution eine Hauptrolle, und Tausende von Verdächtigen wanderten deswegen aufs Schafott. Uber Locke geriet die Verschwörungstheorie ins allgemeine Gerede, bis hin zu den Memoiren zur Geschichte des Jakobinismus des Abbé Barruel (1797/98). Für Locke hingegen war sie ein wichtiges Mittel, um die noch von Blackstone angeprangerte Gefährlichkeit seiner politischen Theorie für den Bestand eines politischen Gemeinwesens abzuwiegeln. Für Locke war es widersprüchlich, das Widerstandsrecht innerhalb der politischen Konstitution anzusiedeln und einer der »ordentlichen4 Gewalten zu überlassen; es blieb für ihn Ausnahmerecht jenseits des Government 41. Bedeutsam war, daß Locke mit seiner Version von der »Community4, vom ,Body of the People4 und vom »Property4 als Privatangelegenheit endgültig über den Ständestaat hinausging und zum bürgerlichen Verfassungsstaat fortschritt, der die Eigentümergesellschaft zu schützen hatte. Sein Radikalismus hatte mit politischer Demokratie wenig zu tun und enthielt sich jener revolutionären Denkstrategie, die alles in seine Bestandteile zerlegen wollte, um daraus eine von Grund aus neue Ordnung aufzubauen. Locke war eher das Gegenteil davon und bewegte sich in einer Denktradition, die Anschluß an Richard Hooker suchte und in die Rechtswelt des englischen Mittelalters zurückreichte 42. Seine Konzeption einer ,Naturgeschichte4 des Gemeinwesens unterschied sich grundlegend von den Naturrechtskonstruktionen der Zeitgenossen. Sein Naturstand entfaltet sich aus Arbeit und Aneignung zu einer ,Private-Property'-Gesellschaft, deren Differenzierung erst ein politisches Government herbeinötigt. Das Government ist nur Treuhänder des Property als eines historisch gewachsenen Rechtsbestandes; es ist Schiedsrichter und Friedens wahrer, also eine neue Rechtsinstanz, die im Naturstand fehlte, wo jedermann Richter in eigener Sache war. Das Government soll sogar die Ungleichheit des Property schützen, die durch Arbeitsteilung, 41 LaslettiAnm. 1), S. 446. 42 G.H. Sabine , A History of Political Theory. 2. Aufl., New York 1950, S. 439 f.
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Markt- und Geldwirtschaft eingetreten war. Das Property im weitesten Sinne ist unantastbar und Grundlage des Rechts überhaupt. Dieser radikale possessive Individualismus (Macpherson) im »System der Bedürfnisse' wird von Locke allenthalben ins Feld geführt und doch, streng genommen, im Begriff der Gemeinschaft (Community) als ,Wirklichkeit der sittlichen Idee' und auch des ,Trust' wieder aufgehoben oder jedenfalls eingeschränkt. Die Ambivalenz der politischen Theorie Lockes ist das beste Teil an ihr und nicht etwa durch Gedankenschwäche verschuldet, sondern Signatur jenes Gegenstandes, welcher insgeheim in der Mitte seiner politischen Theorie steht, nämlich England. Für Locke ist der Fortbestand des Gemeinwesens England entscheidend. Als König Jakob II. die Flucht ergriffen und sein Großes Siegel in die Themse geworfen hatte, war der Naturstand, nämlich die englische Gesellschaft minus Government, Übriggeblieben, an welcher niemand etwas verändern wollte. Die Widersprüchlichkeit einer Revolution, deren Grundanliegen die Bewahrung des alten Zustandes war, und deren revolutionärster Schritt konservativen Zielen diente, findet sich bei Locke wieder, insofern die neue Qualität des politischen Gemeinwesens der Sicherung des überkommenen Rechtsbestandes diente. Diese ,English Inheritance' war für Locke bereits ,the Constitution'. Der hier lebendige Konsensus, wonach jedermann sich als Engländer fühlte, also der moralische, soziale und rechtliche Zusammenhang des Ganzen, der ,Spirit of the Nation', oder England selbst als geschichtliche Größe bildete für Locke die eigentliche Schranke gegen die Omnipotenz einer obersten Staatsgewalt. Man vermißt bei Locke eine deutliche Scheidung von Regierung und Verfassung, sie spielt erst in den beiden letzten Paragraphen des zweiten Traktats eine erkennbare Rolle, die von Locke nachgeschoben wurden. Erst Bolingbroke unterschied zwischen dem ,General System' der Verfassung und dem Particular Conduct' der Regierung, zwischen der Vernunft des Ganzen und den Sonderinteressen des Government 43. Streng genommen hatte England keine Verfassung im engeren Sinne, und auch Bolingbroke meinte mit seiner Constitution' im Grunde das ganze Gemeinwesen. Locke richtete sich lediglich nach einer Eigentümlichkeit der englischen Geschichte, wenn er das Gesetz aus dem Jus und das Government aus der Community und dieses aus dem täglichen Konsensus, also dem plebiscite de tous les jours' hervorgehen ließ. Auch das Common Law entstand im 12. Jahrhundert aus der Festschreibung eines Status quo der Besitzverteilung, und im 17. Jahrhundert galten nach der Auslegung von Richter Coke die großen grundgesetzlichen Entscheidungen nicht als dezisionistische Neuschöpfungen von Recht, sondern als Erläuterungen einer vorgegebenen Rechtssubstanz, als deklaratorisch oder ratifizierend. Das waren sie auch in den Augen Lockes, dessen Anschauungen sich auf der Linie eines konservativen Legitimismus bewegten, dem die meisten Engländer anhingen. 43 Vgl. Κ Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert. Freiburg/München 1956, S. 200 ff.
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Die radikale Property-Philosophie Lockes, die auch Mißstände der Eigentümergesellschaft wie Ungleichheit und die Kluft zwischen Arbeit und Aneignung erhalten wissen wollte, fand sich jenseits der Friedenslinien4 (beyond the Lines) im herrschafts- und rechtsfreien Raum der Weltmeere, also im Naturstand, bestätigt, wo Selbstjustiz und rücksichtsloses Profitstreben die Regel waren. Hier war das Government nicht zuständig. In bezug auf England selbst hielt Locke an der Vorrangstellung des Besitzbürgertums fest. Dies war für ihn als Empiriker eine rechtspolitische Entscheidung zugunsten des Status quo im Bereich der ,Political Economy4, also zugunsten der sich entfaltenden bürgerlichen Welt. Die Freisetzung dieser Handelswelt und ihr gleichzeitiger Schutz durch das Government machten erst den Aufstieg Englands zur Handelsgroßmacht möglich. Die enorme Langzeitwirkung Lockes ist vielleicht daraus zu erklären, daß seine Sichtweise den Vorstellungen der aufstrebenden bürgerlichen Schichten in vieler Hinsicht entgegenkam und sich mit den wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bedürfnissen der Folgezeit gut vereinbaren ließ. Darum ist wohl mit Blick auf Locke die Behauptung zulässig, daß die kanonische Geltung seiner politischen Theorie eher aus der Erörterung des zeitgenössischen politischen Zusammenhangs als aus der Stringenz seiner Argumentationen verständlich gemacht werden kann.
Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert Das 18. Jahrhundert gilt zurecht als „Blütezeit der Gleichgewichtsidee"1. Es gab keinen gelehrten Zeitgenossen, der diese Idee nicht aufgegriffen hätte, und auch keine zeitgenössische Wissenschaft, die sie nicht in ihre Überlegungen einbezogen hätte. Schon im 17. Jahrhundert spielte dieser Gedanke in Politik und Wissenschaft eine zentrale Rolle; nun aber war der Glaube an die integrierende und steuernde Funktion des Gleichgewichts allgemein geworden2. Die Balance gehörte zum festen Repertoire aufgeklärten Denkens und geriet schließlich über die belehrende und unterhaltende Literatur ins allgemeine Gerede. Gewiß wurde sie dabei zu einer modischen Metapher, die aber nichtsdestoweniger ein gewandeltes Weltverständnis ankündigte. Denn die maßgebenden Denker der Epoche sahen in ihr eine zentrale Ordnungsfunktion, auf die hin die Natur zu begreifen und die menschliche Lebenswelt zu gestalten war. Alle großen Ordnungsentwürfe des Jahrhunderts vom Abbé de Saint-Pierre über Immanuel Kant bis zu Edmund Burke oder auch zu Abbé Sieyès, und alle großen Verfassungsentwürfe von Harrington über Locke und Montesquieu bis zur amerikanischen Verfassung (1787) und darüber hinaus, ließen sich vom Gedanken der Balance leiten. Es ist verwunderlich, daß ein Begriff aus der Mechanik solche Bedeutung erlangen konnte, die ihm selbst ein Denker wie Burke zubilligte3. Andere Termini aus der Mechanistik wie etwa Revolution, Rotation, Gravitation, Toleranz, (Kausal-)Gesetz, Opposition wurden ebenfalls gebräuchlich, erlangten aber bei weitem nicht eine vergleichbare Bedeutung - mit Ausnahme des Terminus Revolution, der aber erst nach seiner Umdeutung von einer Rückkehr zu einem Neubeginn jener alten Balance-Vorstellung den Krieg erklärte, bis schließlich F. Engels sie als „vollkommensten Ausdruck der Angst der Menschheit vor sich selbst" desavouierte, insofern sie hoffe, daß die unsittlichen Faktoren des Staatswesens durch wechselseitige Einschränkung ein sittliches Produkt ausmachen könnten4. Die Gleichgewichtsidee gewann ihre große Bedeutung durch die neue naturwissenschaftliche Methode, die mit Galilei (1564-1642) in die Welt getreten war und alle Wissenschaften für Generationen in ihren Bann zog. Galilei reduzierte den Weltzusammenhang auf ein mechanisches System. Gegen die bis dahin üb1 E. Kaeber, Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Berlin 1907, S. 4. 2 W. Dilthey, Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt, in: Gesammelte Schriften, Leipzig/Berlin, Bd. 4 (1927), S. 24ff. 3 Ebd. 4 Friedrich Engels im „Vorwärts", 1844.
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liehen Spekulationen der Metaphysik fragte er nicht mehr nach dem Wesen der Dinge, sondern nach ihrer regelhaften Verknüpfung und ersetzte die alten aristotelischen Wesens-, Form- und Ordnungsbegriffe durch den Begriff der Funktion und des physikalischen Gesetzes. Mit Experiment und Mathematik, mit Messen, Zählen und Wiegen erreichte er eine universelle Theorie der Natur und der Materie, an der sich das Gespräch der Geister entzündete. Ein ganzer Schweif von Forschern, Erfindern, Experimentatoren, Projektemachern und Gauklern setzte sich in Bewegung, um in ähnlicher Weise den Kräften und Wundern der Welt mit Messen, Mischen und Trennen auf die Spur zu kommen5. Das neue Weltbild fand seine krönende Vollendung bei Isaac Newton (1643 — 1727), der die Identität von himmlischen Gravitationsgesetzen und irdischen Fallgesetzen erkannte und das Weltall als gigantisches Equilibrium interpretierte 6. Danach gab es über den berechenbaren Einzelmomenten eine Gesamtordnung, die sich aus der Mechanik der anziehenden und abstoßenden Kräfte und ihrer Gleichzeitigkeit von selbst ergab und deren Zustandekommen aus den methodischen Voraussetzungen Newtons auch nicht anders gedacht werden konnte. Diese Idee eines Weltgleichgewichts und einer ihm entsprechenden Weltgleichung diente nicht nur als Schlüssel zum Verständnis des Weltalls als Ganzem, sondern mußte diesem als oberste regulative Voraussetzung seiner prinzipiellen Berechenbarkeit zugrunde gelegt werden. Die Balance war die vermittelnde Vorstellung, unter der die Bewegung der Teile und der Bestand des Ganzen vereinbar erschienen. Unter der Hand war damit ein Begriff aus der Mechanik zur regulativen Idee der mechanischen Weltvorstellung geworden, die ohne sie nicht als Ganzes faßbar war. Newton begründete in den Augen der Zeitgenossen das „natürliche System der Wissenschaften", auf das hin sich alle Lebensbereiche auf der Suche nach angemessenen menschlichen Daseinsformen orientieren konnten. Seine Auffassung vom Equilibrium des Universums wurde auf Mensch, Gesellschaft und Politik übertragen. Der Popularisator Newtons, John T. Desagulier, Kaplan des Duke of Chandos, nannte in einem Gedicht (1728) „the Newtonian System of the World the Best Model of Government" 7; die Assoziationspsychologen der Zeit setzten die Assoziationsgesetze in eins mit den Gravitationsgesetzen, und die Moralphilosophen sahen im inneren Gleichgewicht der menschlichen Seelenkräfte den der Natur entsprechenden Zustand, ebenso wie die Mediziner im Gleichgewicht der Säfte (humours) das Wesen der Gesundheit erkennen wollten. Selbst Jeremy Bentham wollte mit seinem radikalen Nützlichkeitskalkül der „Newton of the Moral Sciences" werden. 5
Paul Hazard , Die Krise des europäischen Geistes (1680-1715). Hamburg 1939, S. 354ff. 6 Isaac Newton, Philosophiae naturalis Principia Mathematica. 1687. 7 Vgl. Kurt Kluxen, Die Auswirkungen der englischen Aufklärung auf Politik und Gesellschaft, in: Hans-Joachim Schoeps (Hg.): Zeitgeist der Aufklärung. Paderborn 1973, S. 48; vgl. in diesem Band, S. 300 ff.
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Indessen hatte das Gleichgewichtsdenken noch andere, ältere Wurzeln, die seine zentrale Bedeutung für Wissenschaft und Politik erst erklärlich machen. Newton dachte ohnehin nur zu Ende, was Galilei gelehrt und dessen Vorläufer in Padua und Florenz inauguriert hatten. Eine neue, an antiken Vorstellungen und Paradigmen sich orientierende Denkweise über Gesellschaft und Politik in Form immanenter und partikularer Welt- und Geschichtsbetrachtung setzte sich hier in Oberitalien, weit früher als die Naturwissenschaften, gegen das Mittelalter ab, und zwar, weil dort im Kampf gegen die alten Ordnungsmächte ein neues säkulares Weltverständnis entstanden war, sowohl in der nominalistischen Philosophie von Padua als auch im fiorentini sehen „Civic Humanism". Hier trat erstmals die politische Wissenschaft als eine saekulare Form der Daseinsorientierung auf die Szenerie, deren Methode Verwandtschaft mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise hatte, wenn auch ihr Vokabular der Antike entnommen war. Der neoklassische Republikanismus der florentinischen Humanisten entwickelte bereits politische Theorien, die zusammengenommen auf eine normative Soziologie der Freiheit hinausliefen. Hier wurde im Anschluß an Aristoteles und Polybios die Balance der „gemischten Verfassung" und der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kräfte als Mittel der Freiheitsbehauptung gesehen. Aber erst der Zusammenbruch der oberitalienischen Staatenwelt war der entscheidende Augenblick, „the Machiavellian Moment" 8 , in welchem Machiavelli (1469-1527) seine neue Wissenschaft von der „Politik überhaupt" niederschrieb. Sie stellte eine intellektuelle Revolution dar, die nicht weniger bedeutsam war als später die Naturwissenschaft Galileis. Angesichts der politischen „tabula rasa" in Oberitalien ging Machiavelli den Regeln und Gesetzen des machtpolitischen Kräftespiels nach und reduzierte die Politik auf eine Strategie der Machtbehauptung, die ausschließlich das abstrakte Freund-Feind-Verhältnis ins Auge faßte 9. Seine scharfe Optik verdankte er einer ungeheuerlichen Reduktion aller Phänomene auf einen Machtkalkül. Machiavelli war so machiavellistisch, wie die mechanischphysikalische Naturbetrachtung mechanistisch war. Politik war für ihn nicht mehr Hüterin einer vorgegebenen Gerechtigkeit (jus), Anwältin eines vorgegebenen Menschenbildes (vivere civile) oder Garantin der vorgegebenen Identität einer Gesellschaft (custom, inheritance), sondern Sache eines Kalküls, der aus der Not des Daseins (necessità), aus der sich bietenden Gelegenheit (occasione, fortuna) und aus dem menschlichen Behauptungswillen (virtù) hier und jetzt das Handeln bestimmte. Eigentliche Politik war für Machiavelli immer Innovation und Entscheidung, die Tat eines großen Individuums oder einer bewaffneten Bürgerschaft. Sie war nicht „jurisdictio", sondern „gubernaculum", da im ewigen Fluß der Dinge kein sicherer Halt vorgegeben war. Repräsentant einer so verstandenen Politik war nicht der „principe naturale", der gar keine Politik brauchte, sondern der „principe usurpatore", für den innovatorische Politik nicht die Ausnahme, sondern die Regel war. 8
J.G.A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton University Press 1974. 9 Kurt Kluxen, Politik und menschliche Existenz bei Macchiavelli, Stuttgart 1967.
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Politik ist hier die Antwort auf einen permanenten Ausnahmezustand, bei dem Feinde von außen und Verfall von innen zusammenwirken. Auf dem stürmischen Ozean des Daseins ist es dem Politiker nicht erlaubt, das Steuerrad jemals aus der Hand zu lassen. Machiavelli begründete Politik aus Notwendigkeit und Erfolg, und nicht aus Recht, Moral, Religion oder Tradition, die alle ihr lediglich als Mittel zu dienen hatten. Sie rechtfertigte sich am Maß der Stabilität, das sie durch Staatskunst (prudenza) oder Gesetzgebung (necessità dalle leggi) erreicht. Alle Nachfahren Machiavellis haben die Politik einem solchen Kalkül unterworfen, einer „ragione" des Herrschers oder einer „ragione di stato", die nur mit Machtpotentialen rechnete, die gegenseitig auszuspielen waren. Sie suchten die Welt zu erkennen, um sich ihrer zu bemächtigen. Die vermittelnde Figur zwischen Machiavelli und dem neuen wissenschaftlichen Denken war Francis Bacon (1561 -1626), der Herold einer neuen Zeit, der metaphysische Seinsprinzipien konsequent ausklammerte und durch den Begriff des Gesetzes und der Funktion ersetzte 10. Auf seiner Suche, alle Lebensbeziehungen von ihrer arithmetischen und statistischen Seite zu erfassen und auf kalkulierbare Elemente zurückzuführen, entdeckte Bacon den in Regeln, Funktionen und Formeln darstellbaren Zusammenhang von sozialer und politischer Wirklichkeit. In seiner politischen Wissenschaft erhob er die Balance zur Maxime der Politik schlechthin und bezeichnete die Gleichgewichtspolitik als Schlüssel der inneren und äußeren Staatskunst. Bei ihm war der Gedanke der europäischen Christenheit bereits klar von der Idee eines Gleichgewichtssystems der europäischen Mächte abgelöst. Er betonte die notwendige Balance aller Glieder einer Gemeinschaft, gegen „overgrown clergy" und gegen „overproportion" des Adels, sowie die Beachtung eines „well-balancing of trade" 11 . Die Balance war ständiges Thema seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erwägungen. Sie war bestimmend bei seinen Analogien zwischen menschlichem Körper und dem „body politic", zwischen menschlicher und politischer Gesundheit. Sie diente ihm als Mittelbegriff zwischen mechanischer, organischer, moralischer und politischer Welt und gab damit mehreren Generationen die Richtung auf eine Betrachtungsweise, die die Balance wie ein Naturgebot behandelte. In den Wirren der Puritanischen Revolution war die Konstituierung einer ausbalancierten Ordnung das ausdrückliche Anliegen der Zeit, um den leidenschaft10
Bacon blieb noch der aristotelisch-scholastischen Formenlehre und damit der Renaissance-Philosophie verhaftet und faßte die Naturgesetze als Formalursachen der Dinge auf, was ihm eine angemessene Würdigung der Leistungen der neuen Naturwissenschaft verwehrte und die Tragweite seiner eigenen methodischen Grundsätze unklar ließ. Indessen ist er der historischen Wirkung nach zum Vermittler zwischen den Wissenschaften geworden. Vgl. G.P. Gooch, Political Thought in England from Bacon to Halifax, London 1933; J.W. Allan, English Political Tought 1603-1660, London 1938, S. 58 f. h Francis Bacon, Works, hrsg. Spedding, London 1858, Bd. VI. S. 410 („Of Seditions and Troubles"); vgl. auch De augmentis Scientiarum, lib. II, III und VIII.
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liehen Streit über die „Fundamentals" zu beenden12. John Milton suchte mit Blick auf Venedig nach einem „equal system", und selbst Cromwell dachte an einen ausgleichenden Proporz der Denominationen, wobei jede Kirche anerkannt werden sollte, die sich mit einem solchen Gleichgewicht, gemeint war eine Drittelung der Amter zwischen Anglikanern, Dissentern und Katholiken, zufriedengeben wollte. Diesen Gedanken machte sich später William Penn zu eigen 13 , und auch der Dichter Shaftesbury sprach ihn auf seine Weise aus, als er die antike Balance zwischen „superstition" und freier Philosophie lobte 14 . Desgleichen dachte die Restauration in England (1660) ursprünglich an ein Gleichgewicht zwischen den Bekenntnissen, und die „Virtuoses" der Royal Society bemühten sich um den Entwurf einer entsprechenden Verfassung, die nach dem Vorbild von Venedig die Gegensätze in Schach halten und auf diese Weise den Frieden gewährleisten sollte. Überhaupt hatte der Horror vor der chiliastischen Revolution in England eine Wiederbelebung der neoklassischen und machiavellischen Tradition bewirkt, aus deren Paradigmen und Topoi das aktivistische Ideal einer ausbalancierten Republik mit Gewaltenteilung und gemischter Verfassung die politische Theorie bestimmte 15 . Hier war Harringtons „Oceana" (1655) der Wendepunkt. Harrington schlug die Brücke zwischen Iretons Property-Idee und Rainsboroughs FreiheitsIdee durch ein „equal system", welches durch eine „equal balance" in Bodenbesitz und Kompetenzverteilung sowie durch Trennung von „Wisdom" (Senat) und „Interest" (Volk) ausgewogen („librated") war. Die „Overbalance" an Bodenbesitz führe zu einem „Empire of Men", das Gleichgewicht aber zu einem „Empire of Laws". Deshalb galt für ihn: „What Government soever is in the necessary direction of balance, the same is of Divine Right" 16 . Auch die Korruption war für ihn in erster Linie nicht moralischer Zerfall, sondern Störung der „Balance of Government". Es kam ihm auf den funktionalen Zusammenhang an, und nicht auf irgendwelche „Fundamentals" oder einen letzten Staatszweck. Harringtons säkulare Revision der englischen politischen Theorie versetzte England in einen klassischen Kontext, und sein Gleichgewichtsvokabular bahnte den Weg von der systematischen Staatslehre 12
Hauptdokument für die Balance-Theorie im Sinne des „mixed government" war die Antwort Karls I. auf die 19 Propositionen des Parlaments, wo das „Divine Right" aufgegeben und „the ancient, equall, happy, well-poised ... Constitution of the Gouvernment of this Kingdom" als entscheidend angesehen wurde, „as long as the Balance hangs even between the three Estates ..."; zitiert aus „His Majesties Answer to the XIX Propositions of Parlament", London 1642, nach: Corinne C. Weston, English Constitutional Theory and the House of Lords, 1556-1832, London 1965, S. 263. 13 William Penn, An Essay towards the Present and Future Peace of Europe by the Establishment of an European Dyet, Parliament, or Estates. London 1693/94. 14 Vgl. Anm. 23. 15 Vgl. Pocock (Anm. 8), S. 380ff.; Kurt Kluxen, Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung. In: Heinz Rausch (Hg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, Darmstadt 1969, S. 141 ff.; vgl. in diesem Band, S. 153 ff. 16 James Harrington, The Commonwealth of Oceana and other Works (hrsg. John Toland), London 1737, S. 44, 48, 543.
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des 17. Jahrhunderts zum pragmatisch-politischen Denken des 18. Jahrhunderts, der in die politische Rhetorik der augusteischen Epoche Englands einmündete17. In den leidenschaftlichen Konflikten um die Thronfolge des katholischen Jakob II. Stuart (1685-1688) behaupteten schließlich jene politischen „Schaukler" das Feld, die als „Trimmers", „Managers", „Timeservers" und „Waverers" verschrien waren, dann aber jenseits der Parteiungen stehend durch geschickte Schaukeltaktik den Bürgerkrieg verhinderten und die Glorreiche Revolution ermöglichten. Für diese „Trimmer" gab es in der Politik kein Dogma, keinen festen Punkt, sondern nur „expediency", „conveniency", „probability", „trimming" und „muddling through". Sie waren Seiltänzer, wie Swift sie in seiner Satire von Liliput schildert, für die das Balancieren die einzige mögliche Politik war, was schließlich auch von vielen Zeitgenossen als Ausweis politischer Fähigkeit anerkannt wurde. Seit Halifax, dem eigentlichen „Trimmer" 18 , hielten die meisten Politiker stets mehrere Eisen im Feuer, um allen Wechselfällen gewachsen zu sein. Das berüchtigte Doppelspiel von Daniel Defoe, Bolingbroke oder Harvey war mehr Regel als Ausnahme, weil parteipolitische Grundsatzlosigkeit bis hinauf zur Königin Anna üblich wurde. Dagegen machte sich Prinzipienfestigkeit verdächtig, weil sie das politische Widerspiel mißbilligte und Konflikte unvermeidlich machte. Hier machte sich ein Denken breit, das vor allem auf die Ordnungsfunktion der Politik gerichtet war, ihr Verhältnis zu Religion, Moral, Recht und Gesellschaft sowie zu den Parteien pragmatisch auslegte und die Disposition der Figuren im politischen Spiel vor Augen hatte 19 . Das galt auch für die radikalen „Commonwealthmen" wie Molesworth, Gordon, Trenchard, Moyle oder Toland und Tindale, aber auch für gemäßigte Denker von Sir William Temple über John Locke bis zu Delolme und Blackstone. Aus dieser Denkweise wurde die englische Verfassung von 1688/ 1701 daraus gerechtfertigt, daß sie ausbalanciert sei. Nach John Locke bestand ihr Wesen in der Balance von Krone, Lords und Commons, die 1688 wiederhergestellt worden sei. Auch Bolingbroke hielt die Balance dieser drei gesetzgebenden Faktoren für den entscheidenden Punkt der Verfassung. Noch Blackstone folgte dieser Vorstellungsweise. Nach dessen Darstellung treiben jene drei Faktoren, wie drei verschiedene Kräfte in der Mechanik, gemeinsam in eine Richtung, die von jener Richtung grundverschieden ist, die jeder einzelne Faktor für sich eingeschlagen hätte. Aus diesem Parallelogramm der Kräfte wird für Blackstone die wahre Linie der Freiheit und des Glücks der Gemeinschaft erzeugt. Damit gehorcht, wie Delolme etwa zu gleicher Zeit schrieb, das „Uhrwerk" der englischen Verfassung den wahren Prinzipien der Natur und entspricht dem „Uhrwerk" des Universums 20. 17 Vgl. R.H. Tawney, Harrington's Interpretation of his Age (Raleigh Lecture), in: Proceedings of the British Academy 1941, S. 208 f. 18 H.C. Foxcroft, Life and Letters of Sir George Savile, First Marquis of Halifax. London 1898 (Kapitel über „Fundamentals"); bekannteste Schrift von Halifax: „The Character of a Trimmer" (1684), in: Halifax, Complete Works, hrsg. W. Raleigh, Oxford 1912. 19 Vgl. etwa: James Burnham, Die Machiavellisten - Verteidiger der Freiheit, Zürich 1949.
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Die Idee vom freiheitsichernden Gleichgewicht der gesetzgebenden Gewalten war für die Zeitgenossen der erste Grundsatz der parlamentarischen Monarchie in England geworden. In den Kommentaren Blackstones und Delolmes zur englischen Verfassung macht sich noch jene politische Mechanistik bemerkbar, die von Robert Molesworths „Account of Denmark" (1693) bis zu „Cato's Letters" (1723) die tollsten Blüten trieb und eine publizistische Begleitmusik mit schrillen Obertönen erzeugte, die mit einer perfekten Balance in „Government" und „Property" einer Automatik das Wort redete, die das öffentliche Wohl und die Bestrafung der Übeltäter mit mechanischer Sicherheit erzeugen sollte. Allerdings stand dahinter kein moralischer Utopismus, da Laster, Torheit, Korruption und Egoismus in den Kalkül einbezogen wurden. Sie blieben notwendig, schon um die Balance des Ganzen richtig kalkulieren zu können; zudem waren „private vices" auch „publick benefits" (Mandeville). Gerade die banale Plausibilität dieser radikalen Mechanistik brachte die Balance ins allgemeine Gerede. Das bezeugt am besten die Art ihrer Persiflage vor dem Theaterpublikum, die in England nichts verschonte, selbst die inzwischen kanonisierte Balance nicht. Sie ist dem wortgewaltigen Parlamentarier und Komödiendichter Richard Brinsley Sheridan zu verdanken, in dessen Burleske „The Critic" (1779) sich eine Szene findet, wo jeder den anderen von hinten erdolchen will, aber daran gehindert wird, weil sein Hintermann gleichzeitig mit ihm dieselbe Absicht hat, so daß der ganze Kreis der Mitspieler sich wechselseitig blockiert. Niemand kann weitermachen, weil eine „nice balance" alles in der Schwebe hält. Erst durch den Zutritt einer weiteren Person und deren Zuruf „Im Namen der Königin!" kann das Stück weitergehen. - Offenbar durfte der Dichter erwarten, daß sein Publikum diese Parodie ohne weiteres verstand und sich daran ergötzte. Allerdings hatte die Balance für die englischen Politiker nach 1689 noch eine andere Funktion, nämlich jene, die Machtverlagerung auf das Parlament zu verschleiern, die mit der Unterwerfung des Königtums unter den vom Parlament oktroyierten Amtseid und seiner Prärogative unter die Regeln des Common Law eingeleitet war. Nicht weniger bedeutungsvoll war außerdem, daß die funktionale Betrachtungsweise des politischen Spiels der Tolerierung von Gegenkräften gleichkam, was die Voraussetzung zur Bejahung des Parteienstreits war. Erst die unter dem Gedanken der Balance in Parlament und Öffentlichkeit sich vollziehende Verfassungsdiskussion legte den Grund für den englischen Parlamentarismus. Dazu gesellte sich von Anfang an eine andere Betrachtungsweise, die über die kahle politische Mechanistik hinaus anthropologische und moralphilosophische Gesichtspunkte hinzunahm und von einer organischen und moralischen Balance sprach, die sich auf die menschliche Natur und Innenwelt bezog. 20 Die beiden populären Verfassungswerke von Sir William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (1765-69) und Jean de Lolme, De la Constitution de l'Angleterre (Amsterdam 1771; London 1775) verbinden ihren sozialen und politischen Konservatismus stets mit der Idee, daß die Freiheit in England auf der Balance der etablierten Gruppen beruhe, deren politisches Monopol nicht bestritten wurde.
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Die Analogien zwischen „human body" und „body politic" waren ohnehin den Zeitgenossen aus der humanistischen Tradition geläufig und seit Bacon Gemeinplatz der politischen Literatur. Schon die neoklassische politische Theorie fußte im Anschluß an Aristoteles und Polybios auf einem Menschenbild (animal politicum vel sociale), das ihr als Bauelement diente. Machiavelli entwickelte daraus seine politische Pathologie, die die Affekten- und Charakterlehre der Stoa auf die Politik anwandte. Später spielte das Menschenbild Descartes' vom Mechanismus des Körpers und dem aufgesetzten Intellekt eine Rolle. Für die Gleichgewichts-Tradition war jedoch die Renaissancepsychologie von größter Bedeutung, wie sie besonders von Charron (De la sagesse, 1601) verbreitet wurde. Danach war die Balance der menschlichen Säfte maßgebend für die physische und moralische Konstitution des Menschen. Charron gab indessen nur wieder, was die damals geltende Medizin und Chemie auch behaupteten. Danach war der „humour" des Menschen durch die Balance der Komponenten seiner Physis bestimmt, und das relative Verhältnis der vier „humours" zueinander - entsprechend den vier Qualitäten von heiß und kalt, feucht und trocken - ergab Temperament, Stimmung und sittlichen Habitus des Menschen. Die Balance dieser vier Elemente galt als der ideale, gesunde und natürliche Zustand. In ausdrücklicher Verbindung mit dieser „Humour-Lehre" betrieben Sir William Petty, John Toland, Charles Davenant oder Jonathan Swift „politische Anatomie". Swift erwähnt diesen Bezug ausführlich in seinem „Diskurs über die Kämpfe und Spaltungen in Athen und Rom" (1701) 21 . Einige Ärzte glaubten, daß es möglich wäre, die verschiedenen Säfte im Körper in einer „equal balance" zu halten; dann würde er unsterblich sein. Und so sei es auch mit einem politischen Körper, wenn die Balance der politischen Kräfte stets genau gleichgewichtig (exactly even) gehalten würde. Dies waren in der Publizistik geläufige Gedanken, die sich bei Petty, Temple, Burnet, Addison, Shaftesbury bis hin zu Alexander Pope22 allenthalben auftreiben lassen: Gleichgewicht bedeutet Gesundheit, dessen Störung Krankheit. Harrington setzte sogar seine Amter-Rotation, die er zur Erhaltung der Balance für notwendig erachtete, in Parallele zu Harveys Blutkreislauf, und der absolute Herrscher bei Hobbes war der aufgesetzte Intellekt des Descartes über dem Mechanismus der Triebe. Was hier für Physiologie, Psychologie oder Medizin feststellbar ist, galt auch für die Moralphilosophie, die nach dem Vorbild der Stoiker vom inneren Dualismus im Menschen ausging und daraus die Konstruktion eines naturgerechten politischen Gemeinwesens ableitete. Sie hat neben der politischen Mechanistik wohl am meisten dazu beigetragen, den englischen Parlamentarismus als institutionalisierten und geregelten Konflikt zu legitimieren. Der in dieser Hinsicht einflußreichste 21
Jonathan Swift, A Discourse of the Contests and Dissensions between the Nobles and Commons in Athens and Rome (ed. Frank H. Ellis), Oxford 1967. 22 Vgl. etwa: Pope, Moral Essays III 161/2: „Extremes in nature equal good produce,/ Extremes in man concur to general use." 8 Kluxen
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neoklassische Denker und Schriftsteller der Epoche war der Earl von Shaftesbury (1671-1713). Er hielt den innermenschlichen Dualismus von Vernunft und Leidenschaften für unaufhebbar. Seine „schöne Seele" als innere Harmonie war nur ein Ideal jenseits des moralischen Status des Menschen. Die innere Entzweiung mache gerade sein freies Wesen aus; genau so sei es mit einem freien „body politic". Wie der Mensch in der Selbstprüfung sich innerlich entzweie in „passion" und „reason", müsse sich auch jedes freie Gemeinwesen in Interesse und Vernunft entzweien, damit „by the help of good ferments" ein „happy-balanced" Zustand erreicht werde. Die wechselseitige Einschränkung sieht Shaftesbury als entscheidend für ein moralisches Gemeinwesen an. Dabei setzt er die englische Parteiung in Beziehung zu den beiden Seelenkräften und schreibt den Tories „passion" und den Whigs „reason" zu. Beide gelten als moralische Komponenten, und beide sind nützlich, wenn sie sich die Waage halten; jede für sich allein ist schädlich, da die Herrschaft der „passion" untermenschlich, und die Herrschaft von „reason" übermenschlich wäre, und damit die moralische Natur des Menschen bzw. des Gemeinwesens verloren gehe23. Die bei Shaftesbury noch festgehaltene unterschiedliche Bewertung der Parteien beseitigte Bolingbroke mit einer Grundregel der politischen Mechanistik, wonach die Gruppe an der Macht ihren „passions" bzw. ihren Privatinteressen folgt, während die von der Macht ausgeschlossene Gruppe Anwalt von „reason" bzw. des Gemeininteresses ist. Die Whigs hatten also nach Bolingbroke keineswegs die Vernunft gepachtet, sondern sie kam denen zu, die nicht anders konnten, als das Wohl des Ganzen zu vertreten. Die Regierungsseite wird mit der Zeit notwendig korrupt, und die Opposition patriotisch. Der Gegensatz von „passion" und „reason" wird von Bolingbroke dem Gegensatz von „Ins" und „Outs" gleichgesetzt. Die Parteien werden nicht nach Weltanschauung und Habitus unterschieden, sondern allein nach ihrer Stellung zur Macht. Da die Politiker an der Krippe der Macht korrupt werden, fordert die Opposition eine Rotation der Ämter, um die Korruption abzuschöpfen und die richtige Balance wiederherzustellen. Erst die Rotation, also der Regierungswechsel, bewirkt eine Regeneration, der allerdings bald wieder eine Depravierung folgt, die das Spiel mit umgekehrten Vorzeichen erneut beginnen läßt. Bolingbroke wollte also den Sturz der korrumpierten Regierung nicht für einmal, sondern einen Kreislauf, der das Gift der angesammelten Korruption abschöpft. Der Regierungswechsel setzt die Gewichte jeweils wieder ins rechte Lot, die durch Bestechung, Patronage oder „Influence" zugunsten der Regierungsgruppe verschoben sind 24 . Der Verfall von oben und die Erneuerung von unten machten für Bolingbroke das parlamentarische Leben aus. Die Verbindung der politischen 23 Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (eingel. von J. M. Robertson). London 1900, Bd. I, S. 9, 14ff., 90-94, 123ff., 190-193, Bd. II, S. 5, 274ff., 286, 394. 24 Bolingbroke, A Dissertation upon Parties, in: Henry St. John, Lord Viscount Bolingbroke, The Works (pubi. David Mallet), Bd. II, S. 105, 114. Allgemein: Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. München / Freiburg 1956.
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Mechanistik mit der herrschenden Moralphilosophie legte den Grund für die erste Theorie der Opposition, die den modernen Parlamentarismus in der englischen Spielart begründete. Dazu kam freilich noch das Prinzip der Gewaltentrennung, die im Act of Settlement (1701) Bestandteil der englischen Verfassung geworden war und die Amterpatronage durch Inkompatibilitätsbestimmungen ausschalten sollte. Sie wurde von der Opposition verfochten und aus ihrer Verfassungsinterpretation von Montesquieu übernommen, in welchem sie für sein System von „checs and balances" und „freins et contrepoids" ausschlaggebende Bedeutung gewann25. Daß sie indessen den englischen Verhältnissen aus vielerlei Gründen nicht mehr entsprach, ist hier von untergeordneter Bedeutung. Die Opposition verteidigte Gewaltenteilung und -trennung im Namen der Balance, um den „Influence" der Krone auszuschalten, welcher der Regierung die Parlamentsmehrheit durchweg verschaffte. Über Montesquieu26 ging dieses Prinzip in die amerikanische Verfassung von 1787 und in die Menschenrechtserklärung von 1789 (Artikel 16) ein. Es sollte einen temperierenden Ausgleich aller Leidenschaften und Interessen sichern und die Politik einem Kontrollverfahren unterwerfen. Es wurde bei Harrington bereits aus der klassischen Anthropologie und bei seinen Zeitgenossen aus Verfahren des Common Law entwickelt, dann aber mit den Gleichgewichtsvorstellungen verknüpft, wie in Blackstones Kommentaren zur englischen Verfassung deutlich zu erkennen ist. Es bezeugt, daß auch die Naturrechtslehre in das Balance-Denken hineinwirkte, insofern das Prinzip der Verwirklichung von Recht überhaupt, nämlich daß niemand Richter in eigener Sache sein dürfe, auf den Gedanken der gleichwertigen Kompetenzverteilung im politischen Entscheidungsprozeß einwirkte. Man könnte diese Erörterungen noch weiterführen und auf die zahllosen Denker verweisen, die auch die ökonomische Wirklichkeit aus dem Zusammenspiel von Variabein wie etwa Geldvolumen, Umlaufsgeschwindigkeit, Warenangebot und -nachfrage zu begreifen suchten, deren Balance erst eine gesunde Wirtschaft anzeige. Die Balance von Export und Import, von Warenausfuhr und Geldeinstrom, von Staatshaushalt und Steuerabschöpfung, von Angebot und Nachfrage spielte in der klassischen Nationalökonomie seit ihren Anfängen ebenso eine Rolle wie der Gedanke der Selbstregulierung der Wirtschaft aus dem freien Spiel der Kräfte 27 . 25
Vgl. Kurt Kluxen (Anm. 15), S. 135 f.; Robert Shackleton, Montesquieu, Bolingbroke and the Separation of Powers, in: French Studies, Oxford 1949, III, S. 25-38; vgl. allgemein: W.B. Gwyn, The Meaning of the Separation of Powers: An Analysis of the Doctrine from its Origin to the Adoption of the United States Constitution. New Orleans 1965. 26 Montesquieu, De l'Esprit des Lois (1748), XI, 6. 27 Vgl. Κ Pribram, Geschichte des Gleichgewichts in der älteren nationalökonomischen Theorie, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik 17 (1908); L. Robbins, The Theory of Economic Policy in English Classical Economy, London/New York 1952. 8*
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Es erscheint müßig, in diesem Zusammenhang über Stichproben und Hinweise hinaus das ganze Netz von Bezügen aufzudecken, da die relativ homogene Denkweise dieses kommunikations- und schreibfreudigen Jahrhunderts einen Sprachgebrauch und einen Argumentationsstil entwickelt hatte, in welchem die Vorstellung von der Balance eine Schlüsselrolle spielte. Dabei veränderte dieser Sprachgebrauch die Wirklichkeit, insofern die überlieferten Substanzen ihres Wertgehalts entkleidet und zu Funktionen degradiert wurden. In Wirklichkeit war es ungeheuerlich, daß das Verhältnis zwischen den Ständen oder zwischen König, Lords und Commons als Balance angesehen wurde, oder daß Moralität als bloßes Derivat von Assoziation und Sympathie gelten sollte und die „Kette des Seins" nicht aus der Fülle und Vollkommenheit des Schöpfers, sondern aus der momentanen Produktion eines prekären Gleichgewichts legitimiert wurde. Jedenfalls war eine „ständische Gleichgewichtshierarchie' 4 ein Widerspruch in sich 28 . Der Widerspruch zwischen hierarchisch-teleologischer Weltordnung und der mechanistischen Erklärungsweise wurde mit ihrem Gleichgewicht nur dürftig überbrückt. Das Gleichgewicht wurde zu einem Mythos stilisiert, nachdem es sich als Regulativ der mechanistischen Welterklärung etabliert hatte und denknotwendig erschien. Das pragmatische Gleichgewichtsvokabular der Humanisten, das nur politisch auf die verfaßte Bürgerschaft bezogen war, gewann in dieser Welterklärung eine andere Qualität, insofern es von einer Aushilfe zum obersten Regulativ für Welt und Mensch gesteigert wurde. Dies zeigt sich am eindeutigsten dort, wo neue Weltvorstellung und politische Mechanistik die engste Verbindung eingegangen waren und sogar das Menschenrecht auf Gleichheit daraus abgeleitet wurde. Das war bei Abbé Sieyès der Fall, der gewissermaßen in Reinkultur den neuen „esprit géométrique" verkörperte. Er behauptete: „Man wird niemals den gesellschaftlichen Mechanismus verstehen, wenn man sich nicht entschließt, eine Gesellschaft wie eine gewöhnliche Maschine zu zergliedern, jeden Teil für sich zu betrachten und dann alle, einen nach dem anderen, in seinem Denken wieder zusammenzufügen, um ihr Zusammenstimmen zu erfassen und die allgemeine Harmonie zu vernehmen, die daraus hervorgehen muß" 29 . Die daran anzuschließenden Regeln der Politik würden dann den Regeln der Arithmetik, Geometrie und Mechanik entsprechen. Sie können ihnen aber nur entsprechen, wenn alles in gleicher Weise ihnen gehorcht. Sieyès dachte sich deshalb das „wahre Gesetz" als Mittelpunkt einer ungeheueren Kugel, auf der sich alle Bürger im gleichen Abstand vom Mittelpunkt befinden und in gleichem Maße von ihm abhängig sind. Ihre Gleichheit erscheint hier als Voraussetzung für Berechenbarkeit und Ausgewogenheit des Ganzen. Die Gleichheit wird um der gesetzlichen Ermöglichung einer sozialen und politischen Balance willen gefordert. Wenn es 28 Vgl. Hans-Gerd Schumann (Anm. 3), S. 53. Schumann läßt die Unvereinbarkeit des Balance-Denkens mit dem organischen Denken Burkes unberücksichtigt. 29 Abbé Sieyès, Qu'est ce-que le tiers état? Kapitel 5.
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ein „wahres Gesetz" ist, duldet es keine Ausnahmen oder Privilegien und betrifft jedermann. Stände darf es mithin nicht mehr geben. Damit zieht Sieyès die radikalste Konsequenz aus dem Balance-Denken, das um der Manipulierbarkeit des Ganzen willen die Subjektivität des Einzelnen und seine individuellen Rechtstitel ignoriert. Er nahm gewissermaßen das Reden über die Balance beim Wort und führte es ungewollt ad absurdum. Er wollte nicht eine Wiederherstellung der alten Balance, sondern eine neue gereinigte, gesetzlich gesicherte Balance, die keine Bewegung mehr zugelassen hätte. Im Grunde war Sieyès ein kleiner Geist mit einem großen Thema, dessen Logik ihn zu einer Kriegserklärung an die Wirklichkeit trieb. Das war aber genau das, was das Balance-Denken des 18. Jahrhunderts nicht im Auge hatte, da es der Unbedingtheit weltanschaulicher und teleologischer Ansprüche den Ausgleich und die wechselseitige Einschränkung entgegensetzte. Das ergibt sich aus den Ordnungsentwürfen des Jahrhunderts, die Europa auf einen anderen Fuß stellen wollten, ohne seine Vielfalt zu zerstören. Sie standen im Gegensatz zu den dogmatischen Ansprüchen, die die nationale Revolution in Frankreich an die Menschheit richtete. Statt dessen brachten sie eine Auffassung von Politik zur Geltung, unter der die haltenden und bewegenden Kräfte, Ancien Régime und Aufklärung, Tradition und Fortschritt vereinbar erschienen. Die Balance-Idee war von ihrem Ursprung her ein Ordnungs- und Befriedungsprinzip, das aber seit Newton das ganze Weltall zusammenhielt und nunmehr dem Zusammenhalt der europäischen Lebenswelt dienen sollte. Es wurde dabei zur letzten Formel, unter der sich Europa als Staaten-, Völker- und Religionsgemeinschaft noch begreifen ließ. Die politische und historische Literatur der Zeit bis hin zu Gibbon und Burke drehte sich um „balance and excess" und in bezug auf ihre Gegenwart um das „europäische Gleichgewicht"30. Dieses war keine allgemeine Idee mehr, sondern politische Wirklichkeit geworden. Es entsprach vollkommen den neuen politischen Bedürfnissen, denen das alte Erbfolgeprinzip zugunsten des neuen Balanceprinzips geopfert wurde. In der Tat hatte der Friede von Utrecht (1713) Europa auf einen anderen Fuß gesetzt. Dieses umfangreiche Vertragswerk bedeutete den Sieg des Balancegedankens über die Erbfolgeregeln und damit die Einführung einer neuen Maxime in die europäische Politik, die bei jeder Veränderung ein Zusammenspiel der Mächte verlangte und ihre Bündnispolitik bis ins 20. Jahrhundert hinein beherrschte 31. Das Gleichgewicht von Utrecht war mehr als nur eine pragmatische Aushilfe im machtpolitischen Kalkül. Das hatte es nämlich immer schon gegeben, etwa wenn König Franz I. von Frankreich sich gegen Kaiser Karl V. auf das notwendige Gleichgewicht der Mächte berief oder Sullys „Grand Dessein" (1638) sich ein euro30 Vgl. die Literatur bei Hans-Gerd Schumann (Anm. 3), S. 106-109. 31 Vgl. etwa: Rudolf Stadelmann, Hegemonie und Gleichgewicht. Zum Problem der außenpolitischen Ordnung Europas. Laupheim 1950; Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Krefeld 1948; Fritz Wagner, England und das europäische Gleichgewicht 15001914. München 1947.
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päisches Gleichgewicht zwischen den Religionen und Staaten zum Ziel setzte oder auch Wilhelm III. von Oranien seine Einkreisungsdiplomatie gegen die französische Hegemonialpolitik betrieb. Jetzt aber galt die Balance von Europa als friedenssichernde Norm schlechthin für den ganzen Erdteil, wonach jede regionale Störung das Ganze gefährdete und die ständige Überwachung des erreichten Zustandes eine permanente und allgegenwärtige Diplomatie erforderte, gewissermaßen ein internationales politisches Kommunikationsnetz, das dem „Ewigen Frieden" dienen sollte. In Utrecht hatte Englands Politik der Schaffung von Einfluß- und Neutralitätszonen, von Sicherheitsgürteln und Kontrollrechten, von abhängigen Kleinstaaten und eigenen Stützpunkten ein grandioses Sicherungssystem zustande gebracht, das es in ständige diplomatische Manöver und Verhandlungen verstrickte und den Anstoß für die große Zeit der europäischen Diplomatie gab 32 , mit der aufgeklärte Rationalität in die hohe Politik eindrang. Aus der Allianz gegen Frankreich erwuchs der kühne Gedanke einer Friedenssicherung aus dem geregelten Zusammenspiel der europäischen souveränen Staaten, wie ihn zuerst William Penn in bezug auf die Konfessionen (1693/94) und dann John Bellers (1710) in bezug auf die europäische Staatengemeinschaft geäußert hatte 33 . Indessen ging der Abbé de Saint-Pierre 34 noch weiter und dachte an völkerrechtliche Einrichtungen, die mit der staatlichen Souveränität unvereinbar waren. Darum nannte Rousseau dessen „Paix Perpetuelle" einen „absurden Traum", da das politische Regelsystem zwar das Gleichgewicht, aber keineswegs, den Frieden sichere, da jenes gerade einen kritischen Zustand permanenter Unruhe und Sorge bedeute: „Bilden wir uns nicht ein, daß diese vielgerühmte Balance der Mächte durch irgendjemand erreicht worden ist ... ; sie existiert sicherlich ... und kann sich ohne äußere Einwirkung erhalten. Wenn sie von einer Seite für einen Augenblick durchbrochen werden sollte, würde sie sich bald auf einer anderen Seite wiederherstellen ... und die Zeit heilt bald die heftigsten Schicksalsschläge, zwar nicht für den einzelnen Fürsten, wohl aber für die allgemeine Balance der Mächte" 35 . Auch Voltaire hielt den Vorschlag von Saint-Pierre für unpraktisch und empfahl lieber die Balance der Mächte zur Friedenssicherung 36. Nichtsdestoweniger wurde die Balance-Idee von angesehenen Völkerrechtlern über eine regulierende politi32 Vgl. Kurt Kluxen, Geschichte Englands. Stuttgart 1976, S. 416 ff.; Wolfgang Michael, Englische Geschichte im 18. Jahrhundert, Bd. II, 1: Das Zeitalter Walpoles. Berlin/Leipzig 1920. 33
John Bellers, Some Reasons for an European State. 1710. Abbé Charles François Irénée Castel de Saint-Pierre , Mémoires pour rendre la Paix Perpétuelle en Europe. Köln 1712; ders., Projet pour rendre la Paix PerpetuelIe en Europe. Utrecht 1715. 34
35 Jean Jacques Rousseau, Extrait du Projet de Paix Perpétuelle de Monsieur l'Abbé de Saint-Pierre (1756; pubi. 1761); Ausgabe Edith M. Nutell (1927), S. 27 ff.; 31. 36 Brief Voltaires an Friedrich den Großen vom 12. 4. 1742 (vgl. Letters of Voltaire and Frederick the Great. Ed. R. Aldington, S. 160/1).
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sehe Ordnungsvorstellung hinaus zu einem Bestandteil des Jus Publicum Europaeum und damit zu einem völkerrechtlichen Prinzip erhoben 37. Freilich wollten auch die Gegenstimmen, besonders aus dem französischen Lager, nicht verstummen, die die Formel des Gleichgewichts als Verhüllung des britischen Machtanspruchs und als eine von England in die Welt gesetzte „Legende" oder „Chimäre" anprangerten 38. In England selbst hingegen betrachtete man die Gleichgewichtsdoktrin schon in Hinsicht auf die eigene Verfassung als Ausfluß britischer „Erbweisheit" und nun auch als Regel einer gerechten Europapolitik zum Schutz der kleineren Staaten, wobei England sich aufgrund seiner exzentrischen Lage und seiner Distanz zu den europäischen Interessen ein natürliches Schiedsamt im Widerspiel der großen Mächte zuschrieb 39. Sie war also mehr als lediglich eine naheliegende, der Mechanik entnommene Metapher, zumal selbst Friedrich der Große das „Corps politique de l'Europe" mit einem menschlichen Körper verglich, dessen Gesundheit auf seinem machtpolitischen Gleichgewicht beruhe (1738). Daß dieser Balance-Gedanke mehr bedeutete als eine unzulässige Erweiterung des erfahrbaren mechanischen Weltbildes, nämlich eine die Grenzen der Erfahrung transzendierende Idee aus dem Vermögen der Vernunft, ergibt sich aus den Reflexionen Immanuel Kants (1724-1804) zum „Ewigen Frieden", in welchen der „alles zermalmende Königsberger" eine Summe seines politischen Denkens zieht, die - an seine zahlreichen Vorgänger anknüpfend - die Möglichkeiten eines „ewigen Friedens" aus den unausweichlichen Antagonismen in der Natur erörtert 40. Danach erlaube die Entfaltung einer Harmonie aus der Disharmonie und einer Ordnung aus den Gegensätzen, einen allgemeinen Zweck und eine Weisheit der Natur zu deduzieren. Die Natur erzeuge Disharmonie, deren Gefahren den Menschen zur Entfaltung seiner besseren Fähigkeiten nötigen. Selbst der moralisch nicht gute Mensch sehe sich durch den Mechanismus der Natur und der menschlichen Neigungen gezwungen, den Widerstreit der Gegensätze so zu organisieren, daß jedermann schon um seiner selbst willen genötigt sei, sich den Gesetzen zu unterwerfen und den Frieden hervorzubringen. In gleicher Weise könnte darüber hinaus eine föderative Zuordnung aller Staaten sich von selbst zu einem kosmopolitischen Status der internationalen öffentlichen Sicherheit organisieren. Dann hätte die Natur selbst mit Hilfe der Vernunft und aus dem Mechanismus der menschlichen Neigun37
Enteric de Vattel, Le droit des gens, ou principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains. 3 Bde., Leyden 1758, 3. Buch, 3. Kapitel, §§ 24-50, bes. § 48; Ludwig Martin Kahle, Commentario juris publici de trutina Europae, quae vulgo appellatur „Die Balance von Europa". Göttingen 1744. Nach Schumann (Anm. 3), S. 110; andere Stimmen bei Kaeber (Anm. 1), S. 143 ff. 38
Vgl. Schumann (Anm. 3), S. 109/10; französische Gegenstimmen bei Kaeber (Anm. 1), S. 128 ff. 39 Fritz Wagner (Anm. 31), S. 34. 40 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); Zum ewigen Frieden (1795); Vgl. dazu: F. H. Hinsley, Power and the Pursuit of Peace. Cambridge 1963, S. 62-80.
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gen den ewigen Frieden gesichert, und ihr allgemeiner intelligibler Zweck wäre vom Menschen gefunden und zugleich hervorgebracht worden, ein Zweck, auf den hin der offenbar sinnlose Gang der menschlichen Ereignisse letztlich reguliert werde, und der ähnlich sinngebenden Aufschluß über Welt und Geschichte vermitteln könnte wie die Entdeckungen Keplers, der die exzentrischen Umläufe der Planeten in bestimmte Gesetze zu fassen wußte, und Newtons, der diese Gesetze durch eine einzige Naturkraft zu erklären vermochte. Dieser intelligible Zweck, nämlich der „ewige Friede" als der vernunftgemäße Zustand, könne aber nicht anders gedacht werden als eine durch die Mechanismen der Natur, vor allem der menschlichen Natur, herbeigenötigte und durch Vernunft erreichbare Balance der Kräfte im Staat selbst und der Staaten zueinander. Indem die Natur auf Widerstreit und der Mensch als Vernunftwesen auf Eintracht angelegt ist, bringen nach Kant beide einen Zustand hervor, der nur als aufhebendes Gleichgewicht zwischen den gegeneinanderwirkenden Kräften vorgestellt werden kann. Hier wird die oberste Idee Newtons auf die moralisch-politische Welt übertragen. Dem gigantischen Equilibrium aus dem Kausalnexus des Weltalls entspricht ein universales Equilibrium der politischen Welt als mögliche und moralisch notwendige Vorstellung eines „ewigen Friedens". Damit eröffnen sich die weitesten Perspektiven auf eine Natur- und Geschichtsauffassung, aus der induktive Kausalerkenntnis und deduktive Teleologie, Naturwissenschaft und Geschichte, theoretische und praktische Vernunft, Politik und Moral aufeinander konvergieren, was ohne jene vermittelnde Funktion der Balance-Idee nicht hätte sichtbar werden können. Vermittelnd konnte sie nur sein, weil sie für Newton auf der Basis seiner empirisch-analytischen Erkenntnisabsicht denknotwendig und für Kant aus den Postulaten der praktischen Vernunft moralisch notwendig war. Daraus zog Kant den Schluß auf eine „geheime Absicht" und einen „verborgenen Plan" der Natur, womit er die nicht empirisch erkennbare, aber aus dem Vermögen der Ideen zu fordernde Einheit des Ganzen und auch die Einheit der gewaltigen geistigen Bewegung jener Epoche wieder in den Blick rückte. Indessen hat das Balance-Denken noch ein wichtiges praktisches Ergebnis gebracht, nämlich daß das in Konfessionen und Staaten zerfallene Europa auf der Ebene der Politik eine gewisse Solidarität erlangte, die sich mit den aufgebrochenen Gegensätzen abfand. Der Preis dafür war eine veränderte Auffassung von Politik, deren Stoff nicht mehr Recht und Gerechtigkeit, sondern das freie Spiel der Kräfte war, die im Rahmen des Gleichgewichts toleriert und anerkannt wurden. Politik und Balance waren geradezu identisch, und Regierung nur „the balance of balances" (Burke) 41 . Jener Begriff des Politischen, der mit Machiavelli auf die Szene gekommen war und bisher als Ausnahme galt, wurde zur Regel. Etwaige Rechtstitel konnten nur in diesem Rahmen durchgesetzt werden, wie etwa die „Pragmatische Sanktion", deren Anerkennung seitens der Mächte die österreichische Diplomatie für eine Generation beschäftigte. 41
Vgl. Hans-Gerd Schumann (Anm. 3), S. 65.
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Politik wurde zu einer pragmatischen Sache, die temporäre Lösungen suchte und nur bedingte Ansprüche stellte. Die Balance war das qualifizierende Prinzip einer Politik des Miteinanderauskommens. Es war ein regulatives und kein konstitutives Ordnungsprinzip. Das Gleichgewicht innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten erforderte zu seiner Behauptung bzw. seiner Wiederherstellung permanente Politik, die von allen Beteiligten fortlaufend und gleichzeitig betrieben werden mußte, da jede Störung nunmehr das Ganze anging. Politik mußte gewissermaßen von einem Augenblick zum anderen auf Wache („toujours en vedette") bleiben. Niemand durfte das Steuerrad aus der Hand lassen, ohne bald einen Schiffbruch oder eine Kollision befürchten zu müssen. Nichts konnte geschehen ohne diplomatische Vorbereitung. Gleichgewichtspolitik war ihrem Begriff nach reine Politik, also nicht „Jurisdictio", sondern „Gubernaculum". Sie war weder Verwaltung noch Rechtsprechung, sondern nötigte stets zu zeitgerechten Entscheidungen, um das Ganze im Lot zu halten. Gerechtigkeit war von ihrem Verständnis aus geradezu ein „balancing principle" (Burke), zwar nicht für den Einzelnen bei seiner Rechtssuche, wohl aber für den Politiker, dem es auf das Maß der Durchsetzbarkeit von Ansprüchen ankam. Die Degradierung der geistigen, sozialen und politischen Kräfte zu einem Funktionszusammenhang vom Standpunkt der Politik umschloß auch deren faktische Anerkennung. Die Balance vermittelte zwischen der radikalen Innovationspolitik Machiavellis und den Bedürfnissen des Ancien Régime, indem sie die jeweils im status quo erreichte Balance nicht als endgültig, sondern lediglich als Ausgangspunkt für das Maß der noch tragbaren Veränderungen betrachtete. Sie implizierte stets den Kompromiß zwischen haltenden und verändernden Kräften, ohne eine vorausgehende Bewertung nach Recht, Moral, Religion, Tradition oder Weltanschauung vorzunehmen. Ihre Manipulation blieb auf Politik beschränkt, und Politik ging gewissermaßen nur die Politiker an. Sie erschöpfte sich in einer instrumentellen Leitungsfunktion, die nur eine einzige praktische Maxime kannte, nämlich das Gleichgewicht im Staat und zwischen den Staaten. Das bedeutete gegenüber dem, was sie als gegeben vorfand, Toleranz. Der ideale Berufspolitiker war also Freigeist und konnte im Dienst eines beliebigen Staates ohne Gewissensbedenken Diplomat werden. In praxi entsprang aus dieser Vorstellungsweise eine zugleich konservative und aufgeklärte Politik, die jenem Kompromiß der Hochaufklärung mit den herrschenden Gewalten entsprach, als dessen Symbol die Freundschaft Friedrichs des Großen mit Voltaire angesehen werden kann. Die Blütezeit des Gleichgewichtsgedankens fällt mit der Entstehung einer europäischen Diplomatie zusammen, deren gesellschaftliche Solidarität und Urbanität nur aus dieser Wandlung der Auffassung von Politik erklärt werden kann, die durch die Ausklammerung von Wertvorstellungen sowie durch ihre Einhegung vom Völkerrecht (Jus Publicum Europaeum) und vom Gleichgewichtsgedanken her als geregeltes Spiel genommen werden konnte. Sie machte die merkwürdige Ehe zwischen Ancien Régime und Aufklärung möglich, die sich erst mit der abrupten Zerstörung der europäischen Balance durch die Revolution auflöste.
Französische Revolution und industrielle Klassengesellschaft Wohl kein Ereignis des 18. und 19. Jahrhunderts hat größere Wirkungen ausgeübt als die Französische Revolution. Keine historisch fundierte Diagnose oder Prognose der Gegenwart kann der Frage nach Wesen und Bedeutung dieser Revolution ausweichen. Heute wie gestern scheiden sich an diesem Phänomen die Geister, das für die einen die eigentliche Entfaltung des menschlichen Wesens, für die anderen ein Sündenfall in eine hybride Selbstvergottung des Menschen ist. Der Streit der Ideologien hat die kritische Geschichtswissenschaft nicht unberührt gelassen, die ohnehin durch den Wandel der Weltverhältnisse und die Erweiterung von Blickfeld, Quellenerfassung und Methode in eine Grundlagenkrisis geraten ist, die sie mit einem Verlust an Überblick und Zusammenhang bezahlen muß. Das historische Problem der Revolution von 1789 entzündete sich daran, daß einerseits die Konstruktion einer die Gesamtgesellschaft nach Prinzipien der Vernunft organisierenden Verfassung dem Menschen sein Geschick in die Hand geben sollte, andererseits aber die ins Unbegrenzte führende Dynamik des Revolutionsprozesses diesen Versuch widerlegte. Was als hinreißendes Schauspiel eines Gerichts der Vernunft begann, mündete in eine „Woge der Revolution" (Mirabeau), in einen „Gärungsprozeß" (Georg Forster) ein, der wie ein Naturvorgang, wie die Metamorphose „eines sich häutenden Insekts" (Taine) aussah, in dem menschliches Manipulieren versagte. Die revolutionären Ereignisse in Frankreich verliefen wie ein ständig um sich greifender Prozeß, den im Grunde niemand gewollt oder vorausgesehen hatte, und an dessen Szenenfolge sich die Spekulationen des 19. Jahrhunderts über Wesen und Verlauf der Geschichte orientierten. Die Unwiderstehlichkeit dieser Bewegung überschritt jeden pragmatischen Erklärungszusammenhang und wies auf tiefere Ursachen und Antriebe hin, die ein Uberdenken von Geschichte und Gesellschaft erforderlich machten. Die Revolution selbst faßte sich ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts als Ubergang von einem alten zu einem neuen Zustand auf, den man sich als unbewegliches Ziel vorstellte. Selbst als der Konvent im Dekret vom 10. Oktober 1793 die Regierung als „revolutionär" erklärte, sollte damit das Vorübergehende der Revolutionsgesetze (lois de circonstance) ausgedrückt werden. Das Revolutionäre bezog sich auf die Methode, nicht auf Ursprung und Ziel der Bewegung. Selbst in ihrer höchsten Steigerung faßte sich die Revolution als Ausnahmezustand auf, der in einen endgültig gesetzten und vernünftigen Idealzustand einmünden sollte.1
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In dem Zwischenstadium von 1793 und 1794 überschritt die Revolution für einen Moment auch diese Grenze, als sie die Umfassungsmauern der bürgerlichen Eigentums- und Handelsgesellschaft überhaupt einzureißen schien und mit der Unterdrückung der Religion, des Privateigentums und des freien Handels, mit dem Maximum und den Konfiskationen in Produktion und Warenverkehr sich in Widerspruch zur bürgerlichen Gesellschaft setzte und schließlich das „Manifest der Gleichen" von 1796 in der Revolution nur als Vorläuferin einer anderen, weit größeren und feierlicheren Revolution sah, die erst die letzte sein werde, nämlich einer allgemeinen Weltrevolution, die bis zur Zerstörung des Staatlichen und jeden Herrschaftsverhältnisses überhaupt gehen werde, indem sie die verlorene Wesenseinheit des Menschen mit der Natur und damit das Ende der Geschichte herbeiführt. 2 Dieses Manifest war der Nachklang jenes „glorreichen Jahres" 1793, als die radikale Verneinung aller überkommenen oder naturhaften Verhältnisse zugunsten eines durchrationalisierten Kontrollsystems gegen die depravierte Gesellschaft dem abstrakten Bewußtsein der revolutionären Ultras den Weg zu einer Gesellschaft zu eröffnen schien, die dem einzelnen eine neuartige Beziehung zum Ganzen, eine Identität seiner Subjektivität mit der Substanz der sich selbst anschauenden Gesellschaft und damit die Möglichkeit einer Selbstentfaltung zu eröffnen schien, wie sie in der revolutionären Naturrechtslehre theoretisch vorgegeben war. Hier zeigte sich, daß die Revolution nicht nur sukzessive alle sozialen Schichten ins Spiel brachte oder ihr quantitativer Ausdehnungsprozeß jeweils andere Schichten und Motive aktivierte, sondern die quantitative Ausdehnung auch eine qualitative Veränderung der revolutionären Perspektiven, Gegensätze und Aktionsformen mit sich führte. Die Logik, der die Revolutionäre sich verpflichtet fühlten, ließ die Wirklichkeit hinter sich, mißachtete die „objektiven Bedingungen" und bekämpfte die Gegensätze von Klassen und Interessen. Sie konnte nicht mehr mit dem Entgegenkommen einer Naturbasis rechnen und stellte das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit auf den Kopf. In dieser Phase war das revolutionäre Bewußtsein gegenüber den Verhältnissen, die es umstürzen wollte, abstrakt (Habermas). Mit der Gewalt als Mittel der Vernunft im Dienste einer Gesellschafts Vorstellung jenseits von Politik und sozialem Konflikt antwortete die Revolution auf den Zusammenbruch der bisher geltenden substanziellen Allgemeinheit, zumal gleichzeitig der Krieg eine Zusammenfassung aller Kräfte verlangte. Dieser Vorgang versetzte das Land in einen hochtemperierten Aggregatzustand, dessen Konflikte nichts mehr mit dem Ausgangspunkt der Revolution zu tun hatten, sondern mit der Revolution selbst erst virulent geworden waren. Als Gegner der Vernunft erschien ein
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Vgl. Karl Weimar 1955, der Charakter Revolution im 1958. 2
Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung. S. 230 ff.; Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Nationen. Stuttgart/Köln 1951; Theodor Schieder, Das Problem der 19. Jahrhundert, in: Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit. München
Vgl. hierzu die überraschenden Prognosen bei Barnave, Introduction à la Révolution française (1791). Hrsg. von Fernand Rudé (Cahiers des Annales 15), Paris 1960, S. 11, 13.
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neues Phänomen, das es vorher nicht gab: die Massengesellschaft, die durch den Krieg eine, wenn auch regional begrenzte, industrielle Klassengesellschaft war. Hier erst gab es das, was mit einigem Recht als Klassenkampf bezeichnet werden kann. Es gab vorher soziale Gegensätze, die lange vor der Revolution auch als Klassengegensätze bezeichnet wurden. Schon Rousseaus berühmter Artikel „De l'économie politique" vom Jahre 1755 in der Enzyklopädie teilte die Bevölkerung in zwei Lager (deux états), die Mächtigen und die Unterdrückten, und ging damit über die Ziele der Revolution von 1789 hinaus, oder besser: an ihnen vorbei. Nach Rousseau schützte gerade die zeitgenössische „confédération sociale" (Gesellschaft) die Reichtümer und ließ die vielen zu kurz kommen, die jene mit ihren Händen aufgebaut hätten. Diese grell beleuchtete Situation einer ausgebeuteten besitzlosen Schicht war aber nicht ausschlaggebend für die Heraufkunft der Französischen Revolution. Sie erhielt zwar eine Stimme in der vorrevolutionären und revolutionären Pamphletistik von Linguet, Brissot de Warville und Devérité bis zu Boissel, Maréchal, Buonarotti, Babeuf, Dom Dechamps oder Meslier; ferner wurde in den letzten zehn Jahren des Ancien Régime das landlose Proletariat in vielen Pamphleten behandelt, wobei sogar Leute vom Schlage Neckers wie Sozialisten sprachen.3 Aber die Anliegen dieses „vierten Standes" (Deverite) berührten nicht das Kernanliegen von 1789 und fraßen sich erst seit 1792/93 an die Oberfläche. Die Revolution begann eben nicht im Zeichen eines Klassenkampfes, sondern sie brachte dessen Konstellation erst hervor. Der Versuch seiner Aufhebung durch Robespierre und St. Just verursachte den Rückschlag des Pendels und mündete in den Sieg des girondistischen Großbürgertums ein, der der Revolution nachträglich ihren „bürgerlichen" Charakter verlieh. Gerade die bürgerlichen Historiker haben bei ihrer Interpretation der Französischen Revolution den Hauptakzent auf den gemeinsamen Kampf von Bürgertum und Volk gegen Aristokratie und Despotismus gelegt, aber die Spaltung innerhalb des dritten Standes übersehen oder vernachlässigt.4 Nicht weniger ist der einseitige sozialistische Aspekt vom Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Aristokratie als Mechanismus der Revolution eine allgemein überwundene Simplifikation, ganz zu schweigen von der konservativen Komplott-Theorie, die von Leopold Alois Hoffmann und dem Abbé de Barruel bis zu Taine, Cochin, Gaxotte und Fay die Kontingenz und Willkür, die Drahtzieherei und Verschwörungstaktik herausstreicht, ohne dem Element des Notwendigen in der Stufenfolge der Ereignisse gerecht zu werden.5 Immerhin hat gerade die Komplott-Theorie manche verdienst3 E. Levasseur, Histoire des classes ouvrières et de l'industrie en France avant 1789 (1859). 2 Bde., 2. Aufl. Paris 1900/01; 7. Égret , La Pré-Révolution française 1787-1789. Paris 1962; Ralph Greenlaw ; Pamphlet Literature in France during the Period of the Aristocratic Revolt (1787-1788), in: Journal of Modern History 31 (1957), S. 353 f. 4 Vgl. Pieter Geyl, Encounters in History. New York 1961, S. 87-192; Cl Delmas, Les études récentes sur la Révolution de 1789, in: Critique 1952; M. Reinhard, Sur l'histoire de la Révolution française. Travaux récents et perspectives, in: Annales 14 (1959), S. 553-570; Friedrich Jonas, Zur Soziologie der Französischen Revolution, in: Der Staat 5 (1966), S. 9 6 -
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volle Korrektur beigesteuert. Als gängiger Anti-Mythos der Revolutionsgegner hat sie gewiß nicht weniger für und gegen sich als die vorgefaßten Behauptungen jener doktrinären oder quasisoziologischen Mythologie, deren monistische Welterklärung und naturalistische Ontologie die Revolution nur als mechanische Quantenexpansion begreifen will. Zur Zerstörung des Mythos und Anti-Mythos der Revolution hat die Ausbildung der Sozialgeschichte als einer historischen Disziplin auf ihre Weise beigetragen, so daß die wissenschaftliche Interpretation der Revolution in eine fruchtbare Krisis hineingeraten ist. Schon Lorenz von Stein hat in der französischen Geschichte seit 1789 die reinste „Erscheinung der Gesetze, welche die Bewegungen des politischen und gesellschaftlichen Lebens beherrschen", gesehen.6 Aber erst das große Werk von Jean Jaurès hat den Blick voll auf die sozialen und ökonomischen Fakten gelenkt. 7 Seine Schüler Albert Mathiez und George Lefebvre 8 überwanden den eingleisigen Schematismus ihres Lehrers und unterschieden zwischen den tieferen und den unmittelbaren Ursachen der Revolution, ohne sich völlig von dem ideologisch verpflichtenden Vokabular ihres Lehrers zu lösen. Lefebvres Schüler Cobb, Soboul und Rudé erweiterten ebenso wie Lefebvre selbst ihr wissenschaftliches Rüstzeug, 9 ohne den Widerspruch gegen ihre neo5
A. Cochin, Les sociétés de pensée et la démocratie. Paris 1921; Pierre Gaxotte, La Révolution française. Paris 1928; Bernard Fay, La Révolution française, 1715-1815. Paris 1959; vgl. auch L. Madelin, La Révolution. Paris 1911 (bonapartistisch); R.R. Palmer, The Impact of the French Revolution: Recent Interpretations, in: The Nineteenth Century World. New York 1963, S. 44-85; Paul Harold Beik, The French Revolution seen from the Right. Social Theories in Motion, 1789-1799, in: Transactions of the American Philosophical Society. N.S. Bd. 45, Teil 1 (1956), S. 1 -122. 6 Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1842). 3 Bde., München 1921, Bd. 1, S. 147. 7 Jean Jaurès, Histoire socialiste. 12 Bde. Paris 1901-1908. Die ersten vier Bände (1901 -1904), welche die Französische Revolution behandeln, wurden von A. Mathiez unter dem Titel: Histoire socialiste de la Révolution française, 8 Bde. Paris 1922-1924, herausgegeben; vgl. auch R. Greenlaw, The Economic Origins of the French Revolution - Poverty or Property? Boston 1958. 8 Albert Mathiez , La Révolution française. 3 Bde. Paris 1922-1927; George Lefebvre, Etudes sur la Révolution française. Paris 1954 (vgl. die folgende Anmerkung). 9 R. C Cobb, The Revolutionary Mentality in France, 1793/1794, in: History 42 (1957). Franz. u.d.T. Quelques aspects de la mentalité révolutionnaire, in: Révue d'Histoire Moderne et Contemporaine 6 (1959); George Rudé, Interpretations of the French Revolution. London 1961; vgl. in bezug auf die Erweiterung des Forschungsfeldes: G. Lefebvre, La Révolution française. Paris 1930; und Lefebvres Bearbeitung der Neuauflage von 1951 (Peuples et Civilisations, Bd. 13); die Textrevision der letzten, 3. Auflage von 1963 wurde von Albert Soboul vorgenommen. (Im folgenden wird nach dieser Auflage zitiert.); siehe auch A. Goodwin, Die Französische Revolution 1789-1795. Frankfurt a. M. 1969, der teilweise auf Mathiez und Lefebvre aufbaut. Ferner: Albert Soboul, Précis d'histoire de la Révolution française. Paris 1962; ders., Klassen und Klassenkämpfe in der Französischen Revolution, in: W. Markov (Hrsg.), Jakobiner und Sansculotten. Berlin 1956, S. 47-76; vgl. auch die stark trotzkistische Interpretation von Daniel Guérin, La lutte des classes sous la prémiere République: bourgeois
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marxistische Sehweise zum Schweigen zu bringen. Ihnen wird vorgeworfen, daß die angewandten Sprachmittel die Fakten derartig einkapseln, daß die Ergebnisse bereits in die Terminologie hineinkriechen. Das gilt insbesondere für die Klassentheorie, aus deren statischem Rahmenwerk die Revolution als Akt der Bourgeoisie erscheint, was von Cobban und Elizabeth Eisenstein überhaupt abgelehnt wird. 10 Nach ihnen ist der Zusammenfluß aktiver Bewegungen zu einer sich addierenden Dynamik ein für die Revolution eigentümlicher Vorgang, der nicht durch das Auseinanderhalten oder die Segmentierung kontinuierlicher Gruppen beschrieben werden kann, denen man eine moderne klassenorientierte Aktivität zuteilt. 11 Obwohl im ganzen gesehen die allgemeine soziale und wirtschaftliche Klassifikation der Gesellschaft in Konflikt mit der Klassifikation nach Stand und Amt lag, konnte bei keinem „Stand" von einer eindeutigen sozialen Position und Funktion gesprochen werden. Selbst der erste Stand war in sich gespalten. Der exklusive Hochklerus war eine dem politischen und sozialen Gemeinwesen entfremdete Kaste des alten Schwertadels geworden und stand in permanentem Konflikt mit dem Amtsadel und dem Niederklerus. 12 Der Streit zwischen Schwert- und Amtsadel lebte infolgedessen in dem Antiklerikalismus der Parlamente und in deren polemischer Argumentationsweise fort. Die Nobilität als zweiter Stand erschöpfte sich keineswegs in hohen Staats-, Hof- und Militärstellen oder einer seigneurialen Existenz, sondern sie beteiligte sich mannigfaltig am Staats- und Finanzkapitalismus sowie an der Landindustrie, an Bergbau, Metallurgie, Zucker-, Papier- und Glasherstellung. Ein Edikt von 1680 hatte dem Adel den überseeischen Großhandel geöffnet; bezeichnenderweise forderte aber noch der Adel von Rouen die Sanktionierung dieses Edikts durch die Generalstände von 1789.13 Über das Geschäft mit Minen, et „bras nus" (1793-1797). 2 Bde. Paris 1946; ders., D'une nouvelle interprétation de la Révolution française, in: Annales 20 (1965). 10 Alfred Cobban, The Myth of the French Revolution. London 1955; ders., The Vocabulary of Social History, in: Political Science Quarterly 71 (März 1956); ders., The Social Interpretation of the French Revolution. Cambridge 1964; Elizabeth Eisenstein, Who intervened in 1788? A Commentary on the Coming of the French Revolution, in: American Historical Review 71 (Oktober 1965), S. 7 7 - 103. Diese Kritik trifft auch auf die meisterhaften Dokumentationen und Analysen Albert Sobouls zu, der zwar den mechanischen Schematismus überwindet, aber die Logik der Revolution vom Klassenkampf und der „Reife" bzw. „Unreife" der Antagonisten her erklärt. Vgl. etwa: A. Soboul, Klassen und Klassenkämpfe in der Französischen Revolution (Anm. 9). 11
Vgl. Jeffrey Kaplow (Hrsg.), New Perspectives on the French Revolution: Readings in Historical Sociology. New York 1965; Alfred Cobban, Historians and the Causes of the French Revolution. London 1958; Jeffrey Kaplow / Gilbert Shapiro / Elizabeth Eisenstein, Class in the French Revolution, in: American Historical Review 72 (Jan. 1967), S. 497-522. 12 Vgl. Norman Ravitch, Sword and Mitre. Government and Episcopate in France and England in the Age of the Aristocracy. The Hague/Paris 1966; vgl. auch F. L. Ford, Robe and Sword, The Regrouping of the French Aristocracy after Louis XIV. Cambridge/Mass. 1953. 13 Gaston Zeller, Une Notion de caractère historico-social: La dérogeance. Cahiers internationaux de sociologie. Bd. 17 (1957), wiederabgedruckt in: Aspects de la politique française sous l'ancien Régime. Paris 1964, S. 336-379; 373.
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Metall, Zucker und den privilegierten See- und Großhandel von Amtsträgern nahm der Adel an kapitalistischen Wirtschaftsformen teil, wenn auch der Handel insgesamt, besonders der Binnenhandel, eine Zone der sozialen Mobilität und der individuellen Betriebsamkeit blieb, die noch um ihr öffentliches Prestige zu ringen hatte. Der dritte Stand war im Grunde der heterogenste, und niemand wußte, was er eigentlich war. Die Frage des Abbé Sieyès „Qu'est-ce que le tiers état?" war in der Tat die Kernfrage des Jahrhunderts und der Revolution.14 Er erstreckte sich nach unten in einen Bereich, der schon vor 1789 als der vierte Stand bezeichnet wurde, nämlich auf das landlose Proletariat, die abhängigen Lohnarbeiter, die wandernden Facharbeiter, auf die kleinen abhängigen Bauern und den Pauperismus überhaupt. Nur die oberste Schicht konnte notfalls als „Bourgeoisie" im Sinne des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Aber von einer wirtschaftlichen Konsistenz selbst dieser Bourgeoisie oder einer eindeutigen kapitalistischen Konfiguration des Reichtums in ihrer Hand ließ sich nicht sprechen. Vielmehr war für sie der nichtkapitalistische Besitz von Land, Renten, Amtern oder Annuitäten die erwünschte Investition von Kapital, so daß die häufige Verwandlung des liquiden Kapitals in festes Landeigentum sogar den Handel ruinierte. 15 Statt Risiko und Profit suchte der Roturier Renten und Sicherheit, so daß der Wunsch nach stabilem Besitz von Land und Amt und nach ländlich-adeliger Lebensweise bei weitem den Gedanken einer Ausschöpfung der kommerziellen und industriellen Investitionsmöglichkeiten überwog. Nicht die Hälfte der bürgerlichen Oberschicht lebte auf kapitalistischer Grundlage. Der Bourgeois wollte lieber Rentner und Besitzer, Amts- und Landkäufer sein als Unternehmer, so daß zweiter und dritter Stand sich in ihrer Lebensweise anglichen, wie umgekehrt der zweite Stand kapitalistische Formen aufnahm. Die nichtkapitalistische Besitzergruppe machte bei den Generalständen von 1789 etwa 87 Prozent des dritten Standes aus.16 In den Stadtregistern waren neben gewöhnlichen Bürgern auch Adelige als Bourgeois, d. h. als Rentner, in den Rollen eingetragen. Ein Fünftel des Adels mit mehr als 500 Livres Revenuen jährlich waren Kaufleute oder Zuckerfabrikanten, ja die Hälfte aller Zuckerfabrikanten und ein Drittel der Kaufleute in den Taxrollen von 1791 waren adelig. 17 Es gab also keine klare Differenzierung der Stände nach den Produktions- und Erwerbs14 Vgl. die Parallelfragen des 17. und 19. Jahrhunderts, nämlich „Qu'est-ce que la royauté?", bei C. Le Bret, De la souverainité du Roy, 1632; und „Qu'est-ce qu'une Nation?", bei Ernest Renan, 1882. 15 Vgl. George Y. Taylor, Non-capitalistic Wealth and the Origins of the French Revolution, in: American Historical Review 72 (Januar 1967), S. 469-496, hier S. 490; vgl. auch Λ. Cobban, Frankreich von Ludwig XIV. bis de Gaulle. München 1966, S. 44 (deutsche Übersetzung von: A. Cobban, A History of Modern France, 1957). Eine Geschichte der französischen Bourgeoisie während der Revolution existiert noch nicht. Vgl. aber die Studie von Elinor G. Barber, The Bourgeoisie in 18 th Century France. Princeton 1955. 16 George Y. Taylor (Anm. 15), S. 489.
17 Ebd., S. 490, 495; Betty Behrens, Nobles, Privileges, and Taxes in France at the End of the Ancien Regime, in: Economic History Review 11 (1963), S. 451-475.
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formen und auch keine allgemeine Tendenz der Reduktion des Güterverkehrs auf eine reine Warenwelt. Der entscheidende Unterschied beschränkte sich auf die Rechtsverhältnisse, die nicht mehr mit der tatsächlichen Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens übereinstimmten. Gravierend waren die Restriktionen in Handel und Gewerbe, die den Bedürfnissen der Geschäfts- und Handelswelt, den landwirtschaftlichen Verbesserungen, der Bevölkerungsentwicklung, der Verstädterung und dem Außenhandel entgegen standen; dann auch die Exemtionen, Steuerfreiheiten und Gerichtsvorteile der Nobilität, besonders da, wo der Adel gleichfalls an der bürgerlichen Handelswelt beteiligt war. Wenn auch manche Feudalrechte über Land- und Amterkauf in die Hände von Roturiers gelangten, blieben sie Feudalrechte. Von einem sozialen Kampf zwischen den Ständen aus einem wirtschaftlichen Wandel heraus ließ sich am Vorabend der Revolution um so weniger sprechen, als im Gefolge des Freihandelsvertrages mit England von 1786 und landwirtschaftlicher Krisen eher eine Retardation der wirtschaftlichen Entwicklung eingetreten war. 18 Erst im Verlauf der Revolution verschwanden viele der vom Adel getragenen ländlichen Industrie- und Produktionsunternehmen. Vor allem stagnierte durch die Emigration die Eisenindustrie; dafür entwickelten sich die verbliebenen Betriebe unter bürgerlichen Herren stärker, besonders als die Kriegsanstrengung und die nationale Marktpolitik unter Napoleon eine Produktionssteigerung verlangten. 19 Jedenfalls war die führende Bourgeoisie von 1789 keine homogene Klasse im Besitz der Produktionsmittel der kapitalistischen Wirtschaft. Vielmehr war die große Finanzbourgeoisie in die alte ökonomische und soziale Struktur eingefügt, während die Handels- und Industriebourgeoisie in den feudalen Fesseln der Wirtschaft erstickte. 20 Die Aufteilung der Oberschicht des dritten Standes in kapitalistische und Rentier-Gruppen, dann der Mittelschicht in die mittlere und kleine Bourgeoisie der lokalen Amtsträger, Händler und Handwerker und in die Intelligenz von Gelehrten, Rechtskundigen, Schreibern und Angestellten, schließlich der Unterschicht in landlose oder kleingewerbliche Kümmerexistenzen, zu denen dann noch die Bauern, Arbeiter und sonstige abhängige Lohnempfänger traten, machte die soziale Situation verworren. Was war der dritte Stand? Er war im ganzen nichts als die große Zahl! Mit dem Bastillesturm und der folgenden Bauernrevolte kam diese große Zahl sogleich ins Spiel, ohne daß dabei von einer eindeutigen „bürgerlichen" Revolution die Rede sein dürfte. Allerdings lehnen auch soziologisch oder neomarxistisch orientierte Forscher wie Lefebvre, Rudé, Cobb, Soboul eine eindeutige Klassendichotomie ab und verkennen nicht den heterogenen Charakter des dritten Standes, zumal gerade 18
E. Labrousse, La crise de l'économie française à la fin de l'ancien régime et au début de la Révolution. Paris 1944. 19 Bertrand Gille, Les origines de la grande industrie métallurgique en France. Paris 1947, S. 199, 205; vgl. auch die statistischen Angaben bei Donald Greer, The Incidence of the Emigration during the French Revolution. Cambridge/Mass. 1951. 20 A. Soboul, Klassen und Klassenkämpfe (Anm. 9), S. 52 ff.
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Lefebvre eindringlich auf die revolutionäre Aktivität der Bauern hinweist, die keine bürgerliche Revolution machten, sondern sogar gegen die Interessen der landbesitzenden Bourgeoisie verstießen.21 Der Bezug auf die politische und rechtliche Situation vermag erst die Addition ökonomischer und sozialer Fakten aufzuschlüsseln. Alfred Cobban hält die Revolution sogar ohne Rekurs auf die soziologische Terminologie für darstellbar. 22 Die alte Sicht eines Klassengegensatzes zwischen feudaler Aristokratie und kapitalistischer Bourgeoisie übersieht, daß erst im Verlaufe der Revolution ökonomische Klassengegensätze bestimmend wurden, und zwar innerhalb des dritten Standes, wobei sich die gewalttätige Steigerung der Revolution gerade gegen den sich meldenden Klassengegensatz wandte, also den Ausgangspunkt der Revolution, die Schaffung einer Nation von Franzosen, festhalten wollte. Nachdem der dritte Stand als alleiniger Gesellschaftsträger sich etabliert hatte, traten erst Klassenkämpfe mit Massendruck zutage: Mit der Septemberkrisis 1793 war die Illusion von der Einheit der Nation zerstört. Die ursprünglichen Ideale der Revolution waren universal und nicht klassenmäßig gedacht; nur die rechtliche Scheidung der Stände wurde angegriffen. Der Krieg zwischen dem dritten Stand und den beiden privilegierten Ständen war ein Faktum, das aber schon mit der Nacht des 4. August 1789 grundsätzlich behoben worden war. Zeitweilig wirkten alle Gruppen zusammen, und die Berufung auf das Naturrecht oder einen Code de la nature war fast allgemein.23 Tatsache war freilich auch, daß der nach Ehre, Privileg und Geburt sich abgliedernden Feudalgesellschaft eine Sphäre außerhalb des staatlich-gesellschaftlichen Ordnungssystems sich beigesellt hatte, in welcher Talent, Intelligenz, Leistung und Mobilität die Stellung des einzelnen bestimmten und die eine geistige Welt hervorgebracht hatte, die den geltenden Zustand kritisierte und verändern wollte. In ihr wurde jene Naturrechtsauffassung vertreten, die sich nur durch Vernunft einschränken lassen wollte und eine neutrale Sphäre des persönlichen Beliebens suchte, deren Normen sich nur aus der wechselseitigen Einschränkung der Egoismen ergeben sollten. Die Aufhebung des Widerspruchs zwischen dem alten Regime und der darunter oder daneben sich bewegenden liberalen Daseinsform erfolgte zwar 1789, zersplitterte aber nach und nach die substanziale Allgemeinheit der Gesellschaft in Einzelne, für die nach dem ausdrücklichen Beschluß der Nationalversammlung vom 19. November 1789 nur das abstrakte subjektive Bewußtsein der Revolutionäre, Ideen und nicht Interessen, regulierende Leitlinie sein sollte. Damit war eine Situation vorgezeichnet, welche die mobilen Elemente der Gesellschaft zwar freisetzte, sie aber auf eine abstrakte Orientierung an der revolutionären Naturrechtstheorie hin nötigte, wie sie bei Robespierre und St. Just zum Ausdruck kam. 21
G. Lefebvre, Les Paysans du Nord pendant la Révolution française. 2 Bde., Lille 1929 (neue Auflage Bari 1959); G. Lefebvre, La Grande Peur 1789. Paris 1932. 22 Vgl. A. Cobban, Frankreich von Ludwig XIV. bis de Gaulle (Anm. 15), S. 155-272. 23 Vgl. über die Einigungsversuche zwischen Bourgeoisie und Nobilität: J. Égret, La révolution des notables: Mounier et les monarchiens, 1789. Paris 1950. 9 Kluxen
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Der Sieg des dritten Standes und der von ihm getragenen aufgeklärten Vernunft entfesselte erst die Klassensituation innerhalb des dritten Standes, die 1793 voll zum Zuge kam. Hier trieb die Klassenpolitik der Girondisten im Gegenzug die Klassenpolitik der Sansculotten hervor, d. h., die bürgerliche Gesellschaft rückte als eigengesetzliches Sonderwesen in den Vordergrund und brachte den offenen Klassenkampf als neues Phänomen der Revolution erst an die Oberfläche. Die Bewegung von Massen bedeutete an sich noch keinen Klassenkampf. Selbst der militanten Organisation der Massen in der „grande journée" vom 10. August 1792 fehlte das Element des Klassenkampfes. Erst die dritte Revolte vom 31. Mai/ 2. Juni 1793 brachte einen Antagonismus zutage, der sich mit einer sozialen Differenz verband. 24 Aber der Antagonismus zwischen Girondisten und Jakobinern und danach zwischen Jakobinern und Sansculotten verblieb noch in der bürgerlichen Welt. Erst im September 1793 zeigte sich eine Konstellation, in der Massenbewegung, Klassenbewußtsein und soziale Position sich deckten. Alles, was sich schon vor 1789 als Klassendifferenz, als Gegensatz von Arm und Reich, von Arbeiter und Unternehmer, von Ausgebeuteten und Ausbeutern angekündigt hatte, kam hier für einen Moment ans Tageslicht und stellte die bisherige Revolution in Frage, die geflissentlich über den sozialen Konflikt innerhalb der Arbeitsgesellschaft hinweggegangen war. Um diese Entwicklung zu verstehen, bedarf es eines Blicks auf die Rolle der Massen seit 1789, dann auf die Ansätze eines Klassenbewußtseins bei den Sansculotten und auf die Herbeiführung einer Klassensituation durch den künstlichen Industrialismus der Kriegswirtschaft seit August 1793. Von Anfang an kannte die Revolution Massenphänomene, die den Fortgang der Ereignisse entscheidend mitbestimmten, allerdings ihnen von sich aus keine eigene Richtung zu geben vermochten. Die „grandes journées" sind ohne Massendruck nicht denkbar. Manche Altmeister der Revolutionshistorie wie Michelet und Aulard haben dieses sich erhebende Volk heroisiert; andere wie Burke und Taine haben es summarisch verteufelt. Dagegen haben Jaurès, Mathiez, Lefebvre, Labrousse den Sachverhalt wirklich untersucht. Dieses agierende „Volk von Paris" war weder der Pöbel (Taine) noch die Nation (Michelet). Es war auch kein Proletariat (Guérin) und nicht einmal Lumpenproletariat, da asoziale, lebensuntüchtige oder kriminelle Elemente selten waren. 25 Die Arbeiter, die in den größeren Textilmanufakturen, Bergwerken und Metallbetrieben einen dem modernen Fabrikarbeiter ähnlichen Status erreicht hatten, spielten vorerst eine untergeordnete Rolle, zumal sich bei den revolutionären Aktionen oft die zünftlerische Werkgemeinschaft erhielt. Selbst die Lohnempfänger waren wenig oder erst später beteiligt, als ein Großteil der 24
Das Problem der Klasse und insbesondere der „Klasse" der Intellektuellen, wie es sich aus der Kontroverse zwischen Gaetano Mosca und A. Gramsci anbietet, wird hier trotz der Fruchtbarkeit einer Exemplifizierung an der Französischen Revolution unerörtert gelassen und die ökonomische Differenz als entscheidend genommen. Vgl. dazu: Mauro Fotia, Intellectuels et „classe politique" selon Gaetano Mosca, in: Politique 1963, Nr. 21-24, S. 301 — 313. 25 Vgl. George Rudé, Die Massen in der Französischen Revolution. München 1961, S. 303.
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arbeitslos gewordenen Masse in städtische Arbeitsplätze gebracht worden war. Das „Volk von Paris" war keine soziale Klasse; allenfalls ließ sich von einem Vorwiegen der kleinen Existenzen sprechen, die sich späterhin sogar gegen das Absinken zu lohnempfangenden Funktionären der Wirtschaftslenkung zur Wehr setzten.26 Die Massenbewegungen hatten manches gemeinsam, unterschieden sich aber in Motivation und Aktionsrichtung und veränderten schließlich 1794/95 ihren Charakter. Eine Massenansteckung lag bereits in dem Erwartungsgefühl vor, das dem Zusammentritt der Generalstände vorausging und durch die öffentliche Diskussion darüber angeheizt war. Ohnedem ist die „Grande Peur" der Bauernrevolte von 1789 nicht voll zu erklären, die einen Sonderfall darstellte, aber die epidemischen Züge einer Massenpsychose hatte, obgleich sie flächenmäßig ausgedehnt war. Hier erfolgte eine Zirkularstimulation über größere Entfernungen hinweg, deren Umsichgreifen graphisch fixierbar ist. 27 Anders waren die populären Bewegungen in Paris, die auf engerem Raum erfolgten, stets eine größere Anzahl von Menschen aktivierten und wie eine Masse reagierten, aber schließlich über hektische Momentan-Aktionen hinaus in eine Kampforganisation gebracht werden konnten. Ihre physische und emotionelle Mobilität entsprang einer negativen Gemeinsamkeit, nämlich der materiellen und sozialen Gefährdung seit Frühjahr 1789. Gerade die Inhomogenität dieser Schichten machte sie manipulierbar. Hier kamen die kleinen Leute aus Gewerbe und Handwerk, Kleinkrämer, Tagelöhner, Kümmerexistenzen, Gesellen, Frauen und auch Intellektuelle zusammen, in die hinein sich noch die zahlreichen Emigranten aus Belgien, den Niederlanden, England, Savoyen, Genf, Polen usf. mischten. Erst im Verlauf der Revolution gelangte dieses „menu peuple", das wohl eine Degenerationsform, aber keineswegs den Abschaum der Gesellschaft darstellte, zu einer militanten Organisation und zu einer gewissen Identität,28 vor allem als die erfahrenen Kader der Jakobiner seit Sommer 1791 diese Kräfte als Motor der Revolution zu nutzen trachteten. Uber Mittelsmänner aus verschiedenen anderen sozialen Gruppen verband sich der Kampf gegen Mißstände und Not mit dem revolutionären Ideengut zu einer eigentümlichen Aktionsform, der Sansculotterie.29 Diese populären Bewegungen hatten mit der Bauernrevolte immerhin ihre präkapitalistische Mentalität gemeinsam. Denn wie die Bauern ihre alte gemeinwirtschaftliche Praxis auch gegen den Fortschritt der agrarischen Profitwirtschaft verteidigten, waren die Sansculotten dem Geist der Bourgeoisie, wie er sich in 26
Vgl. etwa J. Godechot, France and the Atlantic Revolution of the Eighteenth Century, 1700-1799. New York 1965, S. 152. 27 Vgl. G. Lefebvre, La Grande Peur de 1789. Paris 1932. 28
G. Rudé (Anm. 25), S. 302 f. Vgl. A. Mathiez, Le X août 1792. Paris 1931; desgleichen: W. Markov und A. Soboul (Hrsg.), Die Sansculotten in Paris. Dokumente zur Geschichte der Volksbewegung 1793 bis 1799. Berlin 1957, Dokument Nr. 1 (Réponse a l'impertinente question: Mais qu'est ce qu'un Sans-Culotte?); vgl. auch hier das Vorwort von G. Lefebvre über das fehlende Klassenbewußtsein der Sansculotten, S. 9. 29
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Handel und Industrie äußerte, tief verfeindet, so daß sie die gewonnene Freiheit fürchteten und ihre Existenz durch eine Reglementierung von Leben und Wirtschaft zu retten suchten. Auch hinter ihnen stand die „Grande Peur", sowohl 1792 als auch 1793. Ihre Reformforderungen waren unvereinbar mit der Idee des Freihandels und der freien Eigentumsbildung und liefen auf die Wiederherstellung eines vorkapitalistischen Systems im Stil des 18. Jahrhunderts hinaus. So war es wenigstens vor dem September 1793. Aber sie erreichten eine Institutionalisierung. Seit dem 14. Juli 1789 blieb die Kommune von Paris als revolutionäre Tatsache neben dem Verfassungswerk und schließlich gegen es bestehen. Sie hatte sich aus den 60 Wahldistrikten der Stadt gebildet, die der Kandidaten wähl zu den Generalständen dienten und im Mai / Juni 1790 in 48 Sektionen eingeteilt wurden. Damit behielt die Revolution in Paris zwei Zentren; dieser Dualismus war eine revolutionäre und keine konstitutionelle Tatsache. Die Sektionen ließen alle Bürger, unabhängig vom Zensus, zu und wandten sich gegen das im Wahlzensus liegende Klassendenken. Am 25. Juli 1792 erklärten sich die Sektionen für permanent und stellten in der „neuen Revolution" (Cobban) vom 10. August 1792 ihre Zentral Versammlung als die Stimme des in der Primärversammlung vereinigten französischen Volkes hin, die die wahre plebiszitäre Legitimation für sich in Anspruch nahm. Damit kam die organisierte Masse ins Spiel, die dann in der dritten Pariser Revolte vom 31. Mai/2. Juni 1793 ihre bestorganisierte journée abrollen ließ, die zum Sturz der Girondisten führte. Die revoltierenden Sansculotten von 1792 agierten nicht als soziale Klasse, geschweige denn als Proletarier. Ihre Führungselite war sogar bürgerlich und nicht aus ihren Reihen hervorgegangen. Die erste Initiative kam aus der Sektion des Faubourg St. Antoine, wo vor allem Handwerksmeister und deren Gesellen überwogen. Abhängige Arbeiter waren schwach vertreten, und in der revolutionären Kommune vom August 1792 waren von 200 Mitgliedern nur zwei Arbeiter. 30 Die hier von Not, Furcht und öffentlicher Unsicherheit angetriebenen zentrifugalen Kräfte konnten sich zudem nicht selbst organisieren oder sich auf andere Ziele richten, als die unmittelbare Bedrängnis und Angst ihnen nahelegten, geschweige denn klassenmäßig denken. Der 10. August war zudem mehr das Werk der Brissotins und der Bergpartei, die die tumultuarische Masse aus taktischen Gründen vor ihren Wagen zu spannen suchten und eigene Ziele verfolgten. Die Girondisten heizten die durch den Kriegsverlauf, die Teuerung und das Manifest des Herzogs von Braunschweig erregte Stimmung an und waren sich im unklaren, ob der Aufstand für oder gegen sie ausschlagen werde. Die Bergpartei suchte die Girondisten zu überrunden, indem sie sich in die Bewegung führend einschaltete. Robespierre gab seine legale Methode preis und stellte sich ostentativ auf die Seite der Aufständischen. Er setzte sich schon am 19. Juli 1792 für Aufhebung des Zensus und das 30
G. Lefebvre, La Révolution française (Anm. 9), S. 407. Vgl. über die Lage der Arbeiterschaft in Paris: Albert Soboul, Das Problem der Arbeit im Jahre II, in: W. Markov (Hrsg.), Jakobiner und Sansculotten. Berlin 1956, S. 153. Vgl. auch Grace M. Jaffé, Le mouvement ouvrier à Paris pendant la révolution française (1789-1791). Paris 1924.
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allgemeine Wahlrecht ein. Nach dem 10. August nahmen die Jakobinerklubs mehr und mehr Sansculotten auf und erschienen als deren Verbündete. Sie erreichten, daß bei den Septemberwahlen zum Nationalkonvent kein Girondist in Paris einen Sitz erringen konnte, während Robespierre und Marat ohne Schwierigkeiten gewählt wurden. Keine Sansculotten gelangten in den Nationalkonvent; sie dominierten aber in den Sektionen.31 Dabei hatten die Girondisten viel mit den Jakobinern gemeinsam und besaßen sogar in einigen Sektionen der Stadt das Übergewicht. 32 Sie waren ebenso wenig wie der „Berg" eine einheitliche Partei, und erst der Fortgang der Ereignisse trieb die Jakobiner dazu, Anwälte der Pariser Bewegung zu sein.33 Der Nationalkonvent war und blieb infolgedessen eine völlig bürgerliche Versammlung ohne eine sozialistische Ideologie,34 die lediglich dem Drängen der Sansculotten nachgab. Selbst die demokratische Verfassung von 1793 hielt an der Absolutheit des naturrechtlichen Eigentumsbegriffes fest. Was für die Sansculotten ein soziales Ideal war, nämlich die Sicherung der kleinen Existenzen durch eine allgemeine Reglementierung als Krönung der Demokratie, war für den Konvent ein vorübergehender Notbehelf. 35 Allerdings nötigte die Verbindung der Jakobiner mit den Sansculotten zu einer Revision des liberalen Eigentumsbegriffes, die gegen das girondistische Klasseninteresse gerichtet war, zumal nach dem 10. August 1792 die Meinung um sich griff, daß das Elend des „menu peuple" nicht am Ancien Régime, sondern an der Klassenpolitik der Girondisten lag. 36 Robespierres Plädoyer für die Gleichheit vom 30. September 1792 wandte sich gegen die Ungleichheit im Eigentum, das dem Gemeininteresse untergeordnet bleiben müsse. Dagegen hielten die Girondisten an Handelsfreiheit, Föderalismus, Besitzprivilegien und Regierungsmonopol fest und waren weder zu Konzessionen noch zu Notmaßnahmen bereit. Sie trieben trotz des Krieges eine negative Prinzipienpolitik und erreichten, daß der Konvent noch am 8. Dezember 1792 die völlige Handelsfreiheit, auch für Getreide und Mehl, verkündete. 37 Dies setzte sie dem Verdacht aus, die Brotverknappung und Teuerung zu begünstigen und rief eine Art Klassenkonflikt innerhalb des Bürgertums hervor, so daß die Girondisten selbst im April 1793 einen Krieg der Habenichtse gegen die Reichen fürchteten. 38 Das bewies die scharfe Polemik der radi3i Soboul(Anm. 9), S. 225. V- Vgl. M. J. Sydenham , The Girondins. London 1961. Hier wird nach der von L. B. Namier entwickelten Methode die Girondistengruppe untersucht und die weitgehende Ähnlichkeit mit den Jakobinern im sozialen Status herausgestellt. 33 Vgl. Gaston Martin, Les Jacobins. Paris 1965, der allerdings den Wandel des Jakobinismus zu wenig berücksichtigt. 34 J. Godechot (Anm. 26), S. 160. 3 5 G. Lefebvre (Anm. 27), S. 402. 36
Giuseppe Maranini, Classe e stato nella Rivoluzione francese. Perugia 1935, S. 316. 7 A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 240. 38 Norman Hampson, A Social History of the French Revolution. London/Toronto 1963, S. 176 f. 3
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kalen Pariser Presse gegen die Spekulanten, Horter, Schieber, Egoisten und die von Pitt bezahlten Agenten, also gegen alle diejenigen, die an Handel und Finanzlage profitierten und internationale oder überregionale Verbindungen hatten. 39 Der Kampf zwischen Girondisten und Sansculotten im Frühjahr 1793 um die Kontrolle der Sektionen spielte sich im Zeichen dieses innerbürgerlichen Klassenkonflikts ab, wobei die girondistischen Manöver schließlich Jakobiner, Enragés, Cordeliers und Kommune zu der dritten Revolte vom 31. Mai/2. Juni 1793 zusammenführten. 40 Die Drohungen der Girondisten gegen die Stadt Paris, besonders von Isnard am 25. Mai 1793, bestärkten den Verdacht eines Komplotts der Reichen mit den Reaktionären gegen den Fortschritt der Revolution. Die Enragés, die schon am 11. April 1793 den Zwangskurs der Assignaten durchgedrückt hatten, trugen das Risiko des Unternehmens; erst der schnelle Erfolg der aufständischen Sektionen klärte die Fronten zugunsten der Bergpartei, deren Sieg die Enragés gewiß nicht gewollt hatten. Die Revolte richtete sich gegen die Unverletzlichkeit der gewählten obersten Versammlung, also den verfassungsgebenden Souverän. Sie erreichte aber keine Kontrolle des Konvents oder der Kommune und holte nur für die Montagnards die Kastanien aus dem Feuer. Was erreicht wurde, waren der Sturz der Girondisten und beruhigende Versprechungen der nun im Konvent herrschenden Bergpartei. Jean Jaurès hat deswegen den Klassencharakter der journees vom 31. Mai zum Juni 1793 verneint, 41 zumal beide Führungsgruppen bürgerlich waren. Aber hier und danach wurde die jakobinische Kleinbourgeoisie durch das Bündnis mit den Sansculotten zu Maßnahmen gedrängt, die in die Konstitution des Schreckens vom 4. Dezember 1793 mündeten. Angesichts des Krieges und des Bürgerkrieges drückten die Aktivisten dabei einen staatlichen Dirigismus durch, der mit einem Schlag die Verhältnisse veränderte und dem zunehmenden Antagonismus zwischen Jakobinertum und Sansculotterie eine neue soziale Dimension hinzufügte, welche die Retardation der Revolution im Jahre 1794 gebieterisch erzwang. Bis Ende 1793 hatten aber die führenden Elemente im Wohlfahrtsausschuß und Konvent der Revolution eine ideologische Richtung gegeben, welche die schon vor 1789 seit Rousseau sich regende soziale Polemik innerhalb des dritten Standes aufgriff und zur Rechtfertigung der Diktatur benutzte. Der Kampf gegen die „Reichen" und für ein „Reich der Gerechtigkeit" und ein „modèle des nations" (Robespierre) klang den Sansculotten in den Ohren, die am 23. August 1793 die „levee en masse" und am 29. September 1793 das „maximum general" der Regierung abnötigten. Damit wurde Paris eine Kriegswerkstätte und der Staat der erste Arbeitgeber, dessen riesiges Produktions- und Versorgungssystem die sozialen Zuordnungen und Spannun39
Camille Desmoulins, Histoire des Brissotins. Abgedruckt in: P. J. B. Bûchez und P. C. Roux, Histoire parlémentaire de la Révolution française. 40 Bde. Paris 1831 -1838, Bd. 26, S. 266-310. 40 N. Hampson (Anm. 38), S. 177 ff. Vgl. Louis Jacob, Robespierre und der Hebertismus, in: W. Markov (Hrsg.), Maximilian Robespierre 1758-1794. Berlin 1958, S. 219-253. Jean Jaurès (Anm. 7), Bd. 4, S. 1458.
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gen auf sich vereinigte, das produktiv tätige Arbeitertum vermehrte und als aktive Potenz ins Spiel hineinzog. Der Wohlfahrtsausschuß mit Robespierre an der Spitze dachte dabei weniger an Sozialreform und Arbeiterfrage als an die Rettung der Einheit der Nation. Robespierres Diktatur richtete sich gegen Klassendemagogie und Klassengegensätze überhaupt, verstand sich also nicht nur als Notbehelf, sondern rechtfertigte sich aus einer Gesellschaftsvorstellung, die den Gegensatz von arm und reich eliminieren oder mindern wollte, um jedem einzelnen seine unabhängige kleine Existenz zu sichern, die allein die gemeinsame Hervorbringung der volonté générale, unabhängig von großen Interessengruppen, garantierte. Jeder einzelne sollte nur vom Gesetz abhängen, nicht aber von Reichtums- oder Besitzmonopolen noch von Wohltätigkeit. „II ne faut ni riches ni pauvres", verkündete Saint Just, und Robespierre erklärte am 2. Dezember 1792: „Le premier droit est celui d'exister. La première loi sociale est donc celle qui garantit à tous les membres de la société le moyen d'exister; tous les autres sont subordonnées à celle-là." 42 Dieses Sozialideal des kleinen Mannes kam den egalitären Vorstellungen der Sektionen entgegen. Es beruhte aber auf der spiritualisierten Konzeption einer solidarischen Gesellschaft, 43 die die Robespierristen in Widersprüche verstrickte, da ihre Gesetze nicht der bürgerlichen Handelswelt und dem Sansculottismus zugleich genügen konnten, und sie vor einem konsequenten Sozialprogramm zurückscheuten. Ihre weitgehenden Zugeständnisse verdeckten auf die Dauer nicht den fundamentalen Gegensatz zwischen den bürgerlichen Jakobinern und dem aggressiven Sansculottismus, der zunehmend das Eigentum nur auf persönlicher Arbeit gegründet und durch die Bedürfnisse aller eingeschränkt sehen wollte, obgleich nach der Menschenrechtserklärung von 1789 und der Verfassung von 1793 hier ein absolutes Naturrecht vorlag, das grundsätzlich durch nichts eingeschränkt werden durfte. Die berühmte Adresse der Sansculotten vom 2. September 1793 lautete: „La propriété n'a de Base que l'étendue des besoins physiques"; sie verlangte ein Maximum des Reichtums und des Profits und wollte jedem nur einen einzigen Betrieb, eine einzige Werkstatt usw., also nur ein überschaubares, selbsterarbeitetes Kleineigentum, zugestehen, um jede private Abhängigkeit auszuschließen.44 Sie wollte dazu den Staatsdirigismus gegen die kapitalistischen Handels- und 42 Moniteur, XIV, 637; über St. Just vgl.: Albert Soboul, Les institutions républicains de Saint-Just, in: Annales historiques de la Révolution française, 1948, S. 193. 43 Vgl. Robespierres Rede vom 17 Pluviôse I I (5. Februar 1794): „Nous voulons remplir les voeux de la nature, accomplir les destins de l'humanité, tenir les promesses de la philosophie ... Que la France devienne le modèle des nations, l'effroi des oppresseurs, la consolidation des opprimés, l'ornement de l'univers, et qu'en scellant notre ouvrage de notre sang, nous puissons voir au moins briller l'aurore de la félicité universelle." Zitiert nach A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 315. 44 A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 274 ff., S. 327 f.; vgl. W. Markov und A. Soboul (Hrsg.), Die Sansculotten von Paris. Dokumente zur Geschichte der Volksbewegung 1793-1794. Berlin 1957, Dokument Nr. 31.
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Produktionsformen ausgespielt sehen und ihn zum Instrument ihres Egalitätsideales machen. Hier kam eine Sozialvorstellung an die Oberfläche, die die provisorischen Sozialisierungsmaßnahmen der Regierung als Einleitung einer grundsätzlichen dezentralisierenden Umwandlung des Gesellschaftsgefüges begriff, in welchem die leiblichen Bedürfnisse und die soziale Sicherheit der kleinen Existenzen maßgebend sein sollten, und in welches Handelskapital und Finanzwesen im Grunde gar nicht mehr hineinpaßten. In der Tat hielten die Hébertisten alle Händler für Verräter. 45 Besonders bedrohlich verband sich damit die Vorstellung, daß die „Reichen" die gegebenen Feinde der „Armen" seien, also keine Harmonie der Interessen, sondern ein Kampf auf Leben und Tod das Gebot der Stunde sei. Chaumette verkündete hier: „C'est ici la guerre ouverte des riches contre les pauvres: ils veulent vous écraser; éh bien! il faut les prévenir; il faut les écraser nous-mêmes; nous avons la force en mains!" Er richtete diese Worte nicht nur an die Sansculotten, sondern auch an die Arbeiter, die am 4. September 1793 zusammengeströmt waren, vor allem an die Bauarbeiter und die Rüstungsarbeiter, die weder Krämer noch Handwerker waren, sondern im Industrialismus der Kriegsproduktion und Staatswirtschaft standen, den die Volksbewaffnung herbeigenötigt hatte. In dieser Demonstration und ihren Äußerungen sieht Albert Soboul „unbestreitbar" den Ursprung der Arbeiterbewegung. 46 Zwei Dinge verlangen hier eine Erläuterung: die klassenkämpferische Ideologie und das Vorhandensein eines industriellen Arbeitertums, das im Rahmen dieser Ideologie seine Anliegen vorbrachte. 47 Schon Robespierre und Saint Just hatten Bezug auf Rousseau und seinen berühmten Enzyklopädie-Anikel48 genommen. Sie nahmen ebenso wie Hébert in seinem „Père Duchesne" Anschluß an die frühe Pamphletistik, die den sozialen Konflikt innerhalb des dritten Standes festgehalten hatte. Schon Linguet hatte die Gesetze als Instrument der Besitzenden und eine Verschwörung gegen die Masse der arbeitenden Menschen angeprangert, also das Verschwörungsmotiv 49 aufgenommen; er wollte die Zweiteilung von Arm und Reich zerstören, da das Eigentum die Gesellschaft in ein Gefängnis verwandelt habe. Die isolierten Arbeiter seien schutzlos der Habsucht der Reichen ausgeliefert. Für Linguet 50 war die klare Aus45 G. Maranini (Anm. 36), S. 425. 46 A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 276. 47 Die Entfaltung dieser Ideologie und ihre Verknüpfung mit der Arbeiterfrage können hier nur als Desiderat der Forschung skizziert werden; sie machen wohl auch erst Hegels Erkenntnisse in seiner „Phänomenologie des Geistes" von 1807 historisch verständlich. Vgl. dazu: A. Soboul, Paysans, Sansculottes et Jacobins. Etudes d'histoire révolutionnaire. Paris 1967. Hier der Beitrag: Classes populaires et Rousseauisme, S. 203-223. 48 Dasselbe gilt vom „Discours sur l'inégalité", 1759 und vom „Contrat social", 1762; vgl. Α. Soboul, Jean-Jacques Rousseau et le Jacobinisme, in: Études sur le Contrat social de J. J. Rousseau (Publications de l'université de Dijon XXX). Paris 1964, S. 405-424. 49 Siehe unten über Fabrikgesetzgebung des Ancien Régime.
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beutungssituation in den Kolonialplantagen das Modell seiner Analyse vom Klassenkampf, Mehrwertabschöpfung, ehernem Lohngesetz und unvermeidlicher kommunistischer Revolution. Er sprach 1793/94 für die Aufständischen in San Domingo und fiel der Repressionspolitik von 1794 zum Opfer. Brissot de Warville hatte 1780 das Eigentum als eine soziale und nicht natürliche Einrichtung bezeichnet und jeden als Rechtsbrecher hingestellt, der mehr nehme, als er brauche. 51 Auch er stellte 1781 die Gesetze als Verschwörung der Starken gegen die Schwachen und der Reichen gegen die Armen hin. 52 Ferner beklagte sich Devérité schon 1789 in einem Pamphlet,53 daß die Arbeiter im Kampf zwischen Privilegierten und drittem Stand abseits ständen und Steuerreform oder Abschaffung der Privilegien für sie ungenügend seien. Sie seien der Willkür der Reichen ausgeliefert und erhielten trotz ihrer Arbeitsleistung den geringsten Anteil an der Produktion. Das Maschinenwesen müsse eingeschränkt werden, da nach dem Urvertrag niemand zum Hungertod verurteilt sein dürfe. Für Sylvain Maréchal, den Verfasser des Manifestes der Gleichen von 1796, war die Gesellschaft ein großer Sklavenmarkt, wo die Menschen tagtäglich gekauft und verkauft würden und die Ungleichheit der Vermögen schlimmer sei als die Ungleichheit der Stände. Die Revolution sei überhaupt noch nicht gemacht (1791). Die Gesellschaft solle auf den primitiven Status vollkommener Gleichheit zurückgeführt werden, bei dem die Erde keinem und ihre Früchte allen gehörten und alle den gleichen Lebensstandard erhalten sollten.54 Babeuf 55 führte die Gleichheitsidee unter Ablehnung jeden Wettbewerbs und jeden Privateigentums zum 50 S. N. H. Linguet, Théorie des loix civiles, ou Principes fondamentaux de la société. 2 Bde. London 1767. Vgl. auch Linguets Annales politiques, civiles et littéraires 1777-1792; sowie seine Mémoires sur la Bastille. London 1783. Vgl. auch die klarsichtigen Analysen des Arbeiterstandes bei: Turgot, Réflexions sur la formation et la distribution des richesses. Paris 1770. 51 LP. Brissot de Warville, Philosophische Untersuchung über das Recht auf Eigentum und über den Diebstahl in ihren Beziehungen zu Natur und Gesellschaft. Berlin 1780. (Originaltitel: Sur la propriété et sur le vol. Recherches philosophiques, wiedergegeben bei: L. Massenet de Marancourt, Brissot, Sa vie, son œuvre. Brüssel 1872.) 52 Brissot de Warville, Théorie des lois criminelles. Berlin 1781; ders., Le sang innovent vengé, ou Discours sur les réparations dues aux accusés innocents ... Berlin/Paris 1781; ders., Les Moyens d'adoucir la rigueur des loix pénales en France, sans nuire à la sûreté publique. Châlons sur Marne 1781. 53 Louis Alexandre Devérité, La vie et les doléances d'un pauvre diable pour servir de ce qu'on voudra aux prochains États généraux. 1789; vgl. Devérités kritischen Bezug auf Linguet in: Notice pour servir à l'histoire de la vie et des écrits de S. N. H. Linguet. Liège 1781. 54 Vgl. etwa/. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln/Opladen 1961, S. 170. Karl Hans Bergmann, Babeuf. Köln /Opladen 1965, S. 287. 55 Gracchus Babeuf, La Doctrine des Égaux. Extraits des œuvres complètes, hrsg. Albert Thomas. Paris 1912 (Bibliothèque socialiste No. 37). Babeuf, Pages choisies (Maurice Dommanget). Paris 1935 (Les classiques de la Révolution française, hrsg. la direction d'Albert Mathiez et Georges Lefebvre). Vgl. Bergmann, Babeuf (Anm. 54), S. 220-222; ferner J. L. Talmon, Politischer Messianismus. Köln /Opladen 1963; über Babeufs soziale Doktrin, S. 163-178. Vgl. unten Anm. 95.
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logischen Ende. Rousseausche Sozialideen und Sozialkritik lebten in Paris über den Cercle social (seit 1789) weiter, unter dessen Vorsitz Claude Fauchet 1790 und 1791 im Palais Royal populäre Vorlesungen über Rousseau56 hielt und für eine loi agraire, für Beschränkung des Eigentums und für das Recht auf Arbeit eintrat. Aber auch ein gemäßigter Deputierter der Constituante wie Barnave erkannte unter dem Einfluß der Schriften von Mably, Linguet und Adam Smith die zentrale Bedeutung der menschlichen Arbeit und der „classe laborieuse" für „la propriété industrielle" und fürchtete den kommenden Riß im dritten Stand zwischen der neuen Handels-Aristokratie und dem arbeitenden Volk. 57 Naturgemäß geriet die sozialkritische Pamphletistik am Anfang der Revolution trotz ernster Konflikte wie etwa des Aufruhrs in der Tapetenfabrik Réveillon am 27. April 1789 in den Hintergrund. Sie hatte auch mehr die veränderten agrarischen Verhältnisse im Auge, die seit der Mitte des Jahrhunderts durch die marktgerichtete Profitwirtschaft der landwirtschaftlichen Großbetriebe und der Großbauern die alte Dorfgemeinschaft gefährdete und das abhängige Kleinbauernund Tagelöhnertum vermehrte. 58 Sie orientierte sich aber auch an den betrieblichen und kolonialen Ausbeutungsmethoden. Es gab freilich nur in wenigen Gegenden Industrien größeren Maßstabs wie etwa in Reims, wo die Hälfte der Textilarbeiter in Fabriken zusammengefaßt war, oder in einigen Bergwerken wie den Minen von Anzin, die im Jahre 1789 etwa 4000 Arbeiter beschäftigten. Hauptsächlich ruhte die Industrie auf einem Heer von Heimarbeitern, die den althergebrachten Methoden folgten, aber in Lohn und Materialbeschaffung völlig abhängig waren. 59 Allerdings hatte das Ancien Régime diesen Bereich gesetzlich zu reglementieren versucht, besonders da, wo die Betriebe außerhalb der bestehenden Zunftordnungen standen und die Arbeiter relativ unabhängig waren. In den ländlichen Fachbetrieben, vor allem der Metallurgie, gab es einen solidarischen Kreis der „ouvriers internes", die als Spezialarbeiter knapp waren, von Betrieb zu Betrieb gingen und gute Löhne aushandelten. Dagegen wandten sich zahlreiche Gesetze, die Koalitionen und Streiks verboten, Kündigungsfristen festsetzten und eine 56 Vgl. R. B. Rose, Socialism and the French Revolution: the Cercle Social and the Enragés. In: Bulletin of the John Ryland Library, 41, Nr. 1 (Sept. 1958), S. 141 -149. 57 Barnave (Anm. 2), S. 9, 18, 20. 58 Vgl. dazu den ursprünglich agrarisch bestimmten Kommunismus bei Gracchus Babeuf. Darüber: G. Lefebvre, Die Ursprünge des Kommunismus von Babeuf. In: W. Markov (Hrsg.), Jakobiner und Sanculotten (Anm. 30), S. 192 f. 59 Vgl. A. Cobban (Anm. 22), S. 44f.; E. Levasseur, Histoire des classes ouvrières et de l'industrie en France avant 1789 (1859). 2 Bde. 2. Aufl. Paris 1900/01; ders., La France industrielle en 1789 (Mémoire lu à l'Académie des sciences morales et politiques), in: Compte rendu de l'Academie des sciences morales et politiques. Paris 1865. Ferner ders., Histoire des classes ouvrières et de l'industrie en France, 1789 à 1870 (1867). 2 Bde. 2. Aufl. Paris 1903/04; H. Sée, La vie économique et les classes sociales en France au XVIIIe siècle, Paris 1924; ders., L'évolution commerciale et industrielle de la France sous l'ancien régime. Paris 1925.
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Stabilität der Belegschaft zu erzwingen suchten.60 Diese Gesetze, aber auch die städtischen Zunftordnungen zugunsten der Meister und Unternehmer, sahen wie eine „Verschwörung der Reichen" gegen die Arbeiter aus. In Lyon beklagten sich die Seidenwirker 1786, daß die Seidenarbeiter wie „instruments mécaniques nécessaires à la fabrication des étoffes" oder als „abstraction faite de leur qualité d'hommes" angesehen würden. 61 Diese Situation dauerte trotz der Revolution unverändert fort, obgleich gerade in Paris seit einigen Jahren vor 1789 viele Arbeiter zugeströmt waren und etwa ein Viertel der Pariser Bevölkerung aus abhängigen Existenzen bestand.62 Aber erst 1791 begannen sich organisierte Arbeiterbewegungen zu regen. Die Unternehmer beklagten sich über Koalitionen und Lohnverschwörungen der Arbeiterschaft, die der „volonté générale" zuwiderliefen und verboten werden müßten.63 Dagegen beklagten sich die Arbeiter über die Unternehmer, drohten mit Streik und verlangten ein Eingreifen der Nationalversammlung im Namen der Menschenrechte zugunsten der „classe la plus indigénante qui a été si longtemps le jouet du despotisme des entrepreneurs". Die Unternehmer seien geschworene Gegner der Verfassung, die eifrigsten Parteigänger der Aristokratie und Feinde des öffentlichen Wohls. 64 Die zahlreichen Petitionen, Appelle und Proteste von Arbeitern und Unternehmern beunruhigten die Nationalversammlung und veranlaßten den Einbau sozialpolitischer Vorkehrungen in die Verfassung von 1791 in den „Dispositions fondamentales garanties par la Constitution".65 Schon vorher hatten die Behörden die wachsende Zahl der Arbeitslosen bei öffentlichen Bauvorhaben oder durch die „ateliers de charité" zu mindern gesucht und seit August 1789 allmählich etwa 22 000 städtische Arbeitsplätze in Paris geschaffen, 66 damit aber das Gewicht des sozialen Gegensatzes vermehrt, den die Revolution ohnehin kaum im Blickfeld gehabt hatte. Die Antwort auf diese ungelegene Kampfsituation war das berühmte Gesetz Le Chapelier vom 14. Juni 1791, das bezeichnenderweise fast ohne Debatte angenommen wurde und nicht nur die Zünfte, sondern jegliche Vereinigung von 60 Bertrand Gille (Anm. 19), S. 10, 13, 151 f. 61 Memorandum der Seidenwirkermeister in Lyon 1786, zit. bei G. Maranini (Anm. 36), S. 491. 62 Vgl. Grace M. Jaffé (Anm. 30), S. 22. Nach dem Sprachgebrauch dieser Zeit Schloß das Wort Arbeiter (ouvrier) immer die Vorstellung von Armut mit ein; vgl. A. Soboul, Das Problem der Arbeit (Anm. 30), S. 231. 63 Petition der Unternehmer des Zimmerhandwerks an die Munizipalität von Paris vom 30. April 1791, zit. bei G. Maranini (Anm. 36), S. 503-505. Vgl. über die Unruhen bei Réveillon Jaffé (Anm. 30), S. 51 ff., über die ersten Pariser Unruhen ebd. S. 65 ff. und die Unruhen seit 1791 ebd. S. 89 ff. 64 Petition der Arbeiter des Zimmerhandwerks an die Nationalversammlung vom 27. Mai 1791, zit. bei G. Maranini (Anm. 30), S. 497-499. 65 Verfassung von 1791, Titre I. 66 George Rude, Die Massen (Anm. 25), S. 91.
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Unternehmern oder Arbeitern, also jeden Mittler zwischen dem Staat und dem einzelnen, und dazu jegliche Ansammlung von arbeitendem Volk als verfassungswidrig verbot; selbst Adressen und Petitionen durften von den Behörden nicht mehr angenommen werden. In diese Bestimmungen waren „entrepreneurs, artisans, ouvriers, journaliers, étrangers" eingeschlossen.67 Dagegen protestierten kurz vorher die Arbeiter im „Ami du peuple" Marats vom 8. Juni 1791 als „la classe des infortunes", die allein die Revolution gemacht habe und gegen die Vampire und ihre skandalösen Gewinne vorgehen wolle. Dieser Protest war unterschrieben von „Tous les ouvriers de la nouvelle église Sainte-Généviève, au nombre de 340." 68 Seitdem begannen die Jakobiner sich dieser potentiellen Kräfte zu versichern. Weitere Petitionen im Juli 1791 und Juni 1792 wiesen auf die schwelende Unruhe hin, die anläßlich der ersten Sitzung der Legislative in einem Wort von Proudhomme in seinen „Révolutions de Paris" am 8. August 1792 zum Ausdruck kam: „Vos prédécesseurs n'avaient qu'un ennemi à combattre; bientôt peutêtre vous aurez deux, le despotisme et le peuple!" 69 In den Augen des arbeitenden Volkes hatte nur eine Klasse aus der Revolution Gewinn geschöpft: die großbürgerliche Kaufmannsund Finanzaristokratie. 70 Bis 1793 waren die Unruhen und Revolten mehr durch Brotknappheit und Teuerung sowie durch die Profite der Spekulanten, Schieber und Kriegsgewinnler, also durch Steigerung des Gegensatzes von Arm und Reich hervorgerufen worden, weniger durch einen Gegensatz von Unternehmern und Arbeitern. Selbst das Klassenbewußtsein entzündete sich nicht an einer unausweichlichen proletarischen Situation, sondern an der wirtschaftlichen Verschlechterung und mehr gegen die Interessenpolitik der Girondisten. Die zusammengewürfelte Masse der Sansculotten, meist kleiner Privatexistenzen, vermehrte sich durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Behörden um arbeitende Massen. Diese arbeiteten aber vorerst nicht in der Weise produktiv, daß ihre Aktionen den Produktionsprozeß sogleich gelähmt hätten. Das wurde mit einem Schlage anders, als die levée en masse vom 23. August 1793 verkündet wurde, die neben der Aushebung der 18- bis 25jährigen Ledigen auch die eventuelle Requisition von Bürgern für die Kriegsproduktion und nachgeordnete Dienste vorsah. Die zivile Mobilmachung wurde das Hauptanliegen, da die Aushebung leichter war als die Ausrüstung und Verpflegung der Truppen. Die Arsenale und Magazine waren leer, zumal bereits 650 000 Mann unter Waffen standen. Bis zum Frühjahr 1794 wurde nahezu eine Million Soldaten eingezogen. Damit türmten sich unge67 68
Vgl. J. L. Talmon, Politischer Messianismus (Anm. 55), S. 323. Zit. bei Jaffé (Anm. 30), S. 159-162, der Marat selbst als Urheber des Protestes an-
sieht. 69 G. Maranini (Anm. 36), S. 547. 70
R. B. Rose, The Enragés: Socialists of the French Revolution. Melbourne 1965, S. 87. Rose weist nach, daß die „Jacquesroutins" (W. Markov) keinen bestimmten sozialen Ausschnitt der Sansculotten darstellten, wenn sie auch das entrüstete Sprachrohr der mittellosen Unterbürger waren.
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heure Schwierigkeiten auf. Die Aushebungen verknappten die Arbeitskräfte. Weite Teile des Landes, bis zu 60 Departements, waren im Aufruhr oder noch nicht zur Ruhe gebracht. Die Industrie war weit übers Land verteilt. Die meisten Rüstungsbetriebe wie Maubeuge, Charleroi, Douai, Klingenthal waren in Feindeshand; St.-Étienne in Hand der Rebellen. Die Kriegsblockade verhinderte die ungestörte Einfuhr kriegswichtiger Güter; zudem war die Transportfrage im Binnenland durch Vernachlässigung des Straßenbaues und durch den Bürgerkrieg vorerst kaum zu lösen.71 Die leitenden Männer, die die nationale Anstrengung auf die Bedürfnisse des Krieges hin zusammenfassen sollten, waren Lazarus Carnot, Robert Lindet und St.-Prieur-de-la-Cote-d'Or. Sie waren mehr Experten als Politiker und schufen so etwas wie die erste Expertokratie. Die Massen mußten rationell organisiert werden, und es mußten neue Quellen für die Kriegserfordernisse gefunden werden. Es galt, alles, was man früher von auswärts bezog, selbst herzustellen. Zum ersten Mal wurde dazu die Wissenschaft herangeholt und die wissenschaftliche Forschung systematisch in den Dienst der nationalen Sache gestellt. Dabei wurden ohne Rücksicht auf Vergangenheit und Gesinnung die erreichbaren Wissenschaftler, Techniker und Organisatoren, darunter Industrielle und Finanzfachleute, Chemiker und Erfinder, herangeholt. In Meudon entstand sogar ein Forschungslaboratorium.72 In Paris bauten Monge und der Ingenieur Hassenfratz, um die Transportfrage zu umgehen, staatliche Rüstungsbetriebe auf, vor allem eine große Gewehrund Waffenfabrik, die im September 1793 bereits arbeitete und täglich bis zu 700 Gewehre herstellte. Sie erreichte nicht ihr Soll von 1000 Gewehren, bildete aber eine wichtige Säule der Rüstungsproduktion. Die hierher beorderten Arbeiter wurden in den Gärten der Tuilerien, vor dem Luxembourg, auf dem ehemaligen Place Royal und auf dem Vorplatz des Hôtel des Invalides untergebracht. 73 Im Dezember 1793 wurde die Salpetergewinnung durch eine nationale Erfassungsorganisation vorwärtsgetrieben; 28 Raffinerien, die größte bei St.-Germaindes-Près, wurden in Betrieb genommen. Auch in der Provinz wurden Kriegsbetriebe neu belebt oder erweitert, so die Kanonenfabrik von Perier in Chaillot, die Kanonenfabrik in Romilly bei Rouen, die Waffenfabrik in Bergerac und Moulins, die Pulverfabriken in Grenelle bei Paris und in Ripault usw. Zugleich mußte eine Koordination der Materiallieferungen und der Kapazitäten und eine Synchronisierung der Produktion nach Art, Qualität und Quantität erreicht werden. Dazu wirkten Wissenschaft, rationelle Organisation und technischer Fortschritt zusammen im Gegensatz zu der Reglementierung im Ancien Régime, die gerade die Entwicklung neuer Herstellungsmethoden verhindert hatte. Dieses System griff auch auf die nicht unmittelbar beteiligte Bevölkerung über, die bei der regionalen Salpeterausbeute, bei der Metallsammlung, bei der LiefeVgl. G. Lefebvre (Anm. 27), S. 399 ff.; A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 291. 72 G. Lefebvre (Anm. 27), S. 400. 73 G. Lefebvre (Anm. 27), S. 401.
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rung von Fellen seitens der Metzger, der Lohebelieferung der Gerber, der Schuhund Koppelherstellung bei den Schustern zu einer streng geordneten Mitarbeit herangezogen wurde. Dabei vermied der Wohlfahrtsausschuß allerdings eine allzu große Vermehrung der Staatsbetriebe über die Waffenfabrikation hinaus und nationalisierte nicht einmal die Bergwerke. 74 Aber die Materialverteilung und die Produktion wurden gelenkt, und alle Unternehmen dieser Art arbeiteten mit maximaler Produktion auf Soll-Erfüllung hin, unter Kontrolle des Staates und für die Nation, wobei die tätigen Kaufleute ebenso wie viele Betriebsinhaber zu Funktionären der Regierung wurden. Eine gewisse Konzentration der Produktionsformen gegenüber dem früheren Vorrang der Kleinbetriebe wurde unausbleiblich. Diese Organisation war vielleicht das neuartigste und auch erfolgreichste Werk des Wohlfahrtsausschusses. Sie erstreckte sich naturgemäß über den Bereich der einschlägigen Betriebe hinaus auf die gesamte Textil- und Nahrungsmittelproduktion, die vor allem über Lieferungsforderungen und Requisitionen für die Kriegszwecke herangezogen wurde. Immerhin wurden dadurch viele Krämer und Handwerker wie Bäcker, Schuster, Schneider praktisch zu öffentlich verpflichteten Arbeitern. Darüber hinaus mußten Eisen- und sonstige Facharbeiter in die Fabriken verpflichtet werden, darunter jene „ouvriers internes", die schon eine gewisse solidarische Politik in Lohn und Arbeitsbedingungen und gegen die Fülle von Gesetzen des Ancien Régime entwickelt hatten. Zugleich kamen Schlosser, Metallarbeiter, Möbeltischler usw. aus kleineren Betrieben vor allem in der Hauptstadt zusammen, die zwar größtenteils Gesellen waren, aber in den Status von Lohnarbeitern hineingeraten waren. Die Pariser Sektionen wehrten sich gegen die neuen Großbetriebe und setzten entsprechend ihrer Handwerkerideologie die Aufteilung vieler Produktionszweige auf die einzelnen Werkstätten der Sektionen durch, was sie aber bei dem Mangel an eigenem Betriebskapital auf das Privatkapital verwies. 75 Schon Anfang September 1793 äußerte sich das neue Element in Paris, als sich die städtischen und die nationalen Arbeiter der Militärproduktion versammelten und den Druck der Sansculotten verstärkten. Diesmal handelte es sich nicht allein um eine tumultuarische Masse, sondern auch um Arbeiter, die großenteils ausschließlich von Assignaten zu leben hatten, also um reine Lohnempfänger, die in einer gleichartigen Situation und in einer lebenswichtigen Produktion beschäftigt waren. „Diese Tage stehen in keiner engeren und exakten Beziehung zum allgemeinen Verlauf der bürgerlichen Revolution." 76 Hier blieb zwar nach der Adresse der Sansculotten vom 2. September 1793 und der Rede Chaumettes der Gegensatz von Arm und Reich der Kern der revolutionären Argumentation, aber bei den 74
A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 324. Vgl. auch: F. L. Nussbaum, Commercial Policy in the French Revolution: A Study of the Career of G.J.A. Ducher. Washington 1923. 7 5 A. Soboul, Das Problem der Arbeit (Anm. 30), S. 161. 76 A. Soboul, Klassen und Klassenkämpfe (Anm. 29), S. 65. Vgl. auch Α. Soboul, Les Sans-culottes parisiens en l'an II. Mouvement populaire et gouvernement révolutionnaire, 1793/94. Paris 1958, S. 11.
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Arbeitern kam der Gegensatz zu den Unternehmern hinzu, wobei im Grunde die Regierung der Unternehmer war. Eben dadurch bekam der allen Revolutionären gemeinsame soziale Protest 77 eine politische Richtung, die ihm nicht gerecht wurde, und die politische Reaktion der Regierung darauf gab sich eine soziale Dimension, die ihrer Politik nicht entsprach. Die ideellen Gesichtspunkte waren verschieden: Robespierre und Saint Just wollten die nationale Solidarität jenseits aller Klassenegoismen unter der Fiktion des unabhängigen Einzelnen als Träger einer nur dem Ganzen verpflichteten volonté générale; die Sansculotten dachten an ihr soziales Ideal kleiner Eigentümer und Produzenten in einer direkten Demokratie und protestierten von den Sektionen her unablässig gegen die Konzentration der Kriegs- und Bekleidungsbetriebe, die sie auf die Stufe von Lohnarbeitern herabzudrücken drohte, während die Arbeiter in den Großbetrieben in erster Linie eine unabhängige Aktionsfreiheit und Lohnpolitik im Auge hatten. Robespierres Verkündigung des Vorrangs des Existenzrechts vor dem Eigentumsrecht und Saint Justs Abschaffung von Arm und Reich überhaupt 78 nahmen die Anliegen der Tumultuanten auf, hielten aber an der Gleichgewichtspolitik jenseits der Klassen und an der bürgerlichen Eigentumsvorstellung fest. Eine Beruhigung wurde nicht erreicht, weil die Lenkungspolitik im Grunde den sozialen Illusionen der Sansculotten, und die Konsequenz der Regierung, die sich nur auf die Kriegswirtschaft erstreckte, den Interessen der Arbeiter in den Rüstungsbetrieben zuwiderlief. Diese Kriegsorganisation war weit geschlossener als die Lenkung des zivilen Versorgungssystems, die zudem mit der Nationalisierung der Mühlen und anderer Betriebe, mit den Preis- und Lohnfestsetzungen und der Getreideverteilung auch die Schicht jener Leute betraf, die in der Sansculotterie tätig waren. Der Wohlfahrtsausschuß war nur konsequent in den Bedürfnissen für die Armeen, scheute jedoch vor der völligen Nationalisierung des zivilen Versorgungssystems zurück, das er den Distrikten und Munizipalitäten überließ. Hier wurde auch keine Effektivität der Gesetzgebung erreicht, wobei nicht nur der Schwarzmarkt blühte, sondern auch die Munizipalitäten einschließlich der Pariser hebertistischen Kommune das gesetzliche Maximum der Löhne nicht einhielten, wenn sie auch zugunsten der Konsumenten und Arbeiter das Maximum der Nahrungsmittelpreise streng anwandten. Gerade die Effektivität der Kriegsproduktion und die relative Ineffektivität des gesamtwirtschaftlichen Dirigismus benachteiligte die Rüstungsarbeiter in den staatlichen oder staatlich beaufsichtigten Betrieben, da hier die Lohnfestsetzungen strikt eingehalten wurden, Streiks und Koalitionen verboten waren und die Arbeitsdisziplin rigoros aufrechterhalten wurde. Sogar die Pariser Bauarbeiter waren dagegen im Vorteil, weil die Kommune den Schwarzmarkt zum Vorteil der 77 Vgl. G. Rudé, Massen (Anm. 25), S. 307. Vgl. A. Mathiez, La vie chère et le mouvement social sous la terreur. Paris 1929. 78 Vgl. Λ. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 275 f.; G. Lefebvre (Anm. 27), S. 327.
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Produzenten und Handwerker begünstigte.79 Diese veröffentlichte ihr Lohn-Maximum erst am 23. Juli 1794. Darum hörten die Unruhen in den Waffenbetrieben nicht auf, die bereits im September 1793 begannen. Es handelte sich hier in Paris zwar um nicht ganz 8000 Rüstungsarbeiter gegenüber 22000 anderen städtischen Arbeitsplätzen; aber die Demonstrationen und Lohnforderungen dieser Leute stellten den Krieg in Frage und brachten zudem erneut die Arbeiteraktivität von 1791 mit größerer Stoßkraft ins Spiel. Die Vorwürfe und Anklagen im Verlauf der Unterdrückungsaktion von 1794/95 richteten sich besonders gegen die Behauptungen, daß zwei feindliche Klassen von Bürgern existierten, von denen nur die zweite produktiv sei, die von der Arbeit ihrer Hände lebe. 80 Vom Girondistensturz am 2. Juni 1793 bis in den November 1793 machte die Regierung den Sansculotten soziale Zugeständnisse und schritt erst nach und nach zu Gegenmaßnahmen. Höhepunkt dieses Nachgebens war die loi du maximum générale vom 29. September 1793, die aber nicht nur die Preise, sondern auch die Löhne festsetzte, allerdings dabei den Arbeitern entgegenkam, deren Löhne statt um ein Drittel um die Hälfte höher sein sollten als im Normaljahr 1790. Die gelernten Arbeiter sollten fünf und die ungelernten drei Livres verdienen. Allerdings erwiesen sich diese Fixierungen trotz aller Kontrollen und Strafen als wenig wirksam; nur die Löhne der Staatsbetriebe wurden streng beachtet, zum Schaden der dortigen Arbeiter. Die Händler wurden erst durch das Maximum der Tarife vom 20. Februar 1794 betroffen, das die Gewinne der Transportunternehmer und Grossisten fixierte, aber auch die Pariser Privatbetriebe belastete. Alle Konzessionen und Einschränkungen dienten der Sicherung der Kriegswirtschaft; sie lähmten den Kreislauf der übrigen Wirtschaft und waren keineswegs als wirtschaftliche oder soziale Antizipation einer endgültig manipulierten Gesellschaft gedacht. Der sansculottische Gedanke einer direkten Demokratie stand ihr völlig entgegen, und die Bergpartei zeigte nicht die geringste Absicht, das Gesetz Le Chapelier von 1791 zu widerrufen, was eine wirkliche Solidarität mit der Arbeiterschaft bezeugt hätte. Der Kampf gegen die Sansculotten-Anarchie, in welche die Rüstungsarbeiter hineingezogen wurden, setzte sogleich nach den Septemberunruhen 1793 ein. 81 Schon am 9. September wurde die Permanenz der Sektionen abgeschafft, allerdings die forthin noch zugestandenen zwei Wochensitzungen den armen Bürgern mit 40 Sous bezahlt.82 Diese „40-Sous-Leute" waren die mittellosen Arbeiter, denen die „ehrbaren Bürger" gegenüberstanden, die vom „Père Duchesne" und von den Enragés nicht mehr zu den eigentlichen Sansculotten gezählt wurden. Das erste Ressentiment wurde mit dem Maximum der Löhne 79 A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 325, 339. so A. Soboul, Das Problem der Arbeit (Anm. 30), S. 158 f. 81 Vgl. A. Soboul, Précis (Anm. 9), S. 277 ff. 82 Vgl. W. Markov und A. Soboul (Hrsg.) (Anm. 29), Dokument Nr. 39, in welchem einige Sektionen diesen „Angriff auf die Souveränität des Volkes" und die ausgesetzte Geldzahlung ablehnten.
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geweckt, das für die soziale Gleichgewichtspolitik der Regierung das notwendige Korrelat des Preis-Maximums war, aber auch dessen strikte Durchführung voraussetzte. Da es daran mangelte, wandte sich dieser Punkt gegen das Arbeitertum. Robespierres soziales Leitbild der unabhängigen Kleineigentümer widersprach den Interessen des Kapitals und der Arbeit; seine Zwangsreglementierung rief geradezu die Konzentration der Kräfte hervor, die ihm entgegenstanden, und war ungewollt Vorläufer der großbürgerlichen Reaktion, soweit sie nicht als Werk der Technokraten moderne Massenmanipulationen vordeutete. Die Regierung bezeichnete sich am 10. Oktober 1793 als „revolutionär", d. h., ihre Maßnahmen waren Ausnahmegesetze und vorübergehender Natur (lois de circonstance), womit die Lenkungswirtschaft im Grunde zum Notbehelf heruntergespielt wurde und freilich auch die Souveränität des Volkes suspendiert war. Die Klubs und populären Sozietäten sanken damit zu Konsultativorganen herab. Das Wort von der Volkssouveränität, das 1792/93 in aller Munde war, verschwand aus dem politischen Vokabular der revolutionären Regierung. 83 Die erste eindeutig antipopulare Aktion erfolgte im Dekret des 14 Frimaire II (4. Dezember 1793), das mehrere Einrichtungen der Sansculotten beschnitt und die Konstitution des Schreckens proklamierte, unter der Parole eines „dévouement magnanime qui confond tous les intérêts privées dans l'intérêt général". Die heftige Agitation in den Rüstungsbetrieben, den Gelddruckereien und Pulverfabriken hörte infolgedessen nicht auf. 84 Besonders Hébert und die Enragés bliesen ins Feuer und verdammten Reichtum, Profite, Spekulantentum und jegliches Handelskapital überhaupt. Der „Père Duchesne" Nr. 350 erhob seine Stimme nicht nur gegen die „indulgents" mit Danton an der Spitze, sondern jetzt auch gegen die Gleichgewichtspolitik der „endormeurs" mit Robespierre. Hébert forderte in den letzten vierzig Tagen seiner Wirksamkeit einen totalen Dirigismus und eine Sozialisierung des Bodens, der allen gehöre wie die Luft. 85 Die Ventose-Dekrete der Regierung im Februar/März 1794 waren mehr taktische Manöver zur Beruhigung der aufsässigen Arbeiterschaft (Lefebvre, Soboul), die im Bunde mit Cordeliers und Hébertisten agierten, als das Programm einer neuen oder gar sozialistischen Revolution (A. Mathiez). Saint Just wandte sich am 23 Ventôse II (13. März 1794), also am Tage der Verhaftung Héberts, gegen die „sociétés populaires" der Sektionen, gegen die „classe corruptrice" der agitierenden Funktionäre, gegen den „neuen Föderalismus" der Klassenkämpfer; die revolutionäre Gewalt liege allein bei der Regierung. 86 Mit der Niederschlagung der Hébertisten und Enragés am 13./14. März 1794 setzte die offene Restriktion ein, die das politische Leben in den Sektionen und Sozietäten paralysierte und mit der Auflösung der Sozietäten und der Integration der populären Bewegung in die jakobinischen Kader die Trans83
A. Soboul, Les Sans-culottes (Anm. 76), S. 515. 84 Α. Mathiez (Anm. 8), S. 585. 85 Louis Jacob (Anm. 40), S. 243. 86 Wiedergegeben bei G. Maranini (Anm. 36), S. 551-553. 10 Kluxen
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formation vieler Sansculotten in Funktionäre einleitete.87 Seit der Guillotinierung Héberts und Genossen am 4 Germinal II (24. März 1794) zweifelten die Sansculotten an der Regierung. Tags zuvor hatte ein Dekret den Großhandel wieder zur Mitarbeit aufgerufen. Dagegen gab das Dekret vom 4. April 1794 betreffend die allgemeine Requirierung der Fäuste und Arme ohne Unterschied der Regierung erweiterte gesetzliche Mittel gegen die Arbeiterschaft in die Hand. La Grande Terreur vom 22 Prairial II (10. Juni 1794) bedeutete die totale Negation von Klassenkampf und Sansculotten-Anarchie zu einem Zeitpunkt, als sich die Unzufriedenheit der direkt oder indirekt für die Kriegsproduktion tätigen Arbeiter besonders gefährlich verstärkte. 88 Seitdem fielen den Revolutionstribunalen zahlreiche Sansculotten und „Contre-Revolutionäre, die kriminelle Verbrechen in den Assignatendruckereien, den Waffen-, Pulver- und Salpeterwerkstätten begangen4'89 hatten, zum Opfer, so daß schließlich im ganzen 84 Prozent der Hingerichteten dem dritten Stand angehörten, nämlich 25 Prozent aus der Bourgeoisie, 28 Prozent aus der Bauernschaft und 31 Prozent aus den Reihen der Sansculotten.90 Robespierre glaubte nun den Klassenkampf überwunden. Der Kult des Être-Suprême (18 Floréal II; 7. Mai 1794) sollte alle in Glauben und Gerechtigkeit vereinigen. Aber mit der Auflösung des Bündnisses mit der Sansculotterie verlor seine Konzeption jegliche soziale Stütze. Die offene Zusammenarbeit von Konvent und Kommune zugunsten einer restriktiven Lohnpolitik, mit Mitteln des Schreckens unterstrichen, kostete die Hilfe der Arbeiter und Sansculotten, soweit diese nicht durch bezahlte Funktionen ins Regierungsinteresse gebracht worden waren. Man sprach offen über die „von Volksfeinden verführten" Arbeiter der Waffenbetriebe und wandte das Gesetz Le Chapelier von 1791 rücksichtslos an, das nun von einem Polizeigesetz zu einem Klassengesetz wurde. Der Sturz der Hébertisten leitete bereits den Sturz Robespierres ein; nur vier Monate konnte sich sein Regime ohne Stütze der Sansculotterie noch halten. Am 9 Thermidor verhielten sich die Arbeiter der Waffenbetriebe ruhig. 91 Bis Dezember 1794 stand die Lohnfrage noch an erster Stelle. Daniel Guérin sieht hier ein neues Stadium in den Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und 87 Vgl. etwa W. Markov und A. Soboul (Hrsg.) (Anm. 29), Dokumente Nr. 88 ff. K. D. Τόηneson, La défaite des Sans-Culottes: Mouvement populaire et réaction bourgeoise en l'an III. Paris 1959. 88 Albert Soboul und George F. Rudé, Das Maximum der Arbeitslöhne in Paris und der 9. Thermidor. In: W. Markov (Hrsg.), Jakobiner und Sansculotten. Berlin 1956, S. 173 ff. S9 Vgl. Moniteur, XX, S. 699. 90
Donald Greer, The Incidence of the Terror during the French Revolution. Cambridge/ Mass. 1935. - Natürlich stellen die 8,5% des Adels und die 6,5% des Klerus von der Gesamtzahl der beiden privilegierten Stände her gesehen einen weit größeren Anteil dar; das ändert aber nichts daran, daß die Sansculotten im Jahre 1794 das größte Kontingent der Opfer stellten und weniger als 1 % vom April 1793 bis Juli 1794 wegen Wirtschaftsvergehens exekutiert wurden. 91 G. Rudé (Anm. 25), S. 182 ff.
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Kapital. 92 Danach hörte man nichts mehr von Lohnforderungen, da Teuerung und Brotverknappung wieder nackte Hungerdemonstrationen herbeizwangen. Allerdings war der erste Gegner der Arbeiter jetzt nicht das Kapital, sondern die Regierung, die allgemeiner Arbeitgeber war und den Klassengegensatz bekämpfte. Erst mit der neuen Wirtschaftspolitik seit Frühjahr 1794, die allmählich Handel und Unternehmerschaft über LieferungsVerträge ins Spiel brachte, bildete sich ein unmittelbarer Gegensatz von Unternehmerschaft und Arbeitertum wieder heraus. Dabei zersplitterten sich aber die Arbeiter in den einzelnen Betrieben und wurden eine wehrlose Beute der Einzelunternehmer, während sie im Pariser Industrialismus als Masse eine Macht waren. 93 Erst die Entfaltung dieser privatkapitalistischen Wirtschaft verwandelte einen Großteil der Sansculotterie in Proletarier. Der Widerruf des loi du maximum am 23. Dezember 1794, der freilich Festpreise für rationiertes Brot und Fleisch beibehielt, löste in den Faubourgs St.-Antoine und St.-Marcel Unruhen, aber keine organisierte journée mehr aus. Der Beschluß der Regierung vom 20. Januar 1795, die waffenerzeugenden Betriebe in Paris zu schließen, bezeugt, daß hier die eigentliche Gefahr gesehen wurde. Auch dagegen brachen Unruhen aus, die aber nicht die Schließung der Staatsbetriebe am 8. Februar 1795 verhindern konnten. Auch die Textilbeschaffungskommission sowie die Schneiderwerkstätten und Verteilungsämter der Pariser Kommune wurden im Juni 1795 geschlossen. Die Regierung löste die Kriegsorganisation durch private Lieferungs Verträge ab, und am 15. März wurden die Girondisten wieder im Konvent zugelassen. Der ganze Rüstungssektor wurde nunmehr von der kapitalistischen Großbourgeoisie in Beschlag genommen. Die Not und die durch das zurückgekehrte Großbürgertum sich erneut abzeichnende Klassensituation trieb zu der Explosion vom 1. April 1795; aber diese Verzweiflungsaktion der Sektionen um den Stadtkern scheiterte ebenso wie die Erhebungen im Mai 1795, weil es sich mehr um desorganisierte elementare Hungertumulte handelte, und weil zudem der Druck der Rüstungsarbeiter und das Bündnis mit dem radikalen Führungsflügel der Jakobiner fehlten, deren Pariser Klub schon im November 1794 geschlossen worden war. Am 30. Mai 1795 schaffte der triumphierende Konvent den Terminus „revolutionär" wieder ab. Auf dem Höhepunkt der Pariser Volkserhebungen hatten zeitweilig etwa eine Viertelmillion Pariser unter Waffen gestanden.94 Diese rohe Skizze, die nur einige Punkte aus einer beliebig vermehrbaren Menge von Instanzen herausheben konnte, zeigt, daß die ursprünglich jakobinische Konzeption eines der Gesellschaft endemischen Konflikts zwischen den Kräften der Tugend und denen der Selbstsucht, dem einfachen Mann und dem reichen Profitjäger, schon früh in eine Klassensituation hineingedeutet wurde, die unterhalb der Revolution unverändert fortdauerte und durch die staatliche Kriegswirtschaft mit 92
Daniel Guérin, La lutte des classes (Anm. 9), Bd. I, S. 155. Vgl. über den völligen Ausfall der Sozialpolitik in Frankreich seit 1795: J. L. Talmon, Politischer Messianismus (Anm. 55), S. 319 ff. 9 4 G. Rude (Anm. 25), S. 83. 93
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einem Schlage an die Oberfläche trat. Die einzelnen Schritte darauf hin bedürfen noch der näheren Untersuchung, lassen sich aber an wichtigen Brennpunkten markieren. Hier tauchte für kurze Zeit eine durch die Kriegsanstrengung herbeigezwungene, regional begrenzte, industriell tätige Massen- und Klassengesellschaft auf, die die Stoßkraft des verarmten Kleinbürgertums beträchtlich verstärkte. Sie erzwang eine staatliche Allgegenwart, welche die seit 1789 freigesetzten Interessengegensätze nicht dulden konnte. Sie war gleichzeitig das Werk von Technokraten und kleinbürgerlichen Ideologen. Robespierres Ideal einer klassenlosen nationalen Gesellschaft unabhängiger Kleinbesitzer widersprach dem Konfliktcharakter dieses Industrialismus, der kollektive und akkumulative Produktionsformen mit sich brachte, die der herbeibefohlenen werktätigen Masse ungewollt eine Waffe in die Hand drückten: den Streik oder die Streikdrohung als Mittel einer Interessenpolitik. Dies nötigte die Regierung zu einer dirigistischen Sozialpolitik, die den Zielen der Emanzipation und der freien Eigentumsbildung widersprach. Die „objektive Bedingung" zu dieser Situation war künstlich herbeigeführt worden. Diese Ausnahmesituation befruchtete bezeichnenderweise entscheidend die Gedankenwelt Babeufs und ist die eigentliche Quelle der letzten Form des Babeuvismus.95 Die Konfrontation mit dem Problem einer industriellen Massenproduktion zog Konflikte nach sich, die mit dem Ausgangspunkt der Revolution nichts zu tun hatten, und brachte künftige Probleme vorzeitig auf die Szene. Bevor die entsprechenden Gesellschafts- und Produktionsformen sich ausgebildet hatten, wurde die soziale und revolutionäre Grammatik des 19. Jahrhunderts auf der Bühne des Pariser Theaters den Augen der Welt vorgespielt. In der Nußschale und in einem hochtemperierten Raum wurde die Zukunft in diesem Punkt vorweggenommen. Zugleich trat der bedingende Zusammenhang der industriellen Gesellschaft mit militärischen Bedürfnissen und disziplinierten Lebensformen zutage, den Burckhardt und Nietzsche zuerst gesehen haben. Klasse und Masse hatten sich hier vor dem eigentlichen Industrialismus zu einer materiellen Kraft vereinigt, und Europa vollzog erst in langen Phasen nach, was in Frankreich für einen Augenblick hervorgetreten war. Was für das 18. Jahrhundert Ausnahmezustand war und im Grunde den Prozeß der Revolution veränderte, wurde im 19. Jahrhundert schließlich Wirklichkeit. Erst für diese Kulminationsphase von 1793 wird jenes soziologische Begriffsmaterial sinnvoll anwendbar, welches in der Sozialpolemik des 18. Jahrhunderts sich angemeldet hatte und nicht ohne Bezug auf die Jahre 1793 und 1794 von der Geschichtsphilosophie und Gesellschaftskritik des 19. Jahrhunderts entwickelt worden war. Alle Widersprüche der Folgezeit zwischen bürgerlicher Welt und sozialer Wirklichkeit, zwischen nationaler Integration und industrieller Klassendesintegration, zwischen wissenschaftlich-technischer und ideologischer Manipulation, zwischen Staatsnotwendig95 G. Lefebvre, Die Ursprünge des Kommunismus von Babeuf. In: W. Markov (Hrsg.), Jakobiner und Sansculotten (Anm. 30), S. 199 f.
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keit und bürgerlicher Freiheit usf. wurden vorexperimentiert, ehe das Großbürgertum sich als herrschende Klasse etablierte und den bürgerlichen Charakter der Revolution festhielt. Der Klassenkonflikt von 1793/94 hatte sich aber nichtsdestoweniger so bedeutend artikuliert, daß sich daraus die Frage erhebt, ob die frühe Arbeiterbewegung des 18. Jahrhunderts in Frankreich nicht doch mehr Beachtung verdient, als die Verschüttung dieser ersten Ansätze durch die Woge des Industrialismus im 19. Jahrhundert vermuten läßt.
I I . Zur Problematik und Geschichte des Parlamentarismus
Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung Nach der Lehre von der Gewaltentrennung sind die politischen Freiheitsrechte nur gesichert, wenn die Ausübung der gesetzgebenden, exekutiven und richterlichen Gewalt-Funktionen durch verschiedene Personen oder Gruppen erfolgt, die sich gegenseitig kontrollieren und in gesetzlichen Schranken halten (nach Messner). Diese Lehre ist durch Montesquieu ein wichtiger Bestandteil der konstitutionellen Theorie geworden. Montesquieu hat sie sich nicht selbst ausgedacht, sondern in englischen Verhältnissen vorgefunden und in ihr ein Hauptmittel zur modération der obersten Gewalt gesehen. Man hat häufig darauf hingewiesen, daß er die Gewaltentrennung zu Unrecht in die englischen Verhältnisse hineingedeutet habe1. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß im England des 18. Jahrhunderts eine gegenseitige Kontrolle von König und Parlament, von Oberhaus und Unterhaus, sowie eine Unabhängigkeit der Richter, die auf Exekutive und Legislative beschränkend einwirkten, erstrebt wurde und zum Teil verwirktlicht war 2. Montesquieu sah freilich nicht, daß die Entwicklung - vor allem das aufkommende Kabinett - sich von diesem Prinzip entfernte. Im heutigen England, wo das Kabinett als Exekutive nur ein Ausschuß jener Parlamentsmajorität ist, die praktisch die Legislative in der Hand hat, läßt sich nur noch in der Unabhängigkeit der Richter ein Rest von Gewaltentrennung entdecken. Die Gesetzgebung kann allerdings sogar Entscheidungen der Gerichte aufheben, dagegen kann die Gerichtsbarkeit nicht Gesetze des Parlaments umstoßen3. Trotzdem bleibt es richtig, den historischen Anknüpfungspunkt zu dieser Lehre in England und nicht in der Antike zu suchen. Die meisten Staats-Theoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts kennen und bewundern Aristoteles und Polybios, ohne von ihnen her zum Prinzip der Gewaltentrennung zu kommen. Insofern die Gewaltentrennung auf einer gemischten Verfassung basiert, die über die Subjekte der verschiedenen Gewalten entscheidet, hat sie freilich eine wirkliche Beziehung zur Antike. Der status mixtus bei Piaton, Aristoteles und besonders Polybios wurde im England des 17. Jahrhunderts häufig mit der Idee des Gewaltengleichgewichts, der Gewaltenhemmung4 und auch der Gewaltentrennung verknüpft. Aber die Notwendigkeit und die Art der Trennung der Gewalten und ihrer Verfahrensweisen ließ ι Vgl. z. B. A.F. Pollard, The Evolution of Parliament. London 1920, Kap. 12, S. 221 f. 2 Vgl. Sir William Holdsworth, History of English Law. London 1938, vol. 10, S. 416. 3 4
Vgl. Johannes Messner, Das Naturrecht. Innsbruck 1950, S. 509. Vgl. die Ansätze zur Gewaltenhemmung und Balance bei Polybios, Historiae 6,11 -15.
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II. Zur Problematik und Geschichte des Parlamentarismus
sich nicht aus dem status mixtus entwickeln, sondern wurde aus eigentümlichen Rechtsvorstellungen heraus verfochten. Die gemischte Verfassung erforderte nicht das Organisationsprinzip der Gewaltentrennung; ja die Gewaltentrennung wurde im 17. Jahrhundert besonders eindringlich von jenen vertreten, die den status mixtus und die Idee der Balance außer Acht ließen, nämlich den Levellern 5. Die gemischte Regierungsform bedeutet lediglich, daß die Legislative durch einen gemeinsamen Akt von Souverän, Aristokratie und Volk zustande kommen soll, um einen Ausgleich der Interessen zu sichern; hier wirken verschiedene unselbständige Faktoren in einer einheitlichen Grundfunktion zusammen. Bei der Gewaltentrennung hingegen werden die verschiedenen hoheitlichen Grundfunktionen verschiedenen selbständigen Gewaltenträgern zugewiesen6. Die enge Verknüpfung des Gewaltentrennungs-Prinzips mit dem status mixtus der Antike, der BalanceIdee der rationalistisch-atomistischen Staatskonstrukteure des 17. Jahrhunderts und auch dem Widerstandsrecht der Monarchomachen in der konstitutionellen Theorie verschuldet nicht nur eine terminologische Unsicherheit und die Inkohärenz des Konstitutionalismus im 17. und 18. Jahrhundert 7, sondern hat auch seine eigentümliche Herkunft aus englischen Verhältnissen verschleiert. Aristoteles unterscheidet zwischen beratender, exekutiver und richterlicher Gewalt 8 . Aber er bemerkt ausdrücklich, daß es in allen Verfassungen diese drei Bestandteile gebe, und daß in ihrer verschiedenen Ausgestaltung der Unterschied der Verfassungen zu sehen sei. Zu einer solchen besonderen Ausgestaltung würde auch das Gewaltentrennungsprinzip zu rechnen sein. - Bei Aristoteles handelt es sich um die Feststellung der drei potentiellen Teile der höchsten Gewalt, um die logische Analyse ihrer Funktionen, und nicht um die praktische Frage der Trennung der Organe, die diese Funktionen ausführen; und außerdem fehlt ihm „die verbindende Grundlage des konstitutionellen Gesetzesbegriffs" 9. Wie weit die aristotelische Einteilung von dem entfernt ist, was die Gewaltentrennung im 17. und 18. Jahrhundert meint und die meisten Verfassungsentwürfe nach 1789 anstreben, ergibt sich schon daraus, daß Aristoteles der beratenden Körperschaft auch die Entscheidung über Krieg und Frieden, über Abschluß und Lösung von Bündnissen, über Todesstrafe, Verbannung und Vermögenseinziehung überläßt, alles Dinge, die z. B. Locke teilweise der föderativen und teilweise der richterlichen Gewalt zuweisen wollte. Von einer Notwendigkeit der Trennung der Funktionen zur Erhaltung der Freiheit und zur Ausschaltung von Willkür ist nicht 5
Vgl. Anm. 40 über die Leveller und Rumpf-Republikaner. Vgl. W. Hasbach, Gewaltentrennung, Gewaltenteilung und gemischte Staatsform. Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 13 (1916), S. 564 ff. 7 Vgl. die Ausführungen über die theoretische und terminologische Unsicherheit im Konstitutionalismus bei O. W. Kaegi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips. Zürich 1937, S. 11. 6
s Politela 14 p. 1297 b 37 ff. 9 Kaegi (Anm. 7), S. 15.
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die Rede. Montesquieu stützt sich hier auf englische Denker und Politiker. Seine Beziehungen zu Locke lassen sich an einem Text-Vergleich des Esprit des lois (XI, 6) mit dem Second Treatise on Civil Government ohne weiteres feststellen 10. Freilich handelt es sich auch bei der Lockeschen Dreiteilung in legislative, exekutive und föderative Gewalt mehr um eine theoretische Analyse als um die praktische Forderung nach Trennung der Funktionen und der sie ausübenden Organe 11, zumal sein Gedanke der Suprematie der Legislative nicht recht zur Idee der Trennung paralleler koordinierter Gewalten als notwendig zur Freiheit passen will 1 2 . Doch kommt der Grundgedanke der gewaltentrennenden Verfassungsorganisation, nämlich Schutz der individuellen Rechtssphäre durch institutionelle Einschränkung der obersten Gewalt zu gewährleisten, genügend zur Geltung; nur wird diese Lehre nicht zum Angelpunkt seiner Theorie wie bei Montesquieu. Locke ist nicht der alleinige und unmittelbare Inspirator Montesquieus gewesen, ebensowenig wie Jonathan Swift 13 , der mehr die antike Lehre vom status mixtus im Auge hat 14 . Nun bezieht sich aber Montesquieu ausdrücklich auf die englische Verfassung. In ihr, als dem Prototyp der germanischen Regierungsform, sieht er die Freiheit durch solche Institutionen wie die Gewaltentrennung seit alters gesichert. Diese Trennung ist ihm sogar das Hauptmerkmal einer freien Verfassung; ohne sie „tout serait perdu" 15 . - Wer veranlaßte ihn, so einseitig die englische Verfassung zu interpretieren? Wer forderte in England eine solche Trennung der Gewalten unter Berufung auf die ältesten Zustände? - Es war die Opposition gegen Walpole, deren Anschauung Montesquieu wiedergab, und der später - allerdings auch schon unter dem Einfluß Montesquieus - Blackstone, Burke und Horace Walpole sich anschlossen16. Als Lord Chesterfield im Jahre 1729 Montesquieu nach England brachte, näherte sich die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition dem Höhepunkt. Das wichtigste Oppositionsblatt, „The Craftsman", verstand es, die öffentliche Meinung gegen die „Korruption" des Walpole-Regimes zu erregen. Die 10 Vgl. J. Dedieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France. Paris 1909, S. 161-191. 11 Vgl. J. Locke, Second Treatise, § 2, 145-148, über Exekutive und Foederative: ,really distinct in themselves, yet they are hardly to be separated and placed at the same time in the hands of distinct persons". 12 Vgl. J.W. Gough, John Locke's Political Philosophy. Oxford (Clarendon Press), 1950, S. 98. 13
So bei H. Jansen, Montesquieus Theorie der Dreiteilung der Gewalten im Staate. Gotha 1878, S. 25. 14 Vgl. J. Swift, Discourse of the Contest and Dissensions between the Nobles and Commons in Athens and Rome, 1701; eher deutet darauf hin seine Schrift „The Sentiments of a Church of England Man" (Works, 1768.1. S. 295/6). 15
Esprit des lois, 11, 6. Blackstone, Comm. I. 51; I. 267; Burke, Causes of the Present Discontents (Works, Hrsg. Bohn, S. 350); H. Walpole, Memoirs of George III., III. S. 179; ders., Letters (Hrsg. Toynbee), XIV, S. 333. 16
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II. Zur Problematik und Geschichte des Parlamentarismus
gewandte Feder Bolingbrokes brachte in zahlreichen Artikeln die Argumente in die öffentliche Diskussion, mit denen man unter Berufung auf die altüberlieferten Gepflogenheiten und Freiheiten die Regierungspraxis angriff. In diesen Polemiken spielte das Prinzip der Gewaltentrennung als Mittel gegen die „Korruption" der Regierung, d. h. gegen die Praxis der Bestechung der Legislative durch die Exekutive, gerade zur Zeit des Aufenthaltes von Montesquieu in London eine zentrale Rolle 17 . Es ist einfach undenkbar, daß Montesquieu diese Kontroversen nicht gekannt hätte. In jeder Gesellschaft und in jedem Londoner Café-Haus wurden sie unter allgemeiner Anteilnahme durchdiskutiert. Schon seine „Pensées et Fragments inédits" 18 zeigen seine Vertrautheit mit diesen Auseinandersetzungen. Vor einigen Jahren vermittelte nun das einzige, bisher nicht erreichbare Manuskript, nämlich „Le Spicilège" 1718- 174919 neue Erkenntnisse, aus denen sich ergibt, daß Montesquieu während seines zweijährigen Aufenthaltes in England (23. 10. 1729 Frühsommer 1731) ein Leser des „Craftsman" gewesen ist. Hier fand Montesquieu die Lehre von der Gewaltentrennung als praktische Forderung zur Erhaltung der politischen Freiheit und zur Sicherung des alten Rechts vorgetragen. Hier wurde dieses Prinzip als Bestandteil der wahren alten englischen Verfassung hervorgehoben und ausdrücklich von der gemischten Regierungsform unterschieden20. Die Argumente der Opposition und besonders Bolingbrokes verhalfen Montesquieu zu seiner Anschauung von den englischen Verhältnissen. Sein berühmtes Kapitel XI, 6 im Esprit des lois ist bis zu einem gewissen Grade ein Resumé jener weitgesponnenen Kontroversen, die die Opposition um 1730 im Kampf gegen Walpole entzündete, und in denen wiederholt die Gewaltentrennung als Erbgut der Verfassung und alte Form der Rechtssicherung hingestellt wurde. Daher rührt die „aphoristische Eleganz" (Hasbach) seines England-Kapitels, mit der hier mannigfache Elemente aus englischer Geschichte, Verfassung und Theorie zusammengedrängt sind. Das ergibt sich ferner daraus, daß Montesquieu nicht eine Darstellung der politischstaatsrechtlichen Wirklichkeit des damaligen England geben wollte, sondern eine Untersuchung der politischen Freiheit „dans son rapport avec la constitution", eine Tatsache, auf die er im gleichen Kapitel hinweist 21 . Diese bisher umstrittenen Beziehungen sind jüngst durch Robert Shackleton hinreichend klargelegt worden 22. Es erhebt sich die Frage, woher die Opposition diese Idee bezogen hat. Sie konnte die Öffentlichkeit nur gewinnen, wenn sie sich auf eine anerkannte Tra17 Vgl. „The Craftsman" No. 206, 208, 219 (13. u. 27. 6.; 12. 9. 1730). is Bordeaux 1899-1901, II. S. 333. 19 Hrsg. André Masson, 1944. 20 Vgl. Bolingbroke, Works (Hrsg. Mallet) 1754, I. S. 341, II. S. 339/40 („The Craftsman", 12. 9. 1730, No. 219; im Neudruck No. 225), II. S. 169, 174 („The Craftsman" 7. 9. 1734. No. 427; Gentleman's Mag. IV. 1734. S. 473 ff.).
21 Nach O.W. Kaegi (Anm. 7), S. 65. 22 R. Shackleton, Montesquieu, Bolingbroke and the Separation of Powers, in: French Studies, Oxford (Basil Blackwell). 1949, III., S. 25-38.
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dition berief. In der Tat bezog sie sich auf beispielhafte Präzedenzien, auf die ältesten Zustände und die überkommenen Rechtsgepflogenheiten, d. h. auf die Tradition des Common Law; sie argumentierte aus der Uberzeugung vom Primat des Rechts über die Politik und kam von da aus zur Idee der Trennung der Gewalten. Die Tory-Opposition gegen das Walpolesche Whig-Regiment brachte jene alte Rechtsanschauung wieder ins Spiel, aus der heraus ein Jahrhundert früher die großen Juristen ihre Opposition gegen die Stuarts betrieben hatten. Es war jene Rechtsauffassung, die zur Zeit von Sir Mathew Haie und Sir John Eliot das politische Credo fast aller Juristen Englands gewesen war, und die sich im Namen der Superiorität des Common Law jedem Willkür-Regiment, sei es von König oder Parlament, entgegengestellt hatte 23 . Mit der Revolution von 1688 schien sich Richter Cokes Ideal des Supremats des Rechts über Verwaltung und Regierung verwirklicht zu haben. Dadurch konnte dieser Rechts-Traditionalismus die Rückzugsposition der mit 1688/89 erschütterten Tory-Partei werden. Ihre Argumente stützten sich seitdem mit Vorliebe auf konstitutionelle und rechtliche Präzedenzien und nicht mehr, wie zur Zeit der Restauration, auf den Supra-Naturalismus der „Divine Right"-Lehre. Hier konnten sich die Tories auf eine noch gültige Tradition berufen, die aus der Opposition heraus in die Politik gekommen war und aus bestimmten Rechtsvorstellungen in sie eingegriffen hatte. Der Kampf gegen den Stuart-Absolutismus wurde im Namen des althergebrachten Rechts, des Common Law, begonnen und war in der Tat auch ein Kampf des alten Landrechts gegen die Gerichtshöfe der königlichen Prärogative. Der Einfluß des Common Law auf die konstitutionelle Entwicklung war nie größer als im frühen 17. Jahrhundert 24; er setzte sich im 18. Jahrhundert in den Argumentationen der Opposition weiter fort. Was die Richter damals unter Supremat des Rechts verstanden, war immer nur der Supremat ihres Rechts, des Common Law 2 5 . Durch seine Koordinierung mit dem Naturrecht vermochte das Common Law seinen parochialen Charakter auszuweiten und sich gegen die geistigen Bewegungen der Zeit zu behaupten. Schon im 15. und 16. Jahrhundert hatte das Recht, verstärkt durch die Verbindung des „Law of Nature" der Kanonisten, mit seinem parallelen Grundbegriff „reason" eine objektive Gültigkeit erreicht, die es in die Lage versetzte, rivalisierend und beschränkend neben den König zu treten 26. Richard Hooker gab ihm erhöhte Dignität, indem er es in den universalen Zusammenhang seines Weltbildes hineinstellte27; 23
Vgl. Holdsworth (Anm. 2), 5.; C. H. Mcllwain, Constitutionalism in a changing World (Collected Papers). Cambridge (Mass.), 1939, S. 62/63, 78, 82; vgl. Commons Journal 1., 472; Bonham's Case (8 Coke's Reports 107, 118 [1610]); und auch Case of Prohibitions, Case of Proclamations (12 Coke's Reports 64 [1607]; 74 [1610]). 24 Holdsworth (Anm. 2), 6, S. 88. 25
Holdsworth , Some Lessons from Our Legal History. New York (Mac Millian) 1928, S. 70, 62. 26 Sir Frederick Pollock, Essays in the Law. London 1922, S. 40-58; Sir John Fortescue, De Natura Legis Naturae 1461 -1463 (Hrsg. Lord Egmont), 1869. 27 Hooker, Ecclesiastical Polity 1. 16, 7.
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und schließlich begünstigte die Bekanntschaft der Juristen mit den Ideen Bodins die enge Verbindung von Common Law, Naturrecht und Politik 28 . - Dadurch war das Common Law im 13. Jahrhundert mehr als der Erbe einer lokalen Tradition oder eine Sammlung von Präzedenzien. Es war eine geistige Macht und wurde der Faktor der Kontinuität und die wirksamste Schranke gegen den Absolutismus29. Es galt als Äußerung der allgemeinen Weltordnung und Ausdruck kollektiver Weisheit; es erzeugte die Vorstellung von der Gleichartigkeit und Einheitlichkeit eines prae-existenten Rechts, eines autonomen Raumes, unabhängig von der Regierungsgewalt. Ihm gegenüber hatten König und Parlament offenbar nur deklaratorische Befugnisse 30. Für Coke war dieses Recht infolgedessen der eigentliche Souverän. Die Richter als Verwalter des Common Law durften somit die höchste Autorität im Staate beanspruchen. Der politische Freiheitsgedanke wurde mit dem Rechtsgedanken, Liberias und Law, in eins gesetzt, und die ganze Verfassung als angewandtes Recht und ihr Grundprinzip als „the Rule of Supremacy of Law" (Dicey) betrachtet. Die politischen Ideen der Zeit standen unter dem Eindruck dieses Anspruchs. Der Rechtsgedanke war in ihnen bestimmend. Dementsprechend dachten beispielsweise die Theoretiker der Volkssouveränität im England des 17. Jahrhunderts weniger an eine technische Souveränität des Volkes im Parlament als an eine Sicherung der Rechte des Volkes gemäß den „Customs" des Common Law 3 1 . Dieser Sicherung sollte die Unterordnung der Politik unter ein Rechtsverfahren dienen. Die fehlende Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, zwischen einem Gesetz, das die Verfassung berührt, und gewöhnlichen privaten Rechtsfällen, begünstigte die Auffassung, daß auch die Politik sich gestalten müsse „by due process of law" und die im englischen Recht geübten Verfahren mit ihrer Trennung der Funktionen sich infolgedessen auch im staatlichen Leben zeigen müßten. Von diesem Gedankenkreis her ist das Gewaltentrennungsprinzip in die politische Theorie und schließlich in das „Constitutional Law" gelangt, in welchem es zu einem anerkannten Grundsatz wurde 32 . Die großen Juristen und die frühen Verteidiger der parlamentarischen Rechte im 17. Jahrhundert verstanden noch nicht, ihren oppositionellen Anspruch auf die Vorherrschaft des alten Rechts 28 Holdsworth (Anm. 2), 5, S. 500-513; Mcllwain (Anm. 23), S. 77/8, 83. 29 Mcllwain, The English Common Law, Barrier against Absolutism. American Historical Review, New York 1944, S. 23-31. 30 Vgl. R. O' Sullivan, Natural Law and Common Law. London (Grotius Society) 1946, S. 130: „in fact the principle of an overriding law of nature was for many centuries accepted and followed by Parliament. Until the 17 th century, one may say that the principle was a commonplace of jurisprudence and familiar to the political and public mind of England"; vgl. auch Chief Justice Holt 1697: „The Common Law is the overruling jurisdiction of the realm" (zit. nach Holdsworth [Anm. 25], S. 70).
31 J. N. Figgis, The Divine Right of Kings. Cambridge 1914, S. 228-236. Nachweis bei Francis D. Wormuth, The Origins of Modern Constitutionalism. New York 1949, S. 60 ff. 32
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den Bedürfnissen des neuzeitlichen Staatswesens anzupassen und ihn mit der Würde einer angemessenen allgemeinen politischen Theorie zu verbinden, die dem neu gewonnenen Verhältnis des Jahrhunderts zur Wirklichkeit und dem Wandel der Interessen gerecht wurde. Dazu bedurfte es einer Verbindung mit der geistigen Bewegung der Zeit, etwa dem Bestreben der neuen Naturwissenschaft nach rational-mechanisch faßbarer Lebensbewältigung, oder den Naturrechtslehren, die am meisten zur Heranbildung einer profanen Gesellschafts- und Staatslehre beitrugen. - Dazu kam es seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, als die revolutionäre Erschütterung aller Lebensverhältnisse das Bedürfnis nach einer Orientierung über die allgemeinen Grundlagen des gesellschaftlich-staatlichen Daseins weckte. Bei den Commonwealththeoretikern wurde die Lehre von der Gewaltentrennung zum nie fehlenden Bestandteil ihrer politischen Theorien. Die „procedures" des Common Law, die die Richter allein im Auge hatten, wurden hier mit dem allgemein naturrechtlichen Grundsatz verbunden, daß niemand Richter in eigener Sache sein dürfe. Theoretiker und Nicht-Juristen wie Milton und Locke stellten diesen Satz an die Spitze ihrer Überlegungen. Er diente zugleich als Ansatzpunkt für die technisch-institutionellen Sicherungen zur Ordnung des Gemeinwesens, die von Harrington ausgehend bis Blackstone die staatstheoretischen Überlegungen mitbestimmten. Aus verschieden gerichteten Überlegungen kamen also die Antriebe, die zur klassischen Lehre von der Gewaltentrennung im 18. Jahrhundert beisteuerten. Das Common Law ist dabei der älteste und wichtigste Faktor. Das englische Parlament hatte sich von einer ursprünglich richterlichen zu einer gesetzgebenden Körperschaft entwickelt 33 . Aus mittelalterlicher Tradition wurden „the High Court of Parliament" und „the Parliamentary Procedures" vom Rechtsgedanken beherrscht. Im Mittelalter unterschied man bei den richterlichen Aktionen den ursprünglichen Kanzleibefehl, mit dem jede Aktion begann, den richterlichen Befehl vor und nach dem Urteil (writ) und den Vollstreckungsbefehl 34. Entsprechend sprach dann bereits der „Modus Tenendi Parliamentum" (ca. 130035) von der „original, judicial and executive" bestimmten Seite der Gesetzgebung gegen verbesserungsbedürftige Gesetze. Dieser Modus wurde im 17. Jahrhundert, als die Juristen jene Beziehung zum Recht wieder aufdeckten und erweiterten, eifrig studiert und aus dem Interesse an den „Parliamentary Procedures" zu neuem Leben erweckt. Daraus folgerte Henry Parker 1642: „Without some magistracy to provide new Orders, and to judge of old, and to execute according to justice, no society could, be upheld" 36 . 33 Mcllwain, The High Court of Parliament. New Haven (Conn.) 1910. 34 Wormuth (Anm. 32), S. 60, dem die weiteren Ausführungen teilweise folgen. 35 Hrsg. T.H. Hardy, London 1846. Nach Hardy geschrieben zwischen 1294 und 1327; Stubbs, Selected Charters, Oxford 1895, S. 502-513. 36 Henry Parker, Observations upon Some of His Majesty's late Answers and Expresses, 1642 (William Haller, Tracts on Liberty in the Puritan Revolution 1638-1647. New York 1938 3, 13).
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Zwei Generationen vor ihm hatte bereits George Buchanan in seiner Schrift „De Jure Regni apud Scotos" 1580 eine Trennung der drei Gewalten gefordert, die bereits auf einer neuzeitlichen Funktionenteilung beruhte. Er verfocht als erster die Selbständigkeit der richterlichen Gewalt und sah im König nur den executor legum. Er antizipierte - offenbar unter dem Eindruck der Rechtsverhältnisse in Schottland und England, aber im naturrechtlichen Gewand und in Verbindung mit monarchomachischen Verfassungspostulaten - die Gedankengänge des Konstitutionalismus, soweit sie auf die dreiteilige Gewaltentrennung hinführten 37. Die Verbindung der geforderten konstitutionellen Dreiteilung mit allgemeinen Naturrechtsprinzipien und dem geläufigen Rechtsverfahren ist eindeutig zu ersehen in John Sadlers „Rights of the Kingdom" 1649 (ed. 1682). Sadler setzt die Dreiteilung im politischen Gemeinwesen gleichzeitig in Beziehung zur göttlichen Trinität und zum Rechts verfahren im Common Law: „Our three estates may be branched as our writs, into original, judicial, and executive; as shadows of the Being, Wisdome, and Activity Divine ... I cannot deny original power to the Commons, judicial to the Lords, executive to the King". Neben der Beziehung zum Common Law und zur göttlichen Trinität hält Sadler auch aus den Grundsätzen des Naturrechts die Trennung der Funktionen für geboten: „the legislative, judicial and executive power, should be in distinct subjects by the law of nature. For if law-makers be judges of those that break their laws, they seem to judge in their own cause: which our law, and nature itself so much avoideth and abhorreth. So it seemeth also to forbid both the law-maker and the judge to execute: and by express act of Parliament, it is provided, that sheriffs be not justices, where they be sheriffs. But if execution be always consonant to judgement, and this to law; there is still most sweet harmony, and as I may say, a sacred unity in trinity represented". Hier ist das Grundprinzip in prägnanter Klarheit erkennbar und aus Common Law, Naturrecht, Constitutional Law und auch Theologie begründet. Der Satz, daß niemand in eigener Sache richten soll, dient nicht nur zur Begründung der Unabhängigkeit des Richterstandes, sondern ist als Grundlage der gesamten dreiteiligen institutionellen Aufgliederung erkennbar. Der status mixtus entscheidet auch hier über die Subjekte der verschiedenen Gewalten, aber die von Rechtsprinzipien abgeleitete Trennung der Befugnisse garantiert erst, daß niemand Richter in eigener Sache ist und damit das überpersönliche und prä-existente Recht sich auch auf der Ebene der Politik verwirklichen kann. Die Gewaltenklassifikation spielte besonders während und nach den Bürgerkriegen eine auffällige Rolle. Unter den konstitutionellen Problemen der Zeit taucht sie immer wieder als das Schutzmittel gegen jegliches Willkür-Regiment auf 38 , am eindringlichsten im Kampf gegen den Gewaltenmonismus des „Langen Parlaments", das im „Second Agreement of the People" (15. 1. 1649) die plenitudo 37 Vgl. W. Kaegi (Anm. 7), S. 40; O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 2. Aufl., Breslau 1902, S. 157. 3 8 Holdsworth (Anm. 2), S. 157.
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potestatis für sich in Anspruch nahm. Vor allem traten die Leveller für eine Trennung von Legislative und Exekutive ein, während die richterliche Gewalt bei ihnen meist synonym für exekutive Gewalt gesetzt wurde. Das war das eigentliche Leveller-Anliegen, um eine Verwaltung nach dem Gesetz, d. h. entsprechend den allgemeinen, vorher festgelegten Grundsätzen, zu sichern, die sich auf die Gemeinschaft als Ganzes bezogen. Isaac Pennington trat ausdrücklich für eine reale, d. h. subjektive und objektive Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive ein, bei der also getrennte Gewaltenträger getrennte Funktionen ausübten39. Es ist für den vorliegenden Gedankengang bedeutsam, daß die Leveller und Rumpf-Republikaner nie von einer Balance der Stände im Sinne einer gemischten Regierung sprachen, sondern nur von der Trennung der Funktionen, weil sie ausschließlich vom Recht, und weniger von einer allgemeinen politischen Theorie aus argumentierten 40 . Das ist ein entscheidendes Argument für die Herleitung des Prinzips aus den englischen Verhältnissen, und nicht aus dem Status mixtus der Antike. Damit verschwisterte sich freilich bei den Levellern noch die protestantische FreiheitsIdee, die sie nur durch „Righteousness" beschränkt sehen wollten. „Common Right and Freedom" war ihre Parole 41. Bei ihnen erscheint die Gewaltentrennung als Ergebnis der Auffassung des Rechts als eines allgemein für alle geltenden Maßstabs, als „one rule for rich and poor", wie es bei Locke dann hieß 42 . Das lehrreichste Beispiel für die Auffassung der Leveller bietet Lilburne. Er vertritt die Idee eines souveränen Rechts, und zwar des alten Volksrecht, gegen das normannische Juristen-Recht, unter Berufung auf das „common birthright of Englishmen" 43 . Er spricht dem Parlament die Befugnis zur Rechtsprechung („law-executing power") ab; es habe nur „law-making power" 44 . Ähnlich hatte schon John Seiden formuliert 45 . Lilburne beruft sich ferner auf den Grundsatz, daß niemand Richter in eigener Sache sein dürfe. Das Parlament habe nur das Recht, Gesetze zu geben, nicht aber, sie im einzelnen anzuwenden. Es würde dann über dem Gesetz stehen; denn „can it be imagined they will ever condemn themselves, or punish themselves?" - In seinem Prozeß vor dem Parlament lehnt Lilburne mit diesem Argument die Kompetenz des Hauses ab: „if not being in the power of the whole 39 Isaac Pennington, A Word of the Commonweal. 1650. 40 Vgl. William Haller und G. Davis, The Leveller-Tracts 1647 -1653. London 1944; William Haller, Tracts on Liberty in the Puritan Revolution 1638-1647. New York 1938. 41 John Warre (oder Ware), The Privileges of the People, or, Principles of Common Right and Freedom. Briefly laid open and asserted in Two Chapters. London 1649; M. Needham, A Discourse of the Excellency of a Free State, above a kingly Government, appended in the Case of the Commonwealth of England. London 1650. 42 J. Locke, Second Treatise, § 142, § 137; vgl. auch „a rule" „permanent, uniform, and universal", nicht willkürlich erfunden, sondern gewachsen, bei Blackstone, Comm. 1. 44. 43 Lilburne, „Regall Tyrannie discovered". 1646/47. 44 Lilburne, „The Picture of the Council of State". 1649. 45 Table Talk, London 1890, S. 122: „The Parliament of England has no arbitrary Power in point of Judicature, but in point of making Law only".
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Parliament to execute the law, they can give no power to their members to meddle with me in the case before you; for an ordinary court of justice (the proper administrator of law) is the only and Sole judge in this particular; and not you gentlemen, no, nor your whole House itself 4 . - Für ihn sind die Geschworenen (Jury) die eigentliche Autorität in allen Sonderfällen, eine Autorität, die auch die Glieder der Legislative mitumgreift 46 . Für ihn lag infolgedessen die konstitutionelle Interpretation beim Volk wie für Milton und später auch Bolingbroke 47. Das ließ sich mit der als politischer Theorie freilich noch völlig fragmentarischen Auffassung der Richter Coke und Eliot ohne Schwierigkeit vereinbaren 48. Auch sie verteidigten die Trennung von Krone und Parlament und sahen die Courts of Common Law als Schiedsrichter über beiden an 49 . Die Trennung von Exekutive und Legislative gegen den Anspruch des Parlaments fand sich bei James Harrington 50, der freilich in seiner „Oceana" hauptsächlich an eine Aufteilung der Legislative unter zwei unselbständige Faktoren denkt; ferner als Grundforderung bei dem Lehrmeister des Whiggismus, John Milton 5 1 . Sie erschien im „Instrument of Government" 1653 und in „The Humble Petition and Advice", sowie in zahlreichen Pamphleten und Theorien der CommonwealthZeit 52 . Auch Oliver Cromwell hielt die Aneignung der ausübenden Gewalt durch die gesetzgebende für unheilvoll, da sie in privaten Fällen zu Willkür-Entscheidungen führe 53 . Schließlich unterschied George Lawson legislative, exekutive und richterliche Gewalt in weiterem Sinne als sonst üblich, so daß sich hier jene Ausdeutung des Prinzips ins Allgemeine wieder bemerkbar macht, die für seine Einordnung in den Zusammenhang einer politischen Theorie notwendig war 54 Außerdem wurde in einer Erklärung des Parlaments in Westminster statuarisch festgelegt: „all proceedings touching the lives, liberties and estates of all the free people of this commonwealth, shall be according to the laws of the land, and that Parliament will not meddle with ordinary administration, or the executive part 46 Vgl. Theodore G. Pease, The Leveller Movement, Washington 1916. S. 110, 340ff. 47 Milton, Works, Bd. 1, S. 307 ff.; Bolingbroke (Anm. 20), 1., S. 306 („Remarks", Letter 3): „This judge is the Public". 48 Vgl. Holdsworth (Anm. 25), 7., S. 106. 49 7. Deane Jones, The English Revolution 1603-1714. London 1931. S. 58. 50 Harrington, The Oceana and other Works (Hrsg. Toland), London 1737, S. 543: „Parliament, the supreme Legislative Power ... only for the exercise of all those Acts of Authority that are proper and peculiar to the legislative Power, and to provide for a Magistracy, to whom should appertain the whole Executive Power of the Laws: and no case either Civil or Criminal to be judged in Parliament". 51
Milton, Eikonoklastes (Works, Bd 2, S. 465): „In all wise nations the legislative power, and the judicial execution of that power, have been most commonly distinct, and in several hands". 52 Vgl. Wormuth (Anm. 32), S. 69-72. 53 Carlyle, Cromwell. London 1904, 3., S. 93-95. 54 George Lawson, Politica Sacra et Civilis. 1660, S. 41; vgl. auch „Examination of the Political Part of Mr. Hobbes' Leviathan". 1657. S. 8.
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of law: it being the principal care of this ... to provide for the freedom of the people against the arbitrariness in government" 55. Das bedeutet eine Einschränkung der parlamentarischen Souveränität, mit der auch der konservative Roger L'Estrange übereinstimmte: Das House of Commons habe keine Gerichtsgewalt, und die Legislative sei von der ministeriellen Autorität zu trennen. Ja diese „distinction", meint er, sei „the most vital part of freedom" und weit wichtiger für die einfachen Untertanen als eine „Rotation" der Amter (wie sie Harrington vorgeschlagen hatte); ihre Vermischung („confusion") dagegen sei die Vollendung der Knechtschaft 56. Hier wurde also aus verschiedenen Lagern die legale Omnipotenz des Parlaments bestritten, so wie mit gleichlautenden Argumenten im 18. Jahrhundert die Opposition gegen die sich anbahnende Entwicklung kämpfte. Auch sie bezog sich wie Lilburne und das Gros der CommonwealthTheoretiker auf die sächsischen Freiheiten, die sich nach ihrer Meinung im Common Law in die Gegenwart hinein gerettet hatten. Die Berufung auf sie war im allgemeinen nichts anderes als die Berufung auf das Common Law. Diese Stimmen waren so zahlreich, daß sie das „climate of opinion" mitbestimmten und viele sich diesen Gedankengängen anschlossen, ohne einen bestimmten Theoretiker im Auge zu haben. Doch hat Bolingbroke, das Haupt der Opposition gegen Walpole, gelegentlich ausdrücklich an den ein oder anderen Theoretiker sich angeschlossen, so etwa an Nathanael Bacon, dessen „Discourse" die „Uniformity" der englischen Verfassungsform seit alters her verteidigte 57. Auch Bolingbroke hielt, wie er, die Wurzel der altsächsischen Verfassung für unangetastet58; daher stamme auch die Trennung von „the making" und „the executing" der Gesetze59. - Die Gewaltentrennung wurde offensichtlich als maßgebendes Prinzip der inneren Politik von denen anerkannt, die im althergebrachten Recht Schranke und Richtschnur der Politik erblickten, die Law nach Custom interpretierten und als überpersönlichen und gewachsenen Regelzusammenhang auffaßten. Das ließ sich nicht mit der modernen Idee der Souveränität vereinbaren, die eine Definition des Law vom Ursprung her als Willensakt eines Souveräns implizierte, befruchtete jedoch die Idee des begrenzten Staates, der Grundrechte und der geschriebenen Verfassung. Das Naturrecht wirkte über das Common Law auf die konstitutionelle Theorie in England. Aber es enthielt auch selbständige Antriebe zu einer Trennung der 55
„A Declaration of the Parliament Assembled at Westminster 23. 1. 1659/60". L'Estrange, A Plea for a Limited Monarchy. London 1660. 57 Nathanael Bacon, An Historical Discourse of the Uniformity of the Government of England. London 1647. 58 Bolingbroke (Anm. 20), 2., S. 208, 210, 211. 59 Ebd. S. 208: „The freedom of the people was erected on two columns ... They were two parties to the making and to the executing all the general laws of the kingdoms. They shared the legislative power; were joined to the Lords in the administration of justice; and no magistrate or officer, could exercise jurisdiction ... without their consent and election". 56
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staatlichen Hoheitsbefugnisse. Hier war der Grundsatz, daß niemand Richter in eigener Sache sein soll, ein bevorzugter Ausgangspunkt für Gesellschafts- und Staatslehre, besonders bei denjenigen, die eine mechanisch-institutionelle Konstruktion der Staatsform im Sinne hatten. Von diesem Grundsatz her wurden ja auch die Verfahren des Common Law interpretiert und ins Allgemeingültige erhöht. Die Allgemeinheit der naturrechtlichen Grundsätze war für die Ausbildung einer konstitutionellen Theorie zudem geeigneter als das konkrete Common Law. Hier war ferner ein Gesetzesbegriff wirksam, der dem Weltbild der modernen Naturwissenschaft, der neuen philosophischen und naturwissenschaftlichen Methode und auch dem Charakter der stoisch-puritanischen Ethik nahe war. Hier stand das Gesetz als allgemein und vorwärts geltend im Gegensatz zum Gesetz als Ausdruck souveräner Entscheidung. Die Einschränkung der Souveränität durch die Vorherrschaft des Gesetzes war damit in ähnlicher Form geboten wie in der Konstruktion eines autonomen Rechtsraumes bei den Verteidigern des Common Law. Die Herrschaft des Gesetzes als abstrakter Norm, als aliquid rationis, ließ sich als Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaft, des Allgemeinen über das Besondere, ausdeuten und damit vom Standpunkt einer rationalistischen Ethik rechtfertigen. Das kam den sittlichen Ideen der stoisch-puritanischen Ethiker entgegen, die, wie etwa John Milton, vorwiegend im Schematismus von Vernunft und Leidenschaft dachten. Auf diesen Gegensatz bezog sich James Harrington in seiner Staatskonstruktion. Er zielte auf eine innenpolitische Mechanik, bei welcher der jeweils uninteressierte Teil die Entscheidung in der Hand haben sollte. Denn „sobald ein Mensch urteilen oder entscheiden soll in eigener Sache, entscheidet er nach eigenem Interesse" 60, d. h. nach seiner Leidenschaft. - Nur der unparteiische Richter, der uninteressierte Beurteiler, vermag sich für die Vorherrschaft des Allgemeinen über das Besondere, des Gesamtwohls über das Privatinteresse und des Rechts über die Willkür zu entscheiden. Wo die institutionelle Anordnung der Kompetenzen ihm jeweils die Entscheidung überläßt, kommt es zur Herrschaft der Gesetze, zum „Empire of Laws" gegenüber einem „Empire of Men", zum „Government de jure" gegenüber einem „Government de facto", zur Herrschaft der Vernunft 61. Eine solche technische Anordnung ist das Hauptziel von Harringtons ausgetüftelter Staats- und Gesetzgebungs-Maschinerie. Dazu fordert er eine Mehrheit von Instanzen. Das punctum saliens ist für ihn - „according to Nature and according to Art" - „the Delineation of distinct Orders of Members" 62 , wobei diejenigen, welche die Macht haben, uninteressiert an ihr sind, und diejenigen, die das Interesse haben, ohne Macht sind 63 . Harrington begründet die Trennung der Befugnisse am Beispiel eines privaten Rechtsgeschäfts, bei dem durch das Verfahren die gerechte Aufteilung eines 60 Harrington (Anm. 50), S. 509. 61 Ebd. S. 45/6; S. 240. 62 Ebd. S. 50. 63 Ebd. S. 431.
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umstrittenen Wertobjekts garantiert ist: Zwei Mädchen wollen sich einen Kuchen teilen; dasjenige Mädchen, welches teilt, darf nicht wählen; und welches wählt, darf nicht teilen. Durch diese Begrenzung der Befugnisse wird eine gerechte Verteilung automatisch gesichert. - Harrington vermeidet hier die naheliegende Beziehung auf die entsprechende Bibelstelle, nämlich Genesis 13,1-12, wo bei der Auseinandersetzung Abrahams mit Lot der Altere das Land teilt und der Jüngere wählt, weil er hier den Staat aus der Natur der Sache, „out of Nature" 64 , deduzieren will. An diesem Beispiel entwickelt Harrington die Notwendigkeit einer entsprechenden Aufteilung der staatlichen Kompetenzen. „Wisdom" (das Teilen des Kuchens) und „Interest" (das Wählen des Teils) werden getrennt. Ein Senat weiser Männer debattiert und macht Vorschläge; das Volk oder eine Repräsentanten Versammlung entscheidet darüber, ohne eigene Diskussion und Initiative. Durch diese Balance von Macht und Autorität, von „Interest" und „Wisdom", will Harrington die souveräne Gewalt automatisch auf das allgemeine Beste hinlenken. Er gelangt hier jedoch nicht zu einer strengen Gewaltentrennung, weil nur eine Grundfunktion, nämlich die Legislative, von zwei unselbständigen Faktoren vollzogen wird. - Freilich entscheidet er sich an anderer Stelle in Bezug auf England für eine Trennung von Exekutive und Legislative als „Fundamental Order in the Constitution of this Commonwealth" 65 . - Aus ganz anderen geistigen Voraussetzungen, aus einer rationalistisch-atomistischen Denkweise und einem Interesse für institutionelle Mechanik, kam Harrington zu Forderungen, die der technisch-formalen Seite der geübten Rechtsverfahren immerhin verwandt waren. Seine Verfassungsapparatur diente hauptsächlich der mechanischen Produktion eines jeweils indifferenten Faktors als unparteiischer Entscheidungsinstanz. Die Forderung nach einem unparteiischen Richter konnte man auch aus dem Satz herauslesen, dem anderen nur das zu tun, was wir selbst wünschen, daß er uns tut. Dieser Satz hatte eine biblische Grundlage 66 und war für alle jene maßgebend, die in der Offenbarung das Naturrecht grundgelegt oder formuliert fanden - wie etwa die strengere Richtung der Puritaner. - Danach war der Mensch an sich zum Richtertum befähigt, aber in allen Dingen, die ihn selbst angingen, nur, wenn er aus sittlicher Anstrengung das Allgemeine im Auge behielt. Im Rahmen einer Gemeinschaft und in der Welt des öffentlichen Lebens vermochte sich diese biblische Forderung an den Einzelnen offenbar erst zu verwirklichen, wenn Selbstsucht und persönliches Interesse durch eine unparteiische Instanz ausgeschaltet waren, die für die Sicherung eines Verhaltens nach dieser Regel als allgemeinster Regel des Rechts sorgte. Die Frage nach dem unparteiischen Richter war damit zugleich die Frage nach der rechten, von der Offenbarung und aus der Natur der Sache gebotenen öffentlichen Ordnung, in der sich Juristen, bibelfeste Puritaner, Naturrechtler 64
Ebd. S. 49; vgl. auch S. 522 über die religiöse Irrelevanz des Staates. 65 Ebd. S. 541, 543. 66 Tob. 4, 15; Math. 7, 12; Luc. 6, 31; Levit. 19, 18. Ferner Rom. 2,1; 2, 14-16; Gal. 5, 14- 15 u. a.
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und Moralisten einig waren. Von Buchanan, der die Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt zuerst im Rahmen einer politischen Theorie verfocht, über Algernoon Sidney bis zur statuarischen Festlegung der Unabhängigkeit der Richter im Act of Settlement 170167 galt dieser Grundsatz eines unabhängigen Richtertums als oberster Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens und damit als erste Voraussetzung für eine rechte politische Ordnung. Mit ihm bestritt schon Jakob I. im Anschluß an Adam Blackwoods Apologia pro Re gibus (1581) die Vertragstheorien, bei denen kein Richter über den Vertragspartnern vorgesehen sei und ein unabhängiges Gericht fehle, das entscheide, wann der Vertrag zwischen König und Volk gebrochen sei. In einer geordneten Gemeinschaft dürfe kein unmittelbar Beteiligter das Recht in die eigene Hand nehmen68. - Dieser oberste Grundsatz schien nur gewährleistet bei einer Gesellschaft, die eine solche unabhängige Autorität errichtet hatte. So sah es auch in seiner Weise John Milton. Jeder hatte nach ihm ursprünglich selbst das Recht zur Verteidigung und Selbsterhaltung. Aber „damit nicht jeder sein eigener parteiischer Richter war", habe man Leute erhoben zur Ausübung jener Gerechtigkeit, die sonst jeder durch Natur und Vertrag für sich selbst ausgeübt hätte. Eine herausgehobene Instanz übt Autorität und Rechtsprechung aus, weil der Unabhängige und Unbeteiligte allein das richtige Urteil fällen kann 69 . Jene Ordnung im Gesetz, dem anderen zu tun, was wir selbst wünschen, daß er uns tut, ist eine jener Regeln, die nach Locke für alle Gutwilligen einsehbar sind, die in Naturordnung und Offenbarung gleichzeitig ihr Fundament haben und im Common Law befolgt werden. - Aber im Naturzustand, so sieht es Locke, wo jeder sein eigener Richter und Polizist ist, hindern persönliches Interesse und Ignoranz daran, diese allgemeinen Regeln auf die besonderen Fälle anzuwenden. Das Fehlen eines gemeinsamen und indifferenten Richters mit eigener Autorität und das Fehlen der Macht zur Exekutive des Urteils sind für Locke Kennzeichen des Naturstandes. Der politische Zustand ist erreicht, wo eine unabhängige und unparteiische Autorität über den Streitpunkten besteht und menschliche Leidenschaft und Sonderwünsche sich nicht auf die Rechtsfindung auswirken können70. Aus der 67 Die Richter übten ihr Amt nun nicht mehr durante bene placito regis, sondern quamdiu se bene gesserint aus. 68 „Trew Law of Free Monarchies", 1603, in: Works (Hrsg. C.A. Mcllwain), Cambridge (Mass.) 1918, S. 68. 69 Milton, „The Tenure of Kings and Magistrates". Prose Works (Hrsg. Bohn), 2. 9 - 1 0 : „This authority and Power of self-defence and preservation being originally and naturally in every one of them, and unitedly in them all; for ease, for Order, and lest each man should be his own partial judge, they communicated and derived either to one, whom for the eminence of his wisdom and integrity they chose above the rest, or to more than one whom they thought of equal deserving;.. not to be their lords and masters ... but to be their deputies and commissioners to execute, by virtue of their intrusted power, that justice, which else every man by the bond of nature and of covenant must have executed for himself, and for one other. And to him, that shall consider well, why among free persons one man by civil right should bear authority and jurisdiction over another, no other end or reason can be imaginable".
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gleichen Erwägung hält er es für eine große Versuchung, wenn dieselben Personen, welche die Macht zur Gesetzgebung haben, sie auch durchführen 71. Der oberste Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens schien also bereits eine Trennung der Befugnisse zu verlangen. Dieser Grundsatz gewann in England eine einzigartige Bedeutung, insofern er sich zu einer Zentralidee des englischen Denkens, vor allem in der empirischen englischen Moralphilosophie, entwickelte. Er fand sich bei Hutcheson, Ferguson, Wollaston, Smith und allen, bei denen Sympathie und Selbstliebe die psychologischen Grundformen des moralischen Urteils waren. Er tauchte hier in der Idee des unbeteiligten Zuschauers auf. Darin fand man den empirischen Ausgangspunkt, der in seiner Weise die Bedingung der Voraussetzungslosigkeit einer empirischen wissenschaftlichen Ethik erfüllte und der kritischen Aussonderung der sittlichen Ursachverhalte dienen sollte. Für David Hume war das Merkmal des sittlichen Handelns das Gefühl der Billigung, das es in der Seele des unparteiischen Zuschauers auslöst. Auch bei Adam Smith war das Urteil des unbeteiligten Zuschauers, das auf unwillkürlichen Sympathien beruht, maßgebend. Selbst John Stewart Mill verlangte in seiner utilitarischen Moral - um zwischen den Forderungen der eigenen Glückseligkeit und der der anderen zu unterscheiden - , daß der Einzelne hier ebenso gänzlich unparteiisch verfahre wie ein unbeteiligter und wohlwollender Zuschauer 72. - Auf der Suche nach einem unwillkürlichen Maßstab unseres Handelns wurde die Idee eines unbeteiligten, mit uns empfindenden Zuschauers das Mittel zur Begründung einer allgemeingültigen empirischen Moral. Dieser unbeteiligte Zuschauer, der das allgemeine Rechts- und Gemeinbewußtsein und den in öffentlicher Meinung und öffentlichen Institutionen befestigten Niederschlag der einzelnen sittlichen Urteile verkörperte, entsprach der Idee des unparteiischen Richters, der für das England des 17. Jahrhunderts immer der Common Law-Richter war 73 . - Die bedeutsame und bei der Interpretation der englischen Moralisten meist zu wenig beachtete Rolle, die das Prinzip des unbeteiligten Zuschauers und Richters in der englischen Sozial- und Geistesgeschichte spielt, verrät, wie jener oberste Rechtsgrundsatz den Engländern selbstverständlich geworden war. Die Bedeutung des Schiedsrichters beim Sport und die Idee des fair play, über das die unbeteiligten Zuschauer wachen, ist im gleichen Zusammenhang zu sehen. In diesem Sinne ließ sich auch die Gewaltentrennung ausdeuten, insofern derjenige der drei Gewaltenträger, der jeweils privat uninteressiert war, sich zum Richter und Kontrolleur über den anderen Gewaltenträger autorisierte. Entschei70 Sir Frederick Pollock, Essays in the Law. London 1922, S. 89, 94; ders., History of the Science of Politics. London 1930, S. 71. 71 J. Locke, Second Treatise, § 144. 72 Vgl. E. Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Tübingen 1925, S. 425,426; J. M. Guyau, Die englische Ethik der Gegenwart. Leipzig 1914, S. 112. 73 Holdsworth (Anm. 25), S. 62, 70.
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dend war „the free, unbiassed, uninfluenced, and independent exercise" der Rechte, Gewalten und Privilegien jedes Gewaltenträgers, der die Verfahren („proceedings") der anderen nicht dem „private influence", sondern der „public control" unterwirft 74 . Die Kontrolle der Politik mit Hilfe einer so funktionierenden Gewaltentrennung war damit freilich nur formal gesichert, wie man ja überhaupt dabei die Rechts verfahren und -formen, das Prozeßverfahren mit unabhängiger richterlicher Instanz, also offenbar mehr die Methode der Rechtsverwirklichung als die Substanz des ursprünglich gegebenen Rechts im Auge behalten hatte. Die Gewaltentrennung verlor die konkrete Einbettung in die englischen Verhältnisse und wurde zu einem allgemeinen konstitutionellen Prinzip formalisiert. Dazu verhalfen vor allem Naturrecht und politische Mechanik. Es galt, den Primat des Rechts ohne eigentliche Zwangsgewalt aus rechtstechnischen Mitteln herbeizuführen und auch in der Politik zu einer institutionellen Sicherung gegen Ubergriffe zu gelangen. Der Grundsatz des unparteiischen Richtertums umschrieb gewissermaßen die allgemeinste formale Voraussetzung, um Recht überhaupt zu verwirklichen. Ihm entsprach in der Theorie des konstitutionellen Staates bis zu einem gewissen Grade das Prinzip der Gewaltentrennung. Gewiß sind die zuletzt aufgewiesenen Beziehungen allgemeiner Natur und nicht so überzeugend oder im einzelnen nachweisbar wie das Verhältnis des Common Law zur Gewaltentrennung. Aber hier werden doch mannigfaltige Antriebe sichtbar, die dem Prinzip seine zentrale Bedeutung in der konstitutionellen Theorie verschafft haben. Dazu kam freilich noch im 18. Jahrhundert der konkrete Anlaß, daß die Opposition im Kampf um ihre Legalisierung sich genötigt sah, mit dem alten Gedanken der Souveränität des Rechts sich gegen die drohende Souveränität der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit zu behaupten. Aber sie griff dabei auf einen unbestrittenen Ideengehalt zurück, der in Common Law und Naturrecht lebendig war. Die Entstehung des Gewaltentrennungsprinzips ist ohne diesen historischen Anknüpfungspunkt kaum denkbar. Es ergibt sich mit genügender Klarheit, daß die klassische Lehre von der Gewaltentrennung das Ergebnis einer Entwicklung im englischen Raum gewesen ist, deren verschiedene Stufen besonders im 17. Jahrhundert deutlich hervortreten.
74 Bolingbroke (Anm. 20), 2., S. 169.
Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des englischen Parlamentarismus Der englische Parlamentarismus 1 ist vielleicht das wichtigste Element des politischen und verfassungspolitischen Lebens in England. Er hat sich seinen eigenen Raum geschaffen, dessen Gesetze und Konventionen seine Form und sein Wesen in hohem Maße bestimmen. Der Schutz und die Ordnung dieses Zentralraumes des Verfassungslebens beruht nicht auf einem endgültig definierten Normensystem, sondern im wesentlichen auf Konventionen, die das Parlament im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet und durch seine Praxis aufrechterhalten hat. Alles was das Parlament konstant als sein Privileg erklärt hat, macht einen Bestandteil seiner inneren Rechtsordnung aus. Wie das auf „use and custom" beruhende Common Law Englands sich gegen den Stuart-Absolutismus behauptete, so behauptete sich auch ein eigenes Parlamentsrecht gegen die Ein- und Ubergriffe der Krone und ihrer Minister. Hier war eine Verbindung von Politik und Recht unmittelbar gegeben, insofern das Parlament nicht als politischer Faktor im engeren Sinne, sondern als Rechtsinstanz, als „High Court of Parliament", aufgefaßt wurde. Es fühlte sich im 17. Jahrhundert mehr als Rechtswahrer denn als Repräsentativkörperschaft. Die Commons waren gewissermaßen Großschöffen, der geschlossene Umstand im Hohen Gerichtshof des Parlaments, des großen Rügegerichts Gesamtenglands („the Grand Inquest of the Nation"), das mit besonderen Prozeßbefugnissen ausgestattet war 2 . Richter Coke, der Verfasser der Petition of Rights von 1623, drückt dies in seiner vierten Institutio so aus: „Wie jeder Gerichtshof seine Gesetze und Gewohnheiten zu seiner Richtschnur hat, der eine das römische und kanonische Recht, der andere das Common Law, andere wieder ihre Sondergesetze und speziellen Rechtsgewohnheiten, so hat auch der High Court of Parliament sein eigenes besonderes Recht, das genannt wird: lex et consuetudo Parliament!" 3. Wenn auch die phanta-
1 Der Abhandlung liegt ein Vortrag zugrunde, der am 4. Juli 1962 an der Universität Heidelberg gehalten wurde. 2 Vgl. etwa J. Redlich, Recht und Technik des englischen Parlamentarismus. Leipzig 1905, S. 40f.; J. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte. München und Berlin 1913, S. 331; Mcllwain, The English Common Law, Barrier against Absolutism, in: American Historical Review 49 (1943/44). 3 Edward Coke, The Fourth Part of the Institutes of the Law of England, London 1797, Kap. 50; Holdsworth, A History of English Law. Bd. 6, London 1924, S. 3; Sir John A. R. Marriott, The Crisis of English Liberty, Oxford 1930, S. 90 ff.
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sievollen rechtsgeschichtlichen Argumentationen Cokes und seiner Jünger oft nur Deckmantel politischer Machtansprüche waren, so lag es doch in der Natur der Sache, daß damals die Juristen in die Politik eingriffen und ihre Vorstellungen von Rechtswahrung und -verfahren zur Geltung brachten4. Die ganze Verfassung wurde als angewandtes Recht aufgefaßt und ihr Grundprinzip in „the rule of supremacy of law" (Dicey) gesehen5. Der Formalismus des englischen Rechts erhielt dadurch für die Ausbildung und Legalisierung des innerparlamentarischen Kampfes entscheidende Bedeutung. Nur bei Beachtung der überkommenen Formen der Beratung wurde die parlamentarische Debatte ein Stück öffentlichen Rechts. Die Legalität der Willens- und Meinungsäußerungen konnte nur aus einer legal abgehaltenen und von Rechtsvorstellungen geordneten Beratung hervorgehen. Die im 17. Jahrhundert Geltung gewinnende Geschäftsordnung gab dem parlamentarischen Verfahren geradezu die gleichbleibenden formalen Grundzüge einer perpetuierten Prozeßlage6. Dieses Parlaments verfahren bildete sich im hundertjährigen Kampf der Commons gegen den politischen und religiösen Absolutismus der Stuarts aus und wurde das Gerüst und die Grundlage des englischen Parlamentarismus 7. Die Geschäftsordnung als solche blieb künftig ein beständiges Moment, das kein Objekt der innerparlamentarischen Kämpfe geworden ist. Ihre Beständigkeit verkörperte sich vor allem in dem größten „Speaker" des 18. Jahrhunderts, in Arthur Onslow, der über dreißig Jahre (1728-1761) als unparteiischer Hausherr den Chair innehatte, der die innere Ordnung des Hauses als wichtiges Problem des Staatslebens anerkannte und dies in bedeutungsvollen Worten ausgesprochen hat8. Sein Verdienst bleibt, daß dem englischen Parlamentarismus der Charakter eines Minderheitenschutzes gewahrt blieb auch dann, als das Parlament anerkannte oberste Instanz geworden war. Damit wurde eine unschätzbare Tradition für die gesamte nationale Auffassung von Parlamentarismus geschaffen, in die mit der Demokratisierung des Staatslebens im 19. Jahrhundert auch die anderen Klassen und Schichten unwiderstehlich hineingezogen wurden. 4
Vgl. E. Barker im Vorwort zu J. Deane Jones, The English Revolution 1603 -1704. London 1931, S. 8; vgl. bei Marriott (Anm. 3), S. 65, die Rede Whitelockes in der Debatte über die „Imposition" im Jahre 1610: „Our rule is in this plain Commonwealth of ours: oportet neminem esse sapientiorem legibus. If there be any inconsistency remove it by due process of law." 5 Vgl. J. Redlich, Englische Lokalverwaltung. Leipzig 1901, S. 7, 50. 6 Gerade die „Restauration" nach 1660 bewegte sich im Gegensatz zum theologischen Begriff der „Reformation" und dem naturwissenschaftlichen Begriff der „Revolution" auf dem Boden des Rechts. Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen. Stuttgart und Köln 1951, S. 9; vgl. allgemein David Ogg, England in the Reign of Charles II. Oxford 1934. 7 Vgl. Mcllwain (Anm. 2). 8 J. A. Manning, The Lives of the Speakers of the House of Commons. London 1850, S. 436-439; Redlich, Parlamentarismus (Anm. 2), S. 73 ff., 87; W. I. Jennings, The Parliament. Cambridge 1948, S. 52.
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Die goldene Zeit des englischen Parlamentarismus ist die Epoche von der Glorreichen Revolution 1688 bis zur bürgerlichen Reform 1832. In dieser Zeit nahmen die politischen Konflikte innerhalb des Parlaments die anerkannte Form eines nach Rechts Vorstellungen geordneten Zwischenstadiums an, durch das hindurch allein die politische Leitlinie gefunden werden mußte. Schon im 18. Jahrhundert rühmten sich die Engländer eben darum, die freieste Verfassung der Welt zu besitzen - nicht wegen des Wahlsystems, das die Allgemeinheit ausschloß, sondern wegen der legal gewordenen Möglichkeit zu Kritik und Opposition. Eine disputierende Nation war in den Augen der Zeitgenossen eine freie Nation. Der vornehmste Ort dieses Disputs aber war jener erste „Gentlemen's Club", das Parlament, dessen Satzungen vor allem dem Schutz dieses Disputs dienten. Der allgemeine historische Grund für diese Entwicklung liegt darin, daß das Land im 17. Jahrhundert die außerordentliche Erfahrung machte, daß das Ideal einer Einheit von Staat und Kirche nicht herstellbar und auch nicht wünschbar war. Zwei feindliche Heerlager standen sich zeitweise in äußerster Entschlossenheit gegenüber, einerseits die Tories als staatskirchentreue Gruppe mit ihrem Ideal der Einheit von Kirche und Staat und ihrer Lehre vom göttlichen Recht der Krone und vom leidenden Gehorsam; andererseits die Whigs mit den Freikirchen und dem ganzen Nonkonformismus dahinter, die der Idee der Freiheit der Kirchen und der Lehre vom Widerstandsrecht gegen den ihrer Aufassung nach nur durch menschliche Übereinkunft entstandenen Staat anhingen. Auf der Entstehung und Fortdauer dieser feindlichen Heerlager, die in wechselnden Formen die großen politisch-religiösen Grundstimmungen der Nation vorstellten, baute sich die fernere Verfassungsgeschichte auf. Der Bürgerkrieg wurde verhütet, als sich beide Gruppen im Namen der englischen Freiheiten gegen den katholischen König Jakob II. verbanden und die Staatskirche entgegen ihrem Prinzip vom göttlichen Recht und vom leidenden Gehorsam sich zum Widerstand gegen die Krone entschloß. Die Glorreiche Revolution von 1688/89 war der Form nach whiggistisch, d. h. Widerstand; dem Inhalt aber und der Masse ihrer Träger nach toristisch, d. h. auf Erhaltung des Bestehenden gerichtet 9. Beide Gruppen hatten sich hier legitimiert. Das Parteiwesen erfuhr eine Umwälzung, die entscheidender war als die geringe Veränderung der Erbfolgeordnung. Einmal waren die Tory-Grundlagen durch die Mitwirkung am Widerstand fragwürdig geworden; ferner gelangten die Whigs, also die Widerstandspartei, an die Regierung, dagegen die loyale, sich bisher mit Staat und Regierung identifizierende Gruppe der Tories in die Opposition. Diese Umkehr der Parteifronten und die gewandelte, prinzipienloser gewordene Praxis der Parteien bewirkten eine Zersplitterung und eine Richtunglosigkeit des Parteilebens10. Die führenden Politiker 9
Vgl. für diese Zusammenhänge vor allem Ranke, Englische Geschichte im 17. Jahrhundert. Leipzig 1871, Bd. 5 und 6; G. M. Trevelyan, Die englische Revolution 1688/89. München 1950; J. Deane Tones, The English Revolution 1603-1704. London 1931; G. N. Clark, The later Stuarts 1660-1714. Oxford 1934.
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wechselten ihre parteiliche Stellung je nach Opportunität; sie wurden „managers", „trimmers" oder „waverers", die nach praktischer „expediency" sich gerierten 11. Die alten Gegensätze bestanden indessen noch weiter, obgleich das politische Spiel bei den maßgebenden und aufgeklärteren Politikern mehr ein Wettkampf um Macht und Amter als ein Kampf um Prinzipien geworden war. Die allgemeinen Gegensätze, einerseits der Rationalismus der Whigs, die den Staat auf einem menschlichen Vertrag gegründet sehen wollten, andererseits der Mystizismus der Tories, die ihn als eine gottgewollte naturgegebene Einrichtung betrachteten, blieben als Grundstimmungen und Tendenzen erhalten, nicht nur in Religion und Literatur, sondern auch in der Politik, schon deshalb, weil in den breiten Massen die alten Gefühle lebendig geblieben waren. Der religiöse und prinzipiengebundene Ursprung der Parteien erhielt sich aus der Nötigung, den Gefühlen der breiten Massen entgegenzukommen. Das demokratische Element in ihnen, das in den öffentlichen Wahlkämpfen eine wichtige Rolle spielte, hat das prinzipielle Moment immer wieder wachgehalten12. Trotz der Relativierung der Parteien blieben also die Gegensätze bestehen. Dieser innere Pluralismus mit Tendenz zum Dualismus war Erbe jener geschichtlichen Situation, deren eigenartige Bewältigung durch die Glorreiche Revolution einen politischen Sinn hervorbrachte, der diesen Pluralismus akzeptierte 13. Um es dahin zu bringen, bedurfte es indessen noch anderer Momente, aus denen dieser Zustand eines ständigen inneren Konflikts gerechtfertigt werden konnte. Die 10 Vgl. als zeitgenössische Darstellung E. Clarendon, The History of the Rebellion and Civil Wars in England (pubi. 1702), Oxford 1826, S. 11 ff. (im Vorwort zur ersten Auflage): „We have lived in our days, to see the great parties, of Tate known by the names Whigs and Tories, directly change their ground." Diese Umkehrung ist besonders scharfsinnig herausgestellt bei David Hume, Essay 9 „Of the Parties of Great Britain", in: Philosophical Works, hrsg. von Green and Grose, 1875, Bd. 3, S. 140; vgl. ähnliche zeitgenössische Darstellungen bei Halifax, Temple, Cowper, Toland, Davenant, Addison, Swift, Defoe, Molesworth, Rapin-Thoyras, de Cize, Prior u. a. bis zu Bolingbroke und in den zahlreichen Pamphleten und Satiren der Zeit. Vgl. ferner K.G. Feiling, A History of the Tory Party, 1640-1714, Oxford 1924, S. 278-284,430; sowie ders., A History of the Second Tory Party. London 1938, S. 26,47. 11 Über „Trimmer" und „Manager" vgl. Oxford Dictionary die entsprechenden Artikel. Halifax war der erste, der sich den Ausdruck „Trimmer" als Ehrentitel zulegte und darunter diejenigen verstand, die zwischen den Parteien standen; er entwickelte in seinem „The Character of a Trimmer" (1684) eine Art Philosophie des „Trimmens". Im Gegensatz zum „Trimmer", der nur bildliche Bedeutung zur Charakterisierung für eine bestimmte Handlungsweise hat, ist „Manager" ein Terminus der Parlamentstechnik und des Rechts. Das „Management" wird später im Sinne einer Verhandlungstaktik, eines Ausspielens der Gegensätze oder einer Bestechungspraxis gebraucht und als Kennzeichen einer kunstgerechten inneren Politik angesehen. Vgl. über die spätere Abwertung der beiden Begriffe bei Wesley und Law (Anm. 22). 12 Vgl. G.M. Trevelyan, The Two Party System in English Political History (The Romanes Lecture). Oxford 1926, S. 26, Ch. Β. Realey, The early Opposition to Sir Robert Walpole 1720-1727. Philadelphia 1931, S. 40; Cecil S. Emden, The People and the Constitution. Oxford 1933. 13 W.Th. Laprade, Public Opinion and Politics in 18 th Century England to the Fall of Walpole. New York 1936.
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allgemeine geistesgeschichtliche Entwicklung bot eine neue Form des Begreifens von Welt und Politik, aus der sich ein anderes Selbstverständnis des öffentlichen und politischen Lebens ergab. Von der Geistesgeschichte her wurde die agonale Form der öffentlichen Willensbildung begründet, stilisiert und legitimiert. Darauf bereitete schon der allgemeine Wandel der Antriebe des politischen Lebens vor, der sich seit der Restaurationsperiode angekündigt hatte. Die religiösen Kampfparolen hatten nicht mehr den Ernst und die Ausdauer eines innerlich ergriffenen Anliegens14. Die von unten kommenden Impulse gingen nicht mehr in der alten Intensität von der religiös vereinigten Gemeinde aus, sondern immer stärker und lärmender und mit andersartig gelenkten Antrieben von den neuen Kaffeehäusern und Clubs, die geradezu politische Institutionen wurden. Schon Jakob II. bezweifelte, ob religiöse Überzeugung und sittliches Empfinden in England überhaupt noch vorhanden seien. Eine Enttheologisierung des öffentlichen Lebens bahnte sich nach dem Paroxysmus der Religionskriege an, die schließlich auch den Staat ergriff, der seit 1688 auf einem Vertrag mit der Krone beruhte und des Gottesgnadentums faktisch entkleidet war. Die politisch führende Oberschicht dachte in Glaubenssachen latitudinarisch, d. h. im Sinne des Erasmus. Hand in Hand mit dem Hang zur Indifferenz ging eine wissenschaftliche Umwälzung, die auch eine neue Methode, die Politik zu betrachten, entwickelte15. Der moderne wissenschaftlich-mathematische Geist gewann an Boden. Die empirische und rationalistische Weltbetrachtung näherte sich im Zeichen der anhebenden Aufklärung ihrer Vollendung in einem „natürlichen System der Wissenschaften" (Dilthey). In Newton gelangte die physikalisch-mathematische Naturerklärung zu einem großartigen und überzeugenden Abschluß. Der neue wertfreie und die Erfahrungswelt auf ihre formale Natur reduzierende Empirismus war auch die methodische Grundlage einer anderen, säkularen Betrachtungsweise der Politik, die sich sachlich an der Anthropologie und realistischen Psychologie der Renaissance orientierte. Gerade die italienische Denkweise über Politik seit Machiavelli bemächtigte sich des englischen politischen Denkens und trug dazu bei, jenen Säkularismus in die Politik zu bringen, der sich gegen den irrationalen Biblizismus des strengen Puritanertums und den irrationalen Mystizismus der Hochtories schon 14
Kein Werk ist kennzeichnender für den Wandel des geistigen und religiösen Klimas als Thomas Sprat f s „History of the Royal Society" von 1667; vgl. etwa S. 374 der zweiten Edition von 1702: „The universal Disposition of this Age is bent upon a rational Religion"; oder S. 376: „the influence which Christianity once obtained on man's minds is now prodigiously decay'd". Vgl. auch David Hume, Theory of Politics. Hrsg. von Watkins, Edinburgh 1951, Essay 7, S. 116. Oder allgemein W. E. H. Lecky, Geschichte Englands im 18. Jahrhundert. Leipzig /Heidelberg 1879, Bd. 1, S. 64; Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes 1680-1715, Hamburg 1948, S. 515. 15 Vgl. etwa G. N. Clark, The 17 th Century. Oxford 1929, S. 214. Über die Bedeutung Bacons für die politische Wissenschaft vgl. J. B. Sabrie, De l'Humanisme au Rationalisme. Paris 1913, S. 319; J. W. Allen, English Political Thought 1603-1660. London 1938, S. 31; G. P. Gooch, Political Thought in England from Bacon to Halifax. London 1933, S. 96 ff.; G. N. Clark, The later Stuarts. Oxford 1934.
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im 17. Jahrhundert behauptete und schließlich nach dem Erlahmen der religiösen Impulse im 18. Jahrhundert das Feld gewann. Diese neutrale politische Wissenschaft im England des 18. Jahrhunderts, also ein Ergebnis der Geistesgeschichte, hat das meiste zur Legitimierung des diskutierenden Parlamentarismus beigetragen. Sie entstand aus verschiedenen Momenten, die in England zu einem Gesamtergebnis zusammenwuchsen. Einmal hatte der independentische Gedanke der Trennung von Religion und Politik das Politische freigesetzt. Nach der allgemeinen calvinistischen Auffassung von Gott und Welt war die erfolgreiche diesseitige Durchsetzung Chiffre eines an sich unerklärlichen jenseitigen Willens. Die Auffassung vom Erfolg als Kriterium gottgewollten Handelns führte den Puritanismus zu jenem innerweltlichen utilitarischen Pragmatismus, der sich mit der säkularen Betrachtung von Politik und Welt gut vertrug. Daneben entstand aus der neuen Wissenschaft der mathematisch-experimentellen Wirklichkeitserforschung jener rationaltechnische Sinn Bacons und Seidens, der schon seit Machiavelli und der Technizität seines Denkens ein Element modernen Weltbegreifens geworden war 16 . Diesem Denken in Formen des Gleichgewichts und der Mechanik, der Technik des politischen Agierens und der rationalen Staatskonstruktion fügte sich in England jener allgemeinverständliche utilitarische Zug ein, der das Problem der politischen Bindung, das für die frühen Theoretiker politischer Technik nicht bestand, in die Betrachtung einbezog, ohne dem Mystizismus des „göttlichen Rechts" und dem strengen Biblizismus der Puritaner zu verfallen 17. Die politische Wissenschaft, die ursprünglich Angelegenheit der aufgeklärteren indifferenten Oberschicht war, wuchs mit der utilitarischen Denkweise, die dem Verständnis der 16 Vgl. die bekannten Thesen von Max Weber und Ernst Troeltsch. Über Machiavelli siehe Kurt Kluxen, Der Begriff der necessità im Denken Machiavellis (Diss.), Köln 1949; vgl. in diesem Band, S. 11 ff., 23 ff.; ferner Erwin Faul, Der Machiavellismus im englischen politischen Denken, in: Ders., Der moderne Machiavellismus, Köln 1961, S. 113-155. 17 Vgl. Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften. Bd. 1, Tübingen 1912, S. 717. Man darf den Einfluß des puritanischen Erfolgsdenkens nicht ausschließlich betrachten. Die Koordination von Erfolg und Heilsgewißheit, Handel und Religion wurde häufig genug ausdrücklich bestritten. Vgl. G. N. Clark, The Later Stuarts 1660-1714. Oxford 1934, S. 34. Vgl. auch die eindeutige Gegenposition bei H. Thorndike, Works. 1854, Bd. 5, S. 480f.: „Religion and Trade cannot be both at height" (1670). Dem calvinischen Erfolgsdenken widersprechen auch Samuel Butlers „Hudibras" und Mandevilles „Bienenfabel", die beide ganz unpuritanisch Wohlstand und Glück auf einem gewissen Maß der Korruption begründen. Zu des Erasmus „Laus Stultitiae" gesellen sich Montaigne, Charron, Bayle und deren zahlreiche Adepten in England, die alle die Nutzbarkeit und Wohltätigkeit des Lasters und der Torheit preisen, so daß von dieser Seite der Utilitarismus ohne jegliche religiöse Implikationen zur Geltung kommt. Vgl. die zahlreichen Nachweise in der Einleitung von F. B. Kayes zu seiner Ausgabe von Mandevilles „Fable of the Bees", Oxford 1924. Kaye nennt Mandeville (S. 42) den „Beweger zum modernen Utilitarismus". Die Vernachlässigung dieser heidnischen Emanzipation vom Traditionalismus ist der Hauptvorwurf, den Lujo Brentano, Der wirtschaftende Mensch in der Geschichte. Leipzig 1925, S. 419, gegen die Thesen von Troeltsch und Weber erhebt. Vgl. auch die Korrektur des deutschen Englandbildes bei: Klaus Dockhorn, Deutscher Geist und angelsächsische Geistesgeschichte. Göttingen / Frankfurt a.M./Berlin 1954.
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nonkonformistischen Mittelschichten gemäß war, zusammen18. Intellektuelle Oberschicht und nonkonformistische Mittelschicht begegneten sich hier, wenn auch die eine in Venedig ihr Vorbild sah, die andere ihren plebejischen Verbündeten in Genf 19 . Die Entwicklung vollendete sich im 18. Jahrhundert, als das Christentum bei vielen nur die höchste Form der Moralität war, diese aber im Sinne des Utilitätsprinzips als integrales Gesetz menschlichen Daseins behandelt wurde, so daß die Politik als Wissenschaft der zweckmäßigen Daseinsmeisterung auf allseitiges Verständnis stieß. Zwei an sich getrennte Gedankengänge kamen damit zusammen. Der nonkonformistische Säkularismus zielte auf Idee und Praxis des begrenzten Staates um der religiösen Freiheit willen; der indifferente Renaissance-Säkularismus auf Neutralisierung der konfessionellen Kämpfe um der Einheit und des Friedens der Staatsmacht willen. Bei Cromwell noch wurde der Staat zum Polizeimeister degradiert, um die Religionen zu schützen; im 18. Jahrhundert wurde die Kirche zum Polizeimeister degradiert, um Staat und Gesellschaft zu schützen. In beiden Fällen ergab sich eine Enttheologisierung des öffentlichen Lebens. Antikes Freiheitspathos und protestantische Gewissensfreiheit, politische Wissenschaften und calvinistischer Utilitarismus vereinigten sich zu einer Gesamtwirkung. Aus dem unmittelbar erstrebten Säkularismus der Renaissance und dem mittelbar resultierenden Säkularismus der calvinischen Reformation entstand ein gleichsinniges Ergebnis, das die Einheit des englischen Geisteslebens im 18. Jahrhundert bewirkte und einen allgemeinen Wandel des Denkens über Politik hervorrief. Durch Empirismus und Säkularismus trat die Spekulation über die letzten Fundamente des Staatswesens zurück. Locke hatte zudem die toristische Lehre vom jus divinum der Krone und David Hume die whiggistische Lehre vom Urvertrag zerstört. Man beschränkte sich in Fragen der Politik auf die „circumstances", auf Konvenienz und Opportunität, auf „expediency" und „probability" und sah in ihnen die Gesichtspunkte für eine dem Menschen angemessene Politik. Der Idealpolitiker war schließlich der „time-server", der Mann der politischen Klugheit, der sich leiten ließ „by time and circumstances", der „Trimmer" und „Manager", der also Empiriker und Praktiker war und sich nicht durch eingeborene Ideen und leere Spekulationen verwirren ließ 20 . Das war im Grunde der Standpunkt der Lockeis M H. Carré , Phases of Thought in England. Oxford 1949, S. 273 f.; G. R Gooch, The History of English Democratic Ideas in the 17 th Century. Cambridge 1898, S. 345, wonach Halifax vor Locke der erste politische Utilitarier in England ist. Vgl. H. C. Foxcroft, Life and Letters of ... Halifax, London 1898, S. 493 f.; Halifax, Complete Works (Hrsg. W. Raleigh). Oxford 1912, S. 226. Nach H. J. Laski (Political Thought in England [Locke to Bentham], 1948, S. 98) vollendet sich das Utilitätsprinzip bei David Hume. Das Utilitätsprinzip, das nach Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson. 2. Aufl., München 1960, S. 254, schon bei Hobbes verdeckt die entscheidende Rolle spielt, ist also zweifellos in der neuen politischen Wissenschaft gegenwärtig; es findet aber breite Resonanz aus dem entsprechenden Aspekt des puritanischen Erfolgsdenkens. 19 Vgl. Ζ S. Fink, Venice and English Political Thought in the 17 th Century, in: Modern Philology 38 (1940/41), S. 162.
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sehen Philosophie, nach der die Vernunft nichts mehr als das Resultat von „sensation" und „reflection" darstellte, die über den Umkreis der Erfahrung und der nächsten Umstände hinaus keine echte Eigenkraft und kein schöpferisches Vermögen hat. Durch Locke wurde diese Betrachtungsweise populär. In Hume vollendete sich die allgemeine skeptische Relativierung auf Utilität und Zuträglichkeit. Die politischen Themen wurden nicht mehr religiös-dogmatisch oder metaphysisch behandelt, sondern psychologisch-anthropologisch, sozial, utilitarisch oder moralistisch, also aus innermenschlichen Zusammenhängen begründet. Die politische Philosophie wurde zu einer Form der verallgemeinerten Erfahrung. Die Periode seit 1680 bis zum Erscheinen der politischen Essays David Humes im Jahre 1741/42 und einige Jahre darüber hinaus ist eine Periode, in der diese politische Wissenschaft das Feld völlig beherrscht. Danach kommt es zu den Kodifizierungen und Zusammenfassungen des geistigen und verfassungspolitischen Gehaltes der Zeit, zu einer Bestandsaufnahme 21, mit der sich gleichzeitig wieder tiefere Momente anmelden, gewissermaßen religiöse und politische Erweckungsbewegungen wie der Methodismus einerseits und die Burkesche Philosophie andererseits 22. Aber in dieser langen Zeit von drei Generationen gewöhnte man sich daran, Politik als Taktik des Zurechtkommens und des Ausgleichs der Gegensätze aufzufassen. Hier wurde ein Sinn für die Relativität der Politik, für das „muddling through" geweckt, ein Sinn für den Spiel- und Wettkampfcharakter der Parteienpolitik und des Parlamentarismus. In dieser Zeit nahmen die Wahlen Züge des Sports, der öffentlichen Belustigung und des Wettkampfes an, ebenso wie die Dispute im Parlament, in den Journalen und Clubhäusern 23. Diese besondere Denkweise und Begriffswelt war in der Lage, den politischen Pluralismus und den Interimscharakter der Politik überhaupt hinzunehmen. Erst im 18. Jahrhundert sind die Voraussetzungen gegeben, daß jener Parteikampf, der zum Bürgerkrieg zu werden drohte, sich Formen und Zielsetzungen aneignete, die ihn als politisches, nach Regeln verlaufendes Kräftespiel erscheinen ließen. Daraus darf geschlossen 20 Vgl. dazu die zeitlich früh liegenden Schriften von Temple, Miscellanea, Part I. 1680, S. 50, 60, 78, sowie Part III. 1701, S. 25. Temple knüpft an Bodin und Harrington an und auch wohl an Aristoteles, Politik. Buch 7, 1327 b. Zu „circumstances" vgl. Foxcroft (Anm. 18), S. 494. Vgl. die zahlreichen Vorschläge zu einer neuen Methode der Politik etwa bei H. Parker, Somers Tracts 6, 77; H. Neville, Plato redivivus. 1681 (Einleitung); Fr. Osborne, Discourse on Machiavelli, in: Works (9. Edition), London 1689, S. 293 f., mit Parallelsetzung von Albertus Magnus und Machiavelli. Vgl. auch die Übertragung der Rolle der „circumstances" auf die Religion bei M. H. Carré (Anm. 18), S. 335. Siehe auch Montesquieu, De l'Esprit des Lois, I, 3. 21 Vgl. E. Barker: Traditions of Civilty, Cambridge 1948, S. 193, wo Blackstone, Adam Smith, Gibbon, Paley und Bentham als die Zusammenfasser genannt sind. 22 Vgl. die Abwertung des „trimming" bzw. des „management" bei Wesley, Works. 1872, Bd. 1, S. 183; und bei Law, Spiritual Prayer, 1760, Bd. 2, S. 91, bei beiden bezogen auf den religiösen Bereich. 23 Vgl. D. H. Stevens, Party Politics and English Journalism 1702-1742. Menasha, Wisconsin 1916; W. T. Laprade (Anm. 13).
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werden, daß zwar die im 17. Jahrhundert sich ausbildenden parlamentsrechtlichen Formen das Gehäuse des englischen Parlamentarismus geliefert haben, daß aber dazu eine gewandelte Form des politischen Selbstverständnisses, also eine geistesgeschichtliche Komponente, treten mußte, welche die bisherigen Grundprinzipien relativierte und Politik als eine zeitbedingte innermenschliche Angelegenheit sehen lehrte. Weil nämlich die Zerstörung der weltanschaulichen Grundlagen der Parteien nicht deren Ende herbeiführte, bedurfte der weiterbestehende Antagonismus einer neuen Legitimation 24 . Gerade die politische Wissenschaft der Zeit hat von verschiedenen Aspekten her einen gesellschaftlich-politischen Antagonismus als naturnotwendig hingestellt und als wichtiges aufbauendes Element rationaler Staatsgestaltung verwandt - sowohl die politischen Techniker und Konstrukteure als auch die aufgeklärten Moralisten und Naturrechtler. Die menschlichen Interessengegensätze erzeugten danach einen naturnotwendigen Dualismus, der sich auf die englischen Verhältnisse übertragen ließ. Aus dem Kalkül der politischen Wissenschaft entwickelte sich in Verbindung mit den Formen des Parlamentarismus und der formalisierten Rechtshandhabung ein neuer Sinn für die technische Seite der Staatskunst, der dem Formalismus des Parlamentsrechts entgegenkam und in dem darin geregelten Widerspiel ein positives und berechtigtes Moment erblickte. In Venedig mit seiner ausbalancierten Verfassungsstruktur sah man das entsprechende Ideal verwirklicht. Zahlreiche Projektemacher und Experimentierer des 17. Jahrhunderts entwarfen vollkommene Staatsmaschinen. Einer solchen Spekulation gab man sich genauso gerne hin wie den naturwissenschaftlichen Experimenten seit den Tagen Karls II. und seiner „Royal Society" 25 . Harrington legte mit seiner „Oceana" (1655) die Fundamente einer so reflektierenden Wissenschaft 26. Ohne eine deduktiv gewonnene Staatslehre zu geben oder eine letzte Definition des Staatszwecks zu versuchen, begnügte er sich mit praktischen Schemata für ein Optimum freiheitlicher Staatsgestaltung. Vollkommen war ihm der Staat, dessen Souveränität nicht begrenzt, 24 Darauf weist ausdrücklich Hume hin in seinem Essay, Part II, 12 „Of the Original Contract", in: Theory of Politics, hrsg. Watkins (Anm. 14), S. 193. 25 Vgl. Ranke, Englische Geschichte (Anm. 9), Bd. 5, Buch 18, S. 163-166; T. A. Birrell, Roger North and Political Morality in the later Stuart Period, in: Scrutiny 4 (März 1951), S. 283, 297; F. D. Wormuth, The Origins of Modern Constitutionalism. New York 1949, S. 56 ff. Politische Mechanistik war der Zeit geläufig, findet sich aber selten in Reinkultur, so etwa bei Cato (Pseudonym von Gordon und John Trenchard), Short History of Standing Armies in England. 1698. Sie betrachten das „Government" als Uhrwerk, das so gebaut ist, daß es notwendig auf den öffentlichen Vorteil hinarbeitet - vorausgesetzt, daß alle Menschen auf ihren privaten Vorteil bedacht sind. Vgl. auch Fink (Anm. 19). 26
Α. E. Levett, Harrington, in: F. J. C. Hearnshaw, The Social and Political Ideas of some great Thinkers of the 16^ and 17 th Century. London 1929, S. 193 f.; H. H. Tawney, Harrington's Interpretation of his Age, Raleigh Lectures 1941, Proceedings of the British Academy, London 1941, S. 208 f.; James Harrington, The Oceana and other Works, hrsg. von Toland, London 1737. 12 Kluxen
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sondern ausgewogen („librated") sei und ein „equal system" darstelle wie Venedig, dessen Souveränität auf verschiedene Funktionsbereiche verteilt sei. Dieser Auswiegung der Gegensätze durch Verteilung der Funktionen diente sein Gedanke der Zweiteilung der Regierung in eine debattierende und eine beschließende Volksversammlung, einer Teilung von „wisdom" und „interest". Harrington geht dabei nach dem Vorbild der Experimentatoren der Zeit von einer reduzierten Ausgangssituation aus: Zwei Mädchen teilen sich einen Kuchen. Wie erreichen sie das Optimum? Das eine teilt, das andere wählt. Das Teilende muß, um zurechtzukommen, die Teilung möglichst genau machen, da der andere Partner sich das größer scheinende Stück nimmt. Das erste Mädchen repräsentiert „wisdom", das zweite „interest". Die gegensätzlichen Interessen ergeben eine bestmögliche Teilung. Daraus wird erkennbar, wie Technik und Mechanik der Staatsgestaltung Harrington vorwiegend beschäftigen 27. An die Denkweise Harringtons knüpften die meisten Skribenten und Debattierer über Regierungskontrolle und Parlamentsverfahren im 18. Jahrhundert an, die in den bestehenden Gegensätzen die Möglichkeit wechselseitiger Kontrolle und Korrektur entdeckten und sie in den Formen der parlamentarischen Debatte verwirklicht fanden. Manche Denker suchten den Antagonismus allerdings tiefer zu begründen; sie gingen von der formalen Natur der Politik aus. Wie Machiavelli in seiner Art die Politik auf ihre formalen Qualitäten reduziert hatte, suchte man aus den Gegensätzen von Herrschern und Beherrschten, von Gesetz und Willkür, Macht und Recht, Ordnung und Freiheit das Wesen der Politik zu verstehen. Danach entfaltet sich jede Politik notwendig in zwei Prinzipien: seien es forza und prudenza bei Machiavelli, wisdom und interest bei Harrington, oder desire und reason bei Hobbes, appetite und reason bei Shaftesbury, oder Fortschritt und Beharrung bei Temple. Diese Ansätze zu einem der reinen Politik an sich innewohnenden Dualismus fanden sich bei allen Theoretikern von Bacon über Hobbes, Milton, Harrington, Temple, Halifax, Davenant, also kurz bei allen Vorläufern und Vertretern der damals aufkommenden politischen Wissenschaft 28, nicht zu nennen die Unzahl der Pamphletisten, Parteipolemiker und Journalisten. Dieser der Politik immanente Dualismus wurde jedoch nicht allein aus der formalen Natur der Politik, sondern, wie die angeführten Begriffspaare schon erkennen lassen, auch aus der menschlichen Natur und deren inneren Gegensätzen erklärt, wie ja überhaupt die Staatslehren bis 1789 der politischen Reflexion eine anthropologische Grundlage oder jedenfalls einen anthropologischen Bezug zu geben trachteten. Das führt zu einer besonderen Eigenart der politischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert: zu ihrer psychologischen und anthropologischen Basis, teils durch 27 Harrington, Oceana (Anm. 26), S. 47, 48, 431. 28 Der vielleicht feinsinnigste Vertreter dieser Gruppe ist Sir William Temple, Miscellanea, Part. III, „On popular Discontents", London 1701, S. 18-21; vgl. auch Miscellanea Part I, London 1680, S. 54; ferner Homer E. Woodbridge, Sir William Temple. New York/London 1940; vgl. allgemein Sir Frederick Pollock, Essay on the Law. London 1922; ders., History of the Science of Politics. London 1930.
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den beherrschenden Einfluß der antiken Historie und Wissenschaft, teils unter dem Eindruck der freien künstlerischen Analyse des Menschen seit der Renaissance, teils auch aus der religiösen Gewohnheit der Selbstzergliederung und -betrachtung. In der Natur des Menschen erblickte man ein unwandelbares Element, im Hinblick auf das alle Veränderungen und Bewegungen des geschichtlichen Lebens verstanden werden konnten. Die antike Lehre von den Gemütsbewegungen wurde zu einer politischen Theorie ausgebaut. Psychologie und Anthropologie dienten dabei nicht nur dem taktischen Kalkül über Politik, sondern darüber hinaus zur Konstruktion und Interpretation des Gemeinwesens. Der Psychologismus des 18. Jahrhunderts wurde geradezu eine Grundwissenschaft für alle Probleme der geistigen und auch der politischen Welt 29 . Man verstand das Gemeinwesen als „Body Politick", dessen „Humours" sein Leben bestimmten30. Schon für Hobbes war der Staat „an artificial man" und für Harrington „the Image of Man" 3 1 . Statt von göttlicher Sanktion ging man vom rationalen Charakter der menschlichen Natur aus. Die Gegensätze in einem Staatswesen wurden physiologisch und moralpsychologisch gedeutet und mit den inneren Gegensätzen im Vernunft-Trieb-Wesen Mensch koordiniert. Das politische Corpus war nicht nur dem organischen Wesen Mensch, sondern seinem sittlichen, innerlich sich auseinandersetzenden Wesen analog. Der Staat war ein moralischer Körper. In ihm standen „passion" und „reason" gegeneinander, wie man nach stoischem Vorbild in stereotyper Unterscheidung der Seelenkräfte argumentierte. Diese Unterscheidung wurde für die nachrevolutionäre Naturlehre der Parteien und den Begriff der Politik im 18. Jahrhundert überhaupt bedeutsam32. Die menschlichen Eigenschaften galten als verfassungspolitisch bedeutsame Wirklichkeiten; der Natur der politischen Formen und Funktionen wurden bestimmte Weisen des menschlichen Handelns zugeordnet. Die schon seit Aristoteles geläufige Analogie zwischen „body politick" und „body natural" wurde auf die be29 G. P. Gooch, The History of English Democratic Ideas (Anm. 18), S. 299; Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Tübingen 1925, S. 402 f., 404 f. 30 Vgl. Bacon' s Essay „Of Sedition and Troubles", in: Works, 1858, Bd. 6, S. 409; siehe auch Edmund L. Freeman, Bacon's Influence an John Hall, Menasha, Wisconsin 1927, S. 385, 391. Vgl. die Balance der menschlichen Säfte als Zeichen der Gesundheit, also eine Zuordnung der Balance-Idee aus der Mechanik mit der Humour-Theorie bei Charron, De la sagesse. Leyden 1656, Bd. 1, S. 89-91; John Glanville, Vanity of Dogmatizing. 1661, S. 122, 125; siehe allgemein über den Zusammenhang: David Ogg (Anm. 6), Bd. 2, S. 718. Vgl. die thematische Nähe der Humour- und Temperamentenlehre zur Politik im Sinne einer „politischen Anatomie" in den Schriften von Petty, Davenant, Swift und vielen anderen - Harrington betreibt ausdrücklich „politische Anatomie" und vergleicht sich mit Harvey, dem Entdecker des doppelten Blutkreislaufs; vgl. Tawney (Anm. 26), S. 205. Die „Humour"-Theorien in England dienten der Bestimmung des Verhältnisses von Volk und Regierung, wo „reason of state" und „humour of the people" stets entgegengesetzt wurden.
31 Harrinton, Oceana (Anm. 26), S. 522; vgl. Marriott (Anm. 3), S. 136f. 32 Vgl. Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert. Freiburg/München 1956, S. 26 f., S. 87 ff. 12*
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sonderen englischen Verhältnisse zugeschnitten und diente der Interpretation der parteipolitischen Gegensätze. Nachdem diese fragwürdig geworden waren und einer intellektuell vertretbaren Argumentation nicht standzuhalten schienen, gab man ihnen einen psychologischen Unterbau. Whigs und Tories waren danach keine zeitbedingten, sondern naturbedingte Gegensätze, die sich wie „passion" und „reason" verhielten. Der erste, der eine solche Zuordnung durchführte, war der dritte Shaftesbury. Er sieht den Beginn der Freiheit und der Persönlichkeitsformung im Menschen gegeben in der Selbsterkenntnis, d. h. in einer inneren Zweiteilung des Menschen: „Know yourself; that is: divide yourself or be two!" 3 3 Der Mensch zerfällt in einen betrachtenden und einen betrachteten Teil, einen Vernunftteil (reason) und einen Triebteil (appetite). Beide gehören wesentlich zu ihm. Beide werden von Shaftesbury in deutliche Parallele zum Parteiengegensatz gesetzt. Der freie Mensch hat sich geteilt; ebenso muß sich ein freies Staatswesen teilen, um zur Selbstkontrolle und -beurteilung zu gelangen, also zu einem sittlichen Wesen zu werden. Beide Elemente sind im freien Staat naturnotwendig 34. Wo die Teilung fehlt, ist entweder ein vollkommener, also übermenschlicher Zustand, oder ein untermenschlicher Zustand erreicht. Der inneren Argumentation im Menschen als Prozeß der Selbstformung entspricht die innere Argumentation im freien Staat. Der in England tatsächliche Dualismus entspringt also nach Shaftesbury der sittlichen menschlichen Natur; er ist notwendig und Ausdruck der moralischen Qualität des Gemeinwesens. Der Whig Shaftesbury sah dabei seine Partei als Repräsentant der ratio an; die Tories stellten appetite dar 35 . Ihm folgten zahlreiche andere, wobei der Rationalismus der Whigs und der Mystizismus der Tories, die aufgeklärte Gesinnung jener und die am alten haftende Mentalität dieser, eine solche Zuordnung nahelegten. Mit psychologischen und moralpsychologischen Unterschieden erklärte man nunmehr also die Parteiung. „Passion" und „Reason" waren, um mit Harrington zu sprechen, zwei Rivalen, deren Herrin die Seele war. Die Seele aber war die Konstitution als Inbegriff der öffentlichen Ordnung des Ganzen, oder für die Zeitgenossen die Revolutionsregelung. Der belebende Kampf der Parteien hielt hier die „humours", die Säfte des „Body politick" in Bewegung. Fast bei allen englischen Denkern wurden solche anthropologischen, moralpsychologischen Überlegungen auf das politische Corpus übertragen; die Analogien zum Einzelmenschen waren eine Art Interpretationsstil. 33 Shaftesbury, Caracteristics of Men, Manners, Opinions, Times. London 1900, Treatise 3, Soliloquy 1, S. 113. 34 Shaftesbury (Anm. 33), Misceli. Reflexions 2, S. 349: „ T i s the same ... with men with morals as in politics". Über die allgemeine Bedeutung Shaftesburys vgl. William E. Alderman, The Significance of Shaftesbury in English Speculation, Menasha, Wisconsin 1923, S. 189; Ester Tiffany, Shaftesbury as Stoic, Menasha, Wisconsin 1923, S. 642. Nach Alderman sind Shaftesburys Werke im ganzen 25mal erschienen; die „Characteristics" wurden 1711, 1714, 1723, 1727,1732, 1733, 1737, 1744, 1749, 1773 und 1790 neu aufgelegt. 3 5 Vgl. etwa Shaftesbury (Anm. 33), Treatise 3, Soliloquy 1, S. 123 f. Der unmittelbare Bezug der Reflexion Shaftesburys zum Verhältnis der Parteien ergibt sich allenthalben, etwa S. 55 f., 128, 131, und in: „Letter concerning Enthusiasm" I, 9.
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Die Politik war im großen, was die Moral - oder gelegentlich auch die ärztliche Kunst - beim Einzelmenschen war. Derlei Gedankengänge gehörten zum Repertoire eines jeden Schreibers und Pamphletisten des Zeitalters 36. Aber gerade die Verwirrung der Parteifronten, das Wechseln und „Trimmen" der Parteiführer nach 1688 ließ die Koordinierung von „reason" und „passion", von Gesetz und Willkür, mit Whigs und Tories, abgesehen von den darin liegenden unterschiedlichen Wertung der beiden Gruppen, wieder fragwürdig erscheinen. Auch die Tories hatten sich seit Filmers „Patriarcha" vom Divine-RightMystizismus entfernt und eine naturrechtliche Begründung ihrer Staatslehre gesucht, sie hatten Widerstand praktiziert und ihn mit Argumenten zu rechtfertigen sich bemüht. Auf ihrer Seite standen zudem große Teile der englischen Literatur, von Osborne, Arbuthnot, Prior, Gay, Pope und Swift bis Dr. Johnson, die sich nur durch ihre pessimistischere Lebensauffassung von der vernunftgläubigen WhigLiteratur der Steele und Addison unterschieden. Eine bestimmte Hinordnung beider Gruppen auf bestimmte Seelenkräfte in der Weise Shaftesburys war dem geistigen Leben, an dem sich Whig- und Toryführer eifrig beteiligten, völlig unangemessen37. Neben zahlreichen anderen Schreibern, die die Berechtigung einer solchen Zuordnung bestritten, war es vor allem Bolingbroke, der eine Verbindung der passion-reason Reflexion mit dem technischen Denken anstrebte und den psychologisch interpretierten Parteiengegensatz zu einem formal-politischen Gegensatz relativierte. Bei ihm wurden „passion" und „reason" nicht je einer Partei zugeordnet; die darin ausgedrückten Unterschiede seien längst dahin. Vielmehr beruhe der Gegensatz jetzt auf dem verschiedenen Verhältnis der beiden Gruppen zur Macht. Die Whigs säßen dauernd an der Macht. Walpole hielt ja in der Tat für 21 Jahre das Ruder in der Hand (1721 -1742) und ließ nur überzeugte Whigs in die Amter. Wer aber an der Macht war, konnte sein eigenes Interesse und seine Leidenschaft befriedigen. Wer jedoch nicht an der Macht war, konnte dagegen sein Anliegen und sein Interesse nur durchdrücken, wenn er für das Allgemeine, das nationale Interesse des Ganzen, eintrat 38 . Gerade ein viel beachteter Pamphletist der Zeit, „Cato" (Gordon und Trenchard) sich nennend, hatte geschrieben, daß die Mächtigen mit mechanischer Notwendigkeit ihrem Eigeninteresse dienten, während die Leute außerhalb der Macht mit mechanischer Notwendigkeit Patrioten seien, die das Anliegen des Ganzen ver36 Siehe etwa Rapin-Thoyras, A Dissertation concerning the Whigs and Tories, in: John Ker's Memoirs. London 1726/27 Bd. 3, S. 155. 37 Auf niederer Ebene bestand der Unterschied aber deutlich fort. Vgl. „The Memorial concerning the State of Affairs in England" (1714), in: Toland, Mise. Works. London 1747 Bd. 2, S. 264, wo sich Whigs und Tories wie Stadt und Land verhalten. 38 Bolingbroke, The Works. 5 Bände (hrsg. von David Mallet), London 1754. Besonders wichtig sind hier: „A Letter to Sir William Windharn" (1717), 1, S. 3-106; „Remarks on the History of England" (1730), 1, S. 273-534; „Dissertation upon Parties" (1733/34), 2, S. 1 256, und 3, S. 178,4, S. 385.
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träten 39. Jene folgten also ihren Leidenschaften, diese der Vernunft, wobei ihre egoistische bzw. nationale Haltung sich aus ihrer Stellung, ob „in" oder „out", ergab. Aus dieser, an Harrington erinnernden Überlegung, die zugleich an die allgemein übliche Klage der Zeitgenossen über den verderblichen Einfluß der Macht anknüpfte, folgerte Bolingbroke, daß „reason" und „passion" sich umgekehrt wie bisher angenommen verteilten. Die an der Regierung sitzenden Whigs folgten „passion"; die gegen die Regierung stehenden Tories folgten „reason". Jene verträten das Besondere, ihr Eigeninteresse, diese das Allgemeine. Je länger die Anhänger Walpoles an der Regierung seien, um so größer sei die Korruption. Auch hier folgte Bolingbroke „Cato", der behauptet hatte, daß eine ständige Rotation der Amter erfolgen müsse, um immer wieder die von oben einsetzende Korruption abzuschöpfen und die korrumpierten Amtsträger durch „Patrioten" zu ersetzen. Bald allerdings würde dieselbe Korruption auch hier einsetzen und eine weitere „Rotation" nötig sein, um - wie „Cato" es ausgedrückt hatte - das Wasser süß und die „Humours" in Bewegung zu halten. Die lange Amtszeit der Whigs war für Bolingbroke und seine Anhänger die Ursache der wachsenden Korruption. Nach der Pathologie der politischen Formen, die die zahlreichen Tory-Satiriker mit Ausdauer entwickelt hatten, korrumpierte das politische Gebäude von oben her und mußte ständig durch Kräfte von unten erneuert werden. Diese opponierenden Kräfte stellten also den „Patriotismus" dar, d. h. die Vernunft des Ganzen. Ihr Ausgeschlossensein von Amtern, Sinekuren und Pensionen war die Ursache, daß sie sich dem Anliegen der Allgemeinheit widmeten. Ihre Kritik an der Regierung war also notwendig eine „patriotische" Tat. Die Opposition hat immer recht 40 Damit war der innerparlamentarische Dualismus als notwendige Form der Selbstkontrolle und der nationalen Selbstvergewisserung anerkannt und außerdem ein angemessener Wechsel der Regierung als notwendig bezeichnet. Das blieb nicht Theorie. Vielmehr hat die Opposition ernsthaft versucht, mit diesen Argumenten Walpole zu stürzen, nicht durch ein „Impeachment", also auf Grund einer Anklage und des Nachweises eines bestimmten verfassungswidrigen Verhaltens. Nein, die lange Amtsdauer war der entscheidende Vorwurf, den man Walpole machte. Dazu kam noch, ganz im Sinne der Auffassung von unten her wirkender verjüngender Kräfte, der Hinweis auf die öffentliche Meinung, der man gehorchen müsse. Zum ersten Male gründete sich im Jahre 1741 ein Mißtrauensantrag der 39 Cato' s Letters, London 1724, Bd. 2, S. 67, 174, 207, 268. 40
Die Opposition wird von Bolingbroke als „the ordinary method of cure" bezeichnet (Anm. 38), 1, S. 491; Vgl. Kurt Kluxen, Opposition (Anm. 32), S. llOf., 143 f., 150f.; vgl. H. Ν. Fieldhouse, Bolingbroke and the Idea of Non-Party Government, in: History 23 (1938/ 39), S. 41-56. Fieldhouse sieht in der „Dissertation" Bolingbrokes die beste zusammenfassende Geschichte der Torypartei, die allem überlegen sei, was bis 1924, dem Jahr der Publikation des Werkes von Feiling (Anm. 10), erschienen sei. Bolingbroke habe heutige Auffassungen besser antizipiert als irgendein anderer Schreiber. Vgl. J. M. Robertson, Bolinbroke and Walpole. London 1919, S. 50f.; Ch. Collins, Bolinbroke and Voltaire in England. London 1886, S. 134.
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Opposition gegen die Regierung nicht auf einer Anklage, sondern auf einer allgemeinen Anschauung von Politik 41 . Damals gelang es nur der Bestechungspraxis der Regierung und der Krone, Walpole im Amt zu halten. Von einer Anklage wurde abgesehen, auch als Walpole 1742 schließlich ging. Der Kampf der Opposition gegen die Regierung wurde allgemein als nationale Tat gefeiert und bestimmte den Charakter der Wahlkämpfe. Die Streitgespräche in Begriffen der neuen politischen Wissenschaft gaben der Debatte von Für und Wider einen politischen Sinn und der opponierenden Seite eine positive und notwendige Aufgabe. Ja, die Opposition stattete sich geradezu mit der Würde einer politischen Theorie aus. Diese Theorie war indessen im wesentlichen nur die Kommentierung eines bereits vorhandenen und rechtlich gesicherten Zustandes, dem sie eine zusätzliche ideelle Überhöhung verlieh. Der eigentliche Träger der Kontinuität blieb dabei immer die innerparlamentarische Rechtsordnung, deren Formen von der politischen Theorie freilich auf ihre Weise interpretiert und gerechtfertigt wurden. Der Formalismus des Rechtsdenkens entsprach dem taktisch-technischen Denken über Politik; er diente in der Tat zugleich dem Ausgleich der Temperamente und Meinungen. Die Verfahrensordnung war ganz auf ein prozessuales Gegenspiel der Kräfte angelegt; die Debatte erschien als Prozeß der Urteilsfindung. Die parlamentarische Taktik und Logik behielt weitgehend enge Verwandtschaft mit dem „pleading" im Rechtsstreit, wo die Grundidee des altfranzösisch-normannischen Verfahrens war, daß jeder Rechtsstreit sich wie ein Netz abwickeln mußte, in welchem sich die Parteien fingen. Regierung und Opposition waren Prozeßführende vor dem forum internum des Staates geworden 42 . Der „Speaker" hielt die zwischen den beiden Prozeßparteien, der Majorität und Minorität, durch Geschäftsordnung und Übung geschaffenen Rechtsbeziehungen in seiner Hand, so daß beide Teile die Waffen der Geschäftsordnung uneingeschränkt benutzen konnten43. Die Anwendung der Normen der Geschäftsordnung war gleichbedeutend mit einer richterlichen Verfügung. Nur die genaue Beachtung der traditionellen Formen ließ die Opposition im Wechsel mit der Regierung zu Wort kommen. Dadurch erst konnten das gravitierende Parteienspiel als das diesen Prozeß konstituierende Moment, und die Opposition als der ihn in Gang bringende Faktor anerkannt werden, so daß manche sich nicht scheuten, die Opposition um der Opposition willen zu bejahen. Der vom Recht her ermöglichte und geregelte Antagonismus wurde von der politischen Wissenschaft aber als immerwährend 41 Es handelt sich um „Sandys' Motion", in: History and Proceedings of the House of Commons from the Restauration to the Present Times. London 1742 ff., Bd. 12, S. 65-121; vgl. Cobbett, Parliamentary History, XI, 1230, 1284; Sandys und Pitt wiesen besonders auf die Stimme des Volkes hin, der gehorcht werden müsse; vgl. Anecdotes of the Life of William Pitt... with his Speeches in Parliament 1738-1778. 5. Aufl. London 1795, Bd. 1, S. 72; vgl. allgemein: Laprade (Anm. 13); Stevens (Anm. 23); G. R. Taylor, Robert Walpole and his Age, London 1931. 42 Hatschek (Anm. 2), S. 709 ff. 43 Redlich (Anm. 2), S. 410 ff., 589.
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und notwendig begründet, das parlamentarische Getriebe, also jene perpetuierte Prozeßlage, als Ausfluß der Natur des Menschen und der Politik überhaupt aufgefaßt 44. Die populäre Literatur der Zeit bevorzugte entsprechend den gewandelten Interessen moralphilosophische Argumente, zumal der rechtliche und soziale Zustand nicht in Frage stand, wohl aber die Menschen, die mit Politik und Verantwortung betraut waren. Gerade indem die geisteswissenschaftliche Interpretation über die übliche Prozeßform hinausging, die immer nur den Einzelfall im Auge hatte, wurde die Politik der parlamentarischen Opposition als allgemeiner Ausdruck des Mißtrauens gegen die Menschen an der Macht überhaupt aufgefaßt. Dadurch gelangte sie zu einer Taktik, die nicht über die vorgesehenen Rechtsformen wie „Act of Attainder" oder „Impeachment" - also durch Nachweis eines einzelnen Vergehens - den Minister zu stürzen versuchte, sondern im Hinblick auf die öffentliche Meinung und auf zu lange Amtsdauer. Erst die moralphilosophische Anschauung der von oben einsetzenden Korruption bahnte somit den Weg zu parlamentarischen Gepflogenheiten, denen zufolge ein Ministersturz nicht durch formelles Gerichtsverfahren, sondern durch einfache Abstimmung möglich sein sollte. Das aber lag in Richtung auf den Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts. Die esoterischen Regeln der Geschäftsordnung an sich hätten auch kaum jemals das Verständnis der öffentlichen Meinung finden können; wohl aber fand diese leicht Zugang und Verständnis für eine Argumentation, die dem Zeitalter geläufig war, da die Uberzeugung von der Degeneration von oben nach unten einen Bestandteil der damaligen öffentlichen Meinung bildete. Die permanente Kritik der Opposition an der Regierung konnte der Zustimmung der Öffentlichkeit durchweg sicher sein. Aus der zeitgenössischen Reflexion über Recht und Naturrecht sowie aus den anerkannten Verfahren des Common Law wuchs der parlamentarischen Minderheit zudem noch eine weitere Stütze zu, insofern der wichtigste formale Grundsatz des Naturrechts, nämlich daß niemand Richter in eigener Sache sein dürfe, das zentrale Konstruktionsprinzip aller englischen Staatstheorien, Verfassungsprojekte und Moralphilosophien von Milton über Harrington bis Locke, Hume und Adam Smith war 45 . Danach ist jeder ein schlechter Richter in eigener Sache, aber ein um so 44 Vgl. W. G. Hamilton, Parliamentary Logick (1758), London 1808; J. Bentham, Essay on Political Tactics, in: Works. Edinburgh 1843, Bd. 2, S. 361 ff.; C. Strateman, The Liverpool Tractate. An 18 th Century Manual on the Procedures etc., New York 1937. 45 Bei Milton etwa konstituiert sich das Gemeinwesen aus dem Bedürfnis nach einem unparteiischen Richter; vgl. „The Tenure of Kings and Magistrates", in: Prose Works (hrsg. von Bohn), Bd. 2, S. 9 - 1 0 . Das Fehlen eines unparteiischen Richters ist bei Locke das Wesentliche des Naturzustandes; siehe F. Pollock: Essays in the Law (Anm. 28), S. 89, 94; ders History of the Science of Politics (Anm. 28), S. 71. Der unparteiische, uninteressierte Zuschauer ist in der gesamten englischen Moralphilosophie die entscheidende Instanz der moralischen Wertfindung, gewissermaßen die englische Form des apriori, die bei Hume, Hutcheson, Ferguson, Wollaston, Adam Smith, John Stuart Mill und überhaupt bei allen, denen Sympathie und Selbstliebe die psychologischen Grundformen des moralischen Urteils waren, zu finden ist. Bei der Suche nach einem gültigen Maßstab diente die Idee des unbeteiligten
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besserer in der Sache des anderen. Jedermann achtet beim nächsten, aber nicht bei sich selbst, daß das Gesetz der Vernunft und des Allgemeinen befolgt wird. Erst die abseits und gegen die Regierung agierende Gruppe findet die nötige Distanz zur Politik der Regierung und erscheint als der „uninteressierte Zuschauer", der jene Urteilsweise verwirklicht, die in der Anwendung auf andere bei allen Menschen eines Gemeinwesens als identisch angenommen wurde. Damit gab sich die außerhalb der Regierung stehende Gruppe eine zusätzliche, aus dem Naturrecht begründbare Würde, eine moralische Autorität, die sie im parlamentarischen Leben als die Stimme des allgemeinen nationalen Anliegens, als „national party", als „the Sense of the nation" (Bolingbroke) erscheinen ließ. Alle diese Gedankengänge haben zwar keineswegs den englischen Parlamentarismus geschaffen; sie haben ihn nur kommentiert und mit einer politischen Theorie umgeben. Sie haben auch nicht die Verfahrensregeln verändert, wohl aber gemeinverständlich aus Ideen und Vorstellungen der Zeit interpretiert. Ja, sie haben zur Stilisierung der Auseinandersetzungen und zur begrifflichen Ausformung der Gegensätze wichtige Züge beigetragen und spätere Zustände kommentierend vorweggenommen. In gewisser Weise ging hier die überkommene Geschäftsordnung durch das reinigende und humanisierende Medium der Aufklärung, die ihr tiefere Bedeutung und zusätzliche ideelle Momente verlieh. Uber den negativen Schutz des Parlamentsrechts hinaus wurde der geregelte Konflikt als Weg der nationalen Selbstläuterung verstanden, als Vorbedingung für die freiheitliche Gestaltung des Staatswesens und als Mittel zur Objektivierung der Politik auf ihren sachlichen Gehalt hin. Das war mehr, als im Parlamentsrecht selbst angelegt war. Die geistesgeschichtliche Erhöhung und Verallgemeinerung des parlamentarischen Widerspiels gab dem englischen Parlamentarismus erst gültigen und europäischen Rang. Die Auseinanderfaltung des nationalen Wesens in eine wechselseitig sich korrigierende, ergänzende und kontrollierende Zweiheit erschien als Ursache und Folge der politischen Freiheit. Der englische Parlamentarismus war das glückliche Ergebnis des Zusammentreffens einer innerparlamentarischen Rechtstradition mit der Hochzeit des europäischen Geistes. Indem die Aufklärung die Gegensätze auf menschliche Verhältnisse und Eigenschaften zurückführte und ihr Ausgleich als wechselseitige Erziehung, Belehrung und Korrektur angesehen wurde, entstand erst jene pädagogische Provinz, jenes öffentliche Medium eines politischen Humanismus, das Parlament, in welchem sich die kollektive politische Weisheit der Nation mit Ergebnissen ihrer bedeutenden Geistesgeschichte vereinigte. Die weltanschaulich-religiöse Zuschauers bzw. des unparteiischen Richters als Mittel zur Begründung einer allgemeingültigen empirischen Moral. Vgl. Kurt Kluxen, Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung, in: Aus Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Gerhard Kallen, Bonn 1957, S. 234ff.; vgl in diesem Band, S. 153 ff.; J. M. Guyau: Die englische Ethik der Gegenwart, Leipzig 1914, S. 112; Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, S. 425, 426; vgl. auch Harrington, Oceana (Anm. 26), S. 509; Bolingbroke, Works (Anm. 38), Bd. 5, S. 116, 338.
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Spaltung als Ergebnis des 17. Jahrhunderts wurde aus der geistesgeschichtlichen Einheit des 18. Jahrhunderts in jener „Einheit in der Vielfalt" des 19. Jahrhunderts aufgehoben, die das Wesen und Leben des modernen englischen Parlamentarismus ausmacht.
Die Umformung des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien beim Übergang zur Massendemokratie Der Wandel des britischen Parlamentssystems im 19. Jahrhundert ist durch die großen Wahlrechtsreformen der Jahre 1832, 1867 und 1884 sowie durch die Ballot Act von 1872 und die neue Wahlkreiseinteilung von 1885 nur äußerlich markiert. In Wirklichkeit handelte es sich um den Übergang vom parlamentarischen Regierungssystem zur plebiszitär bewegten, parlamentarisch bestimmten und parteienstaatlich sich organisierenden Massendemokratie, der den Funktionszusammenhang der überlieferten Herrschaftsordnung aufs tiefste veränderte und sich auf alle Bereiche des politischen Lebens auswirkte. Der Parlamentarismus am Ende des Jahrhunderts sah anders aus als der Parlamentarismus am Anfang des Jahrhunderts, ohne daß man einem von beiden die Bezeichnung „Parlamentarismus" verweigern könnte. Der Wandel vollzog sich ohne größere revolutionäre Erschütterung, obgleich hinter ihm die gewaltigen Triebkräfte einer sozialen und industriellen Revolution standen; er stellt eine der erstaunlichsten Leistungen des Jahrhunderts dar. Mit dem Aufkommen einer in Bewegung geratenen, sich industrialisierenden Gesellschaft schwanden die politischen, sozialen, ökonomischen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für ein „Government by Talk" oder „Control of Government by Talk", das heißt für öffentliche, freie, repräsentative Diskussion im Parlament, die weder bestimmenden Einfluß von außen noch Beschneidung des Diskussionsrechts zuließ, zusehends dahin. Eine Entstellung der traditionellen Regierungsweise wurde bereits durch das Anschwellen der gesetzgeberischen Geschäfte im Parlament, durch den deswegen erforderlichen Machtzuwachs der Regierung und die Entstehung eines Civil Service, durch das verstärkte Hineinspielen einer öffentlichen Meinung und die Ausbildung neuartiger öffentlicher Aktionsformen eingeleitet und nötigte zu Änderungen der innerparlamentarischen Struktur. Nach 1867 wurde diese Entwicklung durch das wachsende Gewicht der Wahlentscheidungen, durch die Entstehung parteilicher Massenorganisationen und die Verschärfung der Parteidisziplin, durch den Autoritätsverlust der einzelnen Abgeordneten und die Verlagerung der Führungskämpfe in die Parteien selbst in eine Richtung weitergetrieben, die das Verhältnis des Parlaments zur Wählerschaft und Öffentlichkeit grundlegend veränderte. Der berühmte Wahlsieg der „Birmingham Liberal Association" im Jahre 1868 war der erste große Erfolg einer gezielten Lenkung der Wählerschaft durch einen engmaschig organisierten regionalen Parteiapparat, der die Heraufkunft der partei-
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enstaatlichen Massendemokratie ankündigte. Dieser „Caucus" von Birmingham war aber nicht, wie es den Zeitgenossen erschien, eine abrupte Neuerung, sondern das Endergebnis einer langen Entwicklung, aus der diesmal allerdings - und das war das Neue - parteipolitische Folgerungen gezogen wurden 1. Er war Indikation eines neuen Zustandes, nämlich der unmittelbaren Verknüpfung von Wählerschaft, Kandidat und parteilichem Lenkungsapparat. Das Beispiel Birminghams und die Ereignisse der Wahlen von 1868 und 1874 gaben den Anstoß für den Ausbau der außerparlamentarischen Parteiapparate, mit denen der Weg zur parteienstaatlichen Massendemokratie eingeschlagen wurde. Allerdings war die Ausbildung dieser Massenorganisation weder der Leitfaden der bisherigen noch der Schlüssel der ferneren Parteiengeschichte. Ihre Begrenztheit und episodische Wirkung lenkt den Blick vielmehr auf mancherlei andere Kräfte, deren Hineinspielen im Wirkungszusammenhang jenes allgemeinen Strukturwandels die effektive Selbstbehauptung des britischen Parlamentarismus im Zeitalter der Massen erst erklärlich macht. Eine Integration heterogener Tendenzen, die ursprünglich verschiedenen Zielen zustrebten und erst nachträglich auf ein Gesamtergebnis hinliefen, das niemand vorausplanen konnte und lediglich in jener viktorianischen Mentalität aus Moralismus und Utilitarismus, Respektabilität und Geschäftssinn ein ihm förderliches allgemeines Medium vorfinden mochte, brachte jenen Gesamtwandel des Systems hervor, bei dem die parteilichen Massenapparate eine wichtige, aber durchaus nicht allein maßgebende oder ausschlaggebende Rolle spielten. Die in ihnen hervortretende Tendenz wurde durch eine Kombination anderer Faktoren abgedämmt und umgeprägt, die nicht weniger Beachtung verdienen. Der langwierige und krisenhafte zwanzigjährige Anpassungsprozeß, der nach der Zerstörung der alten Verfassungsbalance (1832) durch die politisch-sozialen Massenbewegungen, durch den Kampf zwischen Established Church und Dissent, durch die zeitweilige Absonderung der Arbeiterklasse, durch die Desillusionierung der Mittelklasse und dgl. mehr gekennzeichnet war und in das vorläufige Gleichgewicht von 1852 einmündete, sei hier beiseite gelassen2. Lediglich einige verfassungsgeschichtlich entscheidende Schritte auf die parlamentarisch ausgerichtete, parteienstaatliche Massendemokratie in England seien ins Blickfeld gerückt, denen 1 Vgl. zur Kritik früherer Interpretationen etwa: Asa Briggs, History of Birmingham. London 1952, 2, Kap. 6; John Vincent, The Formation of the Liberal Party, 1857-1868. London 1966, S. 82 f.; H. J. Hanham, Elections and Party Management: Politics in the Time of Disraeli and Gladstone. London 1959; G. Kitson Clark, The Making of Victorian England. London 1962; R. Barkeley, Die Entwicklung und Stellung der politischen Parteien im englischen Verfassungsrecht, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 5 (1956), S. 221 ff., bes. S. 225 ff.; F. H. Herrick, The Origins of the National Liberal Federation, in: Journal of Modern History 17 (1945), S. 116 ff.; Trygve R. Tholfsen, The Origins of the Birmingham Caucus, in: Historical Journal 2 (1959), S. 161 ff.; vgl. auch Sir Ivor Jennings, Party Politics, Bd. 1, Appeal to the People, Cambridge 1960, S. 68, 198 f.; siehe zu Jennings die wichtige Besprechung von D. Beates, in: Historical Journal 5 (1962), S. 191 ff. 2 Vgl. dazu: Norman Gash, Reaction and Reconstruction in English Politics, 1832- 1852. London 1965.
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gegenüber aber die treibenden Kräfte des religiösen, sozialen, geistigen und politischen Lebens nicht übersehen werden dürfen.
1. Der britische Parlamentarismus nach 1832 Die bürgerliche Reform von 1832 beseitigte zwar das politische Monopol der grundbesitzenden Aristokratie und verlagerte das wahlpolitische Schwergewicht vom landwirtschaftlichen Süden auf den industriellen Norden; aber die Masse des Volkes, das mittlere Bürgertum und die Arbeiterschaft, blieben vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das Wahlrecht dehnte sich auf die Inhaber des beweglichen Besitzes statt nur des Realbesitzes aus. An eine Demokratisierung des Wahlrechts oder gar dessen Deklaration als allgemeines Bürgerrecht war nicht gedacht. Die Zulassung bürgerlicher Schichten ergab sich weniger aus der Ausdehnung des Wahlrechts als aus der Neuverteilung der Mandate und der Wahlkreise. Der Sinn der zeitweiligen Solidarität von Bürgertum und Arbeiterschaft in der Reformbewegung richtete sich auf eine Verminderung der Wahlmacht der Aristokratie. Erreicht wurde der Zutritt der plutokratischen Oberklasse zum Unterhaus. Die Nominationsmandate nahmen zwar ab, aber die Handhabung der Wahlen blieb oligarchisch; die bisherige Patronage blieb vielfach in Form wirtschaftlicher Abhängigkeit bestehen, zumal der Wahlgang öffentlich war. Die Kandidaten präsentierten sich in der Regel selbst oder wurden von den Honoratiorenklubs der Wahlkreise empfohlen. Die Boroughs und Counties unterlagen dem Einfluß des Großgrundbesitzers und der Gentry, wobei als neues Element die Klasse der Fabrikanten sich hinzugesellte. Die Oligarchisierung der Stadtverfassungen und die Einschränkung einiger weitgehender Wahlgerechtsame (Westminster, Preston) stärkten sogar noch das plutokratische und aristokratische Element3. Die Wahlkosten und Verpflichtungen der Abgeordneten erlaubten ohnehin nur unabhängigen Persönlichkeiten den Eintritt ins Parlament; die Selektionsweise begünstigte ausschließlich Vertreter der staatspolitisch herrschenden Klassen für Westminster. Beides lähmte den Wettbewerb um die Parlamentssitze. Von 1832 bis 1867 verkörperte das Unterhaus die plutokratischen Schichten adeliger und bürgerlicher Herkunft, also die gesellschaftliche Elite und die wirtschaftliche Macht; es blieb von der nichtadeligen und nichtplutokratischen Wählerschicht weitgehend unabhängig. Die Vertreter waren zwar weiterhin Exponenten ihres Bezirks, erschienen aber auch als Verkörperung des geistig-moralischen und wirtschaftlichen Standards der Nation. Die Führung blieb im wesentlichen in Händen der gesellschaftlichen Oberschicht und der herrschaftsgewohnten Klassen, während eigentliche Mittelstands Vertreter fehlten. Selbst Handel und Industrie waren nicht ihrer Bedeutung nach vertreten; der soziale Habitus wurde stärkstens vom Adel bestimmt. Erst um 1867 überwog ein3 Vgl. Sir Ivor Jennings (Anm. 1), Bd. 1, S. 26: „The first Reform Act greatly increased the influence of landowners". Erst die Reformakte von 1884 und die Redistribution Act von 1885 zerstörten vollends den „influence" der Landlords und Tenants.
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deutig die kapitalistische Provenienz, wobei der Adel sich wie bisher auf beide Parteien verteilte 4. In dieser elitären Versammlung waren Adel und Reichtum maßgebender als die Parteiorganisation; das Land sah auf zum Unterhaus. Zudem war die Spezialisierung der Gesetzgebung noch nicht so weit fortgeschritten, daß sie das Entscheidungsvermögen der Abgeordneten überstiegen hätte. Kein ebenbürtiger Partner stand dem Unterhaus zur Seite. Seine Suprematie gegenüber Krone, Regierung, Oberhaus und auch gegenüber den Wahlkörperschaften beruhte darauf, daß das Parlament der staatsorganisatorische Ausdruck der sozialen Macht der führenden Schichten war, mit deren repräsentativer Selbstherrlichkeit kein Konkurrent sich messen konnte. Nach dem Abebben der außerparlamentarischen Agitationskampagnen der Reformbewegung und des Chartismus, besonders aber nach der Zerstörung der bisherigen parteipolitischen Perspektiven der Nation5 durch Sir Robert Peel (1846) vollendete sich die Unabhängigkeit der einzelnen Abgeordneten. 1850 bis 1860 verminderten sich die parteisolidarischen Voten, so daß der Ausgang der Debatten unvorhersehbar war und das Parlament als deliberierende Versammlung seine souveränen Entscheidungen zu fällen schien. Die hier repräsentierten Schichten betrachteten sich als die genuinen Exponenten des nationalen Kollektivbewußtseins und waren es auch. Das Unterhaus war kein Abbild des Volkes als Summe aller Schichten, sondern Repräsentant der bestimmenden gesellschaftlichen Kräfte. Das war die soziologische Voraussetzung für die parlamentarische Souveränität, der gegenüber die Regierung lediglich als erstes Komitee des Hauses erschien. Der politische Entscheidungsprozeß hatte sich im Parlament konzentriert. Die Abgeordneten folgten meist den anerkannten Führern, ohne dazu verbindlich verpflichtet zu sein. Selbst die Whigs konnten nicht verhindern, daß aus den eigenen Parteigruppen immer ein Teil und nie weniger als 10 Prozent in die Oppositionslobbies gingen6. Sie spielten überhaupt keine disziplinierende Rolle. Sie waren lediglich beratend tätig oder überbrachten den Führern die Meinungen der Abgeordneten. Sie schätzten die zu erwartenden Abstimmungsergebnisse ab, konnten aber weder dem Führer noch dem einzelnen Abgeordneten vorschreiben, welche Politik zu machen sei. Jederzeit war eine Regierungsniederlage durch die eigenen Anhänger möglich, was früher und später nicht mehr der Fall war. Soweit von Parteifraktionen zu sprechen war, betrachteten die Führer sie als ihre Werkzeuge, ohne auf den Gedanken zu kommen, ihrerseits Werkzeuge der Parteipolitik sein zu müs4 Siehe K. Loewenstein, Zur Soziologie der Parlamentarischen Repräsentation in England nach der Großen Reform. Das Zeitalter der Parlamentssouveränität (1832-1867), in: Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 65 ff., S. I l l ff. 5 Vgl. W. O. Aydelotte, Voting Patterns in the British House of Commons in the 1840ies, in: Comparative Studies in Society and History 5 (Januar 1963), wonach 1841 -1847 die parteiliche Solidarität in den Grundanliegen deutlicher sich zeigte, als im allgemeinen zugegeben wird. 6 Ivor Bulmer-Thomas, S. 102.
The Growth of the British Party System. Bd. 1, London 1965,
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sen. Die Parteiengeschichte der Epoche war vorwiegend Personengeschichte. Bei der dominierenden Stellung einzelner erprobter Führer und den wechselnden Koalitionen verschiedener Gruppen und Gefolgschaften blieben die Grenzen zwischen den Parteien fließend 7; lediglich die Radikalen waren stets als abgesonderte Gruppe identifizierbar. Eine allgemeine Stagnation des politischen Betriebs im Parlament setzte ein. Selbst der Wettbewerb um die Parlamentssitze hatte nachgelassen, und eigentliche „Contests" in den Wahlbezirken waren immer noch bis 1885 die Ausnahme8. Die Macht des Unterhauses zeigte sich darin, daß sein Verdikt stets von der Wählerschaft bestätigt wurde. Sie zeigte sich auch darin, daß das Unterhaus sich 1858 gegen die Regierung Palmerston entschied trotz ihres Wahlsieges im Jahre vorher. Die Macht der Debatte erschien ausschlaggebend. Im Jahre 1859 erklärte Premierminister Derby sogar, daß die Tage des Zweiparteiensystems, in welchem die Parteiführer ihre Anhänger kontrollierten, vorbei wären und wohl nie wiederkehren würden 9. Erst als die wirtschaftliche Prosperität das Wahlrecht zunehmend erweiterte und mit der anhaltenden industriellen und kommerziellen Entwicklung der soziologische Gehalt über die plutokratisch-aristokratisch bestimmte Form hinauswuchs und andere Aktionsformen sich neben der autonomen Versammlung empordrängten, mußte sich die zeitweilige Suprematie des Parlaments, die „goldene Zeit" des britischen Parlamentarismus, als Übergangserscheinung herausstellen. Das Parlament öffnete dazu selbst den Weg, als mit der neuen Wahlrechtsausdehnung von 1867 mit einem Schlag ein neues Element wirksam wurde und sich die Souveränität ihrer politischen Wirkung nach auf die Wählerschaft verlagerte. Bis dahin galt die Unterordnung unter die geistige und soziale Überlegenheit der Repräsentanten, die mit dem „Trust" auf allgemeine Wohlfahrt hin betraut waren, als angemessener Ausdruck einer zweckmäßig aufgebauten Demokratie, deren selbstherrliches Repräsentationssystem der funktionalen Vollendbarkeit der staatlichen Willensbildung dienen sollte. 7 Schon nach den Wahlen von 1830 war das Bild so verworren, daß sich Regierung und Opposition nicht einigen konnten, wer gesiegt und wer verloren hatte. Vgl. R.T. McKenzie, Politische Parteien in England. Köln, Opladen 1961, S. 11; dagegen unterschieden sich deutlicher Konservative und Reformer als Parteigruppen. Vgl. Norman Gash, Reaction and Reconstruction in English Politics, 1832-1852. London 1965, S. 122 f. Eine Desintegration der Parteipolitik wurde nach 1850 offensichtlich. 8 Nach Bulmer-Thomas (Anm. 6), S. 83. Selbst in Birmingham, wo ein wesentlicher Teil der höheren Mittelklasse konservativ war, wurden die liberalen Kandidaten 1852, 1857 und 1865 ohne Opposition ins Unterhaus gewählt. Vgl. Trygve R. Tholfsen, The Origins of the Birmingham Caucus, in: Historical Journal 2 (1959), S. 275. Noch 1906 blieben 30% der konservativen Kandidaten in England, Wales und Schottland ohne liberalen Gegenkandidaten. Vgl. Norman Gash, Politics in the Age of Peel. London 1953, S. 440f.; H.J. Hanham, Elections and Party Management. London 1959, S. 379 ff. 9 Hansard, Parliamentary Debates, 3. Serie, Bd. 153, Sp. 1268; Vgl. Gerhard Α. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Tübingen 1962, S. 15.
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2. Die Änderung der parlamentarischen Geschäftsordnung Der Übergang zur industriellen Massengesellschaft und die damit zusammenhängende Vermehrung und Komplizierung der Gesetzgebung veränderte die Arbeitsweise und Arbeitsmaterie des Unterhauses erheblich. Im einzelnen waren die Änderungen der Verfahrensweisen mehr oder minder furchtsame Verlegenheitslösungen; im ganzen gesehen aber bedeuteten sie eine Revolutionierung der alten Grundlagen des Parlaments. Bisher diente die Geschäftsordnung im wesentlichen dem Schutz der Minderheiten und gab jedem Parlamentsmitglied die gleichen Rechte wie den Ministern - ausgenommen das Initiativrecht der Regierung in Steuerfragen. Am Beginn des Jahrhunderts war das Unterhaus noch das große Rügegericht der Nation; das Beschwerderecht (grievances before supply) sowie das Präsentationsrecht von Petitionen waren bestimmend für den Geschäftsgang. Aber um 1900 war das Unterhaus ein von der Regierung kontrolliertes Werkzeug der Gesetzgebung geworden, bei der die Initiativrechte der „Private Members" zur Bedeutungslosigkeit reduziert waren. Diese Entwicklung setzte schon vor 1832 ein, als durch das Hinzukommen von 100 Iren (1800), die Ausdehnung der Diskussionen angesichts ihrer Publikation und die notwendige Verkürzung der Sessionen, da die Iren erst nach Weihnachten kamen und die Engländer nicht über den Mittsommer hinaus in Westminster bleiben wollten, der Arbeits- und Zeitdruck zur ersten Einrichtung von „Order Days" (1808) und dann häufig zur vorbereitenden Einführung der „public bills" durch die Minister nötigte, was schon eine Unterscheidung der offiziellen Regierungs- und privaten Abgeordnetengeschäfte in sich Schloß. Aber erst das neue Parlament von 1832 und die vorher und nachher einlaufende Menge der Petitionen, Adressen und „notices" zwangen zur stärkeren Einschränkung der privaten Aktionen zugunsten der Regierungsgeschäfte. Dies führte zur regelmäßigen Vorbereitung und Einbringung der Gesetze (Public Bills) durch die Minister seit 1838, zum Verbot der parlamentarischen Petitionen (1839), zur Unterscheidung von „Order Days" für „Private Members" (Mittwoch), von „Government Order Days" (Montag und Freitag) und „Notice Days" (Dienstag und Donnerstag; 1835), zum Verbot der bis dahin statthaften beliebigen „Amendments" zu einzelnen Punkten der Tagesordnung, die, da sie in keinem notwendigen Zusammenhang mit dem Gegenstand der Tagesordnung stehen mußten, für das „Private Member" eine oft genutzte Gelegenheit zur Entfachung politischer Diskussionen bedeutet hatten (1837). Seit 1849 blieb das „Amendment" vor dem Beschluß zum Eintritt in die Budgetberatung, das auf der alten Doktrin des „grievances before supply" beruhte, eine der wenigen Möglichkeiten für das „Private Member", eine Diskussion an „Government Order Days" zu entfachen. Damit schoben sich die Regierungsgeschäfte in den Vordergrund, wenn auch die drei den „Private Members" zugestandenen Tage ihre beginnende Inferiorität lange verbargen 10. 10 Vgl. hierzu Peter Fraser, The Growth of Ministerial Control in the Nineteenth-Century House of Commons, in: English Historical Review 75 (1960), S. 444 ff., bes. 451 ff. Fraser
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Die Standing Orders von 1852/53 statuierten den Vorrang der Regierungsvorlagen und bauten aus dem Zwang zur Arbeitsökonomie wichtige Elemente des überlieferten prozessualen Verfahrens ab. Sie legten eine verbindliche Aufteilung des Geschäftsgangs auf die Woche und die Tagesordnung zugunsten der Regierung fest. Aus dem Drang der Regierungsgeschäfte und bald auch im Bunde mit dem Sachverstand des „Civil Service" gewann die Regierung eine wichtige Initiative, zumal selbst die Budgetdebatten immer weniger ein ernsthaftes Mittel zur sachgerechten Bestimmung der Bedürfnisse wurden, da die Kritik meist nicht die Finanzaspekte, sondern die Amtsführung des Ministers berührte, deren Angemessenheit zunehmend vom Civil Service gesichert wurde. Aber erst die sachliche und technische Obstruktion der irischen Nationalistengruppe unter Charles Stewart Parnell 1880/81 durch lange Debatten und mehr noch durch zahllose „dilatory Motions", „Questions" und „Amendments" nötigten zu einer unfreiwilligen Totalreform der Geschäftsordnung des Unterhauses. Die Macht des Speakers, dilatorische Vertagungsanträge abzuweisen und Rednern wegen Argumentenwiederholung das Wort zu entziehen, wurde durch die von ihm frei initiierte „Closure" beträchtlich erweitert, mit der er sich die Möglichkeit auf Schluß der Debatte, wenn eine Mehrheit von mindestens 100 Abgeordneten zustimmte, aneignete. Die Abwürgung der Debatte durch den Speaker war eine Revolution, die mit der permanenten Einführung der „Closure" 1882 Parlamentsrecht wurde 11 . Als die Einschränkung der Debatte auf Antrag und der regelmäßige Debattenschluß der Majorität noch keinen ausreichenden Schutz gegen sachliche Obstruktion boten, trat im Jahre 1887 die „Guillotine" (time limit) hinzu, die praktisch die widerspruchslose Durchsetzung des Majoritätswillens bedeutete. Die methodische Obstruktion der irischen Home-Rule-Gruppe hatte eine Veränderung herbeigenötigt, die der geschichtlich gewordenen parlamentarischen Regierungsweise und dem ursprünglichen Sinn der Geschäftsordnung widersprach. Statt der Anregung und Stärkung des Redestromes erfolgte dessen Kürzung. Genauso einschneidend war freilich auch die Errichtung von „Standing Committees" zur Entlastung des Unterhauses, dann die Abkürzung der Budgetdebatten seit 1896 (Balfour) und schließlich, als Abschluß der Reform der Geschäftsordnung, die „Parliamentary Railway Timetable" der Regierung vom Jahre 1902. Anlaß zu dem entscheidenden Stoß gaben die Iren; aber eine dahinterstehende Triebkraft waren die Arbeitsüberlastung des Unterhauses und die Ausdehnung und Spezialisierung der Regierungsgeschäfte. Die parlamentarische Initiative der einzelnen Abgeordhebt gegenüber dem klassischen Werk Josef Redlichs, Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus. Die Geschäftsordnung des House of Commons in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1905, die Bedeutung der unmittelbar an die Reform von 1832 anschließenden Phase für die Umbildung der parlamentarischen Geschäftsordnung hervor, während Redlich überbetonend die zwischen 1872 und 1902 unter Gladstone und Balfour neu eingeführten Standing Orders als entscheidend für die Anpassung der Geschäftsordnung an die Erfordernisse des Parlamentarismus im Zeitalter der Massendemokratie ansah. h Hansard, Parliamentary Debates, 3. Serie, Bd. 275, S. 142 (27. 11. 1882). 13 Kluxen
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neten hatte hinter den gesetzgeberischen Notwendigkeiten zurückzutreten. Die Anerkennung dieser „Rules of Urgency" war eine innerparlamentarische Revolution 12 . Im Jahre 1902 war die Geschäftsordnung ein Rüstzeug des Ministeriums geworden und waren die Befugnisse der Regierung bis zu der Grenze vorgetrieben, die für die Macht des Hauses zu Kritik und Kontrolle gerade noch erträglich war. Vor allem führte die inzwischen deutlich gewordene plebiszitäre Legitimation der Regierung zu prinzipieller Anerkennung ihres Initiativmonopols. Gerade ein Parteiführer wie Joseph Chamberlain setzte das Haus mit der Majorität des Hauses gleich; nach ihm waren Wahlen und Repräsentationssystem eine Farce, wenn die Mehrheit der Wählerschaft die Regierung wählte und die Minderheit des Hauses sie hindern konnte zu regieren 13. Diese Majorität drängte zur Beschleunigung der Regierungsgeschäfte und zur Beschränkung der Kontrollrechte der Private Members , deren Privilegien gelegentlich als „parliamentary cant" desavouiert wurden. Die Minderung des Status des unabhängigen Abgeordneten entsprach völlig den Tendenzen der erstarkenden Parteidisziplin und die Vermehrung der innerparlamentarischen Machtmittel der Regierung ihrer plebiszitären Legitimation seit 1867. Die Stärkung der disziplinären und administrativen Gewalt des Speakers, die Ausdehnung der Regierungsrechte über die parlamentarischen Verfahrensweisen und die Zurückdrängung der Private Members entstammten keiner Planung und auch nicht unmittelbar der neugewonnenen Rolle der Wählerschaft, sondern ergaben sich zuerst aus dem vermehrten und neuartigen Aufgabenbereich, und dann aus dem irischen Zwischenspiel. Die Tendenz dazu machte sich schon vor 1832 bemerkbar. Aber die Bildung der parteilichen Massenorganisationen und der plebiszitäre Charakter der Wahlen seit 1867 hat diese Entwicklung unterstrichen und nachträglich legitimiert, wobei die „Grievances" schließlich Sache der Oppositionspartei wurden. Die Vereinigung aller Machtelemente im Unterhaus und deren Übertragung auf die Regierung als des Vertrauensorgans der Wählerschaft und die Beschränkung der anderen Kräfte auf Widerstandsrechte, vorwiegend in Form der parlamentarischen Opposition, schob die volle Regierungsverantwortung auf die Mehrheitspartei, wobei die Geschäftsordnung ein technisches Instrument des Regierens wurde. Die Umgestaltung des Parlamentsverfahrens paßte sich unbeabsichtigt in das ausreifende System der parlamentarischen Parteiregierung ein. Das dem positiven englischen Staatsrecht unbekannte Kabinett, das formalrechtlich ein Sonderausschuß des königlichen Privy Council war und an sich keine bestimmte rechtliche Stellung im Hause hatte, wurde zur Führungsmannschaft der Mehrheitspartei, die als Träger des Wählerwillens das autonome Recht des Unterhauses ihren Zwecken dienstbar machte. Über dem Kabinett aber stand schließlich der Premier, 12 Vgl. J. Redlich, Recht und Technik des englischen Parlamentarismus. Leipzig 1905, S. 182 f., 215 f.; Lord Lampion, An Introduction to the Procedure of the House of Commons. 3. Aufl. London 1958, S. 36 ff.; ferner ders., Parliamentary Procedure, Old and New, in: Parliament, A Survey. London 1952, S. 141 ff. 13 Peter Fraser, The Growth of Ministerial Control in the Nineteenth-Century House of Commons, in: English Historical Review 75 (1960), S. 462.
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zugleich Leiter der Geschäfte des ganzen Hauses, Führer der Majoritätspartei und oberster Ratgeber der Krone, in dessen Händen das parlamentarische Verfahren vom Bollwerk gegen Krone und Regierung zu einem Machtmittel des parlamentarischen Ministeriums wurde 14 .
3. Der Aufbau des Civil Service Ein wichtiges Moment für die Überwindung des lokalpolitischen Regionalismus und die Nationalisierung der politischen Anliegen war neben den gleichgerichteten Tendenzen in Wirtschaft, Industrialismus, Bevölkerungsbewegung, Verkehrswesen und Marktbildung die Entstehung einer parteineutralen staatlichen Bürokratie. Sie ergab sich notwendig aus der Ausdehnung und Komplizierung der Gesetzgebung, die ihrerseits durch das Ausmaß der sozialen und wirtschaftlichen Probleme mit allen ihren Begleiterscheinungen bedingt war. Der Anstoß dazu kam aus den humanitären Bewegungen und dann von den Chartisten, die die sozialen Mißstände anprangerten und das Augenmerk auf die Probleme des Massenindustrialismus hinlenkten. Die alte Form der Gesetzgebung, die ohnehin durch den Einfluß von Gegeninteressen oder den überlieferten Rechtszustand immer nur abgeschwächte Maßnahmen vorsah, vermochte wenig zu ändern, solange die bisher dafür verantwortlichen behördlichen und richterlichen Organe damit betraut waren. Nur Sonderbeauftragte konnten die neuen Regulierungen durchsetzen, deren Erfahrungsberichte naturgemäß „Amendments" verlangten, wobei erst eine zentrale einheitliche Lenkung der Kontrollmaßnahmen den dazu erforderlichen Überblick verschaffen konnte. Die Natur dieser neuen sozialen, persönlichen oder wirtschaftlichen Probleme forderte zudem ein Maß an diskretionärer Gewalt und Vorbildung, das einen überregionalen, fachlich ausgebildeten Civil Service unausweichlich machte. Darin lag die Tendenz zu einer „administrative or governmental revolution" 1 5 , die sich seit 1825 bis 1875 durchsetzte und die alte Form der Patronage oder der Ernennung von Amtsträgern durch die Minister ersetzte. Die „Civil Service Commission" von 1855, nach dem Northcote-Trevelyan-Bericht gebildet, prüfte nunmehr die vorgeschlagenen Kandidaten; seit 1870 rekrutierte sich der Civil Service endgültig durch freien Wettbewerb und Prüfungsnachweis, so daß damit eine unabhängige neutrale Bürokratie mit eigenem Sachverstand sich etabliert hatte, in welcher die exekutiven von den politischen Funktionen deutlich getrennt waren. Dieser Prozeß widersprach der Idee einer selbständig sich regulierenden Wirkungsweise der Gesetze in der Gesellschaft, der Idee der natürlichen Harmonie im freien ökonomischen Prozeß und auch dem Impuls zur Selbsthilfe in Genossenschaftswesen und Gewerkschaften. An eine bürokratische Verapparatung war aller14 Vgl. dazu ebd., Abschnitt 6, 7. 15
Oliver Mac Donagh, The Nineteenth-Century Revolution in Government: A Reappraisal, in: Historical Journal 1 (1958), S. 52-67; ferner Edward Hughes, Sir Charles Trevelyan and Civil Service Reform, 1853-1855, in: English Historical Review 64 (1949), S. 53 ff., S. 206 ff. 1
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dings nicht gedacht und die Verwaltungsreform stets mit Erziehungsreformen gekoppelt. Aber die übergreifenden Bedürfnisse der Industriegesellschaft ließen keine andere Wahl. Die Bürokratie überwand den alten „parochial mind"; ihr Ausschluß aus dem Unterhaus unterstrich ihre dienende Funktion dem Parlament gegenüber. Sie repräsentierte aber den Sachverstand, ohne den keine einschlägigen Gesetze mehr vorbereitet werden konnten. Sie diente kontinuierlich den Kabinetten, die hier ein effektives Werkzeug vorfanden, ihrerseits aber dem darin vertretenen Sachzwang unterworfen wurden. Damit verschob sich der Parteienstreit stärker von der Verwaltung außerhalb des Parlaments auf die Gesetzgebung im Parlament. Dadurch verlor der Vorrang der „Subjects of grievances" an Berechtigung, und das Parlament, bisher „the Grand Inquest of the Nation", wurde mehr ein Werkzeug der Gesetzgebung, obgleich das Unterhaus noch lange hauptsächlich als Rügegericht, und nicht als Legislative angesehen wurde. Diese Bürokratie hatte in erster Linie lediglich Ausführungsverantwortung, folgte aber im Bereich ihrer diskretionären Befugnisse einem Pragmatismus, der sich mit dem Utilitarismus Benthams und anderer in Einklang wußte und der sozialethischen Zeitstimmung entsprach. Der Civil Service entpersönlichte die lokal eingesponnenen Zusammenhänge und die alte Kohärenz der Wahlkörper, objektivierte die Regierungsmaßnahmen und vereinheitlichte die staatliche Effektivität. Dabei kam ihm jener viktorianische Zeitgeist zustatten, der in seiner Mischung von Utilität und Moralität, von Reform- und Fortschrittsglauben ein einheitliches Wertbewußtsein und allseitige Aufgeschlossenheit gefördert hatte. Diese neue Bürokratie war nicht autoritär, zumal ihr die Dignität einer Tradition abging, aber auch nicht gesellschaftsfremd, sondern eben „viktorianisch", das heißt in ihrer besonderen Mentalität Ausdruck der Epoche, die ihr Anerkennung und Förderung sicherte, aber kein eindeutiges politisches Gewicht gab. Die Verschiebung nachgeordneter Kompetenzen auf eine weisungsgebundene bürokratische Ebene diente der Stabilisierung der Regierung als Verwaltungsorgan, verwies aber das Parlament im Verhältnis zur Regierung eindringlicher auf Budget und Gesetzgebung und damit auf die eigentliche Politik. Die Regierung behielt hier durchaus eine Ausführungsverantwortung, die der Kritik unterzogen werden konnte, gewann aber dem Parlament gegenüber in erster Linie politische Verantwortung. Die Ausscheidung des Monarchen und der Beamtenschaft aus dem Kampffeld der Politik, also die Neutralisierung des staatlichen Rahmens, ermöglichte erst den reibungslosen Wechsel von Regierung und Opposition nach 1867 und damit die ungefährdete Verlagerung der Alternativentscheidung über die Regierung auf das Wahlplebiszit.
4. Parlament und Öffentlichkeit 1832-1867 Ursprünglich handelte das Parlament nach außen als Einheit; die inneren Vorgänge wie Debatten und Abstimmungen blieben geheim. Die Wand zwischen Parlament und Öffentlichkeit wurde aber schon von der Opposition gegen Walpole
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(1721 -1742) durchstoßen; später brachte die Wilkiten-Bewegung dem Unterhaus in einer Wahlrechtsfrage nach 1770 die erste Niederlage bei. Der Erfolg der Parole „ Wilkes and Liberty" bewies, daß eine erregte Öffentlichkeit auf die Parlamentsdebatten und -entscheidungen einzuwirken vermochte. Sie konnte freilich nicht den Ausgang der allgemeinen Wahlen zum Unterhaus wesentlich beeinflussen, deren Gesamtergebnis stets dem „Interest" der Regierung und der ihr liierten Gruppen zugute kam. Dank ihrer Wahlmacht appellierte die Krone nie vergeblich an die Wählerschaft. Zum erstenmal kam es anders, als im Jahre 1830 König Georg IV. starb und die Regierung Wellington das Unterhaus, wie nach dem Tode des Herrschers üblich, auflöste, in der berechtigten Hoffnung, daß die Wahlen auch jetzt zugunsten der Regierung ausgehen würden. Wellington täuschte sich: Die Wahlen fielen negativ für ihn aus. Die Niederlagen der Regierung im Parlament nötigten bald zu einer zweiten Auflösung 1831. Diesmal appellierte die Regierung an das Volk, wie der jüngere Pitt es erstmals 1784 getan hatte 16 . Das Volk war aber in eine außerordentliche Bewegung versetzt worden. Außerparlamentarische Bewegungen bedrängten das alte Repräsentativsystem und wandten sich gegen „all the natural influence of rank and property". Die Frage der Reform des Wahlrechts war „the issue", auf dem der Wahlkampf ausgetragen wurde. Uber die Neuverteilung der Sitze, die Erweiterung des Stimmrechts und die Beseitigung der korrupten Wahlpraktiken entzündete sich ein Kampf, der neben dem unumgänglichen Aufwand an Wahlgeldern eine gelenkte Agitation mit Rede- und Pressefeldzügen als Druckmittel verwendete. Anders als zur Zeit der Wilkiten bedrängte die öffentliche Unruhe jetzt den gesamten Wahlgang und entschied ihn für sich. Die irische Agitation für die Katholikenemanzipation 1823 bis 1829 hatte dafür ein erfolgreiches Vorbild gegeben. Damals hatte O'Connell den Unterhaussitz für County Clare (1828) durch einen wohlgeplanten Rede- und Werbefeldzug, gestützt auf eine Massenorganisation, gewonnen, aus dem zum erstenmal die Möglichkeit einer Verbindung von Massenorganisation und Massenagitation zur Durchsetzung politischer Ziele deutlich wurde 17 . So war auch 1830/31 im Schatten der JuliRevolution in Frankreich eine politische Erregung erzeugt worden, die den lokalen „Influence" zurückdrückte und die Kandidaten nötigte, sich in der Frage der Reform festzulegen. Das Wahlergebnis von 1831 und die bürgerliche Reform von 1832 waren Erfolge der Reformbewegung. Das neue, freilich immer noch exklusive Wahlrecht von 1832 gab den Nichtwählern größeren Einfluß als bisher 18, insofern Wahlbezirke hinzugekommen waren, die bevölkerungsreich und politisch bewegt waren. Das Erstarken einer politischen öffentlichen Meinung veranlaßte Politiker und Minister zunehmend, 16
Vgl. Sir Ivor Jennings (Anm. 1), S. 24. 17 Vgl. G. J. T. Machin, The Catholic Question in English Politics 1820 to 1830. Oxford 1964. is John Vincent, The Formation of the Liberal Party 1857-1868. London 1966, S. 104.
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sich auch außerhalb des Parlaments zu äußern. Lord Liverpool war vielleicht der letzte Minister, der - obgleich Premier für fast 15 Jahre, von 1812 bis 1827 - niemals außerhalb des Parlaments öffentlich geredet hat. Jetzt aber kamen mit der Katholikenemanzipation, der Reformagitation, dem Chartismus und schließlich der Anti-Kornzoll-Bewegung Massenversammlungen, Monstredemonstrationen und Massenpetitionen in Übung und bildeten öffentliche Meinung. Die gezielte Agitation erregte Furcht und vermochte die Politik zu beeinflussen. Vor allem die Anti-Kornzoll-Liga (1839-1846) machte ein lebhaftes Versammlungswesen zum normalen Austragungsort der politischen Kontroversen vor der Öffentlichkeit. Tumultuarische Massenbewegungen hatte es zwar schon früher gegeben, desgleichen auch Massenorganisationen und -Versammlungen wie etwa im Methodismus und Evangelikanismus; aber die Verbindung von gezielter Agitation und geplanter Organisation über einen längeren Zeitraum hinweg und auf konkrete politische Anliegen zugespitzt war in dieser Ausdehnung neu. Ihre Wirksamkeit wurde durch die Erfolge von 1828/29, 1830/31 und 1846 eindrucksvoll bezeugt und war trotz des Mißerfolgs der Chartisten (1839) unübersehbar. Sie nötigte Parlament und Regierung zu größerer Publizität. Mit der Reform von 1832 war das Ende des Unterhauses als geschlossener Arena eingeleitet. Die Wendung von Ministern an die Öffentlichkeit ohne den Weg über das Parlament war nicht weniger neu, beschränkte sich vorerst jedoch gewöhnlich auf ClubDinners und exklusive Gelegenheiten. Doch nötigte der politische Explosivstoff um 1830 bereits zu Wahladressen mit politischer Zielsetzung19. Das bekannteste Beispiel ist das Tamworth-Manifest Sir Robert Peels von 1834, das, an seine Wähler gerichtet, noch kein eigentliches Parteimanifest, sondern mehr eine vom Kabinett gebilligte Präzisierung der Regierungspolitik darstellte und ausdrücklich Bezug auf den „Trust" nahm, mit dem die Wählerschaft die Regierung betraut hatte: „You are entitled to this, from the nature of the trust which I again solicit... I gladly avail myself also of this, a legitimate opportunity, of making a more public appeal - of addressing, through you, to that great and intelligent class of society of which you are a portion" 20 . Allerdings blieb es bei diesem ersten Schritt der Regierung in die Öffentlichkeit, der offenbar durch die „Mob-Oratory" der Reformbewegung veranlaßt war. Erst 1874 knüpfte Gladstone an Peels Beispiel an, als er seine berühmte Adresse an die Wähler in Greenwich richtete. Die Nötigung zu einem solchen Schritt war vor 1867 nicht gegeben, da weder eine nationale Parteiorganisation noch eine ausreichende Wählermasse den Primat des Unterhauses in Frage gestellt hätten. Immerhin nötigten damals schon die außerparlamentarischen Agitationskampagnen dazu, sich auch eine gewisse personalplebiszitäre Vertrauensgrundlage zu schaffen. Andererseits waren die Be19 Sir Ivor Jennings (Anm. 1), S. 121 f. 20
Memoirs, by the Right Honourable Sir Robert Peel, published by the Trustees of his Papers, Lord Mahon and Sir E. Cardwell. 2 Bde., London 1856, Bd. 2, S. 59.
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mühungen des Drahtziehers Francis Place um eine Verbindung von Parlament und Wählerschaft trotz des Druckes von außen bei der Mentalität der ohnehin anerkannten Repräsentanten hoffnungslos. Die Regierung verstand sich noch nicht als Vertrauensorgan der Wählerschaft, sondern eher als ein Komitee des souveränen Parlaments, das sich von der Wählerschaft distanziert fühlte. Zudem verlangte die wachsende Arbeitslast sogar eine Abschirmung gegen die Ansprüche von außen. Die anschwellenden Petitionsbewegungen, die schließlich in die Massenpetitionen des Chartismus einmündeten, und allerdings auch deren Mißbräuche bei den Unterschriftensammlungen, veranlaßten schon 1832 eine Verkürzung der Debatten über Petitionen, deren Priorität dem „ordinary business" gegenüber trotz der Beschränkung der „Hearings" über Petitionen auf die Morgensitzungen einen Stillstand des Regierungsgeschäfts (1833) befürchten ließ, der durch die Masse der „notices" noch bedrohlicher wurde. Dies führte 1839 schließlich zu einem Verbot ihrer parlamentarischen Behandlung. Nach dem Brand von 1834 wurde eine besondere Pressetribüne im Unterhaus eingerichtet, ohne daß allerdings eine eigentliche Parlamentsberichterstattung oder ein offizielles Mitschreiben der Debatten gestattet worden wären. Nichtsdestoweniger gewannen die Parlamentsdebatten durch die Presseberichte an Fernwirkung 21 . Seit 1836 wurden die Abstimmungslisten veröffentlicht, und ab 1853 war die Anwesenheit von Fremden auch bei den Abstimmungen zugelassen, obgleich die Öffentlichkeit als Bedingung der Sitzungen nie offiziell statuiert worden ist. Immerhin gab die Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse schon eine technische Voraussetzung für die Umwandlung der alten persönlichen Trustfunktion in ein realplebiszitäres Mandat. Doch konnte bis zur Mitte des Jahrhunderts im Parlament der Auschluß der „Fremden" verlangt, und es konnten Strafen wegen abfälliger Kritik am Parlament verhängt werden. Eine Verbindung von Parlament und Öffentlichkeit war praktisch gegeben, aber weder im Parlamentsverfahren erfordert noch formell gesichert, und auch nicht aus der Lagerung der politischen Kraftfelder unbedingt notwendig, wenn auch die Repräsentanten sich selbst als die berufenen Vermittler der öffentlichen Meinung ansahen. Der Einfluß der Parlamentsdebatten auf die Öffentlichkeit war zeitweilig größer als umgekehrt. Der Druck der Massenagitation, besonders im Falle der Anti-Kornzoll-Bewegung, vermochte zwar die Politik gelegentlich zu beeinflussen, aber erst nach der Reform von 1867 kam eine ständige Verbindung zwischen Parlament und Öffentlichkeit über die parteipolitischen Organisationen zustande. Hier erst läßt sich von einem Ansatz zur Institutionalisierung dieses Verhältnisses sprechen; daneben schlossen allerdings die unmittelbaren Wahladressen und Wahlreden der Parteiführer stets auch an die alten Agitationsformen an, so daß die großen Tage der „public meetings" erneut in den siebziger und achtziger Jahren 21 Siehe hierzu A. Aspinall, The Reporting and Publishing of the House of Commons Debates 1771 -1834, in: R. Pares and A. J. P. Taylor (Hrsg.), Essays Presented to Sir Lewis Namier. London 1956, S. 227 ff.
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des Jahrhunderts einsetzten - jetzt aber weniger allein auf bestimmte grundsätzliche Anliegen gerichtet als auf die Durchsetzung einer Führungsmannschaft oder eines Führers. Allerdings kamen andere Momente hinzu, die der Ausbildung einer überregionalen öffentlichen Meinung dienlich waren, wie etwa, abgesehen von der wichtigen Wahlkreisneuordnung von 188522, die Bevölkerungsfluktuation, der Ausbau des Eisenbahnnetzes, die intensivere Marktbildung, die Ausdehnung des Pressewesens nach Wegfall der „Paper Duty" 1861, die Auflockerung der Pfarren durch den erstarkten Dissent, die spezifischen geistigen Antriebe der Zeit und dergleichen mehr, die hier nur beiläufig genannt werden können, denen gegenüber aber die neue Verknüpfung von Parlament, Parteien und Öffentlichkeit mehr Wirkung als Ursache, das heißt Antwort auf einen neuen Zustand war, um dem Parlament in einer veränderten Welt seinen bisher anerkannten und nun in Frage gestellten repräsentativen Charakter zu bewahren.
5. Die Entstehung der großen Parteiorganisationen Die Reform von 1832 veranlaßte die ersten außerparlamentarischen Parteiorganisationen, die nicht nur während der Wahlen in Aktion traten, sondern mit einer ständigen Aufgabe betraut waren. Nach der neuen Regelung hatten sich die Berechtigten der Boroughs jährlich in Wählerlisten registrieren zu lassen, wenn sie ihr Wahlrecht ausüben wollten 23 . Daraus ergab sich für die Kandidaten die Notwendigkeit, Sorge zu tragen, daß ihre Freunde sich rechtzeitig eintrugen und die Opponenten überprüft wurden. Dies gab den Anlaß zur Gründung lokaler „Registration Associations" der Parteien. Durch die Registriervereine fanden die bislang auf das Parlament beschränkten Parteien Eingang in die Wahlkreise 24. Der konservative Triumph vom Jahre 1841 wurde nicht zum wenigsten durch gute Registration erreicht. Der konservative „Carlton Club" von 1832, wo sich die Parteianhänger der Provinz mit der Führung trafen und politische Informationen gesammelt wurden, suchte sich mittels einer extensiven Korrespondenz unter der Führung von Barrister Francis Robert Bonham als ein „central advisory system" (Ivor Jennings) auszubauen; Bonham selbst kann als erster überlokaler Agent einer Partei angesehen werden. Der liberale „Reform-Club" von 1836, ein Zusammenschluß der gemäßigten Reform Association von 1834 und des radikaleren West22
Vgl. unten, Abschnitt 6. Näheres dazu bei Sir Ivor Jennings (Anm. 1), S. 69 ff. 24 Siehe hierzu N. Gash, Politics in the Age of Peel, A Study in the Technique of Parliamentary Representation 1830-1850. London 1952, S. 13, bes. Kap. 15: Club Government, S. 393 ff.; auch M. Ostrogorski weist bereits 1902 in seinem Werk „Democracy and the Organization of Political Parties" auf diesen Zusammenhang hin. Siehe die von S. M. Lipset edierte Neuauflage: M. Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, 2 Bde., New York 1964, Bd. 1, S. 186 ff.; ferner / Alan Thomas, Registration and the Development of Party Organization 1832- 1870, in: History 35 (1950), S. 81 ff. 23
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minster Reform Club von 1834, wurde das entsprechende Gegenstück auf Seiten der Whigs, ohne daß bei beiden Gründungen an eine straff zentralisierte Organisation gedacht war, zumal der beschränkte Kreis der Wahlberechtigten, der sich mit wachsender Prosperität freilich erweiterte, und die lokalen Einflüsse eine verbindliche Lenkung von oben ausschlossen. Doch suchten beide Klubs von London aus die Kandidatenauslese zu rationalisieren und die Plazierung zu beeinflussen. Erst 1861 übernahm die „Liberal Central Association" in London die bisher inoffiziell vom Reformklub erledigte Arbeit und etablierte sich als effektives Hauptquartier für Wahlangelegenheiten; das entsprechende „Conservative Central Office" wurde 1870 eingerichtet. Immerhin erkannte Sir Robert Peel schon 1838 in den Registriervereinen „a perfectly new element of political power ... a more powerful one than either the Sovereign or the House of Commons", „a dormant instrument, but a most powerful one, in its tacit and preventive operation", ja „the power of this new element will go an increasing, as its secret strength becomes better known, and is more fully developped. We shall soon have, I have no doubt, a regular systematic organisation of it. Where this is to end I know not, but substantial power will be in the registry courts, and there the contest will be determined" 25. Die Assoziationen deckten sich vielfach mit den örtlichen Parteibüros, die durch sie zu fortlaufender Tätigkeit genötigt waren. Da Registrierung, Stimmenwerbung und Überwachung Hauptgegenstand der Registriervereinigungen waren, blieb ihr Wirkungsbereich auf das Wahlverfahren konzentriert und nahm durch gesetzliche Verbesserung des Registrationswesens26 ab. Sie erreichten keineswegs oder nur in besonderen Fällen die Bedeutung der andersartigen außerparlamentarischen Massenorganisationen; später verloren sie mit der Wandlung der Wahlgerechtsame zu einer öffentlich-rechtlichen Funktion ihren Sinn, da das Home Office die Verantwortung für die Wahlüberwachung erhielt 27 . Wo sie allerdings mit den Anliegen der Massenbewegungen zusammengingen, vermochten sie sich als Ansatz einer aktiven Parteiorganisation ins Spiel zu bringen. Die Kontinuität ihrer Organisation etwa vom Reform Club 1836 zur „Liberal Registration Association" 1861 und dann zur „Liberal Central Association" nach 1874 bezeugt, daß sie als Ansatz der Parteiorganisationen zu gelten haben, wobei an der Reformfrage als einem nächstliegenden sowohl parlamentsrechtlichen als sozialen und politischen Anliegen sich Massenbewegungen entfachen ließen, also eine Verbindung der Registriervereine mit den öffentlichen Aktionen der NichtWählerschaft sich anbot. Die Agitationskampagnen der „single-issue-movements" wie der Anti-Sklaverei-Bewegung, der Katholikenemanzipation, der Reformbewegung, des Chartis25 Peel am 8. 11. 1838 an Charles Arbuthnot; zit. nach Ivor Bulmer-Thomas (Anm. 6), S. 77 f. 26
Sir Ivor Jennings (Anm. 1), S. 70 f. Endgültige Regelung nach verschiedenen Verwaltungsreformen, hier insbesondere nach dem Local Government Act von 1888, durch die Registration Order von 1895. 27
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mus und der Anti-Kornzoll-Liga gaben eindringliche Beispiele überregionaler Massenmanipulationen. Besonders die Anti-Kornzoll-Bewegung Cobdens und Brights mit Massendruck und systematischer Bearbeitung der Öffentlichkeit wurde Vorbild und auch Kern der eigentlichen Parteibildung. Die Massenpetitionen, Monstredemonstrationen und politischen Unionen des Zeitalters gewannen legislatorische Resonanz und gingen, nachdem sie in den Wahlen von 1831 das Gebäude des aristokratischen Monopols im Parlament eingerissen hatten, dazu über, der neuen Oligarchie der herrschenden Klassen aus Grundherrschaft und Wirtschaftsmacht die Stirn zu bieten. Mit ihrer Hilfe wurde ein großer Schritt über die lokalen Wahlbezirksassoziationen zur nationalen Parteiorganisation getan. Die Anti-Kornzoll-Liga hatte ein eigenes „Electoral Registration Office" errichtet und mit der Aufgabe betraut, lokale „Registration Associations" zu bilden, um vor allem die „Outvoters", die außerhalb ihres Wahlbezirks wohnten, an die Urnen zu bringen eine Aufgabe, die über die Möglichkeiten der lokalen Assoziationen oft hinausging. Im Gegensatz zu den Registriervereinen, die lokaler Natur waren und sich auf die Wahlberechtigten beschränkten, vertraten die nationalen Unionen allgemeine überlokale Anliegen und appellierten an die NichtWählerschaft, die nur durch öffentliche Demonstrationen und Petitionen sich zu äußern berechtigt war. Sie suchten zudem die Klassengegensätze, besonders zwischen Arbeiterschicht und unterem Mittelstand, zu überbrücken, wie es Thomas Attwood in Birmingham mit seiner „National Union" und einer radikalen Agitation zugunsten der Reform und des allgemeinen männlichen Stimmrechts erreichte. Zwar riß die Chartistenagitation die Kluft zwischen Arbeiterschaft und Mittelstand zeitweilig auf, doch wurde gerade auf dem Höhepunkt ihrer Virulenz in der von dem Quäker und Müller Joseph Sturge 1841 begründeten „Complete Suffrage Union" von Birmingham aus der allerdings nur zeitweilig (1841 /42) erfolgreiche Versuch unternommen, diese politische Entfremdung zwischen „Labouring" und „Middle Classes" zu beseitigen, d. h. Wahlrechts- und Freihandelsfrage zu vereinigen 28. Unter dem Druck einer Wirtschaftsdepression bewirkte die Freihandelsbewegung dann eine zeitweilige Ablenkung von der Wahlrechts- auf die Kornzollfrage hin und sog die Unionsbewegungen in sich auf 29 . Immerhin wurden noch 1844 die 28
Die „Complete Suffrage Union" verfügte zeitweilig über 60 Zweigorganisationen in verschiedenen Städten und in dem von Edward Miall herausgegebenen Magazin „The Nonconformist" über ein eigenes publizistisches Sprachrohr. Im „Nonconformist" erschien im Herbst 1841 auch eine von Miall verfaßte wichtige programmatische Artikelserie unter dem Titel „Reconciliation of the Middle and Labouring Classes", vgl. hierzu Asa Briggs, The Age of Improvement 1783 -1867, 2. Aufl., London 1960, S. 320 f. 2 9 Asa Briggs, Thomas Attwood and the Economic Background of the Birmingham Political Union, in: Cambridge Historical Journal 9 (1948); ders., The Background of the Parliamentary Reform Movement, in three English Cities, in: Cambridge Historical Journal 10 (1952), S. 293 if.; Trygve Tholfsen, The Chartist Crisis in Birmingham, in: International Review of Social History 3 (1958), S. 461 ff.; ders., The Origins of the Birmingham Caucus, in: Historical Journal 2 (1959), S. 164; vgl. auch Λ. R. Schoyen, The Chartist Challenge, 1958.
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vier präsentierten Wahlkandidaten in Birmingham befragt, ob sie die Ausdehnung des Wahlrechts unterstützten, und jene beiden vorgeschlagen, die dies bejahten30. Die zwanzigjährige Allianz zwischen liberaler Partei und Arbeiterschaft unter der Führung der respektablen Mittelstandsliberalen war die Voraussetzung, unter der nach der Ausdehnung des Wahlrechts auf die städtische Arbeiterschaft 1867 der „Caucus" funktionieren konnte. Unter dem Einfluß von John Bright verbanden sich 1858 alle Teile der liberalen Partei zur „Birmingham Reform Association", bis nach einigen anderen kurzlebigen Gründungen im Februar 1865 die „Birmingham Liberal Association" zustande kam, in die seit 1867 auch die Arbeiterschaft Zutritt erhielt. Gleichzeitig gewann die 1865 in London gegründete National Reform League auch in Birmingham an Boden und veranstaltete jene Monstredemonstrationen in Brooks Field 1866 und 1867, bei denen jeweilig 200 000 Menschen anwesend waren und gegen die drohende Verweigerung des Wahlrechts an die Arbeiter protestierten. Die Zusammenarbeit von Reformliga und Liberaler Assoziation in Birmingham führte dann zum „Caucus". Chamberlain suchte und fand dadurch vielseitige Unterstützung und Mitarbeit; er organisierte „open meetings" und wandte damit die Aktionsweise der Wesleyaner und der Anti-Kornzoll-Liga auf die Parteipolitik an 31 . In den Wahlen von 1868 folgten die liberalen Wähler in jedem „Ward" von Birmingham gehorsam den Vorschlägen des „General Committee" der Assoziation: „Vote as you are told!", so daß die in der „Representation of the People Act" von 1867 eingeschaltete Minoritätenklausel, nach der von drei Kandidaten Birminghams für das Unterhaus die Wähler nur jeweils zwei benennen durften, unwirksam blieb, und drei liberale Kandidaten für Westminster durchgesetzt wurden. Das Geheimnis dieses Erfolgs war der geschlossene Einsatz der gesamten Stimmstärke und eine durchdachte Taktik bei der Aufteilung der Doppelstimmen auf die drei Kandidaten. Damit wurde der „Birmingham Radical Caucus" Vorbild für die liberalen Organisationsformen, die Planung und Kontrolle durch die führenden Manager vom Generalkomitee bis zum „Ward" sichern sollten. Die „Registration Associations", die ursprünglich selbständige Vereinigungen waren, organisierten sich jetzt auf repräsentativer Basis mit gewählten Exekutivkomitees, deren zentrale Erfassung und Unterstützung durch die „Liberal National Association" von 1877 sich zu einer nationalen Parteiorganisation ausformte. Die Organisation als solche war indes nichts Neues, zumal Francis Place schon 1807 Ahnliches unternommen hatte. Neu war nur, daß eine der großen Parteien von sich aus diese Organisation im überregionalen Rahmen aufzog. Die nach dem „Birmingham-Model" organisierten Vereine waren nicht mehr einfache Registriervereinigungen oder Wahlkomitees, sondern Propagandaorganisationen, die auch die Kommunal- und Schulvorstands-(School-Board-)Wahlen, ferner Zeitungsartikel, Flugblätter und Werbematerialien besorgten. 30 Trygve R. Tholfsen (Anm. 1), S. 174. 31
Sir Ivor Jennings, Party Politics, Bd. II: The Growth of Parties, Cambridge 1961, S. 139/140.
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Die Niederlage von 1868 veranlaßte Disraeli, die seit 1863 oder 1864 bestehende „Conservative Registration Association" zu einem „Central Conservative Office" (1870) auszubauen, das in jedem Wahlbezirk permanente konservative Vereinigungen anregen, Listen anerkannter Kandidaten zusammenstellen und jedem Wahlbezirk einen wahlkampffähigen, d. h. finanzstarken Kandidaten sichern sollte 32 . Er suchte die seit 1867 bestehende „National Union of Conservative and Constitutional Associations" organisatorisch zu stärken. Diese Union sollte vor allem die neue Wählerschaft aus dem städtischen Arbeitertum umwerben. Sie hatte auf ihren ersten Jahreskonferenzen betont, daß sie sich nicht in die lokalen Angelegenheiten einmischen wolle, sondern lediglich diese lokalen Assoziationen stützen oder sie, wo sie fehlten, neu gründen wolle, um „constitutional principles" zu verbreiten, politische Informationen zu geben und vor allem „the combined action of all constitutional associations" zu sichern 33. Das Büro der „National Union" wurde 1872 in das Gebäude des „Central Conservative Office" verlegt, um eine gleichgerichtete Führungsweise zu gewährleisten. Die große Kristallpalastrede Disraelis von 1872 stärkte den Einfluß der „National Union". Hier wies Disraeli auf die Notwendigkeit hin, die Tory-Partei zu einer nationalen Partei zu machen, die weder eine Föderation der Nobilität noch eine demokratische Masse sein dürfe, sondern eine alle Klassen umgreifende Nationalpartei des ganzen Volkes werden müsse34. Die Befreiung des Wahlaktes vom Druck der Landlords und der Unternehmer durch die Ballot Act von 1872 (Geheimhaltung der Wahlen) erhöhte die Wirksamkeit seiner Parteimaschine, für die er verantwortlich war, und die ihm 1874 den Wahlsieg seiner Partei verschaffte. Gegen den früheren Einfluß der ersten Familien und auch gegen den „middle-class influence" in den Boroughs (seit 1832) sollte eine unmittelbarere und positivere Einschaltung der Wählerschaft als bisher erreicht werden und die Partei „in harmony with the wishes of the people" agieren, wie Chairman H. Cecil Raikes 1873 hervorhob. Er fügte aber bezeichnenderweise hinzu: „Die Union wurde als Magd der Partei gegründet, nicht um sich die Funktionen der Parteiführung anzumaßen"35. Wie die Konservativen nach 1867 ihre Organisation verstärkten, so auch die Liberalen erneut nach dem konservativen Sieg von 1874. Francis Schnadhurst, Sekretär der Birmingham Liberal Association, und Joseph Chamberlain, Bürgermeister von Birmingham (1873), gründeten die Organisation stärker auf die 16 „Wards" Birminghams, aus denen je drei Mitglieder in ein Exekutivkomitee gewählt wurden, das wiederum einem Generalkomitee („The Six Hundred") mit 30 Mitgliedern aus jedem Ward eingeordnet war; beide Komitees ernannten ein 32 Ebd., S. 132. 33
Ivor Bulmer-Thomas (Anm. 6), S. 111. 4 Ebd., S. 112-113; vgl. R. Τ McKenzie, Politische Parteien in England. Köln/Opladen 1961 (London 1955), S. 103. 3 5 R T. McKenzie (Anm. 34), S. 110; vgl. Bulmer-Thomas (Anm. 6), S. 112, und Richard Barke ley (Anm. 1), S. 231 f. 3
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Management-Komitee von 11 Personen36. Hinter der demokratischen Fassade dieses „Komitee-Systems" verbarg sich eine kleine Oligarchie, die die Fäden in der Hand hielt. Mit dieser Organisation sicherten sich die Liberalen in Birmingham ein parteipolitisches Monopol in Kommune und Parlamentsrepräsentation. Die „National Liberal Federation" von 1877 mit Chamberlain als Präsident und Schnadhurst als Sekretär suchte in gleicher Weise unter Berufung auf eine „direct participation of all members of the party in the direction of its policy" eine umfassende Organisation der Partei „on a representative basis: that is, by popularly elected committees of local associations, and by the union of such local associations, by means of their freely chosen representatives in a general federation" 37. Auch hier war das Ziel eine zentrale Kontrolle der Lokalkomitees über repräsentative Ortsverbände und eine oberste Lenkungsstelle hinter der Fassade eines repräsentativen Vertretungssystems. Während die konservative „National Union" lediglich den lokalen Assoziationen und Clubs Hilfestellung gab und ihre jährlichen Konferenzen vorwiegend Vertrauenskundgebungen für die Parteiführung waren, suchte die liberale Parallelgründung Chamberlains Druck auf die liberale Führung auszuüben und sie sogar auf eine Programmatik zu verpflichten. Der erste Impakt demokratischer Kräfte seit 1867 und deren organisierte Lenkbarkeit legte die Versuchung nahe, die Parteiapparate als politische Organe neben dem Parlament und als Rivalen der parlamentarischen Führung zu gebrauchen. Die Einschleusung gebundener Abstimmer ins Unterhaus, die ihren Sitz den lokalen Parteimaschinerien verdankten, mußte diese Gefahr vergrößern. Die Ausweitung des Caucus-Systems bedrohte die Eigenständigkeit des Parlaments 38. Die Liberal Federation hörte erst auf eine Drohung zu sein, als Chamberlain, ihr führender Mann, 1880 ins Kabinett gelangte. Die National Liberal Federation dehnte sich erst im Zeichen Gladstones aus und wurde nach 1887 von einer „Ginger Group" des radikalen Flügels der Liberalen zu einer „offiziellen" Organisation 39. In ähnlicher Weise suchte Randolph Churchill über die „National Union" und mit Hilfe der „Primrose League" (1883) Lord Salisbury die konservative Führung zu entreißen. Mit dem Schlagwort der „Tory-Demokratie" wollte Churchill die 36 Näheres bei Bulmer-Thomas (Anm. 6), S. 121. 37 Proceedings attending the Formation of the National Federation of Liberal Associations, Birmingham 1877, S. 7, zit. bei Bulmer-Thomas (Anm. 6), S. 123. Die Begründung der „National Liberal Federation" 1877 hatte eine umfangreiche Diskussion des Birmingham-Caucus in Zeitschriften und Pamphleten zur Folge: Henry W. Crosskey, „The Liberal Association the ,600' - of Birmingham", Mac Millan's Magazine, Februar 1877; Joseph Chamberlain, „A new political organization", Fortnightly Review, Juli 1877, ferner „The Caucus", ebd., November 1878. Kritische Stimmen: W. Raser Rae, „Political Clubs and party organization", Nineteenth Century, Mai 1878; N. D. J. Wilson, „The Caucus and its consequences", ebd., Oktober 1878. 38 Francis H Herrik (Anm. 1), S. 128f. 39 Sir Ivor Jennings (Anm. 1), Bd. 2, S. 196 f.
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gesamte Parteiorganisation einschließlich des vom Carlton Club 1880 aufgebauten „Central Committee" in die Hand der „National Union" legen, während Salisbury den lokalen Charakter erhalten wissen und der „National Union" nur Beratung, Anregung, Finanzhilfe, Information und Ausbau der lokalen Presse zugestehen wollte. Erst als Churchill sich den zweiten Platz hinter Salisbury gesichert hatte, setzte er sich für das „Central Office" und die Whig-Organisation, also die parlamentarische Führung der Partei ein. In beiden Fällen behaupteten sich die parlamentarischen Parteiführer gegen die ehrgeizigen Pläne Chamberlains und Churchills und damit gegen die außerparlamentarischen Apparate. Entsprechend ihrer ursprünglichen Aufgabe behielten diese gegenüber den beiden im Parlament etablierten Parteien lediglich dienende Funktionen, wie sie ja auch ursprünglich vor allem zur Stimmenwerbung ins Leben gerufen worden waren und die „Whigs" die Vereinbarungen mit den Wahlbezirksorganisationen und den Kandidaten getroffen sowie den Parteifonds verwaltet hatten. Ihr Zweck lag in den Augen der Parteiführung mehr in der Vereinheitlichung nach unten gegen die innerparteilichen Richtungen, die oft eigene Organisationen unterhielten oder lokale Wahlkoalitionen schmiedeten, um die teuren Wahlkämpfe zu vermeiden. Eine populäre Kontrolle der Parteiführung von den neuen Organisationen her wurde keineswegs erreicht. Wohl mochten sich die einzelnen Parlamentsmitglieder auf die Entscheidung der periodischen Parteikonferenzen verpflichten und in ihrer parlamentarischen Tätigkeit kontrollieren lassen, aber dies galt nur bedingt, da die Kandidaten wegen des eigenen Finanzaufwands schwer ersetzlich waren und auch letztlich immer noch von der lokalen Parteiorganisation, und nicht von der Parteimaschinerie aufgestellt wurden. Das galt noch weniger von der anerkannten Führungsspitze und besonders dann nicht, wenn diese Führung gleichzeitig die Regierung war. Was die Großpartei anging, blieb das Unterhaus im 19. Jahrhundert ein Reservat der regierenden Klassen, dem die Wählerschaft lediglich das populäre Imprimatur erteilen konnte 40 . Selbst nach 1867 blieb der größte Teil der Wählerschaft durch den unumgänglichen Finanzaufwand vom Unterhaus ausgeschlossen; 1906 erreichte eine größere Zahl von Vertretern der Mittelklasse den Zutritt; aber erst 1911 reduzierte das Unterhaus die Ungleichheit der Chancen durch mäßige Subventionen an die Unterhausmitglieder. Gewiß spielte der Aufbau der Parteimaschinerien in den siebziger und achtziger Jahren eine große Rolle; sie wurde aber durch den Zusammenhang mit den politischen Karrieren Chamberlains und Churchills überschätzt. In der Tat gab ihr Genius diesen Apparaturen ein Gewicht, das sie vorher nicht hatten und später kaum erreichten. Der organisatorische Leviathan von 1880 traf zudem auf eine schon vorhandene Parteiloyalität, und die weitere Ausdehnung des Wahlrechtes von 1884 ließ eine vollständige Durchorganisierung der Wählerschaft kaum mehr zu. Wie schon die alten Registriervereinigungen sich auf die Boroughs beschränkt hatten, da nur hier die jährliche Registration erforderlich war, erstreckte sich auch die 40 Vgl. McKenzie (Anm. 7), S. 16 f.
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Parteiorganisation vorerst auf die Boroughs und kaum auf die Counties. Nach unten hin blieb der Apparat schwach. Die Londoner Zentralstellen mochten dabei ihre permanente administrative Tätigkeit fortsetzen, aber die Organisation in der Provinz mit ihren freiwilligen Arbeitsstäben konnte die erforderliche Effektivität nicht durchhalten, ganz abgesehen davon, daß die Wählerschaft sich nicht überall ausrichten ließ und in manchen Boroughs die Versuche einer zentral gelenkten Parteiorganisation scheiterten. Erst Ende des Jahrhunderts hatte sich ein wirkliches Netzwerk nationaler Parteiorganisation entwickelt. Die britische Mentalität und das Clubwesen vertrügen sich kaum mit einer geschlossenen Organisation, die man mit Vorliebe den Solicitors überließ. Ohne die bleibende Schar derjenigen, die sich der Sache hingegeben hatten - vor allem gilt dies vom militanten Dissent und der aufstrebenden Arbeiteraristokratie - , und ohne die übergreifenden nationalen Anliegen, wie Wahlreform, Home Rule, Schulwesen, hätte sich das Gewicht dieser konzentrierten Maschinerien nicht ins Spiel bringen lassen, zumal deren Ausbildung nicht mit einer entsprechenden Verlagerung des Pressewesens gekoppelt war 41 . Darum blieben die Konflikte an der Parteispitze persönlicher Natur. Auch die „National Liberal Federation" vermochte die Rivalitäten innerhalb der liberalen Führung nicht merklich zu beeinflussen, zumal die Kontrahenten weder durch Appell an die Wählermassen noch durch Zusammenarbeit mit ihnen ihre ehrgeizigen Ziele erreichen konnten oder wollten 42 . Selbst Gladstone stellte sich gegen Interventionen von unten, wenn auch seine Rede zum Parteiprogramm von Newcastle von 1891, dem die „National Liberal Federation" zugestimmt hatte, den Eindruck erweckte, als ob sich die Partei an diese „Bürde" gebunden fühlte. In Wirklichkeit lehnte die Führung eine „Dictatorship" der Föderation ab und ließ sich nicht auf ihren Katalog von Forderungen verpflichten. Beide Parteien blieben trotz ihrer Verlängerung in die Gesellschaft hinein von der Parlamentsmannschaft geführt. Nur die Labour-Partei hat sich als außerparlamentarische Partei entwickelt; sie wollte jedoch mit Hilfe der Gewerkschaften eine Interessenvertretung der Arbeiterschaft im Parlament, also eine parlamentarische „Pressure Group", durchsetzen. Auch sie sah ihr nächstes Ziel mithin im Parlament. Allerdings widersprach ihr Charakter als programmatische Klassenpartei dem Wesen der alten Integrationsparteien. Doch hat auch hier das Wahlsystem zu einer nationalen Ausweitung genötigt und der Parlamentarismus seine Integrationskraft bewiesen, insofern der Einstieg von Labour ins Parlament mit Hilfe der Liberalen (Lib-Labs) und über die verbliebenen 24 Doppelwahlkreise sich vollzog oder jedenfalls die Wahlentente zwischen Labour und Liberalen vor 1914 eine prägende Rolle spielte und schließlich nach 1924 der Weg von der Klassenpartei zur Nationalpartei über einige Umwege auch von Labour eingeschlagen wurde 43 . 41
Vgl. die Kritik an der sogenannten „Organisationstheorie" bei John Vincent, The Formation of the Liberal Party 1857-1868. London 1966, S. 82 ff. 42 Vgl. etwa Peter Stansky, Ambitions and Strategies. The Struggle for the Leadership of the Liberal Party in the 1890ies. Oxford 1964. 43 Vgl. G. Α. Ritter (Anm. 9), S. 17.
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Ein anderes Problem ist, ob nicht die Wendung der Parteien in die Öffentlichkeit eine klarere Programmatik und Profilierung, ja eine ideologische Verfestigung herbeigenötigt hat, zumal die prinzipiellen Argumentationen und die Übersteigerung der Differenzen die Wählerschaft eindringlicher ansprechen mußten als lediglich parlamentstaktische Überlegungen. Jedenfalls blieb eine solche Tendenz stets lebendig und ließ es nicht zu einer grundsatzlosen Bossherrschaft über rein pragmatische Plattformparteien kommen. Sicherlich hat aber die Aufteilung der bisherigen Doppelwahlkreise (bis auf 24) in Ein-Mann-Wahlkreise 1885 die Parteien zur Vereinheitlichung genötigt und den lokalen Charakter der parlamentarischen Vertretung zugunsten der allgemeinen Anliegen weitgehend eliminiert.
6. Das parlamentarische Regierungssystem nach 1867 Die Zeit nach 1867 ist durch die beiden „Representation of the People Acts" von 1867 und 1884, ferner durch die „Bailot Act" von 1872 (Geheimhaltung der Wahlen) und die „Redistribution Act" von 1885 (Wahlkreisordnung) gekennzeichnet. Der „Sprung ins Dunkle" (B. Disraeli), d. h. in eine Demokratisierung des Parlamentssystems, wurde mit der zweiten Wahlreform von 1867 getan; er zog die anderen gesetzgeberischen Maßnahmen notwendig nach sich. Die Wahlreform von 1867 dehnte das Stimmrecht auf die niederen Mittelklassen und die städtische Arbeiterschaft aus. Sie fiel in eine durch die Jahre 1866 bis 1868 sich hinziehende Krisis mit Arbeitslosigkeit und Brotpreissteigerungen, welche die Arbeiterschaft zusammen mit der radikalen Mittelklasse zu lebhaften Aktionen antrieb. Mit ihr begann die Umwandlung der bisher maßgeblichen parlamentarischen Oligarchie in eine plebiszitär bewegte Demokratie mit cäsaristischer Führungsweise44. Das erste auffällige Moment war, daß die Wählerschaft nun über das Schicksal der Regierung entschied. Disraeli eröffnete die Praxis, daß der Premier auf Grund eines negativen Wahlergebnisses zurücktrat, ohne den Zusammentritt des neuen Parlaments abzuwarten. Die Berufung des Premiers und dessen Bildung eines Kabinetts erfolgte nun in der Regel auf Grund des Wahlausgangs. Künftig wurde dieser Zusammenhang nur dann undeutlich, wenn keine klare Mehrheit sich ergab wie etwa 1890 bei Salisbury und 1924 bei Baldwin. Die Ausdehnung des Wahlrechts und der Wegfall der alten Wahlpraktiken hatte die Minister von Dienern des Unterhauses zu Dienern der Wählerschaft gemacht. Die Wahlentscheidungen in den drei Wahlkämpfen von 1868, 1874 und 1880 konzentrierten sich zudem auf die beiden Protagonisten Gladstone und Disraeli, deren Rededuelle und Wahladressen einen bisher unerhörten Widerhall fanden. Diese Zielrichtung der Wahlentscheidungen war nur durch die Nationalisierung der Wahlkämpfe möglich, die wiederum die Zurückdrängung der lokalen Einflüsse voraussetzte, die mit der „Ballot Act" von 1872 und endgültig mit der „Corrupt 44 Siehe K. Löwenstein (Anm. 4), S. 162, 170 f.
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and Illegal Practices Act" von 1883 unterbunden wurden. Gladstone knüpfte in seiner Wahladresse von 1874 an Robert Peels Tamworth-Manifest von 1834 an. Es war eine Adresse an die Wähler von Greenwich, die aber am 24. Januar 1874 in der Times erschien. Ihr ließ Disraeli am 26. Januar in der gleichen Zeitung seine Gegenadresse folgen. Salisburys Rede vor der „National Union" im Jahre 1885 war ein ähnliches Manifest. Aber erst 1892 folgte eine Botschaft des konservativen Führers an die ganze Wählerschaft 45. Damit trugen die Führer ihre Ansichten der zur Entscheidung aufgerufenen Öffentlichkeit vor. Die Gesamtwählerschaft erschien als der entscheidende Gegenspieler der Regierung 46. Damit ist bereits ein weiteres wichtiges Moment berührt, das sich seit 1832 schon zaghaft ankündigte, nämlich der Appell der parlamentarischen Führer an die Wählerschaft außerhalb des Parlaments. Die „Mob-Oratory", die vor allem von der Anti-Kornzoll-Liga bei den Hustings und den Dinners der Wahlkörperschaften betrieben worden war, wurde zum Entsetzen der Königin von den parlamentarischen Parteiführern übernommen. Gladstones Pilgrimages of Passion 1868 und besonders 1879 waren der Durchbruch eines neuen Elementes, nämlich der plebiszitär gewonnenen Legitimation eines Parteiführers. In den Midlothian Campaigns trug Gladstone einer faszinierten Zuhörerschaft sein „Indictment" gegen die Regierung mit enormer Eloquenz vor. Der Eindruck seiner Persönlichkeit war so stark, daß viele mehr für ihn als für die liberale Sache stimmten. Diese Wahlfeldzüge, „the Moloch of Midlothian", wie Randolph Churchill sie bezeichnete, erstritten einen Wahlerfolg weit über den Wahlbezirk hinaus, der Gladstone, zu dieser Zeit einfacher Abgeordneter, über die Parteiführung hinweg unmittelbar auf den Sessel des Premierministers hob. Als Disraeli nach dem Wahlausgang vor dem Zusammentritt des neuen Unterhauses resignierte, sandte die Königin auf den Rat Lord Hartingtons, des Führers der Liberalen, nach Gladstone. Somit wurde Gladstone 1880 der plebiszitär bestellte Regierungschef. Er hatte sogar die „National Liberal Federation" überspielt und seinen persönlichen Ruf an die Wähler zum bestimmenden Faktor der Regierungsbildung gesteigert. Der populäre Radikalismus in den Wahlbezirken identifizierte sich mit „Mr. Gladstone", welcher der erste Politiker war, der Flugblätter zur Stimmenwerbung benutzte, „er, der als erster in der Reihe glorreicher Namen steht, durch welche die Freiheitskämpfe durchfochten und gewonnen wurden - W. E. Gladstone"47. Er gab seinen lokalen Wahlkämpfen stets einen nationalen Inhalt. Nachdem John Bright den Liberalismus zu einer Art moralischen Glaubensbekenntnisses erhoben hatte, machte Gladstone ihn wirklich populär und überbrückte die Kluft zwischen Wählerschaft und Gewählten. Er beherrschte das Parlament durch die Wählerschaft. Allerdings sah er selbst seine eigentliche Wirkstätte im Parlament und bezeichnete 45 Bulmer-Thomas (Anm. 6), S. 82. 46 Cecil S. Emden, The People and the Constitution. 2. Aufl., Oxford 1956, S. 234 ff. 47 Whitby Blue Banner vom 3. 8. 1868, zit. nach John Vincent (Anm. 18), S. 123; vgl. auch S. 233. 14 K l u x e n
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es als öffentlichen Mißstand, wenn über die Wände des Hauses hinaus nach Kräften gerufen wurde, die die gesetzgeberische Tätigkeit beeinflussen sollten 48 . Gladstone bewies, daß der „Appeal to the People" keine Fiktion mehr war, sondern eine Realität, aus der sich Konsequenzen ergaben. Früher war ein solcher Appell nur in den demokratischen Wahlbezirken, wie Westminster, Yorkshire, Preston und auch London, sinnvoll; nun aber bezog er sich auf die Gesamtwählerschaft. Gladstones Aktionen wurden durch ihre Breitenwirkung zum Mythos; sie fanden die Unterstützung der Presse, des militanten Dissent und der Arbeiterorganisationen. Seine Reden waren ein Schritt zur populären Demokratie. Gladstone wirkte dabei mehr durch seine Rhetorik als durch eine klare Doktrin; er schuf mehr eine momentane emotionelle Gemeinsamkeit als eine programmbewußte Gesinnungsfront. Die in ihm verkörperte Verbindung von Ministeramt und Popularität war neu. Gladstone hielt freilich nicht viel von einer geschlossenen Organisation und betrachtete die lokalen Manager eher als Relikte des alten korrupten Wahlsystems, die sich nicht für effektive Wahlorganisationen eigneten49. Er suchte die öffentliche Meinung aus persönlichem Kontakt zu schaffen und zu lenken: In seiner Aktionsweise trat eine Strukturänderung der außerparlamentarischen Politik zutage, in der die Wählerschaft zum Schiedsrichter im Wettstreit der Parteien geworden war und dieser Wettstreit sich auf die führenden Persönlichkeiten zuspitzte. Der parlamentarische Führer hauchte der Partei und ihrer Organisation Seele und Leben ein. Auf ihn, den plebiszitär bestellten Führer, kam es an. Ein drittes Moment trat hinzu: Nach der Ausdehnung des Wahlrechts auf die ländliche Arbeiterschaft 1884 teilte die Wahlkreisordnung von 1885 Counties und große Städte auf und schuf Ein-Mann-Wahlkreise; nur London-City, die Universitäten und etwa 20 Mittelstädte blieben Zwei-Mann-Wahlkreise. Die Wahlen waren damit noch eindeutiger als bisher auf der Majoritätsregel gegründet und kamen den etablierten Großparteien zugute. So wie das Unterhaus nur zwei Division-Lobbies hatte und nur das Für und Wider in den Abstimmungen selbst zum Ausdruck kommen konnte, begünstigte das Wahlsystem noch stärker als bisher eine klare Entscheidung zwischen den beiden führenden Gruppen, ausgenommen da, wo regionale Schwerpunktparteien eine dritte Entscheidung aussichtsreich machten. Da aber die Hauptfrage zwischen beiden Großparteien die Regierungsbildung war, entwickelte sich das britische Parteiensystem mehr zu einer Weise, die Regierung zu stellen, als politische Meinungen auszudrücken. Durch die Konzentration der Wahlwerbung auf die Führungsmannschaft der Partei wurde der Abgeordnete als gebundener Abstimmer für eine potentielle Regierung gewählt. Damit beschränkte sich aber das Plebiszit auf ein parlamentarisches Anliegen und nötigte gleichzeitig das Parlament zu einer klareren Konfrontierung der politischen Alternativen. Die Auflösung des Unterhauses war jetzt immer Appell an die Wählerschaft, die über das Schicksal der Regierung entschied. Wichtige Abstimmungsniederlagen konn48 John Vincent (Anm. 18), S. 227. 49 Ebd., S. 83.
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ten nicht mehr in der bisherigen Form hingenommen werden. Die Macht der Wählerschaft kam darin zum Ausdruck, daß die konservative Regierung Baldwins im Jahre 1905 trotz einer Mehrheit im Unterhaus schon auf Grund von einigen Nachwahlen und der öffentlichen Stimmung zurücktrat. Der Sturz der Regierung zog regelmäßig die Auflösung des Unterhauses, d. h. den Appell an die Wählerschaft nach sich. Entscheidend war dabei, daß die bereits erstarkte Führungsfunktion der Regierung im Parlament durch das Wahlplebiszit gesteigert wurde und durch den Ausbau der Parteiorganisation und -disziplin die bisherige Autonomie des Unterhauses und die Unabhängigkeit seiner Abgeordneten beeinträchtigt wurden. Seitdem die zweite Wahlreform zum ersten Male beträchtliche Teile der Bevölkerung am Wahlgang beteiligte und das Wahlsystem unter dem spezifischen Einfluß des relativen Mehrheitswahlrechts die Ausmünzung des Kampfes auf ein Für und Wider zur Regierungspolitik veranlaßte, nahm die Regierung ihr Schicksal aus der Hand der Wählerschaft entgegen, die in letzter Instanz entschied. Die Wählerschaft übertrug zwar die höchste Autorität auf das Parlament, das weiterhin kraft eigenen Rechtes agierte, aber sie tat dies über die Parteien und im Hinblick auf die Parteiführungen. Bis zu einem gewissen begrenzten Grade wurde das Parlament Ausdruck der durch die außerparlamentarische Agitationsarbeit und Parteiorganisation ermöglichten plebiszitären Mobilisierung des Volkswillens und die Regierung als Führungsmannschaft der siegreichen Partei das Vertrauensorgan der Wählerschaf, deren Verdikt allein über ihre Ablösung entschied. Mit anderen Worten: Wählerschaft und Kabinett brachten nach 1867 das Gebäude der Parlamentssouveränität zum Einsturz 50. Nicht das Unterhaus entschied letztinstanzlich über Berufung und Entlassung der Regierung, sondern der Volksentscheid, an den die Regierung mit der Auflösung des Hauses appellieren konnte. Die Verbindung von Elementen der direkten und der parteienstaatlichen Demokratie mit dem repräsentativen Parlamentarismus veränderte den britischen Parlamentarismus auf die Bedürfnisse der industriellen Massengesellschaft hin, ohne dessen Eigenständigkeit auszulöschen. Der Weg zur plebiszitären Demokratie wurde nicht völlig zurückgelegt, da die klassischen englischen Parteien aus Hilfsorganen der Parlamentsfraktionen hervorgegangen waren, von den Direktiven des parlamentarischen Regierungs- bzw. Oppositionschefs abhingen und sich an parlamentarischen Vorgängen orientierten. Die repräsentative Natur des britischen Regierungssystems blieb erhalten, da das plebiszitäre Element seine Entscheidung im Hinblick auf die von politisch verantwortlicher Stelle formulierten Fragen fällte und an der Treuhandschaft (Trust) von Regierung und Parlament festgehalten wurde 51 .
50 Vgl. κ. Löwenstein (Anm. 4), S. 171. 51
Über den Wandel der Repräsentationsidee vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien. Stuttgart 1964, S. 76 ff.; S. 79 f., ferner Α. H. Birch , Representative and Responsible Government. London 1964, Kapitel V I I und Vili. 14*
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7. Das Ergebnis Damit waren Grundelemente einer zugleich parlamentarischen und parteienstaatlichen Massendemokratie dem überkommenen britischen Parlamentarismus eingefügt worden. Die Suprematie des Unterhauses hatte einer Dreiecksfigur Platz gemacht. Die neue Wählerschaft war mittels der organisierten Massenparteien sowie der Wahladressen und Wahlfeldzüge der parlamentarischen Führer in den politischen Prozeß eingespannt worden und gab den Ausschlag für die Regierungsbildung aus dem Parlament. Die Stellung der Regierung, die bereits durch die Ausdehnung der Gesetzgebung und die Änderung der Geschäftsordnung an Gewicht gewonnen hatte, wurde durch die plebiszitäre Legitimation und die zunehmende parteiliche Bindung der Abgeordneten erheblich gesteigert, so daß das Unterhaus den beiden anderen Faktoren, Wählerschaft und Regierung, gegenüber an wirklicher Macht unterlegen war und lediglich als Vermittler des Wählerwillens erscheinen mochte. Die Rolle der Wählerschaft wurde durch die Verkürzung der Legislaturperiode von sieben auf fünf Jahre (1911) noch unterstrichen. Die Regierung rückte von einem Komitee des Hauses zum eigentlichen Führungsorgan auf, das seinen Auftrag unmittelbar von der Wählerschaft erhalten hatte. Sie war Staatsorgan, Parlamentsausschuß und Parteivorstand, Herr der Ministerialbürokratie, Exekutive, Inhaber der Gesetzesinitiative und Kontrollinstanz über das Gesetzgebungsverfahren sowie allein verantwortliche oberste Entscheidungsinstanz. Der Premier war ihr unbestrittenes Haupt, der das Kabinett nach seinem Ermessen bildete und die politischen Grundentscheidungen sowie deren Ausführung verantwortete. Als oberster Ratgeber der Krone, als Vorsitzender des Kabinetts, als Führer und Vertreter des ganzen Unterhauses, als Leiter der Geschäfte des Unterhauses, als oberster Punkt der Entscheidung in Legislative und Exekutive, als Gewählter des Volkes und Repräsentant der britischen Politik vereinigte er in seiner Person die demokratischen, parlamentarischen und parteienstaatlichen Elemente des Herrschaftssystems. Das Unterhaus war demgegenüber zum Werkzeug seiner Regierung geworden. Indem die Krone bei eindeutigem Wahlausgang den Premier vor dem Zusammentritt des neuen Parlaments berief und dieser sein Kabinett selbständig zusammenstellte, und indem auf seinen Wunsch hin nach einer seit 1850 üblichen Konvention die Krone das Unterhaus auflösen und einem erneuten Plebiszit unterwerfen konnte, besaß er dem Parlament gegenüber eine Machtfülle auf Zeit, die ihn als plebiszitären Führer erscheinen ließ. Eine Desavouierung des Kabinetts oder des Premiers durch die Parlamentsmehrheit ist seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht mehr vorgekommen; nur eine Spaltung der Mehrheitspartei konnte nunmehr die Regierung gefährden. Die Beseitigung des absoluten Vetorechts des Oberhauses im Parliament Act von 1911 steigerte noch die Machtfülle des Premiers. Desgleichen drängte die Gewährung von Diäten an die Abgeordneten (1911) den Einfluß der Private Members weiter zurück und kam der wachsenden Fraktionsdisziplin und somit der Stellung des Premiers zugute.
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Trotz dieser Gewichtsverlagerung im politischen Entscheidungsprozeß blieb die Eigenständigkeit des Parlaments in vieler Hinsicht gewahrt. Die parteilichen Massenorganisationen knüpften an bestehende parlamentarische Gruppierungen an und wurden zu Stützen der Parlamentsparteien. Sie stellten einen Kompromiß zwischen der Bejahung moderner Massenparteien und der Beibehaltung alter Uberzeugungen dar. Ihre Führung lag im Parlament und disziplinierte sich an den Gepflogenheiten des Unterhauses. Gegenüber der Wählerschaft und den Parteien blieb die unantastbare Stellung des Abgeordneten während der Legislaturperiode erhalten. Vor allem blieb das Parlament das entscheidende Staatsorgan für die Herausbildung der konkurrierenden Führungsmannschaften der Parteien. Es spielte sogar eine besondere Rolle für die Sicherung des Zusammenhalts der großen Parteien, deren Stärke im Hause und bei den Wahlen nur bei innerer Geschlossenheit gesichert war. Außerdem nahm das Gesetz von den etablierten Parteien kaum Notiz und erst seit 1937 von der parlamentarischen Opposition. Jedenfalls erkannte weder das Wahlgesetz noch das Parlament förmlich die Rolle der Parteien an, so daß Parteibezeichnungen weder auf den Stimmzetteln noch in den amtlichen Parlamentsberichten vorkamen. Das „Wahlunrecht" (Löwenstein) des britischen Wahlsystems, das stets der Mehrheitspartei zugute kommt, gab sogar dem Unterhaus als Vermittler des Wählerwillens gegenüber der Regierung eine spezifische Echofunktion im Hinblick auf die Bewegung der öffentlichen Meinung. Der Gewinn der Debatten an Fernwirkung und Publizität wurde geradezu ein Ausgleich für den Verlust an Initiativrechten, wobei der plebiszitäre Bezug während der Legislaturperiode mehr durch das Parlament als durch die Regierung aufrechterhalten wurde. Die „By-Elections" unterstrichen diese Funktion des Parlaments. Der Regierung indessen wurde über den Rahmen der Geschäftsordnung hinaus keine gesonderte rechtliche Stellung zugebilligt. In gewisser Weise war nun die Regierung als dezidierte Parteiregierung sogar enger mit dem Parlament verbunden als früher. Der Premier und das Kabinett mußten sich immer eindeutiger aus dem Unterhaus rekrutieren - eine Regel, die heute nicht mehr durchbrochen werden kann. Der Mindestanteil der Lords im Kabinett wurde in der „Ministers of the Crown Act" 1937 gesetzlich festgelegt. Die politische Kontrolle der Regierung blieb weiterhin neben der Wählerschaft den beiden Häusern des Parlaments anvertraut. Die Opposition und manchmal auch die „Backbenchers" der Regierungsmehrheit wurden als Sprachrohr der öffentlichen Meinung tätig, ebenso wie die Berichte der Abgeordneten aus ihren Wahlbezirken, die durch die Kanäle der „Whips" an die Parteiführungen gelangten. Gegenüber dem Machtzuwachs des Kabinetts und der Minderung des Einflusses des Unterhauses gewannen die „Questions" an Bedeutung, die der Opposition und den „Backbenchers" der herrschenden Partei Inquisitionsmöglichkeiten eröffneten. Die „Question-Time" lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf bestimmte Fragen des öffentlichen Interesses und unterwarf Regierung und Verwaltung einer ständigen Kritik. Hier ist die einzige Stelle offen geblieben, die dem Private Member Wort und Einfluß zu geben vermag. Bei der zeitlichen Begrenzung des mög-
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liehen Kreuzverhörs kann freilich eine Änderung der Generallinie der Politik dadurch nicht erreicht werden, wie die seltenen „Urgency Motions" es vermögen. Die erst 1849 definitiv in die „Orders of the Day" eingeführte und 1902 näher geregelte Fragestunde ist das verbliebene letzte, aber öffentlichkeitswirksame Kontrollmittel des Parlaments als „Grand Inquest of the Nation", dem angesichts des Fehlens einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit erhöhte Bedeutung zukommt. Auch mußten weiterhin die offiziellen politischen Erklärungen der Regierung und die Entgegnungen der Opposition vor dem Parlament abgegeben werden, und nicht vor der Presse oder der Wählerschaft. Das Parlament blieb die Plattform, auf welcher sich die großen Entscheidungen vor den Augen der Welt abspielten. Es war und blieb die nationale Auslesestätte der politischen Führer, das Zentrum der Meinungsbildung, die eigenständige pädagogische Provinz, die Arena der antizipierten Wahlkämpfe und der Brennpunkt der gesellschaftlichen und politischen Kraftlinien. Mit der Erhaltung der überkommenen großen Staatsorgane einschließlich der Krone sind die kontinuierlichen korrigierenden Funktionen des Systems gegenüber der momentanen plebiszitären Führerschaft der Mehrheitspartei bewahrt geblieben und überformen den politischen Entscheidungsprozeß auf Loyalität und Vernunft hin. Eine einzigartige Rolle hatte dabei die parlamentarische Opposition gewonnen, die mit der „Ministers of the Crown Act" von 1937 als integrales Moment des parlamentarischen Systems statuiert wurde. Im modernen Verhältnis von Regierung und Opposition findet sich das ursprüngliche Verhältnis von Regierung und Parlament wieder; in der Opposition erscheint das Parlament noch als die alte „Grand Inquest of the Nation". An ihren Negationen haben sich die modernen Aktionsformen entwickelt, so daß sie gleichzeitig als Verkörperung des alten Gewaltenverhältnisses und als Schrittmacher zu einer erweiterten Form des politischen Betriebs gelten kann. Ihre Statuierung 1937 ist der Abschluß einer langen Entwicklung von Walpole bis zu Winston Churchill; ihre Existenz ist das wichtigste Element des heutigen Parlamentarismus. Aus der Opposition heraus wurde die Wand zwischen Parlament und Öffentlichkeit niedergelegt und der Fortschritt auf Demokratisierung hin erreicht. Der hier aufgezeigten Entwicklung erstanden freilich vielerlei Gefahren, wie etwa die Meinungsmanipulationen der seit der Jahrhundertwende aufkommenden Sensations- und Massenpresse, der gegenüber die meinungsbildende Funktion der parlamentarischen Führungskräfte sich erst durch die öffentliche Kontrolle neuer Kommunikationsmittel wie Funk und Fernsehen behaupten konnte, ferner der Eintritt der Interessenverbände in den politischen Betrieb seit der liberalen Sozialpolitik 1906 bzw. 1911 („the People's Budget"), der eine neue Form des Parlamentarismus „beyond and above the official Parliamentary Government" (Elfe Halévy) anzukündigen schien und eine stärkere Koordinierung von Regierungstätigkeit und -kontrolle herbeinötigte. Auch der Aufstieg von Labour als dezidierter Klassenpartei schob ein fremdes, lange Zeit nicht integrationsfähiges Element in den
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demokratisch-parlamentarischen Betrieb. Diese Problematik überschreitet aber den Rahmen unserer Betrachtung, die nur einige Grundzüge des Wandels im 19. Jahrhundert festhalten wollte, aus denen sich ergibt, daß gerade dieser Wandel die Lebensfähigkeit und Anpassungskraft des britischen Parlamentarismus bezeugt, dessen einzigartige Verbindung von Beharrung und Fortschritt, von Traditionalismus und Pragmatismus einen Erfolg verbürgte, der als Rechtfertigung für den Parlamentarismus überhaupt genommen werden darf.
Britischer und deutscher Parlamentarismus im Zeitalter der industriellen Massengesellschaft l. Die vorliegende Thematik läßt sich i m Rahmen einer knappen Abhandlung nicht i m entferntesten ausschöpfen; wohl aber läßt sich die Fruchtbarkeit des gewählten Ansatzes aufzeigen. Dieser Vergleich beschränkt sich auf wenige Hinweise, gewissermaßen auf „general remarks" oder auch „some footnotes", wie es sich für einen „Spectator" gehört, der das Forschungsgespräch über diesen Fragenkomplex als interessierter Beobachter verfolgt. 1 Einerseits wird die Wandlung des britischen Parlamentarismus aus den Bedürfnissen der aufsteigenden industriellen Massengesellschaft dargelegt und andererseits die Schaffung eines preußischen und deutschen Parlamentarismus auf die Bedürfnisse eines industriellen Machtstaates hin geschildert. Der Unterschied zwischen beiden deckt sich fast mit dem Unterschied zwischen Parlamentarismus und Konstitutionalismus. Der hier angestrebte Vergleich wäre müßig, wenn man den deutschen Konstitutionalismus von vornherein als verfehlte Mißgeburt abtun wollte. Vielmehr hat gerade die jüngere Forschung ein günstigeres Urteil gefällt und von einem spezifisch deutschen Weg gesprochen, der zugegebenermaßen seine strukturellen Inkompatibilitäten hatte. 2 1
Vergleichende Darstellungen sind stets problematisch und werden erst fruchtbar, wenn sie sich auf Vergleichbares beschränken und einen klar umgrenzten Teil der Lebenswelt ins Auge fassen. Hier geht es um einen verfassungsgeschichtlichen Vergleich, der auf deutlich markierbare geschichtliche Stufen bezogen ist und das unterschiedliche Funktionsgefüge des britischen und deutschen Parlamentarismus aufdecken soll. Beachtliche Versuche einer vergleichenden Darstellungsweise liegen bereits vor: Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich, Tübingen 1962; E.N. und R Anderson, Political Institutions and Social Change in Continental Europe in the 19 th Century, Berkeley 1968; Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 1970, bes. S. 29-40; Hans-Dietrich Loock/Hagen Schulze (Hrsg.), Parlamentarismus und Demokratie im Europa des 19. Jahrhunderts, München 1982. 2
Zum Unterschied zwischen Konstitutionalismus und Parlamentarismus vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918), Köln 1972, darin: ders., Der Verfassungstyp der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, S. 146-170; Hans Boldt, Parlament, parlamentarische Regierung und Parlamentarismus, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1972, Bd. 4, S. 645 f.; Gerhard A. Ritter, Entwicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus, in: Ders. (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus, Düsseldorf 1974; Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära. Düsseldorf 1982, über
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Vor dem Verfassungsstaat gab es in Preußen bereits eine königliche Rechts- und Verwaltungsverfassung, also ein weiterhin geltendes materielles Verfassungsrecht, dem die neue Verfassung mit ihren Repräsentationsorganen lediglich aufgepfropft wurde. Infolgedessen hatte das Monarchische Prinzip den zeitlichen und moralischen Vorrang vor der Konstitution und dem Repräsentationsprinzip, solange es das Königreich Preußen gab. Nichtsdestoweniger gab es hier Parlamentarismus, etwa im Preußischen Landtag, dessen Zweite Kammer als Repräsentationsorgan das Land als Ganzes vertrat sowie an Legislative und Budget beteiligt war. Oder etwa im Deutschen Reichstag, der alle Bürger im Reich repräsentierte und ohne den kein Reichsgesetz und kein Reichsbudget zustande kommen konnte. Aber Regierungsbildung im Parlament gab es nur in Großbritannien. Sie war das wichtigste Anliegen der Parteien und stand seit 1867 sogar im Mittelpunkt der Wahlkämpfe, die sich um das Ja oder Nein zur Regierung drehten. Seit den Wahlen von 1868 war das Land eine „parlamentarische Monarchie". 3 Was die zeitliche Abgrenzung dieses Vergleichs betrifft, sind für England die beiden großen Wahlreformen von 1832 und 1867 im Blickfeld, vor allem jene von 1867, weil hiermit die höchste Entscheidungskompetenz vom Parlament auf die Wählerschaft überging und die Regierung vom Komitee des Parlaments zum Vertrauensorgan der Wählerschaft wurde. Für Preußen und das Deutsche Reich ist die Zeit nach 1848 bis 1871 maßgebend, wobei „Vormärz" und 1848er Revolution ausgelassen sind, um sich nicht ins Uferlose zu verlieren. Beide Länder vollzogen in diesem Zeitraum den Sprung in die moderne Staatlichkeit. In England traten die privatrechtlichen Elemente des lokalen „SelfGovernment" hinter der öffentlich-rechtlichen Veranstaltung des Gesamtstaates zurück, sowohl im Parlament wie in der Lokalverwaltung. 4 In Preußen wurde die Mehrdeutigkeit des Konstitutionalismus-Begriffs S. 14f.; ders., Grundlagen des konstitutionellen Regiments in Preußen, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 41 55; Ernst R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, Bismarck und das Reich, Stuttgart 1978, über „Das Wesen der konstitutionellen Monarchie", S. 3 ff.; „Der Konstitutionalismus und das Monarchische Prinzip", S. 11 ff.; vgl. allgemein: W. Tormin, Geschichte des deutschen Parlamentarismus, Hannover 1966; immer noch grundlegend bleibt: Otto Hintze, Das Monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung (1911), in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Hrsg. von Gerhard Oestreich, Bd. 1, 2. Aufl., Göttingen 1962, S. 120-139. 3 Vgl. Karl Loewenstein, Der britische Parlamentarismus. Entstehung und Gestalt, Reinbeck b. Hamburg 1964; ders., Zum Begriff des Parlamentarismus, in: Kurt Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, Königstein/Taunus 1980, S. 65-69. Loewenstein unterscheidet „Klassische Parlamentsregierung" wie in der III. und IV. Französischen Republik, „Disziplinierte Parlamentsregierung" (Kanzlerdemokratie) wie der Bundesrepublik Deutschland und die „Parlamentarische Kabinettsregierung" in England. Für ihn sind die „Interorgankontrollen" zur Erhaltung eines Gleichgewichts der Gewalten entscheidend. Vgl. auch Klaus von Beyme, Der Begriff der parlamentarischen Regierung, in: K. Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, S. 188-198. 4 Vor 1832 gab es außerhalb des Parlaments überhaupt kein Parteiensystem. Vgl. R.T. Mackenzie, British political Parties, 2. Aufl., London 1963, S. 3; Großgruppen bildeten sich
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ebenfalls der privatrechtliche Patrimonialstaat (Carl Ludwig von Haller) von einem öffentlich-rechtlichen Staatsbegriff (Friedrich Julius Stahl) abgelöst und eine gleichförmige Kommunal- und Verwaltungsordnung sowie die volle Verstaatlichung des Gerichtswesens (kollegiale Kreisgerichte) 1849 erreicht. 5 Der gewaltige Unterschied lag darin, daß in Großbritannien die Furcht vor zuviel Staat dem Despotismus zentraler Bürokratisierung Grenzen setzte und die Erweiterung der Freiräume für Freihandel und Selbsthilfe ein Ziel der Modernisierung wurde. In Preußen dagegen ging die Konstitutionalisierung Hand in Hand mit einer Bürokratisierung, wobei den Beamten die öffentliche Parteinahme für die Staatsregierung zur amtlichen Pflicht gemacht wurde. 6 Das neue Deutsche Kaiserreich schließlich war eine einzigartige Kombination von Unvereinbarkeiten, nämlich ein auf fürstlicher Vereinbarung gegründeter Bundesstaat und zugleich ein auf demokratischer Zustimmung beruhender Nationalstaat, wobei der Bundesrat der Fürsten das alte Monarchische Prinzip und der Reichstag aller Reichsdeutschen das neue demokratische Prinzip verkörperten. Nur aus der Ubereinstimmung beider Gremien konnten Reichsgesetze hervorgehen. Denn weder der Deutsche Kaiser noch der Deutsche Reichskanzler besaßen das Recht zur Gesetzesinitiative, sondern nur Bundesrat und Reichstag, also Fürsten und Volk. 7 erst in den 1860er Jahren; Karl Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England vor der ersten Reformbill, in: Ders., Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 34 ff.; George Woodbridge, The Reform Bill of 1832, New York 1970; zu 1867 vgl. M. Cowland, 1867, Disraeli, Gladstone and the Revolution. The Passing of the Second Reform Bill, Cambridge 1967; Thomas Oppermann, Britische Unterhauswahlen und Zweiparteiensystem, Karlsruhe 1961, sieht den eigentlichen Wendepunkt auf das moderne Zweiparteiensystem unmittelbar nach dem Wahlgesetz von 1867 im sofortigen Rücktritt der Regierung Disraeli aufgrund des Wahlergebnisses von 1868, S. 109, 118; betr. Großparteien S. 112 f. Mit seinem Rücktritt machte Disraeli klar, daß nunmehr die Wählerschaft der Souverän war, der über die Regierung entschied. Vgl. Kurt Kluxen, Die Umformung des parlamentarischen Regierungssystems, in diesem Band, S. 187 ff. 5 Hans Boldt, Zwischen Patrimonialismus und Parlamentarismus. Zur Entstehung vorparlamentarischer Theorie in der Staatslehre des Vormärz, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Regierung, Bürokratie und Parlament (Anm. 2), S. 77-100; Dieter Grosser, Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, Köln/Opladen 1963, S. 124 f. 6
Harro-Jürgen Rejewski, Die Pflicht zur politischen Treue im preußischen Beamtenrecht (1850-1918), Berlin 1973, S. 85ff.; Dieter Kugele, Der politische Beamte. Eine Studie der Genesis, Motiv, Bewährung und Reform einer politisch-administrativen Institution, München 1976. 7
Zur heutigen Kontroverse über das Deutsche Kaiserreich: Michael Stürmer, Bismarcks Deutschland als Problem der Forschung, in: Ders. (Hrsg.), Das Kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918. Düsseldorf 1970, S. 7 - 2 5 ; Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973, spricht von einem „plebiszitär gekräftigten, bonapartistischen Diktatorialregime" mit manipulativen Herrschaftstechniken S. 67 f.; Michael Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871 -1880. Caesarismus oder Parlamentarismus, Düsseldorf 1974; danach war der Reichstag ab 1878 entmachtet und stand unter plebiszitärem Druck. Zur eigentlichen Diskussion: Hans Günther Zmarzlik, Das Kaiser-
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Der Reichstag hatte also durchaus gewichtigen Anteil an der Macht, aber keinen Anteil an der Regierung. Damit fehlte den Parteien i m Reichstag das politische Objekt zu publikumswirksamen Aktionen. Ihr Daseinszweck beschränkte sich vorwiegend auf defensive Rechtswahrung - ganz i m Gegensatz zu den britischen Parteien, deren Integrationskraft gerade darauf beruhte, daß sie die Regierungsgewalt beanspruchten.
2. Der britische Parlamentarismus der zweiten Jahrhunderthälfte war gekennzeichnet durch die Bildung des viktorianischen Zwei-Parteienwesens und den Ausbau außerparlamentarischer Apparate. Als die Zweite Wahlreform von 1867 über eine M i l l i o n Neuwähler hinzubrachte, kamen die Parteiapparate der Liberalen und der Konservativen zum Zuge. Ihr beschleunigter Ausbau ermöglichte erst eine neue Form des Entscheidungsprozesses, nämlich jenes Zusammenspiel von Wählerschaft, Regierung, Parlament und Parteien, in welchem die Wählerschaft erstmals als der Souverän mitspielte, welcher über die Regierung des Landes entschied. Es war eine Revolution, als der Premierminister Disraeli allein aufgrund des Wahlausgangs von 1868 zurücktrat, ohne den Zusammentritt des neu gewählten Parlaments abzuwarten. 8 reich in neuer Sicht?, in: Historische Zeitschrift 222 (1976), S. 105-162; an der weiteren Diskussion unmittelbar beteiligt waren Thomas Nipperdey (Geschichte und Gesellschaft 1, 1975, S. 539-560); Lothar Gall (Historische Zeitschrift 223, 1976, S. 618-637); Ernst Nolte (Historische Zeitschrift 228, 1979, S. 529-550); Otto Pflanze (Historische Zeitschrift 234, 1982, S. 561 -599). Wolfang J. Morqmsen, Das deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen, in: H. Berding u. a. (Hrsg.), Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Theodor Schieder. München 1978, 239-266; Otto Pflanze (Hrsg.), Innenpolitische Probleme des Bismarckreiches, München 1983. - Die meisten Kritiker des Bismarckreiches halten einen Dualismus von Parlament und Regierung im Rahmen des Konstitutionalismus für nicht praktizierbar und inkompatibel. Der Einzige, der es anders sieht und einen „verbindenden Funktionszusammenhang" anerkennt, ist Ernst R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III: Bismarck und das Reich (Anm. 2), S. 3 24; vgl. auch ders. (Anm. 2), Bd. IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, 2. Aufl., Stuttgart 1982, mit umfangreicher Spezialliteratur. Kritik an E. R. Huber bei Hans Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: Michael Stürmer (Hrsg.), Das Kaiserliche Deutschland, S. 119-142; vgl. auch W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 2. Aufl., Köln/Berlin 1968, S. 407-436. Vgl. die völlig anders gerichtete Kritik an dem deutschen Nationalstaatsentwurf bei Karl Buchheim, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Vorgeschichte, Aufstieg und Niedergang, München 1969; ferner Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt 1980. Vgl. auch die beiden gutfundierten Darstellungen der Geschichte des Kaiserreichs von Karl Erich Born, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 3 (Hrsg. Herbert Grundmann), Stuttgart 1963, S. 194-314; und in: Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 6 (Hrsg. Theodor Schieder), Stuttgart 1968, S. 198-231. 8 Vgl. Kurt Kluxen, Die Umformung des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien (Anm. 4), S. 123: „Erst nach der Reform von 1867 kam eine ständige Verbindung zwischen Parlament und Öffentlichkeit über die parteipolitischen Organisationen zustande". Be-
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Wie konnten sich solche Großparteien entwickeln? Vor der Bürgerlichen Reform von 1832 gab es nämlich weder innerhalb noch außerhalb des Parlaments etwas, das als Parteisystem zu bezeichnen war. Das Widerspiel zwischen Regierung und Opposition oder „His Majesty's Government" und „His Majesty's Opposition" (1826) bestimmte - wie seit den Tagen Robert Walpoles - das parlamentarische Leben; es hatte jedoch nichts oder wenig mit dem alten Whig-Tory-Gegensatz zu tun.9 Viele führende Politiker nannten sich aus Familientradition Whigs, dachten aber wie Tories, und manche Tories scheuten sich nicht, ausgesprochene WhigMaßnahmen offen zu unterstützen. Erst in den Kämpfen um die Reform-Bill profilierten sich unterschiedliche Auffassungen in grundlegenden Fragen, und es bürgerten sich vom Kontinent geborgte Neologismen ein, wie konservativ und liberal, die sich jedoch nicht eindeutig mit Whigs und Tories deckten. Es gab konservative Whigs und liberale Tories. Schließlich waren es Tories, die 1828 die Testakte aufgehoben und 1829 die Katholikenemanzipation zugelassen hatten; andererseits hatten die Whigs mit dem Reformwerk von 1832 ein konservatives Gesetz durchgesetzt - konservativ wegen der äußerst geringen Wahlrechtserweiterung sowie der Neuaufteilung der Wahlbezirke und der Einführung der Registrierungspflicht für die Wahlberechtigten, welche beide den Interessen der Konservativen entgegenkamen.10 Späterhin traten die Tories für weitere „Whig Measures" ein, wie für den Freihandel beim Widerruf der Korngesetze 1846 und dann das Haushalts stimmrecht in den Städten beim Zweiten Wahlreformgesetz von 1867. Der liberale Tory Sir Robert Peel war es, welcher aus dem Tory-Desaster von 1832 die Konsequenzen zog und den ersten Schritt auf eine effiziente Parteiorganisation außerhalb des Parlaments tat, ein Schritt, der weit über das bisher übliche Clubwesen hinausführte. Schon vorher hatte er deutlich gemacht, daß ihm das Vertrauen der Öffentlichkeit sogar wichtiger war als der Wunsch seines Königs. Er wandte sich im Tamworth-Manifest 1834 direkt an seine Wählerschaft, also die 586 Wähler seiner „Constituency" von Tamworth, und suchte dann über das im Wahlgesetz von 1832 obligatorisch gemachte Registrierwesen Einfluß auf die Wahlberechtigung zu nehmen.11 sonders durch Gladstone (1868 und 1879) wurde „der Durchbruch eines neuen Elements, nämlich der plebiszitär gewonnenen Legitimation eines Parteiführers", erreicht; ebd., S. 131. Vgl. auch Thomas Oppermann (Anm. 4). 9 Vgl. dazu Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert. Freiburg / München 1956; der Terminus „His Majesty's Opposition" taucht erstmals in der Unterhausrede von J.C. Hobhouse vom 10. April 1826 auf; er wurde in derselben Debatte scherzhaft aufgenommen, dann aber von Canning und Tierney ernsthaft verwandt. Vgl. A.S. Foord, His Majesty's Opposition 1714-1830. Oxford 1964. 10 Ivor Jennings, Party Politics Bd. I, Appeal to the People, Cambridge 1960, XXVI: „The first Reform Act greatly increased the influence of landowners". Erst mit der dritten Reformakte von 1884 und der Redistribution Act von 1885 wurde der Einfluß der Landlords und Tenants vollends beseitigt.
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In diesem Wahlgesetz waren Wahlregelungen getroffen worden, die die Qualität des Wahlvorgangs aufs tiefste veränderten. Einmal war die neue Wahlkreiseinteilung darauf bedacht, möglichst homogene Wahlkreise zu bilden, um öffentliche Parteikämpfe abzumildern, also die Parteigegensätze nicht unten im Wahlkreis, sondern erst oben auf der Ebene des Unterhauses aufeinanderprallen zu lassen. Deshalb gab es viele „uncontested seats" (nicht-umkämpfte Sitze), weil die unterlegene Gegenpartei nicht in einen völlig aussichtslosen Wahlkampf einsteigen wollte; noch 1868 und 1874 blieb die Hälfte der Unterhaussitze „uncontested". Dazu kam noch, daß die Wahlen nunmehr innerhalb von zwei Tagen stattzufinden hatten und deshalb eine Unmenge neuer und möglichst nahe gelegener Wahllokale eingerichtet werden mußte - in Städten jeweils für 600 Wähler. Außerdem waren zur Feststellung der Wahlberechtigung jährlich anzulegende und zu überprüfende Pfarr-Register vorgeschrieben. Sie sollten - für jede Pfarrgemeinde gesondert - von den Armenaufsehern (Overseers) angefertigt werden. Wer nicht registriert war, konnte nicht wählen. Zum Einschreibetermin im Juli mußten Wohnsitz, Steuerentrichtung und Armengeldabgabe (Taxes and Rates) nachgewiesen werden. Dies galt für Stadt und Land - aber in unterschiedlicher Weise. Bei der jährlichen Offenlegung der Listen im August waren Einsprüche möglich. Damit konnte man die Registration empfindlich stören, oder man konnte durch die Aufsplitterung von Besitzanteilen im Umfeld der großen Städte neue städtische Freeholders in die Grafschaftswahlen einschleusen, also die Differenz des städtischen Wahlrechts zum County-Wahlrecht zur Manipulation der Wahlberechtigung nutzen.12 Hier setzte Sir Robert Peel an. Sein großer Tory-Sieg von 1841 brachte auf der Gegenseite die Reformer in Bewegung. Die „Anti-Corn-Law League" und der „Dissent" schlugen in einer regelrechten „Registration Campaign" (1845/46) zurück, wobei in großem Maßstab Land und Häuser en bloc gekauft und in 40 Schilling-Anteile aufgeteilt wurden. Mit Tausenden von Einsprüchen der Liga und der drohenden Invasion von 10000 bis 12000 „Urban Freeholders" in die ländlichen Bezirke geriet „the Tremendous Engine" in Fahrt - zum Schrecken der Landbesitzer. 13 11 Norman Gash, Politics in the Age of Peel. A Study in the Technique of Parliamentary Representation, 1830-1850, London 1953; Robert Blake, The Conservative Party from Peel to Churchill, London 1970. 12 Allgemein: George Woodbridge, The Reform Bill of 1832, New York 1970; Karl Loewenstein, Zur Soziologie der parlamentarischen Repräsentation in England nach der Großen Reform: Das Zeitalter der Parlamentssouveränität, in: Beiträge zur Staatssoziologie. Tübingen 1961, S. 65 ff.; JA. Thomas, The System of Registration and the Development of PartyOrganisation 1832-1870, in: History NF 35 (1950), S. 81 ff.; David Cresap Moore, The Politics of Deference. A Study of the Mid-Nineteenth Century English Political System, New York 1976. S. 149, 247 ff. über das Registrationswesen; S. 281 f. über „uncontested Elections"; S. 300f. über „Registration-Associations" als lokale Basis des Parteiensystems. 13 Über die Anti-Kornzoll-Liga Norman McCord, The Anti-Corn Law League, 1838 — 1846, London 1959; zu den „Registration Campaigns" John Prest, Politics in the Age of
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Peel als Premierminister setzte nun den Widerruf der Korngesetze durch (1846) und schrieb beschleunigt Wahlen aus, um das Ergebnis jenes Registration-Feldzugs zu unterlaufen und die Liga aus dem Rennen zu werfen. Der organisatorische Kopf der Registrationskampagne war T. N. Roberts, der später der Hauptagent des liberalen Parteiapparates wurde. 14 Die Registriervereine, darunter auch die FreeholdAssociations, Building-Associations oder die Benefit-Investment Societies, waren die ersten lokalen Basen der bald aufkommenden nationalen Partei-Leviathane und nicht oder nur beiläufig das Clubwesen.15 Peel stürzte über seine liberale Irenpolitik, und am Widerruf der Korngesetze zerbrach die alte Tory-Partei. Peel starb 1850, und die letzten „Peeliten", mit Gladstone an der Spitze, gingen 1859 zur großen Liberalen Sammelpartei über. Was Lord Derby und dann Benjamin Disraeli, beide Konvertiten zum Toryismus, aus der Tory-Partei machten, war eine neue konservative Partei - allerdings nach einigen Jahren der „suspended animation" (Scheintod) und der Unentschiedenheit, als fast alle Parteipolitiker im Grunde zu „Peeliten" oder liberalen Tories geworden waren, wie die „Times" 1852 bemerkte. Deswegen gab es keine eindeutigen Mehrheiten mehr. Die „Goldene Zeit des Parlamentarismus" in England, als nicht die Vorurteile der Parteien, sondern die Argumentationen der parlamentarischen Debatte die Entscheidungen des Unterhauses bestimmten, war durch den Schlaf der Tories und die Zersplitterung der Liberalen möglich geworden. 16 Die Verschmelzung der liberalen Gruppen zu einer großen Volkspartei 1859 und die Gründung der „Liberal Central Association" in London 1861 sowie der „Birmingham Liberal Association" 1865, dann auf der Gegenseite der Aufbau der „Conservative National Union of Conservative and Constitutive Associations" 1867 als Partei des politischen Massenmarkts mit einem von den Wahlkreisen gewählten „Central Council" sowie dem „Conservative Central Office" 1870 zur Führung der politischen Geschäfte, dem dann auch die „Liberal National Federation" 1877 nacheiferte, markierten den Beginn eines neuen politischen Stils, der mit der Verdoppelung der Wahlberechtigten 1867 sogleich die Wahlen von 1868 bestimmte. Die Ballot-Act von 1872 für geheimes Wahlrecht, die Schaffung von Cobden, London 1977, hier Kapitel V: „The Tremendous Engine"; über den Registrationskrieg S. 139 f.; S. 111 ff. über das „Splitting of Property" zur Gewinnung von Stimmen; S. 135 über „Registration Returns"; S. 109 über die „Birmingham and Midland Counties Benefit Building Investment and Land Society"; S. 115 über die „Conservative Benefit Building Society". 14 Moisei Ostrogorski, Democracy and the Organisation of Political Parties, 2 Bde. London 1902, Bd. 1, John Prest (Anm. 13), S. 99. 15 John Prest (Anm. 13), S. 46-71; Hinweis auf das ältere irische Registrationssystem und die Tory-Politik dagegen; Stanleys „Irish Registration Bill" von 1840, S. 60-70. 16 Norman Gash, Reaction and Reconstruction in English Politics 1832-1852, Oxford 1965, zeigt die Zerstörung der Verfassungsbalance und jenen zwanzigjährigen Anpassungsprozeß, der 1852 in ein neues Gleichgewicht einmündete, das die „Goldene Zeit" des englischen Parlamentarismus ermöglichte. Karl Loewenstein, Das Zeitalter der Parlamentssouveränität (Anm. 12), S. 65 ff., 111 ff.
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Einerwahlkreisen und die Gleichsetzung von Stadt und Land 1884/85 sowie die Schaffung der „County Councils" 1888 besiegelten diese moderne Form eines Parlamentarismus der Massenparteien, die beide ein möglichst breites Spektrum abzudecken suchten, sich also als Volksparteien, und nicht als Klassenparteien verstanden. 17 Der öffentliche Wettbewerb der Großparteien gab sogleich der Wählerschaft die Entscheidung über die Regierungsbildung in die Hand; die Wählerschaft erteilte der Regierung ein generelles Mandat für die nächste Amtsperiode. Damit waren die Wahlen zu einem Volksentscheid geworden. Voraussetzung war, daß Parteiführung und parlamentarische Fraktionsführung identisch waren. Ferner wurde der Abgeordnete nicht als „Private Member", sondern als politischer Abstimmer für die Bildung einer Regierung gewählt. Dabei rückten die Fraktionen in die parlamentsrechtlich vorgezeichneten Funktionen von Regierung und Opposition. Das Parlament behielt eine Echofunktion i m Hinblick auf die öffentliche Meinung, vor allem auch i m Hinblick auf die unterlegene Seite, die häufig die zahlenmäßige Mehrheit hinter sich hatte. Das „Wahlunrecht" lag am Mehrheitswahlrecht; es stärkte das moralische Gewicht der Opposition und war ein ständiges Menetekel für die Regierung. Deswegen war auch das Recht der Regierung zur Auflösung des Unterhauses „das Geheimnis, welches die Parteien zusammenhielt" (Bagehot). 1 8 17 John R. Vincent, The Formation of the British Liberal Party, 1857-1868, Cambridge 1966, S. 82 f. Der Übergang von der parlamentarischen Whig-Partei zu einer liberalen Bewegung, insbesondere durch die Eroberung der öffentlichen Meinung in den Jahren 18571868, schränkt die sogenannte „Organisationstheorie" ein; ders., Pollbooks: How the Victorians voted, Cambridge 1967. Die Großparteien waren keine Klassenparteien: H. J. Hanham, Elections and Partymanagement. Politics in the Time of Disraeli and Gladstone, Cambridge 1959; behandelt wird die Zeit 1868-1880; vgl. auch Trevor Lloyd, The General Election of 1880, London 1968. Hanham und Lloyd zeigen die Stilisierung der Gegensätze zwischen Liberalen und Konservativen im Gefolge der „Midlothian Campaigns" Gladstones und der entsprechenden Parteiarbeit auf moralische Alternativen hin. Vgl. H. J. Hamer, Liberal Politics in the Age of Gladstone and Rosebery. A. Study in Leadership and Policy, Oxford 1972; für die Epoche 1868-1905, wobei als bewegender Impuls mehr ein humanitärer Enthusiasmus am Werke ist als eine systematische Theorie oder Programmatik. Für die konservative Seite vgl. Robert Blake, Disraeli, 2. Aufl., London 1969, maßgebende Biographie; deutsche Übersetzung von Klaus Dockhorn, Frankfurt 1980; Donald Southgate (Hrsg.), The Conservative Leadership 1832-1932, London 1974; ders., The Passing of the Whigs 1832-1886, London 1965. 18
Über das Wahlunrecht Vgl. Kurt Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, Frankfurt 1983, S. 171/172, 141 f.; N. Blewett, The Franchise in the United Kingdom, 1885-1918, in: Past and Present 32 (1965), S. 27-56; vgl. auch James Parker, The Cube Law, London 1909, wonach das zahlenmäßige Stimmenverhältnis der Parteien zueinander durch das Mehrheitswahlrecht nur wiederzuerkennen ist, wenn es in die dritte Dimension erhoben wird, also ein Verhältnis von 5:4:2 sich verändert auf 53:43:23, also 125:64:8, was allerdings nur als vage Faustregel genommen werden darf, da die dritte Partei und die Randgruppen wie Schotten, Waliser und Iren Anomalien verursachen. Vgl. R.T. Mackenzie, Probleme der englischen Demokratie, in: R. Löwenthal (Hrsg.), Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963, S, 56 f.
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Am Parlament vorbei stieg der plebiszitär bestellte Regierungschef zur Spitze empor - wie Gladstone 1868 und 1879. Dieses Plebiszit gab der Regierung erst das Gewicht im Parlament und notfalls auch gegen das Parlament zur Führung des Unterhauses. Die britische Regierung war Partei vorstand, Ausschuß der Majorität im Unterhaus, Vertrauensorgan der Wählerschaft, Herrin der Exekutive und Administrative und errang beim Ausbau der Geschäftsordnung nach 1880 (Closure, Guillotine, Time-Table) die Führung im Unterhaus. 19 Der Sturz der Regierung zog stets den Appell an die Wählerschaft nach sich. Das Parlament war der Vermittlungszusammenhang dieses Widerspiels, das nur reibungslos möglich war, weil außerdem ein institutioneller Rahmen geschaffen war, nämlich ein überparteilicher „Civil Service", der als weisungsgebundene, kontinuierliche und neutrale Instanz gegenüber der jeweiligen Parteiregierung den Sachverstand darstellte, ohne dabei über die Ausführungsverantwortung hinaus eigenes politisches Gewicht zu entwickeln. 20 Je mehr die Regierung in den Bereich der parlamentarischen Kontrollen hineingeriet, umso mehr bedurfte es einer solchen Instanz mit ausschließlich exekutiven Befugnissen. Der Civil Service rekrutierte sich aus dem öffentlichen Wettbewerb mit Prüfungen und Bewährungszeit. Der „Trevelyan-Northpote Report" 1853 und die „Civil Service Commission" 1855 sowie der „Order in Council" 1870 sicherten objektive Kriterien für einen Dienst, dessen Inkompatibilität mit jeglicher Parteipolitik eine Verwaltungsrevolution umschloß. Dieser nationale Civil Service entpersönlichte die lokal eingesponnenen Verhältnisse, vereinheitlichte die staatliche Effizienz und löste die Kohärenz der alten Wahlkörper mit der Zeit auf. Die Patronage von Krone und Regierung spielte hier kaum noch eine Rolle. Seit dem Epochenjahr 1867 gab es einen permanenten Unterstaatssekretär des Schatzamtes als „Official Head of the Home Civil Service" und verantwortlich für das innere Finanz- und Beamtenwesen. Uber ihm stand der Prime-Minister als „First Lord of the Treasury". Diese Austarierung der dynamischen und der stabi19 Über die Geschäftsordnung vgl. Kurt Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus (Anm. 18), S. 142-148; Peter Fraser, The Growth of Ministerial Control in the 19 th Century House of Commons, in: English Historical Review 75 (1960), S. 444 ff., 451 ff.; Josef Redlich, Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus. Die Geschäftsordnung des House of Commons in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1905. Fraser hebt die Bedeutung der an 1832 anschließenden Phasen der Geschäftsordnung hervor, während Redlich die zwischen 1871 und 1902 eingeführten Standing Orders als entscheidender ansieht. Lord Lampion, Parliamentary Procedure, Old and New, in: Parliament. A Survey, London 1952, S. 141 f. 20 Über den Civil Service: H.J. Hanham, The ^ - C e n t u r y Constitution 1815-1914. Documents and Commentary, Cambridge 1969, S. 314-338; Edward Hughes, Sir Charles Trevelyan and Civil Service Reform, 1853-1855, in: English Historical Review 64 (1949), S. 53-88; S. 206-234; Oliver Mac Donagh, The 19 th Century Revolution in Government: A Reappraisal, in: Historical Journal 1 (1958), S. 52-67; Harold J. Laski, Reflections on the Constitution. The House of Commons, the Cabinet, the Civil Service, Manchester 1951; K.C. Wheare, The Civil Service in the Constitution, London 1956.
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lisierenden Faktoren war ein wichtiges Arcanum, um das Funktionieren des britischen Parlamentarismus zu sichern. Mit dieser Schaffung eines Civil Service abseits der Parteien verschoben sich die parlamentarischen Auseinandersetzungen von der Verwaltung auf die Gesetzgebung, vom Beschwerde- und Rügegericht auf die Politik. Krone und Beamtenschaft waren aus dem Kampffeld der Politik ausgeschieden. Dadurch erst wurde die Alternativentscheidung über die künftige Regierung durch den nationalen Wahlentscheid ermöglicht. Vielleicht gehörte es zur Tragik der Vorgeschichte des deutschen Parlamentarismus, daß die innenpolitische Krisensituation in Großbritannien zwischen den großen Wahlreformen völlig mißverstanden und als Ausartung oder Irrweg angesehen wurde. Das war freilich kein Wunder, weil die Engländer selbst eine ähnliche Kritik übten, wenn etwa die konservative „Westminster Review" in den Jahren 1855 und 1858 ihre schärfste Polemik gegen die neuen Parteien losließ und deren Eliminierung forderte. Sie seien das Haupt- und Erbübel, ja „kriminelle Verschwörungen", die möglichst bald verschwinden müßten. Auf deutscher Seite meinte Karl Marx in der „Neuen Oder-Zeitung" vom 6. März 1855 in seinem Artikel „Die britische Konstitution", die englische Verfassung sei „ein überlebtes, verjährtes, veraltetes Kompromiß zwischen der nicht offiziell, aber faktisch ... herrschenden Bourgeoisie und der offiziell regierenden Grundaristokratie". Er sprach hier ein Fehlurteil aus, das späterhin eher auf Deutschland zutraf. Auch Lothar Bucher (1855), Rudolf Gneist (1860/1884) und sogar noch Robert Redslob (1918) verkannten mit Blick auf das berühmte „Seif Government" oder auch auf das 18. Jahrhundert Walpoles und Pitts völlig das Wesen des modernen britischen Parlamentarismus. 21
3. Die preußische Parlamentsgeschichte im engeren Sinne begann mit der „oktroyierten" Verfassung vom 5. Dezember 1848 als der „rettenden Tat" nach dem Scheitern der Berliner Nationalversammlung, eine Verfassung, die auf weite Strekken den liberalen Vorstellungen entgegenkam. Sie kündigte zudem die Rückkehr zum Vereinbarungsprinzip an - wenn auch im vorgesteckten Rahmen. Das Wahlgesetz vom 6. Dezember 1848 sah ein allgemeines, gleiches, jedoch indirektes Wahlrecht vor, dazu Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Wahlgangs für 2,5 Millionen Urwähler, wobei auf 250 Seelen ein Wahlmann zu wählen war; das waren im ganzen 10 000 Wahlmänner. 22 21 Dazu Hans Boldt, Parlamentarismustheorie. Bemerkungen zu ihrer Geschichte in Deutschland, in: Der Staat 19 (1980), S. 390 ff.; Kurt Kluxen, Zur Theorie des Parlamentarimus, in: Ders., Geschichte und Problematik des Parlamentarismus (Anm. 18), S. 175 f.; über Redslob, Hugo Preuß, Max Weber, 178 f. Vgl. Reinhard J. Lamer, Der englische Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks (1857-1890), Lübeck/Hamburg 1963. 22 Text des Wahlgesetzes vom 6. Dez. 1848 in: Ernst R. Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 1, Stuttgart 1978, Nr. 191. 15 K l u x e n
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Am 30. Mai 1849 erfolgte die zweite „rettende Tat", diesmal zugunsten der Reaktion, und verordnet von der Regierung Brandenburg-Manteuffel, nämlich die Einführung des Drei-Klassen-Wahlrechts, das sich nach den staatlichen Steuerleistungen in den einzelnen Wahlbezirken richtete. 23 Die Masse der Wählerschaft wurde in die Dritte Klasse verwiesen; sie mußte in Gegenwart der beiden anderen Klassen ihre Wahl zu Protokoll geben und dann das Wahllokal verlassen. Dann folgte die Zweite Klasse; sie mußte nach ihrem Wahlgang den wenigen Wählern der Ersten Klasse das Feld überlassen. Nach diesen Urwahlen wählten die Wahlmänner des ganzen Wahlkreises gemeinsam die Abgeordneten. Kaum ein Viertel der Dritten Klasse ging zur Wahl, teils aus der Apathie des enttäuschten Bürgertums, teils aus dem Protest der demokratischen Linken, und auch teils wegen des diskriminierenden Wahl Verfahrens. Andererseits galt der Nicht-Wähler den Behörden als illoyal und wurde als Parteigänger der „Demokraten" verdächtigt. 24 Die neue Verfassung war ein Kompromiß, der das „Monarchische Prinzip" mit dem „Repräsentationsprinzip" kombinierte. 25 Die Fülle der Staatsgewalt blieb beim Fürsten, während das Repräsentativorgan, also die 350 Mitglieder des „Abgeordnetenhauses", sich auf Mitwirkungsrechte in Legislative und Budget beschränkte. „Beschränkt" war weniger die Monarchie als die Konstitution. Regierung, Heer und Verwaltung blieben „königlich", und was die beiden preußischen Kammern anging, sollten sie in gleicher Weis an der Legislative beteiligt sein. Da das „Herrenhaus" als Erste Kammer seit 1854 vom König berufen wurde, vorwiegend aus dem Adel und auf Lebenszeit, war das Abgeordnetenhaus das eigentliche und einzige Repräsentativorgan. 26 Ihm fehlte aber das Selbstversammlungs- und Auflösungsrecht. Nach seiner Geschäftsordnung kannte es keine Fraktionen oder Parteien, sondern nur Abteilungen, Ausschüsse und nichtöffentliche Kommissionen, deren Arbeit von den ministeriellen Ressorts abhing. In den Plenardebatten dominierten die Berichterstatter, und Gegenreden konnten durch Antrag auf Tagesordnung jederzeit unterbunden werden. Die Kammer arbeitete fast wie eine kollegiale Behörde, nämlich wie eine Clearingstelle zwischen Regierung und Bürokratie - und nicht wie ein Gegenpart der Regierung. Es bildeten sich zwar bald Fraktionen wie die Wochenblattpartei, die Ritterschaftspartei, die Restaurative Rechte, die Liberale Linke, die Katholische Partei, die „Verfassungstreuen" und 23 Ernst R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III (Anm. 2), S. 85 ff.; H Dietzel, Die preußischen Wahlreformbestrebungen von der Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts bis zum Beginn des Weltkrieges, Dissertation Köln, 1934. 24 Vgl. Huber (Anm. 2), S. 87: „Zu den schlimmsten Mißständen des preußischen Wahlrechts gehörte die Öffentlichkeit der Wahl"; Bismarcks Äußerung über das Wahlrecht ebd., S. 94. 25 Zur Beurteilung der Oktroyierten Verfassung Vgl. Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen (Anm. 2), S. 52-65. 26 Huber (Anm. 2), S. 81 - 8 5 über das Herrenhaus; S. 85-94 über das Abgeordnetenhaus mit Wahlsystem, dessen Auswirkungen und Ergebnisse sowie die Parteiungen seit 1855. Vgl. auch Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 - 1850, Düsseldorf 1977.
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die Polenpartei. Eine Verbindung mit der Wählerschaft war vorerst kaum bemerkbar und eine Mitgestaltung, die über die Aufrechterhaltung des zugestandenen status quo hinausging, zeigte sich erstmals im preußischen Verfassungskonflikt 1860/1862. 2 7
Indessen handelte es sich bereits um einen konstitutionellen Rechtsstaat. Der König hatte einen Eid auf die Verfassung geleistet (6. Februar 1850), und die Abgeordneten waren nicht ständisches Organ, sondern Repräsentanten des ganzen Volkes. Außerdem unterwarf die Verfassung auch die Verwaltung dem Prinzip der „Gesetzmäßigkeit". Jedoch blieben Regierung, Beamtenschaft und Heer unmittelbar dem König verpflichtet. Der konstitutionelle Staat war immer noch königlicher Militär- und Beamtenstaat. Dies bedeutete nicht nur, daß König und Regierung über dem Parlament standen, sondern daß das bereits vorgegebene, geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht Vorrang vor der neuen positivierten Konstitution hatte. Neben den königlichen „Vorbehalten" innerhalb des neuen Kompetenzengefüges der neuen Verfassung blieb schon bestehendes materielles Verfassungsrecht weiterhin in Kraft. Schon die Preußischen Reformen und die Stein-Hardenbergsche Ministerialreform hatten ein Stück Konstitutionalismus vorweggenommen, indem sie den Übergang vom selbstregierenden zum neutralen Königtum einleiteten.28 Die bereits im „Vormärz" zustande gebrachte preußische Verwaltungsverfassung mit Provinzen, Regierungsbezirken, Städten, Kreisen und Gemeinden stellte eine kunstvolle Kombination von autoritären, kollegialen und repräsentativen Elementen dar, wobei unmittelbar unter dem König ein kollegial verfaßtes Staatsministerium mit Immediatrecht jedes Fachministers zum König hin bestand; darunter gab es die Provinziallandtage als (de-facto) Repräsentativvertretungen mit dem Oberpräsidenten als behördlichem (autoritären) Gegenpol; dann die kollegialen Beamtenparlamente der Bezirksregierungen, darunter die Kreistage mit dem Landrat als amtlicher Spitze und schließlich die Gemeinderäte (bzw. die Stadtmagistrate) mit dem Bürgermeister als autoritären Gegenpol. Oberpräsidenten bzw. Erste Regierungspräsidenten, Landräte und Bürgermeister waren den Vertretungsorganen zugeordnet und damit seit jeher ex officio „politische Beamte". Trotz der Einrichtung eines preußischen Ministerpräsidenten im Jahre 1848 blieb die Kollegialverfassung des Preußischen Staatsministeriums in Kraft bis 1918, welches sich keine Gleichschaltung in ein „Kabinett" gefallen ließ. 29 27 Günther Grünthal, Die Grundlagen des konstitutionellen Regiments in Preußen 1848 1867, in: Gerhard A. Ritter, Regierung, Bürokratie und Parlament (Anm. 2), S. 41 -55. 28 Über die Verwaltungsverfassung des Vormärz schreibt besonders eindruckvoll Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791-1848, Stuttgart 1967. Seiner Interpretation folgt hier die Darstellung. 2 9 Vgl. dazu Ernst R. Huber (Anm. 2), Bd. III, S. 64 f., 658 f., 823. Die Kollegialverfassung des preußischen Staatsministeriums blieb erhalten, als sich in Bund und Reich das strenge Kanzlersystem durchsetzte. Trotz der engen Real- und Personalunion handelte es sich 15*
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Diese preußische Verwaltungsverfassung erschien den täglichen Interessenkonflikten gegenüber als überparteilicher neutraler Schiedsrichter und Garant des Rechts. Das neue Disziplinarrecht von 1852 verbot den Beamten „Parteinahme gegen die Staatsregierung 4'. Uber allen Klassen, Konfessionen und Parteien galt diese amtliche Neutralität des gouvernementalen Bereichs, welche jeder Demokratisierung von vornherein den Boden entzog. Daraus ergab sich die Ablehnung der politischen Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament. Die Regierung erwartete von der ganzen Beamtenschaft „positive Wahlhilfe" gegen „regierungsfeindliche" Kandidaten und betrachtete politische Abstinenz als illoyal. Sie bediente sich der Landräte, die gleichzeitig Wahlagenten, Wahlkommissare und oft auch Abgeordnete waren; sie hatten die Hauptlast des gesamten Wahlgeschäfts zu tragen und zuguterletzt über ihre Tätigkeit amtlichen Bericht zu erstatten. 30 Im Jahre 1855 wurde fast jeder vierte Landrat ins Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Von den 320 Abgeordneten dieser sogenannten „Landratskammer" gehörten 125, also 35%, zu den „politischen Beamten", die sich alle mit der Regierung identifizierten. Dieser vermeintlich überparteilich-neutrale Gouvernementalismus nötigte die Konservativen, sich mit dem Verfassungsstaat zu arrangieren - und zwar lediglich im Sinne eines Rückversicherungsvertrags auf Gegenseitigkeit. Der Ministerpräsident von Manteuffel trug sich sogar mit der Absicht, in Fortentwicklung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 die überkommenen „gottgegebenen Anhängigkeiten" in „organischen Gesetzen" zu positi vieren. Dem ganzen System fehlte im Grunde der Oberbegriff, der neues Verfassungsrecht und überkommene Verfassungswirklichkeit umgriffen hätte. Deswegen erschien die Preußische Verfassung wie eine etwas umständliche Status-quo-Garantie, die im „wohlverstandenen Interesse der preußischen Monarchie" lag. 31 um verschiedene Regierungsverfassungen im Reich und in Preußen. Die Gleichstellung aller preußischen Minister mit dem Ministerpräsidenten war nicht mit der Richtlinienkompetenz des Reichskanzlers zu vereinbaren. Die Kabinettsordre von 1852 hob den Vorrang des Ministerpräsidenten hervor und sicherte ihm eine Koordinierungskompetenz. Text der Kabinettsordre vom 8. September 1852 bei Ernst R. Huber (Anm. 2), Bd. 2, Nr. 6. Ungeachtet dieses Vorrangs leitete jeder Minister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. 30
Dieter Kugele, Der politische Beamte. Eine Studie der Genesis, Motive, Bewährung und Reform einer politisch-administrativen Institution, München 1976; Harro-Jürgen Rejewski, (Anm. 6); Hans Fenske, Preußische Beamtenpolitik vor 1918, in: Der Staat 12 (1973), S. 339356; ders., Der Landrat als Wahlmacher. Eine Fallstudie zu den Reichstagswahlen von 1881, in: Die Verwaltung 12 (1979), S. 432-456; John C.G. Röhl, Beamtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland, in: Michael Stürmer (Hrsg.), Das Kaiserliche Deutschland (Anm. 7), S. 287-311. Vgl. auch zur Professionalisierung des Landratsamtes in den 1870er Jahren und dessen konservative Homogenisierung: Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1969, S. 553-556. 31 Vgl. Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen (Anm. 2), S. 261 f. über die Verfassungsdiskussion im konservativen Lager; die „Überparteilichkeit" bei Manteuffel (S. 281), seine Idee der Reform (S. 285), der Versuch der institutionellen Umsetzung seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen in einen korporativen Verfassungsstaat (S. 285), sein „milder Absolutismus" (S. 286), sein Verhältnis zur Kamarilla sowie das „System Manteuffel"
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Die Rechte der Zweiten Kammer auf Mitentscheidung im Gesetzgebungsverfahren und Mitsprache beim jährlichen Budget wurden erstmals ausgeschöpft, als eine liberale Mehrheit ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Die „Neue Ära" unter der Regentschaft des Prinzen Wilhelm 1858-1861 und das Wiederaufleben der deutschen Frage durch den Italienisch-Österreichischen Krieg 1859 brachten plötzlich Bewegung in die Politik. Seit 1860 versuchte die große Mehrheit der Kammer, sich über das Budget ein Mitspracherecht bei der Militärreform zu verschaffen, also ein Reservat des Königs anzutasten. Daraus entstand der „preußische Verfassungskonflikt' 4, bei dem jedoch niemand etwa an die Übernahme der Regierungsgewalt dachte. Die Regierung arbeitete mit Abbruch der Verhandlungen, Auflösung renitenter Kammern, budgetlosem Regiment, Wahlbeeinflussung, Restriktionen und Schikanen. Die Kammer antwortete mit Budgetkürzungen, Steuerverweigerungen, Drohungen, Mißtrauenserklärungen, Ministeranklagen und Mandatsniederlegungen.32 Schließlich entzogen die Wahlniederlagen der Regierung die konstitutionellen Grundlagen. Bismarck sah die Ursache des Konflikts im Mangel einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Militärgewalt, also in einer „Lücke" der Verfassung. Diese „Lücke" berechtigte den Monarchen, Artikel 109 der Verfassung anzuwenden, welcher die vorläufige Fortdauer des alten Budgets zuließ, wenn kein neues Etatgesetz zustande kommen konnte. Bismarck regierte unter Berufung auf die „Lückentheorie" weiter. 33 Dieser Verfassungskonflikt wurde niemals gelöst. Die von Bismarck 1867 erbetene „Indemnität" gegenüber der Kammer betraf lediglich die budgetrechtliche Seite und stellte eine „Entlastung" dar, aber keine nachträgliche Genehmigung. Eine wehrrechtliche Indemnität stand überhaupt nicht zur Debatte, weil inzwischen (S. 294), das prinzipiell mit dem „System Bismarck" identisch war (S. 294/5). Vgl. S. 284 über „die rechte staatsmännische Unbefangenheit" in Bezug auf die soziale Revolution bei Manteuffel (Bezug auf Wilhelm Heinrich Riehl) und seinen resignierenden Indifferentismus (S. 293) im Sinne eines Systems der umgangenen Entscheidungen (W. J. Mommsen). 32 Rainer Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (Anm. 2), S 171-194; Hans Boldt, Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie. Eine Auseinandersetzung mit E. R. Huber, in: Probleme des Konstitutionalismus, 1975, S. 75 ff.; Ernst R. Huber (Anm. 2), Bd. III, S. 290 ff. 33 W. Becker, Die angebliche Lücke der Gesetzgebung im preußischen Verfassungskonflikt, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980), S. 257-83; Eugene N. Anderson, The Social and Political Conflict in Prussia, 1858-1864, Lincoln / Nebr. 1954; Otto Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung (1911), in: Ders., Staat und Verfassung (Anm. 2); Dieter Grosser, Grundlagen und Struktur der Staatslehre F. J. Stahls (Anm. 5), S. 124; über die Bedeutung des Verfassungskonflikts in Hinsicht auf eine Parlamentarisierung vgl. Georg Jellinek, Regierung und Parlament in Deutschland, in: Vorträge der Gehe-Stiftung Bd. 1, Leipzig und Dresden 1909, S. 1 - 3 6 ; der Verfassungskonflikt sei „kein Streit um politische Macht, sondern ein Rechtsstreit gewesen" (S. 24). Eine Vorherrschaft bis hin zur Einsetzung der eigenen Parteigänger, also eine Parlamentarisierung, sei gar nicht angestrebt worden. Man strebte nicht nach der Regierung, sondern nur nach Macht über die Regierung
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II. Zur Problematik und Geschichte des Parlamentarismus
mit der Bildung des „Norddeutschen Bundes" alle Fragen des Wehrrechts und der Militärgewalt in die Kompetenz des Bundes übergegangen waren. Bismarck dachte zu keiner Zeit an eine Revision der Ergebnisse des Verfassungskonflikts. 34 Im Gegenteil: Schon im Januar 1867 lockte er die norddeutschen Regierungen mit der Feststellung, sein eigentliches Endziel bei der Bildung des „Norddeutschen Bundes" sei gewesen, „den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus zu stürzen". 35 Nicht über den Verfassungskonflikt, sondern über den glanzvollen Sieg bei Königgrätz 1866 geriet der deutsche Liberalismus in eine ernste Identitätskrise. Mit der Gründung der „Nationalliberalen Partei" fand er den Anschluß an Bismarcks „Realpolitik" und vertat die Chance, die sich ihm mit dem Verfassungskonflikt angeboten hatte.36 4. Die im Konstituierenden Norddeutschen Reichstag von 1867 beschlossene Bundesverfassung und spätere Reichsverfassung beruhte auf dem Bundesvertrag der Fürsten und hatte den Vorzug, „kurz und dunkel" zu sein wie weiland die napoleonischen Verfassungen der Rheinbundzeit. Der Bundesrat als Organ der „verbündeten Regierungen" galt formell als Souverän des Reiches; ohne ihn konnte sich nichts bewegen. Er war parlamentarisch unverantwortlich und unangreifbar, aber doch in die Verfassung eingebunden, insofern er in der Exekutive nichts ohne Kaiser und Kanzler, und in der Legislative nichts ohne den Reichstag bewirken konnte. In Bezug auf die Legislative war er ein dem Deutschen Reichstag gleichgestelltes und gleichberechtigtes Verfassungsorgan. Aber er machte den Reichskanzler parlamentarisch unangreifbar, insofern dessen Ausscheiden nicht erzwingbar war, selbst wenn eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Reichstags ihm das Vertrauen entzogen hätte; denn das einstimmige Votum des Bundesrates konnte eine solche (S. 35). Das bedeutete praktisch den Wandel von der politischen Opposition zur Interessenvertretung. 34 Vgl. über Indemnität und deren verfassungsrechtliche Bedeutung E. R. Huber (Anm. 2), Bd. III, S. 350f.; 358 ff.; 365 f.; vgl. auch „Das Entscheidungsrecht im Verfassungskonflikt" ebenda S. 341-348. 35 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (hrsg. von Hans Herzfeld), München 1962, S. 440. 36 Zur „Realpolitik": Hans Rothfels, Zeitgeschichtliche Betrachtungen, 2. Aufl., Göttingen 1962, S. 179-198; KG. Faber, Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 1 - 4 5 ; F. P. Kahlenberg, Das Epochenjahr 1866 in der deutschen Geschichte, in: Michael Stürmer (Hrsg.), Das Kaiserliche Deutschland (Anm. 7), S. 51-74; H. Lacher, Das Jahr 1866, in: Neue Politische Literatur 14 (1969), S. 83-99; Lothar Gall, Liberalismus und bürgerliche Gesellschaft. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Ders. (Hrsg.), Liberalismus, Köln 1976, S. 162-186; James J. Sheehan, German Liberalism in the 19 th Century, Chicago 1978; Klaus Erich Pollmann, Parlamentseinfluß während der Nationalstaatsbildung 1867-1871, in: G. A. Ritter (Hrsg.), Regierung, Bürokratie und Parlament (Anm. 2), S. 56-75; Heinrich August Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 5 - 28.
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Entscheidung in Wochenfrist wieder aufheben. I m Grunde blieb dem Reichstag nur eine einzige Kompetenz, nämlich in Bezug auf die Gesetzgebung und das Budgetrecht. 37 Die Institution des Bundesrates und das preußische Übergewicht schirmten den Reichskanzler vor Führungsansprüchen des Reichstags ab. Der Kanzler hatte nämlich als preußischer Ministerpräsident und preußischer Außenminister seine Regierungsbasis außerhalb des Parlaments. I m Grunde gab es keine „Kaiserliche Regierung", derer die Parteien sich hätten bemächtigen können. Eigentlich gab es nur ein Regierungslager mit Reichskanzler, Reichsstaatssekretären, preußischem Staatsministerium, Bundesrat und dem Kaiser mit dessen persönlichen Stäben. 38 Demgegenüber repräsentierte der Reichstag das spektakulärste Element der ganzen Verfassung, nämlich das allgemeine, gleiche, geheime, direkte, männliche Wahlrecht, ein MehrheitsWahlrecht ohne jeglichen Zensus - weder i m aktiven noch i m passiven Wahlrecht. Dies war noch keine Revolution, wohl aber eine Drohung mit der Revolution - an die Adresse des liberalen Bürgertums; es diente nicht der Stärkung, sondern eher der Verunsicherung des parlamentarischen Prinzips. 3 9 37 Vgl. Michael Stürmer, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat (Anm. 7); Bernhard Mann, Zwischen Hegemonie und Partikularismus. Bemerkungen zum Verhältnis von Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen 1897-1918, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Regierung, Bürokratie und Parlament (Anm. 2), S. 76-89. Hier der „Souverän" als das Kollektiv der „Verbündeten Regierungen" (S. 86); Theodor Maunz, Der Bundesrat in Vergangenheit und Gegenwart, in: Historisches Jahrbuch 74 (1955), S. 546 ff.; Über die Stellung des Bundesrates und sein Verhältnis zum Reichstag und zur Reichsleitung: Ernst R. Huber (Anm. 2), Bd. III, S. 848-852. 38 Über die „Reichsregierung" als Problem: Rudolf Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, Münster 1957; Otto Hintze, Das preußische Staatsministerium im 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Verfassungsgeschichte, Bd. I, Leipzig 1941; E. Klein, Funktion und Bedeutung des Preußischen Staatsministeriums, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 9/10 (1961), S. 125-261; Bernhard Mann, Das Herrenhaus in der Verfassung des preußisch-deutschen Kaiserreichs. Überlegungen zum Problem von Parlament, Gesellschaft und Regierung in Preußen 1867-1918, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung (Anm. 2), S. 279-298. Wichtigste Literatur bei M. Stürmer, Regierung und Reichstag (Anm. 7), in der Einleitung: Reichstag und Regierung im Zeitalter Bismarcks als Forschungsgegenstand, S. 9-26. 39 Bei diesem Reichstagswahlrecht galt die absolute Mehrheits wähl, also nicht die relative Mehrheitswahl wie in England. Hier war gewählt, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigte; im Deutschen Reich jedoch mußte ein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht haben, sonst entschied ein zweiter Wahlgang als Stichwahl zwischen den beiden ersten Kandidaten. Soldaten durften das aktive Wahlrecht nicht ausüben, durften aber gewählt werden (passives Wahlrecht). Es war kein Individualrecht sondern ein Staatsbürgerrecht. Das Verfassungsrecht kannte keine Wahlpflicht. Die Wahlbeteiligung stieg von 50% 1871 auf über 60% 1884 und 1907-1912 lag sie bei über 80%. Im Ganzen begünstigte dieses Wahlrecht ein stetiges Wachsen der oppositionellen Richtungen, also des Zentrums und der Sozialdemokratie. Das wichtigste Mittel der Regierung gegen die parlamentarische Opposition war die vorzeitige Auflösung des Reichstags, die fünfmal erfolgte, wobei jeder beliebige Grund zur Auflösung führen konnte. Vgl. Ernst R. Huber (Anm. 2), Bd. III, S. 883. Die Reichsverfassung hatte
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II. Zur Problematik und Geschichte des Parlamentarismus
Das MehrheitsWahlrecht brachte es mit sich, daß zuerst in jedem Wahlkreis nur zwei Kandidaten sich zur Wahl stellten. Später, als sich ein Vielerlei an Parteien und regionalen Sonderheiten anmeldete, waren es meist vier Kandidaten, was oft 'eine Stichwahl nach sich zog. Es gab schon bald in den Reichstagen mehrere liberale und konservative Gruppen, das Zentrum, die Sozialdemokratie, dann die Polen, Weifen, Dänen, die Elsässer und Lothringer. Ein Sonderfall war der Pole von Choziszewski, der in 42 Wahlkreisen gleichzeitig kandidierte und im ganzen 45 000 Stimmen für sich verbuchen konnte, ohne dabei einen Sitz erringen zu können. Der Schwerpunkt der parteipolitischen Formierung lag anfangs bei der liberalkonservativen Mitte, deren Bündnis die Rückkehr zum Absolutismus ebenso ausschloß wie den Fortgang zum Parlamentarismus. Die Parteien genossen einen anerkannten Verfassungsstatus: ihnen waren überörtliche Wahlvereine über das geltende Vereinsrecht hinaus erlaubt; ferner eine Mindestgarantie für Versammlungs- und Vereinsfreiheit zugesichert (1869). 40 Zudem gab es keine amtlichen Stimmzettel, sondern nur die eigenen Stimmzettel der Kandidaten. Es gab allerdings keine dauerhafte aktionsfähige Mehrheit im Reichstag - weder für noch gegen die Regierung. Er war ein Parlament ohne Opposition und auch ohne Regierungspartei. Es gab zeitweilig das Bismarck-Kartell (1887-1890) und den Bülow-Block (1907-1809), 41 aber kein echtes politisches Handeln auf eine Alternative oder einen Gewinn der Regierung hin. Es fehlte das politische Objekt, also die parlamentarisch verantwortliche Regierung - und damit eine unumgängliche Voraussetzung für einen wirklichen Parlamentarismus. Niemand stellte den überparteilichen Führungsanspruch der Regierung in Frage. Die Parteien strebten nach Macht über die Regierung, nicht aber nach Regierungsmacht.42 Sie betrachteten sich als konkurrierende Minderheiten, die ihren Vorteil besser gewahrt fanden, wenn sie eigenständig blieben und punktuelle Absprachen bevorzugten. Eine kohärente Politik gegenüber der Regierung kam dabei nicht zustande.
nach Art. 32 Diätenverbot, um keinen „gewerblichen Parlamentarismus" (Bismarck) aufkommen zu lassen, dagegen zahlte Preußen an seine Abgeordneten offene Diäten aus der Staatskasse. Erst 1906 erhielt der Art. 32 eine neue Fassung, bei der statt Besoldung von Aufwandsentschädigung gesprochen wurde (S. 895). Den kritischen Stimmen zum Wahlgesetz versicherte Bismarck im konstituierenden Reichstag (März 1867): Die Wahlrechtsgleichheit sei „keineswegs ein tief angelegtes Komplott gegen die Freiheit der Bourgeoisie in Verbindung mit den Massen zur Errichtung eines cäsarischen Regiments" (S. 661); aber es war genau der nationalliberale Adressat, der sich beunruhigt fühlte. 40 Uber Parteien vgl. Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961; Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973; Dieter Grosser, Die Verfassungspolitik der deutschen Parteien im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs, Den Haag 1970. 41 Zur Sammlungspolitik vgl. Dirk Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschland. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1970. 42 Georg Jellinek (Anm. 32), S. 35.
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Die Regierung blieb an den Zwang gebunden, ständig nach Mehrheiten zu suchen. Bismarck schreckte nicht vor massiver Wahlbeeinflussung zurück. Er wählte nicht nur den für ihn günstigsten Augenblick für Reichstagswahlen, sondern stellte auch das Wahlkampfthema und suchte durch nationale Parolen das Parlament zu unterlaufen. Er ließ sogar seine Gegner als „Reichsfeinde" diffamieren, was auf eine Desavouierung des Parlamentarismus überhaupt hinauslief. Vor allem brachte die fortwährende Isolation der Sozialdemokratie als Störenfried den Reichstag in die Gefahr, sich selbst lahmzulegen, besonders als die SPD in den Wahlen von 1912 sogar 37% der Wählerschaft hinter sich bringen konnte.43 Aber auch die erzwungene Beschränkung der parteipolitischen Aktivitäten auf Kritik und Kontrolle weckte einen Hang zu dogmatischer Verhärtung und Prinzipienreiterei, der in den Plenardebatten zum Ausdruck kam. Die Regierung bevorzugte indessen inoffizielle Absprachen, schon deswegen, weil die Gesetzesinitiative nur bei Bundesrat und Reichstag lag, also nicht beim Reichskanzler, der erst über Präsidialvorlagen im Bundesrat initiativ werden konnte, während im Reichstag ein Quorum von 15 Abgeordneten genügte, um eine Gesetzesvorlage einzubringen. Die Kehrseite eines solchen Kulissenspiels im Verein mit der Aufheizung der Wahlkämpfe war eine habituelle Unfähigkeit der Parteien zum Nachgeben oder Kompromiß. Dies lag auch daran, daß Kompromisse mit der Regierung eher Argwohn erregten als Begeisterung, weil sie die Parteien allzu leicht als Komplizen der Regierung erscheinen ließen. Die Parteien vermochten deshalb kaum, die Parlamentsverdrossenheit breiter Schichten auszuräumen. Das Parlament litt weniger an seiner Machtlosigkeit als an seinem fehlenden Ansehen. Es traute sich nichts mehr zu, als das Chaos der obersten Reichsbehörden zu politischer Lähmung und allgemeiner Verunsicherung führte und nur das „persönliche Regiment" Kaiser Wilhelms II. einen Ausweg bot, der nicht mehr eindeutig der Linie des konstitutionellen Königtums folgte. Selbst in der „Daily-Telegraph-Affäre" (1908), als die öffentliche Meinung gegen dieses persönliche Regiment des Kaisers aufgebracht und der Reichskanzler von Bülow zurecht in Ungnade gefallen war, scheute sich der Reichstag, daraus eine Machtfrage zu machen und Bülow den Stoß zu versetzen, der zu seinem Sturz noch fehlte. Stattdessen lehnte die Reichstagsmehrheit jeden Eingriff in die bestehende Ordnung ab. 44 Kurz vor Toresschluß (1917) vermochte nicht einmal der 43
Dazu allgemein: W. Tormin, Geschichte der deutschen Parteien seit 1848, Stuttgart 1966; Theodor Schieder, Die geschichtlichen Grundlagen und Epochen des deutschen Parteiwesens, in: Ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 133 — 171; H. Fenske, Strukturprobleme der deutschen Parteiengeschichte. Wahlrecht und Parteiensystem vom Vormärz bis heute, Frankfurt 1974. 44
Wilhelm Schüssler, Die Daily Telegraph-Affäre, Frankfurt 1952; M. Schlegelmilch, Die Stellung der Parteien des Deutschen Reichstages zur sogenannten Daily Telegraph-Affäre und ihre innenpolitische Nachwirkung. Dissertation Halle, 1936; vgl. E. R. Huber (Anm. 2), Bd. IV, S. 302-317.
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II. Zur Problematik und Geschichte des Parlamentarismus
„Interfraktionelle Ausschuß" des Reichstags, Personen aus seiner Mitte ausfindig zu machen, die sich zur Regierungsbildung bereit fanden. 45 Schließlich mußte den Mehrheitsparteien im Jahre 1918 durch General Erich Ludendorff förmlich die Machtübernahme befohlen werden. 46 Dabei war der Reichstag wesentlich mehr an der Liberalisierung und Modernisierung des Staatslebens beteiligt als nach außen sichtbar wurde, jedoch vollendeten sich seine gesetzgeberischen Befugnisse nicht in spektakulären Erfolgen. Die Parteien waren nicht gewöhnt, staatspolitische Verantwortung zu übernehmen, und der konkrete Daseinszweck fehlte ihnen, nämlich die Hervorbringung einer Regierung. 5. Das Arcanum Imperii des britischen parlamentarischen Systems lag darin, daß es dem „politischen Massenmarkt" der Morderne gerecht wurde, ohne von ihm verschlungen zu werden; es lag darin, daß es durch die klaren Wahlalternativen für oder gegen die Regierung bzw. den Premierminister der Form nach plebiszitär war, seinem Inhalt nach aber parlamentarisch blieb. Das Parlament und die Parteien brachten die Alternativen hervor und stellten sie zugleich auch dar. Die Kritik an der Regierung war nicht Selbstzweck, sondern hatte ein politisches Ziel, nämlich den Sturz der Regierung, allerdings nicht in den Abgrund, sondern aus den Sesseln der Regierung auf die Bänke der Oppostition. Selbst ein solcher Sturz war also immer noch ein innerparlamentarischer Vorgang. Das Parlament war nicht die Spitze des Gemeinwesens, wohl aber seine Mitte im Kreislauf der politischen und sozialen Kräfte, mehr das Herz als der Kopf des Ganzen. Im Deutschen Kaiserreich erhielten die Reichstagswahlen durch die feindselige Polemik der Regierung ebenfalls einen plebiszitären Einschlag, der aber antiparlamentarisch war, weil er opponierende Minderheiten als „Reichsfeinde" ausschalten wollte. Kritik an der Regierung wurde als Illoyalität aufgefaßt. Deshalb kritisierten sich die Parteien lieber wechselseitig und rechtfertigten sich vor der Wählerschaft mit programmatischen Forderungen und Manifesten - also mehr durch Worte als durch Taten. Sie konnten nicht anders ! 45
Erich Mathias und Rudolf Morsey (Hrsg.), Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18, Düsseldorf 1959. 46 Vgl. dazu Ernst R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, Stuttgart 1978, über das „Kriegskabinett" als eigentliches reichsleitendes Regierungsorgan der Ära des Prinzen Max von Baden (S. 548); die Verstärkung der parlamentarischen Elemente und die Frage der vorweggenommenen Verfassungsänderung (S. 549, 584); das Diktat der interimistischen „Nebenregierung" (Oberste Heeresleitung) und die passive Rolle der Parteien, die sich auf der Parteiführerkonferenz am 2. Oktober 1918 als handlungsunfähig und gelähmt erwiesen: „Die Entscheidung über den Abbruch des Krieges ging nicht von den Parteien, sondern von den alten militärischen und zivilen Obrigkeiten aus" (S. 556/57); vgl. ferner die Rolle Ludendorffs in der erweiterten Kabinettssitzung vom 9. Oktober 1918 (S. 562).
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Der britische Wählerentscheid drehte sich um ein politisches Anliegen, um den Fortbestand oder die Ablösung der Kabinettsregierung. Der deutsche Wählerentscheid hingegen bezog sich auf die Parteien, auf deren Programm, Ideologie oder Weltanschauung; er bedeutete ein Ja zu einer bestimmten Partei und ein Nein zu den anderen Parteien. Die Wahlentscheidung transzendierte stets den Bereich der eigentlichen Politik und orientierte sich an abstrakten Prinzipien oder allgemeinen Grundsätzen. Die Bereitschaft zum Kompromiß war bei den Briten eine Tugend, und zwar eine politisch notwendige Tugend; den deutschen Parteien wurde sie indessen als Mangel und Charakterschwäche ausgelegt. Politik schien hier den Charakter zu verderben! Diese Diskreditierung des Parteiwesens war kein Ausdruck nationalen Unvermögens, sondern die Schuld jener Fehlkonstruktion, welche den Parlamentarismus installierte, zugleich aber desavouierte und ihm den geeigneten Raum zu politischer Mitgestaltung und erkennbarer Mitverantwortlichkeit verweigerte nämlich jene funktionale Mitte, von welcher aus das parlamentarische System seine vermittelnde Rolle i m Widerspiel der politischen Kräfte und i m Zeitalter des „politischen Massenmarktes" hätte spielen können. 4 7 47
Über die Regierungsbildung als Hauptaufgabe des Repräsentativorgans im parlamentarischen System vgl. Harold J. Laski, Parliamentary Government in England, 7. Aufl., London 1963, S. 142-144, 147-168. Daraus entnommen „Das britische Unterhaus" in: Kurt Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus (Anm. 18), S. 205-216. Dann ist entsprechend dem Auftrag der Wählerschaft die Bildung der Regierung die Hauptaufgabe des Unterhauses. Dann erst übernimmt die Kabinettsregierung die politische Führung im Unterhaus. - Diese Verbindung von Parlament und Regierungsbildung traf für den Reichstag der Weimarer Republik nicht zu, wohl aber für die neue Preußische Verfassung von 1920. Dazu Horst Möller, Das demokratische Preußen, in: Otto Büsch (Hrsg.), Das Preußenbild in der Geschichte, Berlin / New York 1981, S. 231-245. Danach wählte der Preußische Landtag nach Art. 45 der Preußischen Verfassung ohne Aussprache den Ministerpräsidenten. Wahl und Bildung der Regierung waren Entscheidungen des Preußischen Landtags, wogegen der Reichskanzler vom Reichspräsidenten ernannt wurde. Im Reich konnte der Reichstag bei der Regierungsbildung ausgeschaltet werden, weil sein parlamentarisches Mißtrauensvotum gegen den Reichskanzler mit der Auflösungsbefugnis des Reichspräsidenten gekoppelt war. „Ein eingehender Vergleich von Verfassung und Verfassungswirklichkeit des Reichs und Preußens zeigt, daß Preußen im Unterschied zum »semiparlamentarischen' Regierungssystem des Reiches eine konsequent parlamentarische Verfassung besaß und diese zumindest bis 1930 auch praktizierte" (S. 240), was damit zusammenhing, daß die Kompetenzen des Staatsoberhauptes einerseits auf den Landtag und andererseits auf das Staatsministerium übergegangen waren. Preußens Beitrag zur Entwicklung eines demokratischen Parlamentarismus ging also über den Beitrag des Reiches erheblich hinaus (S. 241). Dazu: Hagen Schulze, Preußen als Stabilitätsfaktor der deutschen Republik, in: Dirk Blasius (Hrsg.), Preußen in der deutschen Geschichte, Königstein 1980, S. 311-333. In Bezug auf die Geschäftsordnung des Preußischen Landtages gab es einen fragwürdigen Punkt, nämlich den, daß der zu wählende Ministerpräsident nur einer „relativen" Mehrheit bedurfte, also nicht mit absoluter Mehrheit gewählt zu werden brauchte. Eine rechtsextreme Minderheitsregierung war mithin möglich, wenn die für den 24. April 1932 anberaumten Neuwahlen die Mehrheit der Weimarer Koalition auslöschten. Darum beschloß der alte Landtag eine Änderung der Geschäftsordnung, wonach zur Wahl des Ministerpräsidenten die „absolute" Mehrheit künftig erforderlich sein sollte. In den Wahlen am 24. April erlitten die drei Weimarer Parteien große Verluste; die Nationalsozialisten erreichten
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162 Sitze (bisher 9); damit hatten sie nur eine Stimme weniger als die Weimarer Parteien zusammen. Diese hätten nur mit Unterstützung der Kommunisten (57 Sitze, bisher 48) eine absolute Mehrheit erhalten können. Da die Wahl eines Ministerpräsidenten mit absoluter Mehrheit nicht gelang, gab es nur eine „geschäftsführende Staatsregierung", wie das damals ebenfalls in Bayern, Württemberg und Baden der Fall war. Die parlamentarische Regierungsbildung scheiterte, weil KPD (57) und NSDAP (162) mehr als die Hälfte aller Sitze inne hatten und beide die parteienstaatliche Demokratie ablehnten. Die Reichsexekution gegen Preußen aufgrund des ersten und zweiten Absatzes von Art. 48 der Reichsverfassung wurde u. a. auch mit der Änderung der Geschäftsordnung des Landtags kurz vor den Neuwahlen begründet. Vgl. auch Dietmar Willoweit, Preußische Vergangenheit und deutsche Gegenwart, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 27 (1978), S. 186-205.
I I I . Beiträge zur Geschichte Englands
Staatskirche und Nonkonformismus in England l.
Was war die Kirche in England am Anfang des 16. Jahrhunderts? Sie war eine eigenständige Herrschafts- und Rechtsordnung, die zwar königliche Strafgerichtsbarkeit und Amterpatronage zuließ, der Krone aber keine Handhabe administrativer Art gab. Die geistlichen Konvokationen der beiden Kirchenprovinzen Canterbury und York hatten Selbstbesteuerungsrecht und Verordnungsbefugnisse. Das Kanonische Recht galt und war als päpstliches Recht anerkannt, von dem nur der Papst dispensieren konnte. Trotz aller Konflikte war die geistliche Lehr- und Jurisdiktionsgewalt Roms unbestritten. Der Erzbischof von Canterbury oder der von York hatte regelmäßig die Rechtsstellung eines päpstlichen Legaten, der die Verbindung mit Rom wahrte. Nur der Legat konnte das Bündel der englischen Bistümer zu Nationalkonzilien einberufen und den obersten Gerichtshöfen präsidieren. In ihnen allein konstituierte sich die Einheit der englischen Kirche. Die Krone hatte sich in den beiden Statuten De Praemunire von 1353 und 1392 gegen Eingriffe in die Landeshoheit geschützt und die Appellation an den Papst gegen den König oder gegen die Entscheidungskompetenz seines Gerichtes als Hochverrat deklariert. Auch wer päpstliche Entscheidungen dieser Art ins Königreich brachte, war des crimen laesae majestatis schuldig. Aber eine volle sachliche Zuständigkeit der weltlichen Behörden wurde nie beansprucht. - Die Kirche war durch das Kanonische Recht und die Verbindung nach Rom über die Legaten, und nicht durch die Krone, eine Einheit. Mit einer Landeskirche hatte sie nichts gemein.
2. An der päpstlichen Dispensgewalt über das Kanonische Recht entzündete sich der Streit Heinrichs VIII. mit Papst Clemens VII. Die Ehe Heinrichs mit Katharina von Aragon, der Gemahlin seines verstorbenen Bruders Arthur, war durch päpstlichen Dispens ermöglicht worden. Das Fehlen eines männlichen Thronerben nach zwanzigjähriger Ehe und die damit drohenden Thron wirren veranlaßten Heinrich 1529 über den Legaten in England, Kardinal Wolsey, die Annullierung des Dispenses zu erwirken. Katharina appellierte dagegen an den päpstlichen Gerichtshof. Clemens entschied sich für Katharina, vielleicht mit Rücksicht auf Karl V., den mächtigen Neffen der Katharina, vielleicht im Hinblick auf die zwanzigjährige
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III. Beiträge zur Geschichte Englands
Ehe Heinrichs, aus der nach mehreren Fehlgeburten eine Tochter hervorgegangen war. Wolsey brachte einen negativen Bescheid nach England; sein Sturz 1529 leitete den Bruch mit Rom ein. Die Antwort Heinrichs war die Auflehnung gegen die päpstlichen Rechtsansprüche und der stückweise Abbau der päpstlichen Herrschaft in England. Der Lordkanzler im Königsgericht klagte nach dem Statut De praemunire den gesamten Klerus des Landesverrats an, da er die Legatenautorität Wolseys und damit die Autorität des gegen den König stehenden Papstes anerkannt habe (1531). Die Drohung mit Gefängnisstrafen und Vermögensentzug zwang den Klerus auf die Knie, und Heinrich erklärte sich aus königlicher Gnade mit einer gewaltigen Bußzahlung einverstanden, nachdem die Konvokationen von Canterbury und York ihn nunmehr als „alleinigen Beschützer, einzigen obersten Herrn" und - soweit es das Gesetz Christi erlaube - als oberstes Haupt der englischen Kirche und Geistlichkeit anerkannt hatten. Immerhin setzten die Konvokationen wenigstens den Einschub „quantum per Christi legem licet" durch. Heinrich erklärte, daß mit „oberstem Haupt" (supreme head) nur die Vollmacht gemeint sei, die für Ordnung und Frieden unentbehrlich sei; an eine Einmischung in geistliche Dinge denke er nicht, sondern nur an die Angelegenheiten, die mit Recht und Eigentum zu tun hätten. Aber im Jahre 1532, als der Papst dem König die Verstoßung der Katharina verbot, forderte Heinrich von den Konvokationen eine Überprüfung aller Kirchengesetze nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Gesetz Gottes und des Königreiches; er verbot ferner die Berufung von Konvokationen ohne königliche Einwilligung. Unter königlichem Druck bestätigten die Konvokationen, daß die Gerichtshoheit des römischen Pontifex nicht größer sei als die jedes anderen fremden Bischofs. In diesen Jahren 1532/33 überstürzten sich die Ereignisse, als die Forderung der Staatsräson von der Liebe des Königs zu Anne Boleyn beflügelt wurde. Cranmer, Erzbischof von Canterbury, hob 1533 den päpstlichen Ehedispens auf und traute Heinrich mit Anne. Im gleichen Jahr wurde Elisabeth geboren. Das Parlament erhob jene erzwungenen Konvokationsbeschlüsse samt und sonders zu Landesgesetzen. Sein Gesetzgebungswerk gipfelte in der Suprematsakte 1534, in der Heinrich ohne Einschränkung als „only supreme Head on Earth of the Church of England called Anglicana Ecclesia" bezeichnet wurde. In einer Folge konstitutioneller Akte war die neue Kirche sanktioniert worden. Das Reich war zum ersten Mal gegenüber Rom „undurchdringlich". Nichtsdestoweniger blieb eine eigenständige geistliche Gewalt anerkannt. Der König predigte nicht und teilte keine Sakramente aus, sondern schützte Frieden und Recht sowie die überkommene Doktrin gegen Abgötterei und Häresie. Cranmer behauptete, die Liebespflicht der Urkirche sei durch die christlichen Fürsten zu einer Rechtspflicht geworden. Die Ernennung der Bischöfe auf Grund weltlichen Rechts habe erst die Jurisdiktion in der Kirche begründet. Nur die Obrigkeit habe Rechtsgewalt, die der König dem Klerus geben und nehmen könne.
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Das Kirchenregiment sei Sache des Staates; die geistliche Gewalt beschränke sich auf das Lehr-, Priester- und engere Hirtenamt der Seelenführung. In Wirklichkeit gab der Supremat dem König auch die volle geistliche Gerichtsbarkeit. Thomas Cromwell als königlicher Stellvertreter nahm die bischöfliche Obergewalt im ganzen Reich schrankenlos in Anspruch. Selbst die Predigten legte er fest: drei Monate lang war allsonntäglich gegen Rom zu predigen; die Bischöfe hatten ihre Predigten einzureichen und die ihrer Pfarrer zu kontrollieren. Darüber hinaus legte der König in den sechs Artikeln von 1539 die Dogmatik seiner Kirche bis zur Frage der Transsubstantiation, des Laienkelches, der Ohrenbeichte und Priesterehe im katholischen Sinne fest. Das kirchliche Dogma wurde in staatliches Recht umgegossen. Die Substanz der Lehre blieb möglichst gewahrt; eine Abweichung wurde als Rechtsbruch angesehen. Der Anschein von Änderungen wurde vermieden, und die neuen Bestimmungen wurden als Erklärungen des längst geltenden Rechts hingestellt. Aber das alte Problem Kirche-Staat war nicht gelöst, sondern in ein inneres Problem verwandelt worden. Ein neuer unfaßbarer Begriff war geschaffen: das zeitliche Oberhaupt der Kirche. Was aber sollte das heißen? Kein Christ konnte annehmen, daß der englische König über Lehrmeinungen entscheiden sollte oder konnte. Andererseits ließ der König an seinen Gerichten die Häresien nicht anders definieren wie kriminelle Vergehen. Der königliche Supremat war eben kein Dogma, sondern ein praktischer Kompromiß, der für den Bestand der öffentlichen Ordnung vorteilhaft war. Zudem war nun einzig und allein der König Träger der Einheit der Kirche - nicht der Erzbischof von Canterbury, der zwar Mitte, aber nicht Oberhaupt der Kirche war. Ohne König gab es im strengen Sinne keine Kirche von England. Noch wichtiger für die Zukunft war, was das Parlament, das sogenannten „Reformationsparlament", gemacht hatte! Es hatte unerhört lange, von 1529 bis 1536, getagt; es hatte unter Heinrichs Führung die weltlichen und geistlichen Gegenkräfte vernichtet und geholfen, die kirchliche Unabhängigkeit zu brechen. Es hatte dem König die Möglichkeit einer einheitlichen Kirchenpolitik sowie administrative und geistliche Rechtsfunktionen zugebilligt. Mit der Aufhebung der Legatenrechte der Erzbischöfe und der Statuierung des königlichen Supremats war der König zum höchsten Repräsentanten der Englischen Kirche gemacht, ja diese durch Parlamentsgesetz als Anglikanische Kirche gegründet worden. Der Supremat war an sich zwar Ausfluß der monarchischen Gewalt; er bedurfte aber zu seiner effektiven Durchsetzung zusätzlicher Hochverrats- und Majestätsgesetze, die nur vom Parlament statuiert werden konnten. Ohne Parlamentsgesetz war eine solche Erweiterung von Majestäts- und Kirchenrechten nicht durchführbar. Die Art, wie Cromwell den Bruch mit Rom weitertrieb, machte dann das Parlament zu einem dauernden und unentbehrlichen Teil des Verfassungssystems, das nur durch diese Versammlung der Kommunitäten hindurch überall effektiv werden konnte. 16 K l u x e n
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Aber noch mehr hatte das Parlament getan: Es hatte in einem Thronfolgegesetz Mary, die Tochter Katharinas, zum Bastard erklärt, ihren Ausschluß von der Thronfolge statuiert und die Erbfolge den Kindern der Anne Boleyn übertragen. Später hat es umgekehrt Elisabeth bastardisiert, Anne des Ehebruchs für schuldig und zugleich ihre Ehe mit Heinrich für ungültig erklärt. Das Parlament konnte Schwarz zu Weiß machen! Jener Ausschluß von Mary mußte von jedem Parlamentsmitglied beschworen werden. Jeder Einwohner, ob Mann oder Frau, hatte einen persönlichen Eid zu leisten, welcher dem Papst die Treue kündigte, den päpstlichen Ehedispens für ungültig erklärte und die neue Thronfolge bestätigte. Königliche Kommissare ritten kreuz und quer durch das Land, um die Eide abzunehmen. Wer sich weigerte, war Verräter. Jene drei Kartäuser-Prioren, die den Eid nur leisten wollten, soweit er Rechtens sei, wurden gehängt. Thomas Morus und Bischof John Fisher fanden den Tod. Entscheidend war, daß das Parlament sich damit vom höchsten Finanz- und Gerichtshof des Landes zu einer echten Legislative entwickelt hatte und sich gegenüber der Kirche als einziger und höchster Ausdruck von Recht und Gesetz anzusehen begann. Der Bruch mit Rom hatte ihm diese Rolle endgültig zugespielt. Die Protestantisierung unter Edward VI. (1547-1553) hob die sechs Artikel, jene „Peitsche mit den sechs Striemen", und die Ketzergesetze auf; die Rekatholisierung unter Mary (1553-1558) führte sie ebenso wie den päpstlichen Primat wieder ein. Mit Mary standen Krone und Papstkirche gegen das Parlament. Elisabeth dagegen (1558 -1603) konnte ihren Thron nur gegen diese restaurierte Papstkirche sichern, für die sie ein Bastard, eine Usurpatorin war. Die Suprematsakte und die Uniformitätsakte von 1558/1559 kamen ohne und gegen die kirchlichen Organe durch Krone und Parlament zustande und stellten die Staatskirche durch einseitigen Staatsakt wieder her. Das war neu! Heinrich hatte immer zuerst die Konvokationen beschließen lassen. Nun wurden die opponierenden Bischöfe abgesetzt und neue willfährige eingesetzt. Von 8 000 Klerikern weigerten sich nur 1 000 und schieden aus. - Die Form der Regelung war neu; der Sache nach bestätigte sie die von Heinrich geschaffenen Tatsachen und war sogar dem Ton und der Tendenz nach gemäßigter. Die Königin lehnte den Titel „Head" ab, der nur Christus zustehe, und nannte sich „Supreme Governor of the Realm as well in spiritual as in temporal causes" - also Treuhänder, oberster Lenker oder Verwalter. Ihr Suprematiegesetz verlangte sogar bei Kirchenfragen ausdrücklich die vorhergehende Entscheidung der Konvokationen. Sie forderte nur die Rechte, die alle gottesfürchtigen Fürsten seit jeher in der Bibel und bei den christlichen Kaisern seit Konstantin innegehabt hätten. Die Uniformitätsakte schrieb Gottesverehrung nach dem Book of Common Prayer von 1549 (revidiert 1552) vor. Von den einzelnen Gläubigen wurde äußere Konformität verlangt, nämlich die Anwesenheit beim Gottesdienst - ohne Abendmahlzwang. Selbst die Katholiken nahmen bis nach 1570 allgemein daran teil, als noch keine ausdrückliche Entscheidung dagegen in Rom gefallen war.
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Die 39 Artikel von 1563 fixierten die Grenzen der Doktrin und waren als vermittelnde Einigungsartikel gedacht. In Artikel 10 wurde die Kirche als coetus fidelium, als die um Wort und Sakrament gescharte Gemeinschaft der Gläubigen definiert. Die Bischöfe durften nach Artikel 20 über Glaubensfragen in den Grenzen des Landesrechts und der 39 Artikel entscheiden. Sie übten die Weihe- und Schlüsselgewalt aber weiterhin in eigenem Namen aus. Die Konvokationen tagten wie bisher, aber unter Vorsitz der Königin, die allein die Einheit der Kirche darstellte. Das anglikanische Dogma war mit Prayer Book und 39 Artikeln in eine endgültige staatsgesetzliche Form gebracht worden. Elisabeth lehnte weitere Eingriffe in die Glaubenssubstanz ab. Diese Rechtsordnung sollte künftig eine Willkürherrschaft der Obrigkeit ausschließen; ein eigener Lebensbereich blieb der Hierarchie erhalten, aber der umfassenden Rechtsordnung des Ganzen eingefügt. Elisabeth blieb künftig im Einklang mit dem Willen dieser Kirche, die nun als Teil der nationalen Rechtsordnung konstituiert war. In ihrer Hand lag die potestas jurisdictionis und nicht die potestas ordinis (Weihe- und Schlüsselgewalt). Sie setzte 1559 den „Court of High Commission" als oberste Zentralbehörde und völlig neues und ständiges Aufsichtsorgan der Krone ein - nicht für die normale Verwaltung, sondern gegen Mißstände und Häresien. Er hatte die Wahrung der Glaubenseinheit mit weltlichen und geistlichen Strafbefugnissen zu sichern, ohne klare Kompetenzabgrenzungen gegenüber den kirchlichen Gerichtshöfen. Er entschied erstmalig, einmalig und letztmalig; seine Gewalt war nicht der Kirchenordnung entwachsen, sondern der Kronhoheit. Mit ihm wurde die kirchliche Suprematie in den Bereich der königlichen Prärogative gezogen; er verhängte Strafen durch königliche Patente und ohne parlamentarische Zustimmung. Er war der sichtbarste Ausdruck des Machtzuwachses der Krone. - Unter königlichem Schutz und mit der gesetzlichen Sanktion der dogmatischen und kultischen Neuordnung im Parlament wurde die Kirche auf die urchristliche Tradition, also ihren kirchlich-geistlichen Kern, so wie man ihn verstand, zurückgebildet. Die Kirche übernahm neben der Bibel die drei Glaubensbekenntnisse - das apostolische, das von Nicaea und das des Athanasius. Als Ketzer wurde angesehen, wer sich in klaren Widerspruch zur Bibel und den ersten vier Konzilien stellte. Um dem Bekenntnis zur universalen katholischen Kirche gerecht zu werden, wurde eine größere „katholische" Wesenskirche über und in allen Kirchen fingiert, deren Gleichberechtigung als Gliedkirchen in einer universalen Tauf- und Abendmahlsgemeinschaft anerkannt wurde. Die englische Kirche beanspruchte also keine Ausschließlichkeit. Der objektive Stiftungscharakter der Kirche und die apostolische Sukzession blieben gewahrt. Allerdings wurde die göttliche Einsetzung des Bischofsamtes in den 39 Artikeln nicht behauptet und nur in Artikel 36 negativ festgehalten, daß die Ordinationsregeln im Prayer Book nichts enthielten, was gottlos und abergläubisch, sondern nur das, was notwendig sei. Zudem wurde in Artikel 23 nicht behauptet, daß nur ein Bischof ordinieren könne, sondern nur von Personen gesprochen, denen das Recht dazu öffentlich übertragen worden sei. Unter Elisabeth und noch unter Jakob I. fanden Geistliche der außerenglischen Kirchen mit nicht16*
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bischöflicher Verfassung allgemein Anerkennung als rechtmäßig ordinierte Priester; ja jede Person, die ihre Zustimmung zu den 39 Artikeln erklärte, konnte amtieren, wenn sie nur nachwies, in irgendeiner Form konsekriert oder ordiniert worden zu sein. Bei der bischöflichen Ordination schottischer Kleriker erkannte die Krone ausdrücklich die presbyterianische Ordination als gültig an (1610). Im Jahre 1660 wurde zum letzten Mal geduldet, daß nicht-bischöflich ordinierte Priester innerhalb der anglikanischen Kirche amtieren durften, nachdem sie den Suprematsund Treueid geleistet hatten. Elisabeth erkannte sogar im Vertrag von Berwick 1586 mit Schottland, ohne jeden Vorbehalt bezüglich der Bischofskirche, die in Schottland und die von den protestantischen Fürsten in Deutschland geübte Religion als gleichberechtigt an. Die Kirche hielt ausdrücklich an einer „via media" fest, die vorgeschriebene Liturgie und inspiriertes freies Gebet zuließ. Daraus ergab sich, daß die Kirche sich als allgemeine Form der Gottesverehrung im englischen Herrschaftsraum verstand, aber andere Formen gelten und anderen Bewegungen Spielraum ließ. Jakob I. sprach in seiner ersten Parlamentsrede sogar von der Papstkirche als „our Mother-Church". Diese Tendenz ergab sich auch aus den Formulierungen der 39 Artikel, die trotz ihres calvinistischen Einschlags mehr unbestimmte Einigungsartikel waren als genaue Fixierungen. Gegen die Katholiken wurde mehr die Präzisierung der Form der Transsubstantiation angegriffen als diese selbst. Der Anglikanismus war mehr eine Richtschnur für Leben, Kult und Gebet als eine dogmatisch scharf pointierte Kampforganisation. Elisabeth hatte sogar anfangs - bis 1571 - den Artikel 29 persönlich gestrichen, weil er ihr zu aggressiv gegen die Katholiken zu sein schien. Ihr war an einem Ausgleich gelegen, demzufolge die Kirche von England als Zweig am Stamme der Stiftung Christi gesehen wurde. Eigentliche Ketzerei hat es unter Elisabeth kaum gegeben. Nur vier Ketzer wurden verbrannt, unter ihnen kein Katholik. Aber der Bannstrahl Pius' V. 1570 „Regnans in excelsis", der alle Untertanen des Treueids entband und zum letzten Mal ein fürstliches Haupt exkommunizierte und absetzte, machte die öffentlich papsttreuen Katholiken zu Landesverrätern. Sie genossen den Vorteil, nicht verbrannt, sondern nur geköpft oder gehängt zu werden. Es gab innerhalb der Kirche Abweichungen und puritanische Tendenzen, aber keinen von ihr abgegrenzten Nonkonformismus. Elisabeth verbot 1572 dem Parlament, religiöse Streitfragen zu diskutieren, solange die Konvokationen dies nicht wünschten, und sah in solchen Debatten ihre Prärogative und den kirchlichen Frieden bedroht. Die sich anmeldende Kritik und Opposition gegen die gesetzliche Kirchenordnung führten Krone und Kirche näher zusammen. Das von der Krone getragene kirchliche Sonderrecht drohte das Monopol der parlamentarischen Rechtsschöpfung zu schmälern, an dem seit Elisabeth niemand mehr zweifelte. Das Parlament hatte keine kirchliche Organstellung errungen. In den Kanones von 1571 und 1604 ging die Kirche gemeinsam mit der Krone zu eigenen gesetzgeberischen Akten über. Die unter königlicher Autorität tagenden Synoden betrachteten sich als die
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wahre Kirche von England „by representation". Darin kündigte sich eine veränderte Konstellation an. Immerhin fand das elisabethanische Settlement einen bedeutenden Ausdruck in Richard Hockers „Laws of Ecclesiastical Polity" (1594-1598), der aus Schrift, Tradition und „Reason" eine Apologie der „via media" schuf. Hooker unterschied die spirituelle universale Kirche als Gemeinschaft in Wort und Geist von der Rechtskirche als menschlichem Verband. Der Wesenskirche seien geistliche Autorität und sakramentale Gaben eingestiftet; aus ihr gliedern sich besondere Rechtskirchen verschiedener Art aus. - Mit der Annahme der christlichen Religion durch consensus des englischen Volkes sei die Ausübung der christlichen Religion in die öffentliche Rechtswelt Englands gehoben worden. Staatsvolk und Kirchenvolk seien identisch. Kirche sei nur die Nation vom religiösen Aspekt her. Andere brüderliche Gliedkirchen seien als mögliche Formen der Gottesverehrung zu bejahen. Die Wahl zwischen Episkopalismus oder Presbyterianismus berühre nicht die Glaubenssubstanz. Das christliche Gemeinwesen mit dem König an der Spitze umkleide die nationale Rechtskirche mit der nur ihm von Natur gegebenen Rechtsgewalt und mache sie zu einem Teil des Staates. Der Supremat ist nicht die Betrauung eines Landesherrn mit kirchlicher Gewalt seitens einer souveränen Kirchengesellschaft, sondern aus der Natur der Sache mitgegebene oberste Gliedschaft der Rechtskirche. Im Bereich der eingestifteten Gaben wie Wort (Bibel), Sakrament und geistliche Kirchenzucht habe der König kein eigenes Recht, jedoch darüber hinaus als christliche Obrigkeit einen christlichen Beruf. Auch das Parlament ist für Hooker nicht anders als der König ein Organ der Kirche, nämlich Repräsentant des Kirchenvolkes - und nicht allein zuständig für Leder und Wolle. In Bezug auf die Rechtsgewalt gibt es keinen Unterschied zwischen Klerus und Laien. Die Kirche ist Landesrecht. Allerdings war die Identität von Kirchenvolk und Staatsvolk schon zu Hockers Zeiten in Frage gestellt. Sie zerbrach vollends im folgenden Jahrhundert.
3. Im 17. Jahrhundert suchten die Stuart-Könige mit Hilfe der Kirche ihren Absolutismus durchzusetzen. Das Bündnis zwischen Thron und Hierarchie gegen das Parlament war der allgemeine Anlaß des Bürgerkrieges. Die Ausdehnung des kirchlichen Rechtsraumes in den Kanones von 1604 und 1640 kam der Prärogative zugute. Die vereidigten Bischöfe und Pfarrer waren königliche Herrschaftsinstrumente. „No Bishop, no King" (1604) lautete das Wort Jakobs I. Das anglikanische Berufspriestertum hatte selbständige Gemeindebildungen verhindert und den genossenschaftlichen Kommunitäten einen autoritären Pfahl eingefügt. Das widersprach den alten Gemeindefreiheiten und -rechten, zumal sich der autoritäre Apparat der Kirche noch eine oberste theologische Abrundung des Supremats in der Lehre vom Jus Divinum des Königtums und der göttlichen Einsetzung der Obrigkeit gegeben hatte (Kanon 1 der 17 Canones von 1640), das blinden Gehorsam verlangte.
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Das Parlament wehrte sich dagegen unter Berufung auf das Common Law und die Rechtseinheit. Gegen das vordringende herrschaftliche Element vereinigten sich die überlieferten genossenschaftlichen Elemente der Kommunitäten, der Gilden, Schwurbrüderschaften usf. mit allen religiösen Kräften außerhalb und auch innerhalb der Kirche. Das gab dem Aufstand der Friedensrichter und Kommunitäten gegen die Steuerauflagen Karls I. die Stoßkraft. Common Law und Bibel, englische Freiheiten und protestantische Freiheiten wurden in eins gesetzt. Es war kaum unterscheidbar, ob es sich um einen religiösen, politischen oder sozialen Kampf handelte. Das Parlament wurde jedenfalls das Sprachrohr aller oppositionellen Kräfte. Getragen von einer Volksbewegung, die erstmalig alle Klassen in Kontakt brachte, riß das Parlament mit Stumpf und Stiel das kirchliche Gebäude und dann den Thron ein. Nach der Abschaffung der Kronjustiz (Court of High Commission, 1641) und des Episkopats zerfiel mit der Königskirche die ganze Nation unter dem Ansturm der presbyterianischen und independentischen Kräfte in einen Pluralismus von Gemeinden, Sekten, Denominationen und Kongregationen. Kein politischer Ansatz hat die Diktatur des Gewissens und der Bibel überdauert. Es blieb nur der Horror vor dem Machtanspruch jeder selbstgewissen souveränen überstaatlichen Kirche, sei sie puritanisch oder papistisch, d. h. gegen „Popery" überhaupt. Friede und Ordnung brachte erst die Restauration, die einen neuen Zustand einleitete: die Herrschaft des Parlaments über die restaurierte Kirche. 4. Karl II. überließ die Liquidation des Bürgerkriegs dem Parlament. Er versprach „liberty to tender consciences" und löste sein Wort in Indulgenzerklärungen (1662, 1672) ein, die aber alle vom Parlament abgelehnt wurden. Das Parlament allein sicherte jetzt die Kirchenordnung - auch gegen den König! Die Gesetze von 1661 bis 1664 schlossen alle Nicht-Anglikaner von Amtern aus und verboten öffentliche Zusammenkünfte des Dissent. Jetzt erst setzte sich die Ansicht durch, daß nur die bischöfliche Ordination den geistlichen Charakter des Amtsträgers konstituiere und eine Kirche ohne Bischofsverfassung keine gleichberechtigte Gliedkirche darstelle. Die Uniformitätsakte (1662) Schloß alle Kleriker aus, die nicht von einem Bischof geweiht worden waren. Das hatte in der bisherigen Rechtsnorm keine Stütze. Eine klare Linie war gezogen. Der reformerische, aber königstreue Presbyterianismus innerhalb der Kirche wurde ausgeschieden. 1 700 Geistliche verloren Amt und Pfründe. Adel und Landvolk hielten zur Kirche; Handwerk und Handel der Städte dagegen neigten zum Dissent. Mit der Testakte von 1673 ließ das Parlament nur noch aktive Anglikaner in seinen Reihen zu, d. h. es etablierte sich als Kirchenvolk und damit als oberstes repräsentatives Kirchenorgan. Die Konvokationen gaben 1664 ihr Selbstbesteuerungsrecht auf und verloren jegliche Bedeutung. Die Kirche war ohne eigenes
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Beratungsorgan und auf eine religiöse Verwaltungsorganisation zurückgedrängt. Ihre Einheit sah sie im König und seinem Jus Divinum; aber dessen Kirchenhoheit war nur noch nominell. Das Parlament allein bestimmte; es war jedoch exklusiv geworden; es bezahlte dies mit einem wachsenden Verlust an Geltung in der Öffentlichkeit. Statt einer umfassenden Kirche wurde der Anglikanismus eine amtliche Sekte unter der Patronage des Parlaments. Mitgliedschaft zu dieser „established sect" war Voraussetzung für politisches und kirchliches Privileg, für Amt und Würde. Als Schützer der Religion gegen den König und gegen die Freikirchen verlangte das Parlament von allen Amtsinhabern das Bekenntnis zum Anglikanismus. Selbst der Herzog von York, Bruder Karls II. und Thronfolger, sollte den vorgeschriebenen Eid schwören; er weigerte sich, verlor sein Amt und entlarvte sich als Katholik. Unterhalb der öffentlichen Amter wurde jedoch kein Bekenntnis verlangt, sondern nur äußere Konformität. Die Kirchengesetzgebung des Parlaments, der sogenannte Clarendon-Code, schuf den englischen Nonkonformismus, der nur über das anglikanische Abendmahl zu politischem Einfluß gelangen und deswegen nur Opportunisten oder Freigeister ins Parlament entsenden konnte - nicht seine überzeugten Anhänger. Alle bekennenden Denominationen wurden in den staatsfreien Raum genötigt, wo sie eigene Sozialformen, Clubs, Konventikel oder Assoziationen bildeten, die in den Städten die Absonderung der Gesellschaft vom Bereich des Staatlichen vorbereiteten. Zum ersten Mal wurde die Diskrepanz zwischen Staat und Gesellschaft erlebt - und zwar in jenem Parteienkampf der Jahre 1679 bis 1683, der um den Ausschluß des Herzogs von York von der Thronfolge ging, und in welchem englische und protestantische Freiheiten mit Berufung auf das Widerstandsrecht erneut zusammenflössen. Die Bischofskirche dagegen beharrte auf ihrem alten Gehorsamsprinzip der Krone gegenüber. Erst die versuchte Gegenreformation Jakobs II. vereinigte für einen Moment beide Seiten zur Glorreichen Revolution 1688.
5. Diese Revolution sicherte die Staatsreligion gegen die Kirche mit Hilfe des Dissent. Im neuen Krönungseid mußte sich der König zur Aufrechterhaltung der protestantischen Religion verpflichten. Die Thronfolgeordnung wurde 1701 vom Parlament auf protestantische Fürsten eingeschränkt. Erst die bekennende Eingliederung in die Kirche machte den König thronfähig. Das Parlament unterwarf somit das Königtum den Bedingungen der üblichen Amterverleihung. Es war ein Amt geworden - nicht mehr! Aber nicht die Bischofskirche hatte England vor der Gegenreformation der Stuartkönige gerettet, sondern der Whiggismus, hinter dem der Dissent und der calvinistische Wilhelm von Oranien standen. Der protestierende Widerstand sah sich gerechtfertigt und das kirchliche Gehorsamsprinzip desavouiert. Der Nonkonformismus hatte sich als staatstragend erwiesen. Deshalb hob die Toleranzakte
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von 1689 für die protestantischen Sekten die Kirchenstrafen wegen Fehlens beim anglikanischen Gottesdienst auf. Konformität wurde nicht mehr verlangt. Die geplante Zusammenfassung aller Denominationen in einer „Broad Church" scheiterte allerdings am Widerstand der hochkirchlichen Land-Gentry, des „true old England", im Unterhaus. Die Kirche wurde weiterhin gegen den religiösen Aktivismus der Freikirchen abgeschirmt. Sie blieb offizielle Kirche des politischen England. Die Dissent-Gruppen blieben de jure als Religionsgemeinschaften illegal; aber als öffentliche Körperschaften waren sie anerkannt. Das Parlament ließ seit 1718 sogar Nonkonformisten als Amtsträger zu, wenn innerhalb von sechs Monaten kein Einspruch erfolgte. Die jährlichen Indemnitätsakten seit 1727 erlaubten den Nonkonformisten sogar den Eintritt ins Parlament. König Georg II. setzte für die nichtanglikanischen Kircheneinrichtungen staatliche Subventionen aus. Die Unionsakte von 1707 erkannte für Schottland die presbyterianische „Kirk" als „Established Church" an und drängte hier die Bischofskirche in die Nonkonformität. Der Ausschließlichkeitsanspruch war de facto durchlöchert, wenn auch Staat und Kirche in England landesrechtlich dem Anglikanismus vorbehalten blieben. Diese Kirche war amtlich immer noch für alle da - der einzelne Engländer gehörte ihr als Engländer an. Wer nicht über Religion sprach und nichts anderes ausdrücklich bekannte, war Anglikaner, d. h. Gentleman. Auch der anglikanische Pfarrer war für alle da; seine Gemeinde umfaßte alle Einwohner des Sprengeis. Der nicht-anglikanische Pfarrer hingegen konnte nur die bekennenden Gläubigen zu seiner Gemeinde zählen, die keine eigentliche Gemeinde, sondern eine Körperschaft war, die mit der Toleranzakte Rechtsfähigkeit erlangt hatte. Wer anderswohin verzog, wurde wieder als Anglikaner angesehen, wenn er nicht an seinem neuen Wohnort sein subjektives Bekenntnis wiederholte. Benjamin Hoadly, Bischof von Ely, meinte sogar, im Grunde sei die sichtbare Kirche unnötig und Kirche lediglich „the blessed company of all faithful people". Der aufgeklärte Hochklerus erstrebte immer noch eine liberale „Comprehension" aller unter dem Dach der englischen Kirche und auf wenige gemeinsame Grundwahrheiten hin, die nur „above reason" nicht „contrary to reason" sein sollten, also nach „Common Sense" und Utilität eine erasmische Läuterung auf den vermeintlich gemeinsamen Wesensgehalt der christlichen Religion bringen sollten. Aber damit war die alte Identität von Staat und Kirche nicht zu retten - ohne Einbuße an Glaubenssubstanz. Die alte Identität blieb nur in den stabilen Lebensformen der festgefugten Landgemeinden spürbar. Hier bei Landgentry und Niederklerus hatte die alte Kirche ihre Stützen, während über die höheren Stufen der Kirche bis zu den lutherisch gesinnten ersten hannoverschen Königen sich die anglikanische Glaubenssubstanz verdünnte - eine erstaunliche Umkehrung der Glaubensintensität in der Hierarchie. Die Auslaugung der religiösen Substanz durch die unaufhörlichen theologischphilosophischen Kontroversen der Zeit und außerdem die beginnende Auflösung der Landgemeinden durch die Bevölkerungsfluktuation in neue Erwerbszentren hinein hat am Vorabend der Französischen Revolution den Dissent großwerden
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lassen. Er sprang dort ein, wo die alten öffentlichen Ordnungsformen und ihre sozialen Stützen nicht hinreichten. Sein de-jure-Ausschluß von Staat und Kirche bei de-facto-Duldung und vereinsrechtlicher Anerkennung, seine Legitimation als außerstaatliche Gesellschaftskraft, verwies ihn auf jenes entbundene soziale Aktionsfeld, das sich mit der Zersetzung der alten Gesellschaft zunehmend ausdehnte. Er entfaltete hier dynamische Aktions- und Organisationsformen, während umgekehrt die Staatskirche nicht einmal ihre Konvokationen beibehalten konnte. Nonkonformismus: das war eine Vorform der emanzipierten Gesellschaft auf der unteren Ebene, die gesellschaftliche Normalform breiterer Volksschichten des 19. Jahrhunderts schon im 18. Jahrhundert. Er fing die in den Industrialismus eintropfenden Massen auf und sicherte den Übergang vom alten ins industrielle neue England. Seine rechtsfähigen Assoziationsformen waren zum Teil Vorläufer der Massen- und Parteiorganisationen der Moderne. Vom Dissent her wurde in England das Eigenrecht jener staatsfreien Gesellschaft entdeckt und ausgeübt, die in den Reformen von 1828 bis 1832 den Durchbruch zur Politik durch organisierten Massendruck und politische Missionsfeldzüge erzwang. Was war gegenüber diesen freien Kräften noch die Staatskirche? Sie stand in der Defensive; ihr privilegierter Amtscharakter schwächte ihre moralische Autorität. Vieles, was in ihr an religiöser Erneuerung (Methodismus) lebendig war, schied aus und registrierte sich als Dissent, um zur freien Korporations- und Eigentumsbildung berechtigt zu sein. Ihre eigenen oberen Organe (Konvokationen) hatte sie verloren; sie war kein Kirchenverband, sondern ein Bündel von Bistümern. Selbst das Parlament war seit der Aufhebung der Test- und Korporationsakte 1828/29 nicht mehr das Kirchenvolk; seine staatskirchliche Qualifikation war beseitigt. Die Kirche war rechtlich unfähig, sich selbst Gesetze zu geben. Dagegen waren die nonkonformistischen Gemeinschaften lediglich als rechtsfähige öffentliche Korporationen und Eigentumsträger an Parlamentsgesetze gebunden. Aber die Ohnmacht dieses „Establishment" hat das Land vor einem zersetzenden Konfessionalismus bewahrt. Die Kirche hielt einen Platz besetzt, dessen amtlichen Auftrag sie nur erfüllen konnte, indem sie jenen unauflösbaren Widerspruch von Glaubensfreiheit und Kirchenzwang von sich aus entschärfte. Sie konnte dies, da sie sich von Anfang an zu einer pilgernden Kirche relativiert hatte und sich stets als mittleren Weg unter anderen Wegen verstand - ja ihre hierarchische Ordnung auf staatlichem Gesetz und nicht auf sakramentaler Gewalt der Stiftung beruhte. Sie war englische Rechtskirche auf dem Wege zur Wesenskirche, Gliedkirche mit Intention auf die Geistkirche. Ihr Prinzip war vom Ursprung her der Kompromiß, also das einzige, was theologisch für eine Kirche als Kirche nicht möglich war. Weil sie zugleich religiöser Heilsträger und für das ganze Gemeinwesen mitverantwortliche amtliche Institution war, stand sie in einem Dilemma, das sie auf den Weg der Friedenswahrung verwies, und das ihr den Weg in die Unbedingtheit und Konsequenz verwehrte. Ihr vom Ursprung her mitgegebenes schlechtes Gewissen, das Moment des Erastianismus, jene rechtliche Verknüpfung mit dem Staatswesen, hat sie auf die praktische Seite des Christlichen, nämlich öffentliche Verantwor-
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tung für alle, hin verpflichtet. Damit überschritt sie ständig ihre Grenze als Kirche nach unten, ebenso wie sie nach oben in der Verbundenheit mit der universalen Glaubens- und Sakramentskirche ihre Grenze überschritt. Diese entgrenzende und umfassende Tendenz stand im Gegensatz zur exklusiven Parlamentsgesetzgebung des 17. Jahrhunderts und wurde deutlicher, als die Identität von Kirchenvolk und Staatsvolk endgültig verloren gegangen war. Das, was an ihr staatlich war, eben das Kirchlich-Hierarchische, relativierte sich zu einer gesetzlichen Lebensform, deren Grenzen undeutlich blieben, nach unten aus praktischer Verantwortung, nach oben aus spiritueller Verantwortung. Im Dilemma zwischen göttlichem Glaubensgebot aus Überzeugung und menschlichem Liebesgebot aus gesetzlicher Verantwortung entschied sich die Kirche des 18. und 19. Jahrhunderts aus ihrer amtlichen Rolle und aus der Notwendigkeit der Zeit zugunsten des zweiten. Es war eine Entscheidung gegen sich selbst als Kirche, der eine Rückbesinnung und Rückwendung nach innen auf potentielle Unabhängigkeit hin bald folgen sollte. Ihr innerer Widerspruch als Staatskirche blieb ungelöst und unlösbar, die „via media" war selbst ein Kompromiß; Theologie und Logik konnten sie kaum rechtfertigen. Deshalb wurde sie schließlich im 20. Jahrhundert illegal eine eigenständige Glaubenskirche gegen das Parlament, als sie das Veto des Unterhauses gegen die Revision des Book of Common Prayer ignorierte (1928). Aber doch wurde ihr in der überlieferten Form eine historische Rechtfertigung zuteil: Der fragwürdige staatliche Anspruch an die Kirche und der fragwürdige kirchliche Dienst am Staat qualifizierten sich zu einer vermittelnden, unprinzipiell genommenen Form der gemeinsamen öffentlichen Verantwortung, durch die England anderen Kräften Spielraum gab und seinen Weg in die moderne Welt ohne allzu heftige Erschütterung hat gehen können. Dazu hat das Unvollkommene und Widerspruchsvolle, ja das Ärgernis dieser Kirche entscheidend beigetragen; ihr Wesen selbst zwang sie in jene Mitte, die nicht die Wahrheit selbst, wohl aber die Versöhnung auf sie hin verkörperte.
Die Glorreiche Revolution von 1688/89 Eine konservative Fassade für revolutionäre Wandlungen Die Glorreiche Revolution von 1688/89 war keine moderne Revolution im Sinne einer Umwälzung der Herrschafts- und Lebensverhältnisse, sondern eher eine Revolution im ursprünglichen Sinne einer Rückkehr zur überkommenen Lebens weit, welche in England seit der Restauration von 1660 auf der Einheit von Staat und Kirche beruhte. Diese Einheit war durch die Rekatholisierungspolitik Jakobs II. (1685 -1688) ernsthaft in Frage gestellt1. Mit der Flucht Jakobs nach Frankreich (1688) und der Berufung Wilhelms III. von Oranien auf den englischen Thron (1689) wurde in den Augen der Zeitgenossen der alte Zustand („the Ancient Constitution") im Zusammenwirken von Krone und Parlament wiederhergestellt. Aber gerade dieses Zusammenwirken versetzte England in die Lage, mehr als je zuvor seine Ressourcen als See-, Handels- und Finanzmacht ins Spiel zu bringen, als der Pfälzische Krieg (1688-1697) und der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1713) gegen König Ludwig XIV. von Frankreich größte nationale Anstrengungen verlangten2. Es war die Glorie dieser Revolution, daß sie unblutig verlief und ein künftiger König sie ins Werk setzte. Aber das war nur das Vorspiel einer zweiten größeren Revolution, mit welcher die britische Machtpolitik sich auf einen anderen Fuß brachte, als sie die Chancen nutzte, die sich aus Ubersee und dem daraus sich ergebenden Kapitalüberhang anboten3. Voraussetzung dafür war das politische 1 Die Themenstellung knüpft an den Begriff der „tradition révolutionnaire" an, den Roland Marx in seinem Buch „L'Angleterre des Révolutions. Courants et mouvements" (Paris 1971) eingeführt hat. Danach seien alle revolutionären Regungen in England nach 1689 durch ihr Scheitern vor der Selbstvemichtung bewahrt worden. Mit dieser geistreichen Ungereimtheit rettet er die englische Geschichte vor dem Schematismus soziologisch aufgezäumter Klischees. In der Tat ist 1689 eine wirkliche Revolution verhindert worden, wie ja auch 1832 eine wirkliche „Bürgerliche Reform" gar nicht zustande gekommen ist. Das Entscheidende geschah mehr nebenbei oder am Rande - oder auch, wie es Bischof Gilbert Burnet 1689 einleitend und 1715 abschließend ausdrückte: „by the chain of Providence" (Anm. 38). 2 Die meisten Zeitgenossen sahen in der Dankadresse des Konventionsparlaments vom 1. Februar 1689 an Wilhelm von Oranien und alle seine Truppen das Ende der Revolution; andere betrachteten „the Act of Grace" (Amnestiegesetz) vom Mai 1690 als die Rückkehr zur Normalität. Aber Wilhelm III. von Oranien, seit 1672 Statthalter der Niederlande und nun König von England und König von Schottland (1689-1702), brachte die Allianzen von 1672, 1678, 1688 und 1701 gegen Ludwig XIV. von Frankreich zusammen und betrieb eine Politik aus europäischen Perspektiven, die langfristige Folgen hatte.
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Format des Oraniers, der in den großen Ideen und Konflikten der Zeit Partei ergriff und sich mit der Sache, die er verteidigte, identifizierte 4.
1.
Anlaß zum neuen Konflikt um die englische Thronfolge war die Geburt eines katholischen Thronfolgers aus der zweiten Ehe Jakobs II. Stuart mit Maria Beatrix von Modena am 10. Juni 1688. Diese Geburt des Jakob Edward Stuart (1688 — 1766) zerschlug die Hoffnungen auf eine protestantische Erbfolge. Bis dahin waren die beiden evangelischen Töchter Jakobs II. aus erster Ehe erbberechtigt, nämlich Mary, Gattin Wilhelms III. von Oranien, und Anne, Gattin des Prinzen Georg von Dänemark. Vorher hatten Indulgenzerklärungen Jakobs II. zugunsten des „Dissent" (1687 und 1688) böses Blut erregt, da sie auf die Suspendierung der Konformitätsgesetze (Clarendon Code) hinausliefen. Sieben Bischöfe weigerten sich, die Indulgenzerklärung des Königs vom 7. Mai 1688 zu verlesen, obgleich für sie der unbedingte Gehorsam als Glaubensartikel galt. Ihr Widerstand brachte die Bischöfe auf die Anklagebank wegen Gehorsamsverweigerung. Aber am 17. Juni 1688 sprach eine Londoner Jury sie unter dem Jubel der Bevölkerung frei. Unvermittelt sahen sich die Bischöfe im Bunde mit London und der allgemeinen Sache. Der offene Gegensatz zur Staatskirche entzog Jakob sogleich die wichtigste Grundlage seiner Herrschaft. Damit war der Bann gebrochen, der bisher die Bischofskirche an die Krone gebunden hatte5. Am gleichen Tage noch schiffte sich der Vize-Admiral William Herbert, als einfacher Matrose verkleidet, nach Holland ein. Er handelte im Auftrag von sechs Magnaten, unter ihnen Admiral Edward Russell, der Vetter jenes Lord Russell, der 1683 als Verteidiger des „Widerstandsrechts aus Gewissensgründen" auf dem Schafott endete, sowie Henry Sidney, der Bruder des ebenfalls hingerichteten 3 Vgl. Ernst Schulin, Handelsstaat England. Das politische Interesse der Nation am Außenhandel vom 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1969. Hier ist der Weg markiert, der England zur Politisierung seiner Handelsinteressen nötigte. Der nach merkantilistischen Grundsätzen im Mutterland angesammelte Kapitalüberhang machte erst die schnelle Finanzierung eines Krieges zu Wasser und zu Lande möglich, wobei das „Landed Interest" im Parlament lediglich den Schuldendienst garantierte. 4 Leopold von Ranke, Englische Geschichte vornehmlich im 17. Jahrhundert. Meersburg 1937, Bd. 3, S. 331, 391, 394. 5 Vgl. J. R Kenyon, The Stuart Constitution. Documents and Commentary. Cambridge 1966, S. 407, 441, 442. Danach war der Prozeß gegen die Bischöfe erst am 29. Juni 1688 abgeschlossen; jedoch der Freispruch der Londoner Jury war bereits am 17. Juni 1688 erfolgt; vgl. State Trials, Bd. 12, S. 416/417, 424-429; vgl. auch David L. Keir, The Constitutional History of Modern Britain 1485-1937. 3. Aufl., London 1946, S. 266-277 (bis 1989 zahlreiche weitere Auflagen); vgl. auch David Ogg, England in the Reign of James II. and William III. Oxford 1957, S. 198.
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Algernon Sidney. Beide hatten schon im April mit Wilhelm von Oranien Verbindung aufgenommen 6 Nun überbrachte Herbert dem Statthalter eine Botschaft der Verschwörung, welche ihn - im Interesse der protestantischen Religion und im Einvernehmen mit der Bevölkerung - zu einer bewaffneten Invasion nach England aufforderte. Angesichts des Ausgreifens der Franzosen nach Kurköln im Juni 1688 und ihres Aufmarschs gegen die Kurpfalz ergriff Wilhelm die ausgestreckte Hand der Verschwörer, um England zu gewinnen, welches sich bis dahin nicht an der Augsburger Liga gegen Frankreich (1686) beteiligt hatte7.
2. Das Außerordentliche an Wilhelm war, daß er die bedrohliche Gesamtlage durchschaute und ohne Zögern aufs Ganze ging. Er raffte eine gewaltige Streitmacht holländischer, englischer, hugenottischer, dänischer und schwedischer Truppen sowie brandenburgische, hannoverische, lüneburgische, württembergische und bayerische Auxiliarkontingente zusammen, also fast alles, was sich aus der internationalen Brüderschaft des professionellen Söldnertums und auch an Schiffsraum auftreiben ließ. Am Ende fanden 40 000 Mann mit 3000 Pferden Platz auf einer Flotte von 75 Kriegsschiffen, 280 Versorgungsschiffen und 150 kleineren Fahrzeugen8. Am 1. November 1688 setzte sich die Streitmacht in Bewegung zur größten See-Land-Operation der bisherigen Geschichte. Voraussetzung für ihr Gelingen war das günstige Wetter, nämlich der beständige „protestantische Rückenwind" aus dem Osten, der das Auslaufen der im Stau der Themsemündung versammelten 6
Die anderen Magnaten waren die Earls Danby und Shrewsbury, dann Lord Lumley und der Bischof Compton von London, nach William L Sachse, Lord Somers. A Political Portrait. Manchester 1975, S. 23; über die Sonderrolle des Londoner Bischofs vgl. D. H. Hosford, Bishop Compton and the Revolution of 1688, in: Journal of Ecclesiastical History 23 (1972), S. 209-228. - Über den Verlauf der Revolution seit 1688 mit erweiterter Dokumentation (Parish-, Borough- und County Records): E. Ν. Williams, The 18 th Century Constitution 1688-1815. Documents and Commentary. Cambridge 1965; ferner: H. Horwitz, Parliament, Policy and politics in the Reign of William III. Manchester 1977, S. 22-29; J. Η Plumb, The Growth of Political Stability in England, 1675 -1725. Baltimore 1967. 7 Der Dritte Eroberungskrieg Ludwigs XIV., auch der „Pfälzische Krieg" (1688-1697) genannt, galt in England als „the Dutch War" oder als „William's War" und wurde erst später als „the War of the Grand Alliance" bezeichnet, weil der Kaiser, Spanien, England, Holland, Schweden, Savoyen sowie die deutschen Reichsfürsten von Brandenburg, Sachsen und Hannover sich gegen den Sonnenkönig verbündet hatten. Englands Kriegserklärung erfolgte erst im Mai 1689. Der Krieg endete im Erschöpfungsfrieden von Ryswijk 1697. 8 Über das Unternehmen Wilhelms von Oranien vgl. die eingehende Schilderung in: John Childs, The British Army of William III., 1689-1702. Manchester 1987. Hier findet sich auch die Darstellung der Selbstauflösung des Heeres von Jakob II.; vgl. auch John Childs, The Army, James II. and the Glorious Revolution. Manchester 1980.
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britischen Flotte behinderte und Wilhelms Überfahrt ermöglichte. Am 5. November erreichte die Flotte die südliche Westküste bei Torbay und Brixham (Devonshire), wo das sechstägige Landemanöver ungestört vonstatten ging. Damit war der Anstoß zum schnellen Ablauf der weiteren Ereignisse gegeben. Für viele Zeitgenossen war die Landung bereits die Revolution. Ihr folgte am 26. November die Kriegserklärung König Ludwigs XIV. an das völlig von Truppen entblößte Holland. Damit war höchste Eile geboten. Wilhelm ließ sogleich eine Proklamation verbreiten, in welcher er für die Rechte der Untertanen eintrat und die Berufung eines „freien Parlaments" verlangte. Das nahe Exeter öffnete ihm die Tore; hier gründete Sir Edward Seymour eine „Association" für die Sache Oraniens, welche auch von den Nachbargrafschaften unterzeichnet wurde. Damit war der Anschluß der „Country-Side" an Wilhelm eingeleitet, zumal im gleichen Sinne Lord Danby in den nördlichen Grafschaften tätig geworden war 9. König Jakob hatte seine Armee durch schottische und irische Regimenter verstärkt und auf der Ebene von Salisbury 40 000 Mann zusammengezogen. Seine forcierte Rekatholisierung in der Armee mißfiel indessen der prinzipiell neutralen Söldnerschaft. Er eilte am 19. November von London nach Salisbury, um Kriegsrat zu halten. Die englischen Generale rieten ihm angesichts der wachsenden Unruhe im Lande zum Vormarsch gegen Wilhelm; aber die mißtrauischen französischen Generale plädierten erfolgreich für den Rückzug zur Themse, um dem sich regenden Ungehorsam zuvorzukommen und London in Schach zu halten. Die königliche Armee zog sich nach Uxbridge zurück, und Jakob traf am 26. November in London ein. Noch in der Nacht nach seiner Abreise gingen die Lords Grafton und Churchill mit vielen englischen Offizieren zu Wilhelm über, der unter dem Jubel der Bevölkerung in Salisbury einrückte. Indessen kündigte Jakob vor den Londoner Magnaten die Berufung eines Parlaments für den 15. Januar 1689 an; ferner sollten Kommissare Verbindung mit Wilhelm aufnehmen, so zuerst Clarendon in Salisbury und dann Halifax, Nottingham und Godolphin in Hungerford, von wo aus Wilhelm am 11. Dezember seine Gegenvorschläge machte. Im November stand die Mehrheit der Armee noch auf Seiten Jakobs; aber die Schotten bewegten sich nach Norden heimwärts; und auch die Iren wollten aus Furcht vor der Aversion der Bevölkerung nach Hause. In der Nähe Londons schmolz das Gros auf 4000 Mann zusammen und löste sich am 10. Dezember auf. Die allgemeine Konfusion und die Angst vor einer streunenden Soldateska nötigten die Lokalgewalten zu unabhängigen Initiativen, die wie eine Erhebung der Unterbehörden gegen das Crown Government aussahen. 9 Über den Aufstand der „Countryside" vgl. John V. Beckett, The Aristocracy in England 1660-1914. Oxford 1986, S. 375-388; im einzelnen vgl. J. P. Kenyon (wie Anm. 5), S. 496. Danach hatte Jakob von Oktober 1686 bis März 1687 die Hälfte der Friedensrichter von England und Wales ersetzt, eine große Zahl von Lord Lieutenants entlassen und viele lokale Charters „reguliert", darunter auch London (1685).
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Erst die Flucht Jakobs beendete die allgemeine Verwirrung. Sie war für den geordneten Fortgang der Revolution von größter Wichtigkeit. Sein erster Fluchtversuch scheiterte am 11. Dezember an der Küste. Wilhelm weigerte sich jedoch, seinen Schwiegervater verhaften zu lassen. Er verlangte lediglich dessen Entfernung aus London. Seine Garden bezogen Posten vor Whitehall Palace, und am nächsten Tage brachte eine Barke Jakob auf dessen eigenes Verlangen nach Rochester, von wo aus man ihn ungestört entkommen ließ. Vorher hatte Jakob sein Großes Siegel in die Themse geworfen, um allen weiteren Maßnahmen die Legalität zu nehmen. Am 25. Dezember erreichte er endlich zur allgemeinen Erleichterung das französische Festland. Er war geflohen, hatte aber nicht verzichtet.
3. Seit dem 18. Dezember residierte Wilhelm in Whitehall unter dem Schutz holländischer und deutscher Truppen. Ein Parlament konnte nicht mehr ordnungsgemäß berufen werden, da Jakob seine königlichen Writs für die Neuwahlen vorsorglich vernichtet hatte. Man konnte nur noch eine „Konvention" berufen. Wilhelm suchte dazu eine populäre Ermächtigung und berief zum 26. Dezember den Lord Mayor, die Aldermen und den Common Council von London City 1 0 sowie alle erreichbaren ehemaligen Parlamentsmitglieder aus der Zeit der ExclusionParlamente (1680/81) zu einer Ratsversammlung, in welcher die Whig-Opposition die Oberhand hatte. Am 28. Dezember einigte man sich darauf, daß Wilhelm unverzüglich Writs für Neuwahlen hinausgehen lassen sollte. Am 22. Januar 1689 traten die gewählten 513 Konventionsabgeordneten in Westminster zusammen und wählten Henry Powle zu ihrem Sprecher, der schon im Exclusion-Parlament von 1680 Unterhaussprecher gewesen war. Damit wurde ostentativ an jenes Parlament angeschlossen, welches Jakob Stuart, damals noch Duke of York, wegen seiner Heirat mit der streng katholischen Beatrix von Modena (1677) von der Thronfolge ausschließen wollte 11 . In der ersten Beratung am 28. Januar 1689 hielten die Whigs ihre Stunde für gekommen und erreichten in der ersten Resolution der Commons, daß ihr naturrechtliches Dogma vom „Bruch des Urvertrags zwischen König und Volk" in die Formel aufgenommen wurde, mit welcher sich England vom legitimen Königtum löste. Alle Bedenken dagegen wurden einer momentanen Einmütigkeit geopfert, die gar nicht bestanden hatte. Hier wurde lediglich den Whig-Ideen vom naturrechtlichen Widerstand und den Tory-Ideen vom Vorrang des leidenden Gehorsams 10 Damit wurde die erst 1685 aufgehobene City-Charter Londons de facto wieder in Kraft gesetzt. 11 Von den 513 Abgeordneten waren 200 schon im Parlament Jakobs von 1685, darunter 160 Tories; 185 neue Abgeordnete traten hinzu, so daß dem Parlament von 1680 sicherlich mehr als 100 Abgeordnete angehört hatten. Vgl. über die Exclusion Bill vom November 1680: J. P. Kenyon (Anm. 5), S. 469-470; ferner William L. Sachse (Anm. 6), S. 29.
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möglichst Genüge getan, wobei die einen ihre Strategie vor der Flucht Jakobs und die anderen ihre Taktik nach seiner Flucht im Auge hatten, die einen vom Vertragsbruch und die anderen von Abdankung und Vakanz redeten. Es folgten Plenarsitzungen beider Häuser (free conferences), die sich am 5. Februar einmütig für die Absetzung Jakobs II. im Sinne der Resolution vom 28. Januar aussprachen. Aber die Tories verweigerten sich dem revolutionären Rückgriff auf den Naturstand und betonten, daß das Königreich selbst gar nicht zur Disposition stehe. Es gelte, das Land vor neuer Willkürherrschaft zu bewahren, und Jakob habe nur verwirkt, was er besessen habe, nämlich die Regierungsgewalt als „personal property". Sie legten sogar durch Akklamation fest, lediglich die Erfahrung habe gezeigt, daß ein „Popish King" unvereinbar sei mit der Sicherheit des protestantischen Königreichs; mithin sei die neue Festlegung der Erbfolge ein Ausnahmefall und nur im Rahmen einer bereits vorgesehenen Erbfolgeordnung statthaft 12.
4. Der oratorische Höhepunkt der Beratungen in „freien Konferenzen" fiel auf den 6. Februar im überfüllten „Painted Chamber", als Sir John Somers, der Vater der späteren „Bill of Rights" 13 , die Anwesenden mit einem Trommelfeuer von gelehrten Argumenten überschüttete, auf das Schrifttum des Frühhumanismus, dann auf Bartolus de Sassoferrato oder Hugo Grotius, auf das Römische und Kanonische Recht, auf das Völkerrecht und schließlich auf englisches Gewohnheitsrecht und das Common Law zurückgreifend. Erst als die Lords darauf drängten, daß nur konkrete Präzedentien sie interessierten, verwies Somers auf die „Parliamentary Rolls" von 1399, worin es nach der Absetzung Richards III. hieß: „Sedes regalis fuit vacua". Die Lords erwiderten ihm, daß dieser Passus bereits 1461 von Edward IV. von York außer Kraft gesetzt worden sei, worauf Sir George Treby aus den Rolls Heinrichs VII. Tudor von 1485 nachwies, daß der Präzedenzfall 1399 wieder in Geltung gesetzt worden sei. Dieser Präzedenzfall erlaubte es den Tories, ihren Widerstand zu rechtfertigen. Die „Vakanz" als Rechtsbegriff Schloß nämlich jede Ersetzung der Krone durch einen anderen Titel aus und den Fortbestand des Government ein, welches an den Nächstberechtigten weiterzugeben sei 14 . 12 Über die Debatten von 1689: J. R. Western, Monarchy and Revolutions. London 1972, S. 285-323. Hier spricht ein neuer Abgeordneter, nämlich Sir John Somers, gewählt von der City Worcester, in seiner „Maiden Speech" zuerst die Grundformel für ein Übereinkommen zwischen Whigs und Tories aus: Jakob habe durch seine Flucht zu Ludwig XIV. „forfeited his claim to the allegiance of the English People"; zit. nach W L. Sachse (Anm. 6), S. 29. 13 Zu den Debatten um die „Bill of Rights" vgl. W L. Sachse (Anm. 6), S. 28-37. 14
Über den permanenten Whig-Tory-Gegensatz in der Zeit von 1680 bis 1714 vgl. Harry T. Dickinson, Liberty and Property: Political Ideology in the 18 th Century. London 1977, Part I, S. 13-118; Geoffrey S. Holmes/W. A. Speck, The Divided Society. Parties and Politics in England, 1694-1714. London 1967; J. H. Plumb, The Growth of Political Stability in
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Im Hin und Her solcher Argumente brach Wilhelm plötzlich sein Schweigen: Er sei nach England gekommen, um Gesetz und Freiheit wiederherzustellen, und nicht um die Krone ihrer Rechte zu berauben. Er werde keine Beschränkungen hinnehmen, die nicht aus den Gesetzen hervorgingen, weder als „Regent" noch als „Queen's Consort". Er drohte mit sofortiger Rückkehr nach Holland, wenn ihm und Mary nicht die volle königliche Autorität zugebilligt würde. Das schlug wie eine Bombe ein: Ohne weiteres (nemine contradicente) ging die Resolution durch, wonach William und Mary beide zum König und zur Königin von England und seiner Dominions erklärt wurden 15 . Am 13. Februar wurden das „Settlement" (Nachfolgeordnung) und die „Declaration of Rights" von Wilhelm angenommen, wobei der „Bruch des Urvertrags" endgültig weggefallen war. Die Whigs sprachen jetzt von Jakobs Abzug, „not willingly but wilfully" (nicht bereitwillig aber eigenwillig), von seiner „constructive Abdication" und auch der „Vacancy" des Throns; wegen seiner Absicht „to subvert the Constitution" habe er als „lawful King" abgedankt16. Danach erfolgte die Proklamation des Herrscherpaares nach dem alten Zeremoniell, jedoch auf ausdrückliches Verlangen des Oraniers vor der eigentlichen Eidesleistung, um damit zu bekunden, daß die Krone auf eigenem Rechtsgrund beruhe. Die Vereidigung erfolgte am 19. Februar und mit einigen Vorbehalten Wilhelms 17 . Offenbar hatte sich das Parlament in seinem zeitraubenden „herrschaftsfreien Dialog" zu weit vorgewagt und konnte ohne die Einwilligung Wilhelms den erreichten Zustand nicht behaupten. Dessen Ehrgeiz verband sich - wie der Ehrgeiz aller Oranier - mit den großen Ideen des Zeitalters und verschmolz mit der Sache selbst. Er allein war „the Deliverer" und gab der Revolution ihren großen Zuschnitt 18 . Am 20. Februar erklärte sich die Konvention aus eigener Machtvollkommenheit zum vollgültigen Unterhaus 19, ohne gleich danach Neuwahlen zuzulassen, da niemand sicher war, ob das Volk noch dahinter stand. Allenthalben erhob sich dagegen Widerspruch; die Bischofskirche wetterte offen gegen diese Anmaßung, die Presse (Pamphletistik) protestierte überaus heftig; man munkelte von jakobiEngland 1675-1725. Baltimore 1969; C. G. Jones (Hrsg.), Party Management and Parliament 1660-1784. Leicester 1984. 15 Nach W. L. Sachse (Anm. 6), S. 35-36. 16 Nach James Tyre II, Bibliotheca Politica, or Enquiry in the Ancient Constitution of the English Government (1694). Hier ist die umfassendste zeitgenössische Whig-Interpretation der Glorreichen Revolution zu finden; zit. nach Julian H. Franklin, John Locke and the Theory of Sovereignty. Cambridge 1978, S. 109. Die Option auf die Vakanztheorie ergab sich bei John Locke und James Tyrell aus dem Begriff der „Community" als Ausgangsbedingung des Government überhaupt (Anm. 23 und 28). 17 Wie Anm. 15.
is Nach Ranke (Anm. 4), Bd. 3, S. 391, 394. 19 D. L. Keir (Anm. 5), S. 270. 17 K l u x e n
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tischen Verschwörungen und erwog sogar die Aufhebung von „Habeas Corpus". Gegen eine Meuterei in den schottischen Regimentern mußten holländische Truppen aufgeboten werden. Das beunruhigte Parlament schützte sich am 23. März durch Gesetz (Mutiny Act) gegen Meuterei, Aufruhr und Desertion, indem alle Truppen im Lande unter Kriegsrecht (Martial Law) gestellt wurden, was bis zum 10. November 1689 in Kraft bleiben sollte 20 . Dies war auch erforderlich, weil 18 holländische Regimenter wegen des französischen Vordringens gegen die Niederlande zurückbeordert werden mußten.
5. Am 11. April 1689 fand in der Westminsterabtei die Krönung statt, bei welcher Wilhelm und Mary einen Eid leisteten, nach den statuierten Gesetzen zu regieren und das kirchliche Establishment zu schützen. Wilhelm schwor mit dem Vorbehalt, daß er damit nicht an Konzessionen zugunsten der Presbyterianer gehindert werden könne. Als ihm am 11. Mai 1689 von einer Deputation der schottischen Konvention in Whitehall auch die Krone Schottlands angeboten wurde, lehnte er die altprotestantische Eidesformel ab, die ihm die Ausrottung aller Ketzer auferlegte; er wollte kein Verfolger sein. Erst nach der Zusicherung, daß dieses so und nicht anders gedacht sei, leistete er den Eid. Er beschwor also die episkopale Verfassung in England und kurz danach auch die presbyterianische Verfassung der „Kirk" in Schottland. Beide Kronen zu tragen, verlangte „Toleranz", welche Ende Mai im ersten Toleranzgesetz (Toleration Act) zum Gesetz erhoben wurde, ohne diese Bezeichnung verdient zu haben21. Die Strafen wegen Nonkonformität blieben für Katholiken und Unitarier (Deisten) bestehen und wurden nur auf die Presbyterianer in England nicht mehr angewandt. Man hielt an der Idee der Einheit von Staat und Kirche fest, wenn auch seit 1689 die kirchliche Justiz der Consistory Courts ihre Exekutivkompetenz an die örtlichen Kommunen abgeben mußte. An der Frage der Eidesleistungen der Untertanen entwickelte sich ein ernsthafter Konflikt, weil die Whigs einen Abschwörungseid gegen Jakob (Abjuration Act) forderten, was die meisten Geistlichen der Bischofskirche verweigerten. Die 20 Der „Mutiny Act" und die Meutereigesetze von 1689, 1690, 1692, 1693 und 1695 ergaben sich im Grunde aus der fehlenden Heeresverfassung für das Landheer. Es gab keine einheitliche Verwaltung wie bei der Navy. Die Allzuständigkeit der Offiziere ergab sich aus der Selbstversorgung der Regimenter in Bezug auf Nachschub, Rekrutierung, Bewaffnung, Quartier, Fourage, Train usw. Erst 1698 votierten die Commons, daß nur noch „Commissioned Officiers" aus Nobilität und Gentry in den Linienregimentern dienen durften. 21 Dazu John Spurr, The Church of England. Comprehension and the Toleration, in: English Historical Review 104 (1989), S. 927-948; über „indulging fellow Protestants" S. 945; über die Intransingenz der Kirche von England: W. A. Speck , Revolutionaries - Englishmen and the Revolution of 1688. Oxford 1988; siehe auch G. F. Nuthall/O. Chadwick (Hrsg.), From Uniformity to Unity. London 1962. Sowie D. L. Keir (Anm. 5), S. 273.
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Whigs verlangten ferner die Wiederherstellung der alten Charters in den Boroughs, die Jakob bei seiner Personalpolitik völlig ignoriert hatte, was nun aber die vielen Tories aus ihren lokalen Positionen treiben sollte. Dagegen plädierten die Tories für eine Neufassung der Eide für Untertanen und Amtsträger. Sie sahen Wilhelm mehr als einen de facto-König an und setzten durch, daß ihm nur ein Loyalitätseid (Oath of Allegiance) auf Treue und Ergebenheit zu leisten war. An der Eid-Frage ist am klarsten der Fortgang der Revolution zum Verfassungsstaat abzulesen: Die neuen Eidesleistungen waren verfassungsbezogen, was sich besonders eindeutig an den Folgegesetzen nachweisen läßt, also im „Settlement Act" von 1701 und an den „Regency Acts" von 1705 und 1707.
6. Wegen des konfusen Parteienhaders im Unterhaus vertagte Wilhelm das Parlament für drei Monate, also bis zum Herbst. Die endgültige Fassung der „Declaration of Rights" zur „Bill of Rights" wurde erst Mitte Dezember 1689 vom Herrscherpaar zum statuierten Gesetz erhoben, gewissermaßen als nachträgliche Wahlkapitulation 22 . Diese Wahlkapitulation war weit revolutionärer als der Text wahrhaben wollte. Im zweitletzten Satz hieß es nämlich, „Daß alle Bestimmungen aufgrund der Autorität des gegenwärtigen Parlaments festgelegt und für immer als Recht dieses Reiches gelten und verbleiben sollten" - wobei als Hauptsatz vorangestellt ist: „Ihre Majestäten sind willens". Im letzte Satz aber wird dies umgedreht; hier werden „diese Bestimmungen von den besagten Majestäten ... mit Rat und Zustimmung der... Lords und Commons und aufgrund derselben zum Gesetz erklärt". Dieses völlig unübliche „aufgrund derselben" (bezogen auf Rat und Zustimmung) gibt in gewundener Form den Übergang der Kompetenz-Kompetenz auf das Parlament halbwegs zu, was zu den Bekenntnissen auf „the Ancient Constitution" nicht recht passen will. Erst die Nachfolgeordnung (Settlement Act) von 1701 ist weit eindeutiger: Sie schaltete 57 katholische Thronerben aus und bestellte das Parlament zum Hüter dieser neuen Thronfolge. Den Hannoverschen Thronfolgern wurden Auflagen gemacht, die den üblichen Formen der Amtsverleihung entsprachen und die Krone wie ein besoldetes Staatsorgan (1707) behandelten. Hier trat zutage, daß die Krone nicht über, sondern in der Verfassung verankert war. Nach der Eidesleistung allerdings - so lautete die amtliche Version - herrschte der König fernerhin aus eigenem Rechtsgrund wie bisher. Der revolutionärste Vorgang war die parlamentarische Festsetzung der Erbfolge; gerade er war jedoch unbedingt notwendig, um den konservativen Charakter der Herrschaftsordnung zu bewahren. 22
Über den Anteil von Sir John Somers (später Lord Somers, Baron of Evesham, Lord High Chancellor of England etc.) an der Bill of Rights berichtet W. L. Sachse (Arm. 6), S. 30; vgl. auch L. G. Schwoerer, The Declaration of Rights. Baltimore 1981. 17=
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Offenbar lief das Gesetzeswerk darauf hinaus, daß nicht mehr im Willen des Königs das Gesetz, sondern eher im Gesetz der König gesehen wurde. Gehorsam gegenüber dem Gesetz sei immer auch Gehorsam gegenüber dem König und seinem „Königsfrieden", was seit jeher aus dem Wesen des Common Law abzulesen war, etwa bei Fortescue, Littleton, Seiden und Ireton. Ihnen zufolge war die Regierungsgewalt „not arbiter but legal, not absolute but political". Diese Identität von Rex und Lex war ein alter Topos, welcher dem König nur „ordinary Majesty" (gesetzliche Macht), also „personal not real Property" zugestehen wollte, womit der Weg zum neuen Verfassungsstaat mit alten Begriffen eingeschlagen war. Niemand wagte es, die zaghaften Ansätze auf Spiritualisierung der Religion und Säkularisierung des Staates weiterzutreiben, was eine wirkliche Revolution gewesen wäre. Stattdessen ergriff Wilhelm kurzerhand erneut die Initiative und schrieb im Februar 1690 überraschend Neuwahlen aus. Am 20. März trat das erste, regulär gewählte Unterhaus zusammen und erbrachte ein Übergewicht der Tories, also den erwarteten oder befürchteten Sieg des „Sense of the Country" oder der „old Landmarks" und der „Ancient Constitution". Mit einem „Act of Grace" im Mai wurde eine allgemeine Indemnität verkündet, was für die Zeitgenossen die Revolution beendete. In Wirklichkeit hatte sie nur ihre Vorgeschichte hinter sich.
7. Bis dahin hatte man die Selbständigkeit der alten Lokalgewalten wiederhergestellt, wie sie im Revolutionsjahr 1641 mit der Beseitigung der Zwangsgewalt des königlichen Privy Council durchgesetzt worden war. Jakob hatte mit dem Widerstand der Countryside aufräumen wollen. Nun wurden die lokalen Charters in Kraft gesetzt und den „natural rulers" in den Grafschaften und Pfarreien ihre angestammten Plätze zurückerstattet, wie es dem patriarchalischen Herrschaftsideal entsprach 23. Die „Real Majesty" lag für viele beim „Property" der vierzig County-Courts der Grafschaften als „a constitutional power outside of the constitution", und mithin beim Parlament als der Communitas Communitatum und nicht beim Court des Königs mit Hof und Regierung als „personal property". Als solche „naturwüchsige" Communitas beanspruchte das Parlament für sich einen unantastbaren Freiraum, in welchen niemand hineinzureden hatte. Dahinter stand also keine Doktrin einer parlamentarischen Suprematie, sondern die Sorge um den Bestand des überkommenen Rechts auf freie Selbstbestimmung im „Local Government", das in den Wahlen, den Sessionen, Debatten und Abstimmungen des Unterhauses kulminierte, wo nicht einmal der König mehr das Recht der Commons auf „Impeach23 Für John Locke ist die „Community" das bleibende Element und die Voraussetzung für das „Government". Vgl. 7. H. Franklin (Anm. 16), S. 80; vgl. Kurt Kluxen, Geschichte Englands. 4. Aufl., Stuttgart 1991, S. 365-420. Hier über kommunalen und grundherrlichen Föderalismus (Inheritance).
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ment4' inhibieren konnte; auch sein Veto-Recht wurde seit 1707 nicht mehr praktiziert. Zu diesem unantastbaren Bereich rechnete seit 1696 auch das veraltete Repräsentativsystem, welches im „Last Determination Act" von 1696 festgeschrieben wurde 24 . Dieses gab immerhin 15 Prozent der männlichen Bevölkerung das Wahlrecht, das freilich bis 1832 auf 4,2 Prozent geschrumpft war. Nach dem größten Tory-Sieg der englischen Geschichte im Jahre 1710 wurden allerdings die Property-Qualifikationen der Unterhaus-Kandidaten gewaltig gesteigert (1711), wonach für die Knights der Counties eine Bodenrente von 600 Pfund Sterling und für die Burgesses der Boroughs eine Bodenrente von 300 Pfund Sterling sowie später für die Friedensrichter eine Rente von 100 Pfund Sterling als Voraussetzung festgelegt wurde 25 . Dazu kam noch, daß nach einem Votum der Commons in den Debatten von 1698 um eine stehende Armee sämtliche Offiziersstellen der englischen Linienregimenter künftig der einheimischen Führungselite vorbehalten bleiben sollten; das waren in Kriegszeiten immerhin 5000 „Commissioned Officers"-Stellen. Damit gewannen die Grundherren eine Monopolstellung im Unterhaus und ihre nachgeborenen Söhne eine Monopolstellung im Offiziercorps 26. Als mit König Georg I. von Hannover wieder ein Whig-Parlament ans Ruder kam (1715), verlängerte dieses, angesichts des Tory-Ubergewichts im Lande, die dreijährige Legislaturperiode (seit der Triennial Act von 1694) auf sieben Jahre in der Septennial-Akte vom 24. April 1716, mit Zustimmung Georgs I., aber ohne Befragung der Wählerschaft. Das sollte einer besseren Abschirmung des Unterhauses nach unten gegen die Öffentlichkeit und nach oben gegen den „Influence" der Krone dienen. Darin lag noch kein Anspruch auf eine Kompetenz-Kompetenz, wohl aber auf eine negative Allkompetenz der innerparlamentarischen Debatten, für die nichts Tabu war, außer der Person des Königs und den statuierten Grundlagen der Verfassung. Denn schon das erste Konventionsparlament von 1689 hatte dem König nach dessen Eidesleistung die rechtliche Eigenständigkeit zurückgegeben, nämlich seine Unscheltbarkeit, seine Zivilliste, seine Prärogative zur Einberufung und Auflösung des Parlaments und sein Ernennungsrecht für Minister, Räte, Amtsträger und hohe Militärs sowie Richter und Offiziere. Dazu gab es noch weitgehende Initiativrechte der königlichen Regierung und zu guter Letzt sogar noch die selbständige Führung der auswärtigen Angelegenheiten, was Wilhelm III. als letzter König noch bis zum Zweiten Spanischen Teilungsvertrag (1700) praktizieren konnte.
24
Über „the Last Determination Act" 1696, ergänzt 1729, vgl. John Cannon, Parliamentary Reform 1640-1832. Cambridge 1973, S. 29. 25 Über die neuen Property-Qualifikationen von 1711, vgl. J. Cannon (Anm. 24), S. 36. 2 6 Vgl. Anm. 20.
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8. Die permanente Verfassungsdiskussion innerhalb des Parlaments und ihr Widerhall in der Publizistik gaben dem Parlament im Laufe der Zeit eine Vormachtstellung, die im „Settlement" von 1701 zutage trat und nach Meinung vieler Zeitgenossen „the ancient English Balance of Government" zugunsten einer „arbitrary Power" des Parlaments zerstört habe. Hier sei das „Government" zur „fiduciary power", also zum „Trust" geworden, wobei nur noch der Parteienhader der Krone Spielraum lasse. So sahen es die meisten Kenner der politischen Szenerie 27. Wenn sich hier nach und nach eine Machtverschiebung auf das Unterhaus bemerkbar machte, so war dies weder die Absicht noch die Folge der Revolution, sondern das Ergebnis einer zweiten Revolution, nämlich einer Finanzrevolution, mit welcher den Commons die „power of the purse" in den Schoß fiel. Sie erst sicherte den Sieg des protestantisch-parlamentarischen Staatswesens über die patriarchalische Communitas28. Erster Schritt war die Freigabe des Wollhandels 1689 und bald darauf die Freigabe des Überseehandels für englische „Interlopers", die außerhalb der konzessionierten Handelskompanien auf eigene Faust operierten. Mit der „Land-Tax" von 1692, einer permanenten Hauptsteuer auf den Grundbesitz (bis zu 20%), erschienen die Grundbesitzer als Hauptbelastete, was ihrem Prestige zustatten kam. Dem folgte 1693 die Fixierung einer inneren Nationalschuld (National Debt). 1694 wurde die Bank von England als Aktienkapitalbank (Joint-Stock-Company) mit dem Recht der Notenausgabe und der alleinigen Verwaltung der vom Parlament bewilligten Staatsanleihen gegründet. Dies ergab eine Verbindung von Staatsbank und freier Handelsgesellschaft, wozu noch 1695 eine Münz- und Währungsreform des Schatzamtes kam, an welcher als Berater Somers, Locke, Halley und Newton beteiligt waren. Dazu richtete das Parlament einen „Board of Trade" (1696) als Lenkungs- und Kontrollorgan ein 29 . 27 Beispielsweise: Sir Humphrey Mackworth, A Vindication of the Rights of the Commons of England (1701); Robert Harley, A Justification of the Proceedings of the House of Commons (1701); und die anonyme Schrift „Anglia Libera" (1701). 2 8 Dahinter stand jene „Communitas Communitatum", die unantastbar sein wollte. Dagegen verstieß die Kent-Petition vom 8. Mai 1701, die vom Parlament Geldbewilligungen für den Krieg gegen Frankreich verlangte. Die empörten Commons sahen darin einen Eingriff in ihren Kompetenzbereich und warfen die Überbringer der Petition in den Tower. Dem Schutz dieses Bereichs sollte auch das Prinzip der Gewaltenteilung dienen, welches die Eigenständigkeit der drei Gewalten wahren sollte, hier indessen nicht abgehandelt werden kann. Vgl. dazu: Kurt Kluxen, Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung, in: Heinz Rausch (Hrsg.): Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung. Darmstadt 1969, S. 131-152, in diesem Band, S. 153 ff. 29
Vgl. E. Schulin (Anm. 3), S. 230. Hier wird die Umorientierung der handels- und finanzpolitischen Linie seit 1689, also des Landed-, Trading- und Moneyed-Interest, erörtert und über den Board of Trade von 1696 der Handel zur nationalen Sache erklärt (S. 255), zumal hier die Handelsbilanzlisten angefertigt sowie Gesetze und Handelsverträge vorbereitet
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Diese Veranstaltungen einer Whig-Regierung (1692-1697) dienten dazu, den wachsenden Kapitalüberhang des Überseehandels dem staatlichen Finanzbedürfnis verfügbar zu machen. Staatsanleihen konnten nur vom Parlament garantiert werden und wurden späterhin (seit 1707) immer mit Exchequer-Bills verbunden. Das Parlament beriet und bewilligte die Anleihen, garantierte aber nur den Staatsschuldendienst, also den Zinsdienst, für den es besondere, meist indirekte Steuern bewilligte 30 . Das Unterhaus begnügte sich aber nicht damit, sondern kümmerte sich als Kreditvermittler auch um die „Appropriation" der Gelder, also um ihre Verwendung, was ihm Zugang zur hohen Politik verschaffte. Damit erreichte die Finanzsuprematie des Unterhauses eine unvorhergesehene Dimension. Es war nun nicht mehr nur ein Komitee von Grundbesitzern, sondern darüber weit hinaus ein unabhängiger Aufsichtsrat mit Verfügungsrechten über die Nationalschuld. Das ermöglichte eine neue Form der „Surplus-Appropriation" 31, also eine gewinnträchtige Nutzung des Kapitalüberhangs für die Nationalschuld aus den Gesichtspunkten britischer Machtpolitik. Nur im Einvernehmen mit dem Parlament konnte England als wirtschaftliche und militärische Großmacht auftreten. Der König ernannte zwar seine Minister, aber sein „Erster Lord des Schatzes" konnte nur bestehen, wenn er das Unterhaus für seine Politik gewinnen konnte. Die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit war nicht mehr zu umgehen32.
9. Es gab mithin keine kohärente Rechtfertigung der Glorreichen Revolution, und es gab auch keine „Revolution Principles" 33 , wie die Whigs behaupteten. Es kam wurden. Dazu: P. Laslett, John Locke, The great Recoinage and the Origin of the Board of Trade 1695-1698, in: William & Mary Quarterly 14 (1957), S. 74; ferner J. Κ Steele, Politics of Colonial Policy. The Board of Trade in Colonial Administration 1696-1720. Oxford 1968, S. 10, 17, 20; über die Gründung der Bank von England vgl. Asa Briggs, Social History of England. London 1983, S. 156-157. 30 Das Verständnis für diese Finanzrevolution, welche gewaltige Summen gegen geringen Zinsfluß über das Parlament als einzigen glaubwürdigen Kreditvermittler verfügbar machte, vermittelt John Brewer, The Sinews of Power. War, Money and the English State, 16881783. London 1989. Die Verbindung des Schuldendienstes (Zinsgarantie) mit den Exchequer-Bills machte das Aussetzen des Zinsdienstes ungesetzlich. - Hier wurde die Verlagerung der politischen Willensbildung ins Parlament über die Budgetbewilligungen sichtbar. Vgl. Κ Kluxen (Anm. 23), S. 435. Das war der Schritt des Unterhauses vom passiven Hüter von Recht und Gesetz zum Mitgestalter der Politik. 31 I. Wallerstein, The Modern World-System. Capitalistic Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the 16 th Century. London 1974, S. 37. 32 Die lange Herrschaft Robert Walpoles 1721 bis 1742 beruhte wesentlich darauf, daß er als „Erster Lord des Schatzes" erfolgreiche Mittel fand, die Abstimmungen im Unterhaus im Sinne seiner Regierung zu „managen", vor allem durch Wahlkorruption und Ämterpatronage. Über die politischen „Manager" vgl. Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert. Freiburg/ München 1956, S. 75-81, 146, 163, 171 (Walpoles Politik), 174 (Walpoles Maximen).
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deshalb auch nicht zur Scheidung der Geister, sondern eher zu einer Bescheidung der Protagonisten auf den status quo der parteilichen Gegensätze. Ausgerechnet der Aufstand der Unterbehörden oder des „Local Government" oder der „Countryside" war mehr eine Zirkularrevolution alten Stils, wie sich schon die Restauration von 1660 verstanden hatte. Die Stufe zum Verfassungsstaat wurde erst im „Settlement" von 1701 erkennbar, welches unter einer Tory-Regierung (1698-1702) zustande kam. Damit trat zutage, daß angesichts eines Fehlens des nationalen Grundkonsenses der Kompromiß wichtiger war als Prinzipien, und die Effizienz maßgebender als die reine Lehre von Whigs oder Tories. Die Präzedentien siegten über die Grundsätze, und der wechselseitige Ausgleich hatte Vorrang vor prinzipiellen Konfrontationen. Die Verdeckung der Revolution war ratsamer als ihre konsequente Fortführung. Die gotische Unvernunft der alten Verfassung vertrug sich nicht mit der Logik abstrakter oder naturrechtlicher Begriffe. Da in den Augen der Politiker der Bestand des Ganzen mehr oder weniger vom Funktionieren des Widerspiels der Kräfte und Interessen abhing, schob sich ein Begriff in den Vordergrund, der sich aus der neuen wissenschaftlichen Weltvorstellung und der philosophischen Denkweise der Zeit anbot, und der die politischen Perspektiven und Maximen fürderhin bestimmte, wobei Widersprüche und Inkompatibilitäten nicht nur hingenommen wurden, sondern als notwendige Momente zur Ermöglichung von Politik anerkannt waren 34 .
10. Das war der Begriff der „Balance", der als „old balance" schon früh im Gespräch war, aber nun zum qualifizierenden Prinzip der Politik aufrückte. Dieser Usus Modernus war schon seit Francis Bacon und auch bei Oliver Cromwell und John Milton im Gebrauch; und Harrington in seiner „Oceana" (1655) sah sogar in der Richtung auf Ausgleich und Balance ein Jus Divinum wirksam. Isaac Newton hatte erstmals in seinem Hauptwerk 35 den Zusammenhang des Universums als Equilibrium gegensätzlicher Kräfte erklärt. Jean Théophile Desaguliers, Kaplan 33 J. R Kenyon, Revolution Principles. The Politics of Party 1689-1720. Cambridge 1977, S. 165. Hier wird nachgewiesen, daß die zwanzigjährige Debatte keine eindeutigen Revolutionsprinzipien zu formulieren vermochte, ohne zugleich den status quo in Frage zu stellen. Auf der Ebene der höheren Politik war der Pragmatismus Walpoles das Gebot der Stunde. 34 Kurt Kluxen, Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert, in: Helmut Berding, Kurt Düwell u. a. (Hrsg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Schieder. München/Wien 1978, S. 41-58; vgl. in diesem Band, S. 106 ff. 35 Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica. 3 Bde., London 1687 - die erste auf Prinzipen und Gesetzen gegründete universelle Naturlehre, welche die Einheit der Welt und die Identität der himmlischen Gravitationsgesetze mit den irdischen Fallgesetzen nachwies.
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des Duke von Chandos, übertrug das Kräftespiel des Kosmos auf die Politik; er erblickte in der ausbalancierten englischen Verfassung das beste Vorbild irdischer Daseinsgestaltung nach himmlischen Gesetzen36. Mit dieser der Physik entlehnten Metapher ging Hand in Hand eine Relativierung und Funktionalisierung der miteinander ringenden Kräfte und Interessen und deren Reduktion auf ein politisches Kalkül. Die Balance war bestenfalls das Surrogat einer Rechtsidee, aber sie erwies sich als das beste Mittel, die Frage nach dem Sitz der Souveränität im Gemeinwesen zu umgehen, da es hier, wie schon John Locke lehrte, keinen letzten Richter (final judge) gebe. Das Gleichgewicht zwischen König, Lords und Commons war bereits der Idealzustand - ebenso wie das Gleichgewicht zwischen Government und Property, Zentral- und Lokalgewalt, zwischen bewahrenden und fortschrittlichen Kräften 37 . Die Balance galt sogar als Signatur einer freiheitlich verfaßten Monarchie. Noch für Edmund Burke war die Regierung „the balance of balances" und die Gerechtigkeit ein „balancing principle". Diese Kanonisierung der Balance diente nachträglich zur Legitimation der Revolution. Ihre Wiederherstellung war für Lokke, Bolingbroke, Delolme und Blackstone der Sinn der Revolution von 1689 und die wahre Linie von Freiheit und Glück. Sie war nicht der Anstoß zur Revolution, sondern diente mehr ihrer Beruhigung. Demgegenüber erschien der Ereigniszusammenhang als zweitrangig, ein Vorfall aus den Konflikten des 17. Jahrhunderts, der unversehens das Tor zum 18. Jahrhundert aufstieß. Jedenfalls war es kein geplantes Menschenwerk. Deshalb sprach Bischof Gilbert Burnet am 31. Januar 1689 vor dem Konventionsparlament von „this chain of Providence" und wiederholte am 31. Oktober 1714 vor dem ersten englischen König aus dem Hause Hannover dieses Wort ausdrücklich. Sowohl 1689 als auch 1714 war nichts den Whigprinzipien, sondern alles der göttlichen Vorsehung zu verdanken 38 . Vorher hatte der Sacheverell-Prozeß von 1710 bewiesen, daß hier selbst vor der Bar des Oberhauses als des höchsten Gerichtshofs eine überzeugende Klärung der Revolutionsprinzipien nicht gefunden werden konnte, wenn der gewonnene Status quo erhalten bleiben sollte 39 . 36 Jean Théophile Desaguliers, The Newtonian System of the World, the best Model of Government. London 1728. 37 Über John Locke und die Finanzrevolution vgl. Kurt Kluxen, John Locke. Vom ständischen zum bürgerlichen Widerstandsrecht, in: Peter Alter, Wolfgang J. Mommsen, Thomas Nipperdey (Hrsg.), Geschichte und politisches Handeln. Theodor Schieder zum Gedächtnis, Stuttgart 1985, S. 13-18, hier bes. S. 36-37; vgl. in diesem Band, S. 77 ff. 38 Zu Gilbert Burnet, Bischof von Salisbury, vgl. C. H. Firth, Burnet as a Historian, in: Essays Historical and Literary. London 1938, S. 174-209; vgl. J. P. Kenyon (Anm. 33), S. 16. 3 9 J. P. Kenyon (Anm. 33), S. 145, 165, 169. Der Sacheverell-Prozeß 1710 brachte den Widerwillen der Öffentlichkeit gegen die Whig-Ideen vom Urvertrag und Widerstandsrecht zutage. Es erwies sich als unmöglich, irgendwelche Revolutionsprinzipien zu formulieren, ohne den status quo ernsthaft zu gefährden. Vgl. auch Geoffrey S. Holmes, The Trial of
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Edmund Burke fand dazu in seinem „Appeal from the New to the Old Whigs" (1791) eine glaubwürdige Antwort: „What we did was in truth and substance, and in a constitutional light, a revolution not made but prevented", oder: „In the stable, fundamental parts of our constitution we made no revolution, no, nor any alteration at all" 4 0 Wilhelm von Oranien brachte erst Format und Zuschnitt in die Ereignisse; ohne ihn wäre die Revolution ein insulares Ereignis geblieben. Er las den Engländern die Leviten und stellte sie vor Aufgaben, die weit über den defensiven Anlaß der Revolution hinauswiesen und nur zusammen mit anderen Mächten gelöst werden konnten. Erst „William's War" (1689-1697) zwang zu neuen Finanzierungsformen, welche dem Unterhaus die Schlüsselrolle zuspielten, eine Mittlerfunktion zwischen überseeischer Handelsgesellschaft und der Hohen Politik auszuüben. Ein Glück war es für England, daß das Parlament kein Revolutionstribunal wurde, sondern lediglich ein Aufsichtsrat potenter Grundbesitzer war, die sich als Treuhänder ohne unmittelbares Geschäftsinteresse verstanden. Unter dem Schlagwort von „the balance of Powers" traten die Engländer in den großen Krieg gegen Ludwig XIV. ein (1702), und mit dem gleichen Schlagwort in der Präambel des Friedens von Utrecht (1713) traten sie wieder aus. Sie brachten das Gleichgewicht ins europäische Völkerrecht und betrachteten sich als dessen weltpolitischen Hüter. Die großen Leute der Revolution waren Wilhelm von Oranien und Isaac Newton, die beide konservativ gesinnt waren. Das Parlament schaffte sich als Communitas Communitatum erst den Freiraum, den es als Treuhänder des nationalen Reichtums benötigte. Vorwiegend waren es die alten Bezeichnungen, aus denen sich die neue Regierungsweise zu legitimieren suchte; und der unbekannte Autor der „Anglia # Libera" von 1701 bezog völlig zu Recht das berühmte Wort des Tacitus über die Augusteische Zeitenwende auf die neue englische Gegenwart: „Arcanum novi status, imago antiqui!
Dr. Henry Sacheverell. London 1973, S. 20. Dieser Prozeß war Anlaß für die Whig-Minderheit, ihre Revolutionsprinzipien im Hintergrund zu lassen und sich als konservative Pragmatiker zu gerieren. 40 Edmund Burke , An Appeal from the New to the Old Whigs (1791), in: Works (World's Classics Edition), 1906, 5, S. 52. 41
Tacitus; frei übersetzt: „Das Arcanum des neuen Zustandes ist die Fassade des alten".
Der politische Ancient-Modern-Streit im England des 18. Jahrhunderts „The Battle of the Books" oder die „querelle des anciens et des modernes" in England am Ende des 17. Jahrhunderts hat als ein von Frankreich angeregtes literarisches Ereignis seit jeher Beachtung gefunden. Hier handelt es sich um einen literarischen „Bürgerkrieg im Bereiche der Eloquenz". Aber eine alte, weite Bereiche des geistigen Lebens Englands bestimmende Kontroverse wurde dabei weitergesponnen, und nur das Bild einer Schlacht ist französischen Ursprungs. Dieses Thema soll hier vorwiegend aus seinem politischen und insbesondere parteipolitischen Aspekt beschrieben werden. Dabei ergibt sich, daß die Wurzeln des konservativ-liberalen Gegensatzes im England des 19. Jahrhunderts in diese Thematik hineinreichen 1. Der mit Walpoles Ministerschaft (1721 -1742) sich herausbildende innenpolitische Zustand eines exklusiven Parteiregiments hatte die von Amtern und Patronage ausgeschlossenen Gruppen zu einer Opposition vereinigt, in der das Tory-Element ein Schwergewicht darstellte. Das traditionsgebundene und neuerungsfeindliche Gemeinschaftsdenken der Tory-Opposition und ihrer literarischen Wortführer brachte in den Gegensatz von Regierungsgruppen und Oppositionsgruppen die alte Ancient-Modern-Kontroverse hinein. Diese Auseinandersetzung Schloß damit an ein viel diskutiertes Thema an, das in mannigfaltigen Varianten seit Reformation, Renaissance und Humanismus in Religion, Dichtung, Wissenschaft und Politik aufgetaucht war. Freilich hatte dieser Gegensatz, obgleich er von den allgemeinsten Gesichtspunkten her erneut aufgegriffen wurde, nicht eigentlich politisch bewegende Kraft, sondern er diente mehr der Ausformung und Erweiterung des bereits vorhandenen Antagonismus der Parteigruppen. Das bedeutsame Thema fügte sich in mehr spielerischer Weise dem bestehenden Konflikt ein; man griff im Gefecht der Meinungen in die Waffenkammer, die sich aus der Geschichte anbot. Nichtsdestoweniger äußerte sich darin ein unterschiedliches Denken über Staat und Politik, das dem Wesen der Politik entsprang und dem Konstitutionalismus von Natur anzuhaften schien. Im Zeitalter Bolingbrokes und Walpoles handelte es sich bereits im wesentlichen um eine politische Kontroverse. Aber in ihr waren noch allgemeine geistige 1 Diese Untersuchung bringt einige Ergebnisse, die sich dem Verfasser bei der Erforschung der politischen Parteiengeschichte im England des 18. Jahrhunderts darboten. Vgl. Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert. Freiburg/München 1956. Der Verfasser ist Herrn Prof. Dr. Peter Rassow für vielfältige Anregungen und Hinweise zu besonderem Dank verpflichtet.
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Grundhaltungen eingeflochten, die die Geister des 17. Jahrhunderts in Spannung gehalten hatten. Bacon, der das Gesicht seines Jahrhunderts in vieler Hinsicht bestimmte, hatte die säkulare „Ancient-Modern"-Frage im Anschluß an eine humanistische Problemstellung und vorwiegend vom Gesichtspunkt der modernen Wissenschaft in die Debatte geworfen. Bei ihm triumphierte die Idee der Neu-Entdeckung über die Idee der Wieder-Entdeckung, die den Humanismus beherrscht hatte. „The new learning" brachte für ihn den Fortschritt, und die Menschen seiner Gegenwart waren ihm die wahren „Alten"; denn das Alter der Welt habe zugenommen, und die Wahrheit, die Tochter der Zeit, sei mehr ans Licht getreten2. Dieses hoffnungsfrohe Zukunftsbewußtsein drang in Wissenschaft und Philosophie ein; es fand sich bei Thomas Brown, Thomas Spratt, Glanville und vielen anderen und wuchs sich als Gegensatz zwischen alter und neuer Wissenschaft, zwischen Universität und Sozietät aus3, der späterhin sich zeitweilig mit dem Whig-Tory Gegensatz deckte und vor allem im Torytum der Universität Oxford sich am längsten bemerkbar machte. Von diesem seit Bacon sich ausbreitenden Fortschrittsoptimismus in Naturwissenschaft, Philosophie und praktischen Künsten blieb auch die Theologie nicht unberührt. Viele Kirchenmänner schlossen Fortschrittsideen in ihre theologischen Betrachtungen ein 4 . Die ältere Kirchentheorie stand freilich auf dem entgegengesetzten Standpunkt; sie betonte den allgemeinen Verfall und die Korruption der menschlichen Natur 5, eine Anschauung, die sich mit der Idealisierung des ersten Christentums und dem Biblizismus der Puritaner gut vertrug. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts suchte man jedoch die Offenbarungsgeschichte vorzugsweise in Begriffen des Fortschritts oder des schrittweisen Aufstiegs des Menschen aus dem Sündenfall, der stufenweise sich enthüllenden Offenbarung Gottes oder der Entwicklung des Christentums zu interpretieren 6. Die Wendung gegen diese Fortschritts-Theologie fiel in die Zeit Bolingbrokes etwa mit Edmund Laws vielgelesenen „Considerations of the Theory of Religion" 1745, als man in Kampfstellung gegen die rationalistischen Verflachungen und Mißverständnisse der Fortschritts-Theologen die Vernunft wieder abzuwerten begann. Es herrschte also auch in der Theologie eine „Ancient-Modern"-Kontroverse, die gerade zur Zeit der Bolingbrokeschen Oppositionspolitik sich gegen Vernunftgläubigkeit und Gegenwartsoptimismus zu entwickeln schien und dem theologischen Interesse Bolingbrokes nicht entgehen konnte. Bolingbroke verneinte 2 Bacon, Novum Organum, lib. I, cap. 84 (Aulus Atticus, Noctes Atticae XII, 11 zitierend). 3 Vgl. Basil Willey, The 17 th Century Background. London 1944, S. 172/3. 4 Vgl. Ronald S. Crane, Anglican Apologetics and the Idea of Progress 1699-1745, in: Modern Philology 31 (1933/34), S. 283 ff. 5 Vgl. etwa Godfrey Godman, The Fall of Man, or the Corruption of Nature proved by the light of our natural Reason. London 1616. 6 Vgl. die Nachweise bei Crane (Anm. 4), S. 283 ff.
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einen Fortschritt in der Religion und trat für einen nur begrenzten Fortschritt in der Naturwissenschaft ein 7 . Er sympathisierte mit der älteren Theologentheorie eines ursprünglich wahren und natürlichen Verhältnisses des Menschen zur Religion und seiner späteren Korrumpierung durch Machtinstitutionen und Dogmenerstarrung. Die Wahrheit war ihm älter als der Irrtum und lag bei ihm von vornherein in „the Nature". „The lesson of nature", also die umgebende erfahrbare Natur, produzierte die wahre Religion, die in der Vergangenheit, und nicht in der Zukunft oder Gegenwart zu suchen war. Mit Bolingbrokes rationalistischer Verdünnung der Religion zu einem unkirchlichen philosophischen Deismus gingen die Elemente der Theologie vom unschuldigen Urständ und korrupten Sündenstand ohne Scheidung in seine allgemeine philosophische Weltanschauung über. Der politische „Ancient-Modern"-Gegensatz war ebenfalls alt; er entwickelte sich in England im Streit der Juristen und im Bürgerkrieg. Er dauerte über das ganze Jahrhundert an und war so bedeutsam, daß die bekannte literarische Kontroverse, „the battle of the Books", an der in England Temple, Swift, Wotton, Bentley und Charles Boyle beteiligt waren 8, demgegenüber eine beiläufige Teilerscheinung gewesen ist, die mit den ähnlich gelagerten Gegensätzen auf anderen Gebieten zusammengesehen werden muß. Schon die großen Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts wiesen auf die alten Rechte des Landes hin, die sie gegen modernere Regierungsweisen erhalten wollten. Sie stützten sich auf den älteren Rechtszustand, wie er sich in der wieder hervorgeholten Magna Charta und in der überkommenen Rechtspraxis zu verkörpern schien. Die ererbten Rechte waren dabei häufig nicht nur die ältesten, die sächsischen Rechte, sondern zugleich die natürlichen Rechte, „the natural rights of Englishmen" (Coke). Noch deutlicher stand seit den Bürgerkriegen eine „Ancient-Modern"-Kontroverse im Vordergrund. Sie nahm die Form des normannisch-sächsischen Gegensatzes in der Nation an. Die altenglische oder sächsische Freiheit wurde gegen das normannisch-französische Joch ausgespielt9. Durch die ganze Revolutionszeit zog sich dieser Streit hin. Im Prozeß gegen Karl I. berief sich der Lord President Bradshaw ausdrücklich auf die sächsischen Zeiten, als die Parlamente den König noch zur Verantwortung gezogen hätten10. Für die Leveller waren die Freiheiten der Briten in den „Birth Rights" verkörpert, die durch die normannische Eroberung beschnitten worden seien. Die Verfassungsgrundlagen selbst galten als „native 7 Bolingbroke, The Works (hrsg. David Mallet), London 1754, Bd. IV, S. 297-302 8 Vgl. R. F. Jones, Ancients and Modems. Washington University Studies 1936. Zusammenstellung der zeitgenössischen Literatur in der Bibliographie bei: H. V. D. Dyson/ John Butt, Augustans and Romantics. 2. Aufl., London 1950. 9 Vgl. Hare, The Normar Yoke 1647; St. Edward's Ghost 1647; vgl. die nähere Beschreibung bei Erwin Hölzle, Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu. München und Berlin 1925, S. 60 ff. 10 Trial of Charles I. (hrsg. J. G. Muddiman), S. 115 ff.
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rights"11. Dieser Gegensatz normannisch-sächsisch war freilich mehr Symbol und Veranschaulichung des Gegensatzes von Recht und Gewalt, Gesetzes- und Willkür-Herrschaft; aber er begann zur Zeit der Bürgerkriege ein eigentümliches politisches Bewußtsein zu erzeugen 12. Im Zusammenhang damit wurde die Freiheit als politischer Wert erkannt; vorher gab es kaum ein Lob der englischen Institutionen als die Freiheit begründend; wenigstens konnte noch nicht von einem wirklichen Kult der Freiheit gesprochen werden 13. Diese freiheitssichernden Einrichtungen wurden durchweg als altsächsisch angesehen. Seit Camdens „Britannia" 1582 war die Meinung vom alteingesessenen Ursprung der Verfassung immer mehr Gemeingut der englischen politischen Literatur geworden. Daneben gab es allerdings immer auch Leute wie Bacon, Seiden und Spelman, die diesen Ursprung der Verfassung bezweifelten. Jedenfalls war das Bestreben allgemein, politischen Forderungen moralisches Gewicht zu verleihen, indem man sich auf die ältesten Zustände berief. Diese normannisch-altsächsische Kontroverse setzte sich über die Restaurationszeit fort 14 und klang noch in den „Junius"-Briefen nach 15 . Am bekanntesten wurde Harringtons Unterscheidung von „Ancient Prudence" und „Modern Prudence". Sie verwirrte freilich etwas das Bild, weil er unter „Ancients" die Römer, Griechen und Venezianer verstand und nicht die englischen Vorfahren. Diese „Ancients" hatten von Natur ihre Freiheit bewahrt, die dem alttestamentlichen Israel durch übernatürliche Einwirkung erhalten geblieben sei. Die „Modern Prudence" begann mit den Waffen Caesars und wurde von den Germanen eingeführt. Harrington nannte sie „Gothic Prudence" und „Gothic Balance", unter der er sich das alte Feudalsystem vorzustellen scheint. Dem Zweikammer-Republikanismus der „Ancient Prudence" stellte er die gotische Balance zwischen König und ländlicher Aristokratie gegenüber, wobei „gotisch" unter dem Einfluß seines Gewährsmannes Donato Giannotti 16 abwertend gemeint war 17 . Im allgemeinen wurde aber die gemischte Verfassung als die gotische bezeichnet 18 . Für William Temple war die Freiheit bei den Goten, d. h. den Sachsen als 11 Vgl. „First Agreement of the People" (Gardiner, History of the Great Civil War, III., S. 394); ferner Robert Berkeley in Hampden's Process (1638). 12 Vgl. Lockes Hinweis auf die Kontroverse im Second Treatise XVI, 177, XVI, 182.
13 Fr. D. Wormuth, The Origins of Modern Constitutionalism. New York 1949, S. 163. 14
Vgl. das Verzeichnis der Streitschriften in: James Tyrell , Bibliotheca Politica, or an Enquiry into the ancient constitution of the English Governement. London 1718. 15
Junius-Briefe 1769-1772 (deutsch von Arnold Ruge), 3. Aufl., Leipzig und Heidelberg 1867, S. 191. ι 6 Donato Gianotti, De Republica Venetorum, Opere, Pisa, 1819, L, S. 15. 17 J. Harrington, Oceana and other Works. 3. Edition Toland, London 1747, S. 37, 61, 237ff., 583; vgl. Wormuth (Anm. 13), S. 170/1. 18 So bei Samuel Parker, A Political Catechism. London 1643; Roger Twysden, Certayne Considerations upon the Government of England. 1642-50 (pubi. 1849); Nathanael Bacon, Historical and Political Discourse of the Laws and Government of England, Part I. London 1647.
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Teil der Goten, gesichert 19. Auch Davenant trat immer wieder für die „alte" Verfassung des Königreiches ein und lobte die Weisheit der alten „Gothic models", die in der englischen Verfassung überliefert und rein erhalten seien20. Zugleich empfahl er die Nachahmung der Römer als sicherste Leitschnur guter Politik 21 . Molesworth definierte sogar die zeitgenössische Parteiung im Hinblick auf diese Perspektive: Ein wirklicher Whig sei nur, wer sich an die „wahre alte gotische" Verfassung unter den drei Zweigen von König, Lords und Commons halte, nach der die Gesetzgebung diesen dreien, die Exekutive dagegen dem König, darin dem ganzen Volke verantwortlich, vorbehalten sei 22 . Mit Hinweis auf die „ursprüngliche" Verfassung verteidigte er, wie vor ihm bereits Locke 23 , eine Wahlreform zur Beseitigung der „rotten boroughs". Die „natürliche" Liebe zur Freiheit lag auch seiner Meinung nach bei den nordischen Völkern 24 . Dieser oft emphatischen Betonung des gotischen Ursprungs der modernen Freiheit folgten Thomasons „Liberty" 2 5 , Bolingbroke und die oppositionelle Zeitschrift „The Craftsman" 26. Sie fanden einen überaus aktuellen Impuls zu diesen Anschauungen in der Kent-Petition von 1701. Denn der Name Kent Schloß ein Programm und eine Haltung ein. Die Kent-Tradition wurde als die Tradition der gotischen Freiheit betrachtet; hier in Kent allein hatte sich, so glaubte man, die vor-normannische Freiheit unverfälscht erhalten 27. Hier saßen seit 449 mit ihren zahlreichen Sonderrechten die Jüten, die man im 18. Jahrhundert für Goten hielt 28 . Die Frage der Volksfreiheit, die mit der Kent-Petition auftauchte und von der Opposition wieder aufgegriffen wurde, stand damit schon durch die Tatsache, daß sie aus dem freiheitsliebenden, den ältesten Zustand politischer Freiheit verkörpernden Kent kam, im Zusammenhang der „Ancient-Modern"-Frage. Es war also naheliegend, daß die Opposition an diesen Gegensatz anknüpfte und im Namen der alten Tradition und Verfassung für die altsächsischen Freiheiten sich einsetzte. Zugleich spiegelte dieser Gegensatz stets die verschiedene Auffassung vom Staatswesen wider. Der historische Streit war in Wirklichkeit ein Streit der Staatsideen, wie sich bereits klar bei Harrington zeigte. Die erweiterte Auffassung der Konstitution entsprach stärker der mittelalterlich19 Introduction to the History of England, Works, London 1720, II, S. 537. 20 Ch. Davenant, Works, London 1771/72, II. S. 302, 309; IV. S. 294, 298. 21 Ebd. IV. S. 284. 22 Molesworth, Essay on Parties, 1711, in: Ker, Memoirs III. London 1726/27, S. 192. 23 Locke, Treatise II., §§ 157/158; vgl. Bolingbroke, Works (Anm. 7), II. S. 233. 24 Molesworth, Account of Denmark. London 1694, S. 264, 42. 25 „Liberty", IV., 691-699. 26 „The Craftsman" 2. 10. 1730; 11.8. 1733; 19. 5. 1734 (vgl. Gesamtedition VII., S. 50/ 51; XI. S. 117/118; XII. S. 94/95). 27 Richard Grafton, Chronicle 1569, London 1809, I. S. 154-156; vgl. Shakespeare, Heinrich IV. Part II., Akt 4; Part III. Act 1. Szene 2. 28 So Laurence Echard, History of England, 3. Aufl., London 1720, S. 17. Über die „Goten" im Verhältnis zu „Geten" und „Jüten" vgl. Samuel Kliger, The „Goths" in England: An Indroduction to the Gothic Vogue in 18 th Century aesthetic discussion, in: Modern Philology 43 (1945/46), S. 107-117.
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germanischen Staatsidee, wo Gesellschaft und Staat sich noch nicht trennen ließen. Er stand in Verbindung mit dem Gegensatz von Legalität und Legitimität, WillkürSouveränität und Gesetzes-Herrschaft, Eroberungs- und Geburtsrecht, gab also ein echtes rechtliches und politisches Problem wieder, das die Frage nach der legitimen Grundlage der politischen Macht zu beantworten suchte. Bolingbroke, der geistige Führer der Opposition, hat die „Ancient-Modern"Kontroverse stark mitbestimmt. Er knüpfte an die angelsächsisch-normannische Kontroverse an: Ihm waren die britischen Freiheiten nicht „grants" der Fürsten, sondern „the original rights, conditions of original contracts, coequal with prerogative and co-aeval with our government" 29. Er beseitigte die Verwirrung der Begriffe, die durch Harringtons Zuordnung von „Modern" und „Gothic" entstanden war, indem er die gegenwärtige gemischte Verfassung als Rückkehr zu den alten germanischen Freiheiten ansah, während die feudale Monarchie, die Harrington unter dem Einfluß Seidends30 eigentlich „gotisch" genannt hatte, als illegitimes Zwischenspiel beurteilt wurde 31 . In seiner „Dissertation" und seinen „Remarks" suchte Bolingbroke die Kontinuität von den frühesten bis zu den zeitgenössischen Zuständen zu verfolgen. Er griff auf die ältesten Zeiten zurück und glaubte, daß sich die sächsischen Verhältnisse trotz der normannischen Eroberung ununterbrochen - vor allem in den Parlamenten - erhalten hätten32. Die Briten seien freie Männer gewesen, und das Wittena-Genrote stelle den ursprünglichen Grundriß des Parlamentes dar 33 . Er berief sich auf Tacitus' Germania, wonach die Könige die anderen durch Überzeugen und nicht einfach durch Befehlen zu führen hätten. Die britische Konstitution war für ihn der Baum mit der Frucht der Freiheit, der, aus alten Zeiten emporgewachsen, in die Gegenwart hineinrage. Trotz aller zeitbedingten Veränderungen in der Verfassung hielt er die Wurzel des Baumes für unberührt; aus ihr sei mit größerer Stärke ein neuer Baum emporgewachsen, unter dessen Schatten man ruhig und sicher sitzen könne 34 . Die geschichtliche Kontinuität wurde nach Bolingbroke nicht von einzelnen Formen getragen, sondern von der Wurzel, d. h.: das zugrundeliegende Substrat, „the uniformity of spirit" 35 , war der entscheidende Träger der Kontinuität. Mit dieser Anschauung stand er im Gegensatz zu Natha29 Bolingbroke, The Works (Anm. 7), I, S. 318. 30 John Seiden, Titles of Honour, 1614, III. S. 399, leitet den Feudalismus von den nordischen Völkern ab. 3 1 Bolingbroke, The Works (Anm. 7), II. S. 163; 208, 210. 3 2 Vgl. Wormuth (Anm. 13), S. 173. 33 Bolingbroke, The Works (Anm. 7), II, S. 161, 162; vgl. Camden, Britannia 1582, Frankfurt 1590, S. 96, 102, 106, und auch Filmer, der aber den Commons das angelsächsische Alter ihrer Rechte bestreitet. Vgl. auch schon: William Prynne, A Sovereign Antidote. 1642; Henry Spelman, Original of the House of Commons (nach A. Gross, Der Streit um das Widerstandsrecht, Berlin-Grunewald, 1929, S. 24); vgl. H. Liebermann, The national Assembly in the Anglo-Saxon Period, Halle 1913; L. Ries, Der Ursprung des englischen Unterhauses, in: Historische Zeitschrift 60, S. 6, 9. 34 Bolingbroke, The Works (Anm. 7), II, S. 166, 209, 210. 35 Ebd.,I,S. 313.
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nael Bacon, seinem häufiger zitierten Gewährsmann36, einem auch im 18. Jahrhundert noch einflußreichen extremen Vertreter der Germanenthese37, der an die Zahl der erhaltenen Gesetze dachte und an die Einförmigkeit der Verfassung, „the Uniformity of the Government of England" seit Alters her, glaubte, während Bolingbroke und sein Kreis an die Einheit des „spirit" und der moralischen Substanz dachten38. Eine solche Ansicht kam der Mentalität des einfachen Tory entgegen, der - in einer Mischung von Ressentiment gegen das Neue und romantischer Vorliebe für das Alte - an Englands frühere Größe glaubte, wie sie etwa Dr. Johnson in seinem „London" neu beschworen hatte, der bezeichnenderweise vom nußbraunen Ale als dem durch Robin Hood geheiligten Nationalgetränk des „Old Merrie England" oder des „Roast-beef Old England" (H. Fielding) 39 nicht lassen wollte und schon im Teetrinken einen weiteren Beweis für den allgemeinen nationalen Niedergang sehen wollte 40 . Im „Country-Gentleman of England", wie ihn M. Akenside in seiner gleichnamigen Ode besungen hatte, sah man den alten nationalen, germanischen Geist am besten erhalten. Das blieben keine Einzelansichten; vielmehr breitete sich eine Welle der Germano- und Keltomanie aus, die um die Jahrhundertmitte ihren Höhepunkt erreichte und bei Montesquieu, Blackstone und im Verlauf des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges eine bedeutsame Rolle spielte. Die romantische Hinwendung zur Vergangenheit der Nation war nicht frei von einem historisierenden und antiquarischen Patriotismus, also von dem, was Burke den „Aberglauben von Antiquaren" genannt hatte 41 . Bei Bolingbroke war der oppositionelle Patriotismus in erster Linie praktisch-moralisch eingestellt und mit dem Freiheitspathos der „alten Whigs" verknüpft 42. Er war Antrieb zur Bewälti36 Ebd., II, S. 208, 210, 211; N. Bacon, A Historical Discourse of the Uniformity of the Government of England, 1647; ferner: A continuance ... etc, 1651. Bacon wirkt mit seiner Germanenthese auf das ganze 18. Jahrhundert, besonders auch auf die Republikaner wie Wilkes, Glynn, Sawbridge; sein Werk wird von Pitt empfohlen als „the most instructive book we have on matters of that kind". 37 p. G. Buchloh, Edmund Burkes Behandlung und Beurteilung der alt-germanischen Zeit Englands im Rahmen des englischen Germanenproblems im 18. Jahrhundert, Kölner Dissertation 1951 (Masch.). 38 Vgl. Die Rede Lord Noel Somersets am 3. 2. 1739 (Parliamentary Debates, XV. S. 336). 39 Der Ausdruck „Roast-beef Old England" stammt aus Henry Fielding, Grub Street Opera, Act III., Sc. 3.; vgl. Esmé Wingfleld, History of English Patriotism. London 1913, 1., S. 260. 40 Vgl. M M. Fitzgerald, First Follow Nature. New York 1947, S. 23. 41
Doch hat der historisierende Patriotismus für Burke mehr positive als negative Seiten: „This retrospective wisdom and historical patriotism, are things of wunderful convenience; and serve admirably to reconcile the old quarrel between speculation and practice". (Burke, Selected Works, hrsg. Payne), I. S. 8; vgl. Burke, Works (Rivington), III. S. 226. 42 Nur einmal wohl wird der Gegensatz zwischen Regierung und Opposition umgekehrt ausgelegt, als ob Walpole das sächsische System im Sinne der „Old Whigs" verteidige, während die Tories in der Opposition das normannische System verteidigten, Geburtsrecht und 18 K l u x e n
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gung der Gegenwart und weit davon entfernt, sich in einem rückwärts gewandten romantischen Mitgefühl zu erschöpfen. Bolingbroke nahm sogar das klassische Thema, das früher das Whig-Idiom gebildet hatte, wieder auf und stellte sich in die republikanische Tradition seit Machiavelli. Er entledigte sich des alten Hebräismus, an dem der Patriotismus der protestantischen Völker aus dem Bewußtsein, das jeweils auserwählte Volk zu sein, sich orientiert hatte, und der im 16. /17. Jahrhundert geradezu die Form des englischen Nationalgefühls gewesen war 43 . Statt dessen nahm er in direkter Verbindung mit der Renaissance, besonders mit Machiavelli, und ganz im Stil der neuzeitlichen politischen Wissenschaft, die Antike als Mittel seiner Beweisführung mit hinein. In der Antike verkörperte sich nach ihm die Politik in reinerer Weise als im kirchlich gebundenen und korrupten Abendland. Dem folgte auch „The Craftsman", der sowohl klassische Beispiele brachte, als auch den gotischen Ursprung der englischen Verfassung behauptete, die sich in der Revolution von 1688 erneuert habe44. Bolingbrokes Hauptgewährsmann war dabei Rapin-Thoyras, der die geläufigen Geschichtsanschauungen seiner Zeit repräsentierte 45. Als „the Ancients" galten jetzt häufig sowohl Griechen und Römer als auch die alten Sachsen, wenn auch im Ganzen das England des 18. Jahrhunderts auf die Germania des Tacitus als auf sein Antecedens zurückblickte 46. Für Bolingbroke ergab sich diese Gleichsetzung von selbst: Die Römer und Sachsen hatten sich beide die Natur der Politik bewahrt. Eine unmittelbare geschichtliche Verbindung suchte er dabei nicht. Sondern „the Ancients", ob Römer oder Sachsen, folgten der noch inkorrupten Natur; sie hatten die der Natur inhärenten Regeln der Politik entdeckt; Eroberungsrecht also genau entgegengesetzt gelagert seien, nämlich in der Schrift von Governor Pownal „On the Conduct and Principles of Sir Robert Walpole". Diese Schrift kommt jedoch erst später heraus und versucht eine sehr einseitige und panegyrische Rechtfertigung der Walpoleschen Politik. Sie beweist damit gerade, wie sehr die Ansichten der Opposition inzwischen an Geltung gewonnen hatten. W. Coxe, Walpole, London 1798 III, S. 6/5 f. « Vgl. Sir Ernest Barker, Traditions of Civility, Cambridge 1948. Essay VI. S. 190; Herbert Schöffler, Abendland und Altes Testament, Frankfurt am Main 1941, S. 73 f. 44 „The Craftsman" vom 2. 10. 1730; 11. 8. 1731; 19. 5. 1734. 45 Rapin De Thoyras, Histoire d'Angleterre, wurde von Tindale ins Englische übertragen (2. Auflage 1735, 9 Bände). Rapin vertrat den klassischen „Old Whig"-Standpunkt der „Ancient Gothic Constitution", ist aber doch hie und da skeptisch gegen die angelsächsische Gesetzgebung und erkennt eine wirkliche Popularvertretung erst seit Heinrich III. (1264) an. Tindale, sein Ubersetzer, kritisiert diese Auffassung mit Hinweis auf Echards History of England (3. Auflage 1720), S. 124. Auch der „Craftsman" weicht in dieser Hinsicht von ihm ab und stützt sich lieber auf Echards Geschichtswerk (vgl. „The Craftsman", 6. 4. 1734; Gentleman's Magasine, XII. S. 186). 46 Wormuth (Anm. 13), S. 173. Die Vorliebe für die Gleichsetzung römischer und britischer Freiheit dokumentiert Thomsons Lobpreis auf Algernoon Sidney als britischen Brutus und britischen Cassius: „Of high determin'd Spirit, roughly brave, By Antient Learning to th'enlighten'd Love, Of Antient Freedom warm'd" („Summer" 1744, 11, 1516-1519); vgl. Alan Dugald McKillop, Ethics and Political History in Thomson's Liberty, S. 221 (in: James L. Clifford und Louis Blanda, Pope and his Contemporaries. Oxford 1949, S. 215 ff.).
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die Nachahmung der Alten war Nachahmung der Natur. - Swift hatte Ähnliches behauptet, wenn er einerseits im Sinne der Anschauungen seiner Zeit am gotischen Ursprung des Parlaments festhielt, andererseits aber die gemischte Regierung nicht auf den gotischen Ursprung, sondern auf „nature" und „reason" gründete. Auch er war für die „Alten" gegen die „Modernen", weil er die Geschichte nicht als fortschreitende Verbesserung ansah, sondern als einen Kampf, oft begleitet von Perioden verhängnisvollen Scheiterns, um die Werte zu erhalten, die durch die Antike für immer aufgerichtet worden seien47. Auch Locke und Rapin-Thoyras hatten „nature" mit „the rules" und „reason" mit „the Ancients" gleichgesetzt48. Klassisches und alt-sächsisches Freiheitspathos in Verbindung mit natur- und gemeinrechtlichen Vorstellungen erfüllte die Opposition in gleicher Weise. Bolingbroke und „The Craftsman" bedienten sich der historischen Vorstellungen und Wertungsweisen vor allem, um ihre allgemeine Pathologie der politischen Formen daran zu demonstrieren. Bolingbroke bekämpfte das „Moderne" als das Entartete, von „reason" und „nature" Abgefallene, und trat für das Alte, Naturnahe und Unverdorbene und das vom Geist der Freiheit Erfüllte, sei es römisch oder alt-sächsisch, ein. Antike und nationale Vorzeit dienten beide zur Illustration der ursprünglich guten Natur; am Untergang Roms entwickelte Bolingbroke die Grundsätze seiner politischen Lehre vom Aufstieg und Verfall der Völker 49 , so daß sein Traditionalismus mehr moralisierend als historisierend war und der Geschichtsverlauf nach den Grundsätzen seiner politischen Pathologie interpretiert wurde. Für Bolingbroke und die Opposition, die in den ältesten Zuständen die „Natur" am ehesten bewahrt sahen, wurde die Geschichte zu einer langen Reihe von Reformationen, die gegen die Degeneration des Tages die ursprüngliche Natur restituieren wollten - ein ganz und gar konservativer Gedanke, der aus Bolingbrokes politischer Krankheitslehre ebenso wie aus älteren theologischen Vorstellungen entspringen konnte, der den Vorstellungen und der Praxis der Juristen in vieler Hinsicht entgegenkam und eine geeignete Interpretation der nationalen Geschichte gestattete. Entsprechend wurde die Glorreiche Revolution kommentiert. Aus ihr sprach der „spirit of liberty", der von den sächsischen Vorfahren durch fast ununterbrochenen Streit hindurch an die Gegenwart überkommen war 50 . Sie war die Wiederherstellung der „alten Konstitution" und die Rückführung der Verfassung auf ihre ursprünglichen Prinzipien, „the renewal of our constitution an the principles of liberty" 51 . Die Oppositionsblätter waren alle der gleichen Auffassung, daß die 47 Swift, Abstract of the History of England (Prose Works, hrsg. Bohn, London 1897 — 1908, X. S. 225); vgl. auch John Oldmixon, Critical History of England. London 1724, S. 25; Basil Willey, The 18 th Century Background. London 1950, S. 103. 4 * Willey (Anm. 47), S. 18. 49 Uber den Wandel Roms und seines „Spirit of Commonwealth" zum „Spirit of Faction" vgl. besonders Bolingbroke s „Remarks", Letter II. (Works I) („The Craftsman", 27. 6. 1730; Gesamtedition VII. S. 19-20, 12. 9. 1730). so Bolingbroke, The Works (Anm. 7), II., S. 124.
si Ebd., II. S. 52, S. 102. 18*
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Revolution keinen Wechsel gebracht, sondern den ursprünglichen Zustand der Freiheit wiederhergestellt habe52. Der „Craftsman" hielt sogar die alte Verfassung für noch besser als die Revolutionsordnung, weil sie, wie alle gotischen Verfassungen, auf einer gleichmäßigen Verteilung von Macht und Besitz aufgebaut gewesen sei und außerdem der König damals weniger Macht gehabt habe als „unser moderner König" 53 . Die ganze Opposition schien sich mit geringen Abweichungen in dieser Interpretation des Ereignisses von 1688 einig zu sein, die später zu Burkes bekanntem Ausspruch führte: Im Jahre 1688 sei nicht eine Revolution gemacht, sondern verhindert worden. Diese Interpretation kam nicht nur in den Journalen, sondern auch im Parlament zum Ausdruck, wo alle Neuerungsvorschläge und Anträge mit „the ancient constitution" und „the ancient privileges of the people" begründet wurden 54 . Englands Verfassung verkörperte nach Anschauung der Opposition nicht eine neue Freiheit, sondern bewahrte den letzten Rest der alten Freiheit der Menschheit. Das religiöse Bewußtsein der Auserwähltheit, das den Kampf gegen Spanien und Frankreich beflügelt hatte, wandelte sich zu dem politischen Bewußtsein, das einzige übriggebliebene Volk mit wirklicher Freiheit noch zu sein 55 . An diesem Gedanken entzündete sich das Nationalgefühl der Opposition, während die Regierungsseite in der Errichtung einer neuen fortschrittlichen Verfassung und Freiheit das nationale Verdienst erblickte. Beide Blickrichtungen waren möglich, ohne den Patriotismus und die Anhänglichkeit an die Revolutionsordnung zu beeinträchtigen. Die Anhänger der Regierung interpretierten die Revolution im entgegengesetzten Sinne. „The ancient constitution" sei kein Idealzustand gewesen; der Ausdruck sei ferner ein völlig unbestimmter Begriff. Bis zur Revolution habe es überhaupt keine geregelte Verfassung gegeben; die Rückkehr zur Praxis der Vorfahren sei vergleichbar einem erwachsenen Manne, der zur Kindheit zurück wolle. Im übrigen habe sie sich so oft geändert, daß sie kein Vorbild sein könne 56 . Die Revolu52 Vgl. „The Craftsman", 5. 7. 1735, No. 470 (Gentleman's Magasine V. S. 345) („Some further Considerations on our ancient and modern Constitution"). Die Zeitung verwahrt sich gegen die Auffassung, daß die angelsächsische Verfassung durch die normannische Eroberung vernichtet worden sei und man die Freiheit erst 1688 wieder errungen habe. Sie führt Hunts Argumentum Anti-Normannicum an und zitiert Lord Chief Justice Hales' History of the Common Law („The Craftsman", No. 466, 7. 6. 1735, Gentleman's Magasine V. S. 287: „The Ancient Constitution of Parliaments in England considered"); sie kommt zu dem Ergebnis: „Liberty is our antient Inheritance, deliver'd down to us thro'a long Succession of Ages, and not the mere Product of the Revolution") (No. 467, 14. 6. 1735, Gentleman's Magasine V. S. 295). Die Revolution ist „Erneuerung unserer alten Verfassung", ein „Überbau", errichtet auf demselben Grund der Freiheit (ebd. No. 497,6. 9. 1735, Gentleman's Magasine V. S. 531). 53 „The Craftsman", No. 405, 6. 4. 1734, Gentleman's Magasine IV, S. 186. 54 Vgl. besonders die Debatten 1733/34. History and Proceedings of the House of Commons from the Restauration to the Present Times, London 1742, III. S. 137, 143, 146, 150, 154, 170. 55 Vgl. Defoe, Jure Divino. 1706, XI, 3: „The only Free-born Remnant of Mankind, That have their Birthright, lately too, regain'd, And vigorously that valued Right maintain'd". 56 Vgl. etwa Debatten vom 13. 3. 1733/4.
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tion habe das Land von der Tyrannei zur Freiheit geführt; vorher seien die Untertanen „Slaves by Law established" gewesen; nunmehr sei die Regierung einer gesetzlich verankerten Verfassung unterworfen; die moderne Konstitution übertreffe also weit die alte 57 . Auch die Vorväter seien durch die Mangelhaftigkeit von Gesetz und Verfassung voller Bigotterie und Sklavensinn und alles andere als Vorbilder gewesen58; ganz offenbar habe vor 1688 religiöse Unterdrückung und politische Versklavung geherrscht 59. Auch Hervey bestritt das Vorhandensein englischer Freiheit vor der Revolution, wogegen der „Craftsman" sich auf Seiden, Sidney, Tyrell, Petit und andere berief^ 0. Für einen Whig-Rationalisten wie Bischof Hoadly war die Revolution etwas grundlegend Neues, durch menschliche Anordnung klug Eingerichtetes, ein Ergebnis des fortschrittlichen Geistes und aufgeklärter Vernunft 61 . Hervey faßte in seinem Pamphlet „Ancient and Modern Liberty stated and compared" 1734 diese Polemik zusammen62. Die Geschichte galt den RegierungsWhigs als ein Fortschreiten zu besseren Zuständen und besseren Menschen, die durch Gesetz und Verfassung erzogen würden. Die Opposition stellte sich die Vergangenheit als das Gute und Naturnähere vor. Sie dachte an das Volk und seinen freiheitlichen Geist als den produktiven Träger und Hervorbringer der Verfassungsformen und hielt eine Formung des Volkes vom politischen Uberbau her, also von oben, nicht für möglich. Sie dachte auch weniger an bestimmte Formen als an den „spirit" und den „Genius der Nation" 63 . Die wechselnde Formulierung von Vertrag 57 „London Journal", 1. 9. 1733; „Daily Gazetteer", 15. 5. 1736, No. 276 (Gentleman's Magasine VI. S. 261); „Daily Gazetteer", 9. 8. 1735, No. 36 (Gentleman's Magasine V. S. 470), „The National Benefits of the Revolution": „The Revolution brought the Government in subjection to the Constitution by rendering it perfectly legal". Ferner „Daily Gazetteer", 5. 7. 1735, No. 6 (Gentleman's Magasine V. S. 343). 58 „Daily Gazetteer", 15. 5. 1736, No. 276 (Gentleman's Magasine VI, S. 261). 59 Ebd. 11.9. 1735 (Gentleman's Magasine V. S. 538) „On the present State of the Constitution"; ebd. 1. 11.1735, No. 108 (Gentleman's Magasine V. S. 656 „Remarks an our Ecclesiastical Constitution"; ebd. 8. und 22. 11. 1735 No. 126 (Gentleman's Magasine V. S. 666); ebd. 6. 12. 1735. No. 138 (Gentleman's Magasine V. S. 714) „Why the People were Slaves in their Principles, before the Revolution, and Freemen since". 60 „The Craftsman", 14. 6. 1735. Gesamt-Ed. XIV, S. 21. 61 Letter 59 des „Britannicus" im „London Journal", 9. 11. 1723 (in: Works of Benjamin Hoadly, London 1773, III. S. 225): „To the (same) Revolution We Owe That Limited Form of Government which is our only Security; Those Parliaments, in which our own Consent frames out own Laws;..." „And we owe It theese Good Things as truly, as if this Happy Frame of Government and of Liberty, and of Security, had at that Time arisen out of Nothing, and has then first presented itself to View and the Choice of the Nation." 62 Entgegnung im „Craftsman", 25. 1. 1735, No. 447 (Gentleman's Magasine V. S. 32); Verteidigung im „London Journal", 16. 3. 1734, No. 768 (Gentleman's Magasine IV. S. 141) „The Modem Constitution of England better than the Ancient". Vgl. auch „Daily Gazetteer", 5. 7. 1735, No. 6 (Gentleman's Magasine V. S. 343) „The Ancient Constitution in answer to two late Craftsmen"; und „Daily Gazetteer", 12. 7. 1735 (Gentleman's Magasine V. S. 352) und 26. 7. 1735 (Gentleman's Magasine V. S. 375) „The Ancient Constitution further considered". 63 Bolingbroke, The Works (Anm. 7), II, S. 166
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und Gesetz war für sie das jeweils Neue; das Fundamentale, gewissermaßen der zugrundeliegende Volksgeist, aber das Alte, das in keine Buchstäblichkeit ganz eingehen konnte. Die modernen Oppositionsmänner verteidigten also hier den alten „spirit" gegen den modernen Buchstaben der statuierten Verfassung. Der „Craftsman" meinte, nicht auf zeitbedingte Formen der Regierung, die nicht in der alten Verfassung vorgesehen seien, dürfe der Begriff der Konstitution angewandt werden, denn Septennial Act, Riot Act, Stehende Armee, Sternkammer und Hohe Kommission usw. hätten mit der eigentlichen Konstitution nichts zu tun; sie seien trotz gesetzlicher Statuierung nur vorübergehende und sogar verfassungswidrige Formen. Nur was sich durch alle Schicksalsschläge hindurch als bleibend erwiesen habe, sei die Grundlage 64. Die „foundations of liberty" seien unveränderlich; nur „the Superstructure" sei veränderlich, genau so wie die Statute Laws wechseln mochten, das Common Law aber blieb. Es war ein entscheidender Vorwurf der Opposition gegen Walpole, daß er „the Superstructure" gestärkt, „the Foundations of Liberty" aber geschwächt habe65. Der Geist, und nicht der Buchstabe, sei maßgebend66. Aus dem „Geist der alten Verfassung" argumentierten die Opponenten, aus den statuierten Gesetzen die Regierung 67. Die Verfassung unversehrt bewahren, hieß für Bolingbroke und seinen Kreis also nicht, sie für alle Zeiten unverändert zu lassen, sondern sie im Wechsel der Umstände auf „the true interest and meaning of i t " 6 8 zurückzüführen, d. h. auf die Natur, die ihr seit Ursprung innewohne. Der „Ancient-Modern"-Streit war ein Kampf der Opposition um das höhere Recht der Legitimität gegen die Legalitätsstarre der Regierung und fand seine berühmte Fortsetzung in den Amerikadebatten, bei denen Burke sich vergeblich gegen den starren Legalismus der Regierung wandte, um den Abfall der Kolonien zu verhindern. Die besondere Signatur des Parteikampfes war hier offenkundig, daß er ein Streit um die Interpretation und Anwendungsweise eines von beiden Seiten anerkannten allgemeinen gesetzlichen Gehaltes war und dadurch den Charakter eines Rechtsstreits, eines perpetuierten gerichtlichen Verfahrens, in einigen entscheidenden Grundzügen - sowohl durch die Formen der Geschäftsordnung, als auch durch 64 „The Craftsman", 6. 4. 1734, No. 405 (Gentleman's Magasine IV, S. 186). 65
J. Brown, Estimate of the Manners and Times. London, 1758,1. S. 115. 66 „The Craftsman" No. 413, 1. 6. 1734 (Gentleman's Magasine IV, S. 307); dagegen „Daily Courant", 8. 6. 1734 (Gentleman's Magasine IV, S. 307); vgl. die Verteidigung eines streng positiv-legalistischen Standpunktes im Namen der definierten Konstitution und der statuierten Gesetze gegen die Ausführungen in Bolingbroke s „Dissertation upon Parties", etwa im „London Journal", 29. 3. und 5. 4. 1735 (Gentleman's Magasine V, S. 183) „To the Author of the Dissertation of Parties". Vgl. ferner „London Journal" 5. 1. 1734, No. 759; „Tom Cutter's Journal" 19. 3. 1734; „The Free Briton", 11.7. 1734, No. 245; „Daily Courant", 8. 6. 1734 (Gentleman's Magasine IV, S. 12, 143, 373, 307). 67 Vgl. Anm. 66. „London Journal" 2. 6. 1733. No. 727, (Gentleman's Magasine III, S. 284). 68 Bolingbroke, The Works (Anm. 7), II, S. 233.
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die Suprematie eines allseits anerkannten rechtlichen und konstitutionellen Gehalts - beibehielt und sich auch als Rechtsdisput zu verstehen begann. Dieser Streit umschloß auch die Frage des Fortschritts, im Hinblick auf den die Regierung ihre Neuerungen legitimierte. Schon Temple hatte auf die Verbindung jenes Parteigegensatzes mit konservativer und fortschrittlicher Haltung hingewiesen69. Der Gegensatz schien auch in der Natur der Sache begründet, insofern die Opposition „Property", das auf Erhaltung bedacht sein ließ, und die Regierung „Dominion", das zur Vermehrung drängte, verteidigten. Opposition und Toryismus standen in inniger Beziehung zur statuierten Religion und zum geübten Recht, also zu vergangenheitszugewandten Gebieten, während die Regierung vorzugsweise in Begriffen des Budgets, der Wirtschaft und der Finanzen zu denken hatte. Daraus entwickelten sich konservative bzw. fortschrittliche Züge. Einem wirklichen Fortschritt stand die Opposition skeptisch gegenüber, wenn sie auch in Staatspolitik und Handel reformerisch gesinnt war. Bolingbroke folgte darin seinen Gewährsmännern wie Machiavelli, Bodin und Montaigne. Ihm war - ähnlich wie auch für Temple und Swift - die Geschichte eine ewige Oszillation zwischen Irrtum und Wahrheit, ein immerwährender Kampf um „nature" und „reason", um die Werte politischer Freiheit und gesetzlicher Herrschaft, die in der Antike und in den Wäldern Germaniens verwirklicht waren. Ihr Ideal war nicht eine neue, sondern die alte Freiheit, die so alt war wie die Natur des Menschen selbst. Göttliche Weisheit habe eben dem Menschen seinen Platz zugewiesen, der ihn zum Kämpfer für die Verwirklichung der ständig verloren gehenden Freiheit bestimme70. Über diesen Status könne er sich nie erheben; denn er liege in der menschlichen Natur begründet. Die wesentlichen Verhältnisse bleiben also für alle Zeiten so, wie sie einmal sind. Bolingbroke glaubte nicht an einen sicheren und bleibenden Fortschritt der Menschheit und der menschlichen Erkenntnis, weil ein solcher die vorgegebene und den Menschen auf die nächsten Dinge einschränkende Ordnung in Frage gestellt hätte. Er befand sich im Einklang mit dem Torytum, wenn er nicht einmal der modernen Naturwissenschaft allzuviel zutrauen wollte. Er glaubte, daß wohl einige neue Dinge dabei zum Vorschein kommen könnten, aber nur wenige „Glieder der unabmeßbaren Kette von Ursachen und Wirkungen, die vom Throne Gottes heruntersteigt", möchten eventuell entdeckt werden. Der wirkliche Mangel an adäquaten Ideen mache es undurchführbar, in die großen Geheimnisse der Natur, die wirklichen Energien der Substanzen und die Erstursachen ihres Tätigseins einzudringen. Einmal wird die Menschheit aufhören zu bestehen, so meinte er, ohne eine vollständige und wirkliche Kenntnis der Welt, die sie bewohnt, und der Körper, die sie in ihr trug, erlangt zu haben71. Der Kreis der menschlichen Erkenntnis schien ihm gering zu sein im Verhältnis zur Totalität und Unendlichkeit, vor die sich ge69 Temple , Miscellanea, Part III, 1701, S. 22; vgl. H. E. Woodbridge , Sir William Temple. New York/London 1940, S. 304. 70 Vgl. Bolingbroke , The Works (Anm. 7), III, S. 362. 71 Ebd., III. S. 406.
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rade die moderne Weltsicht gestellt sah. Auch Galilei und Gilbert hatten das bereits dunkel gefühlt 72 . Der Scheinfortschritt der spekulativen Philosophie verkannte nach Bolingbrokes Meinung die wahre und gleichbleibende Art des Denkens, die das intellektuelle System und den Aufbau der Natur nicht überspringen könne 73 . Man habe schließlich durch das verbesserte Studium der Natur nur die Ignoranz entdeckt, von der man in den Tagen der Ignoranz nichts geahnt habe74. Bolingbrokes Denken stand unter der Idee der Ordnung und nicht des Fortschritts; es war in gewissem Sinne ungeschichtlich: die geschichtliche Veränderung berührte nicht das Grundwesen des Menschen; sie entfernte oder näherte ihn dem Naturgesetz und war entsprechend positiv oder negativ zu bewerten. Statt Fortschritt zeigt die Geschichte ein ewiges Auf und Ab, eine zyklische Bewegung von Erzeugung und Verfall, von Ignoranz zu Wissen und vom Wissen zurück zur Ignoranz, von Barbarei zur Zivilisation und von der Zivilisation zurück zur Barbarei, einen ewigen Kreislauf 75 . Nichts bleibt lange im selben Status; alles, selbst Kunst und Wissenschaft, ist diesem zyklischen Wechsel unterworfen 76. Was auf der einen Seite gewonnen wird, geht auf der anderen Seite verloren, so daß man schließlich dort aufhört, wo man angefangen hat 77 . Die Welt bleibt also immer die alte, wie zur Zeit Adams 78 , und jeder eingebildete Fortschritt trägt die Keime des Niedergangs schon in sich. Bolingbroke dehnte hier seine politische Pathologie auf Kultur und Menschheitsgeschichte aus und gelangte zu einer Art Kulturzyklentheorie 79. Das organisierende Motiv in seinem Denken war die universale Ordnungsidee, die jede Art wesentlicher Veränderung im Status des Menschen ausschloß. Bei solcher Auffassung konnte das Ziel der Geschichte nur sein, bei ewig wechselnden Umständen sich immer wieder auf die ursprünglichen und in den Bestimmungen der Natur bereits enthaltenen Ordnungen und Existenzbedingungen zurückzuorientieren. Alle politischen Formen konnten im Wechsel der Zeiten ihren ursprünglichen Zweck verfehlen und mußten sich im Hinblick auf diesen Zweck regenerieren, d. h. das grundlegende Prinzip neu verwirklichen. Die nie ruhenden Keime der Zerstörung, so heißt es im „Patriot King", lassen sich nur verdrängen durch den Rückgang auf die Urgründe, auf denen Gesellschaft und Staat errichtet sind 80 . 72
Vgl. E. A. Burtt, The metaphysical foundations of modern physical Science, London 1925, S. 178. 73 Vgl. Bolingbroke, The Works (Anm. 7), IV. S. 165; III., S. 357. 74 Ebd., III. S. 417. 75 Ebd., IV, S. 235/236. 76 Ebd., I. S. 107; IV. S. 236. 77 Ebd., IV. S. 40. 78 Ebd., V. S. 472/3; IV. S. 23. 79 Vgl. über die Verbreitung dieser Kulturzyklentheorie nach dem Erscheinen von Bonhours, Entretiens d'Artiste et d'Eugène, 1671, und Fontenelle, Dialogues des Morts, 1683, Η. E. Woodbridge, Sir William Temple. New York/London 1940, S. 318. so „Patriot King" (Hrsg. A. Hassal). Oxford 1926, S. 85.
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Diese ständige Erneuerung zeichne die besten Regierungen aus81. Damit schob sich bei Bolingbroke das alte „Ritornar al principio" in den Vordergrund, als ein Mittel gegen den Verfall der Gemeinwesen. Er fand es bei Machiavelli, Bacon, Temple, Davenant usw. sowie bei den Alten. Er zitierte Bacons Axiom „Interims rei arcetur per reductionem ejus ad principia" 82 ; der Kampf um die freiheitliche Verfassung in England war ihm identisch mit der beständigen Bemühung, sie auf ihre ursprünglichen Prinzipien zurückzuführen 83. Die Politik der wahren Verfassungshüter, also der Opposition, war danach für Bolingbroke der Kampf um diese „reductio ad principium". Nur so war die Verfassung lebendig zu erhalten. Die wahre Opposition war für Bolingbroke infolgedessen immer eine konservative Opposition. Der Konservativismus diente ihr zum Ausweis der Legitimität ihrer Forderungen; er war jedoch gleichzeitig Ausdruck einer eigentümlichen Form des Wertens und Weltbegreifens, das dem Lebensgefühl des opponierenden Tory, seiner Animosität gegen alles Neue und seinem Hang zum Alten, und den Grundsätzen seiner Lebensführung entgegenkam. Im Verlauf dieser politischen „Ancient-Modern"-Kontroverse begannen sich die Parteien aus dem Gegensatz von Ordnung und Fortschritt zu verstehen. Die Natur dieses Gegensatzes gründete sich nicht unmittelbar in der moralischen menschlichen Natur, sondern ergab sich aus dem Fluß des geschichtlichen Werdens. Er erhielt dadurch gewissermaßen eine zusätzliche Dimension, die den Antagonismus von erhaltenden und weiterschreitenden Kräften hervorrief. Die historische, literarische, theologische und politische Kontroverse über die „Ancients" und „Modems" ebnete den Weg für den Begriff des allgemeinen Fortschritts 84, neben dem sich als Gegenmoment die pessimistischere Idee des Kreislaufs immer erhielt. Dieser Gegensatz hätte vielleicht kein welthistorisches Format angenommen, wenn nicht die Französische Revolution und im Gegenschlag zu ihr die europäische Restaurationsbewegung des 19. Jahrhunderts sich aus einem ähnlichen Gegensatz heraus verstanden hätten. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß Burke in seinem Kampfe gegen die französische Revolution die geistigen Waffen für seinen Konservativismus zu einem beträchtlichen Teil diesen politischen Streitgesprächen, die in seine Jugend fielen, teils mittelbar, teils unmittelbar, entliehen hat. Der reformerisch gesinnte Konservativismus, die Säule der politischen Weisheit des modernen England, wurde im Kreis der Opposition gegen Walpole zu einer politischen Weltanschauung ausgebildet, die im 19. Jahrhundert, mannigfaltig bereichert, ein wichtiger gruppenbildender Faktor wurde. si Bolingbroke, The Works (Anm. 7), I. S. 289, 362. 82 Ebd., III. S. 324. 83 Ebd., II. S. 166: „our Constitution is a system of governement suited to the genius of our nation, and even to our situation. The experience of many hundred years has shown that, by preserving this constitution inviolate, or by drawing it back to the principles on which it was originally founded, whenever it shall be made to swerve from them, we may secure to ourselves, and to our last posterity the possession of that liberty which we have so long enjoyed". 84 Vgl. G. Ν. Clarr, The Later Stuarts. 1660-1704. Oxford 1934, S. 363.
Die Idee der legalen Opposition im England des 18. Jahrhunderts Es kann nicht die Absicht dieses Aufsatzes 1 sein, den gesamten historischen Hintergrund zu beschreiben, auf dem zum ersten Mal in der Geschichte die Aktionsform einer legalen Opposition praktisch und theoretisch aufgetreten ist. Hier handelt es sich nur darum, einige Linien aufzuzeigen, die die Entstehung dieses Phänomens und seine gleichzeitige Rechtfertigung vor den Zeitgenossen verständlich machen. In Wirklichkeit liegen die Dinge sehr verwickelt, wie ja überhaupt die Geschichte des englischen Parteiwesens viel subtiler und umständlicher gewesen ist, als man früher gemeinhin angenommen hat. Dieser Gedankengang begnügt sich also mit der Heraushebung eines Fadensystems, das freilich in besonderem Maße geeignet ist, das geistige Klima und den Denkstil der damaligen Zeit zu beleuchten. Man muß sich infolgedessen der Einseitigkeit der gewählten Aspekte bewußt bleiben und sie gewissermaßen als heuristisches Prinzip zum klareren Verständnis des vor uns liegenden Problems in Kauf nehmen. Die Zeit Walpoles liefert uns das erste Beispiel einer systematischen und lange währenden parlamentarischen Opposition in der englischen Geschichte. Das Entscheidende war damals, daß Opposition nicht als einmalige temporäre Maßnahme gelang, sondern den Ansatz zu einer institutionellen Form aufwies, mit welcher der Politik als Ausübung von Macht eine Politik als Ausübung von Kritik dieser Macht im Schutze des Rechts entgegengestellt wurde. Das Thema berührt somit eine Kernfrage der politischen Wissenschaft überhaupt, nämlich das Verhältnis von Recht und Macht. Wie kann Macht dazu gebracht werden, sich am Recht zu messen, sich einem Richter und Kritiker unterzuordnen? Denn „Macht an sich ist böse", hat ein Geschichtsschreiber wie Schlosser behauptet, und der große Jacob Burckhardt hat sein Wort aufgenommen. Von der „Dämonie der Macht" hat auch jüngst noch ein Historiker der Gegenwart geschrieben. - Scheint es nicht in der Tat so, als ob Macht aus sich, aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit heraus, den Drang hat, ohne Beachtung anderer Rechte sich auszubreiten, zumal Macht heute durch die Technik eine Allgegenwart hat, die jede Gegenregung zu ersticken droht? Scheint nicht im Zeitalter des Totalitarismus der Triumph der Macht über das Recht offenkundig zu sein? Hatte nicht Machiavelli, der Analytiker neuzeitlicher Politik, bezeugt, daß das Wesen der Politik Technik der Macht sei und Macht sich eben nur durch Macht wiederum begrenzen lasse? 1 Erweiterte Fassung eines Vortrags an der Pädagogischen Hochschule in Celle am 30. Januar 1953.
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Wie ist es da möglich, daß die Macht einen Richter und Kritiker finden kann, der ihr gegenübertritt, ohne selbst wiederum Macht zu haben? Das 19. Jahrhundert hatte sich die Lösung dieser Frage leicht gemacht. Schon John Locke glaubte, daß die Herrschaft der Majorität ein ausreichendes Mittel sei, um Macht und Recht zur Deckung zu bringen. Das verfassungsgläubige 19. Jahrhundert sah in der Konstitutionalisierung und Demokratisierung des Staatswesens das Mittel gegen Willkür und Machtstreben. Heute ist man skeptischer geworden, wo man totalitäre Demokratien und plebiszitäre Diktaturen erfahren hat. Darum ist man in der westlichen Welt der Ansicht, daß nicht so sehr die äußere Staatsform, nicht allein das Stimmrecht, entscheidet, ob ein Staat frei ist oder nicht, sondern das Vorhandensein und darüber hinaus die positive Anerkennung einer Opposition. Zugleich ist die Form und Aktionsweise dieser Opposition der sicherste Gradmesser für die Beurteilung des politischen Sinnes und der politischen Weisheit in einem Staatswesen. Frei ist der Staat, dessen politische Willensfindung sich in Form von Konflikten vollzieht, in dessen Innerem sich eine Vielfalt politischer Kräfte ausgebildet hat, die sich selbst gegenseitig kritisieren dürfen. Das aber verlangt besondere Formen des politischen Betriebes, die ein Machiavelli noch nicht kannte. Dessen politische Wissenschaft war eine Anleitung für die Herrscher zur Behauptung und Sicherung von Macht. Für ihn gab es keine Technik des politischen Handelns ohne reale Machtposition, weil er die Politik auf ein abstraktes Freund-Feind-Verhältnis reduziert hatte und die Macht eines bestehenden Rechts nicht in Rechnung zog. Neben Machiavellis Politik als Technik der Macht muß es eine politische Wissenschaft der Opponenten und Minoritäten geben als eine Anleitung zur Behauptung und Sicherung von Recht. - Eine derartige Wissenschaft entstand im England des aufgehenden 18. Jahrhunderts und wurde als zusammenhängende Theorie zum ersten Male von Bolingbroke formuliert, dem Staatsmann des Friedens von Utrecht (1713) und späteren Gegenspieler von Walpole. Wenn Machiavelli der Theoretiker einer Machtpolitik von oben ist, so ist Bolingbroke der Theoretiker einer Innenpolitik von unten her. Er gab der parlamentarischen Opposition seiner Zeit eine allgemeine theoretische Grundlage und trug somit wesentlich dazu bei, daß der Faktor der Opposition als bleibendes Moment des gesetzgeberischen Prozesses angesehen wurde und die Politik der Regierung gleichsam einer Art permanentem Rechtsverfahren, analog dem modus procedendi eines Rechtsstreits, unterworfen werden konnte. Es geschah dies zu einer Zeit, als, ähnlich wie heute, eine totalitäre Drohung über ganz Europa lag, nämlich der hegemoniale Anspruch des französischen Absolutismus. Auch der übrige europäische Kontinent stand größtenteils im Banne der absolutistischen Staatsidee, wie sie von Machiavelli, Bodin, Hobbes u. a. theoretisch begründet worden war. Dadurch fühlte sich England vom Festland abgesetzt - und zwar nicht mehr wie im 17. Jahrhundert unter Cromwell als das auserwählte Volk, das zur Rettung des Protestantismus berufen war, sondern als das einzige Volk, das sich die alten Freiheiten und Rechte bewahrt hatte. Es fühlte sich in der
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Tat frei, nicht auf Grund des Stimmrechts, das eng begrenzt war, und nicht auf Grund der Verfassungsgesetze allein, die fragmentarisch waren, sondern auf Grund der Freiheit der Meinungsäußerung, der Selbständigkeit seines Rechts und vor allem auch auf Grund des Rechts auf Opposition. Es ist erstaunlich, daß zu einer Zeit, als man das Wesen des Staates allenthalben in seiner Souveränität und in seiner religiös-kulturell-politischen Einheit sah, in England ein innenpolitischer Widerpart als positives Moment des verfassungsmäßigen Zustandes angesehen wurde. Weiterhin ist es erstaunlich, daß die Engländer dieser Epoche das Bedeutungsvolle dieses Phänomens durchaus gesehen haben und in ihm die Bestätigung ihrer Freiheit erblickten, daß aber die zeitgenössische Staatslehre auf Grund ihrer formaljuristischen Einstellung von diesem Hauptgrundzug des englischen politischen Lebens, nämlich dem Parteiendualismus und dem Kampf zwischen Regierung und Opposition, nur geringe Notiz nahm. Am erstaunlichsten vielleicht aber ist es, daß es auch heute noch keine vom Standpunkt der politischen Wissenschaft und der Staatslehre ausgehende Untersuchung unternommen hat, die vielfältigen Ursprünge dieses Phänomens der Opposition und der es begleitenden Reflexionen zu durchforschen und eine befriedigende Interpretation aus dem Ideenkreis der Epoche selbst zu versuchen. - Der außerordentliche Zustand, daß ein Land die Dokumentation seiner Freiheit in einem innenpolitischen Dualismus erblickte, hatte seine besonderen ideengeschichtlichen und realpolitischen Voraussetzungen, die mit der wechselvollen Geschichte des englischen Parteiwesens zusammenhängen.
Die englischen Parteien Im 17. Jahrhundert war England durch die religiösen und politischen Kämpfe in zwei große Heerlager gespalten, die sich schließlich um zwei politische Parteien gruppierten, um Whigs und Tories. - Die Tories fühlten sich nicht als gesonderte Partei, sondern als die staatstragende Gruppe, als Beschützer der anglikanischen Staatskirche und der bestehenden Gesellschaftsordnung, als Verteidiger des „göttlichen Rechts" des Stuart-Königtums und des ordo naturae. Das göttliche Königsrecht war ihnen Bestandteil der Staatsreligion. Infolgedessen stritten sie den Untertanen jegliches Recht auf Widerstand gegen den König ab, weil sie darin eine Empörung gegen die auf göttlicher Satzung beruhende Gesamtordnung erblickten. Die Krone fand im Toryismus die stärkste Stütze; außenpolitisch fühlte sich die Partei zum absolutistischen Frankreich hingezogen. - Die Whigs dagegen waren unter Führung des ersten Shaftesbury fast zu einer Partei im modernen Sinne organisiert. Sie arbeiteten bereits mit den Mitteln der Agitation und Demagogie und schienen auch vor Bildung von verschwörerischen Widerstandsgruppen nicht zurückzuschrecken. Sie waren verbündet mit dem „Dissent", d. h. den religiösen Gruppen außerhalb der Staatskirche, und sie standen in Fühlung mit dem presbyterianischen Schottland.
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Unter ihnen sammelten sich Teile der Hocharistokratie und der Gentry, die um ihre Vorrechte besorgt waren und sich als Verteidiger der alten englischen Freiheiten fühlten, die sie mit der protestantischen Freiheit in eins setzten. Der Königsmystik der Tories setzten sie den Rationalismus der Urvertragslehre entgegen. Danach beruhte der Staat nicht auf göttlicher Satzung oder einem ordo naturae, sondern auf menschlicher Vereinbarung. Auf dem Vertragsgedanken gründeten sie ihr Widerstandsrecht. Kampf gegen den Absolutismus und für die alten Freiheitsrechte, Widerstandsrecht und Protestantismus flössen in ihrer politischen Doktrin zusammen. Sie betrachteten sich als die teils ständische, teils protestantische Widerstandsgruppe mit aristokratisch-republikanischem Einschlag, die sich den absolutistischen Neigungen des Toryismus scharf entgegenstellte und eine kommerzielle Oligarchie erstrebte. Beide Gruppen waren doktrinär und vertraten Prinzipien, die sich nicht miteinander vertrugen. Um 1680 entzündete sich zwischen ihnen fast ein Bürgerkrieg an der Frage der Thronfolge des katholischen Jakob Stuart, Herzog von York, für die sich die Tories getreu ihrer Anschauung vom göttlichen Königs- und Erbrecht einsetzten, während die Whigs aus Furcht vor einer katholischen Reaktion und einem Absolutismus sie bekämpften. In blutigen Schauprozessen tobte sich damals der Parteihaß aus. - Bald danach bestieg Jakob II. Stuart tatsächlich den Thron (1685). Nach wenigen Jahren ergab sich, daß ein katholischer Herrscher nicht zugleich das Haupt einer Kirche sein konnte, die der Trennung von Rom ihr Dasein verdankte. Jakobs Versuch, absolutistisch zu regieren und eine katholische Gegenreformation einzuleiten, scheiterte daran, daß die Tories, also die Königs- und Staatskirchenpartei, sich nunmehr mit den Whigs - entgegen ihren eigentlichen Prinzipien des „Non-Resistance" und des „Divine Right" - gegen Jakob verbanden. Diese Verbindung beider Parteien und die Hilfe Wilhelms von Oranien, des Statthalters der Niederlande, führten zum Sturz der Stuarts.
Die Revolutionierung des Parteiwesens Ein entscheidendes Moment der Revolution von 1688 war die damit eingeleitete Revolutionierung des Parteiwesens. Das Grunderlebnis der Epoche war, daß beide Parteien sich zum Widerstand zusammengeschlossen hatten und die Tories dabei, der Not gehorchend und gegen ihren eigentlichen Willen, ihre Prinzipien praktisch aufgegeben hatten. Das Recht des Widerstandes, um dessentwillen die Tories noch fünf Jahre früher Lord Russell und Algernoon Sidney aufs Schafott geschickt hatten, wurde nunmehr von ihnen selbst praktiziert. Außerdem war das göttliche Königsrecht durch die Abweichung von der Erblinie, die Wilhelm III. auf den Thron von England brachte, in Frage gestellt. Ferner hatte John Locke als die unbestrittene wissenschaftliche Autorität der Zeit das göttliche Königsrecht durch seine naturrechtlichen und historischen Überlegungen auch theoretisch zerstört.
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Den Whigs blieb ein ähnliches Schicksal freilich nicht erspart, besonders als sie nach 1714 sich ganz mit der hannoverschen Dynastie verbanden, auf die die englische Krone übergegangen war, als sie also von einer Widerstandspartei zu einer Regierungspartei geworden waren und sie entgegen ihren alten Whig-Prinzipien Tory-Praxis übten. Damit waren die Parteifronten umgekehrt worden. Schließlich wurde auch die Urvertragslehre als genetisches Erklärungsprinzip des politischen Gemeinwesens durch Shaftesbury und David Hume zerstört. So war auch die theoretische Säule des alten Whiggismus gestürzt. Die alten Gegensätze bestanden also nicht mehr. Die allgemeine religiöse Verflachung, die sich in Reaktion auf die Religionskämpfe und durch die Religions- und Kulturkritik der Aufklärung ausbreitete, begünstigte den Verlust an Prinzipien und die Einebnung der Gegensätze. Das führte zu einer zeitweiligen Richtungslosigkeit und Zersplitterung der Parteigruppen. - Nur die ungebildeten Volksschichten und der niedere Klerus dachten noch in den alten Idealen und ließen sich durch sie bestimmen. Mit Rücksicht auf sie mußten die alten Prinzipien noch Parade machen, ohne daß dadurch die Gegensätze in der alten Tiefe wieder aufgelebt wären. Für diejenigen, die die Politik machten, waren die Parteien nun zu Formen politischer Einflußnahme geworden. Der Kampf um Weltanschauungen hatte einem Kampf um politischen Einfluß, um Macht, Platz gemacht. Die Politiker wurden, wie es damals hieß, zu politischen „Managern". Fast alle wurden zu „Schauklern", zu „trimmers", „waverers" und zu Opportunisten („timeservers"), die ihre parteiliche Haltung den wechselnden Umständen anpaßten, und deren Kalkül sich aus der Konstellation der Parteigruppen bestimmte. Sie handelten nach Konvenienz und Zuträglichkeit, und nicht mehr, wie im 17. Jahrhundert, aus doktrinären und transzendenten Prinzipien heraus. Politik wurde zu einem Spiel mit verschiedenen Figuren auf dem Forum des Parlaments um den Preis der Regierung des Landes und wurde auch als ein solches Spiel begriffen. Die neue Revolutionsordnung war zudem von beiden Seiten geschaffen und das alte Recht, das in der Petition of Rights, der Habeas Corpus-Akte und der Bill of Rights sich zur Geltung gebracht hatte, von beiden Seiten anerkannt. Im Grunde waren die Gemäßigten beider Seiten nunmehr eine einzige Partei mit zwei Flügeln (Trevelyan). Nichtsdestoweniger bestanden die Gegensätze, wie auch David Hume betonte, weiter ohne die alten Prinzipien. Sie machten sich noch als Gegensätze des Lebensgefühls, des geistigen Horizonts, der Voreingenommenheit und ererbter Animositäten bemerkbar. Sie hatten sozusagen eine säkularisierte Form angenommen und verkörperten sich in zwei literarischen Strömungen, die diesem unterschiedlichen Lebensgefühl Ausdruck gaben. Auf der einen Seite standen die Whig-Optimisten und Rationalisten wie Steele, Addison, Colley Cibber, in etwa auch Shaftesbury; auf der anderen Seite die Tory-Pessimisten wie Swift, Gay, Arbuthnot, Pope, Fielding, Bolingbroke und andere. Die Whig-Dichter sahen den Menschen vorwiegend als fortschrittsoffenes Vernunftwesen an: sie vertrauten der menschlichen Ratio und lobten den Fortschritt der Zeit zu freiheitlichen und aufgeklärten Zuständen. Demgegenüber betrachteten die Tory-Dichter den Menschen
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als schwaches Triebwesen, das immer in Gefahr moralischen Scheiterns und der Korrumpierung bleiben würde. Der Inhalt der Geschichte bestand für sie nicht im Fortschritt zu besseren Zuständen, sondern im Kampf für die vorgegebene Ordnung der Natur gegen die allgemeine Tendenz zur Entartung. Sie kritisierten ihre Gegenwart als korrupt und verrottet. In diesen beiden Strömungen waren die alten Grundhaltungen noch deutlich zu erkennen: der Whig-Rationalismus, der auf die Macht der menschlichen Vernunft vertraute, und der Tory-Mystizismus, der mehr auf das Wirken der verborgenen Naturordnung hoffte. Als politischer Hauptunterschied kristallisierte sich die Tatsache heraus, daß die Whigs (nach 1714) die Macht in den Händen hielten und die Tories außerhalb der Macht blieben. Die Tories konnten dabei aber nicht Widerstand im alten Whig-Stil predigen, einmal um der Massen willen, die den früheren Tory-Idealen noch zugetan waren, dann aber auch, um dem Verdacht zu entgehen, eine Wiedereinsetzung der Stuarts zu beabsichtigen. Sie gingen deswegen den mittleren Weg, indem sie den Zustand von Recht und Verfassung, also auch die neue Dynastie, schließlich anerkannten und nur den Menschen an der Macht, also der Regierung, Widerstand entgegensetzten. Ihre Loyalität gegen Recht, Konstitution und Dynastie und ihre Kritik und ihr Mißtrauen gegen die jeweiligen Verwalter von Recht und Konstitution, d. h. gegen das „Government", waren in der Aktionsform der „Opposition" vereinigt. Diese Opposition hatte also Elemente der alten Tory-Lehre vom leidenden Gehorsam und der Whig-Lehre vom Recht auf Widerstand verschmolzen, indem jenes sich auf die legale Seite, auf die Konstitution, und dieses sich auf die menschliche Seite, auf das „Government", bezog. Die Opposition trat von vornherein als permanentes Mißtrauen gegen die Menschen an der Macht auf, gegen jene Menschen, die auf Grund ihrer Schwäche, so sahen es die Tory-Pessimisten in Dichtung und Politik, notwendig korrupt werden mußten, sobald sie der Versuchung, die in der Macht lag, ausgesetzt wurden.
Die neue Interpretation des Parteiwesens Das Weiterbestehen des überkommenen Parteien-Dualismus war damit freilich noch nicht aus dem geistigen Horizont der Zeit als eine allgemeine und notwendige Form der Politik begriffen. Die Politik des 18. Jahrhunderts mußte eine andere theoretische Grundlegung suchen, als sie ihr aus den Kämpfen des 17. Jahrhunderts überliefert worden war. Die transzendenten Prinzipien und Doktrinen hatten ausgespielt. Der allgemeine geistige Wandel um 1700 hatte den Weg zur Ausbreitung einer säkularen Wissenschaft der Politik frei gemacht, die den religiösen Anliegen indifferent gegenüberstand und aus der Natur des Menschen und der Politik allgemeine Regeln menschlichen Verhaltens aufzuspüren suchte. Die Interessen hatten sich gewandelt: Statt Theologie und Metaphysik war nunmehr das Studium der menschlichen Natur in den Mittelpunkt gerückt. Psychologie und Anthropologie wurden Orientierungsmittel für die Aufdeckung der Prinzipien menschlicher
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Daseinsgestaltung. Nachdem die transzendente Basis der Politik unangemessen erschien, suchte man ihre Grundlage in der menschlichen Natur. Vor allem nahmen die Staatstheorien im Gefolge der Lockeschen Analyse des menschlichen Verstandes eine psychologische Grundlegung an: Die ehemaligen transzendenten Gegensätze wurden jetzt von vielen als wider die Natur, als „folly and superstitition", abgetan. Es herrschte ein allgemeines Bewußtsein, daß der Charakter der Politik sich grundlegend geändert, und seine eigentliche immanente Natur zurückerhalten hätte. Whiggismus und Toryismus schienen nur verschiedene Außerungsformen der menschlichen Natur zu sein. Man ging dazu über, den alten Dualismus, dessen historische Wurzeln abgestorben waren, mit den Mitteln einer säkularen anthropologischen Wissenschaft zu erklären. Man suchte infolgedessen nach den „natürlichen" Unterschieden der Parteien. Schon früh hatte man psychologische Differenzen an ihnen entdeckt. Die Tories galten als hitzig, ungebildet, leidenschaftlich und gefühlsbestimmt; die Whigs als überlegend, rational, gebildet, vernunftbeherrscht. Man stand sich wie „fool" und „wit" gegenüber. Die Tories verkörperten mehr Instinkt und Leidenschaft, die Whigs Vernunft und Verstand. Die Tories, so hieß es, seien 1688 nur der Leib, die Whigs aber die Seele gewesen. Allenthalben zeigte sich der Hang, den Gegensatz psychologisch-anthropologisch auszulegen. Damit war der Ansatz zu einer psychologisch fundierten Charakterologie der Parteien gegeben, der sich durch ähnliche Unterschiede in den beiden literarischen Strömungen noch weitertreiben ließ. Neben den psychologischen Unterschieden beobachtete man noch andere, mehr aus der Natur der Politik herleitbare Besonderheiten, nämlich den Gegensatz von erhaltenden und weiterschreitenden Kräften, von Autorität und Freiheit, von Beharrung und Veränderung. Viele sahen den entscheidenden Unterschied darin, daß die einen „in Power", an der Macht, und die anderen „out of Power", außerhalb der Macht, waren; manche hielten das für den einzigen Unterschied überhaupt, aus dem sich die anderen Differenzen, wie etwa die bittere Kultur- und Gegenwartskritik der opponierenden Tories und der leichtfertige Optimismus der regierenden Whigs, erklären ließen. Wer außerhalb der Macht stand, galt hier eo ipso als Tory; wer an der Macht war, eo ipso als Whig. Man betrachtete das daraus resultierende Widerspiel als naturnotwendig und nützlich. Der gute Politiker, wie etwa John Toland ihn verstand, verwandte seine besondere Kunst dazu, mit Hilfe dieses Widerspiels zu regieren. Eine tiefer gehende Begründung für das Fortbestehen der beiden großen Parteigruppen gab der Dichter Shaftesbury. Auch er ging in seiner Betrachtung vom Menschen aus, aber vom Menschen als einer vorwiegend moralischen Persönlichkeit. Für ihn ist der Mensch, der sich selbst erzieht, gewissermaßen sein eigener Zuschauer; er hält mit sich Zwiesprache. „Erkenne dich selbst", so führte Shaftesbury aus, heißt für den Menschen: „Divide yourself, or be two!" - Teile dich selbst in zwei. Erst diese Teilung des eigenen Inneren in „two formed parties", in die „underparts" unseres Wesens, nämlich in „appetite" und „reason", ist für Shaftes-
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bury der Beginn freier persönlicher Selbstformung. Die eine Seite kontrolliert die andere, und in dieser gegenseitigen Spiegelung geht das Werk menschlicher Selbstformung zur Persönlichkeit vor sich. Das Thema dieses inneren Dialogs ist der Kampf zwischen Vernunft und Trieb, durch den hindurch sich der Einzelne zur Persönlichkeit bildet. - In ganz ähnlicher Weise entwickelt ein freies Gemeinwesen eine innere Zweiheit von „two formed parties", bei der die eine Partei der Spiegel der anderen ist. Wo eine Nation über bloßes Machtgebilde hinaus auch ein moralisches Wesen, d. h. frei und selbstbestimmend ist, findet ein analoger Prozeß der Selbstformung statt. Die Selbstreflexion der Nation, ihr kritisierendes und korrigierendes Widerspiel, ist Ausdruck der inneren Freiheit und Voraussetzung zur Verwirklichung des Staates als einer moralischen Person. Tory und Whig verhalten sich nach Shaftesbury ähnlich wie „appetite" und „reason". Der Prozeß der Bildung freier politischer Gemeinwesen war ihm also im Grunde nicht wesensverschieden vom Prozeß der Persönlichkeitsformung im Einzelmenschen und vollzog sich bei beiden in Form eines inneren Dualismus. Die alte, seit Piaton übliche Analogie zwischen menschlichem Individuum und Staat wurde hier moralpsychologisch gewendet, also ein moralisch-psychologisches Aktgefüge in Analogie zum parteipolitischen Dualismus im Staatsinneren gesetzt.
Bolingbrokes Oppositionstheorie Dieser außerordentliche und dem Denkstil der Zeit durchaus angemessene Gedankengang wurde von Bolingbroke vervollständigt. Aus der dualistischen Natur des Menschen, seinem Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft einerseits, und aus der dualistischen Natur der Politik, der Spannung zwischen denen an der Macht und denen außerhalb der Macht andererseits, interpretierte er das Widerspiel zwischen Regierung und Opposition als einen allgemeinen und notwendigen Wesenszug der Politik in freien Gemeinwesen. Nur lehnte er den Whig-Tory-Dualismus alten Stils ganz ab und berücksichtigte lediglich den Dualismus von Regierung versus Opposition. Als nämlich Bolingbroke seine Gedankengänge ausführte, hatte sich auf der politischen Bühne vieles geklärt. Der nachrevolutionäre Parteienwirrwarr war einer neuen klaren Zweiparteiung gewichen. Walpole saß seit 1727 fest im Sattel und ließ nur seine Freunde, die bedingungslos seinen „new maxims" folgten, zu Ämtern und Pensionen zu. Alle anderen sammelten sich gegen ihn zu einer aus allen Gruppen zusammengesetzten großen Opposition. Walpoles parteipolitische Monopolisierungspolitik hatte ihm eine Gegnerschaft, eine geschlossene Phalanx, eingebracht, die bei aller Verschiedenheit in einem Ziel sich voll und ganz einig war, nämlich im Sturz des Ministers, weil sein Sturz allein ihnen Aussicht auf Amt und Macht wiedergeben konnte. Damit hatte sich eine andersartige Zweiparteiung herausgebildet, die nichts mehr mit den alten Zielen zu tun hatte und sich nur durch die Frage, ob für oder gegen die Regierung, voneinander schied. 19 K l u x e n
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Darum erklärte Bolingbroke mit Recht, daß der alte Gegensatz nicht mehr maßgebend sei. Vernunft und Leidenschaft ließen sich nicht mehr den Whigs und den Tories zuordnen wie bisher. Vielmehr schrieb Bolingbroke der Opposition das Gesetz der Vernunft, und der Regierung das Gesetz der Leidenschaft zu. Das begründete er aus seiner moralpsychologisch unterbauten Anthropologie, die er zu einer allgemeinen Lehre von der Politik erweiterte. Auch bei ihm erzeugen Vernunft und Leidenschaft den innermenschlichen Dualismus. Aber beide sind für ihn keine letzten Gegensätze, ebenso wenig wie nunmehr die Parteien es waren. Die menschlichen Leidenschaften erstreben „pleasures", Genuß; die Vernunft dagegen die Summe der „pleasures", nämlich „happiness", Glück. Die Leidenschaft will den augenblicklichen Genuß; die Vernunft dagegen dauerhaftes Glück. Die Leidenschaft sieht nur den Teil und das Nächste; die Vernunft aber das Ganze. Nur der Weg der Vernunft führt zum Ziel und erfüllt die Zwecke der Naturordnung, die auf das Wohl des Ganzen geht. Auf Grund der sozialen Natur des Menschen ist dieses Ziel der Vernunft aber für den Einzelnen nicht erreichbar. Dauerhaftes Wohl ist dem Menschen nur über die Gesamtheit beschieden; so liegt es im ordo naturae. Darum ist für das Auge der Vernunft der wahre Egoismus identisch mit Altruismus, weil erst im Wohl des Ganzen das Wohl des Einzelnen gesichert ist. Das Ziel ist auf beiden Seiten eigentlich gleich; es geht um das Wohl des Menschen. Aber die Leidenschaft scheitert in ihrem Streben, weil sie dem Teil, dem Augenblick, dem Privaten verfallen bleibt. Wie nun im Einzelmenschen „pleasures" gegen „happiness" stehen, so stehen im corpus politicum Privatinteresse und Privatgenuß gegen Allgemeininteresse und Gemeinwohl. Die Leidenschaft verfolgt im öffentlichen Leben den kürzeren Weg der augenblicklichen Befriedigung der Privatinteressen, während die Vernunft erst über die Befriedigung des Allgemeininteresses dahin gelangt. Nach Bolingbrokes pessimistischer Tory-Anthropologie erliegt der Mensch in seiner Schwachheit immer seinen Leidenschaften, also der Verlockung des Augenblicks und der Gelegenheit. Diese Verlockung ist nun in der Politik gegeben durch die Nähe der Macht. Wer an der Macht ist, erliegt der Versuchung der Dämonie der Macht. Er benutzt sie zur Befriedigung seiner privaten Interessen, d. h. er folgt dem Gesetze der Leidenschaften. Wer dagegen außerhalb der Macht steht, ist diesen Versuchungen nicht ausgesetzt. Er kann nur über die gemeinsamen Anliegen des Ganzen hinweg sein Ziel erreichen. Er folgt damit notwendig dem Weg der Vernunft. Die Nähe der Macht ist also in der Regel dafür maßgebend, ob mehr das Gesetz der Leidenschaft oder das der Vernunft befolgt wird. Daraus folgt, daß Opposition und Regierung sich wie Vernunft und Leidenschaft verhalten. Das Volk, das selbst ja auch außerhalb der Macht steht, repräsentiert zwar für Bolingbroke nicht die Vernunft als rationales Vermögen, wohl aber den gesunden Instinkt als die von unten wirkende geheime Vernunft der Natur. Wie für Bolingbroke die Vernunft allein schwach und ohnmächtig ist und der Stärkung
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durch den gesunden Instinkt bedarf, so war auch die Opposition nur eine schwache anklagende Stimme, wenn sie nicht Verbindung mit den im Volke liegenden und im öffentlichen Leben sich äußernden gesunden Instinkten suchte. Es entsprach der Lehre Bolingbrokes und zugleich den Bedürfnissen der Wirklichkeit, wenn die Opposition sich Stützen von unten im Volke suchte, Vernunft und Instinkt sich also vereinigten, so daß es der Opposition gelegentlich sogar gelang, mit Hilfe der öffentlichen Meinung und einer unabhängigen Presse Walpole trotz seiner parlamentarischen Majorität zum Nachgeben zu nötigen. Hier ist das Bemerkenswerte, daß die moralisch-psychologischen Kräfte im Menschen mit bestimmten politisch-sozialen Haltungen und Potenzen koordiniert wurden, daß also die Auseinandersetzung zwischen „passion" und „reason" in der Politik als Auseinandersetzung zwischen Privat- und Allgemeininteresse wiederkehrt, und dieses sich wiederum aus der Natur der Politik und dem bösen Charakter der Macht heraus so verteilt, daß die Regierung im Staate das darstellt, was die Leidenschaft im Einzelmenschen ist, während Opposition und Volk als Vernunft und gesunder Instinkt erscheinen. Es ist also umgekehrt, wie man erwarten sollte. Die Vernunft des Staates verwirklicht sich demnach nicht, wie bezeichnenderweise Heinrich von Treitschke ganz im Gegensatz zur englischen Auffassung meinte, von oben durch diejenigen, die den Zusammenhang des Ganzen überblicken, sondern von unten durch diejenigen, die nur aus der Wohlfahrt des Ganzen und der Wahrung des Rechts heraus ihr Glück und ihre Sicherheit erreichen können. Bolingbroke führte noch einen anderen Gedankengang zum selben Ergebnis, der mit dem Rechtsgrundsatz zusammenhängt, daß niemand Richter in eigener Sache sein darf. Dieser als Naturrecht angesehene und im Common Law ständig praktizierte Grundsatz diente den meisten Rechtstheorien und Moralphilosophien von Milton und Harrington bis zu Adam Smith, Bentham und John Stewart Mill als Konstruktionsprinzip ihrer Theorien. Er spielt auch in Bolingbrokes Oppositionstheorie hinein. In der menschlichen Gesellschaft ist es nämlich danach so, daß jeder seinem Privatinteresse folgen will, jedoch aus ebendemselben Interesse heraus darauf bedacht ist, daß jeder andere das Allgemeininteresse nicht verletzt. Selbstliebe drängt den Einzelnen dazu, sich durch seine Sonderinteressen allein bestimmen zu lassen; Selbstliebe führt ihn aber auch dazu, auf die Wahrnehmung des allgemeinen Interesses zu drängen, freilich nur im Hinblick auf die Mitmenschen, so daß es in jedem Menschen gleichzeitig eine politische und eine private Selbstliebe gibt. Dadurch daß jedermann nur beim Nächsten, und nicht bei sich selbst darauf achtet, daß das Gesetz der Vernunft befolgt wird, kann das Allgemeinwohl nur in Form wechselseitiger Korrektur, also in vielfältigen Konflikten, zur Geltung kommen. - Jeder ist ein schlechter Richter in eigener Sache, aber ein um so besserer in der Sache des anderen. Auch dieser Grundsatz findet seine Anwendung auf das Verhältnis von Regierung und Opposition, insofern die machtferne Instanz in der Lage ist, der Sache der Regierung unabhängig und kritisch gegenüberzutreten. Der Ausschluß der Opposition von der Macht erzeugt also auch von diesem Ge19*
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sichtspunkt aus ihre moralische Höherwertigkeit und ihre Urteilsfähigkeit. Denn, so sagt der von Bolingbroke beeinflußte Montesquieu, „je weniger wir unsere Sonderneigungen befriedigen können, um so mehr widmen wir uns den Bestrebungen der Allgemeinheit". Bei der Regierung herrscht darum „private self-love", oder in der Terminologie Rousseaus „amour propre"; bei Opposition und Volk „political self-love" bzw. „amour de soi". Die Opposition vertritt nicht die Summe der privaten Selbstlieben, also „la volonté de tous", sondern die politische Selbstliebe, die bei allen Menschen eines Gemeinwesens in der Anwendung auf andere - wie Bolingbroke ausdrücklich bemerkt - identisch ist, also „la volonté générale". Somit bringt es die Natur des politischen Zusammenlebens mit sich, daß die Opposition als das Organ der Kompetenz-Kompetenz erscheint, als Organ des Richters, der für Bolingbroke in letzter Instanz das von politischer Selbstliebe geleitete Volk, „the voice of the country", „the sense of the nation", ist. Als Opposition kommt sie naturnotwendig dazu, die Wächter zu bewachen und richterliche Instanz mit moralischer Autorität gegenüber der Regierung zu sein. Von diesen und ähnlichen Gedankengängen geleitet, schmiedete Bolingbroke eine politische Pathologie, eine Krankheitslehre, der zufolge der Staat von oben, vom Sitz der Macht her, am ehesten und mit einer gewissen Notwendigkeit degeneriert, weil nur dort die Leidenschaft und das Private zum Zuge kommen und nur dort die Anliegen des Ganzen und der politischen Selbstliebe den Sonderinteressen der Machthaber und ihrer privaten Selbstliebe geopfert werden können. Für ihn neigt alle Macht zur Entartung. Dieser Entartungstendenz kann nur durch Einflußnahme von unten in Form einer Regeneration auf die Anliegen des Ganzen durch eine mahnende, kritisierende und kontrollierende Instanz abgeholfen werden. Degenerierende und regenerierende Kräfte sind gleichzeitig tätig: Degeneration und Desintegration von oben und Regeneration und Integration von unten her. Die heilenden und dem Ganzen dienlichen Kräfte steigen von unten nach oben, und ihre normale, mit der öffentlichen Ruhe und Sicherheit vereinbare Aktionsform ist für Bolingbroke die Opposition. Die Überzeugung von der Degeneration und Korruption, die von oben nach unten weiterfrißt, wurde Bestandteil der öffentlichen Meinung der Zeit, sowohl durch Bolingbrokes Schrifttum und die literarisch-politische Kritik der Tory-Satiriker als auch durch den innenpolitischen Zustand. Vor allem zweifelte kein echter Tory an der Berechtigung dieser Auffassung, weil er die Revolution von oben noch im Gedächtnis behalten hatte, die Jakob II. versucht hatte; vor allem aber weil er Walpoles Monopolisierung der Staatsämter für seine Freunde als Revolutionierung des althergebrachten Zustandes ansah, die seine ererbten Ansprüche in Frage stellte. Walpole hatte in der Tat durch seine Patronage-Praxis die Korruption zum Regierungssystem erhoben. Bolingbrokes Degenerationstheorie illustrierte nur in allgemeiner Form diese Regierungsweise, die sich durch planmäßige Befriedigung der einzelnen Privatinteressen und Sonderwünsche eine Majorität zu sichern wußte.
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Statt den Grund für diese Praxis in den verfassungspolitischen Verhältnissen zu sehen, fand er darin die Bestätigung für die Allgegenwart der Entartungstendenz, die selbst vor der besten Verfassung der Welt nicht haltmache. „Korruption" wurde das erste Schlagwort der Zeit; „Opposition" das zweite. Ein Franzose berichtete 1741, daß die Kinder bereits mit der Muttermilch diese Begriffe einsaugten. Die breite Öffentlichkeit beurteilte das Verhältnis von Regierung und Opposition nach dieser moralischen Differenz: Die Regierung war korrupt, die Opposition aber galt als „patriotisch". In der Opposition sammelten sich die „Patrioten"; die jungen Opponenten wie Chesterfield, Marchmont und Pitt, die zuerst dem Bolingbroke-Kreis sich beigesellten, hießen „Boy-Patriots"; die ToryDichter und -Satiriker galten als die „patriotischen" Dichter. Opposition an sich erschien vielen schon als patriotische Tat. Im Parlament waren es die „BoyPatriots", die in allgemein gehaltenen Deklamationen, im „pathetic style", die Anliegen des nationalen Ganzen in programmatischer Form darlegten und sich als die berufenen Hüter des allgemeinen Interesses fühlten. Aus der politischen Pathologie Bolingbrokes ergab sich eindeutig, daß die Opposition nicht eine einmalige, sondern eine dauernde politische Einrichtung sein müsse. Der nie zur Ruhe kommenden Tendenz zur Entartung mußte als „the ordinary method of cure", als heilendes Gift sozusagen, ein Faktor ständiger Regeneration entgegengesetzt werden. Der Patriotismus der Opposition war das Mittel gegen die Korruption der Regierung. Dabei richtete sich diese Opposition nicht gegen die Verfassung oder gegen den allgemeinen sozialen Zustand, sondern nur gegen die schwachen und fehlbaren Menschen, die diese Konstitution in ihren Händen hielten. Die Opposition erstrebte als nächstes Ziel nur den Sturz der Regierung. Sie war der Auffassung, daß die Korruption sich steigerte, je länger die Regierung im Amt blieb. Die lange Amtsdauer wurde ein Hauptvorwurf der Opposition gegen Walpole. Sie erstrebte eine „Rotation", um die mit der Zeit angeschwemmte Korruption abschöpfen zu können. Ein solcher gelegentlicher Kreislauf von unten nach oben, also ein Regierungswechsel, sollte der inneren Verjüngung dienen. - So wurde also der parteipolitische Dualismus, der doch das Erbe der zwei großen Heerlager des 17. Jahrhunderts war, zu einem Mittel der inneren Verlebendigung und Gesundung erklärt und als Selbstformungs- und moralischer Regenerationsprozeß der Nation angesehen. Nach Bolingbrokes Theorie war die Opposition der Faktor einer permanenten inneren Reformation; sie war sozusagen der „Pfahl im Fleische" des Gemeinwesens. Bolingbrokes Lehre gab aus dem Ideengut und den Denkgewohnheiten der Zeit heraus einem bestimmten parteipolitischen Zustand eine weithin akzeptierte Interpretation, die wesentlich dazu beitrug, daß die Alternativen der Wahlen sich auf die Frage ob für oder gegen die Regierung zuspitzten; d. h. der Volkswille äußerte sich in einem klaren Ja und Nein und richtete sich bemerkenswerterweise auf eine überlokale Angelegenheit der hohen Politik. Das ging so weit, daß z. B.
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Lord Egmont von der Wahl in Westminister 1741 berichten konnte, man hätte sich überhaupt nicht für die Personen der Wahlkandidaten mehr interessiert; ja man hätte an ihrer Stelle genau so gut ein Paar Besenstiele aufstellen können. Die Frage ob für oder gegen die Regierung war hier also für die Wähler das einzig entscheidende Moment. Es bildete sich also zeitweise eine das moderne England schon vordeutende, abstrakte Alternative heraus, die die alten, auf Loyalität und Patriarchalismus beruhenden Wahlgewohnheiten zu verändern begann. Zudem mehrten sich die Stimmen, die beide Seiten als notwendig für das kontrollierende Selbstgespräch der Nation bejahten. Bolingbroke ging sogar so weit, daß er die Opposition als Teil der Regierung bezeichnete, der genau wie diese seine Pflicht zu tun habe. Zwar sollte man die innere Einheit des Ganzen erstreben, meinte er, ebenso wie ja auch der Einzelmensch zur eigenen inneren Harmonie hinstrebt. Aber ebensowenig wie der moralische Kampf im Einzelmenschen jemals überwunden werden kann, kann auch, so betonte Bolingbroke, der innerpolitische Dualismus jemals überwunden werden. Wie das Ideal der „schönen Seele" nur in der Idee bestehe, so besteht auch der innerlich einige und doch freie Staat nur in der Idee. Ja, wie der innermenschliche moralische Konflikt zum Wesensmerkmal der moralischen Person gehört, gehört auch der innerpolitische Dualismus nach dieser Interpretation zum Wesensmerkmal eines freien Gemeinwesens.
Die Legalisierung der Opposition durch das Parlamentsrecht Bolingbrokes Theorie suchte den Dualismus von Regierung und Opposition aus dem geistigen Horizont der Zeit zu rechtfertigen. Sie interpretierte ihn mit den Mitteln seiner Moralphilosophie. Diese Gedankengänge allein hätten jedoch keineswegs genügt, das parteipolitische Widerspiel in eine geordnete Form zu bringen und zu einem anerkannten Verfahren des öffentlichen Rechts werden zu lassen. Zur wirklichen Legalisierung der Opposition als eigener Aktionsform innerparlamentarischer Urteilsfindung bedurfte es noch eines anderen Moments, nämlich der Durchdringung der inneren Politik mit geltenden Rechtsvorstellungen, wodurch es möglich wurde, den parlamentarischen Zweikampf in Analogie zu einem Rechtsstreit zu sehen. Diese Durchdringung war in England unmittelbar gegeben, weil das Parlament des 17. Jahrhunderts sich weit mehr als Rechtswahrer denn als Repräsentationskörperschaft fühlte; d. h. es betrachtete sich in erster Linie als „High Court of Parliament". Die Commons waren gewissermaßen Großschöffen, der „Umstand" im großen Rügegericht Gesamtenglands (E. Rosenstock). Diese Auffassung war zwar ein aus politischen Bedürfnissen entstandenes Postulat, das vor allem von Coke verfochten worden war; aber sie bestimmte für das folgende Jahrhundert die Vorstellung vom Wesen des Parlamentarismus und der parlamentarischen Gesetzgebung mit. Dadurch ergab es sich, daß sich die feindlichen Gruppen in Analogie zum normalen Rechtsstreit als Prozeßführende ansehen konnten
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und die opponierende Minderheit für sich den darin gegebenen Rechtsschutz in Anspruch nehmen durfte. Die eigentliche Stütze dieser Entwicklung war die Ausbildung eines inneren Parlamentsrechts, dessen Ansätze sich bereits zur Zeit der Tudors aufweisen lassen, und das im 18. Jahrhundert endgültig die Form einer anerkannten Geschäftsordnung annahm. In ihr gewann der formale Konservativismus des englischen Prozeßverfahrens mit seinen „technicalities" wachsenden Einfluß. Dieser Entwicklung kam die Tatsache entgegen, daß die Masse der englischen Verwaltungsgeschäfte sich äußerlich in Formen des Gerichtsverfahrens, also in Art der üblichen Anklageerhebung, vollzog, obgleich es sich durchweg nicht um Kriminalvergehen, sondern um die Herstellung oder Aufrechterhaltung polizeigerechter Zustände handelte. Aber durch die Publizität eines solchen Vorgehens erhielt sich der Glaube, daß Gesetzgebung und Verwaltung sich den Regeln richterlicher Billigkeit beugten und die Herrschaft des Rechts gewahrt blieb. Mit dem Sieg des Common Law und des Parlamentarismus über die königliche Prärogative setzte sich die Anschauung durch, daß auch die Handlungen der höchsten weltlichen Autorität auf dem Rechtsgedanken beruhten und die ganze Verfassung in gewissem Sinne angewandtes Recht und ihr Grundprinzip die Suprematie des „Law" war. Diese innerparlamentarische Rechtsordnung wuchs ursprünglich aus dem Gedankenkreis und dem Schutzbedürfnis opponierender Minoritäten heraus. Sie behielt daher sorgsam behütete Grundzüge bei, die einer Opposition - zuerst vor allem gegen Eingriffe von außen - zugute kamen. Sie verfestigte sich im 18. Jahrhundert durch die Tätigkeit der großen „Speakers", vor allem Arthur Onslows, zu einem „vast, technical, mysterious, stereotyped body of practices" (Strateman). Arthur Onslow hatte während der ganzen Regierungszeit Georgs II. (1727-1760) den „Chair" inne; er war der erste Sprecher, der die Geschäftsordnung als ein wichtiges Problem des Staatsrechts und der Politik erkannte und dies in bedeutungsvollen Worten ausgesprochen hat. Seine genaue Beobachtung des modus procedendi und der traditionellen Formen ließ die Opposition im Wechsel mit der Regierung zu Wort kommen. „The Ruling of the Chair" als Anwendung der Normen der Geschäftsordnung war gleichbedeutend mit einer richterlichen Verfügung. Der „Speaker" hielt die zwischen den beiden Prozeßparteien, der Majorität und der Minorität, durch Geschäftsordnung und Übung geschaffenen Rechtsbeziehungen in seiner Hand, so daß beide Teile die Waffen der Geschäftsordnung uneingeschränkt benutzen konnten. Wie über dem Richter und den Prozeßparteien das „Law", so standen über „Speaker" und Haus die feste Tradition und die ungeschriebenen Normen des Parlamentsrechts, die von keiner Seite ebensowenig wie die durch die Revolution geschaffene Ordnung - bestritten wurden. Der Formalismus des englischen Rechts erhielt damit für die Ausbildung und Legalisierung des innerparlamentarischen Kampfes entscheidende Bedeutung. Nur bei Beachtung der überkommenen Formen der Beratung wurde die parlamentarische Debatte ein Stück öffentlichen Rechts. Die Legalität der Willens- und Meinungsäußerung konnte nur aus einer legal abgehaltenen und von Rechtsvorstellungen geordneten Beratung hervorgehen. Die dabei sich ausbildenden Grundregeln
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und Verfahrensweisen waren für die Entwicklung der Verfassung so wichtig wie „use and custom" für das Common Law. Diese Verfahrensordnung war nun ganz auf ein prozessuales Gegenspiel der Kräfte angelegt; die Debatte erschien als Prozeß der Urteilsfindung. Die parlamentarische Taktik und Logik behielt weitgehend enge Verwandtschaft mit dem „pleading" im Rechtsstreit, wo die Grundidee des altfranzösisch-normannischen Verfahrens war, daß jeder Rechtsstreit sich wie ein Netz abwickeln mußte, in welchem sich die Parteien fingen. Hier spielten das Festhalten am technischen Wortausdruck, ferner die Tatsache, daß keine der Parteien der materiellen Wahrheit näherrücken wollte, daher Klage und Antwort unbestimmt gelassen wurden, bis sich eine Seite in Widersprüche verwickelte, eine große Rolle, zumal Revision des Verfahrens nur bei Formfehlern möglich war (nach Joseph Redlich). Daraus entsprangen eine eigentümliche „Parliamentary Logic" (Hamilton, 1758) und der Sinn für „formalities" und „procedures". Regierung und Opposition waren in der Tat Prozeßführende vor dem forum internum des Staates geworden. Darum konnte das gravitierende Parteienspiel als das diesen Prozeß konstituierende Moment und die Opposition als der ihn in Gang bringende Faktor anerkannt werden. Manche scheuten sich deswegen nicht, die Opposition um der Opposition willen zu bejahen. Die Vorstellung vom Recht und die Analogie zu den bestehenden und allgemein bekannten Rechtsverfahren waren für die Herausbildung des parlamentarischen Dualismus mithin genau so wichtig wie die politische Theorie, ja sie waren für die Gesamtentwicklung wichtiger, weil sie legale Aktionsformen schufen, beziehungsweise praktizierte Aktionsformen legalisierten, während jene mehr diesen Zustand interpretierte und kommentierte. In Bolingbrokes Theorie sind derlei Rechtsvorstellungen auch wirksam, aber moralphilosophisch ausgedeutet. Sein sozialer Utilitarismus kann zugleich als Interpretationsprinzip für die angemessene Anwendung des Rechts angesehen werden; sein Popularismus entsprach dem Prinzip der Publizität, und die öffentliche Meinung war für ihn gewissermaßen der erweiterte „Umstand" geworden. Diese Rechtsvorstellungen verbanden sich mit seiner Theorie in der Weise, daß der vom Recht her verstandene Antagonismus als immerwährend und notwendig begründet wurde. Bolingbroke sah in dem Gegensatz von Regierung und Opposition sozusagen gleichbleibende formale Grundzüge einer perpetuierten Prozeßlage. Seiner Auslegungsweise folgte der größte Teil der populären Literatur, die entsprechend den gewandelten Interessen moralphilosophische Argumente bevorzugte, zumal der rechtliche und soziale Zustand nicht in Frage stand, wohl aber die Menschen, die mit seiner Verwaltung betraut waren. Indem Bolingbroke das Verhältnis von Regierung versus Opposition aus der Natur der Politik, d. h. aus der Differenzierung zwischen Machthabern und Machtlosen, erklärte und den Gegensatz nicht jeweils an den einzelnen Maßnahmen der Regierung neu konstituiert sehen wollte, ging er über die übliche Prozeßform, die den Einzelfall im Auge hatte, hinaus. Politik war für ihn ein chronischer Notstand. Die Gegenaktion sollte als das Agens in Gang gehalten werden, welches die Macht zu ständiger
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Legitimation vor der Öffentlichkeit nötigte: „If you cease the combat, you give up the cause." Dadurch brachte er die Opposition zu einer neuen Aktionsweise, nämlich zu einer systematischen Kontrastierung der Regierungspolitik gegen die geforderte, dem Allgemeinwohl angemessenere Politik. Seiner Idee nach war die Opposition Ausdruck des permanenten Mißtrauens gegen die menschliche Natur auf der Ebene der Politik. Damit gelangte sie zeitweise zu einer Taktik, die nicht durch die vorgesehenen Rechtsformen wie „Act of Attainder" und „Impeachment" - also auf Grund des Nachweises eines einzelnen politischen Vergehens den Minister zu stürzen versuchte, sondern durch ein allgemeines Mißtrauensvotum, das sich auf die öffentliche Meinung und auf zu lange Amtsdauer berief. Bolingbrokes moralphilosophische Auffassungsweise der von oben einsetzenden Korruption bahnte somit den Weg zu parlamentarischen Gepflogenheiten, denen zufolge ein Ministersturz nicht durch ein formelles Gerichtsverfahren, sondern durch einfache Abstimmung möglich sein sollte. Das lag in Richtung auf den Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts.
Das Scheitern der Oppositions-Idee Auf diesem Wege war der Opposition kein Erfolg beschieden, weil ein solch allgemeines Mißtrauensvotum den verfassungspolitischen Zustand zu wenig berücksichtigte. Danach war der Minister immer noch in erster Linie Diener und Vertrauter des Königs; er war Vollstrecker eines höheren Befehls und an ein parlamentsfremdes Interesse gebunden. Die Regierung war noch instrumentum regis und nicht schon, wie die Opposition wahrhaben wollte, ein Parteiausschuß. Systematische Opposition wurde daher noch als Affront gegen den König angesehen und war mit Illoyalität durchsetzt. Die erste große Opposition der englischen Geschichte scheiterte an dem unentwickelten Parteiwesen und an der Tatsache, daß der König noch ein maßgebender Faktor in der Politik war, der zwar nicht mehr mit Hilfe seiner Prärogative, also ohne das Parlament, wohl aber mit „influence", also durch „management" des Parlaments, seinen Willen durchsetzen konnte. Beide Tatsachen hängen miteinander zusammen: Was die Parteiorganisation im 19. Jahrhundert darstellt, das vollbrachte im 18. Jahrhundert die „Patronage". Der König vereinigte die meisten Mittel zu einer solchen Patronage in seiner Hand. Das Parlament ließ sich durch seine Amterpatronage, Pensionen, Sinekuren und Finanzmittel so „managen", daß das Kabinett nicht der Majorität, sondern die Majorität dem Kabinett folgte. Das Kabinett kontrollierte mehr das Parlament, als das Parlament das Kabinett kontrollierte. In einem parteipolitisch pulverisierten Parlament konnte der König am leichtesten seinen Willen durchsetzen. Jeder organisierte Versuch, ihm darin Vorschriften zu machen, konnte als unkonstitutionelle Kombination angesehen werden. Die Opposition versuchte vergeblich mit Hilfe des Gewaltentrennungsprinzips, das sich aus den Common Law-Verfahren ableiten ließ, den König vom
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Parlament zu trennen und ihn als unparteiischen Faktor hinzustellen. Als sie damit scheiterte, konnte sie das Odium der Illoyalität gegenüber der Dynastie nur beseitigen, indem sie sich mit dem Thronerben verband. Dadurch wurde der Einfluß der Krone gegen sich selbst geteilt; es bestand nunmehr der Unterschied zwischen dem königlichen Interesse und dem Anwartsinteresse des Thronerben. Der Charakter einer modernen parlamentarischen Opposition ging dabei verloren. Sie war hinfort den Wechselfällen ausgeliefert, die in einer solchen persönlichen Bindung liegen. Mit steigendem Alter des Königs nahm die Opposition zu und die Regierungspartei ab, sodaß Wachstum und Zerfall der Opposition in funktionale Abhängigkeit vom Thron- und Generationenwechsel der Dynastie gerieten. Durch den Tod Friedrichs von Wales (1751) zerfiel deswegen die Opposition. Der junge Georg III. fand keine Opposition mehr vor, weil er unerfahren und noch ohne Thronerben war. Die Verbindung der Opposition mit dem Thronerben veränderte außerdem ihre ganze Taktik. Das eigentliche Ziel der Opposition, eine Majorität im Parlament zu erreichen, war für den Prinzen von Wales nicht zu wünschen, da eine Übernahme der Opposition in die Regierung sie sofort dem Interesse des Prinzen entfremdet und dem „Interest" des Königs zugeführt haben würde. Dadurch mußte die Opposition durch Verbindung mit dem Thronfolger ihr Ziel verfehlen; zugleich bedurfte sie aber dieser Verbindung, um ihre Loyalität gegenüber der Dynastie Hannover, und damit ihre Legalität unter Beweis zu stellen. Dieser unausweichliche Zwiespalt wurde ihr zum Verhängnis und verurteilte sie zum Scheitern. Dazu kam noch, daß Bolingbroke, der Inspirator der großen Opposition, durch seine deistische Religionskritik und durch das einseitige Bild, das Voltaire von ihm als Freigeist entwarf, in einer Epoche sich erneuernder und vertiefender Religiosität seinen moralischen Kredit völlig einbüßte. Dadurch verlor die Idee einer legalen Opposition beträchtlich an Werbekraft und Aktualität und trat erst am Ende des Jahrhunderts in bedeutenden Ansätzen wieder hervor. Es bleibt das Verdienst Bolingbrokes, daß er als erster die Opposition mit der Würde einer zusammenhängenden Theorie umkleidete. Die Umkehrung der Parteifronten durch die Glorreiche Revolution, der prozessuale Charakter des parlamentarischen Parteiendualismus durch die Entwicklung eines Parlamentsrechts und die Oppositionstheorie Bolingbrokes waren wichtige Momente, die den ersten Präzedenzfall einer Opposition herbeiführen halfen zu einer Zeit, als die Voraussetzungen für eine solche Aktionsform zum Teil noch fehlten. Die Oppositionstheorie Bolingbrokes gibt ein Beispiel dafür, wie aus den Bedürfnissen einer politischen Situation und der Nötigung zur Rechtfertigung der eigenen Handlungsweise eine Entdeckung gemacht wurde, die über eine nur ad hoc improvisierte Antwort hinaus die Richtung auf eine neue Form des politischen Betriebes wies, in dem das Wechselspiel zwischen Majorität und Minorität als das Lebenselement freiheitlicher Politik betrachtet wurde. Dieser Anschauung lag die bedeutende Erkenntnis zugrunde, daß der Wille des Ganzen weder in der Majorität noch in der Minorität, sondern in dem Zusammenbestehen beider seinen angemessenen Ausdruck findet.
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Das „augusteische Zeitalter" Englands darf also für sich in Anspruch nehmen, einen eigenen wichtigen Beitrag zur politischen Ideengeschichte beigesteuert zu haben, dessen Bedeutung uns erst heute, nach den Erfahrungen der Gegenwart, ganz aufgegangen ist.
Die Auswirkungen der englischen Aufklärung auf Politik und Gesellschaft 1.
Die englische Aufklärung hat in Europa eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Niemand zweifelt daran, daß sie Wegbereiterin gewesen ist, weil sie als erste und einzige schon früh auch politisch zum Siege gekommen ist. Nichtsdestoweniger fällt es schwer, gerade diese englische Aufklärung näher zu bestimmen und auf einen Begriff zu bringen, weil sie sich mehr als Zeitalter denn als gesonderte Bewegung begriffen hat. Nicht einmal den Begriff der Aufklärung hat es gegeben. Der Terminus „Enlightenment" ist eine Lehnübersetzung aus dem Deutschen und stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ohnehin war dieser Terminus von den spiritualistischen Sekten des 17. Jahrhunderts her vorbelastet; selbst seine Anwendung im 19. Jahrhundert war pejorativ gemeint. Im 18. Jahrhundert wurde dieser Ausdruck bestenfalls attributiv gebraucht. Man sprach zwar von „the world ... enlightened by learning and philosophy" (Addison, 1712) oder von „the select spirits of this englightened age" (Berkeley, 1732) oder nannte den ehemaligen Whig-Verschwörer und Kaplan Wilhelms III. und Annas, William Carstairs, einen „enlightened Patriot", vor allem wegen seiner vermittelnden Rolle und seiner Reinigung der schottischen Universitäten vom Obskurantismus der „Kirk" und ihrer Öffnung für aufgeklärte Denker. Der englischen Aufklärung fehlte aber ein mächtiger Gegner, an dem sie sich artikuliert und gegen den sie sich abgesetzt hätte. Man faßte sich nicht als abgrenzbare oder einheitliche Bewegung, und mehr allgemein und erst nachträglich als „Age of Reason", wie der Titel von Thomas Paines Buch von 1795 lautete. Selbst ein geistesgeschichtlicher Epochenschnitt ist nicht so eindeutig festzulegen, wie man meinen sollte, obgleich Isaac Newtons Principia 1687 und Lockes Essay concerning Human Understanding 1690 erschienen; denn noch Horace Walpole meinte in seinen „Memoirs of the Reign of George II" im Jahre 1757: ein Jahrhundert sei jetzt vergangen, seit die Vernunft begonnen habe, im Weltgeschehen eine Rolle zu spielen, für die sie vor 6000 Jahren dem Menschen beschert worden sei. Es gab diesen Epocheneinschnitt, aber er wurde von der Politik geliefert. Der Sieg der Aufklärung in England fiel mit einem politischen Sieg zusammen und war durch ihn mitbedingt, nämlich der Glorreichen Revolution von 1688/89. Die Glorreiche Revolution bedeutete innenpolitisch den Durchbruch der Aufklärung, wie 25 Jahre später der Friede von Utrecht 1713 außenpolitisch den Sieg oder Vorrang rational-aufklärerischer Denkweise bei der politischen Neuordnung Europas ankündigte. Die unbestrittene Vorherrschaft der Weltvorstellung Newtons und der politischen Ideen John Lockes war die auffälligste Signatur für die Einheit dieser Epoche.
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Seitdem stand England wie kein anderes Land in einem Prozeß der Aufklärung, d. h. einer umfassenden Bemühung, das Gedankengut der neuen Naturwissenschaft und der rationalistisch-individualistischen Naturrechtslehre, den Kampf gegen Aberglaube und Vorurteile und für eigenes Denken und Selbstgebrauch der Vernunft auszubreiten. Das durchgehende Kriterium der Epoche war in der Tat Aufklärung für alle, gegen Ignoranz und Emotionen, gegen „folly and superstition". Die bisher von den Kirchen getragene Bildungsarbeit kam in die Hände der aufgeklärten Schriftsteller, Literaten, Gelehrten. Hier in England entstand zuerst eine periodische Literatur, gewissermaßen als weltliche Homilien, wie etwa Daniel Defoes Review von 1704 oder der „Tatler" (1709-1711) und der „Spectator" (seit 1711) von Steele und Addison bis hin zu Samuel Johnsons „Rambler" und „Idler" um 1750; dazu eine Unmenge von Journalen, Broschüren, Pamphleten, Magazinen, die alle Lebensgebiete behandelten und sich an einen breiten Leserkreis richteten. Sie alle wollten, wie es im Spectator hieß, praktische Lebensführung durch eine „agreeable instruction" geben. Der Spectator war geradezu der Newton des Durchschnitts, der ein rationalisiertes Christentum ohne fixierte Dogmen, ein neues Menschenideal und die Newtonsche Weltvorstellung miteinander verband. Wer den Spectator unterm Arm trug, war aufgeklärt. Er vertraute der Vernunft in der Natur und seiner eigenen Vernunft. Uber die Presse, die Teehäuser, die Lesezirkel, Akademien, Korrespondenzen usf. entstand im Verein mit den politischen und anderen öffentlichen Vorgängen schon früh eine öffentliche Meinung abseits von Kanzel und Kanzlei. Die Literaten gewannen sozialen und auch politischen Rang. Das Streben nach Breitenwirkung war das durchgehende Charakteristikum dieser Aufklärung, die nicht den einzelnen, sondern den Zeitgeist prägen wollte. Diese Bewegung hatte nur noch wenig mit dem alten Gegensatz zwischen Whigs und Tories zu tun, ebensowenig wie mit dem Gegensatz zwischen Established Church und Dissent, was früher oft behauptet worden ist. Die führenden Tories und die führenden Whigs des 18. Jahrhunderts waren mehr oder minder alle Aufklärer. In Schottland waren ausgerechnet die Jakobiten und Episkopalisten die Hauptträger der Aufklärung gegen die introvertierte und obskurante „Kirk"; hier war sogar ihr größter Vertreter, David Hume, bis 1745 Jakobit und blieb dann Tory. Selbst John Locke war alles andere als ein dezidierter Dissenter; er war mehr Arminianer und Latitudinarier, und auch Newton äußerte sich als bestallter WhigVertreter immer auf der Linie der anglikanischen Orthodoxie. Freilich gab es daneben einen Radikalismus der „Commonwealthmen" wie Toland, Collins, Hartley oder Molesworth auf der Whigseite und einen Radikalismus auf der Tory-Seite, also der „High-Flyers" und „Non-Jurors", der jenen Gegensatz von Rationalismus und Mystizismus nahelegte; aber die politisch und literarisch maßgebenden Leute waren durchweg aufklärerisch. Ausgerechnet der geistige Führer der Tory-Opposition gegen die Whig-Regierung, der Viscount Bolingbroke, war sogar der anerkannte Prototyp der Aufklärung und lange Zeit ihr brillantester Verfechter. Der Streit der Parteigruppen, der Ancient-Modern-Streit, der Disput über Beharrung und Fortschritt bewegte sich im Rahmen aufklärerischen Argumentierens. Eben
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der Sieg der Aufklärung bewirkte, daß sie sich in Gegensätze ausfaltete, selbst aber nicht umstritten war. Die Fronten des 17. Jahrhunderts erschienen obsolet und verlangten nach einem neuen Selbstverständnis, das nur aus dem aufgeklärten Gedankengut heraus glaubwürdig zu machen war. Es gab unter den Protagonisten niemanden, der nicht an Bacon, Seiden, Grotius, Newton und Locke angeknüpft hätte oder nicht die Verfassung von 1689 in der Lockeschen Interpretation akzeptiert hätte. Die stumme Masse im Lande und auch auf den Hinterbänken im Unterhaus hielt zwar am Alten fest und verstand nur die früheren Tory-Parolen, aber in den Streitgesprächen des Parlaments überwog eine Gemeinsamkeit in Weltanschauung, Bildung, Urteilsweise, Geschmack und Lebensstil das parteipolitisch Trennende. Das Parlament des 18. Jahrhunderts war zum anerkannten ersten und vornehmsten Gentlemen's Club des Landes geworden, und nicht mehr eine Walstatt unlösbarer Konflikte.
2. Daß es zu diesem bemerkenswerten Zustand kommen konnte, ergibt sich aus einem Blick auf die Vorgeschichte der Aufklärung, auf die sich die führenden Aufklärer selbst mit Recht beriefen. Sie alle betrachteten die Konfessionskämpfe des 17. Jahrhunderts als überwundene Barbarei und sahen sich als Nachfahren jener dritten Kraft aus Renaissance und Humanismus, die im Grunde abseits von Reformation und Gegenreformation hervorgetreten war. Ihre Wurzeln reichten in die vorreformatorische Zeit zurück, auf die Humanisten von Laurentius Valla bis Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus, dann auch auf Machiavelli und die Renaissance-Philosophie. Im Schatten des Erasmus, des Vaters der rationalistischen Theologie, standen die Arminianer, die den freien Willen, Toleranz und Laienkontrolle in der Gemeinde vertraten, ferner die Sozinianer, die mit ihrer Anwendung der kritischen Vernunft auf religiöse Texte und Probleme zu einer rationalistischen Theologie gelangten, oder auch die Erastianer, die dem Staat die äußere Ordnung des Kirchenwesens zuweisen wollten. Reformation und Gegenreformation waren diesen Richtungen feindlich. In den konfessionellen Konflikten flüchteten die Erasmianer jeweils zu den verbliebenen Stätten der Freiheit, wo sie bald wieder als Abweichler nochmals vertrieben wurden. Der Calvinismus war lediglich zeitweiliger Verbündeter dieser erasmischen Tradition, aber nicht ihr Urheber. Er lieferte Heimstatt und Rüstung, jedoch nicht den Gehalt. Der Beitrag der Erasmianer ging sogar auf Kosten des strengen Calvinismus. Nach der ersten Blüte dieser Bewegung, die in Italien, Spanien und Burgund lag, kam es erst in der Friedensperiode um 1600 zu einer zweiten Blüte, die sich vor allem im Raum von Holland, Frankreich und England entfaltete und mit Namen wie Grotius, John Seiden, Bacon, Herbert von Cherbury, Montaigne und Chiliingworth verbunden war. Nach den Triumphen des Konfessionalismus in der Synode von Dordrecht 1615/16, im Westfälischen Frieden 1648, im Consensus Helveticus 1674 und schließlich im Edikt von Fontainebleau 1685 kam es 1688
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zum Durchbruch und Sieg dieser Tradition der Voraufklärung. In den konfliktreichen Zwischenzeiten waren es jedesmal Auswanderungsbewegungen, von denen her die Anstöße kamen. Keiner der entscheidenden Denker war orthodoxer Calvinist, geschweige denn Lutheraner. Sie alle lösten sich von ihrer zeitweiligen Zuflucht in den calvinistischen Gemeinden. Selbst die Flucht der Hugenotten seit 1685 bedeutete deren Rettung vor dem eigenen Klerikalismus und löste ihnen erst die Zunge. Alle Voraufklärer wandten sich gegen „popery", d. h. gegen jeden Klerikalismus, komme er von Rom, Genf oder Dordrecht und Edinburgh. Im Grunde war die erasmischarminianische Tradition nur in der liberalen Theologie der Anglikanischen Kirche lebendig geblieben, auch unter Bischof William Laud, der selbst ein Arminianer war. Diese unabhängige Bewegung nahm den strengen Calvinismus als Obskuranten Auswuchs und gebrauchte ihn als zeitweilige Zuflucht; er war nicht ihre Wurzel. Mit 1688 verlagerte sich das Zentrum dieser Bewegung eindeutig nach England und Schottland. Alles, was sich als Erasmianismus, Erastianismus, Arminianismus, Sozinianismus, Latitudinarismus, Unitarismus, Anti-Trinitariertum hervortat, rationalisierte den religiösen Gehalt und wurde aufklärerisch im Vollsinne, sobald die Einschränkung auf den religiösen Bereich wegfiel. Selbst der Sieg der Radikalen über die Gemäßigten in der Cromwellzeit, also der Sieg der arminianischen Independenten über die Presbyterianer, war ein Sieg der Laien über „popery" und bahnte den Weg zur Freisetzung der Vernunft. Der Zusammenfluß dieser Bewegung mit den Erfolgen der neuen Naturwissenschaften und politischen Vorgängen mündete in jenen Emanzipationsprozeß ein, der die Freisetzung von Mensch und Gesellschaft auf Vernunft hin und vor dem Richterstuhl der Vernunft einzuleiten schien. 3. Das zweite Element der Aufklärung wurzelt in der neuen Naturwissenschaft, die sich von Galilei, Bacon, Harvey, Boyle oder der Royal Society her im Weltbild Newtons vollendete. Nicht die Cambridger Platonisten mit Cudworths „True Intellectual System of the Universe" von 1678, dessen Kosmogonie und politische Theorie sich aus der Theologie entfaltete, gaben den Ton an, sondern Newtons Vorstellung eines sich selbst nach mathematisch fixierbaren Gesetzen tragenden, gleichgewichtigen Universums bestimmte das Weltbild der Zeit. In Newton als dem Orakel der Wissenschaft vollendete sich die mathematisch-physikalische Welterklärung und Welterschließung mittels der Reduktion auf das Meßbare und mittels der experimentellen Manipulation der Naturvorgänge. Die Einheit von sublunarischer Welt und Sternenhimmel, die Identität von Fallgesetzen und Gravitationsgesetzen, brachte jenes „natürliche System" zustande, auf das sich das Denken über Weltall, Mensch, Natur und Vernunft berief. Die Auflösung der Welt in anziehende und abstoßende Kräfte und ihre Zusammenschau im Bilde eines universalen Equilibriums war der nachschaffende Gedankengang, der die
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Vernunft in der Natur, die Weisheit des darin wirkenden Kräftehaushalts, die gesetzliche und durchschaubare Ordnung der Schöpfung offenbarte. Newton hob die Erde gewissermaßen in den Himmel hinein, oder auch: er zog den Himmel auf die Erde zurück. Alexander Popes Epitaph auf Newton brachte dies zum Ausdruck: „Nature and Nature's Laws lay hid in Night/God says, Let Newton be! and All was Light!" Nach Voltaire hatte Kepler nur ein Auge, Newton aber zwei. Balance des Ganzen und Revolution der Teile, Ruhe und Bewegung, Anziehung und Abstoßung, Schwerkraft und Fliehkraft waren die bestimmenden funktionalen Begriffe der Himmelsmechanik, bei der Gott nicht als Seele der Welt, sondern als ihr Herr und Schöpfer erschien, der sein Werk nach Mathematik und Physik ablaufen ließ. Nicht Geister bewegten die Welt, sondern Gesetze, die der Mathematik folgten. Das Ganze zeigte Vernunft, Harmonie, Ordnung und Ökonomie. Newtons Weltauffassung war das Leitbild, auf das hin Mensch, Gesellschaft und Politik begriffen wurden. „The Newtonian System of the World, the Best Model of Government", formulierte J. T. Desaguliers, der Kaplan des Duke of Chandos und Popularisator Newtons, in einem Gedicht von 1728. Newtons Methode und Begrifflichkeit wurde auf andere Lebensbereiche und von der äußeren auf die innere Welt übertragen, auf „man and Society", wobei die Idee der inneren Einheit von Natur und Vernunft, von Zweckmäßigkeit und Sittlichkeit, von Privatinteresse und Gesamtinteresse die Reflexionen leitete. Für Hume waren die psychologischen Assoziationsgesetze wie die Gravitationsgesetze; Lust und Unlust entsprachen Anziehung und Abstoßung; die Utilität galt ihm als die moralische Gravitationskraft und die Vernunft als Schwerkraft in der jeweiligen menschlichen Situation. Sein „Treatise on Human Nature" (1739/ 40) suchte die „experimental method of reasoning into moral subjects" anzuwenden, wobei er mehr die operationeile als die wesentliche Seite erforschte. Für Shaftesbury koinzidierten Natur und Privatinteressen; nach Samuel Butler sollten die Menschen den Gesetzen gehorchen, weil sie Gesetze ihrer Natur seien. Gott war für Paley ein perfekter allmächtiger Uhrmacher und der Mensch für Price eine Kalkuliermaschine. Die allgemeinen Gesetze der Psyche suchte man mittels einer atomistisch-naturalistischen Psychologie in der Folge der „vibrations und associations" zu finden. Die Ökonomie der Welt wurde auf Moral, Tugend, Wirtschaft und Politik übertragen. Für viele war der „Moral sense" eine natürliche Tendenz zur Tugend, die als zweckmäßiges Handeln oder als Balance zwischen Vernunft und Leidenschaft, als Richtung auf das Wohl und den Bestand des Ganzen, als moralische Schwerkraft usw. ausgelegt werden konnte. Die Moralität folgte der Natur und war infolgedessen ebenso mathematisch demonstrierbar wie sie. Es gab offenbar keinen Bruch in diesem Ganzen: „Whatever is, is right!" (Pope). Selbst Verfassung und Politik wurden vom Motiv der Balance her bestimmt. Auch die Gesundheit des Menschen beruhte auf der Balance der Säfte und deren Rotation im Kreislauf, ebenso wie die Gesundheit im Gemeinwesen.
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Alle Aufklärer standen im Schatten Newtons und seiner wissenschaftlichen Revolution. Die Anwendbarkeit von Mathematik und Logik entschied über den Grad der Wissenschaftlichkeit. 4. Als drittes Element kam das naturrechtliche Denken hinzu, das durch den Vorrang der naturwissenschaftlichen Methode sich rationalisierte und individualisierte und die Legitimationsform der bürgerlichen Gesellschaft wurde. Wie der Naturwissenschaftler die Welt in kleinste Teile teilte und sie wieder nach Gesetzen zusammenfügte, zerschlug der moderne Naturrechtler die menschliche Gesellschaft in kleinste Teile, in Individuen, um sie dann wieder zusammenzusetzen nach Geboten der Vernunft. Hobbes hatte dieses am konsequentesten getan. Aber nicht er, sondern Locke mit seiner Philosophie der bürgerlichen Freiheiten, die das Individuum mit dem Eigentümer gleichsetzte, war die maßgebende Autorität. Hobbes setzte dem mechanischen Gegeneinander isolierter Individuen den vertraglich vereinbarten Souverän entgegen, dessen Vernunft die vielen Individualrechte und die eine öffentliche Ordnung durch Gesetze vereinbar machen sollte. Bei ihm brachte die Figur des Urvertrages diese Vereinbarkeit durch Konstituierung eines neuen Prinzips, nämlich der absoluten, über dem Vertrag stehenden gesetzlichen Herrschaft eines obersten Souveräns hervor. Sein Vertrag war der Form nach ein Gesellschaftsvertrag, dem Inhalt nach ein Unterwerfungsvertrag der Untertanen unter sich gegenüber dem Souverän, der selbst ein vertragloses Verhältnis zur Gesellschaft behielt. Locke verlegte den politischen Vertrag an das Ende einer wachsenden bürgerlichen Gesellschaft, die schon eine Arbeits-, Tausch-, Geld- und Marktgesellschaft im Naturstand war und dann erst, im eigentlichen Herrschaftsvertrag von 1689, sich ein oberstes Schutzorgan schuf, dessen Aufgabe die Erhaltung dieser Partnerschaft durch Recht und Gesetz war. Der Staat war nicht Herr der Gesellschaft, sondern ihr unparteiischer Diener, der Wahrer des „Property" (Recht und Eigentum), das für Locke ein Naturrecht war. Locke war der erste bürgerliche Ideologe; denn er gründete den Staat auf einer Vereinbarung, die keinen anderen Zweck hatte als die Erhaltung der vorstaatlichen Eigentümer-, Handels- und Marktgesellschaft. Für ihn war die beste Verfassung jene, die am besten „Property" schützte. Der König wurde erst König durch seinen Eid auf den Vertrag, und nicht durch bloße Geburt. Er fand seine Schranke an Recht und Gesetz. Locke kombinierte die Tradition (property) und das Revolutionsergebnis (government) in einer politischen Philosophie, die das aussprach, was man in England nach 1689 ohnehin als zutreffend ansah. Die Erhaltung einer solchen Herrschafts- und Rechtsordnung verstand er aus dem Bild der Balance zwischen den politischen Kräften, ihrer wechselseitigen Kontrolle unter dem Vorrang von Recht und positivem Gesetz, also aus einer politischen Mechanik, die die Ausgewogenheit des Ganzen sicherte. Sein naturrechtliches Denken war der Gesellschaft gegenüber affirmativ und nur der alten Stuart20 K l u x e n
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Monarchie gegenüber revolutionär. Er lehnte eingeborene oder göttlich eingegebene Ideen ab und hielt angesichts der tabula rasa des menschlichen Geistes den Pragmatismus der Erfahrung, die Suche nach Nutzen, den Wunsch nach Glück und Sicherheit, für maßgebend, wobei er gerade daraus die mathematische Demonstrierbarkeit einer „eternal and unalterable nature of right and wrong" aus der Nutzen- und Zweckmäßigkeitsberechnung ableitete. Dabei wirkten das „Law of God" im Universum, „the Civil Laws" im politischen Gemeinwesen und „the Law of Opinion or Reputation" in der Gesellschaft zusammen, wobei das „Law of Opinion" das eigentliche philosophische Gesetz war, das über Wert und Unwert, Tugend und Laster entschied. Bei Locke diente das naturrechtliche Denken zur Rechtfertigung der eigenständigen bürgerlichen Gesellschaft; es spielte hier eine ähnliche emanzipatorische Rolle wie die heutigen Sozialwissenschaften. Seine Rationalisierung des Staates zu einem Zweck- und Schutzinstitut, seine Rationalisierung der Religion zu einem privaten Bedürfnis menschlicher Sinnsuche und seine naturrechtliche Begründung der Handelsgesellschaft dienten dem „Handelsstaat" England des 18. Jahrhunderts als Legitimation. Die Glorreiche Revolution 1688 und der Friede von Utrecht 1713 bedeuteten den Sieg seines pragmatischen Balancedenkens, das dem friedlichen Fortgang des kommerziellen Aufstiegs zugute kommen sollte. Der Übergang vom Naturstand zum Sozialstand war für Locke schon im vorstaatlichen Raum vollzogen und vollendete sich im politischen Vertrag von 1689, der Parlament und Krone, Gesellschaft und Staat vereinbar machte.
5. Ein weiteres Moment, das die politische Denkweise bestimmte, ergibt sich aus der Anthropologie und Moralphilosophie der Zeit, aus der das Widerspiel der öffentlichen Kräfte verstanden und beurteilt wurde. Schon Descartes hatte den menschlichen Körper als Mechanismus von Trieben mit einem daraufgesetzten Intellekt angesehen, dessen Direktion der Leidenschaften nach Maßgabe von Vernunft und Einsicht den Grad der Tugend anzeigte. Aber nicht Descartes, sondern der dritte Shaftesbury, der Enkel jenes radikalen Whigführers von 1680/83, entwarf eine Moralphilosophie, aus deren Bezugssystem die politische Arbeit innerhalb der parlamentarischen Verfassung moralisch gedeutet wurde. Er war gewissermaßen ein nach innen gewandter Locke. Seine Lächerlichmachung von Aberglauben, Fanatismus, Enthusiasmus zugunsten eines ausgeglichenen „good humour" war für das Gentleman-Ideal seiner Zeit und vielleicht auch für den „humour" im Parlament wichtig, aber wichtiger wurde seine Moralphilosophie für die Rechtfertigung des Konfliktcharakters im politischen Leben. Für Shaftesbury war der Mensch Gestalter seines natürlichen Lebens zur Sittlichkeit durch den ihn bestimmenden Geist, ein sittliches Wesen wie ein geordnetes Gemeinwesen im ganzen auch. Mit deutlichem Bezug auf das englische Gemein-
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wesen zeigte Shaftesbury den Weg zur Sittlichkeit im „Erkenne dich selbst!" - sei kritisch dir selbst gegenüber: „Divide yourself, or be two!" Sei also nicht nur Subjekt, sondern dein eigenes Objekt, setze deiner Subjektivität eine kritische Instanz gegenüber, deiner subjektiven Leidenschaft die objektive Vernunft. Die Balance und der Ausgleich zwischen Natur und Geist zur „good nature" macht den sittlichen Menschen aus. Das ständige Widerspiel von Reason und Passion im Innern gehört zum Menschen als sittlichem Wesen. Herrschaft von Passion würde den Menschen zum Tier, und Herrschaft von Reason ihn zum Heiligen machen. Beide müssen in einer Balance bleiben, wenn der Mensch die ihm gemäße Stufe einnehmen soll. Dieser Schwebezustand macht den moralischen Status eben aus. Shaftesbury sieht den Konflikt zwischen Whigs und Tories als Spiegelung dieses Verhältnisses im Gemeinwesen an. Die Whigführung stellt Reason und die Tory-Masse Passion dar, die beide aber notwendig sind wie das Spiel von Gesamtinteresse und Privatinteresse. Die einschränkende Balance beider Seiten wird als sittliche Anstrengung und politische Notwendigkeit erkannt. Damit lieferte Shaftesbury die Materialien zur ersten Oppositionstheorie, die Bolingbroke und seine Freunde unter der Herrschaft Walpoles (1721 bis 1742) aus ihrem anthropologischen Pessimismus entwickelten. Danach wurde der sittliche Kampf im Menschen auf das Parlament übertragen und mit der Mechanik der Verfassung verbunden. Statt der obsoleten weltanschaulichen Gegensätze von Whigs und Tories nahmen diese Opponenten den Gegensatz von „Ins" und „Outs" als entscheidend an. Die „Ins" waren die Leute der Regierung. Sie hatten Ämter und Macht, die sie - je länger an der Macht - zunehmend ihren privaten Interessen dienstbar machten, während die „Outs" in der Opposition mit Notwendigkeit auf das Allgemeininteresse verwiesen waren, das durch eine Ablösung der Regierung zur Geltung kommen sollte. Verfall von oben und Erneuerung von unten, Korruption und Patriotismus, privates und allgemeines Interesse bestimmten das Verhältnis von Regierung und Opposition als eine institutionalisierte moralische Differenz. Dabei würde die Korruptibilität der menschlichen Natur auf die Dauer auch die zur Macht gekommenen Patrioten wieder auf das Privatinteresse verweisen, während die neue Opposition mit Notwendigkeit patriotisch würde, also dem Interesse des Ganzen sich widmete. Zu lange Amtsdauer war deshalb ein entscheidender Vorwurf der Bolingbroke-Opposition gegen Walpole, was mit wachsender Korruption identisch war. Durch die Rotation von Regierung und Opposition vollzieht sich ein ständiger Reinigungsprozeß, der immer wieder für einige Zeit das Gesamtinteresse zur Geltung bringt und dem immanenten Verfall im Gemeinwesen entgegenwirkt. Nur Bewegung hält das Wasser süß, nur das Fernstehen von der Macht schafft Patrioten. Passion herrscht oben, Reason unten. Die Moralität im Gemeinwesen äußert sich im Machtwechsel, der jeweils das patriotische Anliegen nach oben trägt. Die Zweiheit im Parlament ist also Ausdruck der Moralität des Gemeinwesens, ohne die das Gemeinwesen entweder unter Passion total verrottet oder durch Reason total verplant wäre. Beide wären das Ende des sittlichen Gemeinwesens und widersprächen der menschlichen Natur. 20*
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Für Bolingbroke und seine Gruppe, zu der die literarische Elite von Arbuthnot, Gay und Pope bis Swift gehörte, war die ganze Geschichte ein Kampf zwischen Reason und Passion (nature), zwischen alter Freiheit und neuer Willkür, Property und Government, Geist und Buchstabe usw. oder auch zwischen Legitimität und Legalität. Die Verfassung war für sie ein alter Baum mit der Frucht der Freiheit und eine Einrichtung gegen den Verfall in den Dingen. Der Aufklärer Bolingbroke glaubte nicht an einen wesentlichen Fortschritt über die Beseitigung der Ignoranz und die Verbreitung von Wissen hinaus. Der permanente Kampf für die Sache der Vernunft sicherte dem Menschen ihm zufolge lediglich seine ihm zugeteilte Stellung in der „Kette des Seins", ja die neuerungssüchtige Moderne erschien ihm und seinen Freunden als Entartung, so daß ihr Torytum in der Nähe des voltaireschen anthropologischen Pessimismus und der Rousseauschen Kulturkritik stand. Sie hielten in ihrer Polemik gegen das „korrupte" Whig-Regime die Gewaltentrennung für das Kernstück der Verfassung, eine Meinung, die Montesquieu von ihnen übernahm. Sie waren die Verfechter eines neuen Patriotismus, der in dem älteren Pitt seinen bedeutendsten Vertreter fand, und einer Kreislauflehre, die in der Geschichtsschreibung David Humes und im Konservativismus Edmund Burkes die Grundlagen der konservativen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts legte. Bei Locke, Shaftesbury und Bolingbroke verband sich das naturrechtliche und moralphilosophische Denken mit mechanistischen Elementen der Balance, der Gravitation und Rotation, der wechselseitigen Einschränkung durch Trennung und Verflechtung der politischen Bereiche. Es gab daneben noch radikale Mechaniker, die die ganze Verfassung als Uhrwerk verstanden, das idealiter so funktionierte, daß mit der gleichen Notwendigkeit, mit der die Uhr zwölf schlägt, der Verbrecher gehängt wird, oder daß durch ständige Rotation der Ämter und die Aufteilung der Machtbefugnisse eine wechselseitige Kontrolle und eine Abschöpfung der Korruption jederzeit gewährleistet sein sollte und schließlich das allgemein Nützliche automatisch produziert würde. Gegenüber diesen politischen Ingenieuren war das Nützlichkeitskalkül Jeremy Benthams moralisch gemeint, der im „größten Glück der größten Zahl" den einzigen Maßstab für alles politische und soziale Handeln gefunden hatte und wie ein stiller Maulwurf alle Traditionen, alle Konventionen und Gesetze seinem Kalkül unterwarf. Dieser Utilitarismus war fast das einzige, was nach der Zerstörung der Aufklärungsideologie von ihr übrig blieb. Das Verbindungsglied zu diesem radikalen Utilitarismus der Benthamschule stellt David Hume dar, der die „Science of Man" als Grundlage aller Wissenschaften betrachtete und mit seiner Assoziationspsychologie die aufgeklärten Axiome vom Urvertrag und Naturrecht sowie die ontologische Basis der Moralität wie auch die Vorherrschaft der Vernunft zerstörte; er landete bereits in einem Utilitarismus, dessen Kalkül einer konservativen und auch einer radikalemanzipatorischen Auslegung offenstand.
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Der radikalen Rationalisierung der Verfassung zu einem Instrumentarium, das durch Balance, Rotation der Amter und Aufteilung der Befugnisse das Gemeinwohl produzierte, war die moralphilosophische Dimension überlegen, die die Regeneration von unten und vom Alten her als sittliche Anstrengung verstand, ohne deren „Spirit" die Integration auf das Ganze hin nicht erklärbar erschien. Aus dem Parallelogramm beliebiger Kräfte allein ließ sich dies nicht begründen, wenn nicht sittliche Impulse im Spiel waren. Vielmehr sollte der „moral sense" durch eine besondere Verfahrensanordnung zur Geltung kommen, die die Kongruenz von Herrschaft und Recht oder von Politik und Moral herbeinötigte - eine Anordnung, die im Naturrecht vorgebildet war und der gesamten britischen Moralphilosophie als Argumentationsbasis diente. Damit kommen wir zu jenem Knotenpunkt, der Mechanistik, Moralismus, Naturrecht, Theorie und Verfassungswirklichkeit zusammenband. Hier spielt jenes naturrechtliche Prinzip zur Verwirklichung von Recht überhaupt hinein, das gegenüber dem Prinzip der kommutativen Gerechtigkeit (pacta sunt servanda) und dem Prinzip der distributiven Gerechtigkeit (suum cuique) nur die formal-negative Seite der Bedingung eines jeden Rechtsverfahrens überhaupt bezeichnete. Dieses Prinzip liegt in dem Satz: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!", der aufs Rechtsverfahren angewandt lautet: „Niemand darf Richter in eigener Sache sein!" Dieser Satz diente Locke zur Fixierung des Ubergangs vom Naturstand, wo jeder sein eigener Richter ist, zum Sozialstand, der die Rechtswahrung einem unparteiischen Richter überläßt. Er diente ihm ferner zur Begründung der Gewaltentrennung, nicht nur im Sinne der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Rechtsprechung gegenüber Exekutive und Legislative, sondern auch gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Legislative und Exekutive, insofern Gesetze nur von denen verwaltet werden sollten, die sie nicht gemacht haben; und von denen gemacht werden, die mit der Anwendung nichts zu tun haben. Weniger die Gewaltenteilung als die Gewaltentrennung, also die Zerlegung des gesamten politischen Entscheidungsprozesses zugunsten seiner Verrechtlichung, stützte sich auf naturrechtliche Grundvorstellungen. Freiheit, Macht und Recht ließen sich offenbar nur auf diese Weise institutionell sichern. Dies war übrigens auch die einzige formelle Vorkehrung, die in die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 (Art. 16) hineingekommen ist. Ihr Ursprung liegt in der Cromwellzeit, vor allem bei den Commonwealthmen, und wurde vom Radikalismus des 18. Jahrhunderts weitergesponnen. Er ließ sich auch auf das Verhältnis von Regierung und Opposition anwenden. Darüber hinaus wurde dieses Moment die eigentliche Grundlage der aufgeklärten englischen Moralphilosophie. Die Moralität wurde nicht vom Postulat der Freiheit her deduziert (Kant), sondern aus dem sozialen Kontext abgelesen und mit jener naturrechtlichen Bedingung der Verwirklichung von Recht überhaupt verknüpft. In jedem Konflikt von Interessen ist nur der uninteressierte Zuschauer ein unparteiischer Richter, der Sympathie und Antipathie bekundet, der das „fair play" überwacht und Beifall oder Mißfallen äußert.
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David Hume (Treatise on Human Nature, 1739/40) und Adam Smith (Theory of Moral Sentiments, 1759) gewannen aus diesem Dreiecksverhältnis zwischen den beiden Kontrahenten und einem Dritten als nichtbeteiligter Instanz die empirischen Grundlagen für ihre Moraltheorie. Die Interesselosigkeit des Dritten gegenüber den beiden Interessenten war ihr soziales Apriori, um den moralischen Gehalt seiner Wertung nach Gefallen oder Mißfallen zu demonstrieren. Hier wird der Interessenkalkül gerade ausgeschaltet. Wie im Sport der Schiedsrichter oder im Theater der Kritiker und darüber hinaus das Publikum Beifall oder Mißfallen bekunden, tut es der recht informierte, aber persönlich unbeteiligte Jedermann, der außerhalb der Parteifronten steht, in der Politik und überhaupt in der Öffentlichkeit. Hier ist das räsonnierende Publikum der unparteiische Dritte, der das „Law of Opinion and Reputation" repräsentiert, wie es bei Locke heißt. Das wohlinformierte, d. h. aufgeklärte und nicht manipulierte Publikum, das die Spielregeln und Konventionen kennt, artikuliert - zumindest der Intention nach - jenes „philosophical Law", welches Locke dem „Divine Law" und den positivierten „Civil Laws" als dritte befugte Instanz beigesellt. Die Richtlinien der Moralität erscheinen hier zwar lediglich als wertende Formeln, wie Sympathie und Antipathie sich ausdrücken, und sind nicht inhaltlich fixiert. Aber die öffentliche Anerkennung vor dem Tribunal der Zuschauer genügt als Indikation der geltenden Moralität, die damit in einem angemessen eingerichteten Gemeinwesen auch vorteilhaft ist. Das utilitarische Theorem erscheint bei Locke gewissermaßen auf dem Rücken seiner Argumentation, als Bestätigung, und nicht als Basis. Damit wurde die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung als kritische Instanz zur Moralisierung und Verrechtlichung der Politik naturrechtlich und moralphilosophisch etabliert. Das ewige Gottesgesetz (nature), die verbindlichen Staatsgesetze und das Gesetz der öffentlichen Meinung verbanden sich hier und bestätigten nach Meinung der Zeitgenossen die Wohltätigkeit eines institutionalisierten Zusammenspiels von Natur, Staat und Gesellschaft, wobei in letzterer der „normal sense" im Hinblick auf Einzelfall und Einzelentscheidung zur Geltung kam. Dies setzte freilich breite Aufklärung und Information für alle voraus. Gerade die parlamentarische Opposition brachte deshalb gegen das exklusive Whig-Regiment die „patriotische" Öffentlichkeit ins Spiel. Betrachten wir den naturrechtlich begründeten Vorrang der Gesellschaft vor dem Staat nach dem Urvertrag im Sinne Lockes, die Balance der obersten Gewalten und die Rotationsidee der Verfassungsmechaniker, den Moralismus Shaftesburys, die patriotische Rolle der Opposition Bolingbrokes, den Grundsatz der Gewaltentrennung und -kontrolle, die Richterfunktion der öffentlichen Meinung, die alle auf eine Zerlegung der politischen Entscheidungsprozesse zur Sicherung von „Property", Recht, Balance, Gesamtinteresse, Moral und Patriotismus hinauslaufen, gelangen wir zu einer durchgehenden Ausmünzung der Streitgespräche auf Verfassungsinterpretationen, deren Generalnenner als die Form eines konkret bezogenen, dabei oft ambivalenten Naturrechtsdenkens angesehen werden kann, womit die Legitimationsbasis der Herrschaftsordnung sich eindeutig vom Jus Divinum
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und von der Tradition auf rationales Naturrecht und Vernunft verschoben hatte. Erst die Zersetzung des Naturrechtes und des Urvertragsgedankens durch Hume, seine Psychologisierung der moralischen und sogar der mathematischen Axiome sowie sein Utilitarismus banalisierten diese Verfassung auf instrumenteile Zweckmäßigkeit hin, wobei Hume selbst ihr allerdings geschichtliche Dignität als Ergebnis einer kollektiven Vernunft zurückgab.
6. Die englische Aufklärung war dem politisch-sozialen Gemeinwesen gegenüber im ganzen affirmativ, da dieses offenbar der gleichbleibenden menschlichen Nahtstellung in der „Kette des Seins" gerecht wurde. Man glaubte an möglichen Fortschritt, aber nicht an den notwendigen Fortschritt als eine Heilslehre, wie etwa Turgot und Condorcet es taten. Fortschritt erschien hier nur als Lern- und Aufklärungsprozeß, der die Stellung des Menschen klärte, aber nicht veränderte; er galt stets als Ergebnis sittlicher Anstrengung, nicht als Naturgesetz. Die Fortschrittsidee war in England kaum zu Hause, wohl aber in Schottland, das vorher in einem introvertierten Kirchenregiment, einer archaischen ClanStruktur und schließlich in dreißigjährigen Guerillakriegen (1660-1690) gefangen war und nach 1688 aus seiner Rückständigkeit zum Lehrer Europas aufstieg, wobei Hutcheson, Ferguson, Robertson, Hume, Adam Smith und Miller Pioniere waren. Die schottischen Universitäten wurden seit 1689 nach holländischem Muster neugeordnet und aufgeklärten Denkern geöffnet. Die Union mit England 1707 brachte das Land in Verbindung mit der Welt. Aber erst die letzte endgültige Niederlage der Jakobiten 1745 bei Culloden gab den Engländern Anlaß, eine modernere Kommunalstruktur durchzusetzen. Politisch bedeutete Schottland nicht viel; das ganze Land war im Grunde ein verrotteter Wahlflecken, eine Akkumulation von „Rotten Boroughs", großteils in Verfügung der königlichen Regierung. Politischer Rückstand und wirtschaftliche Belebung verwiesen die schottischen Aufklärer auf die gesellschaftliche Seite der Aufklärungsphilosophie. Sie alle beschäftigen sich angesichts der tiefgreifenden Wandlungen im eigenen Lande mit dem sozialen Mechanismus des Fortschritts, den sie nicht in Politik und Verfassung, sondern in der Gesellschaft vorfanden. Sie wurden von Moralphilosophen zu Sozialhistorikern und von Psychologen zu Soziologen. So wurde der Hume des „Treatise on Human Nature" (1739/40) zum maßgebenden Historiker Englands und der Stuarts (seit 1754); seine Kritik der Geschichte wurde Geschichtsphilosophie; und der Adam Smith der „Theory of Moral Sentiments" (1759) wurde der Verfasser des „Wealth of Natrons" (1776); dessen Analyse der schottischen Gesellschaft wurde evolutionäre Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie. Im schnellen Wandel der schottischen Gesellschaft entdeckten sich die Schotten gewissermaßen selbst. Die Analyse des menschlichen und ihres eigenen Fortschritts legte den Grund zu einer neuen Wissenschaft. Sie lösten die Gesellschaft aus ihrem Zu-
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sammenhang mit der Politik und reduzierten sie auf ein System der Bedürfnisse am Leitfaden des Utilitarismus. Der Fortschritt erschien hier weniger als Fortschritt durch Vernunft denn als Fortschritt durch das Spiel der Interessen selbst, weniger durch einen Lernprozeß als durch einen Erwerbsprozeß. Die Immunisierung ihres Philosophierens gegen politische Theoreme und Ideologien brachte die Arbeitsgesellschaft als gesetzmäßigen Zusammenhang in den Mittelpunkt, die sich aus dem Widerstreit der Interessen und der arbeitsteiligen Differenzierung als wechselseitige Abhängigkeit im einzelnen und Harmonie im Ganzen produzierte. Das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt und in der Produktion bewirkte Wohlstand und Fortschritt. Statt Gewaltenteilung erschien bei Smith die Arbeitsteilung, und statt der Balance der Verfassung die Balance von Angebot und Nachfrage als Indikation einer fortschreitenden Arbeitsgesellschaft. Auch hier galten die Regsamkeit des freien Austauschs und Verkehrs und der Kreislauf der Wirtschaft als Zeichen der Gesundheit und des Wachstums. Die Analyse dieses Fortschritts und seiner Gesetzmäßigkeit war ein besonderer Beitrag der Schotten, deren Hauptwirkung in die zweite Hälfte des Jahrhunderts fiel. Er gehört nur als Seitenstrang in unsere Thematik, da seine Ergebnisse der Spätphase der Aufklärung angehören. Unsere kurze Betrachtung betraf die Zeit von 1688 bis zu Humes politischen Essays von 1741/42 oder bis in die halkyonische Epoche vor 1756 hinein, also das sogenannte „augusteische Zeitalter". Es war eine Zeit wechselseitiger Kritik und Polemik, aber noch nicht der Krisis und Gewalt. Hier hatte die Aufklärung ihren freien Raum und eine ihr gemäße Welt gefunden; sie wurde die Interpretationsform der Verfassung, die in der übrigen Welt durch diese Brille gesehen und bewundert wurde. Die englische Aufklärung politisierte die Öffentlichkeit im Interesse dieser so verstandenen Verfassung. Es gab noch keinen Gegensatz zwischen Staat und aufgeklärter Gesellschaft, sondern eher eine Solidarität und Allianz zwischen Aufklärungsphilosophie und Politik. Diese Epoche steckte das Vorfeld zu jener Evolution ab, die den Ubergang Englands zur industriellen Massengesellschaft ohne Revolution ermöglichte und demonstriert, daß die Französische Revolution keine unentbehrliche Phase beim Durchbruch der Moderne gewesen ist. Englands Glück war der Sieg der Frühaufklärung, wie später der Sieg des Frühindustrialismus. Die englische Aufklärung sah ihre Aufgabe und den Beruf der Zeit darin, Geschichte, Verfassung, Politik und Gesellschaft mit Natur, Vernunft, Moral und öffentlicher Meinung in Einklang zu bringen. Als der Methodismus seit 1750 seinen Siegeszug antrat, die Agrar-, Verkehrs- und Produktionsrevolutionen die Gesellschaft mobilisierten und Hume die Selbstgewißheit der Aufklärung zerstörte, ja zum Propheten der Gegenrevolution wurde, endete diese Phase; sie brachte aber Ergebnisse ein, die dazu beitrugen, daß England als fortschrittlichstes Land Europas und Werkstätte der Welt auch das konservativste Land war, das Kontinuität und Fortschritt, Tradition und Evolution zu verbinden und die Gleichzeitigkeit haltender und weiterschreitender Kräfte zu ertragen wußte. Dazu hat die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts gewiß viel Entscheidendes, wenn nicht Grundlegendes beigetragen.
Der englische Adel im 18. Jahrhundert Die 1 englische Verfassung des 18. Jahrhunderts wurde von den Zeitgenossen als ein Balancesystem begriffen, innerhalb dessen sich die relativ autonomen Verfassungsinstitutionen wechselseitig einschränkten und kontrollierten 2. Dem Oberhaus kam (nach Blackstone) dabei vornehmlich eine Vermittlerrolle zwischen König und Unterhaus zu. Es war der ausgleichende Ballast des Staatsschiffes (Burke). Als oberster Gerichtshof war es Hüter der Verfassung geblieben, aber sonst, wie Burke 1793 bemerkte, „der schwächste Teil der Verfassung" geworden. In der Tat war die große Zeit des Oberhauses als politischer Institution vorüber, die in den Rededuellen zwischen dem Whig-Führer Lord Shaftesbury und dem „Trimmer" Lord Halifax während der „Exclusion-Crisis" (1680), in der Glorreichen Revolution (1688/89) und im Kampf gegen die Anmaßungen des Unterhauses während der Kent-Petition (1701) ihre Höhepunkte hatte. Seit Walpole (1721 -1742) überwog die vornehmlich einschränkende und temperierende Funktion des Oberhauses als Körperschaft, die Blackstone und Burke im Auge hatten. Das traf jedoch nicht die Rolle der einzelnen Peers, die zusammengenommen eine Föderation von großen Familienhäuptern und Familienstämmen darstellten und zur effektiv herrschenden Klasse im England des 18. Jahrhunderts geworden waren, deren Bedeutung erst nach 1783 allmählich zurückging. Eine Elite einflußreicher Landlords hatte sich nach oben abgeschichtet, die im Bunde mit der Krone die hohe Politik machte. Der königliche Hof war immer noch das Zentrum der aktuellen Politik, schon auf Grund der begrenzten Dauer der parlamentarischen Sessionen3. Neben der Verfassung gab es ein Netzwerk von persönlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen, von Interessen, Partnerschaften, Ansprüchen und Abhängigkeiten, ein System des „Influence", dessen Management ein integraler Teil des politischen Entscheidungsprozesses war 4 . Formell hatte die Nobilität 1
Wichtigste Literatur in: Theodor Schieder (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. 4, hrsg. von Fritz Wagner, Stuttgart 1968, § 17: Kurt Kluxen, Großbritannien von 1660 bis 1783, S. 304-307; 343-345. 2
William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 4 Bde., 2. Aufl. Oxford 1773, Bd. 1, S. 154ff.; vgl. Betty Kemp, King and Commons, 1660-1832, London 1959, S. 82 f.; W. Holdsworth, History of English Law, Bd. 12, London 1938, S. 727 ff. 3 Vgl. J. H. Plumb, Sir Robert Walpole. The Making of a Statesman, London 1956, S. 72 f. Eine spezielle Analyse der Rolle des Hofes im England des 18. Jahrhunderts steht noch aus. Über die faktisch ausschlaggebende Rolle der Kronprärogative vgl. De Lolme, La constitution de l'Angleterre, Amsterdam 1771, S. 76 ff. 4
L. B. Namier, The Structure of Politics at the Accession of George III., 2 Bde., London 1929; ders., England in the Age of the American Revolution, London 1930; E. und A. Porritt,
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außerhalb des Oberhauses keine Vorrechte; aber sie hatte Macht - im Gegensatz zu Frankreich - wo die Aristokratie Vorrechte, aber keine Macht besaß (Tocqueville). Es erhebt sich die Frage, wieso es zu dieser erstaunlichen Gewichtsverlagerung der gesellschaftlichen Kräfte kommen konnte. Es sei vorausgeschickt, daß die alten Stände sich schon im Mittelalter nicht mehr mit der Gliederung der englischen Gesellschaft im ganzen deckten, besonders als die Entfaltung einer Marktgesellschaft, die Vergeldlichung des Feudalwesens und schließlich auch die Selbstvernichtung des Hochadels in den Rosenkriegen die gesellschaftlichen Verhältnisse verflüssigten. Diese Verflüssigung vollendete sich im Jahrhundert von 1540 bis 16405, als der größte Landtransfer seit der normannischen Eroberung und die außerordentliche politische und wirtschaftliche Dynamik dieser Epoche eine Mobilität des sozialen Gefüges hervorriefen, die schließlich in der Englischen Revolution von 1640 bis 1660 alle Schichten in Bewegung brachte. Maßgebend wurde im 16. Jahrhundert der Unterschied zwischen dem unabhängigen Gentleman und dem arbeitsabhängigen Nicht-Gentleman, ein Unterschied, der auch im 17. Jahrhundert wichtiger genommen wurde als der Unterschied zwischen einem Baronet als nominell oberstem Glied der Gentry und einem Baron als unterstem Glied der Lordschaft. Country Gentleman bedeutete im 18. Jahrhundert sogar mehr als die Titel Knight oder Baronet, die ja auch den Aldermen und Recorders verliehen werden konnten6. Die althergebrachte Fixierung der sozialen Ränge nach Jahreseinkommen war durch die Geldentwertung des 16. Jahrhunderts unsicherer geworden; sie diente noch dazu, etwa die Masters der 12 Londoner Kampanien mit den Squires auf Grund eines Jahresäquivalents von 10 Pfund Sterling und die Liverymen mit den Gentlemen auf Grund eines Jahresäquivalents von 5 Pfund Sterling gleichzusetzen, während der Yeoman mit 3 Pfund Sterling und der Parson mit 2 Pfund Sterling Jahresertrag unter dem Status des Gentleman lagen7. Die Rangstufen der freien Berufe ließen sich damit überhaupt nicht bestimmen. Der Einstieg neuer Schichten in Gentry und Nobilität, das Absinken von Adel nach unten, die labile Stellung der zahlreicher gewordenen Freiberufe zwischen den Gruppen, die Mobilität auf dem Bodenmarkt usw. addierten sich zu einer Dynamik, der erst nach der Restauration 1660 eine stabilere Sozialstruktur folgte, die The Unreformed House of Commons. Parliamentary Representation before 1832, 2 Bde., 2. Aufl., Cambridge 1909; A. S. Turberville, The House of Lords in the 18 th Century, Oxford 1927; E. Neville Williams , The 18 th Century Constitution, Cambridge 1960; Betty Kemp (Anm. 2). Gegen die Überbetonung dieser Seite wenden sich die Untersuchungen von Ginter, Christie, Steven Watson und neuerdings John Cannon, die einer geläuterten WhigInterpretation das Wort reden, ohne das Phänomen selbst zu bestreiten. Ein kurzgefaßter und immer noch sehr instruktiver Überblick über die Gesamtverhältnisse findet sich in: W. Holdsworth (Anm. 2), Bd. 10, London 1938, Kapitel „The Historical Background". 5 Vgl. Lawrence Stone, The Crisis of the Aristocracy. 1558-1641, Oxford 1965. 6 Vgl. Anm. 19. 7 Vgl. W Laslett, The World we have lost, Cambridge 1965, S. 247 f.
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kaum noch von den mittelalterlichen Ständen her zu verstehen war und sich zunehmend am Landbesitz orientierte, der mehr bedeutete als die Herkunft, wenn er auch im Laufe der Zeit das Vehikel wurde, das die Identität der Familien, und damit die hohe Geburt wieder begründete8. Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung im ausgehenden 17. Jahrhundert ist durch das Absinken vieler lohnabhängiger Schichten in den Pauperismus und die Vermehrung der Oberklasse gekennzeichnet, also durch eine Polarisierung von Arm und Reich, womit sich der Kreis der öffentlich tätigen Personen in den County Courts, den Juries, den Vestries usw. einengte9. Für unsere Perspektive ist die Vermehrung der Oberklasse bemerkenswert. Die weltlichen Peers im Oberhaus vermehrten sich von 60 am Ende des 16. Jahrhunderts auf 160 am Anfang des 18. Jahrhunderts 10. Das Erbprinzip hatte sich bei ihnen schon früh durchgesetzt, da das Recht der Krone zur Zurückhaltung der Writs (Einladungsschreiben zum Oberhaus) im 16. Jahrhundert praktisch erloschen war; d. h. einmal ernannt, betrachteten sich die Lords als Peers aus eigenem Recht. Im 18. Jahrhundert (bis 1780) stieg ihre Zahl nicht mehr wesentlich (auf 182) an; außerdem wurden die meist wegen des Aussterbens von Familien 11 neu ernannten Peers durchweg aus den renommierten Familien genommen. Nur aus den Reihen der Lawyers kamen noch einige homines novi hinzu. Die Zahl der Ritter (baronets und knights) stieg im 17. Jahrhundert von 500 auf 1400 und die der Squires (lesser gentry, esquires, gentlemen) von 5 000 auf 15 000. Dies hing mit dem Einstieg gutsituierter Schichten in die Gentry zusammen. So waren etwa zwei Drittel der Grundherren von Warwickshire im Jahre 1682 kaufmännischen Ursprungs. Diese zahlenmäßige Zunahme von Gentry und Squirearchie bedeutete eine Ausdehnung der oberen politisch aktiven Schicht: Während Anfang des 16. Jahrhunderts nur in jedem zehnten Dorf ein Landlord residierte, war dies am Ende des 17. Jahrhunderts in fast jeder Dorfgemeinde der Fall. Das für die Integrität des Landbesitzes notwendige Prinzip der Primogenitur bei den Landlords bedeutete für die nachgeborenen Söhne eine ständige soziale s L. Stone, Social Mobility in England. 1500-1700, in: Past and Present 33 (1966), S. 1655; vgl. auch R. Bendix/S. M. Lipset, Class, Status, and Power, Glencoe, Illinois 1963, wonach die modernen Klassen von den Ständen des Realm herkamen. Siehe auch: W. G. Runciman, Social Science and Political Theory, Cambridge 1963, Kap. 7. 9 Vgl. L Stone, The Crisis (Anm. 5), S. 55 ff.; D. Marshall, The English People in the 18 th Century, 1956; G. E. und Κ. R. Fussell, The English Countryman. His Life and Work. 15001900, 1955. »0 Vgl. die Angaben bei Abel/Boyer, Political State of Great Britian, Bd. 17, 1719. Für die Zeit vorher: W. Dugdale, The Baronage of England. Or an Historical Account of Our English Nobility, 2 Bde., London 1675/76 (Olms Reprints Hildesheim 1969). n Nach Α. S. Turberville (Anm. 4), S. 491. Danach waren von 1760 bis 1763 41 Titel erloschen, die an neue Leute gelangten. T. H. Hollingworth, The Demography of the British Peerage (Supplementbd. zu: Population Studies Bd. 18 Nr. 2), London 1965. Hier werden die Verhältnisse vom 15. Jahrhundert an behandelt.
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Abwärtsbewegung in andere Berufe hinein, die erst im 18. Jahrhundert durch die Amterpatronage eingeschränkt wurde. Die Kluft zu anderen Schichten und Berufen blieb aber stets überbrückbar - im Gegensatz zu Frankreich, wo die A b wärtsbewegung mit Exklusivität nach unten verbunden war. Die Abnahme der Geburten in der Magnatenklasse und der Drang zur Güterabrundung führten dazu, daß etwa zwei Drittel der Lords unterhalb ihres Standes heirateten, besonders in die Squirearchie hinein. Daraus ergab sich eine größere Homogenität der Oberklasse, der allerdings im 18. Jahrhundert eine deutliche Abschichtung der ersten Familien nach oben folgte 12 . Diese Abschichtung hing mit der ausschlaggebenden Bedeutung des Landbesitzes zusammen, der die Grundbedingung für den sozialen Rang war. Nicht Amt und öffentliches Verdienst oder erfolgreiche Tätigkeit im Unterhaus, auch nicht Geburt allein qualifizierten für eine Peerage im Oberhaus, sondern der große Estate galt als die ausschlaggebende Voraussetzung13. Das Ende des Landmarkts im 18. Jahrhundert mußte eine relative Exklusivität der Grundbesitzerschicht nach sich ziehen. Eine städtische Nobilität wie in Holland gab es ohnehin in England nicht. Der Grund für die Qualifikation des Adels am Landbesitz lag darin, daß der Adel keine persönlichen Privilegien hatte und erst der Landbesitz ihm Rechte einbrachte. Die grundherrlichen Feudallasten waren 1646 und 1656 gefallen, und auch der von den Tudorkönigen eingerichtete Court of Wards für die unmittelbaren Krongutinhaber war 1661 endgültig abgeschafft worden. Die niederen Pflichten und Lasten blieben jedoch bestehen14. Den Landtransfer hatte schon das Statute of Wills von 1540 wesentlich erleichtert. Die feudalrechtliche Grundherrschaft blieb nur nach unten hin intakt. Großer Landbesitz qualifizierte zu öffentlichen Führungsfunktionen in Gemeinde und Grafschaft; er umschloß das Recht zur Präsentation von lokalen Amtsträgern, sei es der Pfarrer, der Geschworenen, der Steuerkollektoren, der Churchwardens, Surveyors, Overseers, Constables usw. Die Grundherren waren die designierten Amtsträger der Grafschaft, vom Lord Lieutenant und High Sheriff bis zu den Justices of Peace und Commissioners of Taxes. Ihnen wuchsen im 18. Jahrhundert in Wassernutzung, Wegeplanung, Bewirtschaftung, Marktverhalten, Viehzucht usw. Aufgaben zu, in denen die älteren Organismen der Hofverfassung und der Hundertschaft noch nachwirkten, die nun aber von den Pfarrgemeinden getragen wurden. Diese Lokalverwaltung war effektiv, im scharfen Gegensatz zum organisatorischen Wirrwarr in den Städten. 12
Vgl. Arthur Collins, The Peerage of England, hrsg. von Sir Egerton Brydges, 9 Bde., 1815; E. Burke, Genealogical and Heraldic History of the Landed Gentry, hrsg. von H. PirieGordon, 15. Aufl. 1937; G. E. Cockayne, The Complete Peerage, erw. u. rev. Ausgabe von Vicary Gibbs, 1910 ff. 13 John Brooke, The House of Commons, 1754-1790: Introductory Survey, Oxford 1968 (1964), S. 145 f. 14 Donald Veall, The Popular Movement for Law Reform. 1640-1660, Oxford 1970, S. 213.
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Auch bodenrechtlich nahm der Landlord eine Sonderstellung ein, insofern der Freibauer sein Land als „personal property" innehatte und nur „holder" des Landes mit nutzungs- und erbrechtlichen Einschränkungen war, der Landlord aber sein Land als „real property" besaß und „owner" der Sache selbst war, die ihm ohne seine Einwilligung auch nicht über den Weg einer Entschädigung entzogen werden durfte. Er konnte seinen Besitz oder auch Teile davon familienrechtlich durch ein „Family Settlement", also einen Erb- und Heiratsvertrag, festlegen, der die Integrität des „Estate" für eine Generation sicherte und nur durch eine Private Act des Parlaments vorzeitig aufhebbar war. Damit ähnelte sein Landbesitz einem unpfändbaren Fideikommiß, der allerdings nur für eine Generation galt und erst vom heiratsfähigen ältesten Sohn als Erbherrn aufgehoben oder erneuert werden konnte. Nur die Annuitäten waren pfändbar 15. Die Grundherren faßten ihre Stellung im County Court oder auch im Unterhaus bzw. Oberhaus als Zubehör ihres Landbesitzes, als „personal property", auf, das gewinnbringend genutzt werden durfte 16 . Sie waren Nutznießer der Revolution, die die öffentlich-rechtlichen und verwaltungsrechtlichen Befugnisse der zentralen Council Courts als oberster Kontrollorgane, also den Standard eines öffentlichen Rechts neben und über den lokalen Nutzungs- und Eigentumsrechten und dem Common Law, zerschlagen hatte 17 . Ihnen kam außerdem die Act of Settlement von 1662 zugute, welche an sich gegen das Vagabundenwesen gerichtet war und der Ordnung des Armenwesens dienen sollte, praktisch aber auf ein Abwanderungsverbot aus den Heimatgemeinden hinauslief, was einer Bodenbindung zugunsten des Grundherrn bedenklich nahe kam 18 . Dazu trat noch als einziges klares Klassenprivileg die in den Game Laws 1671 ihnen gegebene Jagdhoheit, die polizeiliche Befugnisse bis zur Hausdurchsuchung und Festnahme umschloß. Schließlich verstärkte sich die lokale Herrenstellung der Landlords noch durch die Riot-Act von 1715, die den Friedensrichtern weitgehende exekutive Vollmachten in die Hand gab. Großer Landbesitz bedeutete also nicht nur Einnahmen und Residenz, sondern auch Herrschaft und Qualifikation zur Herrschaftsausübung. Er repräsentierte zudem die Identität der Familie, sowohl im 15 H. J. Habakkuk, England, in: Albert Godwin (Hrsg.), The European Nobility in the 18 th Century, New York 1967, S. 3; vgl. H. J. Habakkuk, Marriage Settlements in the 18 th Century, in: Transactions of the Royal Historical Society 32 (1950). Danach genossen die Verschuldeten eine gewisse Immunität durch ihren Landbesitz. 16 Nach einem berühmten Rechtsurteil des Oberhauses als oberstem Gerichtshof vom Jahre 1704 galt sogar das Stimmrecht als nutzbares „property", das also bei Behinderung vor dem Court of King's Bench mit dem Ziel auf Schadenersatz eingeklagt werden konnte. Vgl. G. A. Ritter, Das britische Parlament im 18. Jahrhundert, in: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1965, S. 421. 17 D. Veall (Anm. 14), S. 228, wonach das Common Law „was capable of preserving the rights of property although unsuitable for promoting the rights of man". 18 P. Styles, The Evolution of the Law of Settlement 1662, in: University of Birmingham Historical Journal 9 (1963), S. 33-63; D. Marshall, The Old Poor Law 1662-1795, in: Economic Historical Review 8 (1937), S. 38 ff.
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„Settlement" als auch im Bau eines Country-House als des Herrschafts- und Familienmittelpunktes und des Zentrums einer höheren Lebensform, das mit Dienerschaft, Gästen, Festlichkeiten und Kulturpflege sich aus der Umgebung hinaushob, zumal die Peersöhne durch ihre „Grand Tour" mit der europäischen Kulturwelt in Kontakt kamen. Das England des 18. Jahrhunderts war geradezu eine Föderation großer Country-Houses. Die ersten Familien hielten sich außerdem stets auch eigene Stadthäuser, sei es in der Nachbarstadt oder sei es in London, um zur „Season", d. h. über den Winter bis Anfang Juni, dort zu weilen. Die mittlere Landgentry begnügte sich indessen mit ihrer lokalen Führungsrolle, wobei sie im Unterhaus als schweigende Backbencher und in steter Loyalität zu Krone und Regierung ihre Unabhängigkeit mit Eifer wahrte. Diese Squires hatten keinen politischen Ehrgeiz und waren nur auf die Wahrung ihrer eigenen Interessen bedacht. Ihnen war es gleichgültig, ob sie Baronets bzw. Knights wurden oder nicht, da diese Titel auch an Leute gelangten, die keine Country-Gentlemen waren. Die reichsten Squires unterschieden sich von den großen Lords lediglich dadurch, daß sie nicht Mitglied einer Peerfamilie waren 19. Das soziale Gewicht der Grundherren wurde durch die Ausdehnung der Estates und das Verschwinden der Freibauern und der Klein-Gentry erheblich verstärkt. Im Jahre 1688 gab es nach Gregory King noch 180 000 Freeholders (und wohl auch Copyholders), die ein erbliches bzw. lebenslanges Nutzungsrecht an ihrem Land hatten, gegenüber 150 000 Vertragspächtern. Im Jahre 1780 waren aber in vielen Gegenden 90 Prozent aller Landbebauer Pächter (tenants-at-will). Man schied am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr zwischen Freeholders und Farmers 20. Viele Freibauern hatten inzwischen ihre Nutzungsrechte verkauft; sie wurden von unabhängigen Freeholders zu abhängigen Leaseholders bzw. zu Tenants-at-will, meist im Tausch gegen eine Vergrößerung ihrer Anbaufläche, oder sie wanderten in die Städte21. 19
John Brooke (Anm. 13), S. 150 f., 214 f. Bezeichnenderweise nahm die Zahl der Baronets und Knights ab, während die Zahl der Esquires und Gentlemen erheblich zunahm. Nach Colquhoun (1801) gab es 890 Baronets und Knights gegenüber 1400 bei King (1688) und 6000 Esquires sowie 20000 Gentlemen (einschl. der Ladies living on incomes ), also insgesamt 26000, gegenüber 15000 bei King. Vgl. L. B. Namier, Country Gentlemen in Parliament, in: Ders., Personalities and Power, London 1955, S. 59 f. 20 G. E. Mingay, English Landed Society in the 18 th Century, London 1963, S. 8. Die dahingehenden Zahlen bei Colquhoun (1801) sind von Davenant übernommen, der sich auf King gestützt hatte. Colquhoun spricht von 160000 Farmers und 160000 Freeholders, unter diesen 40000 von „better sort", wobei er aber ausdrücklich die Scheidung von Farmers, Freeholders und „absentee owners" für praktisch unmöglich ansieht. 21 H. J. Habakkuk, La disparition du paysan anglais, in: Annales (Juli/August 1965), S. 649-663; ders., English Landownership, 1680-1740, in: Economic Historical Review 10 (1940), S. 2 f.; vgl. auch V. M. Lavrovski, Expropriation of the English Peasantry in the 18 th Century, in: Economic Historical Review NF 9 (1956), S. 271-282. Die Thesen von Habakkuk werden abgeschwächt von F. M. L. Thomson, The Social Distribution of Landed Property since the 16 th Century, in: Economic Historical Review NF 24 (1966), S. 505 ff. Hiernach stieg der Anteil der großen Landherren nur mäßig an. Aber auch Thomson bestreitet nicht, daß sich
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Das Sinken der Agrarpreise und die konkurrenzfähigere Großgrundwirtschaft benachteiligten sie auf dem Markt. Dazu kam die hohe Grundsteuer (land-tax), zeitweilig von 4 Schilling im Pfund Sterling, die seit 1693 die Haupteinnahmequelle der Regierung war, und die meist von den Grundherren selbst verwaltet und zum Nachteil der kleineren Landbesitzer umgelegt wurde 22 . Benachteiligt war auch die Klein-Gentry, die nach 1700 und vor 1730 günstig ihre Güter verkaufte, da der Preis des knapp gewordenen käuflichen Bodens trotz sinkender Rendite und hoher Grundsteuern anstieg. Selbst Kleinbauernland und abgelegene Ländereien wurden zur Abrundung oder auch Neugründung von Großgütern zusammengekauft. Um 1750 waren die englischen Freibauern und die Klein-Gentry selten geworden. Es gab fast nur noch Landlords und Pächter sowie den Steward, der das Hauptgut des großen Grundherren nach dessen Richtlinien verwaltete. Im Norden herrschten ausschließlich die großen Landlords, während im Südwesten die größere Gentry den Ton angab. Im 18. Jahrhundert stellten die Estates die größten wirtschaftlichen und administrativen Einheiten dar 23 . Mit dem Ende des Landmarktes um 1730 verengte sich naturgemäß auch die Mobilität der Oberklasse. Eine wesentliche Änderung des Latifundienwesens gab es im 18. Jahrhundert nicht mehr. Lediglich die Heiratspolitik diente der Zusammenlegung oder Flurbereinigung des Besitzes, die die Aussicht auf Rangerhöhung nach sich ziehen mochte. Dies förderte die Bildung von Familienstämmen. Der Ausverkauf des Bauernlandes wurde mit den „Enclosures", den Einzäunungswellen von 1760 bis 1780 und 1790 bis 1810, abgeschlossen, da hier das verbliebene Gemeindeland sowie die gemeindlichen Nutzungsansprüche nach dem Wasser-, Weide-, Wald- und Wegerecht durch zahllose Parlamentsgesetze privatisiert wurden, was im Interesse einer verbesserten Bodenbewirtschaftung unumgänglich war. Die „Enclosures" tasteten jedoch nicht das noch unabhängige Eigentum an 24 . Die enge Verbindung von Grundbesitz, sozialem Rang und politischen Rechten fand darin einen Ausdruck, daß fast alle Unterhausmitglieder von „landed families" stammten. Im Property Qualification Act von 1711 wurde gegen das Vordringen des „monied interest" sogar ein Mindestmaß an Landbesitz von allen Parlamentsmitgliedern - ausgenommen die Erben von Peers und die qualifizierten Grafschaftsvertreter - gefordert, nämlich sichere Jahreseinkünfte aus Landbesitz in Höhe von 600 Pfund Sterling für die Grafschaftsvertreter und von 300 Pfund Sterdie freie Bauernschaft kontinuierlich verringerte und England um 1800 ein Land von Pächtern geworden war. L. Stone, Social Mobility in England (Anm. 8), bestätigt hingegen Habakkuks Ergebnisse und sieht in der Oligarchisierung der Landherren sowie auch der Stadtregimenter eine Festigung der oberen Sozialstruktur. 22 Vgl. unten Anm. 26. 23 G. E. Mingay (Anm. 20), S. 12. Die bewirtschaftete Bodenfläche stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts um 5 Millionen acres auf 30,6 Millionen acres an. 24 Vgl. J. Κ Plumb , England in the 18 th Century, 1714-1815 (The Pelican History of England 7), Oxford 1964 (1950), S. 82, 152f.; E. G. Κ. Gönner, Common Land and Enclosure, 1912.
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ling für die Borough-Vertreter, was freilich nicht strikt durchgefühlt wurde 25 . Immerhin waren noch 1832 drei Viertel aller Parlamentssitze in Händen des Landbesitzes. Diese Einschränkung des passiven Wahlrechts konnte sich darauf berufen, daß die Grundsteuer seit 1693 (land-tax) die wichtigste Basis des Steuerwesens war, und daß sie dies durch das ganze 18. Jahrhundert auch blieb 26 . Eine Absetzung des Hochadels von der übrigen Gesellschaft wurde vom Oberhaus mit der Peerage Bill von 1719 versucht, die dem König das Recht des Peerschubs im Sinne der Schaffung völlig neuer Peerwürden verwehren sollte, aber am Widerspruch des Unterhauses scheiterte 27. Die Einnahmen der Grundherren aus den Gewinnen der Großgüter und den Renten der Pächter steigerten sich durch das Absinken der Löhne, die zudem von ihnen als den Friedensrichtern festgesetzt wurden, ferner durch eine verbesserte Bodenbewirtschaftung im Verein mit Flurbereinigungen und Einzäunungen und durch den Konsumanstieg infolge der Bevölkerungsvermehrung. Doch machte der Grundbesitz kaum mehr als ein Drittel oder Viertel des Familieneinkommens aus. Die hohen Grundsteuern holten die Landlords vielfach als Zinsen für ihre Kredite an die Regierung über die Bank von England wieder herein 28. Die ersten Familien des Landes waren auch die designierten Inhaber der hohen und lukrativen Ämter im königlichen Haushalt, am Hof, in Armee und Flotte, im Hochklerus, in Regierung und oberster Verwaltung, die ihrerseits eine weitverzweigte Patronage über die niederen Ämter ermöglichte. Als designierte Courtiers partizipierten sie an der königlichen Zivilliste, während die jüngeren Söhne und die Gentry vorwiegend Ämter aus der „public revenue" erhielten. Sie beanspruchten freilich kein Monopol politischer Macht, da die Ministerstellen auch von parla25 Vgl. A. u. E. Porritt (Anm. 4), 1, S. 170 f. 26 W. R. Ward, The English Land Tax in the 18 th Century, Oxford 1953, S. 10; vgl. auch W. Kennedy, English Taxation. 1640-1799, London 1913, S. 123, 128, wonach der tatsächliche Steuerertrag weit geringer war. Nach St. Dowell, A History of Taxation and Taxes in England, 2. Aufl., London 1880, S. 85-88, bewegte sich die Höhe der Landsteuer 1698-1799 durchschnittlich um 3,48 Shilling ein Pfund, was 1693 etwa 17,4% des Landeinkommens ausmachte, wobei die Gebiete um London eine weit höhere Rate aufbrachten als die entfernteren Gebiete im Norden und Westen. Immerhin machte das „landed interest", zu dem auch die Gemeindepfarrer, die ländlichen Handwerker, Händler, Rechtsvertreter und Arbeiter zu rechnen waren, etwa zwei Drittel bis drei Viertel aller Familien im Lande aus; nach G. E. Mingay (Anm. 20), S. 4 ff. 27 Nach der Peerage Bill 1719 sollte die Krone nicht mehr als sechs neue Peerages über die bestehenden hinaus kreieren dürfen, und statt der 16 gewählten schottischen Lords (seit 1708) sollten 25 schottische Erbpeers ins Oberhaus eintreten. Vgl. die eingehende Darstellung der Implikationen dieser Bill bei Λ. S. Turberville (Anm. 4), S. 169 ff. Für die Motive der Peerage Bill vgl. Basil Williams, The Whig Supremacy, 1714-1760, Oxford 1952 (1939), S. 164 f. 28 G. E. Mingay (Anm. 20), S. 9. Die weltlichen Peers hatten einen Jahresgewinn von nicht unter 5000 Pfund, die allerdings auch von der better Gentry erreicht wurden, während die lesser Gentry unter dieser Grenze blieb. Viele Lords hatten weit höhere Gesamteinnahmen; sie wurden freilich von einigen Commoners noch übertroffen; vgl. J. Brooke (Anm. 13), S. 151 ff.
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mentarischer Befähigung abhingen29. Der zweite Sohn ging meist in die Armee und der dritte in die Kirche. Seit 1729 war auch die administrative Patronage kaum behindert. Überall saßen die gleichen Familien als Nutznießer eines feudalen Spoil-Systems. Der Einstieg in die hohen Ämter war durchweg mit der Gewißheit verbunden, dieses Amt auch zu behalten, gewissermaßen als „personal property" und „hereditary trust". Die Schaffung neuer Ämter diente oft zur Erweiterung dieser Patronage, bei der die Pelhams, besonders Lord Newcastle, Meister waren. Unter Lord North wurden sogar 12000 Stellen von Revenue-Officers geschaffen, sodaß die Ausuferung des „Influence" vom Parlament durch Wahlrechtsentzug beschnitten wurde (1780). Immerhin bewirkte die Krön- und Magnatenpatronage im Verein mit der Loyalität der unabhängigen Backbencher-Gentry, daß nicht die UnterhausMajorität die königliche Regierung einsetzte, sondern die königliche Regierung sich durchweg die Majorität im Unterhaus zu verschaffen wußte. Die Patronage des Oberhauses erstreckte sich auch auf das Unterhaus, entsprang hier aber naturgemäß mehr ihrer lokalen Herrenrolle in den Constituencies. Sie darf nicht überschätzt werden, zumal manche Sitze sich über Generationen in der gleichen Familie forterbten. 1761 geboten 55 Peers über 111 Borough-Sitze, also fast über ein Viertel der Unterhaussitze 30. Es gab nur drei wirkliche „borough-mongers", an der Spitze Lord Newcastle mit 7 Sitzen. Die Gentry trug unter sich viele Sitze aus, und es war äußerst selten, daß beide Grafschaftssitze an Peer-Söhne gelangten. Insgesamt war der Einfluß der Landlords beherrschend, aber nicht politisch eindeutig genug. Das Unterhaus ließ sich seit Walpole auf die Dauer nur aus dem Unterhaus regieren, dessen Mitglieder aus allen Klassen aufgestiegen waren 31. Über die Ämterpatronage, Pensionen und Sinekuren, also die Mittel in Händen der jeweiligen Regierung, ließen sich die Stimmenverhältnisse im Unterhaus wirksamer beeinflussen. Immerhin behauptete noch das Committee of the Friends of the People (1793), daß von 513 Parlamentssitzen 306 unter „Influence" ständen32. 29 John Β. Owen, The Rise of the Pelhams, London 1957, S. 37 ff., der allerdings die Patronage gegenüber dem parlamentarischen Management unterschätzt. 30 L. Β. Namier, The Structure (Anm. 4), S. 144 ff. Von den 489 englischen Unterhaussitzen wurden 205 von privaten Wahlkreispatronen bei den Wahlen von 1761 entschieden, während die Krone über 30 Sitze bestimmte. Vgl. auch Lewis Namier/ John Brooke (Hrsg.), The History of Parliament. The House of Commons 1, London 1964, S. 54 ff. 31 Nach A. S. Turberville (Anm. 4), S. 482, saßen im Unterhaus von 1740 314 Country Gentlemen, 63 Vertreter aus Navy und Army, 36 Merchants, 10 Planters und 36 Lawyers. Newcastle resignierte 1756 trotz einer Majorität von 200 Stimmen im Unterhaus, da ihm angesichts des Einflusses von Pitt ein Management nicht mehr möglich war. Shelburne resignierte 1783, als er die Stimmenverhältnisse nicht mehr zu seinen Gunsten manipulieren konnte. 32 Nach A. S. Turberville (Anm. 4), S. 495, wurden 82 Unterhausmitglieder von Patronen ernannt, weitere 57 von ihnen empfohlen, 90 wurden von Treasury und Peerage ernannt und weitere 77 von ihnen besorgt. Nach Oldfield (1816) besorgten 87 Peers 218 Unterhaussitze für England und Wales. 21 K l u x e n
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Das Anwachsen der Zahl der nachgeborenen Peersöhne im Unterhaus von 50 im Jahre 1734 (einschließlich der schottischen und irischen Familien) auf 123 im Jahre 1830 (nur englische Peerfamilien) ist ein Indiz dafür, daß die einzelnen Peers ihren Einfluß festhielten, ein Indiz auch dafür, daß die Exklusivität des Unterhauses zugenommen hatte 33 . Familien- und Loyalitätsbeziehungen blieben entscheidend, und es war nichts Außergewöhnliches, wenn ein Parlamentsmitglied fünfzig Verwandte im Parlament vorfand 34. Handel und Finanz wurden bei diesem Spoil-System kaum berücksichtigt; die eigentlichen Geschäftsleute konnten angemessener mit Staatsaufträgen und der Beteiligung an Staatsanleihen oder auch mit irischen Peerwürden abgefunden werden 35 . Selbst die Peer-Kreierungen nach 1784 beschränkten sich auf ältere substanzielle Familien, insbesondere Squires. Mithin hatte es eine gewisse Berechtigung, wenn Bolingbroke behauptete, in England seien die Landbesitzer „the true owners of the political vessel, the moneyed men only the passengers"36. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden britische Peerwürden wegen persönlicher Verdienste verliehen. Eine begrenzte Feudalisierung zeichnete sich auch beim Hochklerus ab. Die 27 geistlichen Lords rekrutierten sich im Jahre 1630 nur zu einem Drittel (9) aus der Gentry, 8 kamen aus Klerikernachwuchs, der Rest aus der Kaufmannschaft und aus anderen Schichten. Der König als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche besaß im Selbstbesteuerungsrecht der Konvokationen des Klerus eine vom Parlament unabhängige Finanzquelle. Diese fiskalische Autonomie entfiel 1664, als das Parlament das Besteuerungsrecht an sich nahm und dafür dem Pfarrklerus das aktive Wahlrecht gab. Der Supremat des Parlaments in Kirchensachen machte den Parson vom Diener des Königs zum Diener des Grundherrn. Die Konvokationen tagten nach 1717 überhaupt nicht mehr. Das Bischofsamt geriet wegen des Pfarrerernennungsrechts und der hohen Dotation von mehr als 2000 Pfund Sterling in den Interessenkreis der Grundherren. Die Bischöfe niederer Herkunft sanken von 25 Prozent im Jahre 1688 auf 9 Prozent unter Georg II. ab. Die Söhne von Peers und der größeren Gentry erschienen nun als Bischöfe, wobei von 1760 bis 1790 die „Sees at ease" (Sitze ohne Arbeitsaufwand) zu 64 Prozent den Peersöhnen zufielen, die „Sees of Business" aber nur zu 25 Prozent, die jedoch zu 55 Prozent an den Gentry-Nachwuchs gelangten37. Der Anteil von 33 Gerrit P. Judd, Members of Parliament. 1734-1832, New Haven 1955, S. 31; Appendix 6, S. 84. Vgl. S. 23 und 25, wonach die ersten Söhne der englischen Peers bei der ersten Wahl nach Vollendung ihres 21. Lebensjahrs regelmäßig ins Unterhaus gewählt wurden. In den Jahren 1754-1790 gelangten außerdem im ganzen 80 irische Peers ins Unterhaus. 34 Vgl. die Aufstellung bei G. F. Judd (Anm. 33), S. 33. 35 Das eigentliche „monied interest", also Finanzwesen und Handel, war im Oberhaus nicht vertreten und im Unterhaus unterrepräsentiert. Der Anteil hauptberuflicher Geschäftsleute im Unterhaus stieg von 50 im Jahre 1761 auf 72 im Jahre 1780. Vgl. L. B. Namier, England (Anm. 4), S. 223; G. A. Ritter (Anm. 16), S. 420. 36 Zit. nach A. S. Turberville (Anm. 4), S. 482.
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Klerikernachkommen blieb konstant; Aufstieg aus dem Niederklerus war vor allem über die Kaplanstellen der großen Grundherren stets möglich. Der Episkopat repräsentierte mithin die maßgebenden gebildeten Schichten. Er war also keine Kaste innerhalb einer Kaste wie in Frankreich der Schwertadel, sondern entsprach den Erwartungen der Zeitgenossen, wobei die Rückkehr der Nobilität in den Episkopat diesem erhöhtes Gewicht verlieh, wenn er auch, besonders unter Lord Newcastle als Ecclesiastical Minister (1737-1768) 38 , mehr unter die Patronage der Nobilität geraten war. An der kommerziellen und industriellen Entwicklung nahmen die Landlords nicht nur mittelbar als potente Kapitalverleiher, Teilhaber und Lizenzgeber teil 3 9 . Vielmehr brachten Wollproduktion und Kohlenhandel sie in direkte Beziehung zu Handel und Industrie, zumal es in England keine „dérogeance à la noblesse" wegen kaufmännischer Betätigung gab 40 . Außerdem bot der Grundbesitz Möglichkeiten der Erzgewinnung (Eisen, Kupfer, Zinn, Blei) und -Verarbeitung, sowie der Glas-, Alaun-, Töpfer- und Salzproduktion, zumal das schon seit den Tudors auf Gold und Silber eingeschränkte Bergregal seit den Erlassen von 1689 und 1694 praktisch ganz den Grundherren zugefallen war 41 . Sie waren „hereditary rulers of a realm of collieries" (Halévy). Noch 1784 scheiterte die Kohlensteuer Pitts an den „considerable persons" und seine Akzise auf Roheisen im Jahre 1796 am Widerstand der „Gentlemen Iron-Masters" 42. Freilich waren die Magnaten an der eigentlichen Industrialisierung, also an der Zusammenschließung von Kohle 37 Norman Ravitch, Sword and Mitre. Government and Episcopate in France and England in the Age of the Aristocracy, Paris 1966. Vgl. die Tabellen S. 120-122; 145-147; über Konvokationen und Steuern S. 195 ff., 208; über Newcastle S. 113 f.; allgemein: Norman Sykes, Church and State in the 18 th Century England, Cambridge 1934; ders., From Sheldon to Secker. Aspects of English Church History. 1660-1768, Cambridge 1959. 38 N. Sykes, The Duke of Newcastle as Ecclesiastical Minister, in: English Historical Review 57 (1942), S. 59-84; D.G. Barnes, The Duke of Newcastle, Ecclesiastical Minister, 1724-1754, in: Pacific Historical Review 3 (1934), S. 164-191. 39 Vgl. die Literaturübersicht bei: Κ. Borchardt, Probleme der ersten Phase der industriellen Revolution in England. Ein bibliographischer Bericht über wirtschaftsgeschichtliche Publikationen und den Stand der Forschung im englischen Sprachraum, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 1 -62. Die Übersicht schließt die Agrar- und Verkehrsrevolution sowie die Kapital- und Marktverhältnisse ein. 40 Als Einzelbeispiel, wenn auch als Sonderfall, sei auf den Herzog von Chandos (16741744) hingewiesen: C. H. Collins Baker I Muriel /. Baker, The Life and Circumstances of James Brydges, First Duke of Chandos, Oxford 1949. Der Vater des Duke war ein verarmter Lord Chandos, seine Mutter gutsituierte Kaufmannstochter. Der Duke selbst wurde als Paymaster of Foreign Forces (seit 1705) in wenigen Jahren ein reicher Mann. Neben seinem Estate war er in Seifen- und Glasproduktion, in Kohle, Erzbergbau, Londoner Wasserversorgung, Sklavenhandel, dann in der Ostindien-, Afrika- und Südseekompanie sowie in der SunLife-Insurance engagiert. Die schnelle Reichtumsbildung war hier Ausnahme und nur über den Posten eines Paymaster of the Forces (vgl. Henry Fox!) möglich. 41 S. D. Stirk, Die Aristokratie und die industrielle Entwicklung in England vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Phil. Diss. Breslau 1933, S. 41. 42 Ebd. S. 90. 21*
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III. Beiträge zur Geschichte Englands
und Eisen und am Faktoreisystem im Textilwesen, nur ausnahmsweise oder allenfalls mittelbar durch Kapital oder „Long-lease"-Verträge beteiligt 43 . Aber die Verkehrsrevolution wurde von ihnen wegen des gewaltigen Kohlenbedarfs von London und wegen der Großmarktkonzentrationen entscheidend vorangetrieben. Die Erschließung des Binnenlandes durch Wege und Kanäle lag in ihrem Interesse. Sie verschafften sich durch gesetzliche „Statutes" erweiterte Kompetenzen. Die Wegebaukommissionen („Turnpike Trusts"; Statut von 1773) gingen sie als Grundbesitzer, Marktbeschicker und Einzäuner am meisten an. Sie bauten auch die ersten Kanäle, wie besonders der Duke of Bridgewater, der Vater der englischen Binnenschiffahrt (seit 1761 /1767) 44 . 165 Parlamentsgesetze wurden dazu zwischen 1758 und 1801 beschlossen. In gewisser Weise legten die großen Landherren im Parlament die gesetzlichen Grundlagen für die Agrarrevolution und die Verkehrsrevolution. Die beträchtliche Masse der „Enclosure Acts", der Wege- und Kanalgesetze, also die Hunderte von regionalen Private Acts, setzten das Land Stück um Stück frei für eine überregionale Entwicklung. Nach der Auflösung der alten Hofstruktur im 17. Jahrhundert folgte hier die Auflösung von Teilen der lokalen Gemeindestruktur. Der politische Einfluß der Nobilität ermöglichte ihr hier, Schrittmacher zu sein 45 . In der hohen Politik dagegen blieb sie ein Element der Stabilität. Eine Peerage war meist das Ende der politischen Laufbahn im engeren Sinne, der Übergang vom Adventurer, Opposer oder Aggressor zum Defensor, von Faktion und Partei zur Krone und vom Parteimann zum „hereditary Councillor of the King". Ihre politische Verantwortlichkeit lag darin, „to carry on King's Business". Die Peerage insgesamt war der englischen Flotte vergleichbar, die „in being" wirkte, und der einzelne Peer glich einem Schlachtschiff des 20. Jahrhunderts mit immenser Feuerkraft (Brooke), das sein Land verteidigen, aber den Krieg nicht entscheiden konnte. Burke sah in den Peers die schützenden Eichen im Walde des Gemeinwesens, die dem Ganzen dienten, da sie nichts mehr zu gewinnen, aber vieles zu verlieren hatten. Das Oberhaus war weder ein Machtblock noch ein Interessenbündel, « Vgl. als Quelle: Daniel Defoe, Tour through England and Wales 1727 (hrsg. von G.H.D. Cole); ferner über den Anteil des Adels an der Company of Mine Adventurers von 1698: Stirk (Anm. 41), S. 41 ff.; allgemein: T. S. Ashton, Iron and Steel in the Industrial Revolution, 1924; T. S. Ashton! J. Sykes, The Coal Industry of the 18 th Century, 1929; sowie E. Lipson, Economic History 1 (1924); 2 (1931). Ferner: E. Hughes, North Country Life in the 18 th Century 1, Oxford 1952; 2, 1963. 44 A. S. Turberville (Anm. 4), S. 452 über den Duke of Bridgewater, dessen erster Kanal von Worsley nach Manchester 1761 dem Kohlentransport von den Gruben des Herzogs nach Manchester diente. Danach folgte 1767 der Manchester-Liverpool-Kanal. Vgl. auch R.A.C. Parker, Coke of Norfolk and the Agricultural Revolution, in: Economic Historical Review NF 8 (1955); J. H Plumb (Anm. 3), S. 80. 45 W. Holdsworth (Anm. 2), 10, S. 158 ff.; Fr. Clifford, A History of Private Bill Legislation, 2 Bde., London 1885-1887; O. C. Williams, The Historical Development of Private Bill Procedures, 2 Bde., London 1948/49.
Der englische Adel im 18. Jahrhundert
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sondern mehr eine unauflösbare Föderation, die Turberville sogar einen „Organismus" nannte46. Die Voraussetzung ihrer politischen Effektivität war weniger die Verfassung als die Prärogative der Krone, deren Ernennungsrecht die Lords auf das Wohlwollen des Königs verwies. Umgekehrt war der König auf die Lords angewiesen, wenn er nicht nur herrschen, sondern auch regieren wollte. Gerade das System von Patronage, „Influence" und Korruption hielt die politische Führungsschicht im Dienst der Krone und verwandelte diesen Dienst gleichzeitig in ein politisches „Asset", einen nicht verwirkbaren Anspruch, in „personal property", wobei sich die Verfassungsformen mehr an diesem System arrangierten als umgekehrt, jedenfalls solange sich die Commons nicht über die schon gewonnene Finanzkontrolle hinaus unmittelbar in die Führung der Regierungsgeschäfte einmischten. Der König war auf die Lords angewiesen, wenn sie das seit 1708 nicht mehr ausgeübte königliche Veto durch das „Killen" von Gesetzesvorlagen praktizieren sollten. Jeder Peer durfte private Audienzen beim König erbitten, der aus seinem „Closet" über einzelne Amtsträger und Peers seinen Willen kundtat. Georg III. verließ sich auf das Oberhaus, als es auf seinen Wunsch 1783 die Ostindien-Bill von Fox zu Fall brachte, so daß er tags darauf das ihm oktroyierte Fox-North-Ministerium zu entlassen wagte. Sein fataler Triumph über Faktionen, Parteien und Unterhaus von 1783 war nur über das Oberhaus möglich, und zwar nur durch eine persönliche Kriegserklärung aus dem „Closet" gegen alle Peers, die seinem Wunsch nicht nachkamen. Der so errungene Sieg war zugleich die Peripetie für Krone und Oberhaus. Der Feldzug gegen den königlichen „Influence" seit 1780, das Vordringen des Parteidenkens47, auch in die Peer-Familien, das Hineinspielen der öffentlichen Meinung, die stärkere Einschaltung des Unterhauses über die Select Committees, die Ausprägung einer Kabinettsregierung, die Schaffung eines Consolidated Fonds (1787) 48 und eines Foreign Office (1782), schließlich auch das Zurückbleiben des Landeinkommens bis auf ein Drittel des Gesamtvolumens durch den Aufstieg von Industrie und Handel 49 schmälerten die Grundlagen von Patronage und persönlichem Regiment, ohne sie indessen zu zerstören 50. Immerhin gewann die Regierung von 1742 bis 1830 noch alle Wahlen 46 A. S. Turberville,
The House of Lords in the Reign of William III, Oxford 1913, S. 232.
47
John Cannon, The Fox-North Coalition. Crisis of the Constitution. 1782-1784, Cambridge 1969, S. 238. In dieser Studie wird das Vordringen einer Parteisolidarität gegen Nainier, Barnes usw. herausgestellt. 48 Mit der Schaffung eines Consolidated Fonds (1787) wurde nicht mehr die einzelne Steuer appropriiert, sondern für jede Ausgabe eine bestimmte feste Summe vorgesehen, und zwar nach vorhergehenden „Estimates", die vom Committee of Supply überprüft und meist beschnitten wurden. 49 Mingay (Anm. 20), S. 12; vgl. A. S. Foord, The Waning of the „Influence of the Crown", in: English Historical Review 62 (1947), S. 484 f. so A. S. Turberville, The House of Lords in the Age of Reform. 1784-1837, Cambridge 1958; ders., The Younger Pitt and the House of Lords, in: History 21 (1937); allgemein:
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III. Beiträge zur Geschichte Englands
über private Arrangements mit den lokalen Wahlpatronen; und das königliche Ernennungsrecht blieb unangetastet. Der langsame Abstieg von 1782 bis 1832 hing wohl auch mit der Ausweitung der Peerwürden seit dem jüngeren Pitt zusammen: 92 Peerwürden wurden neu geschaffen, und mit der Unionsakte von 1800 traten 32 irische Peers, unter ihnen 4 Bischöfe, in das Oberhaus ein, so daß sich die Zahl der Lords von etwa 200 am Anfang des 18. Jahrhunderts auf 372 vermehrt hatte und im Jahre 1837 439 erreichte. Die ersten Peerwürden nach Verdienst (open to talent) wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts verliehen, im 19. Jahrhundert kamen verdiente Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Literatur hinzu, und erst nach 1880 gelangten reine Finanzleute ins Oberhaus. Der Autoritätsschwund setzte offensichtlich sehr langsam ein: Die Stellung der Krone und der Nobilität blieb bis 1830 ausschlaggebend, danach noch für fast zwei Generationen beachtlich und in einigen Bereichen bestimmend. Sie hatte jedoch ihren Höhepunkt unter Georg III. bis 1783. Erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts erhob sich öffentliche Kritik an diesem System, und auch dann nur gegen offensichtliche Mißstände, und vorerst beschränkt auf die großen Städte und ihre Umgebung51 - offenbar deswegen, weil diese Herrschaftsform den anerkannten gesellschaftlichen Rangverhältnissen und den praktischen Bedürfnissen einer konsistenten Politik am Vorabend der Industriellen Revolution entsprach. In etwa hat das Gewicht der Peerage erst die Aufrechterhaltung jener Balance-Fiktion in der Verfassungspraxis ermöglicht, die die unausgetragenen Widersprüche des Kompromisses von 1689/1701 verhüllte, aber jenen politischen Sinn hervorbrachte, der für das menschliche Zusammensein den Frieden über die Wahrheit und den Kompromiß über die Konsequenz stellte.
R. Pares, King George III. and the Politicians, Oxford 1967 (1953); John Ehrman, The Younger Pitt, London 1969, S. 239 ff. 51 Freilich gehörte der Kampf gegen das System des „Influence" seit der Act of Settlement von 1701 und besonders seit den Tagen Bolingbrokes und seines Parteiblatts „The Craftsman" zum üblichen Repertoire der jeweiligen Opposition und war sogar der Anlaß, in der Gewaltenteilung das Prinzip der Verfassung zu sehen - ein Gedanke, der Montesquieu unter dem Eindruck des oppositionellen Schrifttums gegen Walpole zu seiner berühmten Gewaltenteilungslehre anregte. Vgl. Kurt Kluxen, Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, Darmstadt 1969, S. 131-152; vgl. in diesem Band, S. 153 ff.; dagegen äußerte sich David Hume im Prinzip positiv zum „Influence", während später Blackstone gegen dessen Ausmaß Bedenken anmeldete. Vgl. G.A. Ritter (Anm. 16), S. 412-414. Aber erst seit 1780 wurde diese Kritik ein öffentliches Anliegen.
IV. Geistige und politische Formkräfte des 19. Jahrhunderts
Religion und Nationalstaat im 19. Jahrhundert Die Epoche des Nationalstaates fällt ins 19. und ins frühe 20. Jahrhundert. Alle in dieser Zeit neu entstandenen Staaten waren Nationalstaaten, d. h., sie gründeten ihre politische und rechtliche Legitimation auf den Willen der Nation. Das Wort „Nationalstaat" kam erst zur Zeit der Reichsgründung in Gebrauch und wurde später in der Wilhelminischen Ära häufiger verwendet. Vor 1871 gab es nämlich keinen deutschen Nationalstaat, wohl aber viele deutsche Verfassungsstaaten. Der Verfassungsgedanke stand hier im Dienste des Partikularismus und setzte sich auf nationaler Ebene erst in Form einer Vereinbarung der Fürsten durch. Es war mithin rechtens, daß das „Deutsche Reich" Bismarcks der einzige Nationalstaat war, der sich auch als „Reich" bezeichnen konnte. Das Reich entsprach also nicht dem Entwicklungsschema anderer Länder, die vom Ständestaat zum national-souveränen Verfassungsstaat gelangten - an der Spitze England und Frankreich, wo die sich emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaften über den Weg von Revolutionen nationale Verfassungsstaaten zustande brachten. Diese gravierende Differenz soll in einem zweiten Abschnitt behandelt werden. Jedenfalls machte sich das neue Reich die enorme Assimilationskraft des Nationalstaates zunutze, welche erst den industriellen Modernisierungsprozeß ermöglichte. In einem ersten Abschnitt soll kurz skizziert werden, welche Rolle Religion und Kirche zur Zeit der Nationalstaaten spielten, wie die alte Einheit von Thron und Altar dahingegangen war, oder besser: wie der Rückzug der Religion aus dieser Welt, und dann ihre Rückkehr in diese Welt, zustande gebracht wurde. In einem letzten Abschnitt soll an Italien und Deutschland der gefundene Modus vivendi zwischen nationalem Staat und universaler Kirche kurz aufgezeigt werden, und zwar vorwiegend am Beispiel der römisch-katholischen Kirche.
1. Die Rolle der Religion im Zeitalter des Nationalstaats An der Schwelle zur Neuzeit nannte Francis Bacon in den Sermones fideles die Religion noch „praecipuum humanae societatis vinculum", das eigentliche Band der menschlichen Gemeinschaft. Dem machte die Aufklärung ein Ende. Sie leitete eine allgemeine Säkularisierung, Profanierung und Trivialisierung ein. Die Religion verlor ihren institutionellen Geltungsschutz, und die Bürgerrechte wurden vom Bekenntnis religiöser Wahrheiten abgekoppelt. Die Unterscheidung der Reli-
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IV. Geistige und politische Formkräfte des 19. Jahrhunderts
gionen nach Wahrheit und Irrtum wurde nicht beseitigt, wohl aber entpolitisiert. Die politische Verbindlichkeit der öffentlichen Anerkennung einer bestimmten Religion oder Konfession wurde aufgegeben. Damit ging zwangsläufig auch die Bedeutung organisierter Religion als eines Mittels sozialer Kontrolle zurück. Dazu kam noch die Ablösung praktischer Aufgaben der herrschenden Religionssysteme und deren Übertragung an die weltlichen Behörden wie etwa Personenstandsverwaltung, Sozialfürsorge, Erziehung oder öffentliches Leben. Andererseits entwickelte sich über die bisherige Praxis bloßer Toleranzgewährung hinaus das Prinzip der Freiheit der Religion als eines subjektiven, einklagbaren Bürgerrechts. Die Religion behielt nämlich trotz aller Aufklärung weiterhin eine nicht säkularisierungsfähige Funktion, die eine völlige Verschmelzung des Individuums mit sozialen oder politischen Interessen verhinderte. Mit seiner Religion als „Urvertrauen" (Martin Buber) entzieht sich der Mensch prinzipiell dem Zugriff politischsozialer Kontrollierbarkeit und macht so die Grenzen der Integrationskraft säkularer Systeme erkennbar. Dies ist der Grund, warum ideologische Integrationssysteme sich zur Religion wie zu einem Störfaktor verhalten. Die Kontingenz unseres individuellen Daseins bedarf der Religion als eines transzendierenden Sinnentwurfs. Die radikalen Aufklärer verkündeten zuerst die Befreiung der Religion und dann die Befreiung von der Religion - und zwar Befreiung durch Trennung zwischen Staat und Religion oder durch Reduktion der Religion auf wenige Grundwahrheiten oder auch durch deren Transformation. In Amerika kam es zur Trennung der Verfassung und der Gesetze von der Religion - und zwar aus Religion. Sie durfte kein Gegenstand der Gesetzgebung sein und genoß völlige Bewegungsfreiheit. Bei Rousseau wurde ein Grundbestand, nämlich das Bekenntnis zur persönlichen Unsterblichkeit, zur Existenz Gottes und zum Jüngsten Gericht, als Voraussetzung der Bürgerrechtsfähigkeit angesehen, also eine „réligion civile" zur Bürgerpflicht erhoben. Eine Transformation zur Sittlichkeit vollzog Kant, indem er die „Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote" als Religion bezeichnete. Hegel verstand die christliche Religion als Selbstkonstitution des Geistes in den drei Momenten der Trinität. Feuerbach übersetzte sie in anthropologische Evidenzen; andere, darunter Marx, suchten eine evolutionstheoretische Auslegung der Heilsgeschichte, ohne daß unter diesen Ummünzungsversuchen die großen europäischen Religionen ihre Substanz merklich aufgegeben hätten. Es gab indessen noch eine dritte Form der Transformation der Religion, die von Dichtung und Literatur ausging und das Erstgeburtsrecht der Religion auf ihre Weise verteidigte. Johann Georg Hamann - und in seinem Gefolge Herder und die Romantik - wandte sich gegen David Humes Idee einer „natürlichen Religion" und damit gegen die Religionskritik des aufgeklärten Rationalismus. Seine wortgewaltige Schutzschrift zugunsten der geoffenbarten Religion setzte Gott, Offenbarung, Bibel und Sprache in eins als Ausdruck des Absoluten. Gottessprache und Menschensprache verhielten sich nach ihm wie Urbild und Abbild. Im Ursprung
Religion und Nationalstaat im 19. Jahrhundert
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waren Religion, Poesie und Kunst eins und älter als die Vernunft. Mit Herders Sprachphilosophie gewannen Hamanns Vorstellungen Gewalt über die Geister. Die Bibel war auch eine Dichtung, und die poetische Erschütterung zu Gott hin auch eine Form von Religion. Aus den Urgründen seiner Geschichte kam danach ein Volk zu sich selbst, zu seiner Seele, Sprache, Religion und Weltanschauung. Die Romantik suchte in gleicher Weise den Genius eines Volkes im Mythos, in seiner Individualität, in seiner Stimme, seinem Urwesen als Volk schlechtweg. Die hier sich meldende Transformation der Religion zur Geschichte, zum Mythos, zur Sprache und Weltanschauung war die Brücke, auf der sich späterhin jene revolutionären Bildungseliten der aufsässigen Randvölker Europas mit deren jeweiliger nationaler Volksreligion treffen konnten, jene heimgekehrten Revolutionäre, die nicht die „Konfession" interessierte, sondern deren geschichtliches Ergebnis, eine völkisch-nationalistische „Weltanschauung". Diese bildete den Urgrund eines virulenten Nationalismus an den Rändern Europas, der die schrillen Obertöne zum Konzert der Nationalstaaten lieferte. Eins blieb indessen offensichtlich: das konfessionelle Zeitalter war dahingegangen. Die Französische Revolution hatte reinen Tisch gemacht und das gesamte Kirchengut 1789 zum Nationaleigentum erklärt. Sie dachte freilich anfangs nicht an eine Eliminierung von Religion und Kirche und versuchte eine „Constitution civile" (12. Juli 1791), nach deren Scheitern Robespierre eine eigene „réligion civile" mit einem Kult des „Être Suprème" (1793) verordnete. Danach zog die großbürgerliche Direktorialregierung (seit 1795) einen religionslosen Liberalismus vor, dem Napoleon wiederum mit Konkordat (1801) und Staatskirche (Organische Artikel, 1802) den Garaus machte. Dieses Konkordat von 1801 war Vorbild für die späteren Konkordate. Es ließ kanonische Bischofswahl und Stärkung des Papstes gegen die Bischöfe zu und sah Staatsbesoldung des Pfarrklerus vor. Dem Schlag gegen die französische Feudalkirche 1789/90 folgte in Deutschland die Säkularisation von 1803/05, gegen die Reichskirche, die barbarischste Tat des 19. Jahrhunderts, die auf legalem Wege ganze Kulturlandschaften vernichtete und blühende Stätten in Ruinen verwandelte - ein „ungeheurer Rechtsbruch" und der „größte aller Raubzüge gegen die Kirche" (G. Franz-Willing). Damit war die bisherige deutsche Reichs- und Feudalkirche vernichtet. Die Landesfürsten übernahmen die Kirchenherrlichkeit und konstituierten über landesherrliche Edikte ein Staatskirchentum, ohne autonome Leitungsorgane zuzulassen. Die Pfarrer figurierten als Standesbeamte, die Kirchengüter wurden vom Staat verwaltet, die Verlautbarungen waren genehmigungspflichtig, die klösterlichen Schulen bestanden als staatliche Institute fort, und die Kirche wurde vom Staat wie eine Gesellschaft zur Förderung von Sitte, Anstand und Bildung behandelt. Dieses Staatskirchentum stützte sich auf den aufgeklärten Klerus, wobei vor allem die Professoren der theologischen Fakultäten, wo solche bestanden, besonders in Freiburg, Anhänger des Josephinismus und sogar einer kirchlichen Synodalverfassung waren. In Frankfurt legte der Deutsche Bundestag 1818 Richtlinien zur Kirchenfrage fest, wobei der alte Wessenberg, ehemals Koadjutor von Dalberg, vergeblich für einen national-
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IV. Geistige und politische Formkräfte des 19. Jahrhunderts
kirchlichen Episkopalismus eintrat, die Landesherren aber einen partikularstaatlichen Gallikanismus vorzogen. Die Kurie kam ihnen in den Bullen von 1821 (für Preußen), 1824 (für Hannover) und 1821/1827 (für Oberrhein) bei der Regelung der Diözesangrenzen entgegen und gestand den Landesfürsten das Recht der Exklusive (Veto), nicht aber der Nomination von Bischöfen zu. Den Bullen entsprachen Kabinettsordres der betreffenden Territorien, zumal gegenüber protestantischen Landesherren statt formeller Konkordate die Form der Zirkumskriptionsbullen von der Kurie gewählt wurde, dann aber die „Transformation" der Verträge in innerstaatliches Recht notwendig war. Statt Erneuerung der Kirche gab es eine Konkordatsbewegung, die dem kurialen Zentralismus zugute kam. Ausschlaggebend blieben die „verfassungsmäßigen Schutz- und Aufsichtsrechte des Staates über die Kirche." Die Wende kam im Gefolge der Julirevolution von 1830, mit der sich eine gesellschaftliche Neuorientierung der katholischen Kirche anzukündigen schien. Die Hauptherde der Unruhen, Irland, Belgien, Polen und Italien, waren alle katholisch, und die Idee der Freiheit der Kirche im Staat schien eine Chance für die katholische Kirche zu bieten. Es kam aber ganz anders: Mit dem Kölner Kirchenstreit (Mischehenstreit) setzte ab 1837 eine katholische Volksbewegung ein, gegen den innerkirchlichen klerikalen Liberalismus und oft im Bunde mit konservativen Protestanten. Preußen hatte nachgeben müssen, und eine katholische Abteilung wurde 1841 im preußischen Kultusministerium eingerichtet. Auch in Baden kam es unter dem Staatswissenschaftler Franz-Joseph Büß zu einer Aktivierung des Katholizismus, der sich gegen Staatskirchentum und alle liberalen und nationalkirchlichen Tendenzen richtete. Seit 1844 entstanden katholische Vereine, zuerst in Baden. Hier kam 1846 die erste deutsche Massenpetition gegen die „Deutschkatholiken" zustande (353 Petitionen aus 415 Gemeinden). Hier begann der sogenannte Ultramontanismus als antiliberale Massen-Opposition. Dahinter stand der gigantische Plan, die Kirche in der bürgerlichen Welt zu einer Seelsorgekirche umzugestalten, also das verlorene Terrain über die neue privatbürgerliche Öffentlichkeit wiederzugewinnen, d. h. über das neue Vereinswesen, die Gewerkschaften, die Gesellenvereine (1846) und andere Alters- und Berufsgruppen auf allen Lebensbereichen neue kirchliche Arbeitsfelder zu erschließen. Der „politische Katholizismus" begann sich zu entfalten. Das Jahr 1848 war eine Absage an das bisherige Staatskirchentum. Im November 1848 erhob der deutsche Episkopat Maximalforderungen bezüglich der Schulen, Seminarien, Amterbesetzung, Niederlassung von Orden und Klöstern, bischöflichen Gerichtsbarkeit und Kirchenverwaltung, das sogenannte „Würzburger Programm", mit welchem die Kirche sich vom Staate zu emanzipieren suchte. Das österreichische Konkordat von 1855 und vorher schon die belgische Verfassung von 1831 schienen der Entwicklung Recht zu geben. Sie erreichten eine ideale Koordination weltlicher und geistlicher Gewalt im Sinne der Freiheit der Kirche. Außerdem wurde in England (1850) und in den Niederlanden (1853) die katholische Hierarchie wiederhergestellt. Das Ende des Staatskirchentums schien erreicht. Aber die Konkordate von Württemberg
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(1857) und von Baden (1859) scheiterten an den Landtagen; nur das österreichische beendete das Staatskirchentum. Der Aufstieg der Liberalen in Baden und Preußen stellte sich der Konkordatspraxis entgegen. Hier meldeten sich Stimmen, die behaupteten, die Kirche wolle nicht frei durch die Konkordate werden, sondern souverän. Es war die Zeit der weltweiten Durchsetzung des Liberalismus. Viele Radikalliberale hielten diese Konkordate für unvereinbar mit dem Wesen eines modernen Staates und der Omnipotenz des staatlichen Rechts. Sie verlangten sogar die Auflösung der Kirche im Staate als der „Totalität des sittlichen Seins" (Richard Rothe). In Baden entbrannte ein erbitterter Kulturkampf, wo die Liberalen sogar eine „politische Konfirmation" (Jugendweihe) verlangten (1871), eine „Bürgerweihe" (Bluntschli) vorgeschlagen und ein „Kulturexamen" für die Kleriker vorgeschrieben wurde. In der Schweiz wiederum endete der Kirchenkampf mit der Anerkennung der Altkatholiken (Christkatholiken) und Nichtanerkennung der römisch-katholischen Pfarrer. Dasselbe wiederholte sich im preußischen „Kulturkampf 4 , obgleich in Paragraph 15 der preußischen Verfassung von 1850 alles schon gesichert war, was die Kirche verlangte, nämlich autonome Selbstverwaltung, Aufhebung des staatlichen Ernennungs- und Bestätigungsrechts, ungestörter Verkehr mit Rom und den Oberen. Dies wurde 1875 nun abgeändert zugunsten einer nationalen Staatskirche. Man fiel zurück aufs Allgemeine Preußische Landrecht von 1794. Der Streit entzündete sich an der Lehrbefugnis (missio canonica) für Religionslehrer, wurde aus politischen Gründen von Bismarck vom Zaune gebrochen und diente ihm später dazu, den Liberalismus an seiner Seite zu halten bzw. ihn von verfassungspolitischen Zielen abzulenken. Überraschenderweise vermehrte der deutsche Katholizismus seine Mittel zur Selbstbehauptung. Das Gesetz über die Vermögensverwaltung in den Pfarreien (1875) beteiligte die Gemeinden an der Verwaltung und institutionalisierte mit den Kirchenvorständen die Widerstandszellen. Gleichzeitig mit der Öffnung der Kirche für die bürgerlichen Lebensformen vollzog sich ihr Rückzug aus der Welt, der die Chancen der Liberalisierung fahrenließ, um den Aufweichungsgefahren des „Modernismus" zu entgehen. Pius IX. (1846-1878) hatte zuerst den Kirchenstaat liberalisiert, mußte aber 1848 vor der „Römischen Republik" Mazzinis nach Gaeta fliehen und kehrte 1850 als „AntiModernist" zurück. Schon vorher hatte Gregor XII. (1835) den Hermesianismus, also die Rezeption der Kantschen Transzendentalphilosophie, verboten. Nun wurde jeglicher „Modernismus" im Syllabus Errorum von 1864 verdammt, und die Kirche stellte sich in der Bulle Quanta Cura von 1864 über Kultur, Staat und Wissenschaft. Indem die Kirche sich außerdem in der „Neuscholastik" eine eigene Philosophie verschrieb, schied sie vorläufig aus dem wissenschaftlichen Gespräch aus. Diese Restitutio in integrum vollendete sich auf dem Ersten Vatikanum von 1869/70 im Unfehlbarkeitsdogma und in der freiwilligen Gefangenschaft des Papstes im Vatikan. Zum letzten Mal nahm eine politische Macht im Jahre 1903
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Einfluß auf die Papstwahl, als Habsburg sein Veto gegen die Wahl Rampollas einlegte. Pius X. (1903-1914) schließlich führte 1910 den „Anti-Modernisten-Eid" ein. Die Kirche bezahlte diesen wasserdichten Abschluß mit einem Verlust an Weitläufigkeit. Einerseits ergab die Entfremdung von moderner Wissenschaft und Kultur eine Inferiorität des deutschen Katholizismus im protestantisch bestimmten Deutschland; andererseits erreichte der Klerus einen hohen moralischen Standard, wie er ihn wohl noch nie besessen hatte. Der Katholizismus entwickelte eine Art Minderheitenmentalität, die ihm in den Volksbewegungen zustatten kam, etwa im Kulturkampf und in der Arbeiterbewegung in Deutschland sowie im katholischen Bildungs- und Vereinswesen. Uberall wirkten Elemente einer Disziplinierung, die im diametralen Gegensatz zum Zeitgeist stand und nicht durch die ideologischen Paradigmata der Zeit sich beirren ließ. Sie ging erst nach dem Zweiten Vatikanum verloren. 2. Die drei Etappen des Nationalstaats in Europa Die erste Etappe fiel ins 18. Jahrhundert. England und Frankreich entwickelten sich zu modernen Nationen, bei denen sich von vornherein Territorial- und Nationalgrenzen in etwa deckten. Die entscheidenden Schritte in diese Richtung waren innerstaatliche Revolutionen, die Staat und Gesellschaft in ein konstitutionelles Verhältnis setzten. In England wurde 1689 das Königtum der Verfassung eingeordnet und das königliche „Government" zum Treuhänder (Trustee) der englischen Eigentümergesellschaft, die am politischen Entscheidungsprozeß beteiligt wurde. Der König war Haupt der nationalen Kirche. Erst die Katholikenemanzipation von 1829 liquidierte in England das konfessionelle Zeitalter und öffnete den Weg zur gleichberechtigten Staatsbürgergemeinschaft. In Frankreich erbrachte die Revolution von 1789 einen Verfassungsstaat mit Volkssouveränität. Alle Privilegien entfielen; es gab nur noch Franzosen. In beiden Ländern waren fortan Staatsbürgergemeinschaft und Nation identisch. In allen alten Staaten West- und Nordeuropas kam es zu einer solchen Identität. Aus der Freisetzung der gesellschaftlichen Kräfte artikulierten sich die politischen Entscheidungsprozesse beider Verfassungsstaaten in einem innerpolitischen Dualismus, der seinen Ursprung im Religiösen hatte und die moralische Qualität des freien Gemeinwesens offenlegte. In England waren es die Whigs gegen die Tories, oder die Liberalen gegen die Konservativen, Fortschritt gegen Beharrung, Regierung gegen Opposition, oder der Pazifist Gladstone gegen den Imperialisten Disraeli. Dem entsprachen in Frankreich: katholischer Konservativismus und Klerikalismus gegen atheistischen Liberalismus, autoritärer Bonapartismus gegen anarchistische Freigeisterei, oder auch General Foch gegen Ministerpräsident Clémenceau. Zwei Seelen kämpften stets miteinander, und die Tatsache eines solchen öffentlich ausgetragenen Gegensatzes galt als Artikulation der Freiheit eines echten, voll entwickelten Nationalstaates.
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Die zweite Etappe fiel ins 19. Jahrhundert. Hier entstanden völlig neue Nationalstaaten aus kleineren Herrschaftsgebilden, gegen welche nationale Einheitsbewegungen zum Kampf antraten. Während es in der ersten Etappe um Freiheit und Verfassung ging, war hier die nationale Einheit das Ziel. Dazu genügte nicht eine Revolution, sondern der Krieg war notwendig. In Italien und Deutschland war das so der Fall. Italien war anfangs nicht mehr als ein „geographischer Begriff und Deutschland eine Fürstenanarchie. Hier gab es nicht den westlichen Staatsnationalismus, sondern nur ein Volks- und Kulturbewußtsein, an welchem Herder - vor allem im Hinblick auf osteuropäische Zustände - seine unpolitisch verstandene Idee des Volkes und seiner Sprache bzw. der Völker und ihrer Stimmen entwickelte. In Mitteleuropa waren beide Länder anerkannte Kulturträger, aber keine „Staatsnationen" wie im Westen. Volkstum und Sprache waren „natürliche" Merkmale einer Zusammengehörigkeit, auf denen nach den Ideen Herders ein Staat am besten aufgebaut werden konnte. In beiden Ländern kam es zu demokratischen Nationalbewegungen, die schließlich in konstitutionelle Monarchien einmündeten, weil nur eine kräftige Monarchie in der Lage war, die nationale Einheit durchzusetzen, auf die es der Bewegung vor allem ankam. Piemont-Savoyen und Preußen waren beide keine Nationalmonarchien, sondern eher Randstaaten, aber sie vollendeten den Nationalstaat. Beide drängten die alten Universalmächte Papst und Kaiser beiseite, sei es hinter die Mauern des Vatikans oder über die neue Reichsgrenze hinaus nach Österreich. Das katholische Potential war in Italien durch das päpstliche Wahlverbot (non expedit) 1874 ins staatspolitische Ghetto gedrückt (bis 1905). In Deutschland verband es sich mit den partikularstaatlichen Kräften und behauptete sich im „Kulturkampf'. Im neuen deutschen Nationalstaat blieben die meisten überlieferten Dynastien bestehen (außer den Augustusbürgern in Schleswig-Holstein, den Weifen in Hannover, dem Haus Brabant in Kassel und den Oraniern in Nassau). Die Grundrechte verblieben bei den Einzelstaaten und erschienen nicht in der Reichsverfassung, die auf einer Vereinbarung der Fürsten beruhte. Die Nationalbewegung in Deutschland war also „von oben abgeschnitten" worden (Jacob Burckhardt). Die Führungsmacht Preußen war weniger national und weniger demokratisch legitimiert als andere Länder und als das Reich selbst. Dieser Nationalstaat war voller Ungereimtheiten, aber anerkanntermaßen das unentbehrliche Vehikel eines Modernisierungsprozesses, aus dessen Sachzwängen heraus sich auch das Ganze später über den Zusammenbruch der Monarchie hinaus 1918 retten konnte. Die dritte Etappe fiel ins 19. und 20. Jahrhundert. Sie entfaltete sich auf dem Boden der großen osteuropäischen Reichsbildungen, die weit in die Zeit der Nationalstaaten hineinragen. Das russische, das osmanisch-türkische und das habsburgische Reich waren der Schauplatz von Bewegungen, die aus diesen „Völkergefängnissen" ausbrechen wollten. Jene Bewegungen wollten nicht die Einheit, sondern die Abtrennung von der Herrschaft des Zaren, des Sultans oder des Kaisers. Ihr eigentliches Mittel war nicht die Revolution, nicht der Krieg, sondern der Aufstand
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IV. Geistige und politische Formkräfte des 19. Jahrhunderts
im Namen der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung - mit dem Ziel, ein homogenes Staatsvolk zu schaffen. Die Gleichheit von Herrscher und Regierten war das Ziel, das selbstverständlich Freiheit und Einheit einschloß, allerdings nur in Form der Befreiung und Sezession von einer Fremdherrschaft. Alle ostmitteleuropäischen Staaten sind so entstanden, und wenn die russischen Revolutionäre von 1917 das nationale Selbstbestimmungsrecht bis zum Recht auf Sezession ausdehnten, hielten sie sich an die Tradition dieser dritten Phase. Für diese Nationalstaaten, die durch Herauslösung aus einem größeren Ganzen ihre Selbstbestimmung erreichten, gab es keine Identität mit der alten Staatsbürgergemeinschaft. Hier mußte eine andere Homogenität gesucht werden. Der ethnischsprachliche Nationsbegriff trat in den Vordergrund, und die Sprache war das Vehikel, das über die reine und volle Verwirklichung des Nationalstaates entschied. Ziele waren die Staatssprache und das Staatsvolk, die wie religiöse Anliegen festgehalten wurden. Dieser radikale Ausschließlichkeitsanspruch triumphierte erst 1919. Hier trat die Virulenz eines totalen Nationalismus hervor, dessen Partikularität im grellen Gegensatz zu seinem Anspruch stand. Die dritte Etappe interessiert besonders wegen des Problems von Nationalstaat und Religion, weil hier die Religion den Untergrund für das nationale Dasein lieferte, und weil die Verbindung von osteuropäischer Volksidee und westlicher Nationalidee überhaupt erst über das Vehikel der Religion zustande gebracht worden ist. Hier liegt der Grund dafür, daß es, erstens, der schmalen Führerschicht von Literaten und Bildungsbürgern möglich war, die große Menge ihrer Landsleute für den Nationalgedanken zu erwärmen, und daß sich, zweitens, der Nationalgedanke zum Nationalismus als einer Weltanschauung übersteigerte. Dieser Nationalgedanke brach dort zuerst erfolgreich durch, wo das schwächste Glied der drei europäischen Großreiche Rußland, Österreich und Osmanisches Reich zu verorten war - also im Türkischen Reich. Nicht ohne Grund hatte seit dem Frieden von Kütschük-Kainardschi (1774) Rußland sich zum Schutzherrn der orthodoxen christlichen Untertanen des Sultans aufgespielt, weil hier sich der Hebel anbot, das Reich aufzusprengen. Es gehörte zu der eigenartigen Struktur des Osmanischen Reiches, daß es nicht einfach nach Provinzen oder Verwaltungsbezirken gegliedert war, sondern nach Religion und Sprache. Die nicht-muselmanische Bevölkerung war in „Millets" eingeteilt. Das waren „kirchliche Nationen", die sich nach der Religion unterschieden. Es gab den Griechisch-Orthodoxen Millet, den Nestorianischen Millet, den Römisch-Katholischen Millet oder auch verstreute regionale Millets, wie zum Beispiel den Millet des Abtbischofs von Cetinje (Montenegro). Das lag daran, daß die Gesetze des Korans nur für die Moslems galten, nicht für die Christen. Die Christen durften ihren religiösen Organisationstyp behalten, was wichtig war, weil die Moslems Steuerfreiheit genossen, während die Christen als Ungläubige steuerpflichtig waren. Sie waren deshalb höchstwillkommene Untertanen. Für jeden Millet ernannten die Sultane Patriarchen, die für ihre Gläubigen dem Sultan gegenüber verantwortlich waren. Außerdem hatte jeder Patriarch sein Volk nach dessen Glaube und Sitte zu führen. Die christlichen Ober-
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herren durften zusätzlich eigene Steuern erheben, eigene Kirchen und Schulen errichten und sogar für ihre Anhänger eigene Gerichtsbarkeit ausüben. Aus dieser Mittlerrolle unmittelbar zum Sultan hin erwuchsen bischöfliche Kirchenstaaten, deren Oberhäupter in Stambul residieren mußten. Die nationalen Volkskirchen ermöglichten den Befreiungskampf im 19. Jahrhundert, als zu dem elementaren Anliegen noch die Triebkräfte einer ideellen Bewegung hinzukamen. Dahinter stand seit 1774 bis zum Berliner Kongreß von 1878 stets Rußland mit dem Zaren als „Befreier". Dazu kamen aber seit der Ausdehnung der französischen Grenzen über die Adria bis nach Illyrien die Ideen der Revolution, d. h. von der Freiheit und vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Zuerst erreichten die Serben 1812 im Frieden von Bukarest ihre innere Selbstverwaltung. Dann wurden die Griechen die Wortführer der Befreiungsbewegung und begannen ihre Unabhängigkeitserklärung mit der religiösen Formel: „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit!" am 27. Januar 1822. Genau 100 Jahre später, 1922, begannen die Iren ihre Verfassung ebenfalls mit dieser uralten religiösen Formel: „In Nomine Sanctissimae Trinitatis!" Beide Male bezeugte dies den religiösen Untergrund des Kampfes. Daneben gab es allerdings die „Griechenbegeisterung" der Intellektuellen Europas. In Wirklichkeit aber standen orthodoxe Griechen und Albaner in erster Linie als Religionsgemeinschaft gegen die muselmanischen Türken. Hier auf der Balkanhalbinsel zeigte sich elementar, wie das völkische Prinzip zersetzend auf die alten Herrschafts- und Reichsideen wirkte. Das kam noch krasser darin zum Ausdruck, daß von Anfang an die Bildung des griechischen Nationalstaates bis hin zu seiner völkerrechtlichen Anerkennung im Frieden von Adrianopel 1829 sich mit dem Ausscheiden fremder Volksteile verknüpfte. Die erste ethnische Flurbereinigung tauchte in der Konvention von Janina 1817 auf, die den Transfer der christlichen Bevölkerung von Parga nach Korfu vorsah und 1819 auch durchgeführt wurde - und zwar ohne Ausnahme! Es handelte sich um 3000 Personen. Andere Scheidungen bzw. Zusammenführungen von Volksteilen gab es im Londoner Protokoll von 1827 und dann im Frieden von Adrianopel 1829. Die völkischen Flurbereinigungen waren stets vom Religionsmotiv überdeckt, weil eben in der Türkei Nationalitätenfragen mit Religionsfragen zusammenfielen. Alle türkischen Reichsreformen hatten im übrigen aufsprengende Wirkung, auch die Gleichstellung von Christen und Türken 1839 und 1856. Am Ende der Entwicklung stand die Jungtürkische Revolution 1920/22, mit der die Türken das Osmanische Reich liquidierten und einen modernen Nationalstaat unter dem Ruf „Die Türkei den Türken!" errichteten. Das geschah nach dem Einfall der Griechen in Anatolien 1919. Der nationale „Turanismus" siegte über den Panislamismus, als nach Art. 88 der türkischen Verfassung alle Eingeborenen ohne Rücksicht auf Rasse und Religion Bürger werden konnten. Die Massenaustreibung der Griechen aus Kleinasien verschaffte dem neuen Nationalstaat erst die erforderliche Homogenität. 22 K l u x e n
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Der nationale Radikalismus auf dem Balkan mit Massenfluchten, Massakern, Genozid, Bevölkerungsverschiebungen war einmal veranlaßt durch die rücksichtslose Bevölkerungspolitik der Russen, die fast das Ausmaß der späteren sowjetischen Politik erreichte, dann aus dem elementaren Lebenskampf der Randvölker, vor allem aber aus der Verbindung des Volkstums mit der Religion. Man wollte eine homogene Volksgemeinschaft gleicher Mentalität. Im Völkerrecht handelte es sich zu Anfang immer um den Schutz der Religion. In den Artikeln 23 bis 25 des Vertrags von Paris (1856) wurde den Westmächten der Schutz der christlichen Balkanvölker anvertraut, und der Vertrag von Berlin 1878 enthielt bereits religiösnationale Minderheitsklauseln. Geschichtlich entstand der völkische Minderheitenschutz aus dem religiösen Minderheitenschutz. Die völkerrechtliche Lösung der Minderheitenfrage widersprach indessen völlig der Nationalstaatsidee, da sie die nationale Souveränität erheblich einschränkte und Sanktionen zur Folge haben konnte. Hier entwickelte sich ein ständiger Konfliktstoff, der zur bisher größten Austreibungsaktion von 1920 (Friede von Lausanne 1923) führte. Die türkische Repatriierungspolitik oder Demographiepolitik zog den Schlußstrich unter die Entwicklung seit 1774. Die Katastrophe von Gesamteuropa 1945 wurde gewissermaßen in nuce auf dem Balkan vorgespielt. Was hier im kleinen sich vollzog, fand im großen seine Entsprechung, weil in Europa großen Völkern im Zeitalter des Nationalstaates ihre Selbstbestimmung verweigert wurde, und weil sie ihre Identität nur durch die Religion bewahren konnten. Die Verweigerung ihrer Selbstbestimmung war zugleich die Verweigerung ihrer Religion. Ihre Religion wurde für derart unterdrückte Völker das Fanal der Freiheit und der nationalen Würde. Hier handelte es sich vor allem um Irland und Polen. Die Iren wanderten in Massen aus und schickten ihre Finanzmittel zurück in die Heimat zum Kampf gegen England. Nationaler Kampf und religiöser Krieg waren für sie identisch. Desgleichen wanderten viele Polen in die Nachbarländer aus und waren dort ein umherziehendes revolutionäres Potential, 1830, 1848 und 1864. Sie behaupteten sich gegen die russische Orthodoxie und den preußischen Protestantismus, die sich gegen Polen verbündet hatten. Die Religion erwies sich als eine Macht, die so stark erschien wie die der Sprache. In Irland war sie sogar weit stärker als die Sprache, die hier erst künstlich wiedererweckt werden mußte. Ähnlich war es vorher in Griechenland gewesen. Aus all dem ergibt sich, daß der konstitutionelle Nationalismus Westeuropas sich in den Randzonen nicht durchsetzen konnte. Hier waren Religion und Volkstum die bewahrenden Kräfte für die Identität dieser Nationen. Gerade sie sprengten das Mächtespiel des alten Europa und konstituierten jenen sanitären Gürtel in Ostmitteleuropa, der in Wirklichkeit ein riesiges Machtvakuum war und den Nationalstaatsgedanken ad absurdum führte, insofern er nicht einem Modernisierungsprozeß diente, sondern einer entwicklungsfeindlichen Schottenbildung, die zu einer barbarischen Macht- und Liquidierungspolitik geradezu einlud.
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Dagegen hatte die Form des Nationalstaates in der Mittelzone Europas Mischformen hervorgebracht, die erträglich waren und den Ersten Weltkrieg überstanden. Mit der Entscheidung Deutschlands für einen homogenen Nationalstaat nach dem Lebensgesetz des Balkans verspielte es schon im 19. Jahrhundert seine Vermittlerfunktion, und damit seinen Führungsanspruch, der ihm aus der Mittellage von selbst und notwendig zufallen mußte.
3. Die beiden Sonderfälle: Italien und Deutschland Jene drei Etappen der Nationalstaatsbewegung sind keine völlig getrennten Vorgänge, obgleich die Übereinstimmung der geographischen West-Ost-Wanderung mit der chronologischen Folge bemerkenswert ist. In Wirklichkeit nehmen aber die meisten Nationalbewegungen an mehreren Phasen teil. Die erste Phase, beginnend mit der Französischen Revolution, beeinflußt bereits die Nationalbewegung in Italien und führt erstmals den Begriff „Italien" ein, der sich seitdem gehalten hat. Die zweite Phase des nationalen Zusammenschlusses vollzog sich in Italien von 1859 bis 1870. An der dritten, sezessionistischen Phase nahm dann Italien in seiner Irredenta- Politik gegen Österreich und die Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie teil. Vom Feldzug Napoleons in Oberitalien 1796/97 bis zu den Pariser Vorortverträgen von 1919 reichen die drei Etappen im Werden des italienischen Nationalstaates, wodurch sich stärker als anderswo hier die ununterbrochene liberale Tradition der italienischen Politik bemerkbar macht, was auf die erste Phase hinweist. Es folgen die unitarischen Züge, die aus der Phase der Einheitsbewegung des „Risorgimento" kommen, und schließlich die Vereinigungspolitik der „Italianità" oder „Italia irredenta", die eine völkisch-kulturelle Sammlungspolitik im Sinne der dritten Etappe betreibt. Der neue Nationalstaat, das Königreich Italien, kam 1870 zustande und war durch die „römische Frage" belastet. Der Papst in Rom konnte sich der nationalen Bewegung gegenüber nur mit Hilfe des Zweiten französischen Kaisertums behaupten, dessen Untergang am 2. September 1870 bei Sedan den italienischen Regierungstruppen den Weg nach Rom freigab. Das „Garantiegesetz" vom 13. März 1871 sollte das neue Verhältnis zum Papst regeln. Es sicherte ihm volle und freie Ausübung seiner geistlichen Herrschaft zu, ferner die freie Verfügung über den Vatikan, den Lateran und die Sommerresidenz Castel Gandolfo, außerdem eine jährliche Zivilliste von 3,25 Millionen Lire. Dieses anzunehmen war dem Papst unmöglich, weil er sich damit formell in die Abhängigkeit eines einzelnen Nationalstaates begeben hätte. Pius IX. sah nicht, daß die Entlastung vom Kirchenstaat dem Papsttum eine Chance vor der Welt bot. Statt dessen zog er sich als „Gefangener des Vatikans" in den permanenten Protest zurück, so daß die „römische Frage" ungelöst blieb und das inneritalienische Leben über Jahrzehnte hinweg belastete. Ohnehin stand hier die parlamentarische Herrschaft auf recht schmaler Basis. Das Gesetz von 1882 erweiterte die Zahl der Wahlberechtigten von einer halben 22*
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Million (1848) auf drei Millionen durch Senkung der Steuerquote von 40 auf 19 Lire, des Mindestalters von 25 auf 21 Jahre und der Bildungsgrundlage für Ausübung des Wahlrechts auf zwei Volksschulklassen. Erst das Wahlgesetz von 1912 führte das nahezu allgemeine männliche Stimmrecht ein und erhöhte die Zahl der Wahlberechtigten auf 8 Millionen. Zur politischen Gleichgültigkeit weiter Kreise kam noch das Wahlverbot für Katholiken in der Weisung „Non expedit" von 1874. Damit schied der bewußte Katholizismus aus der obersten Volksvertretung aus; die Wahlen zu den kommunalen Verwaltungskörpern wurden von dem Verbot indessen nicht betroffen. - Gewöhnlich gingen bis zu zwei Dritteln der Wahlberechtigten nicht zu den Urnen. Dadurch kam es, daß Abgeordnete, die einen Wahlkreis von 50000 Stimmen vertraten, in Wirklichkeit nur von einigen hundert Stimmen ins Parlament geschickt wurden. Hier hatte infolgedessen die liberale Linke die Oberhand, die sich mit der gemäßigteren Gegenpartei auf einer farblosen mittleren Linie des „Trasformismo" traf, so daß keine ernsthafte Opposition der autoritären Regierung gegenüberstand. Die beiden Parteien im Parlament waren monarchisch ausgerichtet und gingen gegen internationale und republikanische Bewegungen mit Zwangsmaßnahmen vor. Die liberale Linke schaffte den religiösen Eid vor Gericht ab, Schloß die Theologischen Fakultäten an den Universitäten, erklärte den Religionsunterricht an der Volksschule zum Wahlfach, führte die Zivilehe ein und schlug überhaupt eine antikirchliche Richtung ein, obgleich bereits die Kirchengesetze (Siccardi) von 1850 Einschränkung der Feiertage, staatliche Genehmigung von Testamenten an die Kirche, Abschaffung des kirchlichen Asylrechts und des Forum Ecclesiasticum verfügt hatten. Auch die politische Rechte in Italien hielt am staatlichen „Exequatur" für die Besitzergreifung der weltlichen Güter beim Amtsantritt der Bischöfe fest. Etwa 30 Bischöfe, die sich dieser Vorschrift nicht fügen wollten, wurden vertrieben. Auch erklärte man alle Klöster der betrachtenden Orden für aufgehoben (1855), führte dieses Gesetz allerdings nur sehr lückenhaft durch. Der Papst sprach 1855 über die Urheber des Gesetzes die Exkommunikation aus. Italien mündete in der Zeit von 1870 bis 1914 in die allgemeine, nivellierende europäische Gesamtentwicklung ein. Die meisten Republikaner unter Mazzini versöhnten sich mit der Monarchie, die zur nationalen Einheit unentbehrlich schien. Indessen kam es nie zu einem eigentlichen Kulturkampf trotz der uneinsichtigen Intransigenz kurialer Kreise. Das Land behielt seinen einheitlich katholischen Charakter. Bei offiziellem Kriegszustand herrschte in Wirklichkeit ein erträglicher, fast freundlicher Modus vivendi. Pius X. gab 1905 den Katholiken die Wahlen zum Parlament frei, ohne daß eine katholische Partei gegründet wurde. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 schlug der nationalstaatliche Gedanke dort in einer Weise durch, daß der Partikularismus in den Hintergrund geriet. Das lag daran, daß die preußische partikularstaatliche Bewegung der stärkste Gegner der gleichlaufenden Bewegungen in Hannover, Kurhessen und Bayern war,
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die sich mit dem Reich abfanden, aber nicht mit Preußen. Sie wären aus eigener Kraft nicht zum Zuge gekommen, wenn sie nicht Anschluß an eine geistige Macht gefunden hätten, die Trägerin eines universalen Widerstandes gegen die Zeitideen von Liberalismus und Nationalismus war, nämlich den Katholizismus, der den Verlust des universaleuropäischen Erbes und den Ausschluß Österreichs beklagte und gegen den neuen Machtstaat stand. Durch ihn wurde der Partikularismus eine nationale Kraft mit einer katholisch-großdeutschen Publizistik, darunter Edmund Jörg, Constantin Frantz, Onno Klopp, Heinrich von Gagern, Freiherr von Beust, die vielfach nach Österreich gingen. Der Kulturkampf war so gesehen die unmittelbare Folge der vorhergehenden Auseinandersetzungen der Nationalgeschichte. Die großdeutsch-katholischen Gegner Preußens traten mit übernationalen Reichsideen dem Nationalstaat gegenüber. An die Zentrums-Opposition, die eigentlich keine Opposition war, insofern sie nie die Regierung ablösen konnte oder wollte, schlossen sich die sprachlich-ethnischen Nationalitäten an, wie etwa die preußischen Polen, die Weifenpartei, die Elsaß-Lothringer, auch die Dänenminderheit in Nordschleswig, die nach Art. 5 des Friedens von Prag 1866 sich mit Dänemark durch freie Abstimmung wieder vereinigen durfte. Masuren und Litauer in Preußen dachten indessen nationalstaatlich; Preußen selbst bemühte sich, die ethnisch-sprachlichen Differenzen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Bismarck stand distanziert dem Nationalstaat gegenüber, er dachte nicht daran, auf die preußische Staatsnationalität zu verzichten und wollte vom liberalen Nationalstaatsdenken nichts wissen, das den Nationalstaat nicht als Ausgleichsmacht ansah, sondern als den Schöpfer einer einheitlichen Nation. Die Nationalliberalen strebten eine deutsche Nationalkirche an, während die Fortschrittspartei die völlige Trennung von Staat und Kirche betrieb. Der liberale Kampf gegen Nationalitäten und für Germanisierung war Bismarck zuwider. Der neudeutsche Reichsnationalismus auf kleindeutsch-protestantischer Grundlage fürchtete sogar einen etwaigen Zuwachs von 15 Millionen Katholiken aus Österreich. Die Kehrseite dieser großdeutschen Abstinenz war jene Politik der „Nibelungentreue", die freilich auch angesichts der Vereinsamung des Reiches letzter Ausweg war. Im Deutschen Reich war die Religion nach Abebben des Kulturkampfes keine Streitfrage mehr, wenn auch der evangelische Vorrang in Militär und Verwaltung, in Industrie und Handel unübersehbar war. Aber die Gegner der katholischen Kirche waren nicht die Monarchie und auch nicht das evangelische Pfarrhaus, selbst nicht die militärischen Institutionen, sondern der Liberalismus und das liberale Großbürgertum des Handels, der Industrie und der Bildung. Sie waren die Nutznießer des nationalen Modernisierungsprozesses, der die Expansion nach außen forcierte und dafür mit der Verkümmerung des Binnenmarktes bezahlte. Sie legten die Welt und den wirtschaftlichen Wettbewerb neo-darwinistisch aus, als Lebenskampf, wie der Sozialismus es auch tat. Der Vorzug des Reiches war, daß es nur ein begrenzter Nationalstaat war. Dem verdankte es seine Erhaltung nach 1919, als ausgerechnet die vermeintlichen Gegenkräfte des Zentrums und der Sozialdemokratie die Einheit des Reiches an erste Stelle setzten und retteten.
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4. Schlußbetrachtung Heute gibt es Staatskirchentum und Staatsreligion nur noch in winzigen Restbeständen, die sich wie ein Kuriositätenkabinett ausnehmen und nur noch den nächsten Umkreis der Krone betreffen. In England muß der König ebenso wie sein Lordkanzler als „Keeper of the Kings Conscience" Mitglied der Anglikanischen Kirche sein. In den Niederlanden muß die Königin dem Reformierten Bekenntnis angehören, und in Schweden darf nur Kirchenminister werden, wer auch Mitglied der „Reichskirche" ist. Es gibt formell auch keine Nationalkirchen in dem Sinne mehr, daß sie Voraussetzung für die vollen Staatsbürgerrechte wären, wenn man die Moslem-Regime außerhalb Europas oder auch Israel und den Vatikanstaat unberücksichtigt läßt. In England ist heute sogar die Anglikanische Kirche nonkonformistisch, also in den „Dissent" geraten, insofern ihr revidiertes Common Prayer Book 1929 vom Unterhaus abgelehnt worden ist, trotzdem aber vom Episkopat verbindlich eingeführt wurde. Damit hat die Anglikanische Kirche faktisch die bisherige Aufsichtsratfunktion des Unterhauses in den Wind geschlagen. Ein eigenes Kapitel wäre die Geschichte des Judentums im Nationalstaat, das fast überall seine Emanzipation erreichte, die erst möglich wurde, als der Staat sich säkularisierte, liberalisierte und im westeuropäischen Sinne nationalisierte. Nicht aber war es so im „völkischen Nationalismus" der Balkanvölker, bei denen Religon und Nationalgefühl untrennbar verbunden waren, weil über die Religion das Nationalbewußtsein erst entstehen oder bewahrt werden konnte. Darin lag die Virulenz dieser Form von Nationalismus. Der „Zionismus" indessen ist jüdischer Nationalismus, der als Sonderphänomen einer denkbaren vierten Etappe des Nationalstaates angehört, insofern hier die Religionszugehörigkeit unmittelbar konstituierend für den Staat war, das Volk selbst aber in der Zerstreuung lebte. Der Zionismus will eine partikulare Lösung, die der messianischen Sendung des Juden. turns nicht entspricht. Israel soll Volk unter Völkern sein, was seiner Einzigartigkeit und Einmaligkeit nicht gerecht wird, aber eine elementare Lebens- und Überlebensnotwendigkeit ist. Die daraus entspringende qualvolle Spannung ist der Preis für ein Sendungsbewußtsein, dessen einzigartige Integrationskraft als Zeugnis seiner Wahrheit gilt und sich gegen die feindliche Wirklichkeit behauptet. Im nachhinein stellt sich demgegenüber in bezug auf die katholische Kirche die Frage, ob deren Rückzug aus der Zeit ein weitschauender Entschluß gewesen ist, ob nicht Cavours letztes Wort auf dem Sterbebett: „Freie Kirche in einem freien Staat!" ein glücklicheres Programm erbracht hätte, oder ob Jacob Burckhardts Wunsch, die Kirchen sollten im offenen Meer schwimmen lernen und „wieder Elemente und Belege der Freiheit sein", nicht größere Chancen geboten hätte. Andererseits schuf sich die Kirche eine Rüstung, deren Stabilität dem öffentlichen Katholizismus einen hilfreichen Rückhalt bot. Eine eigentümliche Art von Subkultur in Verbänden, Vereinen, Kongregationen, Berufsgruppen und Altersgruppen, in Spiel-, Sport-, Gesang- und Wandergruppen entwickelte sich, wobei in Sozialfürsorge, Erziehungswesen, Publizistik und Literatur eigenständige Lebens-
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und Aktionsbereiche des kirchlichen Lebens entstanden. Die Kirche zog sich erst mit dem Reichskonkordat von 1933 aus dieser Öffentlichkeitsarbeit zurück, die ohnehin ihre eigentliche Hierarchie fast überwucherte. Sie schränkte sich entsprechend diesem Konkordat mehr auf die kirchlichen und karitativen Tätigkeiten ein. Der große Vorteil des „Anti-Modernismus" lag darin, daß die römisch-katholische Kirche sich seit Pius IX. nicht durch den „Zeitgeist" irritieren ließ, weder durch den kirchenfeindlichen Liberalismus noch durch den nicht weniger kirchenfeindlichen Nationalismus. Sie war und blieb das Störmoment im Modernisierungs- und Ideologisierungsprozeß und kam aus der Defensive nur selten heraus. Erst das Versagen von Liberalismus und Nationalismus sowie der Untergang des Nationalsozialismus gaben ihr neue Chancen, die sie indessen nicht recht zu nutzen wußte. Heute, nach dem Zweiten Vatikanum, hat sich die Kirche dem „Modernismus" allzu bereitwillig geöffnet und erfahren müssen, auf welches Glatteis sie sich begeben hat. Heute scheint sich jener wasserdichte Abschluß gegen den Modernismus verhängnisvoll in Form einer Instinktlosigkeit und Leichtfertigkeit auszuwirken, die in einem „vorauseilenden Gehorsam" alles über Bord werfen, was dem schlichten Gläubigen als Hort und Heimat erschienen war. Dieses barbarische Schauspiel einer „Verwüstung im Weinberg des Herrn" ist zu einem gigantischen Zerstörungswerk ausgeartet, das die Bastionen der Kirche und die Basis ihrer Öffentlichkeitsarbeit zugrunde gerichtet hat. Die Kirche in Europa hat kaum noch Nachwuchs, obgleich sie gar nicht verfolgt wird. Sie blieb stumm, wo hätte geredet werden müssen. Selbst öffentliche Unsittlichkeit in den Medien und in den Schulbüchern sowie in manchen politischen Äußerungen wurde hingenommen, und nur zaghaft beginnt sich Widerstand zu regen, der dieser Verrottung in Gesellschaft und Staat gegenüber einen „Pfahl ins Fleisch" setzen will. Fast scheint es so, als ob aus jenen Randvölkern wie Irland und Polen, vielleicht auch aus Südamerika, der Kirche wieder Kräfte zufließen, die der Wahrheit der stets gefährdeten menschlichen Existenz besser entsprechen als jenes Gerede, das in den Verrottungszonen des ausgelaugten und moralisch ausgebrannten europäischen Kernbereichs die Parolen des Tages bestimmt.
Prinz Albert - Wegbereiter moderner Kultur- und Sozialpolitik Die Prinz-Albert-Gesellschaft hat sich nach einer fürstlichen Persönlichkeit benannt, die mit gutem Grund als Symbolfigur für eine Epoche genommen werden kann, in welcher Europa unter britischer Ägide die ersten entscheidenden Schritte in die moderne Arbeitswelt und in die Weltwirtschaft getan hat. Prinz Albert von Sachsen Coburg und Gotha (1819-1861), Prinzgemahl der Königin Viktoria von Großbritannien, hat in zwei Jahrzehnten öffentlicher Tätigkeit von 1840 bis 1861 politische, soziale und kulturelle Initiativen entwickelt, die schon auf die Gesellschaft von morgen hin gedacht waren. Er glaubte fest an die Möglichkeit einer Weltverbesserung durch Verrechtlichung der Politik und Modernisierung der Lebensverhältnisse. Er teilte diesen „viktorianischen" Optimismus mit vielen seiner Zeitgenossen und entfaltete dabei eine erstaunliche Tatkraft, die ihm zuerst Vorwürfe und Mißtrauen, zuguterletzt Anerkennung und Bewunderung einbrachte1. Mit Recht hat man ihm bedeutende Denkmäler gesetzt und nach seinem Namen, mehr als sonst üblich, Straßen, Plätze und Kanäle benannt. Außerdem tragen zwei afrikanische Binnenmeere den Namen von Viktoria und Albert. Es gibt den „Albert-Nil" (den Unterlauf des Weißen Nils) und den „Albert-Nationalpark", ferner „Alberta" (eine der westlichen Provinzen Canadas), dann die „Albert-Bridge" und das „Albert Memorial" in London sowie die „Royal Albert Hall" und das „Albert and Victoria Museum" für angewandte Künste. Dies war kein Zufall, sondern dadurch bedingt, daß Albert aufgrund seiner Interessen, seiner Bildung und seiner Begabung zum energischen Förderer von Kunst, Wissenschaft und Technik wurde 2. Am Hofe von Weimar und auch in Preußen hatte er gesehen, was eine solche Förderung von Staats wegen bedeutete. Er wußte um die menschenbewegende Kraft von Musik und Kunst, insbesondere der Bau1 Allgemeine Literatur: Asa Briggs, The Age of Improvement. London 1959, 2. Aufl., 1960; G. Kitson Clark, The Making of Victorian England. London 1962; W. L. Bum, The Age of Equipoise. London 1964 (gut dokumentierter Überblick). 2 Zu Albert: C. Grey, The Early Years of the Prince Consort. London 1867; Roger Fulford, The Prince Consort. London 1949; Frank Eyck, Prinzgemahl Albert von England. ErlenbachZürich und Stuttgart 1961; G. Gillespie, Prinzgemahl Albert - ein Überblick, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 1971, S. 18 ff.; Cecil Woodbam Smith, Queen Victoria. Her Life and Times, Bd. I (1819-1861). London 1972; Quellen: Sir Theodore Martin (Hrsg.), The Life and Letters of the Prince Consort. 5 Bde., London 1877-1881; Prince Albert, Principal Speeches and Addresses (eingeleitet von Sir Arthur Helps). London 1862; C.F. v. Stockmar, Memoiren. Braunschweig 1872; Ernst II. von Sachsen Coburg und Gotha, Aus meinem Leben und aus meiner Zeit, Bd. I, Berlin 1883; Letters of Queen Victoria, 1st Series, London 1907.
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kunst. An diesen Form gewordenen Zeichen der Kultur sollte nach ihm die Nation ihrer verpflichtenden Lebensgüter innewerden und sich selbst wiedererkennen. In England gab es zwar große Erfindungen und Fortschritte, aber keine genügende Hilfe der öffentlichen Hand, vielmehr erlebte man allzu häufig „a brillant start and a disappointing followthrough." Hier entdeckte Prinz Albert seine Berufung. Wo er vermeintlich auf ein Abstellgleis gestellt war, fand er in Wahrheit eine königliche Aufgabe. Er drängte auf offizielle Förderung von Kunst und Wissenschaft, zumal dies seinen musischen und künstlerischen Neigungen und seiner technisch-administrativen Begabung entsprach. Schon 1841 übernahm er den Vorsitz in der Kommission zur Förderung der Bildenden Künste, wo er auch mit dem Neubau des Parlamentsgebäudes zu tun hatte. Er baute ferner aus eigener Initiative die Schlösser in Osborne auf der Insel Wight und in Balmoral (Schottland), ersteres im italienischen Mischstil und das zweite in einem neugotischen Tudorstil, der von ihm selbst in Erinnerung an Coburger Bauten ausgedacht war, ähnlich wie sein Enkel Kaiser Wilhelm II. einen „Staufischen Stil" erfinden sollte - nach dem Vorbild der Spätromanik (Bonner Münster) und mit glücklichen klassizistischen Vereinfachungen (Kaiser-WilhelmGedächtniskirche in Berlin; Hohenzollernbrücke in Köln). Schon 1840 malte der berühmte Turner Schloß Rosenau, ohne daß das Bild angekauft wurde, weil die Times es als „Eier mit Spinat und Salatöl" verspottet hatte. Albert ließ einen Gesamtkatalog der Werke von Raffael anfertigen, und zwar - bezeichnend für seine Aufgeschlossenheit - erstmals unter Verwendung der Photographie als neuer Errungenschaft im Druckwesen. Sein größtes und spektakulärstes Unternehmen war indessen die Vorbereitung der Weltausstellung von 1851, der ersten Weltausstellung überhaupt, die sich Industrieausstellung aller Völker nannte3. Albert übernahm 1849 den Vorsitz im Vorbereitungskomitee, ein Jahr nach den englischen Arbeiteraufständen von 1848, bei denen er persönlichen Mut und Uberzeugungskraft bewiesen hatte. Diese Londoner Ausstellung sollte nach der Auffassung Alberts Zeugnis geben für die Fruchtbarkeit friedlichen Zusammenwirkens aller Schichten und aller Weltgegenden, eine Demonstration des optimistischen Glaubens an die wohltätige Verbindung von Kunst, Technik und Wissenschaft mit dem Wohlergehen der Völker. Zugleich sollte sie natürlich auch eine Selbstdarstellung des mächtigen Großbritannien sein, unter dessen Führung Freiheit und Friede der Meere gesichert schienen. Hier verbanden sich Freihandelsidee, Friedensidee, christliche Missionsidee und anglo-amerikanischer Zivilisationsgedanke zu einem glanzvollen Schauspiel, mit welchem die eigentliche „Weltwirtschaft" begann, von der bis dahin noch nicht gesprochen werden konnte. 3
Zur Weltausstellung von 1851 in London: Centenary Official Catalogue, London 1951 (beste Quelle); The Commemorative Album, London 1950; Yvonne French , The Great Exhibition. London 1951; Sir Llewellyn Woodward, 1851 and the Visibility of Progress, in: Ders., Ideas and Beliefs of the Victorians. London 1950.
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Die großartige Schau von 1851 kam naturgemäß den britischen Fabrikanten zugute und steigerte ihren Absatz in der ganzen Welt. Das damals noch unbestrittene britische Exportmonopol für Kohle dehnte sich danach auf sämtliche Bunkerhäfen der ganzen Welt aus, so daß die junge Dampfschiffahrt auf den Weltmeeren von englischer Kohle abhängig war. Ahnliches galt bald auch für das telegraphische Nachrichtenwesen über die Weltmeere hinweg. Das gab Britannien einen ungeheuren Vorsprung. 1851 erfolgte eine prinzipielle Umstrukturierung der Wirtschaft zur Weltwirtschaft 4, die vorerst englisch dominiert war, bis nach zwei Jahrzehnten amerikanische, französische und schließlich deutsche Konkurrenz sich anmeldete und imperialistische Gesichtspunkte die liberale Ära ablösten. Für Albert und seine Zeitgenossen stand dahinter noch ein Glaube an den Segen des Freihandels, der die Menschen näher zueinander bringen würde und Friede, Reichtum und Wohlfahrt der ganzen Erde bescheren sollte. Für manche, wie den Freihändler Richard Cobden, war dies ein Glaubensartikel, und der Freihandel war für ihn „Gottes Diplomatie"; für ihn gab es „keinen anderen und sichereren Weg, die Völker in Friedensbanden zu einigen" (1860 an Kaiser Napoleon III.). Gewaltiger baulicher Mittelpunkt der Ausstellung sollte der große Glaspalast im Hydepark werden, ein Tempel des Friedens und des Fleißes, aus Glas und Eisen. Unter dem Hohn der Presse und dem Widerstand im Parlament ließ Albert den Entwurf des Treibhausingenieurs Sir Joseph Paxton ausführen 5, obgleich alle dagegen waren: Die Ingenieure behaupteten, die Galerien brächen zusammen; die Statiker, der Palast würde bei starkem Wind zusammenfallen; die Ärzte befürchteten ansteckende Krankheiten bei den aus aller Welt herbeiströmenden Volksmassen; die Volkswirtschaftler wiesen auf die zu erwartenden Ernährungsengpässe und Verkehrsschwierigkeiten hin; die Moralisten kündigten die Strafe Gottes an, und die Theologen warnten vor einem zweiten Turmbau von Babel. - In der Tat war der Glastempel ein Symbol der neuen Weltära und der britischen Weltmacht. Er war die früheste, von rein funktionalen Gesichtspunkten her konzipierte Architektur aus Glas und Eisen6. 4
Zur Umstrukturierung der Wirtschaft auf Weltwirtschaft: G.M. Young (Hrsg.), Early Victorian England. 2 Bde. London 1934; ders., Victorian England. Portrait of an Age, London 1936, Neuausgabe 1960; W.W. Rostow, British Economy of the Nineteenth Century. Oxford 1948; S.G. Checkland, The Rise of Industrial Society in England. 1815-1885, London 1964; W.E. Houghton, The Victorian Frame of Mind. 1830-1870, London 1957. 5 Vgl. über Sir Joseph Paxton (1801-1865) DNB XV, 548; über ihn als „the complete man of the Victorian Age" Asa Briggs, Victorian People. London 1954, Neuausgabe 1980, S. 43 ff., 119-120. 6 Ebd. S. 44/45. Hier auch das Lob Disraelis auf den Palast und auf Prinz Albert: „that enchanted pile which the sagacious taste and the prescient philanthropy of an accomplished and enlightened Prince have raised for the glory of England and the delight and instruction of two hemispheres". - Vgl. Chr. Hobhouse, 1851 and the Crystal Palace. London 1937; C.R. Fay, Palace of Industry (1851). Cambridge 1951. - Dieser Kristallpalast bestand aus Glas
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Trotz aller Unkenrufe wurde das Unternehmen ein Triumph für Albert. Am 1. Mai 1851 wurde die Ausstellung eröffnet. Es kamen sechs Millionen Besucher damals eine unvorstellbare Zahl; und was das Unerwartete war: am Schluß hatte man einen Überschuß von 180000 Pfund Sterling erzielt. Als dieser „KristallPalast" 1936 durch Brand zerstört wurde, war dieses von tiefem Symbolgehalt, insofern die Ära der liberalen Weltbeglückung endgültig dahingegangen war. Diesem großen Erfolg könnten noch andere Tätigkeiten Alberts angefügt werden, etwa seine Funktion als Kanzler der Universität Cambridge seit 1848, wo er zum Schrecken der Alma Mater eine lebhafte Aktivität entfaltete und glanzvoll für akademische Freiheit im Sinne der Tradition von Cambridge eintrat; dazu kamen viele Präsidentschaften in Assoziationen und Museen oder bei Konzert- und Kunstereignissen. Hier soll nur noch seine sozialpolitische Tätigkeit hervorgehoben werden, die für England wegweisend und für Europa beispielhaft war. Einmal war sein erstes öffentliches Amt der Vorsitz in der Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei in allen Gegenden der Welt. Dann setzte er sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter, besonders in den Kohlegruben, ein, was ihm die Sympathien von Arbeiterschaft und Mittelstand einbrachte7. Hier stand er in enger Verbindung mit Lord Ashley - Lord Anthony Ashley Cooper, 7. Earl of Shaftesbury, der einen Report über diese elenden Zustände geliefert hatte8. Albert war entsetzt und entschlossen, sich die Mißstände selbst anzusehen9. Er drang darauf, die Stadt Birmingham zu besuchen, obgleich PrimeMinister und Innenminister abrieten, zumal der Bürgermeister dort ein Chartist sei. Alberts Besuch wurde ein großer Erfolg. Fast die ganze Stadt (280000 Einwohner!) schien sich eingefunden zu haben, und alle Straßen waren verstopft. Eine Welle von Humor, guter Laune und Loyalität schlug ihm hier entgegen (1843). Der Bürgermeister behauptete ihm gegenüber sogar, „er bürge für die ergebene Loyalität der Gesamtheit der Chartisten; die Königin hätte keine loyaleren Untertanen in allen ihren Ländern" 10 . Anschließend besichtigte Albert Glashütten, Papiermühlen und Kanonenfabriken. Als er 1845 in Coburg und auf Schloß Rosenau weilte, um hier mit Viktoria seinen Geburtstag (26. 8.) zu feiern, versäumte er auf der Heimreise nicht, eine und Eisen; eine Million Quadratfuß Glas waren in das eiserne Gerüst eingesetzt, dessen Eisenteile auswechselbar waren. Er war 1848 Fuß lang, 408 Fuß breit, 66 Fuß hoch, bei 108 Fuß hohen Querschiffen, wobei 3300 Säulen und 2300 Trägergurte das Dach trugen. Er wurde 1853/54 nach Sydenham, einem Vorort Londons verlegt und brannte 1936 ab. 7 Zur Sozialpolitik der Zeit vgl. D. Roberts, Victorian Origins of the British Welfare State. London. 2. Aufl., 1969; ders., Paternalism in Early Victorian England. London 1979; K. Inglis, Churches and Working Classes in Victorian England. London 1963. 8 E. Hodder, The Life and Work of the Seventh Earl of Shaftesbury. 3 Bde., London 1886; E.B. Blackburn, Noble Lord. The Life of the Seventh Earl of Shaftesbury. London 1949. 9 Albert an Ashley, 23. 6. 1842, Archiv Windsor M 51.74. 10 Denkschrift von Sir George Anson (Parlamentsmitglied und ,Groom of the Bedchambers to Prince Albert'), Juli 1843, Archiv Windsor Y 55.44.
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Gruppe englischer Arbeiter aufzusuchen, die am Eisenbahnbau von Gotha nach Eisenach beteiligt war. Von Anfang an setzte Albert sich für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein und beteiligte sich zur Behebung des Wohnungselends der Arbeiter am Entwurf und an der Fertigstellung von billigen Wohnhausmodellen. Angesichts der Chartistendemonstrationen in London 1848 (April) polemisierte er gegen die Sparmaßnahmen des Unterhauses: „Dies ist gewiß nicht der richtige Augenblick, für den Steuerzahler auf Kosten der Arbeiterklasse zu sparen, und obwohl ich nicht den Wunsch habe, daß unsere Regierung dem System von Louis Blanc einer organisation du travail' folgt, so denke ich doch, daß die Regierung dazu verpflichtet ist, alles was sie nur kann, zu tun, um der Arbeiterklasse über die Not des Augenblicks hinwegzuhelfen". Dies war die Maxime einer neuen Sozial- und Fürsorgepolitik im Zeitalter eines Liberalismus, für den Sozialpolitik „unwissenschaftlich" war. Gegen den Rat des Prime Minister Lord John Russell11 und auf Drängen von Lord Ashley übernahm Albert sogar noch im April den Vorsitz bei einer Versammlung der „Gesellschaft der Arbeiterfreunde" 12. Er setzte seinen Willen durch und bestand darauf, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Der Prime Minister war beunruhigt und wohnte selbst der Versammlung bei, wo der Prinz sogar präsidierte. Albert war hier nämlich persönlich engagiert, weil auf dieser Versammlung ein Ereignis gefeiert wurde, an dem er selbst regen und führenden Anteil genommen hatte - die Eröffnung des ersten „großen Wohnhausmodells", das für den Serienbau gedacht war („Industrial Design"). Dem folgten später noch die Baupläne Alberts für Arbeiterwohnungen in Battersea, in welchen erstmals Wasserleitungen und Wasserklosetts vorgesehen waren, und später, ebenfalls bei London, der Kasernenbau für die menschliche Unterbringung der Soldaten. Dazu hatte er Syon Clayfair, einen Experten für das öffentliche Gesundheitswesen, in seine Dienste genommen. Wohnung und Arbeitsplatz standen im Mittelpunkt seiner Sozialpolitik 13 . Albert maß also von Anfang an den Beziehungen der Industrie und der Arbeiterklasse zur Krone besondere Bedeutung bei. Die Abschaffung der Kornzölle 1846 und die Aufhebung der Navigationsakte 1851 zugunsten des freien Wettbewerbs kamen im Grunde der Arbeiterschaft zugute, die jetzt erst nach und nach an den Segnungen des Kolonial- und Welthandels partizipieren konnte. Unter dem Eindruck eines solchen umgreifenden britischen Freiheitskonzepts versöhnte sich die industrielle Arbeiterschaft mit der Herrschaftsordnung. Sie wandte sich vom revolutionären Radikalismus der Chartisten ab und fand bei den liberalen Whigs ihre Anliegen vertreten, als sie 1867 ihr Wahlrecht erhielt. Zu dieser Integration des vierten Standes in die Herrschaftsordnung hatte Prinz Albert das Seinige beigetragen. n Albert an Lord Russell, 10. 4. 1848, Archiv Windsor C 56.12. 12 Albert an Lord Russell, 27. 4. 1848, Archiv Windsor C 16.51. 13
Vgl. Nikolaus Pevsner, High Victorian Design. London 1951.
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Er sah das Königtum als überparteiliche soziale Instanz an, die sich des schwächsten Gliedes annehmen mußte. Er hielt außerdem daran fest, daß die Vermittlung zwischen alter und moderner Welt den „historischen Beruf 4 (Léopold I.) des Hauses Coburg ausmachte. Diese Verbindung der alten Monarchie mit dem Fortschritt in Technik, Wissenschaft und Freiheit war genau das, was der große Historiker der Epoche, Thomas Babington Macaulay, als den „viktorianischen Kompromiß" bezeichnet hat. Die Häuser Coburg und Orléans repräsentierten ein konstitutionelles Königtum, das am Vorrang Westeuropas, an liberaler Weitläufigkeit und friedlicher Weltdurchdringung festhielt; Weltwirtschaft und Industrialismus waren für sie gleichbedeutend mit Fortschritt. Das Königtum war Treuhänder des Überlieferten, zugleich aber auch, nach dem Wort von Prinz Albert an seinen künftigen Schwiegersohn Friedrich von Preußen (1855), „Treuhänder der kommenden Generation", also der Vergangenheit und der Zukunft verpflichtet 14. Die Verbindung Alberts mit Sir John Paxton als modernem Architekten, mit Graf Shaftesbury als Sozialpolitiker, mit Syon Clayfair als Fachmann für öffentliche Hygiene und mit Florence Nightingale 15 als Spezialistin für das Sanitäts- und Krankenhauswesen lassen Kühnheit und Weitsicht erkennen. Albert war es, der nach den Worten der Königin Viktoria vom 9. 2. 1858 durch seine Lebensführung und seine Auffassung vom unpersönlichen, überparteilichen und treuhänderischen Königtum das Ansehen der Krone auf „den höchsten Gipfel" gehoben habe16. Es war schon eine große Sache, als Albert und Viktoria mit ihren beiden ältesten Kindern auf der Londoner Weltausstellung 1851 unter dem Gedränge von etwa 25 000 Menschen ohne jede bewaffnete Eskorte umhergingen, so daß sogar das satirische Magazin Punch sich herbeiließ zu schreiben, hier sei ein „Musterbeispiel echter Freiheit und vollkommener Sicherheit als Ergebnis unserer konstitutionellen Monarchie" geliefert worden 17 . Es war deshalb nicht ohne Berechtigung, daß die Engländer ihrem Prinzgemahl in den Jahren 1863 bis 1872 ein pompöses und nach Alberts Geschmack gewiß zu aufwendiges Denkmal im Hydepark errichteten. Er war ein „viktorianischer Held", der wesentlich dazu beigetragen hatte, daß England den antisozialen „Manchester14 Vgl. zum Bündnis Alberts mit Prinz Wilhelm von Preußen: Peter Rassow, Der Konflikt König Friedrich Wilhelms IV mit dem Prinzen von Preußen im Jahre 1854. Eine preußische Staatskrise. Wiesbaden 1961, S. 758, 734 f.; H.R. Fischer-Aue, Die Deutschlandpolitik des Prinzgemahls Albert von England 1848-1852. Coburg/Hannover 1953. 15 Über Florence Nightingale (1820-1910) vgl. Cecil Woodham-Smith, Florence Nightingale. London 1950; Sir Edward Cook, Life of Florence Nightingale. 2 Bde., New York 1913; ders., Delane of the Times. New York 1916; Lytton Strachey, Eminent Victorians. London 1918; allgemein: G.M. Trevelyan, Kultur- und Sozialgeschichte Englands. Hamburg 1948, S. 525 f.; MA. Nutting und L.L. Dock, History of Nursing. New York 1907, Bd. 2, Kap. 3 - 6 . 16 Vgl. insbesondere in Hinsicht auf ,the Influence of the Crown': Gavin Β. Henderson, Crimean War Diplomacy. Glasgow 1947. 17 Asa Briggs, Victorian People (Anm. 5), das Kapitel „The Crystal Palace and the Men of 1851", S. 23-59.
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Liberalismus" überwunden und Anschluß an den Verfassungsliberalismus gefunden hatte. Sein „Coburger Kreis" stellte eine Gesinnungsgemeinschaft dar, gewissermaßen ein fürstliches Jung-Europa , das den Kompromiß zwischen neuer westlicher Liberalität und alter kontinentaler Legitimität erstrebte. Dieses Bestreben blieb indes ebenso Episode wie jenes literarische Jung-Europa, in welchem Heine, Laube, Gutzkow, Börne u. a. einem ähnlichen Kompromiß zwischen westlicher Wissenschaft und deutscher Philosophie das Wort redeten. Als Macaulay 1859 und Albert 1861 starben und kurz danach fast alle Protagonisten seiner Sache ins Grab sanken, überdies die westliche Entente zwischen Frankreich und England zuende ging (1862), läuteten Charles Darwin und Karl Marx 1859 programmatisch eine andere Ära ein, nämlich eine Zeit des Rassenkampfes und des Klassenkampfes, also einer horizontalen und einer vertikalen Revolution und damit ein eisernes, barbarisches Zeitalter. Dies nimmt aber jener Episode des „guten Willens" nicht ihr historisches Recht und auch nicht ihr Gewicht als einer wirklichen Chance, die sich der westlichen Welt bot und gerade für Deutschland zu einer Schicksalsfrage wurde. Wir dürfen mit Recht zurückfragen nach dieser Alternative, die nicht weniger Chancen für sich hatte als das, was später Wirklichkeit geworden ist. Alberts Intentionen haben sich im britischen Raum fortgesetzt, etwa im Übergang des Britischen Empire zum Commonwealth (1926) und innenpolitisch ab 1909, als England mit dem Volksbudget von Lloyd George den Übergang vom Freihandelsstaat zum Wohlfahrtsstaat wagen wollte. Hier sollte die soziale Frage gelöst werden wie damals 1846/1851, aber mit anderen Vorzeichen - damals durch Freisetzung des Handels zugunsten der Konsumenten, jetzt durch Sozialpflichtigkeit der öffentlichen Hand. Als dieser Übergang durch das deutsche Flottenrüsten unmöglich gemacht wurde, verlor der englische Liberalismus seine Verbindung mit der Arbeiterschaft. Dadurch erst kam das Erbe Alberts nicht mehr zum Zuge, also jener viktorianische Kompromiß, der Fortschritt und Beharrung, Freihandel und Sozialfürsorge, die Verpflichtung gegenüber den vergangenen und den kommenden Geschlechtern, gegenüber dem Gestern und dem Morgen gleichzeitig ins Auge faßte. Offenbar hatten die Zeitgenossen ein Gefühl dafür, daß Prinz Albert in seiner Weltoffenheit und Sozialgesinnung befähigt und willens war, den friedlichen Übergang in die moderne industrielle Massengesellschaft zu wagen. Dazu hatte er eine Konzeption. Er war überzeugter Vorkämpfer der westeuropäischen Rechts- und Verfassungsideen. Er suchte das liberal-konstitutionelle Anliegen mit dem Nationalgedanken zu versöhnen und in den Rahmen einer europäischen Gesamtordnung einzubringen. Sein allgemeines Ziel war darauf gerichtet, über die nationalen Grenzen hinweg Rechts- und Sozialverhältnisse zu schaffen, aus denen eine öffentliche Meinung ganz Europas zustande gebracht werden konnte.
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Albert sah im deutsch-englischen Einvernehmen die große Chance für die Erhaltung Europas als Volkerrechts- und Friedensgemeinschaft, aus der heraus eine Solidarität aller Kulturstaaten möglich erschien. Damit verband er die Auffassung, daß der Schritt in die moderne Arbeitswelt und in die industrielle Massengesellschaft von allen Industrienationen gemeinsam getan werden müßte. Seine Initiativen dachten schon an die Gesellschaft von morgen und verfolgten einen bildungspolitischen und sozialpolitischen Modernisierungsprozeß, der Alberts genuiner Beitrag zur Geschichte Großbritanniens im 19. Jahrhundert gewesen ist.
Prinz Albert und Europa Die Epoche von der Julirevolution 1830 bis zum Regierungsantritt Bismarcks 1862 stand im Zeichen eines politischen Liberalismus, dessen Durchsetzung in Europa sich mit einem Namen verknüpft, der als nationales Gütezeichen galt und der britischen Politik einen persönlichen Stempel aufdrückte: Lord Palmerston (1784-1865), seit 1830 über viele Jahre immer wieder Außensekretär und schließlich britischer Premierminister (1855-1858; 1859-1865), genannt „Old Palmy" und „the most English Minister", 1 dessen zweites Kabinett mit Gladstone als Schatzkanzler und Lord John Russell als Außenminister das erste war, das sich mit Fug und Recht als ,liberales Kabinett' bezeichnen durfte. Als Palmerston am 18. Oktober 1865 die Augen schloß, war die britische Weltstellung durch den Sieg der amerikanischen Nordstaaten im Sezessionskrieg (1862-1865), die neue europäische Politik Bismarcks und das Ende der französisch-englischen Entente von 1831 rückläufig geworden. Palmerston betrachtete die Schaffung des Königreichs Belgien 1831 als sein größtes Werk für den europäischen Frieden. Vor seinem Ableben ließ er sich die wichtigsten Artikel des Belgischen Vertrags vorlesen, den er in London am 15. November 1831 mit Talleyrand als französischem Gesandten sowie mit Heinrich von Bülow für Preußen, Esterhazy für Österreich und Lieven für Rußland ausgehandelt hatte, wenn er auch erst mit der Einwilligung der Niederlande am 19. April 1839 zum anerkannten Bestandteil der europäischen Friedensordnung wurde. Die Unabhängigkeit und immerwährende Neutralität Belgiens war die Frucht einer europäischen Einigung. Damit war ein Staat als Friedens- und Freiheitszone anerkannt, der sein Dasein einer nationalen Revolution verdankte und außerdem dem militärischen Zusammenwirken der beiden Westmächte in jener „Entente cordiale", die der alte Talleyrand mit Palmerston zustande gebracht hatte. Palmerstons Verdienst war nicht zu überschätzen, da er als einziger Minister und Chairman der Londoner Konferenz der französischen und belgischen Revolution zu diesem Erfolg verhalf. Der belgische „Musterstaat konstitutioneller Freiheit" war künftig das Herzstück des westlichen Liberalismus, ein Staat, der aufgrund seiner Entstehungsgeschichte das Völkerrecht, also das ,ius publicum europaeum', zu einer nationalen Wissenschaft erhob. Hier im Westen war eine nationale Revolution auf die Ebene einer europäischen Verfassung gehoben worden - ausgerechnet als im Osten die nationale Revolution der Polen zur Sicherung ihrer konstitutionellen Rechte von 1815 scheiterte. Der 1 Donald Southgate, The Most English Minister. The Policies and Politics of Palmerston, London 1966.
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Untergang Polens und die Geburt Belgiens waren spektakuläre Ereignisse, die die Spaltung Europas in einen freien Westteil und einen reaktionären Ostteil offensichtlich machten. Scheidelinie zwischen beiden waren die Elbe und der Böhmerwald. Die Entente England-Frankreich setzte das Siegel unter die West-Ost-Halbierung, wonach im Westen neue liberale Verfassungs- und Rechtsprinzipien an Boden gewannen, während im Osten das Monarchische Prinzip, der Legitimismus und die Heilige Allianz ihren Vorrang behaupteten. Die Vereinbarkeit beider Prinzipien war für die erstrebte deutsche Einheit eine Lebensfrage. Sie war im Grunde das eigentliche Problem des „Coburger Kreises" und der Coburger Politik. Und eben Palmerston war es, der diese Dynastie ins Spiel brachte - und zwar mit einem überraschenden Coup zur Sicherung des jungen belgischen Staates gegen russische und französische Interventionen. Er lancierte die Wahl Léopolds von SachsenCoburg zum ,König der Belgier' (21. Juli 1831) und dessen Heirat mit einer Tochter des Bürgerkönigs Louis Philippe, Louise von Orléans. Der „coburgische Ulysses" (Treitschke) war nämlich die vermittelnde Figur zwischen den Machtinteressen, der den belgischen Staat „vor sicherm Verderben" 2 rettete. Léopold (17901865) war ein Fürstensohn ohne Hausmacht, unter Zar Alexander I. russischer General gegen Napoleon, einstiger Gemahl der im Kindbett gestorbenen englischen Thronerbin Charlotte, zeitweilig griechischer Thronkandidat, überzeugter WhigAnhänger, Freimaurer und präsumptiver Schwiegersohn des „Königs der Franzosen", also in alle denkbaren Konstellationen verknüpft. Mit ihm beginnt eine Familiengeschichte, die doch mehr ist als eine Fußnote der europäischen Geschichte. „Onkel Leopold" gab den Auftakt zu jener Invasion der Coburger auf die Königsthrone, die das kleine Coburg ins Konzert der Großmächte hineinzog. Die machtpolitische Bedeutungslosigkeit des ernestinischen Kleinstaates stand im grellen Gegensatz zu den weitgespannten europäischen Beziehungen, welche die Familie sich planmäßig zu schaffen wußte. Damit trat ein neuer Menschenschlag in die Reihen des europäischen Hochadels, dem es ursprünglich vor allem auf die Unterbringung der zahlreichen Familienmitglieder ankam. Sie hatten keine Truppen hinter sich und bevorzugten Tinte, Feder und Papier oder auch - wie Treitschke boshaft bemerkte - den Kurszettel. Jedenfalls nahmen sie große Gedanken auf, die sich gewissermaßen beiläufig aus den Zeitereignissen ergaben und ihnen mancherlei Chancen boten. Die Coburger taten sich viel darauf zugute, daß ihr klug rechnender Weltsinn der konstitutionellen Freiheit am besten diene und ihr Haus dabei eine historische Aufgabe erfülle, die ihm offensichtlich von der Vorsehung gestellt sei. Sie alle hielten die Verbindung des monarchischen Prinzips mit dem liberal-konstitutionellen Gedankengut für den einzigen Ausweg zur Rettung des europäischen Friedens und ihrer eigenen Existenz. Indessen gab es unter ihnen nur zwei wirkliche politische Talente, nämlich „Onkel Léopold", den König der Belgier, und Prinz Albert, den zweiten Sohn des 2 Heinrich von Treitschke, S. 83. 23 K l u x e n
Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4, Leipzig 1889,
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regierenden Herzogs Ernst I. und Gemahl der Königin Victoria von England. Dazu trat als Mentor und Berater des Hauses Christian Friedrich Freiherr von Stockmar (1787-1863), ein ehemaliger Coburger Arzt, der bereits auf den Londoner Konferenzen von 1830 bis 1831 die Verhandlungen mit den Belgiern für Léopold geführt hatte. Er verkörperte den Typus des liberal-konservativen Politikers der Epoche, nämlich „einen Politiker, der das Staatsleben des modernen Europa als einen bildsamen, durch politische Intelligenz und aufgeklärten Liberalismus zu formenden Stoff ansah. Er diente der Monarchie, aber so, wie sie eben die Coburger repräsentierten: also weniger der alten, historisch festverwurzelten, als einer modernen, gewandt errungenen, die in geschickte Balance mit den übrigen modernen Staatskräften zu bringen war." 3 Seiner Kühnheit und seinem Gedankenreichtum war der Aufstieg der Familie aus ihrer Bedeutungslosigkeit zu europäischer Geltung zu verdanken, wenn er selbst auch seine Kräfte allzu sehr „für die Geschäfte des internationalen Heiratsbureaus" 4 der Coburger verschwenden mußte. Albert aber und seiner Tätigkeit als Prinzgemahl und ständiger Berater der englischen Königin war es zu verdanken, daß diese coburgische Politik das Gewicht einer europäischen Alternative gewann. Solange er lebte, blieb diese politische Alternative im Spiel, die ganz Europa auf liberal-konstitutionellen Fuß setzen wollte. Sein früher Tod am 14. Dezember 1861 war für den westeuropäischen Liberalismus ein empfindlicher Verlust, aber für den deutschen politischen Liberalismus eine Katastrophe. Mit Albert ging diesem die Stütze verloren, die ihn vor nationaler Verengung bewahrt und seine Weitläufigkeit und Integrationskraft gesichert hätte. Im Grunde war der zwanzigjährige Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, als er am 10. Februar 1840 seine Cousine Victoria von England heiratete, ein „Nobody" für die Engländer, die ihre eigenen Erfahrungen mit Ausländern auf ihrem Thron hinter sich hatten und keinen Anlaß fanden, ihn besonders herzlich willkommen zu heißen. Er war nur der zweite Sohn Herzog Emsts I., der am 26. August 1819 in Rosenau bei Coburg zur Welt kam, also fast gleichaltrig mit der Königin war. Außerdem waren die Brüder Ernst und Albert seelisch belastet durch die Auflösung der elterlichen Ehe 1824 und den Tod der Mutter Luise von Gotha 1831 in Paris, sowie auch durch die lockere Lebensweise ihres Vaters. Aber Baron von Stockmar und ,Onkel Léopold4 in Brüssel nahmen beide Prinzen in ihre Schule. Auch der Lehrer Alberts, Christoph Florschütz aus Coburg, war ein Liberaler und ermutigte seine Schüler sogar, Philosophie zu studieren. Die Reisen der Brüder nach Belgien, Italien und England, ihr Jura-Studium in Bonn 1837/38, wo sie Moritz August von Bethmann Hollweg, Vertreter der Historischen Rechtsschule und später preußischer Minister der ,Neuen Ära', sowie die Shakes3 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (Hrsg. Hans Herzfeld), München 1962, S. 314. 4 Treitschke (Anm. 2), Bd. 4, S. 86.
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peare-Vorlesungen des alten August Wilhelm Schlegel hörten, trugen dazu bei, daß Albert bei seiner Heirat den engen Verhältnissen seiner Heimat entwachsen war und seinen frühen Lebensernst mit Weitläufigkeit zu verbinden wußte. Schon 1841 und endgültig 1842 errang Albert eine Vertrauensstellung als politischer Berater der Königin. Unter seinem Einfluß hielt sich die Krone von einer einseitigen Bindung an eine Partei frei und entwickelte mit der Zeit Regeln einer wechselseitigen Information. Indessen blieb es lange umstritten, inwieweit die Krone auf die Regierungspolitik Einfluß nehmen durfte oder gar an politischen Entscheidungen zu beteiligen war. Im langen Konflikt mit Palmerston (1848 — 1851) ging es um die Grenzen der jeweiligen Machtbefugnisse und nicht nur um die wechselseitige Sicherung des Informationsstandes. Victoria und Albert kamen gar nicht auf den Gedanken, daß dabei Loyalitätskonflikte möglich waren, weil sie als praktische Legitimisten ihr Regierungsrecht als naturgegeben ansahen und die ,Bruderschaft der Fürsten4 sowie die Priorität der bestehenden Throne für unantastbar und selbstverständlich ansahen.5 Indessen strapazierte Albert die konstitutionelle Autorität manchmal bis an ihre Grenze, ohne sich dessen voll bewußt zu sein.6 Er wandte sich sogar gegen Palmerstons Privatkorrespondenz mit Kaiser Napoleon III. als „a novel and unconstitutional practice". 7 Er selbst unterhielt indessen ungeniert ein eigenes Informationsnetz mittels der verwandten oder befreundeten Fürstenhöfe, das ihm vielfach sogar einen Informationsvorsprung verschaffte. Die wütende Pressecampagne gegen Albert im Jahre 1854 nahm diese ,Coburger Verschwörung' aufs Korn, womit offenbar der intensive Nachrichtendienst der Coburger angesprochen war, der neben der amtlichen Politik einherlief. Späterhin verlief die Zusammenarbeit zwischen Albert und Palmerston reibungslos.8 Dazu kam, daß die königliche Familie als Musterbeispiel vorbildlicher Lebenshaltung galt. Alberts Vorstellung von fürstlicher Verantwortung der Regierungspolitik gegenüber war sein eigener Beitrag zur Theorie und Praxis der Verfassungsmonarchie. Er wird jedoch erst verständlich, wenn jenes dynastische Instrumentarium mitgesehen wird, das eine eigenständige politische Mit- und Zuarbeit möglich machte. Wie sah dieses anachronistische Instrumentarium aus? Die Mutter des regierenden Herzogs Ernst I. (1806-1844) legte den Grund dazu. Sie schickte auf einen Wink der Zarin Katharina der Großen ihre drei lieblichen Töchter nach Petersburg, wo Großfürst Konstantin, der Bruder des Zaren Alexander I. sich für die jüngste, Julie, entschied.9 Diese friedlose Verbindung mit Julie, die jetzt Großfürstin Anna Feodorowna oder im Familienkreis ,Tante Anna' 5
Vgl. Frank Eyck, Prinzgemahl Albert von England. Erlenbach-Zürich / Stuttgart 1961, S. 256. 6 Vgl. Roger Fulford, The Prince Consort. 1949; W. L. Burn , The Age of Equipoise. 1964. 7 Southgate (Anm. 1), S. 360; Eyck (Anm. 5), S. 285. 8 Southgate (Anm. 1). 9 Treitschke (Anm. 2), Bd. 4, S. 85. 23*
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hieß, bahnte Bruder Leopold den Weg auf den belgischen Thron, und ihre Fürsprache beim Zaren 1807 rettete den Coburger Kleinstaat vor französischer Besetzung. Eine andere Schwester, Maria Luise Victoria, verwitwete Fürstin von Leiningen, heiratete 1818 den Herzog von Kent, den vierten Sohn König Georgs III., der bereits 1820 starb. Aus dieser Ehe ging eine Tochter hervor: Alexandrine Victoria (1819-1901; seit 1837 Königin von England). Die dritte Schwester, Herzogin Sophie von Coburg (1778-1835) heiratete den österreichischen General Emanuel von Mensdorff-Pouilly. Der Sohn Alexander von Mensdorff-Pouilly, von den Coburgern ,Vetter Mensdorff 4 genannt, wurde österreichischer Außenminister (seit 1864) und war als Ehemann der letzten Fürstin von Nikolsburg auch Fürst von Nikolsburg, der vergeblich mit seinen Privatdepeschen König Wilhelm I. von Preußen und Bismarck zu trennen versuchte, aber doch bald darauf als Schloßherr von Nikolsburg 1866 die Versöhnungsstrategie der Coburger, diesmal im Bunde mit Bismarck und dem preußischen Kronprinzen, im preußisch-österreichischen Waffenstillstand zu einem guten Ende führte. Ferdinand, der Bruder Herzog Emsts I., war österreichischer General und heiratete die ungarische Gräfin Antoinette Kohary im Jahre 1816, die von Kaiser Franz auf Bitten von Herzog Emst zur Fürstin erhoben wurde, wobei die Kohary-Güter als coburgisches Fideikommiß und selbständiges ungarisches Fürstentum anerkannt wurden. Der jüngste Bruder von Emst I. war jener Léopold, der zuerst die Tochter König Georgs IV. und englische Thronfolgerin Charlotte heiratete, die jedoch schon 1817 im Kindbett starb. Léopold blieb in England und wurde von dort auf den Thron als König der Belgier erhoben (1831 -1865). Dies gab den Anstoß für eine eindeutige Westorientierung der Coburger, die mit der Heirat des Prinzen Albert mit Victoria am 10. Februar 1840 endgültig war. Ein Sohn von Ferdinand von Coburg-Kohary heiratete Maria da Gloria von Portugal und wurde König von Portugal. Aus einem anderen Zweig Ferdinands gingen später die Könige oder Zaren von Bulgarien hervor. Die Westorientierung kam auch darin zum Ausdruck, daß drei Kinder von König Louis Philippe, nämlich Louise, Clémentine und der Herzog von Nemours (mit einer Tochter Ferdinands), in die coburgische Familie einheirateten, so daß das quasilegitime Bürgerkönigtum von Orléans als gleichberechtigt galt. Der letzte große Coup dieser Heiratspolitik war die eheliche Verbindung des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm mit der Royal Princess Victoria, genannt Vicky, im Jahre 1858, eine Heirat, die von vornherein auf die liberale Konstituierung Preußens zielte. Das Unzeitgemäße an diesen dynastischen Allianzen lag darin, daß sie weder durch religiöse noch nationale Gefühle beunruhigt waren. Bei den Coburgem fanden sich alle großen Denominationen Europas zusammen, wobei Léopold als evangelischer Fürstensohn, russisch-orthodoxer General, anglikanischer Prinzgemahl, griechisch-orthodoxer Thronkandidat und römisch-katholischer König, als Frei-
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maurer und Vertrauensmann von Papst und Klerus alle Möglichkeiten in seiner Person vereinigte. Die Coburger befleißigten sich einer ökumenischen „media via" in religiöser und nationaler Beziehung. Indessen blieb der Hausberater Baron von Stockmar stets deutscher Patriot, ebenso wie Prinz Albert, der unentwegt an einer deutschen Reichsgründung interessiert war. Über den Familienkreis hinaus gab es eine liberale Gesinnungsgemeinschaft, den ,Coburger Kreis 4, zu welchem noch Waldeck, Altenburg, Leiningen, Nassau, aber auch Großherzog Karl Alexander von Weimar, Großherzog Friedrich von Baden, der Erbprinz Friedrich von Augustenburg, Prinz Wilhelm von Preußen, dessen Gattin Auguste von Weimar, dann Wilhelms Schwester Alexandrine, Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin, der preußische Gesandte von Bunsen und viele bedeutende Persönlichkeiten aus der Umgebung der Höfe gehörten. Die lebenslange Korrespondenz der Königin Victoria mit,Onkel Léopold4 oder auch die überaus intensive und eindrucksvolle Korrespondenz von Prinz Albert mit König Friedrich Wilhelm IV. und dessen Bruder Prinz Wilhelm von Preußen war stets politischer Natur und auch als unmittelbare politische Einflußnahme gedacht. Das waren zwar keine eigentlichen diplomatischen Noten, aber auch nicht unverbindliche Wünsche und Meinungsäußerungen, sondern ernstgemeinte Projekte, Memoranden, Konzeptionen und Vorschläge. Sogar Mahnungen und Warnungen von einer erstaunlichen Aufrichtigkeit jenseits aller Diplomatie fanden sich häufig, wobei dieser Kommunikationszusammenhang an sich schon sein eigenes politisches Gewicht hatte. Daran waren auch die Frauen mit Victoria an der Spitze beteiligt; nicht zu vergessen auch zahlreiche Vertrauensleute, Zwischenträger, Agenten und geheime Personen. Dieses unkonstitutionelle, um nicht zu sagen verfassungswidrige Netzwerk war nicht gerade eine politische Notwendigkeit, aber doch im ganzen gesehen ein Segen, weil hier von Mensch zu Mensch zur Geltung kam, was sonst im zwischenstaatlichen Verkehr verloren geht, zumal ein deutliches Niveau an Honorigkeit und Aufrichtigkeit selbstverständlich war. Seit dem Jahre 1846 warb Prinz Albert für eine Politik der europäischen Solidarität. Den Anstoß dazu gab die Annexion der unabhängigen polnischen Republik Krakau durch Österreich im November 1846. Dies geschah im Einverständnis mit Rußland und Preußen, aber ohne Genehmigung der westlichen Signatarmächte von 1815. Sogleich am 11. und 21. Dezember 1846 schrieb Albert besorgte Briefe an König Friedrich Wilhelm IV., 10 die von seiner Denkweise, seiner politischen Programmatik und seinen prognostischen Fähigkeiten eindrucksvolles Zeugnis ablegen. Im ersten Brief heißt es: „Durch den unglücklichen Schritt Österreichs ist die Basis der Verträge erschüttert worden, auf welcher das ganze Friedensgebäude und europäische Gleichgewicht ruht. 44 Im zweiten Brief forderte er sogar den König auf, die Heilige Allianz zu verlassen. Er verwies warnend auf „das Bewußtsein aller Völker Europas44. „Daher muß ich befürchten, daß einem Kampf - zur Verteidigung jener Politik geführt, welche Krakau vernichtete - die kräftigste aller io Archiv Windsor, H, 49.5; H, 49.21.
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Stützen, der ,Glaube der Völker an die gerechte Sache4 fehlen werde; denn in einem solchen Falle werden die Völker sich bewußt sein oder werden, daß sie für politische Maximen kämpfen sollen, die mit der Errungenschaft der heutigen europäischen Zivilisation im grellsten und vernichtendsten Widerspruch stehen, und die Völker werden ihr Herz versagen und der zwingenden Kraft des großen moralischen Gesetzes, das diese Welt regiert, mehr gehorchen als ihren Regierungen. Und dann, gnädigster König, würde der Augenblick gekommen sein, in welchem die deutschen Mächte zu spät bereuen werden, daß sie, in Vergessenheit der größten aller Güter, auf den Segen des Rechts verzichtet und sich allein auf die rohe Macht gestützt haben." Albert warnte eindringlich, daß die flagrante Verletzung einer einzigen Klausel der Wiener Verträge von 1815 das Gesamtwerk in Frage stelle. Dann würde sogar der Rechtsanspruch Preußens auf die Rheinlande nur noch ein de facto-Anspruch sein. Albert war offenbar durch die gleichzeitigen Erbfolge- und Heiratsdispute in Lissabon, Madrid und auch Schleswig-Holstein 1846/1847 aufs äußerste beunruhigt und zog sich hier auf einen Legitimismus zurück, dem die Priorität der Throne maßgebend war. Wenige Monate später kündigte der Sonderbundskrieg in der Schweiz 1847 den Bankrott des Systems Metternich an, der sich in den lombardischen Revolten gegen Osterreich im Januar 1848 fortsetzte und in die Februarrevolution in Paris sowie in die Märzereignisse von Berlin und Wien einmündete. Victoria und Albert standen in Bezug auf Italien zu Osterreich und schämten sich der Politik Palmerstons, der die italienischen Rebellen und König Karl Albert von Sardinien unterstützte, welcher in ihren Augen Verrat an der Bruderschaft der Fürsten geübt hatte. Sie waren gegen General Cavaignac zur Rechten und gegen die französische Republik zur Linken, und auch gegen eine italienische Unabhängigkeit. Palmerston betrieb dagegen eine kaum verhüllte Einmischungspolitik, die ihn als „Troublemaker" und als „Apostel der Revolution" 11 oder - nach den Worten von Fürst Schwarzenberg als „öffentlichen Feind der europäischen Ordnung" erscheinen ließ. Eine solche Politik widerstrebte dem Herrscherpaar. Beide wollten eine Politik „beyond reproach" und beriefen sich auf „the confidence of Europe" oder auch auf eine ideale öffentliche Meinung, die mehr von den Gentlemen am Hofe als von den Gazetten repräsentiert wurde. Für sie beide war moralische Integrität eine Bedingung integrer Politik. Die innere Ausgeglichenheit und Honorigkeit war ihnen Vorbedingung für ausgewogenes Handeln zur Wahrung der europäischen Balance und Contenance. Im Einvernehmen mit den Fürsten und in Übereinstimmung mit den wahren Wünschen des Volkes sahen sie den besten Weg zur Lösung der deutschen und der europäischen Frage - ein Weg, wie er ja dann auch 1870 von Bismarck schließlich beschritten worden ist, nachdem er 1866 freilich eine widerrechtliche Annexionspolitik gegen Hannover, Schleswig-Holstein und Hessen sich geleistet hatte. h Southgate (Anm. 1), S. 191, 250.
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Der „viktorianische Moralismus" der beiden war nur zum Teil Reaktion auf die lockeren Sitten am Hofe Georgs IV. oder auch Emsts II. Er setzte öffentliche Verantwortlichkeit und individuelle Gewissensbindung des Herrschers in eins. Dies ging so weit, daß Albert zeitweilig das Niveau der Politik Palmerstons wegen seiner Privataffären für gefährdet hielt. 12 In Wirklichkeit entsprang dieser Moralismus einer optimistischen Weltvorstellung, die der liberale Bürgersinn sich für seine Daseinsbedürfnisse zurechtgeschneidert hatte. Sie war geradezu das Schwungrad eines Liberalismus, der dabei war, sich der Welt zu bemächtigen. Das Zeitalter, „the Age of Improvement", war vom Glauben an die Möglichkeit einer Weltverbesserung durchdrungen. Auch die Projekte der Coburger nahmen daran teil. Was daher kam, war aber alles andere als Schönfärberei und Flickschusterei, es waren von Modernität und Kühnheit geprägte, wirklich zeitgemäße Zielsetzungen, wie Albert sie ja selbst in England mit Weltausstellung und Sozialpolitik zum Erstaunen der Zeitgenossen inauguriert hatte. Das Revolutionsjahr 1848 war für Albert ein Wendepunkt, insofern seine Stellung zwischen England und Deutschland ihm erlaubte, auf die deutsche Einheitsbewegung Einfluß zu nehmen. Er war selbstverständlich für die Ablösung des Mettemichschen Systems. Sie sollte sich aber unter Wahrung der Rechte der Fürsten und ohne Störung des europäischen Gleichgewichts vollziehen. Er begeisterte sich für die deutsche Einheit, aber er hielt sie nur über eine Konstitutionalisierung für erreichbar. Der Sinn seiner umfangreichen Korrespondenz mit König Friedrich Wilhelm IV. war vor allem, ihn für den Verfassungsgedanken zu erwärmen, da nur auf dieser Basis eine Einigung Aussicht auf Erfolg haben konnte. Er dachte sogar an eine Rolle Deutschlands im europäischen Bezugsrahmen. Wohl durch Alberts Einfluß kam in Preußen das Februarpatent 1847 zustande, das erstmals einen Vereinigten Landtag als Ansatz einer Gesamtverfassung zu gewähren schien. Dann drängte Albert die deutschen Fürsten schon im März 1848 zur Initiative. Auf seinen Rat ließ sich Prinz Wilhelm sogar in einem Wahlkreis in Posen als Kandidat für die Nationalversammlung in Berlin aufstellen. Er drängte andere Prinzen und Fürsten, in die Paulskirche zu gehen, darunter über König Léopold als Mittelsmann auch die österreichischen Erzherzöge. 13 Schon Ende März 1848 legte Albert seinen ersten Verfassungsentwurf vor. 14 Danach sollten Kronen und Dynastien bestehen bleiben und einen Bundesstaat bilden. Ein Reichstag sollte aus indirekten Wahlen der einzelnen Länder hervorgehen, dem die Reichsminister begrenzt verantwortlich waren. Der Fürstentag als Oberhaus behielt ein Vetorecht und wählte den Kaiser. Der Wahlkaiser als ,Treuhänder der Gesamtheit4 sollte den Fürsten die Furcht nehmen, ins Abseits geschoben zu 12 Eyck (Anm. 5), S. 166. 13 Ebd., S. 95. 14 Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha, Aus meinem Leben und aus meiner Zeit, 3 Bde. Berlin 1887-1889, hier Bd. I, S. 273 ff.
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werden. Die Solidarität und Bereitwilligkeit der regierenden Fürsten waren für seine Konzeption unabdingbar. Der kühnste aller aufgestellten Pläne stammte ebenfalls aus dem Coburger Kreis, nämlich von Baron von Stockmar, und fand sich in seiner „Denkschrift an die Konstituierende Deutsche Nationalversammlung" vom April 1848.15 Danach sollte nur ein Fürst mit starker Hausmacht zum Kaiser erhoben werden, dem zugleich aber die Verwandlung seiner Hausmacht in Reichsland zugemutet wurde. Das hätte für Preußen bedeutet, daß es im Einheitsstaat aufgegangen wäre. Der preußische Gesandte von Bunsen war zeitweilig für diesen Plan, um seinem König gegen die aufsässige Berliner Nationalversammlung beizuspringen. Indessen wies der König schon am 17. Juni 1848 diesen Plan freundlich zurück. Er wurde ihm später nochmals von Frankfurt aus entgegengetragen unter dem Vorzeichen eines konstitutionellen Liberalismus, der gegen den gemeinsamen demokratischen Gegner umgebildet war und eine populäre Allianz von Fürsten und liberalen Politikern zustande bringen sollte. 16 Der Plan scheiterte daran, daß Preußen seine Staatspersönlichkeit nicht aufgeben wollte und konnte. Wahlkaisertum Alberts und Reichslandidee Stockmars sollten den Fürsten den Bundesstaat schmackhaft machen. Elemente daraus lassen sich in der Reichsgründung von 1870 wiedererkennen. Das Grundanliegen Alberts klammerte sich vernünftigerweise nicht an bestimmte Konzeptionen, sondern war allgemeiner Natur. Es begnügte sich im Grunde mit Beachtung der Rechtsstaatlichkeit und der öffentlichen Meinung. Er schrieb am 21. August 1849 an Bunsen: „Existiert ein Rechtszustand in Deutschland und eine Regierung, die in ein Verhältnis von Wechselwirkung zu der öffentlichen Meinung gestellt ist, dann wird es Zeit sein, an eine europäische Politik zu denken. Ehe dies der Fall ist, wird jedes Auftreten auf dem europäischen Felde nur neue Elemente der Störung in den inneren Regenerationsprozeß werfen." 17 Nach dem Scheitern des Werks der Paulskirche war der König von Preußen Alberts ständiger Briefpartner und dann immer stärker Prinz Wilhelm. Er schrieb ihm 1852: „Wir sind die einzigen Vertreter liberaler und konstitutioneller Institutionen in Europa und müssen uns auf den vollsten Haß von Seiten der reaktionären Regierungen gefaßt machen, die aber doch zuweilen eine dunkel Ahnung zu haben scheinen, daß das Beispiel Englands doch endlich obsiegen wird." 1 8 Offenbar war die enge Beziehung zu Wilhelm zur Achse seiner weiteren politischen Konzeptionen geworden. Gerade daraus erwuchs eine Staatskrise in Preußen, die uns ein Indikator für die Chancen ist, die Alberts Politik damals hatte. Sie hängt unmittelbar mit dem Krimis Vgl. Meinecke (Anm. 3), S. 314 f. 16 Ebd. S. 334. 17 Archiv Windsor, I, 16.34 η. is George Gillespie, Prinzgemahl Albert - ein Überblick, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 1971, S. 84; vgl. H. R. Fischer-Aue, Die Deutschlandpolitik des Prinzgemahls Albert von England 1848 -1852. Coburg/ Hannover, 1953.
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krieg 1854/1856 zusammen. Hier nahm Albert eine vermittelnde Haltung ein; er durchschaute den russischen Expansionismus ebenso klar wie die türkischen Pressionen gegen die Christen. Es galt, den Zaren in Schach zu halten, ohne den Einfluß bei der Pforte zu verlieren. Albert plädierte deswegen für eine gemeinsame europäische Politik, die der christlichen Bevölkerung unter dem Sultan Rechte sichern sollte, ohne dabei einem einzelnen Staat die alleinige Mitrede in Konstantinopel zu überlassen. Er wandte sich scharf gegen russische Protektorats- und Aufteilungspläne und hielt einen Zusammenschluß der West- und Mittelmächte für eine absolute Notwendigkeit. Er sah die Dinge ganz vom moralischen Standpunkt aus und hielt den Krimkrieg für einen Kreuzzug um der guten Sache willen, nämlich um das. öffentliche Recht Europas zu fördern und dabei die Türkei in das europäische Konzert der Mächte einzugliedern. Dies mußte Preußen aber an die Westmächte verpflichten. 19 Zugleich hielt Albert nunmehr die Loslösung Preußens und Österreichs von Rußland für eine Vorbedingung, um die deutsche und die italienische Frage lösen zu können. Der Krimkrieg stellte offensichtlich die Weichen für die Zukunft des Kontinents. Dazu bedurfte es in erster Linie eines Gesinnungswandels in Berlin, der nicht vom Kabinett Manteuffel, wohl aber vom König oder vom Prinzen Wilhelm kommen konnte. Der Krimkrieg schien den Coburgern die große Chance zuzuspielen, die sie brauchten, um Mitteleuropa in den westlichen Zusammenhang zu integrieren. Die ganze liberale öffentliche Meinung Westeuropas war für einen Anschluß Preußens an die Westmächte, auch Prinz Wilhelm und das neue „Preußische Wochenblatt" unter Bethmann Hollweg, desgleichen Kriegsminister von Bonin und der Gesandte von Bunsen. Diese beiden hatten sich schon offen gegen Rußland ausgesprochen, mußten aber deswegen gehen. König Friedrich Wilhelm IV. trat nämlich für strikte Neutralität ein. Das führte zu einem ernsten Konflikt. Der Prinz ließ sich als Sturmbock und Wortführer gegen den König gebrauchen, der seinerseits an seiner deklarierten Neutralitätspolitik ohne Einschränkung festhielt. Die tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten streiften schon an Rebellion. 20 Der Hinweis Wilhelms auf die gleichlaufenden Ansichten König Leopolds ließ zudem erkennen, woher der Wind wehte.21 Der Vorfall war nichts Geringeres als eine Thronfolgerkrise, die nach harten Worten gütlich beigelegt wurde. Diese preußische Neutralitätspolitik nötigte bald auch zur Trennung von Österreich (am 2. Dezember 1854) und wurde von Bismarck im Sinne des Königs ins Werk gesetzt.22 Das brachte dann allerdings Preußen auf der Friedenskonferenz in Paris 1856 ins Hintertreffen. Die preußische Staatskrise von 1854 machte deutlich, wie groß die realen Chancen für eine Westwendung Preußens damals waren. Die Verlobung des Prinzen 19 Eyck (Anm. 5), S. 287/288. 20
Vgl. Peter Rassow, Der Konflikt König Friedrich Wilhelms IV. mit dem Prinzen von Preußen im Jahre 1854. Eine preußische Staatskrise. Wiesbaden 1961, S. 758 f., 734 f. 21 Ebd., Brief Wilhelms vom 7. August 1854. 22 Rassow (Anm. 20), S. 759.
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Friedrich Wilhelm mit der Royal Princess 1855, dann deren Heirat 1858 und der Beginn der „Neuen Ära" 1858 verhießen einen liberalen Frühling für Preußen. Diese Krise hatte noch ein bedeutungsvolles Nachspiel, insofern König Friedrich Wilhelm IV. seinen Nachfolger zur Aufhebung der Verfassung und zum Oktroi einer anderen Verfassung unter Wahrung des Monarchischen Prinzips verpflichten wollte. Albert riet damals seinem künftigen Schwiegersohn, sich als „Treuhänder der nächsten Generation" zu betrachten und beim Bruch einer beschworenen Verfassung kein unbeteiligter Zuschauer zu bleiben. Er schlug ferner in einem Schreiben vom 6. November 1855 dem Prinzen Wilhelm vor, gegen das Vermächtnis seines Bruders „feierlichen Protest" im Sinne einer „Rechtsverwahrung" einzulegen, im Namen aller, „deren Rechte ich als für unzertrennlich mit den meinigen ansehen würde: die meiner Nation und meines Volkes". 23 Als Prinzregent hat Wilhelm das Vermächtnis des Königs seinem Hause bekannt gemacht und trotzdem den vorgeschriebenen Eid auf die Verfassung am 26. Oktober 1858 geleistet. Kaiser Wilhelm II. hat dann 1888 bei seinem Regierungsantritt das Vermächtnis seines Oheims den Flammen übergeben und sein Königtum damit „für alle Zeiten" auf konstitutionelle Grundlagen gestellt. Als Prinzregent und dann als König von Preußen sprach Wilhelm von der Verantwortlichkeit des Königs in den Worten Alberts. Mit der „Neuen Ära" und dem liberalen Ministerium unter Fürst Karl-Anton von Hohenzollern-Sigmaringen sowie dem Regierungsprogramm vom 8. November 1858 schien der liberale Systemwechsel vollzogen zu sein. Albert gab Wilhelm gegenüber seiner Freude Ausdruck, „eine Kontinentalmacht zu sehen, welche sich ganz auf das Gebiet der Rechtlichkeit und Billigkeit stellen will, und so ein höchst wichtiges korrektives Element in der großen Intrigenpolitik des Kontinents werden wird." 2 4 Er schickte sogar am 4. Mai 1859 ein längeres Memorandum zu Wilhelm, 25 wonach Preußen für sich allein eines Stützpunktes von außen bedürfe und deshalb - von Deutschland getrennt - keine Großmacht sein könne. In Zusammenhang aber mit Deutschland und an dessen Spitze sei es eine Großmacht; es brauche keinen Alliierten, wenn es mit Deutschland identifiziert werde. Alberts gutgemeinte Ratschläge rissen nicht ab, wobei Preußen nur als „Champion für die Volksrechte" seine Führungsrolle übernehmen könne 26 . Aber, so heißt es plötzlich in einem Brief an König Léopold vom 4. Juli 1861, es werde am Widerwillen der höheren Klassen, vor allem an der Junkerpartei und der Bürokratenpartei scheitern. 27 Viele Briefe vom Todesjahr 1861 zeigen Enttäuschung und Zweifel. Was war geschehen? - Das preußische Angebot an Österreich im Krieg gegen Italien 1859 und die damit verbundene preußische Mobilmachung mit Aufmarsch am Ober23 24 25 26 27
Zit. nach Eyck (Anm. 5), S. 299/300. Archiv Windsor, 26. November 1858,1, 31.30. Archiv Windsor, J, 19.27. Schreiben an den Kronprinzen von Preußen vom 1. Mai 1861, Archiv Windsor, I, 36.1. Schreiben Alberts an Léopold vom 4. Juli 1861, Archiv Windsor, I, 36.57.
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rhein hatten die Mängel der preußischen Armee trotz Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit 1856 offensichtlich gemacht. Der plötzliche Waffenstillstand von Villafranca brachte Preußen in eine unvorhergesehene Isolierung und in diplomatische Schwierigkeiten. Das wurde den Ratschlägen Alberts angekreidet, die immer nur von Abwarten und Neutralität redeten. Die Antwort Wilhelms war eine Heeresreform, die mit der Berufung des Generals Albrecht von Roon als Kriegsminister anstelle von Bonin am 3. Dezember 1859 eingeleitet wurde. Daran Schloß sich im Mai 1860 ein Reformvorschlag Wilhelms in Bezug auf die Bundeskriegsverfassung an, den der Deutsche Bund unter Führung Österreichs ablehnte. Nur Ernst II., regierender Herzog von Coburg, sowie Waldeck und Altenburg unterstellten ihre Truppenkontingente, dem Vorschlag entsprechend, dem preußischen Oberbefehl. Schlimmer war, daß sich in der Zweiten Preußischen Kammer, dem Abgeordnetenhaus, entschlossene Gegenkräfte sammelten. Schon im Juni 1861 bildete sich in Preußen eine radikale liberale Partei, die Fortschrittspartei, die auf Konfliktkurs ging, das Ende des Altliberalismus einläutete und bei den Wahlen am 5. November 1861 100 von 120 Sitzen im preußischen Abgeordnetenhaus errang. An eine normale Lösung des Heereskonfliktes entsprechend den Vorstellungen Roons und Wilhelms war also nicht mehr zu denken. Der Verfassungskonflikt war damit vorprogrammiert, der alle Pläne Alberts zerschlug. In den Sommer der „Neuen Ära" fuhr ein eisiger Frost. Wilhelm wollte abdanken, als der Heereskonflikt zu einem Verfassungskonflikt wurde, abdanken zugunsten des Kronprinzen Friedrich. Das wäre der Triumph von Coburg geworden. Der Traum Alberts hätte sich erfüllt. Ganz Europa hätte sich auf liberalen Fuß gestellt. Der Kronprinz ergriff nicht die Chance, und Bismarck nahm das Heft in die Hand. Albert hätte die Chance sicherlich wahrgenommen. Aber er war schon am 14. Dezember 1861 gestorben. Er erlebte also nicht den Umschwung der Weltverhältnisse, der sich in Amerika, Asien und Indien anbahnte und dem kommerziellen und konstitutionellen Liberalismus Schranken setzte; vor allem auch nicht die Abwendung Preußens vom Verfassungsliberalismus zum Nationalliberalismus und zum Nationalismus hin. Es gab indessen noch Nachwirkungen jenes Honoratiorenliberalismus wie etwa die „Rechtsverwahrung", die Kronprinz Friedrich in seiner Danziger Rede von 1863 gegen Bismarcks Presseverordnung nach den Ratschlägen Alberts von 1855 einlegte; oder die konstitutionelle Selbstverpflichtung Wilhelms II. 1888; oder die Versöhnungspolitik Bismarcks und des Kronprinzen in Nikolsburg 1866. Aber im ganzen war die liberale Epoche zu Ende. Das letzte Eingreifen Alberts in die Politik am 30. November 1861, bereits von seinem Sterbebett aus, war bezeichnenderweise ein Akt der Versöhnung und des Ausgleichs von weltpolitischer Bedeutung. Es handelte sich um den JacintoZwischenfall am 7. November 1861. Die „San Jacinto", ein amerikanisches Kriegsschiff der Nordstaaten, hatte auf hoher See von einem britischen Postdampfer zwei Abgesandte der Südstaaten, die nach England bzw. Frankreich gehen
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sollten, heruntergeholt. Die Regierung Palmerston verlangte in ultimativer Form Genugtuung für diesen Bruch des Seerechts und bereitete kriegerische Maßnahmen vor. Albert indessen schwächte den Text der Depesche nach Washington beträchtlich ab, indem er der Hoffnung Ausdruck gab, daß der amerikanische Kapitän ohne Instruktionen gehandelt hätte und die beiden Gefangenen umgehend britischem Schutz unterstellen würden. Staatssekretär Seward nahm den Ball auf und sagte zu, daß die USA selbstverständlich entsprechend den britischen Vorschlägen verfahren würden, da Amerika hiermit nur dem genüge, was es selbst immer verlangt habe. Schon am 1. Dezember war die Affaire ausgeräumt,28 und damit eine unabdingbare Voraussetzung für einen aussichtsreichen Kampf der Nordstaaten gegen den Süden, nämlich die Neutralität Englands, geschaffen. Die Bedeutung Prinz Alberts für die europäische Politik ist in den Augen vieler Nachgeborener unterschätzt worden, 29 weil viel Tinte und Papier auf Familienpolitik, Denkschriften, Beratung und Information verschwendet wurde, ohne eine Weichenstellung nach den Wünschen des konstitutionellen Liberalismus durchzusetzen. In der Tat erscheint Alberts europäische Politik als verlorene Liebesmüh am ungeeigneten Objekt. Aber wenn man einer Epoche gerecht werden will, sollte man - mit Fustel de Coulanges und Walter Benjamin - sich aus dem Kopf schlagen, was man vom späteren Verlauf der Geschichte weiß. Auch in diesem Falle soll man die Geschichte „gegen den Strich bürsten", also mehr auf Karthago sehen als auf Rom, mehr sein Augenmerk auf diejenigen richten, die nicht im Triumphzug des Sieges mitmarschierten und verloren haben oder gescheitert sind. In Bezug auf die Coburger Politik sind außerdem mancherlei Vorurteile auszuräumen, weil sie hinter den Kulissen oder neben der amtlichen Politik sich abspielte. Bismarcks wegwerfendes Wort von den „Coburger Intrigen" oder der Verdacht einer „Coburger Verschwörung" unterschob dunkle Absichten, wo in Wirklichkeit bester Wille und lautere Gesinnung überwogen. Es blieb freilich irritierend, daß das coburgische Plädoyer für einen modernen Konstitutionalismus außerkonstitutionelle und öffentlich verfolgbare Formen und Wege benutzte, also vom Standpunkt des Konstitutionalismus aus mißbräuchlich war. Das bedeutete jedoch nicht, daß es damit schon obsolet oder illusionär gewesen sei. Gewiß war das Spiel abseits der politischen Bühne und unter Nutzung persönlicher Beziehungen ohne Einfluß auf die Öffentlichkeit. Es hing völlig an den daran beteiligten Personen. Deswegen war auch der unerwartete Tod Alberts das Ende einer solchen Politik, zumal auch ,Onkel Léopold', „Old Palmy", der Baron von Stockmar und andere in den 1860er Jahren starben. Vom „Coburger Kreis" erlebten nur wenige die Reichsgründung. Gravierender war gewiß, daß die dahinter stehende Mentalität den Zeitgenossen nicht mehr überzeugend erschien. Die Parolen von Liberalisierung und Konsti28 Southgate (Anm. 1), S. 489 f. 29 Gillespie (Anm. 18), S. 79.
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tutionalisierung hatten nach 1848 an Zündkraft eingebüßt, während die Nationalbewegungen in Mitteleuropa jetzt erst zum Erfolg kamen. Es war für Deutschland ein Verhängnis, daß das liberal-konstitutionelle Anliegen sich nicht - wie Albert es erstrebt hatte - mit dem nationalen Anliegen verbinden konnte. Das lag an unglücklichen Umständen, zumal König Wilhelm I. von Preußen ohne Vorbehalt die konstitutionelle Verpflichtung der Krone anerkannt und beschworen hatte. Aber der anti-englische Affekt, der sich schon 1848 an der Schleswig-HolsteinFrage entzündet hatte, kam 1864 erneut ins Spiel, trotz der Zurückhaltung der Königin Victoria und der britischen Neutralität. Die Annexionspolitik Bismarcks gegen Schleswig-Holstein und gegen Hannover konnte indessen von London nicht gutgeheißen werden. Das deutsche Nationalgefühl entzündete sich an den Waffenerfolgen und verband sich mit einer Verfassungsverdrossenheit, die dem deutschen politischen Liberalismus das Uberleben schwer machte. Die Konstitutionalisierung Preußens blieb ungenügend. Diese Diskreditierung des westlichen Liberalismus in Deutschland war ein Unglück, aber keineswegs unabwendbar. Die Idee Alberts von einem modernen Konstitutionalismus, überparteilich, jenseits der Konfessionen und Klassen, unter dem Dach europäischer Regulative aus Menschenrecht, Völkerrecht und Freiheit zur Selbstbestimmung, in freier Vereinbarung gefunden und als gesamteuropäische Notwendigkeit anerkannt, das war für die Coburger eine Art Glaubensartikel, unentbehrlich für den Fortbestand Europas. Was Albert wollte, war nicht seine persönliche Marotte, sondern lag auf der Linie der früheren britischen Europapolitik. Schon der jüngere Pitt dachte an den Aufbau eines allgemeinen und mit Zwinggewalt ausgestatteten System des öffentlichen Rechts, das aus der kollektiven Verantwortlichkeit der Fürsten für Europa entstehen sollte. Ein wichtiger Schritt dahin war ja schon die Schaffung Belgiens. Es war die Idee der Coburger, daß ein solches System einer konstitutionellen Basis in allen beteiligten Staaten bedurfte, um eine öffentliche Meinung ganz Europas zustande zu bringen. Die Ansätze der Wiener Friedensordnung von 1815 mußten nur zu einem europäisch verbindlichen konstitutionellen Regulativ fortentwickelt werden. Das war die höchste politische Idee der Coburger, die gemeinsame europäische Politik ermöglichen sollte. Es war eine große Idee und auch eine typische Idee für das „Age of Improvement". Politik war für sie Weltverbesserung. Wie einfach war das! - Hier war Albert vielleicht wirklich ein großer Mann, jedenfalls aber ein großer Organisator, der über die Politik hinaus die Forderungen und Konsequenzen des Industrialismus, der Massengesellschaft, der Arbeitswelt, des Welthandels, des Bildungswesens und der Wissenschaft durchschaute und im Namen des Fortschritts mannigfache Initiativen ergriff, die schon für die Gesellschaft von morgen gedacht waren, wobei nicht nur an die Weltausstellung von 1851, die Förderung von Kunst und Wissenschaft, sondern etwa auch an die Arbeiterwohnsiedlungsprojekte in Battersea zu denken ist.
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Hier sollte nur die politische Seite betont werden und zum Ausdruck kommen, daß Alberts Politik eine echte Chance für Europa und ein „gemeines Weltrecht der Kulturstaaten" (v. Holtzendorff) bot. Politik in seinem Sinne fand nur unter zivilisierten Ländern statt und war ihm nur vorstellbar als integre Tätigkeit von Gentlemen, die sich als Treuhänder fühlten und bereit waren, ihre Politik einem Verfahren zu unterwerfen, das die Normen der Verfassung mit den Wünschen der öffentlichen Meinung und nach den Regeln einer europäischen Friedensordnung in Einklang zu bringen verstand. Das war gewiß victorianisch und gewiß auch „zu schön um wahr zu sein"! Daß es anders kam, spricht nicht gegen Prinz Albert, der unser geschichtliches Interesse verdient, das in seinem Ausnahmefall mit unserem menschlichen Interesse identisch ist.
Soziale und wirtschaftliche Faktoren in Reichsgründung und Reichsgeschichte Die vorliegende Themenstellung verlangt eine Perspektive, die über die einzelnen Ereignisse hinaus andere und allgemeinere Bedingungszusammenhänge in den Blick zu bringen sucht, von denen her Möglichkeit und Notwendigkeit, Sinn oder auch Fragwürdigkeit der Reichsgründung begriffen werden können. Sie läßt sich schlecht in Einklang bringen mit jener nationalen Reichshistorie, die darauf aus war, das Jahr 1871 als sinngebende Erfüllung der preußisch-deutschen Geschichte anzusehen. Für zwei Generationen bestand das wissenschaftliche Postulat darin, diesem neuen Reich eine eigene Tradition zu schaffen. Im Anschluß an die borussische Geschichtsschreibung von Droysen, Duncker und Häusser, und getragen von der Vorstellung des „deutschen Berufs Preußens", konstruierte man ein einheitliches Geschichtsbild, in dessen Rahmen die brandenburgisch-preußische Geschichte zur Vorgeschichte des Deutschen Reiches wurde. Die „historische Notwendigkeit" der Reichsgründung auf das alte Preußen und dessen Staatsidee zu beziehen, wurde weder Preußen noch dem neuen Deutschen Reich gerecht. Preußen war eher das widerstrebende Werkzeug einer anderen, ihm unbehaglichen und fremden sogenannten „Notwendigkeit". Von einer geschichtlichen Erfüllung ließ sich überhaupt nur mit Bedenken sprechen, da die Reichsgründung von keiner allgemeinen nationalen Bewegung, von keinem politischen Wachstums- oder Reifungsprozeß getragen war, und da sie außerdem eine erhebliche Verkürzung des nationalen Anliegens in Kauf nehmen mußte, schon um für Europa gerade noch erträglich zu sein. Sie kam nicht gegen, wohl aber abseits der moralischen und sozialen Kräfte zustande, die der Revolution von 1848 den großen Auftrieb gegeben hatten. Sie war die Krönung einer militärischen Erfolgsserie im Verein mit einer Diplomatie alten Stils; das Reich selbst beruhte auf einem Vertrag der Fürsten, und nicht auf der Verfassung 1. Viele sträubten sich gegen die vermeintliche Verpreußung Deutschlands; aber auch die genuinen Preußen wollten sich nicht mit dieser neuen Rolle Preußens abfinden. Das Reich war weder das alte Kaiserreich noch das alte Preußen. Selbst König Wilhelm I. schätzte seine neue Kaiserwürde gegenüber der preußischen Königskrone gering ein. Die demokratischen Zutaten wie Verfassung und allgemeines Wahlrecht legitimierten sich in erster Linie als Zugeständnisse der Fürsten. 1 Vgl. Theodor Schieder/Ernst Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen. Stuttgart 1970. - Die Literaturangaben beschränken sich auf die unmittelbar herangezogenen Werke.
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Bevor die Historiker ihren Geschichtsmythos gezimmert hatten, schien es vielen besorgten Kritikern, daß Macht und Geist - was immer damit gemeint sein mochte - hier endgültig auseinandergetreten seien. Nur der Liberalismus sah sogleich im Reiche die Erfüllung seiner Erwartungen, ein Liberalismus, der die Schönheitsfehler des neuen Machtgebildes im Vertrauen auf die freigesetzte Dynamik des wirtschaftlichen Aufschwungs hinnahm und sich mit Bismarck arrangierte. Seiner These von der „historischen Notwendigkeit" der Reichsgründung folgte auch der Marxismus, allerdings mit einer schneidenden Antithese, wonach diese Reichsgründung die notwendige Vorstufe der sozialen Revolution sein sollte, gewissermaßen eine „List der Vernunft", mit der das Schwergewicht der europäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlagert wäre und die neue Macht der Arbeiterklasse von der Mitte Europas her den Sieg des Marxismus auf dem ganzen Kontinent bald herbeiführen werde. Der Nationalliberalismus und der Marxismus waren sich darin einig, daß die Reichsgründung notwendig war und weltpolitische Bedeutung hatte - freilich in verschiedenem Sinne. In der Tat ließ sich nicht übersehen, daß das Jahr 1871 das Machtgefüge der Welt zutiefst verändert hatte2. Die nationalstaatliche Auffüllung Mitteleuropas nötigte zur Wendung der europäischen Mächte nach außen, zum Export der zwischenstaatlichen Spannungen nach Übersee, was Europa eine äußerliche Friedensphase bescherte. Das voreilige Wort von der „historischen Notwendigkeit" der Reichsgründung verstellte indessen den Blick für andere Lösungsmöglichkeiten, die sich zumindest noch zwischen 1863 und 1866 angeboten hatten, wie etwa das erstaunliche Projekt des österreichischen Handelsministers Freiherrn von Bruck, der ein mitteleuropäisches 70-Millionenreich einschließlich Ostmitteleuropa ins Auge faßte; oder auch die dualistischen Bundesreformpläne; oder auch der Triasgedanke mit dem präsidialen Alternat der beiden Führungsmächte Preußen und Österreich. In diesem Zusammenhang seien auch der Plan einer föderativen Neugliederung Europas nach Constantin Frantz und die slawophile Idee Bruno Bauers eines deutsch-russischen Hegemonialbündnisses genannt. Freilich hatten derlei weitgehende Projekte kaum eine Realisierungschance. Sie waren lediglich symptomatisch für eine völlig offene politische Situation. Die Kettenreaktion von den Dresdener Konferenzen 1850/51 bis 1870/71 erscheint erst im nachhinein als determinierter Prozeß. Vielmehr war dies ein Prozeß der zunehmend sich einschränkenden Möglichkeiten, die mit dem Zerfall des europäischen Konzerts im Krimkrieg 1854/56 ins Spiel gekommen waren. Bismarck betrieb mehr eine „Strategie der Alternativen" und faßte die sich bietenden Gelegenheiten beim Schöpfe. Ohne ihn hätte es keine Reichsgründung gegeben; er 2 Gustav Schmidt, Deutschland am Vorabend des Weltkrieges, in: M. Stürmer (Hrsg.), Das Kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870- 1918. Düsseldorf 1970, S. 397 ff.
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war nicht Vollstrecker einer Notwendigkeit, sondern einer Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten3. Die Frage nach der historischen Notwendigkeit ist reine Spekulation, sei es aus einer Ideologie oder aus einem Geschichtsmythos. Sie hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Alles hätte auch anders verlaufen können. Viel bescheidener ist unsere Frage, die Frage nach dem historischen Bedingungszusammenhang, die freilich zugleich die Frage nach dem inneren Recht der Reichsgründung nach sich zieht. Gerade unsere Fragestellung richtet sich auf einen Bereich, der abseits der aktuellen Politik stand oder von ihr jedenfalls nicht ganz begriffen und durchschaut wurde. Die Frage nach den hineinwirkenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsfaktoren steht für unsere Betrachtung an erster Stelle. Sie kann Form und Zeitpunkt der Reichgründung in keiner Weise erklären, sondern nur negativ feststellen, daß ohne sie die Reichsgründung nicht möglich gewesen wäre. Es gab zwar einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen preußischer Politik und ökonomischer Entwicklung, besonders deutlich im Deutschen Zollverein. Aber die Mehrzahl der Mitglieder des Zollvereins stand 1866 hinter der Präsidialmacht Osterreich, und das Zollparlament, das seit 1867 auch die süddeutschen Staaten mitumfaßte, ließ sich nicht zu einem politischen Parlament umgestalten4. Aber der hier inaugurierte, von Freihandelspolitik, Marktwirtschaft und schließlich Industrialismus bestimmte Mechanismus allein ergab noch keine Gründungspolitik und begünstigte nur deren Voraussetzungen. Gerade die in der wirtschaftlichen Entwicklung liegende Determination, d. h. der weltwirtschaftliche Konjunkturzyklus, war zudem nicht langfristig, sondern relativ kurzfristig und beschränkte die wirtschaftliche Seite der Reichsgründungsgeschichte auf die beiden Jahrzehnte vor 1870. In gewisser Weise ermöglichte gerade diese wirtschaftliche Explosion von 1850 bis 1870 jene Politik alten Stils, die die Gesellschaft als Objekt der Machtpolitik behandelte. Denn der Industrialismus nach 1850 mobilisierte und entpolitisierte zugleich die Gesellschaft, die sich in einer dynamisch gewordenen Welt erst einmal zurechtzufinden hatte. Nach 1848 stand 3 O. Pflanze, Bismarck and the Development of Germany. 1: The Period of Unification. Princeton 1963; M. Stürmer, Bismarck-Mythos und Historie, in: Aus Politik und Zeitgeschehen Β 3/71 (16. 1. 1971); vgl. Bismarcks Ausspruch vor dem Reichstag des Norddeutschen Bundes (1870): „Mein Einfluß auf die Ereignisse, die mich getragen haben, wird zwar wesentlich überschätzt, aber doch wird mir gewiß keiner zumuten, Geschichte zu machen; das, meine Herren, kann ich selbst in Gemeinschaft mit Ihnen nicht. Die Geschichte können wir nicht machen, sondern nur abwarten, daß sie sich vollzieht" (Gesammelte Werke, XIII, S. 46). 4 Vgl. W. Zorn, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850-1879), in: Historische Zeitschrift 197 (1963), S. 322: „Sicherlich ist die Ansicht unhaltbar, daß der Zollverein schon vor 1866 auf dem Wege gewesen sei, mit seinen wirtschaftlichen Auswirkungen zwangsläufig auch die politische Einheit herbeizuführen." 24 K l u x e n
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Deutschland im Zeichen einer ungeheuren Entfaltung, die sich abseits der Politik und größtenteils ohne sie vollzog. Die Reichsgründung kam äußerlich in den alten Formen und von den alten Mächten aus zustande. Noch im Frühjahr 1870 bahnte sich unter österreichischer Patronage eine süddeutsche Entente an, die sich erst durch den Sieg über Frankreich erledigte. Nicht ökonomische Sachzwänge, sondern Blut und Eisen entschieden über die Reichsgründung; aber die Bedingung dazu lieferten „Kohle und Stahl", d. h. der industrielle Fortschritt. Ohne das „glorreiche Jahrzehnt" von 1850 bis 1860, das politisch den Verfall jeglicher europäischer Solidarität zeitigte, aber wirtschaftlich für Deutschland den Sprung in den Welthandel brachte, wäre die Reichsgründung kaum denkbar gewesen oder jedenfalls nach Zeit und Form völlig anders ausgefallen. Dem Anspruch dieser Jahrzehnte genügte allein Preußen, das in diesen wenigen Jahren ein anderes Preußen wurde. Nur Preußen war in der Lage, auf der Woge des Industrialismus politisch zu einem Ende zu bringen, was wirtschaftlich geboten erschien. Die von Bismarck getragene politische Dynamik stand für diese Zeit in völligem Einklang mit der sozialen und wirtschaftlichen Dynamik. Darin mochte man eine innere Vernunft und ein inneres Recht der Reichsgründung entdecken. Warum es dazu kam, daß Preußen „mit Hilfe Gottes und des Zündnadelgewehres", also mit seiner alten Staatsidee und seinem neuen Industrialismus, den Sieg davon trug, war weder Zufall noch Notwendigkeit, sondern in dem angelegt, was Preußen aus sich gemacht hatte. Preußen war kein natürliches, sondern eher ein künstliches Gebilde, das sich ein Instrumentarium in Heer und Bürokratie herangebildet hatte, um seine Staatsidee effektiv zu machen. Seine territoriale Ausdehnung über heterogene Gebiete im Osten und im Westen forderte ihm mehr als jedem anderen Staatswesen ein politisches Ethos ab, das sich auf abstrakte Pflicht und abstrakte Staatlichkeit hin disziplinierte. Preußen stand nicht unter dem Gesetz eines organischen Wachstums, sondern unter dem Gesetz moralisch verstandener staatsbezogener Anstrengungen. Die Stufen seines Wachstums waren jeweils Stufen der Heeres- und Verwaltungsreformen, sei es unter dem Großen Kurfürsten, dem Soldatenkönig, der Scharnhorstschen Heeresreform und der Heeresreform von 1860 bis 1864. Sein Entwicklungsgesetz war der Sprung oder die Mutation, sei es der Sprung in den Absolutismus vom Landtagsrezeß 1653 bis zum Dekret von 1662 oder der Sprung in die neue Zeit nach 1850 bis 1870. Oft war dieser Sprung ein Vorsprung, wie im preußischen Königtum von 1701, das sich als erstes säkulares Staatskönigtum legitimierte, und vor allem in den Preußischen Reformen seit 1806, die von einem moralischen und freiheitlichen Impuls getragen waren. Jedem solchen Sprung ging ein Absinken, ja eine Verrottung voraus, aus dem das Neue unvermittelt hervorsprang. Preußens Geschichte bestand durchweg aus sozialen Regressionen, gefolgt von moralischen, politischen und idealen Resurrektionen. Dem organischen Verfall folgte jeweils eine sittliche Anstrengung, eine von oben auferlegte Erneuerung.
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Am Widerspruch zwischen sozialen Möglichkeiten und politischem Willen litt und wuchs Preußen. Ob dies immer so war, sei dahingestellt. Daß es aber so in der Vorgeschichte von 1871 war, mag hier kurz aufgezeigt werden, um darzulegen, warum Preußen um 1848 wenig und 1870 alles war, warum es aus der Lethargie des Vormärz sich zur dynamischen Führungsmacht aufraffen konnte - ausgerechnet als die nationale Einheitsidee von 1848 nur noch eine Erinnerung und kein drängender Impuls mehr war. Die negative Bedingung liegt vor 1848, die positive danach. Preußen hatte seine große Zeit im Kampf gegen Napoleon gefunden. Die Stein-Hardenbergschen Reformen und die Befreiungskriege waren seine Stunde. Danach sank es machtpolitisch zurück, obgleich es beträchtlich vergrößert war. Es erfüllte nicht die patriotischen Erwartungen und schien zu verkümmern wie ein unterentwickeltes Land. Was war geschehen? Preußen hatte sich nach 1806 zu Reformen entschlossen, die von den Ideen Kants, des Liberalismus und des Neuhumanismus geprägt waren. Sie liberalisierten die Gesellschaft in einem Grade, dem das Land nicht gewachsen war. Die Bewohner dieses zerstreuten Großgebildes sollten von Untertanen zu Staatsbürgern werden, d. h. zu verantwortlicher Selbständigkeit angeregt werden5. Der Staat löste die Gutsordnungen und die Zünfte auf, gab den Städten eine erste Form der Selbstverwaltung und gründete Universitäten im Vertrauen auf die freie Forschung. Er befreite die Gesellschaft von vielen alten Fesseln. Die damit inaugurierte Revolution von oben mußte freilich von den befreiten Schichten, besonders den Bauern, bezahlt werden, ohne daß das hierzu erforderliche wirtschaftliche Leben sich bereits entfaltet hätte. Man gab der Gesellschaft ein erweitertes Gewand, in das sie noch nicht hineinpaßte6. Die vom Staat angeordnete Befreiung und Modernisierung eilte der kommenden Entwicklung voraus. Mit Blick auf diesen fortschrittlichen preußischen Staat sprach Hegel zu Recht von der Verkörperung einer sittlichen Idee in diesem Staat. Die Gesellschaft konnte aber mit ihren neuen Freiheiten wenig anfangen. Die Folge dieser Verfrühung war eine allgemeine Krisis, eine soziale Verrottung, die weder durch den Zollverein von 1834 noch durch soziale und administrative Maßnahmen wirkungsvoll behoben werden konnte. Das Ergebnis war der Pauperismus. 5 Vgl. Steins Nassauer Denkschrift von 1807: „Soll die Nation veredelt werden, so muß man dem unterdrückten Teil derselben Freiheit, Selbständigkeit und Eigentum geben und ihm den Schutz des Gesetzes angedeihen lassen" (bezogen auf den polnischen Volksteil!); E. Botzenhart/W. Hubatsch (Hrsg.), Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, 2 (bearbeitet von P. G. Thielen), Stuttgart 1959, S. 397. 6 W. M. Simon, The Failure of the Prussian Reform Movement. 1807-1819, Ithaca, Ν. Y. 1955; Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen (1815 bis 1848), in: W. Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz. Stuttgart 1962; Friedrich Lütge, Uber die Auswirkungen der Bauernbefreiung in Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 157 (1943), S. 398; vgl. Anm. 7. 24*
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Die Bürokratie war ihm gegenüber hilflos, zumal gerade ihre eigene Freisetzungspolitik den Mißstand hervorgerufen hatte. Damals wuchs eine Armee von besitzlosen Landarbeitern, von vagabundierenden Gesellen, von verarmten Kleinbauern und notleidenden Handwerksmeistern heran. Weder deren zahllose Kümmerbetriebe noch die veralteten und kaum konkurrenzfähigen Manufakturbetriebe vermochten die soziale Stagnation aufzuhalten. 1847 ging der Umsatz um die Hälfte zurück; nicht einmal die Ernährung war gesichert7. Nur im Westen Preußens hatte der Einstrom englischen, belgischen und französischen Kapitals eine gewisse Belebung gezeitigt. Im ganzen aber stand jene Reservearmee bereit, die wandernd ihr Auskommen suchte oder resigniert auf ihre Stunde hoffte. Ihre Befreiung kam mit dem Durchbruch der Industriellen Revolution, der gleichzeitig mit einem allgemeinen Aufschwung von Wirtschaft und Handel bis in die weltwirtschaftliche Dimension hinein vonstatten ging 8 . Der erste Anstoß kam mit dem Eisenbahnbau; dann auch mit dem Dampfschiff und dem Telegrafen. Der deutsche Eisenbahnbau und die damit rapide wachsende Eisen- und Stahlindustrie zehrten den Pauperismus auf. Die Erfindung des nahtlosen Radkranzes 1852 bei Krupp trug diesen Betrieb über alle Krisen hinweg. Hier fanden sich Aufgaben, die nur durch Massenarbeit und Massenproduktion zu bewältigen waren, in denen sich Landarbeiter und Handwerksgesellen erstmals zu Industriearbeitern solidarisierten. Der Pauperismus war verschwunden und das Proletariat entstanden, das mit seiner Einordnung in die Produktionsprozesse endlich eine neue Existenz gefunden hatte9. Der Übergang zum Freihandel 1862/64 und zu freier Konkurrenz bedeutete den Anschluß an das englisch-belgisch-französische Wirtschaftssystem und gab dem Deutschen Zollverein die Vorhand gegenüber den küstenfernen Gebieten. Zur gleichen Zeit entwickelten sich aus dem Investitionsboom der 1850er Jahre neue Formen der Geldschöpfung durch Bankgründungen, Aktiengesellschaften, Kredit7 Vgl. W. Abel, Der Pauperismus in Deutschland, in: Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 284-298; ders., Der Pauperismus in Deutschland am Vorabend der industriellen Revolution (Vortragsreihe der Gesellschaft für westfälische Wirtschaftsgeschichte 14), Dortmund 1966; C. Jantke/D. Hilger, Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur. Freiburg-München 1965; W. Conze, Vom „Pöbel" zum „Proletariat". Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte. Köln /Berlin 1966, S. 111-136; Gunther Ipsen, Die preußische Bauernbefreiung als Landesausbau, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 2 (1954), S. 32; Karl Abraham, Der Strukturwandel im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Köln 1955; vgl. auch Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy und Autocracy: The Prussian Experience, 16601815. Cambridge/Mass. 1958. 8 Wolfgang Zorn, Wirtschaftliche und sozialgeschichtliche Zusammenhänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850-1879), in: Historische Zeitschrift 197 (1963); W. O. Henderson, The State and the Industrial Revolution in Prussia, 1740-1860. Liverpool 1958. 9 W. Conze (Anm. 7).
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wesen10. In wenigen Jahren wurde Preußen unter Beibehaltung der agrarisch-feudalen Herrschaftsstruktur ein Industrieland mit den Zentren in Oberschlesien und dem Ruhr- und Saargebiet, mit den Handelszentren an Nordsee und Rhein sowie der Drehscheibe Berlin 11 . Selbst ursprüngliche Preußenfeinde sahen dieses Preußen als den eigentlichen modernen deutschen Staat an. Industrialismus und Freihandel erlösten Preußen aus seiner permanenten sozialen Krisis. Jetzt war es in der Lage, seine Menschenkraft zu nützen. Erst jetzt wurde die Preußische Heeresform von 1860/64 technisch möglich; jetzt erst ließ sich die Volkskraft in die Waagschale werfen. Bislang waren zwei Drittel der Wehrpflichtigen ohne Ausbildung geblieben. Nun war es anders. Die große Zahl kurzfristig ausgebildeter Soldaten der preußischen Armee trug über die österreichischen und die regulären französischen Truppen den Sieg davon. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Dynamik war die Reichsgründung in der Tat ein entscheidender Schritt. Die Expansion von Produktion, Verkehr und Finanzwesen gewann Raum in den Reichs verband hinein; der Markt dehnte sich aus. Zudem entsprach der preußische Liberalismus den Bedürfnissen der freien Initiative; er barg freilich auch die Tendenz eines Abbaus der feudalen Strukturen in sich, zumal gerade die Emanzipation der Wirtschaftskräfte der Macht des Staates zugute gekommen war. Ohne die Industrie war die preußische Armee wenig; sie wurde erst seit 1870 ernst genommen. Das Bündnis der Eisenindustrie mit dem Militär bahnte sich bereits unter der Regentschaft König Wilhelms I. an. Das Zündnadelgewehr, die Gußstahlkanone Krupps als der erste Hinterlader, das Eisenbahnwesen und der Telegraf trugen im Verein mit der Vollbewaffnung zum militärischen Erfolg wesentlich bei. Verhängnisvoll war freilich, daß gerade das moderne, aus dem Volk rekrutierte Heer die Domäne der alten Feudalkaste war, die durch die Heeresvermehrung, durch die Erweiterung der Linienregimenter, durch die militärischen Erfolge an Gewicht hinzugewann12. Verhängnisvoll war auch, daß der Reichsnationalismus sich an den Waffenerfolgen entzündete und nicht an einer sozialen Idee wie in Frankreich. Noch bedenklicher war wohl, daß die Verbindung des Waffendienstes mit dem Nationalgefühl dessen demokratisches Anliegen entpolitisierte und auf 10 Robert Tilly, Finanzielle Aspekte der preußischen Industrialisierung, 1815-1870, in: Wolfram Fischer (Hrsg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung. Berlin 1968, S. 477-491; A. Gerschenkron, Die Vorbedingungen der europäischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert, in: Ebd., S. 23/24; danach war der strategische Faktor der Industrialisierung in Deutschland die Erfindung der Deutschen Bank, die die Funktionen der Depositenbank mit der Aufgabe langfristiger Kreditierungen verband. n Alfred Zimm, Die Entwicklung des Industriestandorts Berlin. Berlin 1959, S. 26, 28, 23, 24; Lothar Baar, Probleme der industriellen Revolution in großstädtischen Industriezentren. Das Berliner Beispiel, in: W. Fischer (Anm. 10), S. 529-542. ι2 M. Messerschmidt, Die Armee in Staat und Gesellschaft. Die Bismarckzeit, in: Michael Stürmer (Hrsg.), Das Kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918. Düsseldorf 1970, S. 89-118; W. Deist, Die Armee in Staat und Gesellschaft 1890-1914, in: Ebd., S. 312-339; G. A. Craig, Die preußisch-deutsche Armee, 1640-1945, Düsseldorf 1960.
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der unteren Ebene zur Kyffhäuser-Kameraderie der Kriegervereine entartete. Dazu kam, daß die technische Überlegenheit der Truppen das neue Nationalgefühl mit den Errungenschaften der Industrie verknüpfte und die Industrieherren wie nationale Helden erschienen. Jedenfalls war Preußen durch den Industrialismus anders geworden. Es hatte seine Zweiteilung überwunden und war mit der Annexion von Hannover, Schleswig-Holstein, Kurhessen, Nassau und dem Finanzmarkt Frankfurt zum stärksten Machtfaktor Deutschlands geworden. Es hatte sein soziales Gesicht gewandelt und das altpreußische Element seiner Staats- und Königsidee als eines sittlichen und sozialen Anspruchs zurücktreten lassen. Es geriet selbst in den Sog der Dynamisierung von Gesellschaft und Wirtschaft hinein. Sein altes Ethos blieb allerdings in der militärischen, rechtlichen und administrativen Tradition lebendig, gewissermaßen als Korsettstange in einem neuen Zusammenhang. Mit zureichenden Gründen läßt sich wohl behaupten, daß die allgemeinste Bedingung für die Reichsgründung in der zeitweiligen Kongruenz von politischer, sozialer und wirtschaftlicher Dynamik zu suchen ist. Bismarcks „Realpolitik" brachte diesen Zusammenhang von wirtschaftlichem Liberalismus und preußischer Staatsgesinnung zustande durch eine Interessenpolitik, die seine junkerlichen Genossen nicht weniger entsetzte als die liberalen Führer, die sie verurteilten, aber doch als unentbehrlich ansahen13. Mit der Reichsgründung stabilisierte und konservierte sich der politische und soziale status quo. Das Reich wurde konservativ und defensiv nach innen und außen, ohne daß damit die Dynamik der Wirtschaft und ihres Marktmechanismus aufgehört hätte. Das Postulat der „Saturiertheit" stand im Gegensatz zu den ökonomischen Folgen der Reichsbildung und sollte das vor-industrielle Macht- und Wertgefüge zementieren 14. Das Reich war gewissermaßen gegen die Zukunft gegründet worden (Arthur Rosenberg). Man feierte nur noch das Erreichte. Dieser Widerspruch zwischen wirtschaftlich-sozialer Dynamik und politisch-sozialem Immobilismus war der allgemeine Grund für die strukturelle Dauerkrisis des Deutschen 13
Vgl. Walter Bußmann, Bismarck im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt. Quellen und Arbeitshefte für den Geschichtsunterricht. Stuttgart 1956; ders., Zur Geschichte des Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 186 (1958), S. 543. 14 W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte. Köln/Berlin 1966, S. 423-425; 431 (die gleichzeitige Furcht vor der Revolution von unten und dem Staatsstreich von oben); ähnlich. M. Stürmer, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, in: Historische Zeitschrift 209 (1969), S. 566-615; zur Konservierung des Agrariertums: Hans Rosenberg, Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in: Ders. (Hrsg.), Probleme der deutschen Sozialgeschichte. Frankfurt 1969, S. 51 - 8 0 ; vgl. auch M. Stürmer, Konservativismus und Revolution in Bismarcks Politik, in: Ders. (Anm. 12), S. 143-167; K.W. Hardach, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879. Berlin 1967; H.-H. Herlemann, Vom Ursprung des deutschen Agrarprotektionismus, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert. Hannover 1965, S. 22, Tab. 3. Weitere Literatur bei Wehler, in: M. Stürmer (Anm. 12), S. 258; Anm. 15 und 14.
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Reiches, die sich später besonders im Nebeneinander von defensiver Friedenspolitik und offensiver Wirtschaftspolitik äußerte. Das Reich war zwar ein Nationalstaat, aber die Nationwerdung war nicht das Ergebnis einer Emanzipation von unten und einer Integration nach oben, sondern das Werk der Fürsten unter Führung Bismarcks. Die neuen gesellschaftlichen Kräfte waren nicht oder nur nachträglich beteiligt. Aber sie bejahten diesen Staat, der ihnen zudem Bewegungsfreiheit und das demokratischste Wahlrecht der Welt gab, und der ein wirklicher Rechtsstaat war. Das Reich hielt vorerst am Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit fest; der berühmte „Boom" von 1868 bis 1873 hatte Großbanken, Betriebskonzentrationen, Koordinationsformen zur Investitionslenkung usw. ins Leben gerufen und Berlin zum Mittelpunkt des Netzes von Bankkapital, Aktienmarkt und Industrieunternehmen gemacht. In diese „Gründerzeit" platzte der Wiener Bankkrach vom Mai 1873 mit Sturz der Börsenkurse, folgenden Massenentlassungen und Lohnsenkungen hinein, der die „Große Depression" von 1873 bis 1896 einleitete, die eine Kette von Wachstumsstörungen war, welche die Verflechtung von Finanz- und Industrieinteressen steigerte und die Bildung mächtiger Interessenverbände veranlaßte 15. Diese großen Verbände waren Kinder der Depression, die über Kartellierung und Sicherung von Absatzchancen hinaus auf Regierung, Parlament und Öffentlichkeit einzuwirken trachteten. Auch die Parteien blieben davon nicht unberührt und näherten sich dem Typus der Interessen- und Klassenparteien. Die neu ins Leben gerufene Deutsch-Konservative Partei war die Interessenvertretung der mächtigen Verbände, und auch die 1875 vereinigte Sozialdemokratie trat als solidarische Klassenpartei auf 16 . Hinter der Fassade des Reiches meldeten sich die Kräfte der industriellen Massengesellschaft an und stellten die überkommene Machthierarchie in Frage. Die Gefahren der Depression führten 1876 zu einem Bündnis der Hochfinanz und Schwerindustrie mit dem ökonomisch zurückgebliebenen, aber politisch führenden Großagrariertum, die beide durch Absatz- und Konkurrenzschwierigkeiten, durch Überproduktion und Preisverfall sich gefährdet sahen. Die Allianz von Roggen und Eisen, von Grundbesitz und Hochofen führte die Wendung zum Schutzzoll 1879 herbei, die die Kluft zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft überdecken sollte 17 . 15
Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa. Berlin 1967, S. 169-191; vgl. dazu die Kritik von A. Gerschenkron im Journal of Economic History, März 1968, wiedergegeben in: A. Gerschenkron, Continuity in History and Other Essays, Cambridge, Mass. 1968, S. 405-408, der allerdings den heuristischen Wert der „langen Wellen" im modernen Wirtschaftswachstum im Anschluß an die Thesen von Kondratiev nicht abstreitet. Vgl. auch: H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881. Köln/Berlin 1966, S. 421-586; 600ff.; Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus. Köln/Berlin 1969. 16 Thomas Nipperdey, Interessen verbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: H.-U. Wehler (Anm. 14), S. 369 ff.; H.J. Rühle, Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890-1914, in: M. Stürmer (Anm. 12), S. 340-377.
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Die überindividuelle Gewalt dieses Umschichtungsprozesses leitete das Ende der liberalen Ära ein, die auf dem Kompromiß zwischen liberalem Bürgertum und feudalem Machtstaat seit 1866 beruhte, einem Kompromiß, mit dem Liberalismus und Militäradel im Namen der „Realpolitik" den Schlußstrich unter die revolutionäre Epoche gezogen hatten. Der Weg ging nun von der Freiheit der Wirtschaft im Staat zum Interventionsstaat. Dieser Gang war so einschneidend, daß er als gleichbedeutend mit einer Neufassung des Reiches angesehen werden kann. Dieser moderne Interventionsstaat suchte die Disparitäten des wirtschaftlichen Wachstums im Interesse seiner staatstragenden, aber ökonomisch regressiven Feudalschicht auszugleichen. Der Angriff dieser Allianz von Roggen und Eisen gegen den Liberalismus in Handel und Konsum schuf die Voraussetzungen zur Transformation des ganzen Systems. Es wurde unter der Fahne des Schutzzolls durch einen Solidaritätsprotektionismus gesichert, der die agrarwirtschaftlichen Interessen des preußischen Grundadels und die Absatzinteressen der Schwerindustrie an den Staat band. Mit dem Schutzzoll von 1879 paßte sich Bismarck den Bedürfnissen der nach Schutz rufenden Industrie und Agrarwirtschaft an, kaum aber den andersgelagerten Bedürfnissen des Handels und der Konsumgüterindustrie. Er schuf sich damit Bundesgenossen auf Reichsebene. Eine alte und eine neue exklusive Elite fanden sich zusammen zu einem „Kartell der nationalen Arbeit", „der staatserhaltenden und schaffenden Stände" als der unantastbaren Grundlage des Systems. Damit nahm der Staat Züge einer dirigistischen bonapartistischen Diktatur an, in der sich sozialkonservative, demokratisch-progressive und repressive Züge vermischten 18. Unter dem Systemzwang der „Großen Depression" war das Bündnis der großen Interessen mit dem konservativen Obrigkeitsstaat zustande gekommen, das die Fortsetzung der freien Expansion nach außen, gestützt auf einen abgeschirmten Binnenmarkt nach innen, als Ausweg aus der Krisis verfolgte. Das bedeutete für beide eine Monopolstellung auf dem Binnenmarkt, die den Großgrundbesitz von der tödlichen Konkurrenz der billigen amerikanischen und russischen Importe befreite und der Schwerindustrie eine beliebige Preisgestaltung auf dem Binnenmarkt als Kompensation für ihre Dumping-(Unterbietungs-)politik auf den Weltmärkten gestattete. In beiden Fällen war der Binnenmarkt der Leidtragende. Die Bevölkerung mußte die Erhaltung der Wirtschaftskraft der Großagrarier und die Steigerung der Exportquote der Schwerindustrie durch höhere Preise bezahlen. Die Sicherung des Binnenmarktes für die Produzenten umschloß somit eine soziale Regression der Konsumenten. Dabei bemühte sich Bismarck, die sozialen Folgen dieser Steuerungsform möglichst zu mildern oder abzufangen, sei es durch Repression (im 17 H.-U. Wehler (Anm. 14), S. 87-95; O.I. Lambì, Free Trade and Protection in Germany, 1868-1879. Wiesbaden 1963; vgl. auch W. Bußmann, Das Zeitalter Bismarcks, in: Leo Just, Handbuch der Deutschen Geschichte 3, 2. Aufl. Konstanz 1956. is H.-U. Wehler (Anm. 14), S. 180-184; 454ff.; Fritz Stern, Money, Morals, and the Pillars of Bismarcks Society, in: Central European History 3 (1970), S. 66-72; M. Stürmer, Bismarckmythos und Historie (Anm. 3), S. 14- 17.
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Sozialistengesetz), durch Pazifikation (in der Versicherungsgesetzgebung) oder sei es durch nationale Ersatzintegrationen. So hatte seine Überseepolitik 1884/85 auch den Zweck, das innenpolitische Konfliktpotential auf äußere Ziele zu lenken. Diese soziale Ablenkungspolitik setzte sich später in der Flotten-, Kolonial- und Weltpolitik fort, ohne damit eine dauerhafte Lösung, also eine wirkliche soziale Integration, zu erreichen 19. Das neue System funktionierte indessen nur auf Kosten des Binnenhandels, der Konsumenten und insbesondere des Arbeitertums. Es kam nicht zur vollen Entwicklung eines der Wachstumsrate entsprechend prosperierenden Binnenmarkts. Bezeichnenderweise fanden die Auswanderungswellen nach Amerika ihren absoluten Höhepunkt in den Jahren von 1890 bis 1892. Der Staat nahm damit ^Klassencharakter an; der kleine Mann mußte die Konservierung des Agrarfeudalismus und die Expansion der Schwerindustrie bezahlen. Das Ergebnis war eine schleichende Sozialkrisis und eine Ideologisierung der Arbeiterschaft, die durch jene nationalen Ersatzintegrationen und die glänzende Fassade des Reiches nur unvollkommen verdeckt wurde. Diese Krisis erreichte nicht ihre volle Virulenz, da das Reich ein wirklicher Rechtsstaat war, in welchem es wohl Schranken, aber keine Rechtlosigkeit gab. Weit verhängnisvoller war, daß der Schutz des Binnenmarktes mittels autonomer Zolltarife die außenpolitischen Beziehungen belastete. Er führte das Ende der deutsch-russischen Freundschaft seit 1879 und endgültig seit dem Verbot der Lombardierung russischer Wertpapiere 1887 herbei. Der Zollkrieg war für Rußland der erste Anlaß, sich England und Frankreich anzunähern. Die Liga der konservativen Kräfte im Reich störte das Gewebe der Außenpolitik, besonders als Bismarck 1887 gegen seine Partner auf der Priorität friedlicher diplomatischer Beziehungen zu England insistierte. Sein Bündnis mit den Großinteressen gab ihm keineswegs freiere Hand für seine Politik, sondern begann schon damals seinen Aktionsraum im Osten und Westen zu schmälern und war eine Mitursache seines Sturzes. Der Primat der Innenpolitik gefährdete die politische Entscheidungsfreiheit. Die widersprüchliche Signatur der Reichsgründung, das Dilemma eines industrialisierten Agrarstaates, kam darin symptomatisch zum Ausdruck 20. 19 Über die sogenannte Ablenkungspolitik vgl. H. Rosenberg (Anm. 7), S. 258-273; H.-U. Wehler (Anm. 14), S. 423-502; Michael Stürmer, Revolutionsfurcht und überseeische Expansion im Zeitalter Bismarcks, in: Neue Politische Literatur 15 (1970), S. 188-198. Für das Ablenkungsmotiv spricht die geringe wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Schutzgebiete, die als Zollausland behandelt wurden, im Jahre 1913 nur 0,5% des Außenhandels ausmachten und das Mutterland beträchtlich belasteten. Sie erschienen als reine Herrschaftsgebiete, deren Besitz das nationale Selbstbewußtsein befriedigte. Der Kolonial- und ÜberseeImperialismus fand seine breiteste Gefolgschaft im Mittelstand und kaum in der Großwirtschaft. Vgl. auch: Hans Rothfels, Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik, in: Ders., Bismarck, der Osten und das Reich. Darmstadt 1962. 20 John C.G. Röhl, The Disintegration of the Cartell and the Policies of Bismarck's Fall from Power, 1887-1890, in: Historical Journal 9 (1966), S. 62 ff.; ders., Germany without Bismarck. The Crisis of Government in the Second Empire, 1890-1900. London 1967
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Die Errichtung hoher Zollmauern stand ohnehin im Widerspruch zu dem rapiden Wachstum der Marktwirtschaft, das allein die weitere Konkurrenzfähigkeit garantierte. Die Sicherung der Profite auf dem Binnenmarkt durch Ausschluß ausländischer Konkurrenz brachte eine Restriktion dieses Binnenmarktes mit sich und zog eine größere Abhängigkeit der Wirtschaft von den Außenmärkten nach sich. Deshalb griff die deutsche Wirtschaft, der neuen Konjunkturwoge nach 1896 folgend, über den nationalen Bereich hinaus und verband sich durch Einzelverträge und internationale Kartellabmachungen mit ihren Konkurrenten im Ausland. Besonders die Finanz-, Handels-, Konsumgüter- und auch Industrieinteressen griffen völlig getrennt und uneinheitlich über den nationalen Binnenraum hinaus. Hier gab es keinen Zusammenhang von Wirtschaft und Politik im Sinne einer gezielten, politisch auswertbaren Schwerpunktbildung mehr, zumal das Reich bis 1910 überhaupt nicht in der Lage war, Nachfrage und Beschäftigung im Mutterland durch Kapitalexport und Auslandsinvestitionen nach Bedarf zu balancieren 21. Nur Aufrüstung und Flottenbau gaben Handhaben zur Produktionsregulierung und -Steigerung, während die eigentliche Expansion der übrigen Wirtschaft nach außen neben der Politik einherlief. Soweit das Reich die Wirtschaft dirigierte, geschah es lediglich in Form des Schutzzolls und eines Rüstungs-Imperialismus. Ein informeller wirtschaftlicher Imperialismus mit politisch abgestützter Schwerpunktbildung im Ausland entwickelte sich kaum (außer im Blick auf die Bagdadbahn und eventuell die rumänischen Anleihen), da die wirtschaftlichen Interessen in sich zu sehr differierten und durchweg den größeren, schnelleren und sicheren Profit in den reicheren Ländern wie Osterreich, England und Amerika bevorzugten. Einen deutschen Dollar-Imperialismus gab es nicht. Die Überlegung, mittels einer starken Gläubigerposition politischen Druck auszuüben, zeichnete sich kaum ab 22 . (dt. Übersetzung: Tübingen 1969); H.-U. Wehler, Bismarcks Imperialismus und die späte Rußlandpolitik unter dem Primat der Innenpolitik, in: M. Stürmer (Anm. 12), S. 235-264; vgl. insbesondere Wehler (Anm. 18), S. 259, wo er sich gegen die Unterschätzung des Effekts des Lombardverbots von 1887 wendet, die R. Wittram, H. Hallmann und H. Krausnick vertreten. Bismarck selbst war sich über die prekärer werdende Situation offenbar im klaren: „Ich sehe sehr schwarz in Deutschlands Zukunft" (1883), Gesammelte Werke VIII, S. 492; vgl. auch O. Becker, Das französisch-russische Bündnis, Berlin 1925, S. 279, wo ein Schreiben von Giers an Ahrenthai vom Oktober 1893 zitiert wird: „Wissen Sie, wer der Urheber dieser (russisch-französischen) Annäherung ist? Niemand anders als ... Bismarck", insofern er „durch eine Reihe gegen Rußland gerichteter wirtschaftlicher Maßregeln ... das Terrain für die heutige Konstellation in Europa vorbereitet" habe. So auch Rudolf Ibbeken, Das außenpolitische Problem Staat und Wirtschaft in der deutschen Reichspolitik 1880-1914, Schleswig 1928, S. 96-136. 21 Nach Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth. 1959 (dt. Übersetzung: Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Göttingen 1960). 22 Nach W. Zorn, Wirtschaft und Politik im deutschen Imperialismus, in: Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 344. Selbst die Konzentration der verfügbaren Finanzmittel auf Bagdadbahn und rumänische Anleihen führte 1914 in eine Krisis. Vgl. W. Zorn, S. 347; F. Fischer, Griff nach der Weltmacht. 3. verb. Auflage, Düsseldorf 1964, S. 293 ff.; 343 u. a.; ders., Weltmachtstreben und deutsche Kriegsziele, in: Historische Zeitschrift 199 (1964), S. 293 ff. Selbst die Bagdadbahn wurde
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Das Reich vermochte kaum oder nur partiell Politik und Wirtschaft zu koordinieren. Dazu trug auch das Chaos der obersten Reichsbehörden bei, die oft gegeneinander Politik trieben, und hinter denen heterogene Interessen standen. Das sogenannte „persönliche Regiment" Wilhelms II., sein „populärer Absolutismus", war mehr der Versuch, diese Widersprüche und jene Ungereimtheiten in der politischen und sozialen Struktur durch symbolische Zuspitzung auf die repräsentative Person des Kaisers zu überspielen, wobei der Kaiser selbst oft klarer sah als viele seiner Ratgeber 23. Seine Flucht in die Flottenpolitik war außenpolitisch verhängnisvoll, aber innenpolitisch notwendig als letzter Faktor einer nationalen Integration. Sie verhinderte freilich nicht, ja steigerte die Lähmung der deutschen Politik überhaupt, die ihre Bündnisfähigkeit zunehmend verlor, zumal eine wirtschaftliche Untermauerung politischer Vereinbarungen nur in Ausnahmefällen vorkam. Wirtschaftliche Einschränkungen zugunsten politischer Notwendigkeiten gab es nicht. Die deutsche Politik der „Hinterhand", der „offenen Tür", des Abwartens, des „sowohl als auch" war nur Ausdruck einer Entscheidungslosigkeit, die dem wirtschaftlichen Expansionsbedürfnis nach allen Seiten und in alle Weltgegenden hinein gerecht werden sollte. Sie war zu einem guten Teil eine zu innenpolitischen Zwecken mißbrauchte Außenpolitik. Die nach außen hochentwickelte freie Wirtschaft stimmte mit der kommerziellen Restriktion und sozialen Regression nach innen nicht überein, die aber zur wirtschaftlichen Rückendeckung und zur Erhaltung des sozialen Status quo notwendig erschien. Dabei sicherte sich ausgerechnet die überdimensionierte Schwerindustrie auch ihr Expansionsbedürfnis nach innen durch die sogenannte „Schutz- und Trutz-Waffenschaukel". Die Expansion eines Riesenbetriebs wie des Kruppkonzerns, der 1893 zum größten Konzern der Welt geworden war, ist symptomatisch für die wachsende Inkongruenz von Staats- und Wirtschaftsinteressen in der Schwerindustrie 24. stets als „gewagtes Unternehmen" bewertet. Vgl. A. Lansburgh, in: Die Bank (1914), S. 425 (Jahresbericht der Deutschen Bank). Vgl. auch W. Zorn, S. 340/341: „Die Zweifel daran, ob der Kapitalismus vor 1917 wirklich seinem Wesen nach imperialistisch war, sind nie überzeugend zurückgedrängt worden." Nach G. W. F. Hallgarten, Imperialismus vor 1914. 2. Aufl., München 1963, erfolgte die Kontrolle der deutschen Außenpolitik durch ostelbischen Adel, Großindustrie und Reederei, weniger oder kaum durch Hochfinanz und Großhandel. Eher wurde die vom Freihandel bestimmte kapitalistische Weltwirtschaft durch den Imperialismus gestört und in ihrer Entfaltung behindert; vgl allgemein: Ludwig Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert. Frankfurt 1961. 23 Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918. München 1969; vgl. auch Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln/Opladen 1961; desgl. Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.), Die anachronistische Souveränität - Zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, Köln 1969. 24 Vgl. zum folgenden: Bernt Engelmann, Krupp. Legenden und Wirklichkeit. München 1969, der die Schutz- und Trutzwaffenschaukel und die Kartellvereinbarungen bzw. Lizenzverträge aufgrund seiner Einblicknahme in die Krupp-Archive schildert. Bisher ließ sich die Wirtschafts- und Kartellpolitik des Krupp-Unternehmens nach Umwandlung in eine Familien-Aktiengesellschaft (am 1. 7. 1903) kapitalmäßig nicht verfolgen; vgl. auch: W. Boelcke (Hrsg.), Krupp und die Hohenzollern. Berlin 1956; N.C. Engelbrecht und FC. Hanighen,
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Zuerst lieferte Krupp den Stahl-Nickel-Panzer und nach Sättigung des Marktes eine neue Granate aus Chromstahl, die diese Platte durchschlagen konnte, dann 1893 neue Chromnickelstahlplatten gegen die Chromstahlgeschosse. Danach ultramoderne Sprengköpfe dagegen, ferner nach Verkauf der starren Kanonenmodelle von 1896 die Druckluftwiege, die Frankreich nach Ablauf der Patentzeit schon längst verwendet hatte und hohe Schußgeschwindigkeit garantierte. Danach mußten alle deutschen Geschütze adaptiert werden zu Rohrrücklaufgeschützen. Nichtsdestoweniger ging die Expansionsdynamik der Schwerindustrie auch dann noch über die deutschen Rüstungsbedürfnisse hinaus. Das führte zu internationalen Kartellvereinbarungen der Rüstungsindustrien. Alle führenden Panzerstahlinteressenten vereinigten sich 1901 zur „Harvey United Company Ltd.", in der sich Carnegie, Armstrong, Vickers und Maxim, Cammei, Schneider-Creusot und weitere deutsche, italienische, französische und britische Rüstungsfirmen, unter ihnen Stumm, Krupp und ein Repräsentant der Deutschen Bank, zu Patent- und Erfahrungsaustausch zusammenschlossen. Innerhalb dieses Kartellbereichs kassierte Krupp für jede Tonne Panzerplatten 45 Dollar Lizenzgebühren. Im gleichen Jahr wurde in der „Steel Manufacturers' Nickel Syndicate Ltd." die Geschütz- und Granatproduktion gepoolt, wobei auch Schneider-Creusot, Stumm und Krupp hinzutraten. Ein Lizenzvertrag zwischen Krupp, Vickers und Maxim gestattete den Engländern die Verwendung von „Krupps-Patent-Zeitzündern", wobei eine Vergütung von einem Drittel Schilling pro abgefeuerte Granate zu leisten war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Schuld aus fünf Kriegsjahren auch ordnungsgemäß abgerechnet. Selbst hier im Rüstungssektor sprengte also das Wachstumsbedürfnis die nationale Wirtschaft. Von einer Kongruenz politischer und wirtschaftlicher Tendenzen ließ sich kaum sprechen; ebenso wenig von einer opferwilligen Loyalität oder gar von einem vaterländischen Ethos der Wirtschaft. Es ließ sich nicht davon reden, daß die Außenpolitik der Industrie oder die industriell interessierte Hochfinanz insgesamt der Außenpolitik diente. Der Drang der Wirtschaftsführer wie Ballin, Warburg, Stinnes oder Thyssen ging vielmehr dahin, die Wirtschaftsbeziehungen zu entpolitisieren, um die Geschäftsbeteiligungen zu erleichtern. Das Kapital suchte seine eigenen freien Wege und ließ sich, selbst im Wettbewerb mit deutschen Firmen, in Bündnisse mit Finanzkreisen weltpolitisch „feindlicher" Staaten ein 25 . Merchants of Death. New York 1934; Ν. Mühlen, The Incredible Krupps. The Rise, Fall and Comeback of Germany's Industrial Family. New York 1959; vgl. allgemein: L. Launay/J. Sennac, Les relations internationales des industries de guerre. Paris 1932; E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914. Dortmund 1964; R. Liefinann, Kartelle, Konzerne und Trusts. Stuttgart 1927/1930; H. Bechtel, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. München 1956. 25 W. Zorn (Anm. 22), S. 351, 352; G. Schmidt, Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: M. Stürmer (Anm. 12), S. 410; vgl. Fritz Stern, The Political Consequences of the Unpolitical German, in: History 3 (1960), S. 103-143 (deutsch in: M. Stürmer [Anm. 12], S. 168-186); W. Treue, Wirtschaft und Außenpolitik, in: Tradition 5/1964, S. 193 ff., und 4/1965, S. 145 ff.
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Daraus ergibt sich für die kurze Geschichte des Kaiserreiches, daß es nicht des Widerspruchs zwischen alter Staatsräson und neuer Wirtschaftsdynamik Herr zu werden vermochte. Der Schutzzoll zugunsten der großagrarischen und Großindustriellen Produzenten sicherte zwar den sozialen Status quo, auf dem die Herrschaftsordnung beruhte, behinderte aber durch relativ hohes Preis- und relativ niedriges Lohnniveau eine angemessene ökonomische Expansion des Binnenmarktes. Er verwies die Wirtschaft auf eine uferlose und erfolgreiche Expansion in die Weltmärkte hinein. Daraus ergab sich die internationale Solidarität der Hochfinanz, des Handels und der Kartelle, und auch die internationale Solidarität der zur Regression verurteilten Arbeiterklasse, so daß eine gemeinsam getragene nationale Politik nicht zustande kam. Die innere Diskrepanz zwischen Staatsräson und wirtschaftlichem Interessenpluralismus, zwischen Feudalmonarchie und Parlamentarismus, wirtschaftlichem Fortschritt und sozialer Regression, und auch die äußere Diskrepanz zwischen restringiertem Binnenmarkt und uferlosem Außenmarkt, zwischen eindeutiger Politik und allseitigen Wirtschaftsinteressen bewirkten jene politische Bewegungslosigkeit und Vereinsamung, die der Preis für die wirtschaftliche Blüte auf allen internationalen Märkten war. Nur bei Flottenrüstung und Heer kam es zum Zusammengang größerer politischer und wirtschaftlicher Interessen26. Auf sie hin nahm die gelähmte und richtungslose Politik Rekurs, also auf jene Faktoren, die gerade das internationale Zusammenspiel der Märkte störten. Für diese verhängnisvolle Situation war der lähmende Gegensatz zwischen politischer Defensive und wirtschaftlicher Offensive unmittelbar verantwortlich, wobei deren mangelnde Koordination mittelbar durch die Binnenmarktrestriktionen gesteigert wurde. Aber hier war die soziale Frage, also die eigentliche Strukturkrisis, weniger ausschlaggebend, zumal die Zündkraft des nationalen Anliegens nicht ohne Wirkung geblieben war 27 . Der Sozialverband des Reiches war bei Kriegsausbruch jedenfalls stabiler als der Wille zu nationaler Solidarität bei der kapitalistischen Wirtschaftsführung. Die Anarchie kam eher von oben als von unten. Sie stellte die politische 26 E. Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, 1894-1901. Berlin 1930; ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte (hrsg. von H.-U. Wehler), Berlin 1966; V. R. Berghahn, Zu den Zielen des deutschen Flottenbaus unter Wilhelm II., in: Historische Zeitschrift 210 (1970), S. 34-100; ders., Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhem II. Düsseldorf 1971. 27 Dazu kamen trotz der moralisch-sozialen Abdrängung des Arbeitertums in eine Art Subkultur eine gewisse Entspannung im sozialen Kraftfeld im Verlauf der Hochkonjunktur seit 1896, ferner die disziplinierte Abwartetaktik des revisionistischen Flügels der SPD und die Bereitschaft dieser „Sozialpatrioten", sich mit dem deutschen Nationalstaat in außenpolitischer Hinsicht, wenn auch aus eigenen Motiven, zu identifizieren. Jedenfalls wurde eine offensive Emanzipationspolitik zurückgestellt. Vgl. etwa R. M. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Festschrift für Friedrich Lütge (Anm. 22), S. 371-393. Von einer vorrevolutionären Periode kann man für die deutsche Situation 1913/14 nicht sprechen, eher noch für England und Frankreich; vgl. G. Schmidt, Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: M. Stürmer (Anm. 12), S. 432.
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Handlungsfähigkeit des Reiches und damit dessen nationale Existenz inmitten der Großmächte unmittelbarer und eindeutiger in Frage, als die Revolutionsanfälligkeit es tat. Die Ausgangssituation, die den Krieg herbeiführte, war dadurch gekennzeichnet, daß niemand wußte, wer in Deutschland eigentlich noch kompetente Politik machte - so äußerte sich jedenfalls 1912 der britische Verteidigungsminister Haidane. Das Chaos der obersten Reichsbehörden und der Wirtschaftsspitzen im Verein mit dem Mangel an Übereinstimmung zwischen Regierungspolitik und Reichstagsmehrheit ließen eine klare und kontrollierbare Politik kaum mehr zu. Das Auswärtige Amt hatte angesichts der beträchtlich reduzierten außenpolitischen Manövriermasse ohnehin jede Reputation verloren 28. Diese Entscheidungsunfähigkeit gab am Vorabend des Weltkrieges den Zufällen, Mißverständnissen und Interventionen verhängnisvollen Raum, bis schließlich die Ansprüche der technisch-militärischen Planung den Ausschlag gaben, deren gewaltige und eindeutige Mechanik als Erlösung von einem unerträglichen Druck empfunden wurde. Das war aber keine Politik mehr, sondern die Flucht vor der geschichtlichen Verantwortung in ein Schicksal hinein. Jetzt präsentierte die „Oberrechnungskammer" der Geschichte, von der Bismarck warnend gesprochen hatte, ihre Rechnung, auch deshalb, weil diesem glanzvollen Reich bei aller großartigen Entfaltung der Mut und vielleicht auch der geeignete Ansatz zur aktiven inneren Weiterentwicklung gefehlt hatte 29 . Es hatte an der widersprüchlichen Signatur seines Ursprungs festgehalten, der sozialen Immobilismus und wirtschaftliche Dynamik verbunden hatte. Dadurch verfehlte es den Weg einer nationalen und sozialen Integration und erschien mehr als eine „Versicherungsanstalt gegen die Demokratie'4 (Rosenberg). Das Ergebnis war jetzt wirtschaftliche und militärische Macht einerseits und politische Ohnmacht andererseits. Der Krieg war zwar ein 28 Dieser Reputationsverlust des Auswärtigen Amts zeichnet sich schon beim HelgolandSansibar-Abkommen 1890 und mit der Bismarck-Fronde ab; er kulminierte im politischen Ausgleichsversuch 1909/1911 mit Frankreich. Auch die Achtungserfolge Kiderlen-Wächters änderten nichts an dem lähmenden Zweifrontendruck von innen und außen. Eine wirksame Verständigungs- und Entspannungspolitik nach außen hätte eine Befriedungspolitik nach innen vorausgesetzt. Das aber wäre Sache des Reichskanzlers gewesen. Bethmann Hollweg aber war der „Kanzler ohne Eigenschaften", den das Reich angesichts der außenpolitischen Gefahren im Innern in Kauf nahm. Vgl. unten Anm. 30. 29 Allerdings war eine Politik des Krisenmanagements und der inneren Reformen abhängig von der internationalen Konstellation, die nicht nur von deutscher Seite durch Reizbarkeit und Nervosität gekennzeichnet war. Auch Paris und London mußten unter dem Druck innerer Opposition Rückzieher oder spektakuläre Konfrontationen vollziehen. Auch hier gab es, besonders in Bezug auf Großbritannien, ein Ineinandergreifen sozialer Krisen und außenpolitischer Interessen, das die außenpolitischen Konflikte verschärfte und einen Ausgleichskurs erschwerte. Die offenbare oder auch vermeintliche Instabilität der innen- und außenpolitischen Verhältnisse aller europäischen Großmächte erlaubte keine schwächende innere Umgruppierung. Vgl. Gustav Schmidt, Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: M. Stürmer (Anm. 12), S. 418 f., 429, 432, über die Frage der objektiven Möglichkeiten der Reformierbarkeit der inneren Verfassung des Reiches.
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Ausweg, den niemand wollte, den aber alle fürchteten, erwarteten und schließlich aufatmend begrüßten 30. Für diesen Krieg fühlte sich und war niemand im strengen Sinne persönlich verantwortlich. Zwischen Schuld, Schicksal oder Verhängnis war kaum zu scheiden. Was sollte und soll hier die provinzielle Schuldfrage? Sie gelangt kaum in die Nachbarschaft des eigentlichen Problems. Der Krieg war aber auch kein Gericht über das Reich als Ganzes, wie viele behaupten. Nicht dieser Krieg brachte ihm den Untergang, sondern das megalomane Satyrspiel des Dritten Reiches. Das Kaiserreich litt in der Tat an seinen Widersprüchen, aber es ging nicht an ihnen von innen her zugrunde 31. Erst die wachsende Kluft zwischen Kriegsbelastungen und Friedenschancen im Frühjahr 1917 führte zu einer deutschen innenpolitischen Krisis - bei relativer Passivität der Arbeiterschaft. Die nach 1918 freigewordenen sozialen Energien ergossen sich in den verkleinerten, aber weiter bestehenden Reichsverband hinein. Der nationale Selbstbehauptungswille war ungebrochen bis in die „kaiserliche Sozialdemokratie" hinein und ließ die Klassenkampfsituation nicht zur vollen Auswirkung kommen. Das Reich war mithin kein Machwerk und kein Sündenfall, wie die altkonservativen Preußen und die Reichskatholiken es sehen wollten, sondern ein zwar krisenanfälliger aber doch zeitgemäßer, allgemein bejahter Rechts- und Nationalstaat, allerdings geschaffen und getragen von feudalen Schichten und sogleich versetzt in die Phase des Imperialismus, also einem außerordentlichen Spannungsfeld von statischen und dynamischen Antrieben ausgeliefert und damit alles andere als eine endgültige Erfüllung. Es war ein verspätetes Moment der allgemeinen Entwicklung, in welchem sich alle Tendenzen der Epoche zusammendrängten, ohne sich in eine entsprechende Politik integrieren und konsolidieren zu lassen. Der Sturz in die Katastrophe 1918 beseitigte alten Feudalismus und neuen Imperialismus, nicht aber das im Reich verkörperte politische, nationale, rechtliche und soziale Anliegen. Die Rettung der Reichseinheit war sogar das legitime Anliegen der revolutionären Regierung von 1918, und die Weimarer Republik erst gab dem Reich 1922 seine offizielle Nationalhymne „Deutschland, Deutschland über alles ...". Das 30
Vgl. Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Bern 1963; zu Bethmann Hollweg: Klaus Hildebrand, Bethmann Hollweg. Der Kanzler ohne Eigenschaften? Urteile der Geschichtsschreibung. Eine kritische Bibliographie. Düsseldorf 1970; Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 3: Die Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzler 1914 bis 1917. München 1964; Karl Dietrich Erdmann, Zur Beurteilung Bethmann Hollwegs, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 15 (1964); Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914. Düsseldorf 1969. 31
Vgl. oben Anm. 27; Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. 3. verb. Aufl. Düsseldorf 1964; ders., Weltmacht oder Niedergang - Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt 1965; vgl. die Alternativkonzeption zu Fischer bei Gustav Schmidt (Anm. 2); Hubert Rumpel, Der Erste Weltkrieg - Einleitungsphase weltgeschichtlichen Umbruchs, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 2/1971, S. 79 ff.; danach fehlt es noch an einer überzeugenden Verbindung der innenpolitsch-strukturellen mit der außenpolitischen Fragestellung.
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Hitler-Reich hingegen war die Negation des im Reich verkörperten Wertgefüges, das ihm nur als Maskerade seiner Ziele diente 32 . Demgegenüber war gerade das Reich das Anliegen der Widerstandskämpfer von 1944, die an den Ursprung und das tragende Element des Reiches anknüpften, als sie sich im Namen des Rechts und der Ehre auf preußische Tradition und preußisches Ethos beriefen. Damit erwiesen sie, aus der Weihe des eigenen Untergangs, ihre Reverenz einer Wertwelt, die jenseits momentaner Interessen und Bedingungszusammenhänge sich in einer Gesinnung ausprägte, die Politik als sittliche und rechtliche Aufgabe verstand. Was sie taten, diente der Rechtfertigung des Reiches vor der Welt. Das letzte und höchste Opfer für seinen Fortbestand wurde mit Berufung auf Preußen gebracht und gegen einen Nationalismus, der zwar soziale Integration predigte, aber Recht und Gerechtigkeit mißachtete. In gewisser Weise bestimmt das Reich noch unsere Gegenwart, denn das Reich, und nicht das Imperium Hitlers, galt als Verhandlungspartner der Siegermächte von 1945; es lebt noch als Wille der Nation zur Einheit in Recht und Freiheit und auch als letzte, den Deutschen förmlich zugestandene Rechtsposition für eine künftige Friedensordnung. Das Reich wurde verstümmelt und zerschlagen, blieb aber der völkerrechtlich anerkannte und grundgesetzlich fixierte Maßstab für die Möglichkeit und die Legitimität einer deutschen Politik. Erst die Aufgabe dieser letzten historischen, rechtlichen und moralischen Grundlage würde das Ende seiner geschichtlichen Wirksamkeit bedeuten.
32 Vgl. zur Frage der Kontinuität: Wilhelm Mommsen, Bismarck. Ein politisches Lebensbild. München 1959, S. 9; Andreas Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität, in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Düsseldorf 1969; John C.G. Röhl, From Bismarck to Hitler. The Problem of Continuity in German History. London 1970, wo das Kontinuitätsproblem von der Ebene der sozialen Strukturgeschichte her gesehen wird; vgl. allgemein: Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. 4. Aufl., Wiesbaden 1949, S. 26.
Nachweis der Erstveröffentlichungen 1. Die necessità als Zentralbegriff im politischen Denken Machiavellis, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 20 (1968), S. 14-27. 2. Machiavelli und der Machiavellismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3 (1950), S. 346-360. 3. Thomas Morus und seine „Utopia" als Wegbereiter moderner Sozialanalyse, in: Udo Kindermann, Wolfgang Maaz, Fritz Wagner (Hrsg.): Festschrift für Paul Klopsch. Göppingen 1988, S. 233-256. 4. Politik und Heilsgeschehen bei Bossuet. Ein Beitrag zur Geschichte des Konservativismus, in: Historische Zeitschrift 179 (1955), S. 449-469. 5. John Locke. Vom ständischen zum bürgerlichen Widerstandsrecht, in: Peter Alter, Wolfgang J. Mommsen, Thomas Nipperdey (Hrsg.): Geschichte und politisches Handeln. Studien zu europäischen Denkern der Neuzeit. Theodor Schieder zum Gedächtnis. Stuttgart 1985, S. 13-48. 6. Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert, in: Helmut Berding, Kurt Düwell, Lothar Gall, Wolfgang J. Mommsen, Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Schieder. München/ Wien 1978, S. 41-58. 7. Französische Revolution und industrielle Klassengesellschaft, in: Kurt Kluxen und Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor Schieder zum 60. Geburtstag. München/Wien 1968, S. 67-96. 8. Die Herkunft der Lehre von der Gewaltentrennung, in: Josef Engels und Hans Martin Klinkenberg (Hrsg.): Aus Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Gerhard Kallen. Bonn 1957, S. 219-236; dasselbe in: Heinz Rausch (Hrsg.): Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung. Darmstadt 1969, S. 131-152. 9. Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des englischen Parlamentarismus, in: Politische Vierteljahrsschrift 4 (1963), S. 2 - 1 7 ; dasselbe in: Kurt Kluxen (Hrsg.): Parlamentarismus (Neue wissenschaftliche Bibliothek 18). Köln/Berlin 1967, S. 99-111,444-449. 10. Die Umformung des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien beim Ubergang zur Massendemokratie, in: Kurt Kluxen (Hrsg.): Parlamentarismus (Neue wissenschaftliche Bibliothek 18). Köln/Berlin 1967, S. 112-137, 449-452. 11. Britischer und deutscher Parlamentarismus im Zeitalter der industriellen Massengesellschaft, in: Adolf M. Birke und Kurt Kluxen (Hrsg.): Deutscher und britischer Parlamentarismus (Prinz-Albert-Studien Bd. 3). München/New York/London/Paris 1985, S. 21-43. 12. Staatskirche und Nonkonformismus in England, in: Walter Peter Fuchs (Hrsg.): Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte. Stuttgart 1966, S. 115 -130.
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Nachweis der Erstveröffentlichungen
13. Die Glorreiche Revolution von 1688/89. Eine konservative Fassade für revolutionäre Wandlungen, in: Silvia Glaser und Andrea M. Kluxen (Hrsg.): Musis et Litteris. Festschrift für Bernhard Rupprecht zum 65. Geburtstag. München 1993, S. 581-595. 14. Der politische Ancient-Modern-Streit im England des 18. Jahrhunderts, in: Karl Erich Born (Hrsg.): Historische Forschungen und Probleme. Festschrift für Peter Rassow. Wiesbaden 1961, S. 146-160. 15. Die Idee der legalen Opposition im England des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 6 (1953), S. 321-338. 16. Die Auswirkungen der englischen Aufklärung auf Politik und Gesellschaft, in: HansJoachim Schoeps (Hrsg.): Zeitgeist der Aufklärung. Paderborn 1972, S. 9 - 2 8 . 17. Der englische Adel im 18. Jahrhundert, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Der Adel vor der Revolution. Zur sozialen und politischen Funktion des Adels im vorrevolutionären Europa. Göttingen 1971, S. 9-28. 18. Religion und Nationalstaat im 19. Jahrhundert, in: Julius H. Schoeps (Hrsg.): Religion und Zeitgeist im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Bonn 1982, S. 37-58. 19. Prinz Albert - Wegbereiter moderner Kultur- und Sozialpolitik, in: Adolf M. Birke und Kurt Kluxen (Hrsg.): Viktorianisches England in deutscher Perspektive (Prinz-AlbertStudien, Bd. 1). München/New York/London/Paris 1983, S. 13-19. 20. Prinz Albert und Europa, in: John A. S. Phillips (Hrsg.): Prince Albert and the Victorian Age. Cambridge 1981, S. I l l -132. 21. Soziale und wirtschaftliche Faktoren in Reichsgründung und Reichsgeschichte, in: Festschrift für Gerhard Pfeiffer (= Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 34/35 [1976]), S. 1111-1128.