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German Pages 344 [345] Year 2007
RICHARD SAAGE
Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 143
Richard Saage
Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie Historisch-politische Studien
Herausgegeben und eingeleitet von Axel Rüdiger
Duncker & Humblot • Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-12307-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorbemerkung des Herausgebers Die abgedruckten Texte Richard Saages, die zwischen 1974 und 2006 entstanden sind, wurden unverändert in dem vorliegenden Band publiziert. Allerdings sind orthographische und grammatikalische Fehler des Erstdrucks der Aufsätze korrigiert worden. Dem Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, dem VS Verlag Wiesbaden, dem Verlag S. Hirzel Stuttgart/Leipzig sowie dem Nomos Verlag Baden-Baden danke ich für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks der hier versammelten Aufsätze. Dankend hervorheben möchte ich aber gleichfalls, dass die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg den Druck finanziell unterstützt hat. Mein Dank gilt nicht zuletzt jedoch auch dem Diplom-Politologen Peter Haensch sowie stud. phil. Moritz Schneider und stud. phil. Till Leibersperger für ihre redaktionellen Hilfestellungen. Halle, im Oktober 2006
Axel Rüdiger
Inhaltsverzeichnis Axel Rüdiger: Politik und Geschichte: Demokratietheorie zwischen Kontingenz und Universalität
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Teil I: Das Zeitalter der großen bürgerlichen Revolutionen Widerstandsrecht und Toleranzprinzip im Aufstand der Niederlande
39
Zur politischen Theorie der großen Englischen Revolution
69
Probleme der Sozialgeschichte der amerikanischen Revolution
93
Teil II: Deutscher Idealismus Zum 200. Todestag Immanuel Kants (gemeinsam mit Susann Held)
129
Kants Rechtsphilosophie und der Besitzindividualismus. Anmerkungen zum 200jährigen Jubiläum der „Metaphysik der Sitten"
137
Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres (gemeinsam mit Zwi Batscha)
147
Zur neueren Rezeption der politischen Philosophie Johann Gottlieb Fichtes
171
Hegel und die Demokratie
213
Teil I I I : Demokratie in der Zwischenkriegszeit Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht. Das Beispiel Hans Kelsens und Max Adlers in der Zwischenkriegszeit
231
Otto Bauer (1881 -1938): Ein Lebensbild
249
Zwanzig Jahre danach: „Faschismustheorien" und ihre Kritiker. Vorwort zur Neuauflage 265 Teil IV: Aspekte der demokratischen Entwicklung nach 1945 Die SPD und die Furcht unserer Nachbarn vor einem „Vierten Reich"
281
Liberale Demokratie. Zur aktuellen Bedeutung eines politischen Begriffs
295
Zwischen Triumph und Krise. Zum Zustand des westlichen Verfassungstyps nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa 305 Literaturverzeichnis
317
Drucknachweise
339
Abkürzungen A. a. O.
Am angegebenen Ort
Anm.
Anmerkung
ARD
Allgemeine Rundfunkanstalten Deutschlands
Art.
Artikel
Bd.
Band
BRD
Bundesrepublik Deutschland
CDU
Christlich Demokratische Union
CSU
Christlich Soziale Union
DDR
Deutsche Demokratische Republik
Ebd.
Ebenda
EG
Europäische Gemeinschaft
f.
folgende
GG
Grundgesetz
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FN
Fußnote
HZ
Historische Zeitschrift
Jg.
Jahrgang
Komintern
Kommunistische Internationale
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
Mass.
Massachusetts
NPL
Neue Politische Literatur
NS
Nationalsozialismus
N.S.
Neue Serie
o.J.
ohne Jahreszahl
PPDS
page
PVS
Politische Vierteljahresschrift
S.
Seite
Sp.
Spalte
Partei des Demokratischen Sozialismus
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SDAPÖ
Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
USA
Vereinigte Staaten von Amerika
Vf.
Verfasser
Vgl.
Vergleiche
Zit. n.
Zitiert nach
Politik und Geschichte: Demokratietheorie zwischen Kontingenz und Universalität Axel Rüdiger
Die vorliegende Aufsatzsammlung fasst historische Studien zur Demokratietheorie zusammen, die Richard Saage über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren vorgelegt hat. Die frühesten Texte stammen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, andere wiederum gehören der jüngsten Vergangenheit an. So spiegelt diese Anthologie nicht nur eine intellektuelle Entwicklung wider; sie markiert auch Verschiebungen in den jeweiligen Gegenständen des Erkenntnisinteresses und führt verschiedene Perspektivwechsel vor. Dadurch eröffnet sich ein reizvoller Blick in die Werkzeugkiste einer politischen Theorie, die schließlich in eine kürzlich erschiene zusammenfassende Darstellung der Demokratietheorien mündete1. Das bearbeitete Gegenstandsfeld reicht von den Emanzipationskämpfen der Frühen Neuzeit, der politischen Philosophie des Deutschen Idealismus über die Impulse, welche die moderne Demokratie der Arbeiterbewegung verdankt bis hin zu den gegenwärtigen Debatten über die Zukunft der liberalen Demokratie. Ein besonderes Merkmal besteht hierbei in der Verbindung der politischen Dimension der Sozialgeschichte mit den hegemonialen Kämpfen um Begriffe und Konzepte, wie sie in der politischen Theorie geführt werden. Die Leitidee, welche alle Texte trotz zeitlicher und inhaltlicher Entfernung eint, ist das Verhältnis der Geschichte zu Politik und Demokratie. Ausgehend von diesem grundlegenden Zusammenhang sollen in der Folge Saages Texte mit Hilfe einer etwas weiter ausholenden Reflexionsbewegung in einem aktuellen Rahmen kontextualisert werden. Im Zentrum steht dabei der spezifisch politische bzw. demokratische Anteil in der spannungsvollen Vermittlung von historischer Kontingenz und allgemeinem Geltungsanspruch. I. Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschichte und Politik Was also verbindet die Politik mit der Geschichte im Allgemeinen und mit der Demokratie im Besonderen? Eine entscheidende Voraussetzung für den Versuch einer Antwort ist wohl die Bestimmung der Form, in welcher Politik und i Saage 2005.
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Geschichte sich begegnen können. So strebt jede politische Ordnung danach, sich als eine auf Dauer angelegte Institution mit allgemeinem, überzeitlichem Anspruch darzustellen. Täte sie dies nicht, verlöre ihr allgemeiner Anspruch auf Autorität an Geltung. Gelänge dieser Anspruch jedoch in einem vollständigen Sinne, könnte die Politik auf die Geschichte verzichten. Sie wäre geschichtslos. Das müsste nicht unbedingt heißen, dass es keine voneinander unterscheidbaren Ereignisse mehr gäbe, die Ereignisse hätten nur keinen Einfluss mehr auf den strukturellen Rahmen der Politik, in dem sie passierten. Es wäre sogar möglich den einzelnen Ereignissen eine radikale Kontingenz einzuräumen, ohne dass dies etwas an der politischen Superstruktur ändern würde. Die Reflexion der Politik könnte sich dann voll und ganz ahistorisch auf die bloße Funktion des politischen Systems beschränken. Ein solcher Fall käme freilich nur in Betracht, wenn es gelänge, die Spaltungen und Risse einer Gesellschaft gleichsam organisch zu überwinden oder zumindest komplett und harmonisch durch die Politik zu repräsentieren. In einer Gesellschaft mit demokratischem Anspruch ist dies aber qua Voraussetzung undenkbar, da hier die Differenz und der Konflikt zum internen Bestandteil der politischen Ordnung erhoben werden. Der nicht zu beseitigende Riss in der Legitimität verhindert die vollständige Monopolisierung des Politischen in einem System und setzt damit sowohl die Möglichkeit einer prozessierenden Geschichte als auch der Demokratie frei. Beide stehen insofern in einem konstitutiven Zusammenhang. Nicht zufallig entstand der prozessuale Geschichtsbegriff mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. 2 Im Singular ist er die Geschichte des Souveräns, der damit seine Herrschaft gegen seine Konkurrenten begründet. Zur fortschrittlichen Emanzipationsgeschichte wird sie dann mit der Idee der Volkssouveränität umgebildet. Aber mit der Erosion von Souveränität und der Pluralisierung der um Legitimität werbenden politischen Akteure pluralisiert sich auch die Geschichte, sie wird zu einem pluralen und relationalen Bündel von kontingenten Geschichten. An die Stelle des Kollektivsingulars Geschichte treten historische Praktiken und Erzählungen, die um den Legitimitätsglauben werben. Das Ende der großen Erzählungen fällt schließlich zusammen mit der „postmodernen Konstellation".3 Wenn es nun scheint, als löse sich alles in einer kontingenten Historizität auf, so soll hier doch behauptet werden, dass dies erst eine Voraussetzung dafür ist, um den Gegenstand des Politischen in umfassender Weise bestimmen zu können. Nach dem Zerfall der natürlichen bzw. selbstevidenten Ordnungen kann die Politik ihren allgemeinen Anspruch nur noch mit Hilfe einer radikalen Referenz auf die Geschichte einlösen. Doch um diese Konstellation radikaler Historizität beschreiben zu können, muss die politische Theorie selbst einen ahistorischen Standpunkt einnehmen. Dies ist jedoch nur scheinbar paradox und meint: um die Historizität als eine universale Konstellation zu erfassen, kann sich die Theorie nicht unkritisch auf die isolierte historische Selbstbeschreibung der politischen Akteure 2 Vgl. Koselleck 1979. 3 Lyotard 1986.
Politik und Geschichte: Demokratietheorie zwischen Kontingenz und Universalität
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hinsichtlich ihrer universalen Ansprüche beschränken.4 Die solchermaßen vorgetragenen Ansprüche können auch nicht mit einem außerhistorischen Prinzip abstrakter Wahrheit - etwa einer mit absolutem Anspruch auftretenden Theologie oder Philosophie - evaluiert werden. Vielmehr muss der verallgemeinernde Anspruch eines historischen Akteurs unter Bezugnahme auf die gesamte und konkrete historische Konstellation betrachtet werden. Erst von hier aus lassen sich allgemeine historische Effekte verifizieren und von einer gleichwohl historisch relativierten Perspektive auch gewissermaßen philosophisch bewerten. Die Spuren eines solchen Vorgehens lassen sich in der idealtypischen Methode Max Webers ebenso finden wie in der archäologischen Michel Foucaults oder dem Konzept des epistemologischen Bruchs, wie es u. a. von Pierre Bourdieu in der politischen Soziologie vertreten wurde. 5 Der allgemeine Anspruch einer Geschichte darf demnach nicht pars pro toto mit den historischen Praktiken verwechselt werden. Nach Weber dürfen die Zwecke - etwa Legitimität herzustellen - nicht mit den konkreten Mitteln verwechselt werden, welche zur Herstellung von Legitimität verwendet werden. Der seriöse Anspruch ihrer Artikulationen darf nach Foucault nicht a priori ernst genommen werden, um überhaupt analysieren zu können, wie Seriosität und Legitimität entstehen. Insoweit ist dieser methodische „Ahistorismus" auch notwendig verbunden mit einer „apolitischen" Haltung, welche die politische Performanz und insbesondere ihre symbolische Wirkung stillegt. Diese apolitische Haltung war auch schon in der Behauptung von Marx präsent, dass der Staat eben nicht das sittliche Allgemeine, sondern das Machtinstrument der herrschenden Klasse ist. Auch der marxistische Ökonomismus hat insoweit eine dekonstruktivistische Dimension, welche die performative Selbstbeschreibung der Politik außer Kraft setzt und delegitimiert. Ebenso wie die Dekonstruktion der Geschichte die Voraussetzung für die Erkenntnis der radikalen Historizität von Geschichte ist, kann auch die Dekonstruktion der Politik den Schlüssel zu dem kontingenten Terrain des Politischen liefern, welches einerseits das Operationsfeld der autorisierten wie autorisierenden Diskurse der Politik ist, anderseits aber von diesen jedoch zugleich verdeckt wird. In Bezug auf den Staat als Monopolist von physischer und symbolischer Gewaltsamkeit muss der Politikwissenschaftler daher einem methodischen Anarchisten gleichen, um überhaupt zum Politischen vordringen zu können. Einem solchen Verfahren entspricht auch Webers Postulat von der wissenschaftlichen Werturteilsfreiheit, die keinesfalls als eine formale Deskription missverstanden werden darf, in welcher der Staat sich selbst bespiegelt. Die in Webers methodischem Postu4 Dies findet sich in der Kritik Poppers an der Formulierung historischer Gesetzmäßigkeiten (Popper 1986) ebenso wie die methodisch und politisch von ganz anderen Voraussetzungen argumentierende marxistisch-strukturalistische Kritik Althussers am Historizismus (Althusser 1968). Selbst die in der Aufklärung etwa von Spinoza entwickelte historischkritische Methode enthält gegenüber der hegemonialen Herrschaftsgeschichte in weltlichen Chroniken und geistlichen Texten eine dezidiert ahistorische Stoßrichtung. 5 Vgl. Weber 1988; Foucault 1995; Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991.
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lat enthaltene Tendenz zur Entpolitisierung eines politisch aufgeladenen Untersuchungsgegenstandes lässt keinen Unterschied bezüglich der Legitimität oder Illegitimität eines politischen Akteurs gelten. Nur so kann auch der ideologische Eindruck vermieden werden, es handele sich hierbei gleichsam um ein Stillhalteabkommen zwischen Wissenschaft und legitimer Gewalt, welches die Monopolisierung von Autorität vorpolitisch bestätigt. Der methodische Anarchismus des Archäologen oder Dekonstruktivisten führt jedoch für sich allein genommen noch nicht zum Ziel, zerfiele das Untersuchungsfeld doch dann in ein zusammenhangsloses Konglomerat radikaler Kontingenz, in welchem der absolute Relativismus und die Beliebigkeit herrschten. Die Methode hätte dann entweder ihren Gegenstand verfehlt, da nicht ersichtlich wäre, wie Legitimität und Politik entstünden, oder aber sie mündet schlimmer noch in das hobbessche Naturzustandstheorem mitsamt des darin enthaltenen Rechtes des Stärkeren. Im Fall des marxistischen Ökonomismus wiederum schlägt das politische Defizit schnell in ein horror vacui um. Die bloße Verleugnung der Politik verfehlt also nicht nur die Ebene der politischen Praxis, wie jeder Anarchismus schlägt auch der methodische in sein direktes Gegenteil um. Um dies zu verhindern ist daher die Reflexion jener synthetisierenden Strategien und Praktiken entscheidend, welche die losen Elemente zu allgemeinen Momenten einer übergreifenden Einheit verbinden. Das beinhaltet den Weg von der Historizität zur Geschichte wie auch des Politischen zur Politik. Es ist dies die Ebene der Machtbeziehungen, auf die Foucault mit seiner genealogischen Methode ebenso abhebt wie die neogramscianische Hegemonietheorie.6 Marx und Weber zusammendenkend formuliert Bourdieu das Problem folgendermaßen: „Wider die Illusion vom neutralen, unparteiischen Staat hat Marx den Begriff vom Staat als Herrschaftsinstrument entwickelt. Gegen die von der marxistischen Kritik vollzogenen Entzauberung muss nun aber mit Weber gefragt werden, wie es denn dem Staat gelingt, dass seine Herrschaft anerkannt wird, und ob dem Modell nicht wieder eingefügt werden muss, gegen das es entwickelt wurde: die spontanen unreflektierten Vorstellungen vom Staat als legitimen".7 Diese hier kurz skizzierte Tendenz in der radikalen Verschränkung von Politik und Geschichte, die auch eine neue und alternative Option für den Prozess der Demokratietheorie bereitstellt, ist keineswegs unwidersprochen geblieben. Bevor dieses Konzept daher weiter konkretisiert werden soll, wird an dieser Stelle Bezug genommen auf mögliche Gegenstrategien, welche die Geschichte von der Politik abtrennen und in ein distinktes Verhältnis setzten. Eine besondere Rolle bei der damit angesprochenen politischen Überwindung der Geschichte spielt die Philosophie.
6 Foucault 1987; Laclau/Mouffe 1991. 7 Bourdieu 1992, S. 52.
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EL Zwei Typen der philosophischen Überwindung der Geschichte An dieser Stelle soll zunächst zwischen zwei Typen der philosophischen Überwindung der Geschichte unterschieden werden. In beiden ist die Geschichte zwar zentrales Medium der philosophischen Spekulation, jedoch allein letztlich rein negativ, zu dem Zweck, am Ende als Sieger und Überwinder über bzw. jenseits von der Geschichte stehen zu können. Unabhängig von dieser zentralen Gemeinsamkeit sollen sie hier nach ihrer unterschiedlichen Konzeptionalisierung der historischen Zeit als kontinuierlich-teleologische und als diskontinuierlich-kontingente Variante der philosophischen Überwindung der Geschichte diskutiert werden. Die erste läuft kontinuierlich auf ein Ende der Geschichte in der Zeit zu. Diese Form der Überwindung der Geschichte wurzelt im kumulativ-mechanischen Fortschrittsdenken und wird gemeinhin noch als zentraler Bestandteil der dialektisch angereicherten Geschichtsphilosophie Hegels betrachtet. Bei Hegel stellt die Geschichte zwar die Möglichkeitsbedingung der Philosophie dar, insofern der dialektische Kampf der Philosophie um Universalität gegen die historische Kontingenz die Philosophie selber formt. Aber diese historische Kausalität löst sich schließlich in der Emanzipation der „reinen" Philosophie von der Geschichte auf. Wie das Huhn aus dem Ei schlüpft, löst die philosophische Ordnung in einer finalen systematischen Zusammenfassung diejenige historische Un-Ordnung ab, in der sie zuvor angelegt war und gegen welche sie revoltiert hat. Obgleich dialektisch vermittelt, liegt der kumulativen Überwindung der Geschichte doch eine Naturgesetzlichkeit zugrunde, welche dem politischen Sieg der Philosophie über die Geschichte den Status der Unvermeidlichkeit verleiht. Die Ordnungsfunktion der Philosophie in und jenseits der Geschichte qualifiziert das philosophische Wissen dabei zugleich zu einer Form des politischen Wissens. Bringt die Philosophie zunächst Ordnung in die historische Kontingenz, so löst sie sich nach ihrer Emanzipation von der Geschichte von allen kontingenten Fußfesseln und manifestiert eine absolute und geschichtslose Ordnung. „Somit hat", wie Marx bemerkt, „es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr." 8 Politisch repräsentiert wird diese absolute Ordnung der Philosophie für Hegel durch den modernen Verfassungsstaat, wie ihn die Französische Revolution in der Verfassung von 1791 in Gestalt der konstitutionellen Monarchie hervorgebracht hatte. Er ist das philosophisch-politische Muster, das in der Geschichte sichtbar geworden ist und sich von dieser - davon war Hegel zutiefst überzeugt - auch über kurz oder lang emanzipieren musste. Das Ende der Geschichte bedeutet daher insofern auch das Ende der Politik. Dieses philosophische Narrativ ist zu einem zentralen Bestandteil aller Modernisierungstheorien geworden, unabhängig davon, ob sie primär politisch oder ökonomisch, mechanisch oder dialektisch argumentieren. Der Fortschritt lässt sich 8 Marx 1989, S. 96.
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hierin auch nach dem Grad der Unabhängigkeit der Universalität von jeglicher Kontingenz bemessen. Zwischen beiden besteht innerhalb der Kausalität der Zeit eine irreversible Demarkationslinie. Die von der historischen Kontingenz abgenabelte politische Universalität bleibt daher abstrakt. Anders strukturiert ist die zweite, die diskontinuierlich-kontingente Variante der philosophischen Suspendierung der Geschichte. Diese ist im Gegensatz zum vorherigen Typus primär in der modernisierungskritischen Geschichtsphilosophie zu finden. Wahrend sich die kumulative Fortschrittstheorie im Umkreis des Liberalismus bewegt, ist diese von einer radikal-konservativen Abwehrhaltung gegen die von der Modernisierung ausgelösten Egalisierungs- und Demokratisierungsprozesse geprägt. Zu einer einflussreichen politisch-philosophischen Doktrin ausgearbeitet, wurde sie insbesondere im Denken der „konservativen Revolution" und findet sich daher in verschiedenen Nuancen bei Oswald Spengler, Ernst Jünger, Carl Schmitt und nicht zuletzt in ihrer streng philosophischen Variante bei Martin Heidegger.9 Übereinstimmend wird hier die Geschichte aufgefasst als das Reich radikaler Kontingenz, in welchem Relativismus, Unsicherheit, Anonymität, Antihumanismus, kurz das Chaos herrschen. Sie ist jedoch nicht linear gestreckt und kann deshalb auch nicht innerhalb einer kontinuierlichen Zeitvorstellung überwunden werden, sie bildet vielmehr gewissermaßen den unübersteigbaren Horizont des Daseins. Der dabei verwendete zyklische Zeitbegriff zeigt an, dass die Geschichte nicht auf derselben Ebene überwunden werden kann. In ihren Zyklen wird das überhistorisch Universale vielmehr eingeschlossen wie von Ebbe und Flut. Aus dieser Perspektive erscheint die Modernisierung ganz nach dem Prinzip der ideologischen Umkehrung als eine Verfallsgeschichte des Universalen durch fortschreitende Historisierung und Relativierung. Der Geschichte ist daher auch nicht mit 9 Bourdieu hat das Phänomen der „konservativen Revolution" in seiner Heidegger-Studie als ein politisch-hegemoniales Projekt beschrieben. Er kommt dabei zu der zusammenfassenden Einschätzung: „Die »konservativen Revolutionäre - Bürgerliche, die vom Adel aus den lukrativen Verwaltungsposten des Staates vertrieben, wie Kleinbürger, die in ihren von den Schulerfolgen genährten Hoffnungen frustriert worden waren - sehen in der »geistigen Wiedergeburt4 und der »deutschen Revolution' als einer »Revolution der Seele' die mythische Erfüllung ihrer widersprüchlichen Erwartungen: Es ist die »geistige Revolution', die die Nation zu neuem Leben »erwecken' wird, ohne deren Struktur zu revolutionieren, und die diesen aktuell oder potentiell Deklassierten die Chance eröffnet, ihr Verlangen nach Aufrechterhaltung einer privilegierten Stellung innerhalb der Gesellschaftsordnung mit ihrer Auflehnung gegen die Ordnung, die ihnen diese Stellungen verwehrt, zu versöhnen, wie auch die Feindschaft gegen das sie ausschließende Bürgertum mit dem Widerwillen vor der sozialistischen Revolution, die all die Werte bedroht, dank deren sie sich vom Proletariat abzuheben wähnen. [ . . . ] . Eine gewisse intellektuelle Respektabilität verleihen die »konservativen Revolutionäre' ihrer Bewegung aber gerade dadurch, dass sie ihre regressiven Ideen in eine Sprache kleiden, die nicht selten beim Marxismus und bei den Fortschrittsgesinnten Anleihen macht, dass sie Chauvinismus und Reaktion mit den Worten der Humanisten predigen. Dies kann die strukturelle Ambivalenz ihres Diskurses und dessen verführerischen Reiz bis in die universitären Kreise hinein nur verstärken" (Bourdieu 1988, S. 38 f.).
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Hilfe der theoretischen Vernunft der Wissenschaften beizukommen, da diese selbst in Geschichte und Kontingenz wurzeln. Das Verhältnis von Struktur und Ereignis kehrt sich im Vergleich zur kontinuierlich-teleologischen Variante der Geschichtsphilosophie also gewissermaßen um. Während die Kontinuitätstheorie das historische Ereignis an die philosophische Struktur angleicht, muss sich hier das philosophische Ereignis gegen die historische Struktur behaupten. Anstatt der epistemologischen Anstrengung, die Vernunft aus der Geschichte über sie hinaus zu tragen, bedarf es nun eines radikalen und fundamentalontologischen Ausstiegs aus der Geschichte. Dieser Ausstieg ist jedoch prekär und endlich, führt allerdings gleichsam als Lohn der Angst auf die universale Ebene der Zeit bzw. vom historischen Dasein zum eigentlichen Sein. Es ist dies sowohl ein philosophischer als auch ein heroischer Akt, bei dem die Anonymität des Akteurs aus der historischen Kontingenz heraustritt. Während die Überwindung der Geschichte in der Modernisierungstheorie ein in die natürliche Zeit selbst eingeschriebenen allgemeinen Akt darstellt, ist sie hier eine individuelle und ethische Tat. Die besondere Universalität des Subjektes ersetzt die allgemeine Universalität anonymer Vernunft. Theoretische und praktische Vernunft finden sich hier in der Allianz von philosophischem Wissen und militärischer Todesverachtung wieder. Dem Wahrheitsakt korrespondiert das in Kauf genommene Opfer. Nur durch diesen endlichen Akt besteht die Möglichkeit in Theorie und Praxis über die kontingente Erscheinung zum Wesentlichen vorzudringen. Er schlägt gewissermaßen für einen Moment ein Loch in die Geschichte, in welchem sich die Subjektivierung über Erkenntnis und Erfahrung vollziehen kann. Durch dieses ontologische Loch, oder mit Heidegger gesprochen, auf dieser Lichtung der Geschichte wird das Wesen des Menschen nicht nur für den Philosophen in seiner ursprünglichen Form erkennbar, sondern auch für den Krieger erfahrbar. Sowohl diese Einsicht als auch diese Erfahrung in das Wesentliche liefert eine ontologische Legitimation der politischen und sozialen Distinktion, die den eigentlichen Menschen vom Rest der in der historischen Kontingenz verbleibenden Individuen trennt. Als historische und vergesellschaftete Wesen sind die Menschen in ihrer abstrakten Freiheit, die ihnen der moderne Verfassungsstaat mitsamt seinen rechts- und sozialstaatlichen Institutionen garantiert, zwar gleich. Aber eben ungleich in Hinblick auf ihre Fähigkeit, sich ihrer Freiheit im eigentlichen Sinne zu bedienen. Genau dies ist jedoch das Kriterium eines elitären Führungsanspruches. Während die alten Eliten dieses ethische Privileg der Freiheit bis in die Weimarer Republik hinein ihren gleichsam ursprünglichen Status außerhalb des Staates und seiner Institutionen, selbst da noch, wo sie längst zu Staatseliten geworden waren, verdankten, war es ein handfestes Problem für die „konservativen Revolutionäre", ihrem kontingenten Dasein in der Mittelschicht und dem fortschreitenden Verfall ihrer kulturellen Macht zu entkommen und sich für die politische und soziale Führung zu empfehlen. Ernst Troeltsch begründete seine Forderung nach einer „geistigen Revolution" 1921 etwa mit dem allgemeinen Bedürfnis nach „einer neuen Ursprünglichkeit und Innerlichkeit, einer neuen geistigen Aristokratie, die
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dem Rationalismus und dem Nivellement der Demokratie ein Gegengewicht bietet, die insbesondere der geistigen Öde des Marxismus [ . . . ] eine feinfühlige und organisch zusammenfassende Geistigkeit gegenüberstellt". 10 Ein Ausweg bot sich auch in der strategischen Ästhetisierung des Ausnahmezustandes an, in welchem alle äußerlichen sozialen und politischen Einflüsse auf die innere Subjektivität rhetorisch suspendiert wurden. Als Kriterium politischer Führung blieb dann nur noch ein pseudodemokratisch „völkisch" verbrämter ethischer Voluntarismus übrig. 11 Der radikale Sprung aus dem bloßen Dasein der abstrakten Freiheit in die menschliche Eigentlichkeit verdeckte in seiner ethischen und humanistischen Drapierung gelegentlich den elitären Anspruch so erfolgreich, dass Jüngers völkischer Konservativismus, wie Bourdieu bemerkt, kaum noch von Sartres Existenzialismus zu unterscheiden ist. 1 2 So verschafft die suggestive Verleugnung von Politik und Gesellschaft in dieser ethischen Überwindung der Geschichte paradoxerweise politische und soziale Vorteile. Eine kurze Zusammenfassung kann also folgendes Resümee ziehen: Bei aller Gegensätzlichkeit hinsichtlich der Bewertung der Modernisierung bauen beide Formen der Geschichtsphilosophie neben dem historischen auch auf einem politischen und sozialen Defizit auf. Die Geschichte fungiert in ihnen nicht dazu, die prozessuale Anatomie von Politik und Gesellschaft zu erfassen, sondern wird als ein negatives Medium betrachtet, welches mit Hilfe der philosophischen Reflexion einen transzendenten Standpunkt begründen hilft, von wo sich eine universale politische Ordnung legitimieren lässt. Der Sieger der Geschichte siegt dabei gleichsam über die Geschichte, auch wenn dieser Kampf ins Unendliche verlängert oder ontologisiert wird. Im Anschluss soll an einem signifikanten Beispiel untersucht werden, welche "> Zit. nach Bourdieu 1988, S. 22. 11 Robert Michels, der als einer der ersten Soziologen das Phänomen der „konservativen Revolution" als aristokratische Reaktion auf die politische Aufwertung des Volkes in der Massengesellschaft beschrieben hat, wies auch schon früh darauf hin, dass die so unpolitisch daherkommende Ethik unter diesen Bedingungen zu einer scharfen Waffe geworden war: „In den heftigen Kampf, der sich vielfach mit dramatischer Größe vollzieht, vielfach aber auch fast stumm und für Unaufmerksame unbemerkbar durchfochten wird, zwischen der neuen Schicht, die aufsteigt, und der alten Schicht, die in einer Periode teils scheinbaren, teils wirklichen Nachgebens begriffen ist, wird die Ethik als Staffage hineingezerrt. Im Zeitalter der Demokratie ist die Ethik eine Waffe, deren sich jedermann bedienen kann. [ . . . ] Regierung und Rebellen, Könige und Parteiführer, Tyrannen von Gottes Gnaden und Usurpatoren, wild gewordene Idealisten wie berechnende Ehrgeizlinge, alle sind ,das Volk4 und geben an, mit ihrer Aktion nur den Willen des Volkes zur Durchführung zu bringen [Hervorh. - Michels]" (Michels 1989, S. 16). 12 „Ob er aber sein Schicksal habe oder als Ziffer gelte: das ist die Entscheidung, die heute zwar jedem aufgezwungen wird, doch die er allein zu fällen hat. [ . . . ] Es ist der freie Mensch gemeint, so wie ihn Gott geschaffen hat. Dieser Mensch ist keine Ausnahme, stellt keine Elite dar. Er verbirgt sich vielmehr in jedem, und Unterschiede ergeben sich nur aus dem Grade, bis zu welchem der Einzelne die ihm verliehene Freiheit zu verwirklichen vermag" (Jünger, Der Waldgänger, zit. n. Bourdieu 1988, S. 112). So kann der abstrakte Humanismus aus der Verleugnung seiner sozialen und politischen Bedingungen ein elitäres Kapital schlagen, das er zugleich hinter dem ethischen Tiumph des Willens verbirgt.
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Bedeutung eine solche Sicht auf Geschichte und Politik in den demokratietheoretischen Diskussionen der jüngeren Vergangenheit gespielt hat. ffl. Die liberale Demokratie am Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) Nach einem kurzen Artikel von 1989 veröffentlichte der vormalige stellvertretende Direktor des Planungsstabes im Außenministerium der Vereinigten Staaten von Amerika Francis Fukuyama 1992 seine Studie „ The End ofHistory - The Last of Man". Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Ostblocks wurde das Buch breit rezipiert und löste eine Fülle von Diskussionen aus. Erfolgreich war Fukuyama vor allem deshalb, weil er in seinen Grundaussagen scheinbar wie kein anderer den postkommunistischen Zeitgeist in West und Ost auf den Begriff brachte. An dieser Stelle soll nach den bisherigen Voraussetzungen geprüft werden, ob sich in diesem geschichtsphilosophischen Konzept nicht mehr als eine Beschreibung des selbstevidenten Zeitgeistes finden lässt. Handelte es sich vielleicht um eine historisch-politische Intervention, die noch heute, wo das Buch fast vergessen ist, den Horizont des Narrativs von der Demokratie im Zeitalter der Globalisierung absteckt? Tatsächlich besteht die eigentliche Originalität von Fukuyamas Traktat darin, dass sie unter dem Etikett vom „Ende der Geschichte" die liberale Überwindung der Geschichte mit ihren konservativen Widergänger verbindet. Die mechanischtechnologische Fortschrittstheorie wird mit jenem heroischen Kriegszustand synthetisiert, welchen die letzten Helden gegen die Geschichte kämpfen. 13 Vordergründig bestätigt seine Hauptthese nur die Selbstwahrnehmung des Westens nach dem Kollaps des osteuropäischen Kommunismus. Demnach bildet die liberale Demokratie des Westens „den Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit" und die „endgültige menschliche Regierungsform". 14 Diese These beinhaltet sowohl den politischen Deutungsanspruch des Westens über den Charakter und die Richtung der bis dahin noch keineswegs abgeschlossenen Revolutionen in Osteuropa und immunisiert den Westen zugleich gegen eine irgendwie geartete Infizierung durch die revolutionäre Dynamik. Hintergründig erfolgt jedoch zugleich eine politische Ausdeutung des Topos der liberalen Demokratie, welche die im Begriff enthaltene Synthese von demokratischer Gleichheit und liberaler Freiheit durch die konservative Pointierung des Zusammenhanges von Freiheit und Ungleichheit ersetzt. Die hierzu verwendeten Geschichtskonzepte konvergieren in ein hierarchisches Modell politischer Anthropologie, das bei genauerem Hinsehen dasjenige der „konservativen Revolution" ist. Exakt hierin besteht die Bedeutung der Verknüpfung der Sujets vom „Ende der Geschichte" und vom „letzten Menschen". 13
Dieser Zusammenhang war den deutschen Übersetzern offensichtlich zu peinlich, so dass sie den amerikanischen Untertitel „The Last OfMan" - eine Anspielung auf Nietzsches Motiv vom „letzten Menschen" - mit der merkwürdigen Formel wiedergaben: „ Wo stehen wir? " 14 Fukuyama 1992, S. 11.
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Obwohl die liberal-demokratische Regierungsform empirisch betrachtet keineswegs bereits überall vorherrsche, so argumentiert Fukuyama, bliebe diese doch von nun ab das nicht mehr verbesserungsbedürftige Ideal bzw. „das einzige klar umrissene politische Ziel, das den unterschiedlichen Regionen und Kulturen rund um die Welt gemeinsam vor Augen steht". 15 Das politische Ende der Geschichte wird insofern gewissermaßen vom Ende der politischen Ideengeschichte und der Ideologien vorweggenommen. Die Evidenz fortlaufender historischer Ereignisse kann den Kern seiner These daher nicht in Frage stellen, da nicht die kontingente Ereignisgeschichte, sondern allein die universale Strukturgeschichte an ihr Ende gekommen sei. Nur diese bildet nämlich „einen einzigartigen, kohärenten evolutionären Prozess, der die Erfahrungen aller Menschen aller Zeiten umfasst". 16 Analog zur Sprache, so kann hinzugefügt werden, können die Ereignisse zwar immer noch durch die abzählbar-unendliche Variation eines gleichwohl unveränderlichen grammatikalischen Sets erzeugt werden, ohne dass es aber einen „weiteren Fortschritt in der Entwicklung grundlegender Prinzipien und Institutionen mehr geben würde, da alle wirklich großen Fragen endgültig geklärt wären". 17 Es ist also mit anderen Worten die politische Geschichte, d. h. die Geschichte der politischen Struktur bzw. des politischen Systems, die an ihr Ende gekommen ist. Das Ende der Geschichte fällt hier mit dem Ende der Politik zusammen, die liberal-demokratische Posthistoire mündet insofern auch in ein postpolitisches Zeitalter. Dieser universalgeschichtlichen Entwicklung unterlegt Fukuyama eine vermeintlich materialistische Naturgesetzlichkeit, die sich aus dem Mechanismus von Kapitalakkumulation und technologischem Fortschritt speist, und welche ihr logisches Substrat in den modernen Naturwissenschaften findet. Die Logik der Naturwissenschaften, die er mit der Metapher von der kontinuierlichen Zeit der Natur verbindet, ist demnach die Methode, welche die wirtschaftliche Modernisierung als einen Universalisierungsprozess kapitalistischer Strukturen abbildet.18 Der kumulative Fortschritt technologischer Macht und die globale Ausbreitung des Kapitalismus führen sich dabei ebenso auf die technisch-militärische Überlegenheit wie auf einen überlegenen Modus in der Akkumulation und Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum zurück. Da die objektive Struktur der modernen Naturwissenschaft einen kontinuierlichen Fortschritt ermöglicht, ohne selbst durch diesen in Frage gestellt zu werden, verkörpert sie das Modell einer Kontinuität im Wandel. Beide, Naturwissenschaft und Kapitalismus, bilden objektive Strukturen des Wissens und des Wirtschaftens, welche auf optimale Weise Ereignisse generieren und sich somit dem konkurrierenden Modell der sozialistischen Bedarfdeckungssysteme als überlegen erwiesen haben. Naturwissenschaft und Kapitalis15 Ebenda, S. 14. 16 Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 13. is So scheint für Fukuyama die wissenschaftlich-technische Revolution des postindustriellen Informationszeitalters zu bestätigen, dass „eine universale Entwicklung in Richtung auf kapitalistische Strukturen in der Logik der modernen Naturwissenschaften" liegt (ebd., S. 16).
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mus bilden daher ein Analogon zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft. Die Innovationen der Naturwissenschaft können sich daher am besten innerhalb des kapitalistisch-liberalen Wirtschaftsregimes entfalten. Diese naturalistische und zugleich ökonomistische Begründung der Überlegenheit liberaler Wirtschaftsweise impliziert zweifellos eine methodische Strategie der Entpolitisierung, die nur unzureichend durch den äußeren Systemwettbewerb kompensiert wird. Die politische Binnenstruktur liberal-demokratischer Regierungsformen, die keineswegs als ein natürlicher Evolutionsprozess, sondern nur mit einem politischen Zeitbegriff als kontingenter Prozess sozio-politischer Konflikte begriffen werden kann, fällt hierbei komplett unter den Tisch. Dieses politische Defizit des ökonomistisch-technizistischen Entwicklungsmodells wird von Fukuyama im Übrigen auch konzediert. Allerdings nur um das konservative Motiv der ethischen Suspendierung der Geschichte an das Modell der liberalen Demokratie anzuschließen. Unter doppelter Bezugnahme auf den Piaton von Leo Strauss - aus dessen neokonservativem Umfeld in Chicago Fukuyama stammt - und Alexandre Kojeves Hegelinterpretation gerät die Politik so zu einem ethischen Privileg, in der es um einen exklusiven Kampf um Anerkennung geht. „Das Streben nach Anerkennung oder der Thymos ist also das ,missing link 4 zwischen liberaler Ökonomie und liberaler Politik, das bei der ökonomischen Analyse [ . . . ] gefehlt hat". 19 Die ethische Dimension der Anerkennung, so muss Fukuyama ergänzt werden, vermittelt die Ökonomie jedoch nicht nur mit der Politik, sie trennt beide zugleich auch voneinander. Dies liegt ganz einfach daran, dass das für die Politik notwendige Streben nach ethischer Anerkennung unbegrenzt ist und zur Monopolisierung derselben bei einer „ethischen" zur Freiheit fähigen Elite führt. Der hierzu verwendete spekulative Begriff der „Megalothymia" könnte zwar aus der sozialwissenschaftlich nüchternen Perspektive Bourdieus auch mit der Akkumulation von symbolischem Kapital erklärt werden, allerdings wäre es dann freilich unmöglich, die hieraus erwachsenden politischen Effekte auf einen ethischen Voluntarismus zu gründen. 20 Der „freie" Kampf um die Maximierung des symbolischen Kapitals der „Megalothymia" wird von Fukuyama streng unterschieden von der gleichmacherischen Verteilung von Anerkennung in der „Isothymia". Beide verhalten sich zueinander wie Freiheit und Gleichheit und sind durch eine unsichtbare, ethische Schwelle voneinander geschieden. Die Ethik erfüllt daher eine semipermeable Funktion, da sie zugleich in der Lage ist, die Politik mit der Ökonomie von oben nach unten zu vermitteln, während sie beide in umgekehrter Richtung von einander trennt. Auf diese Weise kann die liberale Demokratie an das Politikmodell der „konservativen Revolution" angeschlossen werden. Geschichtslos und apolitisch sind daher zunächst diejenigen Bewohner der ökonomischen Welt, die vollständig in der Rolle des saturierten Konsumenten auf19 Ebd., S. 20. 20
Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Bourdieu zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft: Bourdieu 1998.
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gehen. „Sie werden", so prophezeit Fukuyama, „ihre Bedürfnisse durch wirtschaftliche Betätigung befriedigen, aber sie müssen ihr Leben nicht mehr im Kampf aufs Spiel setzen. Sie werden, anders ausgedrückt, wieder Tiere sein wie vor der blutigen Schlacht, die die Geschichte in Gang setzte. Ein satter Hund ist zufrieden, wenn er den ganzen Tag in der Sonne schlafen kann, weil er mit dem, was er ist, nicht unzufrieden ist. Es kümmert ihn nicht, dass andere Hunde mehr Erfolg haben als er oder dass Hunde in einem entlegenen Teil der Welt unterdrückt werden". 21 Anders als liberale Demokraten wie Habermas betrachtet Fukuyama die Massenerscheinung des unpolitischen Konsumenten keineswegs als Problem für die liberale Demokratie, eher im Gegenteil bildet sie für ihn das materialistische Fundament derselben. 22 Als homo oeconomicus lebt der reine Konsument gewissermaßen als Passivbürger in der Welt der Gleichheit und kann auf das ethische Moment verzichten, das ihn zum politischen Subjekt bzw. Aktivbürger machen würde. Die Existenz der unhistorischen Passivbürger bildet daher die Bedingung für die Möglichkeit des freiheitlichen Aktivbürgers, dessen politische Kompetenz sich aus dem ästhetisierten Kampf gegen die Geschichte speist. Bedarf demnach die liberale Demokratie zur eigenen Stabilisierung der trägen Geschichtslosigkeit ihrer konsumierenden Passivbürger, so wäre doch die Ausbreitung derselben unter den Aktivbürgern verheerend. Damit meint Fukuyama den demokratischen Exzess, welcher die Gleichheit über den bloßen Konsum hinausführt und das demokratische Prinzip der allgemeinen Anerkennung („Isothymia") auf den Bereich der Politik und der Freiheit überträgt und damit die ethisch-politische Grenze zwischen Politik und Ökonomie, Freiheit und Gleichheit bzw. Gesellschaft und Staat untergräbt. Anzeichen hierfür finden sich seit 1968 in der ideologischen Ausbreitung von Relativismus, Pazifismus und Multikulturalismus in den gebildeten Mittelschichten des Westens. „Die moderne Bildung fördert demnach eine Tendenz zum Relativismus, das heißt zu der Doktrin, dass alle Horizonte und Wertvorstellungen abhängig seien von ihrer Zeit und ihrem Ort; sie sind nicht wahr, sondern spiegeln nur die Vorurteile und Interessen derjenigen wider, die sie befördern. Eine Doktrin, nach der es keine privilegierte Sicht auf die Welt gibt, passt recht gut zu dem Wunsch des demokratischen Menschen zu glauben, dass seine Lebensweise ebenso gut sei wie jede andere. In diesem Zusammenhang führt der Relativismus nicht zur Befreiung der Großen und Starken, sondern zur Befreiung der Mittelmäßigen. Ihnen sagt man jetzt nämlich, dass es nichts gibt, wofür sie sich schämen müssten. Der Knecht am Anfang der Geschichte wollte sein 21 Fukuyama 1992, S. 412. 22
In seinem Buch über den Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Habermas die unsichtbare Trennung von Aktivbürgern und konsumierenden Passivbürgern in der modernen Mediengesellschaft nicht nur zum Grundproblem der Demokratie, sondern auch der von ihm idealisierten liberalen Öffentlichkeit erklärt. Während Fukuyama in der sozialen Trennung von Aktiv- und Passivbürgern unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts die Bedingung für die Möglichkeit liberaler Demokratie behauptet, erkennt Habermas hierin eine „Refeudalisierung der Öffentlichkeit" (Habermas 1991).
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Leben nicht in der blutigen Schlacht riskieren, weil er sich instinktiv fürchtete. Der letzte Mensch am Ende der Geschichte hat so viel Verstand, dass er sein Leben nicht für eine Sache hingibt. Er weiß, dass die Geschichte voll ist von sinnlosen Schlachten, in denen die Menschen darum kämpften, ob sie Christen oder Moslems, Protestanten oder Katholiken, Deutsche oder Franzosen sein sollten. Wie die Geschichte zeigte, waren Treuepflichten, die Menschen zu verzweifelten Heldentaten und Opfern trieben, nur närrische Vorurteile. Moderne gebildete Menschen sind zufrieden damit, wenn sie zu Hause sitzen und sich gegenseitig zu ihrer Toleranz und ihrer Abgeklärtheit gratulieren können. Nietzsches Zarathustra sagt zu ihnen: ,Denn so sprecht ihr: »Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben und Aberglauben«: also brüstet ihr euch - ach, auch noch ohne Brüste! " < 2 3 Die radikaldemokratische Anerkennung von Historizität und Kontingenz und die damit verbundene Auflösung der Geschichte in die Geschichten denunziert Fukuyama gerade deshalb als Kriterien der Geschichtslosigkeit, weil sie das konservative Motiv der ästhetisch-heroischen Überwindung derselben zerstören. Damit rekurriert er ganz bewusst auf den Topos von der politischen Bewährung an der Geschichte, welchen die „konservativen Revolutionäre" von Nietzsche übernommen haben: „die Geschichte wird nur von starken Persönlichkeiten ertragen, die schwachen löscht sie vollends aus". 24 Mit der ideologiekritischen Historisierung und Relativierung des politischen Subjekts hingegen verschwindet nicht nur das Heldenepos des distinguierten Individuums an sich, es verschwinden auch die Bedingungen für das historische Privileg an Freiheit und politischer Führung. Dies fällt aus konservativer Perspektive zusammen mit dem Ende der Politik im Allgemeinen und der liberalen Demokratie im Besonderen. „In dem Maße", so heißt es diesbezüglich unmissverständlich, „wie die liberale Demokratie die Megalothymia aus dem Leben verbannt und sie durch den rationalen Konsum ersetzt, werden aus uns ,letzte Menschen4. [ . . . ] Wenn sich eine Zivilisation in ungezügelter Isothymia ergeht und fanatisch jede Spur von Ungleichheit ausmerzt, stößt sie bald an die Grenzen, die die Natur selbst setzt". 25 Hier spricht Fukuyama als Vertreter einer politischen Elite, die ihren universalen politischen Status innerhalb der liberalen Demokratie aus der Herrschaft über die passiven Subjekte des Konsums ableitet. Nur die Herrschaft der „Starken" kann das zukünftige Überleben der westlichen Zivilisation im globalen „survival of the fittest" garantieren. Huntingtons erzkonservatives Szenario vom „Clash Of Civilizations" ist also schon bei Fukuyama angelegt.26 Für den Historiker politischer Ideen lässt sich hierbei leicht die Reaktualisierung der klassisch-vormodernen Trennung von Ökonomie und Politik erkennen, wie sie in der alteuropäischen Ordovorstellung eingelagert war. Im Motiv der Separierung 23 Fukuyama 1992, S. 407. 24 Nietzsche 1988, S. 283. 25 Fukuyama 1992, S. 416. 26 Vgl. Huntington 1996.
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von Gleichheit und Freiheit wird sie analogisiert zum Begriff der liberalen Demokratie. Von hier aus kann dieser Antagonismus dann ebenso leicht auch auf die Beziehung von Staat und Gesellschaft übertragen werden. Fukuyama spielt hier mit offenen Karten: „Die erfolgreiche politische Modernisierung setzt also voraus, dass in dem System von Rechten und verfassungsmäßigen Einrichtungen ein vormoderner Rest erhalten bleibt: Die Gesellschaft muss weiterleben, der Staat darf nicht den vollständigen Sieg davontragen". 27 Die klassische Trennung von Politik und Ökonomie findet so ein Analogon in der proklamierten Trennung von Staat und Gesellschaft, was sich wesentlich gegen die nivellierende Wirkung der sozialstaatlichen Verschränkung derselben richtet. Somit ist es ein konservatives Theorem, welches die altliberale Idee von der Trennung von Staat und Gesellschaft in seiner neoliberalen Fassung präsentiert. Die illegitime, weil tendenziell „isothymische" Angleichung der Lebensbedingungen durch den modernen Wohlfahrtsstaat wird ersetzt durch die legitime Nivellierung mittels Marktmechanismus. Das Gleichheitsprinzip der Marktwirtschaft korrespondiert auf diese Weise mit einem vormodernen Politikstil, der sich beständig aufs Neue gegen die Geschichte stemmt und daraus ein politisch nutzbares kulturelles Kapital gewinnt. Die quasinatürliche Trennung von Konsumenten und Produzenten durch das Marktmodell lässt sich auf die unsichtbare ethische Schwelle zwischen posthistorischer Gleichheit und historisch-politischer Freiheit übertragen. Kurz: unter den Bedingungen einer radikalen Vermarktung der Gesellschaft sind es die „präliberalen Werte, die für ein gesundes Gemeinschaftsleben notwendig sind". 28 Das Bündnis von Liberalismus und Konservativismus besiegelnd, kommt Fukuyama zu dem Schluss: „Liberale Demokratien tragen sich nicht selbst, das Gemeinschaftsleben, von dem sie abhängig sind, muss eine andere Quelle haben als den Liberalismus". 29 Dabei versteht es sich von selbst, dass hier nicht der Sozialismus gemeint ist. Die politische Synthese von Liberalismus und Konservativismus im Begriff der liberalen Demokratie kann jedoch nicht vollständig demokratisch geglättet werden. Die Spaltung der politischen Anthropologie in Aktiv- und Passivbürger lässt sich unter demokratischen Gesichtspunkten nicht rechtfertigen. „Die Erscheinungsformen der Megalothymia, die in modernen Demokratien überlebt haben", so wird eingeräumt, „stehen demnach in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Idealen, zu denen sich die Gesellschaft öffentlich bekennt". 30 Dieser Widerspruch kann nur entschärft werden, wenn die freiheitliche Attributierung des Demokratiebegriffs das Gleichheitsprinzip logisch grundiert und in der öffentlichen Wahrnehmung überstrahlt. Die freiheitlichen Kraftzentren, in denen die demokratische Ideologie des Egalitarismus suspendiert werden kann, bilden das kapitalistische Unternehmertum, der Typus des wahlkämpfenden Politikers und die postmateri27 Fukuyama 1992, S. 305. 28 Ebd., S. 431. 29 Ebd., S. 430. 30 Ebd., S. 424.
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eilen Helden der Medienkultur. Sie bilden den exklusiven, historischen Teil in der posthistorischen Welt der Demokratie. Erst aus ihrer mechanischen Synthese entsteht das Gebilde der liberalen Demokratie. Obwohl das Motiv vom „Ende der Geschichte" an der Wende zum 21. Jahrhundert an Strahlkraft verloren hat, so sind doch zentrale Momente dieses Narrativs in den großen öffentlichen Diskursen der Gegenwart präsent. Sowohl der neoliberale Globalisierungsdiskurs als auch der radikal-konservative Diskurs des Kampfes der Kulturen konnten hieran anknüpfen. Versuchen die Globalisierungstheoretiker alle Partikularismen über das abstrakte und historisch idealisierte Marktmodell zu harmonisieren, so begegnen die Kulturkämpfer den hieraus entstehenden Konflikten mit dem offenen Abbau demokratischer Grundstandards. Das neue Primat der Außenpolitik, welches sich aus der prognostizierten Schlacht der Kulturen ergibt, desavouiert alle links-liberalen Träume von Multikulturalismus, Toleranz und Pazifismus und konstituiert über ein schroffes Freund-Feind-Schema den politischen Führungsanspruch einer elitären und kulturell gleichsam „reinrassigen" politischen Kaste. Gegen fortschreitenden Defätismus und Dekadenz und dem prognostizierten Niedergang der eigenen Kultur leitet sich die besondere Aggressivität dieser neuen „konservativen Revolution" ab.
IV. Wider die „Geschichtsvergessenheit" „Mehr Demokratie wagen" Anstatt also die Geschichte überwinden oder in irgend einer anderen Weise fetischisieren zu wollen, kommt es also heute mehr denn je darauf an, sich auf die Geschichte einzulassen. Das kann nur heißen, sich der radikalen Kontingenz und Pluralität des historischen Prozesses zu stellen, ohne dabei auf einen universalen Horizont zu verzichten. Diese Vermittlung zwischen Kontingenz und Universalität definiert dabei das Operationsfeld des Politischen. Eine demokratische Politik wird dann daran erkennbar sein, wie es ihr gelingt, diese Lücke partikularer Kontingenz und politischer Universalität zu symbolisieren bzw. zu repräsentieren, ohne sie dabei zu verleugnen oder zu einem Initiationsritus für politisch Auserwählte zu ästhetisieren. Ersteres ist im Motiv vom „Ende der Geschichte" enthalten, Letzteres bildet in seiner zugespitztesten Form das Modell der „konservativen Revolution". Damit ist ein Maßstab vorhanden, mit welchem sich die Konzeptualisierung von Politik und Geschichte auch in der Demokratietheorie Saages einordnen lässt. Das soll in der Folge anhand von zentralen Themen wie abstrakter Universalismus, Revolution, Besitzindividualismus geschehen, wobei Saages Konzept in eine fruchtbare Diskussion verwickelt werden soll mit alternativen Ansätzen, die aus unterschiedlichen Perspektiven zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Saages dezidiert mit historischem und sozialwissenschaftlichem Anspruch vorgetragene Theorie gewinnt zunächst an Kontur durch die Abgrenzungen sowohl vom abstrakten Universalismus einer rein normativen Theorie als auch von der
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deskriptiven Komparatistik, welche die Ebene der Kontingenz nicht übersteigt und in der deshalb das universale Moment nur negativ als ein willkürliches Supplement der Empirie erscheint. 31 So löst der abstrakte Normativismus den Demokratiebegriff von den historischen und sozialen Praktiken ab, um diese anschließend aus der damit künstlich gewonnenen idealen Begriffsperspektive bewerten zu können. Die Folge ist die Etablierung einer instrumenteilen Beziehung zwischen Theorie und Praxis, welche auf einer mechanischen Trennung von politischer Philosophie und sozio-historischer Kontingenz beruht. Umgekehrt verfehlt die empirizistische Komparatistik die Ebene der Politik, da sie dem Begriff der Demokratie keinen universalen Wert zu geben vermag. Sie verbleibt damit komplett auf der Ebene der historischen Selbstbeschreibung, die in ein willkürliches Konglomerat von Begriffen und Praktiken zerfällt. Demgegenüber besteht Saage auf der methodisch unhintergehbaren Wechselbeziehung zwischen historischer Kontingenz und philosophisch verallgemeinender Begriffsbildung. 32 Dazu werden drei analytisch zu trennende, aber inhaltlich aufeinander bezogene Ebenen unterschieden. Es handelt sich hierbei 1. um die soziohistorischen Kämpfe um die Demokratie, 2. um die philosophische Reflexion dieser Kämpfe, die mit ihrem logisch-politischen Hegemonieanspruch und ihrer Legitimationsfunktion gleichwohl Bestandteil derselben sind und 3. die sozio-technischen Voraussetzungen, mit deren Hilfe Saage die Realisierungschancen politischhegemonialer Kämpfe in Bezug zur Produktivkraftentwicklung untersuchen will. Thematisiert werden soll mit diesem Ansatz, wie er zusammenfassend schreibt: „im jeweiligen epochenspezifischen Kontext eben jenes Muster der von Massenbewegungen getragenen provokativen Herausforderung des Postulats ,Mehr Demokratie wagen' und der Antwort derer, die auf der Sistierung oder Rückgängigmachung dieser Dynamik bestanden".33 Dies schließt eine Fetischisierung des Demokratiebegriffs, wie sie aus der positiven oder negativen Ablösung vom historischen Prozess hervorgeht, prinzipiell aus. Demokratie als Prozess zu betrachten, heißt daher, den Demokratiebegriff immer in Beziehung zur Praxis der Demokratisierung zu denken. Dies unterstreicht gegen eine statische Interpretation den unabgeschlossenen Charakter von Demokratie. „Nicht das Interesse an der »fertigen4 Demokratie, die typologisiert und mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung quantifiziert werden kann, ist federführend, sondern der dynamische Vorgang der geschichtlichen Entstehung und das Scheitern von Demokratien." 34 Gegen den Topos vom „Ende der Geschichte" ließe sich aus dieser Perspektive mit Arthur Rosenberg einwenden: „Die Demokratie als ein Ding an sich, als eine formale Abstraktion existiert im geschichtlichen Leben nicht, sondern die Demokratie ist immer eine bestimmte politische Bewegung, getragen von bestimmten gesellVgl. Saage 2005, S. 25 f. 32 Ebd., S. 26 f. 33 Ebd., S. 36. 34 Ebd., S, 31.
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schaftlichen Kräften und Klassen, die um bestimmte Ziele kämpfen. Ein demokratischer Staat ist demgemäß ein Staat, in dem die demokratische Bewegung die Herrschaft hat". 35 Welche konkrete Form die Demokratie dabei annimmt, ist der konkreten Vermittlung von historisch-sozialer Kontingenz und politischer Universalität geschuldet. Ein solcher Ausgangspunkt für eine Demokratietheorie ist in vielerlei Richtung anschlussfahig. So weist Saages Modell der Historisierung, die sowohl den politischen Prozess als auch philosophischen Legitimationsstrategien einbezieht, vielfache Analogien zur Kritik der „Geschichtsvergessenheit" auf, wie sie Bourdieu vorgetragen hat. Der Sachverhalt, den Bourdieu damit beschreiben will, lässt sich folgendermaßen skizzieren: Ebenso wie die politischen Institutionen ihre Regeln nicht apriori als legitim unterstellen dürfen, sondern, um sie tatsächlich demokratisch rückkoppeln zu können, als historisch und sozial bedingt betrachten müssen, darf auch die akademische Wissenschaft einschließlich der Philosophie ihre geschulte Perspektive nicht auf einen abstrakten Universalismus aufbauen, der seine eigenen kontingenten Bedingungen unterschlägt. Für sich genommen tendieren aber sowohl der moderne Staat als auch die Wissenschaften genau dazu, da sie ihren universalen Anspruch als distinktes Privileg zu statuieren und zu rechtfertigen suchen. Auf diese Weise können sie darüber hinaus in einen wechselseitigen Legitimationskreislauf eintreten, ohne sich den vordergründigen Verdacht der gegenseitigen Übervorteilung auszusetzen. Ruhigen Gewissens kann die aus einer faktischen Unterschlagung hervorgegangene Monopolisierung des Universalen zum Privileg von Staat und Wissenschaft von diesen jedoch nur behauptet werden, wenn sie ihre eigne Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes verdrängt oder vergessen haben. Für Bourdieu bildet diese systematische Verdrängung der gesellschaftlichen Bedingungen von Universalität in das Unbewusste eines der Grundmomente moderner Rationalität, weshalb deren Problematisierung nach einer radikalen Historisierung und Kontextualisierung verlangt. 36 Über diese Verdrängungsleistung, die sich bei der Universalisierung des Marktmodells ebenso beobachten lässt wie bei den Methoden rationaler Verwaltung, wird es möglich, kontingente Regeln und Logiken mit natürlicher Selbstverständlichkeit auf alle übrigen Bereiche der Gesellschaft, die von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft objektiviert werden, zu übertragen. Die dabei gerade wegen ihrer 35 Rosenberg 1988, S. 302. 36
„Das Unbewusste ist die Geschichte - die kollektive Geschichte, die unsere Denkkategorien erzeugt, und die individuelle, die sie uns eingeprägt hat: Und so dürfen wir beispielsweise von der (absolut banalen, in der Geschichte philosophischer und anderer Ideen nicht vorkommenden) Sozialgeschichte der Bildungseinrichtungen und von der (vergessenen oder verdrängten) Geschichte unserer eigenen Beziehungen zu diesen Institutionen manch wirkliche Enthüllung über die objektiven und subjektiven Strukturen (Klassifizierungen, Hierarchien, Problemstellungen usw.) erwarten, die unser Denken ständig und gegen unseren Willen lenken" (Bourdieu 2001, S. 18). Bourdieu fasst die aufklärerische Intention seines Werkes als eine Aneignung des gesellschaftlichen Unbewussten mit den Mitteln der Bildungs-, Kultur- und Staatssoziologie zusammen.
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vermeintlichen Wertfreiheit behilfliche Objektivität des Beobachters überträgt die Normen der abstrakten Vernunft von den politischen und wissenschaftlichen Beobachtern auf die praktische Logik der beobachteten Akteure. Hierin besteht der eigentlich nivellierende Akt moderner Rationalität, der zugleich jene unsichtbare Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern reproduziert, auf deren Grundlage der Konservativismus die Trennung von Freiheit und Gleichheit pseudodemokratisch begründen kann. 37 Diese politische Trennung bekommt dabei eine wissenschaftliche Legitimität verliehen. Unter dem normalisierenden Blick der abstrakten Vernunft erstarrt die soziale Praxis zu sozialen Systemen, die mit mathematischen Schemata modelliert und optimiert werden. Lebendige Sprache verwandelt sich in tote Texte, die von autorisierten Lektoren entziffert werden müssen, um „den Akteuren die räsonierende Vernunft des über ihr Verhalten räsonierenden Gelehrten zu unterstellen". 38 Je größer die soziale Kluft zwischen Beobachtern und Beobachteten, desto problematischer sind die Folgen für den demokratischen Anspruch von Politik und Wissenschaft. „Die Verzerrungen der scholastischen Sicht haben um so größere und wissenschaftlich ruinösere Auswirkungen, je weiter die Objekte der Wissenschaft in ihren Lebensbedingungen von den scholastischen Feldern entfernt sind - mag es sich dabei um die Mitglieder der traditionell von der Ethnologie [ . . . ] untersuchten Gesellschaften handeln oder um die Inhaber niedriger Positionen des sozialen Raums". 39 Diese Kritik am ahistorischen Charakter des abstrakten Universalismus der modernen Rationalität und insbesondere ihrer pseudodemokratischen Verklärung in Politik und Wissenschaft darf für Bourdieu jedoch nicht dazu führen, den Anspruch der Universalität zugunsten eines nihilistischen Relativismus aufzugeben, wie das viele Apologeten der Postmoderne getan haben. Ganz im Gegenteil kann die demokratische Kritik am abstrakten Universalismus nur darauf abzielen, den Anspruch auf Universalität wie ihn die demokratisch-emanzipatorischen Bewegungen seit der Aufklärung vertreten haben, zum Durchbruch zu verhelfen. Bourdieu fasst dies folgendermaßen zusammen: „In den Beziehungen zwischen den Nationen wie innerhalb derselben dient der abstrakte Universalismus meist zur Rechtfertigung der bestehenden Ordnung, der geltenden Verteilung von Macht und Privilegien - das heißt der Herrschaft des heterosexuellen, euro-amerikanischen 37 „Eine Feststellung, die eine für die Wissenschaft wie für die Politik offensichtlich gleich entscheidende Frage aufwirft, von der »Politischen Wissenschaft4 jedoch hochmütig ignoriert wird (wohl deswegen, weil die Entdeckung eines solchen unsichtbaren Zensus das gute demokratische Gewissen schockierte oder, fundamentaler noch, den Glauben an die geheiligten Werte der,Person4): die Frage nach den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen des Zugangs zur öffentlichen Meinung in ihrer legitimen (und scholastischen) Definition als artikulierter und allgemeiner Diskurs über die Welt. [ . . . ] Die eklatante Ungleichheit im Zugang zu der sogenannten persönlichen Meinung verstört das gute demokratische Gewissen, den guten ethischen Willen der Gutmenschen und auch, grundlegender noch, den intellektualistischen Universalismus, den Kern der scholastischen Illusion44 (ebd., S. 86 f.). 38 Ebd., S. 78. 39 Ebd., S. 65 f.
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(weißen), bürgerlichen Mannes - im Namen formaler Forderungen eines abstrakt Universellen (Demokratie, Menschenrechte usw.) und unter Vernachlässigung der ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner Realisierung oder, schlimmer noch, im Namen der ostentativ universalistischen Verurteilung eines jeden Anspruchs auf Partikularismus und zugleich aller auf der Grundlage einer stigmatisierten Partikularität konstruierten Gemeinschaften' (Frauen, Homosexuelle, Schwarze usw.), die damit verdächtigt oder beschuldigt werden, sich selbst aus größeren sozialen Einheiten (»Nation4, »Menschheit4) auszuschließen. Auf ihre Weise stellt die skeptische oder zynische Zurückweisung jeder Form des Glaubens an das Universelle, an die Werte Wahrheit, Emanzipation, kurz: an die Aufklärung, und jede Behauptung universeller Wahrheiten und Werte, im Namen eines primitiven Relativismus, der jedes universalistische Glaubensbekenntnis für ein pharisäisches Betrugsmanöver mit dem Ziel der Verewigung einer Hegemonie hält, eine andere Art dar, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind - und eine insofern gefährlichere Spielart, als sie sich den Anschein des Radikalismus geben kann". 40 Dem postmodernen Pseudoradikalismus muss daher eine historisierende »Aufklärung der Aufklärung" gegenübergestellt werden, deren politisches Pendant Bourdieu als eine „kämpferische Realpolitik der Vernunft" verstanden wissen will. „Entgegen dem Anschein bedeutet es keinen Widerspruch, gleichzeitig gegen die mystifizierende Heuchelei des abstrakten Universalismus zu kämpfen und für die Universalisierung der Zugangsmöglichkeiten des Universellen - ein vorrangiges Ziel jedes wahrhaften Humanismus, den die universalistische Predigt ebenso vergisst wie die (falsche) nihilistische Subversion". 41
V. Revolution und Demokratisierung Ebenso wie sich Saages Auffassung vom unabgeschlossenen Prozess der Demokratisierung in ein fruchtbares Zwiegespräch mit Bourdieus „kämpferischer Realpolitik der Vernunft" verwickeln lässt, so scheint mir dies anhand der Dialektik von Demokratie und Revolution auch möglich für das Modell der radikalen und pluralen Demokratie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. So nimmt die Spannung von sozialer und politischer Demokratisierung zum modernen Revolutionszyklus im Werk Saages einen großen Raum ein. Am Beispiel der politischen und sozialen Kämpfe in den Niederlanden, England und in Nordamerika zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wird die Beziehung zwischen demokratischen Volksbewegungen und der revolutionären Herausbildung des modernen Verfassungsstaates thematisiert. Der Blick auf die revolutionäre Pamphletistik klärt schnell darüber auf, inwieweit die Begriffsbildung der politischen Theorie als immanenter und praktischer Bestandteil der politischen Kämpfe und der sozialen Umwälzungen betrachtet werden muss. Die hierin zum Ausdruck kommenden Erschütterun40 Ebd., S. 91. 41 Ebd.
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gen des Legitimitätsglaubens sind im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft nicht zu trennen von der Um- und Herausbildung neuer sozialer Identitäten. Dabei liegt der Fokus der Untersuchungen auf der praktischen Rekonstruktion des revolutionären Wandels von politischer Legitimität und Rechtsbegründung. Geschildert wird dabei die Herausbildung eines kontraktualistischen Verfassungsrechtes, welches die Motive von individueller, d. h. auf den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit basierender Rechtspersönlichkeit der Bürger und demokratischer Volkssouveränität verbindet. Obwohl sowohl die niederländische als auch die englische Revolution zunächst als politische Konflikte innerhalb der traditionellen Eliten ausbrechen, und auf dieser Ebene noch nicht über die überkommenen Legitimationsvorstellungen des ständischen Ordoprinzips hinausweisen, setzen die qualitativen Umbrüche im Staats- und Rechtsverständnis genau dann ein, wenn sich die revoltierenden Fraktionen der herrschenden Eliten mit einer Volksbewegung verbinden. So wird mit der Rechtfertigung des bewaffneten Kampfes gegen die Obrigkeit und den Bedürfnissen der Mobilisierung und Führung einer Volksbewegung das Problem von Souveränität und Legitimität im Zusammenhang mit der Frage des Widerstandrechts aufgeworfen. Das Terrain, auf dem sich die revolutionären Kämpfe entfalten konnten, setzte allerdings bereits die politischen Interventionen der Reformation und der Staatsräson voraus. In ihrem Zusammenwirken stellten sie das theologische Legitimationsmonopol der katholischen Kirche radikal in Frage und konstituierten damit die Politik zu einem eigenständigen und weltlich bestimmbaren Gegenstand. Die hierdurch beförderte Ablösung des Rechtes von seiner transzendent-theologischen Begründung veränderte auch den Modus der juristischen Regulation der Gesellschaft. So geriet das traditionelle Ordoprinzip schnell in Konflikt zur neuen Souveränitätslehre. Im Souveränitätsbegriff von Jean Bodin tritt der weltliche Monarch an die transzendente Position Gottes, um selbst zum „unbewegten Beweger" der aristotelischen Metaphysik zu werden. Als solcher kann er allgemein-verbindliche Gesetze erlassen, ohne denselben selbst unterworfen zu sein. Demgegenüber plädieren die calvinistischen Monarchomachen für die Wiederherstellung der traditionellen Unterordnung des Souveräns unter die (ständische) Verfassung und leiten hieraus ihren Anspruch auf ein Widerstandsrecht ab. Die verwaiste Position Gottes kann demnach tendenziell republikanisch-demokratisch gefüllt werden. Die im traditionellen Ordoprinzip der ständischen Verfassung durchaus enthaltenen regressiven Elemente werden allerdings durch den Antagonismus zwischen Calvinismus und Katholizismus politisch überzeichnet. Eine revolutionäre Dimension erreichte dieser religiöse Antagonismus jedoch erst, wenn er temporär mit weiteren politischen, ökonomischen und sozialen Antagonismen, wie etwa Spanisch und Nicht-Spanisch, arm und reich oder adelig und bürgerlich verbunden wurde. In diesen antagonistischen Äquivalenzketten, welche die revolutionäre Volksbewegung mit den revoltierenden Fraktionen der politischen Elite verband, wird das traditionelle Ordoprinzip suspendiert zugunsten der egalitären Äquivalenz von Freien und
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Gleichen.42 Blieben diese Artikulationen in der niederländischen Revolution jedoch noch instabil und flüchtig und waren auf kurze Momente der Radikalisierung etwa bei den Geusen beschränkt, so geht das individualistische Prinzip der Freiheit und Gleichheit im Kampf des englischen Parlaments gegen den patrimonialbürokratischen Souveränitätsanspruch der Krone bereits unmittelbar in die politische Herrschaftslegitimation ein. Das Vertragsmodell, welches hier zur Herrschaftslegitimation gegen die Patrimonialtheorie herangezogen wurde, ist bereits weitgehend enthierarchisiert. Seine puritanische Interpretation kann sehr wohl am biblischen Ursprung des Rechts festhalten, ohne jedoch mit den individualistischen Prämissen der Freiheit und Gleichheit in Konflikt zu geraten. Ganz im Gegenteil machte die politische Metapher vom Herrschaftsvertrag den Puritanismus ebenso anschlussfähig an die Interessen des frühkapitalistischen Warenverkehrs wie an die rationalistischen Verwaltungsstäbe, die ihre Bindung an den Souverän nicht mehr lehensrechtlich, sondern als rationalen Dienst- und Arbeitsvertrag rechtfertigten. Insofern war der Kontraktualismus eng verwoben mit dem sich herausbildenden Ethos vom öffentlichen Dienst mitsamt einer neuen politischen Idee der Öffentlichkeit. Die politische Philosophie der Aufklärung bemühte sich im Anschluss an John Locke und Jean-Jacques Rousseau unter dieser Kategorie eine gemeinsame Bewegungsform für besitzindividualistische Prämissen und Volkssouveränität zu finden. 43 Mit der demokratischen Idee der Volkssouveränität verbündete sich die Vertragslehre im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen immer unter dem Druck der radikalen Volksbewegungen. Englische „Levellers", amerikanische „mechanics" und französische „Sansculotten" ergänzen die negativen Freiheitsrechte der Besitzbürger durch die Forderung nach politischer Partizipation. Bei den Levellers wird das radikaldemokratische Prinzip der Volkssouveränität erstmals mit dem Repräsentationsgedanken verbunden. Bei ihnen wird die soziale Qualifikation zur Repräsentation weitgehend abgekoppelt sowohl von der standesgemäßen Herkunft als auch dem Grundeigentum oder der Zugehörigkeit zum Klerus bzw. Juristenstand. Die soziale Herkunft wird ersetzt durch die ethische Disposition des trustPrinzips. Das Vertrauen des Volkes fungiert hier als eine symbolische Kompetenz, welche die partikulare Logik des Sozialen in die allgemeine Logik der Politik zu übersetzen vermag. Repräsentation findet demnach statt, weil das Besondere nicht unmittelbar im Allgemeinen aufgeht. Dieses qualitative Argument für die Repräsentation ist dabei unendlich gewichtiger als ihre quantitative Begründung, wonach eine große Zahl von Bürgern zu einer unmittelbaren und direkten politischen Entscheidung nicht fähig ist. Die Repräsentation des Volkes nach dem trust-Prinzip 42 Im Begriff der ,Äquivalenzkette" beschreiben Laclau/Mouffe 1991 das politische Bündnis verschiedener sozio-politischer Interessen gegen einen antagonisierten Gegner, was die universale Repräsentation der partikularen Elemente in einem hegemonialen Block ermöglicht. « Vgl. Saage, 1989, S. 46-66.
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setzt eine besondere Form der politischen Tugend voraus, die unabhängig von der sozialen Position ausschließlich dem Allgemeinwohl („commune bonum") verpflichtet ist. Wenn die revolutionären Volksbewegungen ein Demokratieverständnis artikulierten, das Freiheit und Gleichheit in einem untrennbaren und allgemeinen sozialen Zusammenhang (Brüderlichkeit) setzte, so musste dies zwangsläufig in Widerspruch geraten zum liberalen Konzept des Besitzindividualismus. Die hegemoniale Matrix des liberalen Besitzindividualismus war in dem Maße bedroht, wie immer mehr Subjekte ihre Rechte einforderten, die nicht mehr nur mit den Privilegienrechten des Adels, sondern nun auch mit dem Eigentumsrecht der Aktivbürger kollidierten. Die politische Interpretation der Menschenrechte als ein universaler Horizont der demokratischen Revolution hing nun davon ab, welche konkreten, partikularen Inhalte und Interessen sich in diese universale Kategorie einschreiben konnten und wie der Gesetzgeber diese qua Bürgerrecht zu garantieren vermochte. Denn nicht zuletzt hiervon hing die universale Legitimität des neuen Staats auf Dauer ab. War das Recht auf Eigentum etwa nur ein negatives Schutzrecht oder war es als universelles Anspruchsrecht zu begreifen? Lassen sich diese Rechte auch auf Arbeiter und Frauen ausdehnen? Lässt sich die revolutionäre Mobilisierung einer Volksbewegung mit Hilfe der Menschenrechte von den anschließend tatsächlich gewährten Bürgerrechten abtrennen, oder sind sie eins und unteilbar? VI. Die politische Theorie des Besitzindividualismus Vor diesem Hintergrund, so eine der wirkungsmächtigsten Grundthesen Saages, lässt sich auch die politische Philosophie des Deutschen Idealismus zwischen Kant und Hegel entschlüsseln. Während Kant den Besitzindividualismus mit dem demokratischen Imaginären der Volkssouveränität verbindet, indem er diesem einen transzendentalen, vorgesellschaftlichen Status einräumt, interpretiert Fichte den Besitzindividualismus als ein revolutionäres Versprechen, das der Staat und die Politik, um seiner Legitimität willen, einlösen muss. Insoweit propagieren beide das Bündnis von Liberalismus und Demokratismus von gegenüberliegenden Perspektiven aus, was allerdings nicht ausschließt, dass unter dem Überbegriff des Republikanismus auch monarchische und selbst ständische Elemente in ihren Diskursen artikuliert werden. Der von Kant propagierte Rechtsstaatsgedanke, der auf transzendentaler Grundlage die Rechte der Besitzbürger und verschiedene Privilegien des Adels vor demokratischen Übergriffen schützt, wird von Fichte durch einen Wohlfahrtsstaat ergänzt und substituiert, der die Eigentumsbildung politisch durchzusetzen hat. Während also die politische Ökonomie bei Kant sozusagen statisch in die transzendentalen Voraussetzungen der Gesellschaft inkludiert ist, besitzt diese bei Fichte eine praktisch-politische Dimension. Beide philosophischen Konzepte sind für die politische Ideengeschichte deshalb so interessant geworden, weil bereits hier am Anfang des liberal-demokratischen Projektes der
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Moderne die politischen Gestaltungsräume in der Dialektik von Rechts- und Sozialstaat bzw. Freiheit und Gleichheit ausgelotet werden. Die Frage, ob Kants juristischer Transzendentalismus, wie Saage behauptet, eine historisch-politische und daher kontingente Artikulation von politischer Universalität darstellt oder, wie seine zumeist philosophischen Kritiker meinten, vielmehr als eine abstrakte Universalität zu begreifen ist, die ahistorisch den unhintergehbaren Horizont von republikanischer Staatlichkeit beschreibt, ist daher auch keine rein philosophische Frage. 44 Der dezidierte Rückzug der politischen Philosophie in dieser Frage auf einen abstrakt-apriorischen Universalismus und dessen ostentative Abtrennung von der Geschichte befand sich in einer vollständigen Homologie zum politischen Widerstand gegen eine fortschreitende Verschränkung von liberaler Freiheit und demokratischer Gleichheit, wie sie der Politik des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates zugrunde lag. Eine unter dem erkenntnisleitenden Motto „Mehr Demokratie wagen" angetretene politische Ideengeschichte musste daher zwingend mit dem abstrakten Universalismus der Philosophen in Konflikt geraten. Die Kritik am Besitzindividualismus, zumal bei dem zum liberalen Orakel stilisierten Kant, traf die philosophischen Kritiker des Sozialstaates an einer entscheidenden Stelle. Benötigte doch das sich formierende konservativ-liberale Projekt des Neoliberalismus den Besitzindividualismus, um der Verbindung des liberalen Marktsubjekts mit dem konservativen Elitemodell eine gewisse philosophische Plausibilität geben zu können.45 Das setzte die Delegitimierung positiver bzw. materieller Freiheitskonzepte, wie sie sich im ideengeschichtlichen Gegensatz zu Kant beispielsweise bei Fichte finden ließen, voraus, welche die Eigentumsbildung nicht nur als eine vorstaatliche und vorgesellschaftliche Voraussetzung, sondern ebenso als sozialstaatliche Aufgabe betrachtete, und von daher eine Politik der Umverteilung einschloss. Die Diskreditierung positiver Freiheitskonzeptionen als tendenziell totalitär ist dabei ein Topos, der sich auf verschiedene, aber letztlich konvergierende Ebenen zurückverfolgen lässt und schließlich in ein mächtiges hegemoniales Projekt mündete, das heute in Gestalt des Neoliberalismus weitgehend den Rahmen allen politischen Handelns bestimmt. Der Topos findet sich bei den Ökonomen Friedrich von Hayek und Milton Friedman, die auf dieser Rhetorik ihre Gegnerschaft zur keynesianischen Wirtschaftspolitik und zum New Deal aufbauten ebenso wie bei dem einflussreichen Rechtsphilosophen Robert Nozick, der den Markt als einzig mögliche Institution der Verteilungsgerechtigkeit gegen den Sozialstaat ausspielte. Auch die vielgestaltig auftretende strategische Beschränkung der gesellschaftlichen Reichweite der Begriffe von Demokratie und 44 Vgl. Zotta 1994. Diese Auseinandersetzung kann als ein Lehrstück betrachtet werden, wie die Ablösung der Philosophie von Geschichte und sozialer Reflexion mehr oder weniger unabhängig von den bewussten Intentionen der Akteure einem antidemokratischen Elitemodell Vorschub leisten kann. 45 Siehe dazu die hegemonietheoretische Beschreibung der „anti-demokratischen Offensive" in der konzertierten Aktion von Neoliberalismus und Neokonservatismus bei Laclau / Mouffe 1991, S. 234-239.
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Partizipation ist hierzu zu zählen. Die Anschlussfähigkeit dieser Argumente an die „Neue Rechte" demonstriert schlagend ein Zitat von Alain de Benoist: „Ich nenne »rechts4 das Verhalten, das die Verschiedenheit der Welt und deshalb Ungleichheiten als ein Gut und die fortschreitende Homogenisierung der Welt, die durch den zweitausendj ährigen Diskurs der totalitären Ideologie begünstigt und bewirkt wurde, als ein Übel betrachtet". 46 Schon lange also bevor Fukuyama mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit trat, war das ideologische Feld durch den Neokonservativismus und Neoliberalismus so effektiv beackert worden, dass der Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus tatsächlich im populären Bewusstsein wie eine empirisch-faktische Bestätigung der konservativen Verschiebung im liberaldemokratischen Diskurs wirken musste. Von entscheidender Bedeutung für diesen hegemonialen Effekt war dabei die erfolgreiche Etablierung der antagonistischen Analogieketten von Gleichheit, Identität und Totalitarismus auf der einen und Differenz, Ungleichheit und Freiheit auf der anderen Seite. Der Sieg der „Freiheit" durch den Zusammenbruch des totalitären Kommunismus evozierte in diesem ideologischen Rahmen notwendig auch das Ende des westlichen Sozialstaates. So konnte Fukuyama dem sozialdemokratischen Projekt des demokratischen Liberalismus genau in dem Moment unter allgemeiner Zustimmung gleichsam den Totenschein ausstellen, als die liberale Demokratie nur scheinbar paradoxer Weise als Sieger aus der äußeren, bipolaren Systemauseinandersetzung hervorging. Es war ein Sieg der „Freiheit" über die „Gleichheit" nicht nur nach außen, sondern - und das wird oft übersehen - auch nach innen. Dem Triumph der liberalen Demokratie in der Systemauseinandersetzung folgte daher die innere Krise auf dem Fuße. Diese war jedoch durch die Auflösung des hegemonialen Zusammenhanges von Demokratie und Liberalismus zumindest schon vorbereitet. 47 Aus der Erfahrung des Thatcherismus konnten Laclau und Mouffe daher schon 1985 feststellen: „Genau in diesem Kontext der Krise des demokratischen Liberalismus muss jene Offensive lokalisiert werden, die das subversive Potential der Artikulation zwischen Liberalismus und Demokratie zu zersetzen versucht und erneut die Zentralität des Liberalismus behauptet - als die Verteidigung individueller Freiheit gegen jede Einmischung seitens des Staates und im Gegensatz zur demokratischen Komponente, die auf gleichen Rechten und Volkssouveränität beruht. Dieser Versuch, das Terrain des demokratischen Kampfes zu beschränken und die in vielen sozialen Verhältnissen existierenden Ungleichheiten zu bewahren, erfordert jedoch die Verteidigung eines hierarchischen und anti-egalitären Prinzips, das durch den Liberalismus selbst gefährdet worden war. Aus diesem Grund nehmen die Liberalen zunehmend zu einer Reihe von Themen aus der konservativen Philosophie Zuflucht, in der sie die notwendigen Elemente finden, die Ungleichheit zu rechtfertigen. Wir erleben somit das Auftauchen eines neuen hegemonialen Projekts: das des liberal-konservativen
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Zit. nach ebd., S. 237. Vgl. hierzu Macpherson 1983.
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Diskurses, der die neo-liberale Verteidigung der freien Marktwirtschaft mit dem äußerst anti-egalitären kulturellen und sozialen Traditionalismus des Konservatismus zu artikulieren versucht." 48 Dies hat sich auch in den programmatischen Äußerungen der deutschen Bundesregierung niedergeschlagen. Brandts „Mehr Demokratie wagen", Schröders „Neue Mitte" und Merkels „Mehr Freiheit wagen" stecken die Eckpunkte dieser Entwicklung ab. Wie lässt sich jedoch unter solchen Bedingungen die Hegemonie des Neoliberalismus brechen und der Demokratisierung damit wieder ein Geländegewinn verschaffen? Die Antwort von Laclau/Mouffe hierauf ist das konsequente Abrücken von einer Strategie der „Neuen Mitte" oder des „Dritten Weges" und einer pseudodemokratischen „political correctness": „The Left should start elaborating a credible alternative to the neo-liberal order, instead of simply trying to manage it in a more humane way. This, of course requires drawing new political frontiers and acknowledging that there cannot be a radical politics without the definition of an adversary. That is to say, it requires the acceptance of the ineradicability of antagonism. [ . . . ] As long as the Left relinguishes the hegemonic struggle, and insists on occupying the centre ground, there is very little hope that such a situation could be reversed". 49 VII. Der Nullpunkt der Demokratie Saages Antwort auf die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie besteht in der Aktualisierung der notwendigen Verschränkung von Freiheit und Gleichheit in ihren normativen wie historischen Voraussetzungen. Dies kann als eine Strategie interpretiert werden, welche der Eskamotierung des Demokratiebegriffs von seinen historischen wie normativen Grundlagen durch den Neoliberalismus widersteht. Er greift dazu historisch auf das Modell der Attischen Demokratie zurück, um die normative Formel von der Selbstbestimmung des Volkes als transzendentales Muster der Demokratietheorie zu erhalten. Diese normative Folie teilt er mit der Demokratietheorie von Jacques Ranciere. 50 Auch dieser betrachtet die Attische Demokratie als demokratischen Archetypus, geht darüber hinaus aber noch soweit, die Demokratie als Voraussetzung von Politik schlechthin zu behaupten. Politik konstituiert sich nach Ranciere in dem Moment, wo sich der aus der politischen Gesellschaft bisher ausgeschlossene Demos zum legitimen Repräsentanten der Gesellschaft proklamiert. Politik und Demokratie sind in exakt dieser Beziehung synonym, da das Gemeinwohl der Polis nur repräsentiert werden kann, wenn die Polis in ihrer Allgemeinheit in die Repräsentation einbezogen wird. Hingegen kann die Strategie der Entpolitisierung, welche den Demos von der Repräsentation trennt und ihn zu einem Teil der Gesell48 Laclau/Mouffe 1991, S. 239. 49 Laclau/Mouffe 2001, S. X V I f. u. XVffl. 50 Vgl. Ranciere 2002.
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schaft ohne politischen Anteil macht, nicht eigentlich unter den Begriff der Politik subsumiert werden, da hier die Universalität des Gemeinwohls sozial beschränkt wird und die Identifikation der Beherrschten mit den Herrschenden künstlich über pseudopolitische Praktiken fabriziert werden muss. Denn nur so kann die politische Identität des Gemeinwesens den Widerspruch zur sozialen Ungleichheit aushalten. In der philosophischen Kritik der Demokratie von Aristoteles und Plato steht der Begriff der Politik daher begriffsgeschichtlich gleichsam auf dem Kopf. Die hieran anschließende philosophische Tradition etabliert daher eigentlich eine Tradition der Verleugnung des Politischen, die eine künstliche Trennlinie zwischen der Politik und der Gesellschaft errichtet und legitimiert. Beide, Saage wie Rancière, sehen in der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts die klassische Aktualisierung der normativen Folie der Attischen Demokratie, die den Begriff auch erst aus seiner pejorativen Konnotation befreit. Hier ist es der Dritte Stand, der nicht nur seinen Anteil fordert, sondern, indem er sich zur politischen Allgemeinheit der Nation transformiert, alles zu sein beansprucht. Das berühmte Pamphlet des Abbé Sieyès „Was ist der Dritte Stand?" brachte es auf den Punkt: „Was ist der Dritte Stand? Nichts. Was müsste er sein? Alles!" Die demokratische Politik der Moderne entstand aus diesem politischen Kurzschluss zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Die Singularität des Dritten Standes proklamiert sich in einem revolutionären Akt zum alleinigen Vertreter des Allgemeinen und fordert die übrigen Stände auf, ihm beizutreten. Nach Rancière ist das die politisch-demokratische Geste schlechthin, welche alle funktionalen Ordnungen und Differenzierungen aus den Angeln hebt. Mit der Universalisierung zur Nation hebt der Dritte Stand die funktionale Struktur des Ständesystems auf und setzt die politische Disposition des Menschen als konkrete Basis nationaler Universalität frei. Dieser radikale Akt der Politik wird in der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte beglaubigt. Freiheit und Gleichheit sind ebenso eins und untrennbar wie die Nation. Hier geht es nicht etwa um die Festschreibung des Besitzindividualismus, sondern vielmehr um die Etablierung einer völlig neuen politischen Ordnung. Der Konflikt um die besitzindividualistische Interpretation der Menschenrechte setzt erst im Zusammenhang mit der Überführung des deklarierten Postulats in eine verfassungsmäßige Ordnung ein. 51 Erst aus dem nun einsetzenden Kampf zwischen demokratischer Politik, die an der universalen Geste der Deklaration festhält, und besitzindividualistischer Pseudopolitik, welche eine funktionale Ordnung mit Aktiv- und Passivbürgern einführt, entfesselt sich die Dynamik der Französischen Revolution. Für die Demokraten befähigt alles zum Bürger, was Mensch ist. Die Strategie ihrer Gegner beinhal51 Dies wird auch von Habermas in seinem Öffentlichkeitsbuch bestätigt: „Liberale Menschenrechte und demokratische Bürgerrechte treten, wie die Privatrechtsordnung, die grundrechtlich fixierte öffentliche Ordnung überhaupt, in Theorie und Praxis des bürgerlichen Staatsrechts erst auseinander, als die Fiktivität der hypothetisch zugrunde gelegten Gesellschaftsordnung zu Bewusstsein kommt und die schrittweise verwirklichte Herrschaft des Bürgertums für es selbst ihre Ambivalenz offenbart" (Habermas 1991, S. 328).
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tet dagegen die entpolitisierende Trennung des Menschen vom Bürger, der Gleichheit von der Freiheit und des Staates von der Gesellschaft. Die gleiche politisch-demokratische Geste, die sich in der Attischen Demokratie und der Französischen Revolution artikuliert, findet sich auch in der politischen Theorie des Marxismus wieder. Hier ist es das neue Proletariat, das sich in einem revolutionären Akt nach dem Vorbild von Demos und Drittem Stand aus einer sozial und politisch unterdrückten und ausgeschlossenen Klasse in der besitzindividualistischen Ordnung des Kapitalismus zum singulären Platzhalter der Gesellschaft im Allgemeinen konstituieren soll. Das Paradox der politischen Klasse besteht in ihrer singulären Allgemeinheit, welche die funktionale Ordnung des besitzindividualistischen Politik- bzw. Demokratieverständnisses aus den Angeln hebt. Es kann daher aus dieser Perspektive nicht um eine arithmetische Anpassung von Sozialstruktur und politischer Repräsentation gehen, sondern um die Transformation der sozialen, d. h. beschränkten Klasse zur politischen Klasse, die den neuen Horizont der Universalität verkörpert. Die hierauf aufbauende Kritik der politischen Ökonomie muss daher die alte Trennung von Ökonomie und Politik aufheben. Dies ist der Hintergrund vor dem sich die begriffliche Spaltung zwischen sozialer und politischer Demokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog. Während die liberale Demokratie die besitzindividualistische Sozialstruktur nicht in Frage stellt, muss der demokratische Sozialismus auf die Überwindung des kapitalistischen Systems bestehen. Wahrend die Revolution für die liberale Demokratie nur noch einen historischen oder allenfalls nachholenden Wert besitzt, wird die Dialektik von Revolution und Reform für die Arbeiterbewegung zu einer entscheidenden Grundfrage. Diese Problematik, welche die moderne Demokratietheorie über einen langen Zeitraum geprägt hat, ist auch zentral für die von Saage analysierte Debatte zwischen dem Austromarxisten Max Adler und dem liberalen Rechtstheoretiker Hans Kelsen in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Für Kelsen ist die demokratische Geste der deklarierten Identität der Menschen- und Bürgerrechte in der Französischen Revolution nur noch ein transzendentales Schema im Kantischen Sinne, das sich in Geschichte und Politik nur unzureichend und pragmatisch verwirklichen kann. Die repräsentative Demokratie des Parlamentarismus einschließlich ihrer kapitalistischen Ökonomie ist Ausdruck dieses politisch-historischen Prozesses. Als ein wahrhaft demokratischer Exponent des Liberalismus erweist sich Kelsen dabei jedoch durch sein Festhalten an der bürgerlichen Revolution als normative Folie der parlamentarischen Demokratie. Eine Ablösung des Demokratiebegriffs von seiner normativen wie historischen Grundlage, der revolutionären Gemeinwohlorientierung, wie sie in den so genannten realistischen Demokratietheorien im Anschluss an Joseph A. Schumpeter erfolgten, lehnt Kelsen als antidemokratisch ab. Auf sich gestellt, ohne transzendentales Muster, würde die parlamentarische Demokratie in eine blinde Orientierungslosigkeit hineintaumeln. Zur reinen Kontingenz depraviert, wäre sie unfähig, politische Probleme einer demokratischen Lösung zuzuführen.
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Max Adler hingegen suspendiert die Revolution nicht zu einem transzendentalen Schema der Geschichte, ihm geht es vielmehr um die politisch-praktische Überwindung der besitzindividualistischen Sozialstruktur. Die formale Demokratie des bürgerlichen Parlamentarismus muss dazu durch die soziale Demokratie des Sozialismus ersetzt werden, welche die Spaltung in eine politische Demokratie und eine kapitalistische Ökonomie aufhebt. Der politische Träger dieses Prozesses könne im marxistischen Sinne nur das Proletariat sein. Mit diesem Festhalten am revolutionären Charakter der Demokratie setzte sich Adler aber selbst im austromarxistischen Lager der Kritik aus. Stand die metapolitische Überhöhung der Revolution zum alles entscheidenden Zweikampf zwischen Kapital und Arbeit nicht eher einer demokratischen Politik im Wege? Verkannte eine solche Strategie nicht die plurale und differenzierte Struktur der modernen Gesellschaft und verspielte gerade aus diesem Grund die Möglichkeit, konkrete und differenzierte Strategien einer emanzipatorischen Politik zu entwickeln? Verhinderte die klassenkämpferische Teilung der Gesellschaft in zwei antagonistische Blöcke nicht die Möglichkeit einer hegemonialen Politik, welche die verschiedensten zivilgesellschaftlichen Akteure zu einem demokratischen Projekt vereinen könne? Ist es nicht vorteilhafter den demokratischen Kampf schrittweise auf die verschiedensten sozialen Felder zu tragen und auf diese Weise die undemokratische Trennung von Politik und Gesellschaft aufzuheben, ohne ihre pluralistische Struktur zu negieren? Dies waren Fragen, die Adler u. a. von Karl Renner und Otto Bauer gestellt wurden, ohne dass die österreichische Sozialdemokratie in Theorie und Praxis hierauf eine befriedigende politisch-praktische Antwort finden konnte. Trotzdem ist es ihr Verdienst, diese Fragen gestellt zu haben, und es scheint als sei die Kontroverse heute von ungeahnter Aktualität für eine Politik, die sich der Demokratisierung verpflichtet fühlt. Sollte der Liberalismus in Zukunft wieder verstärkt an den demokratischen Diskurs zurückgebunden werden, indem das liberale Motiv der Differenz zivilgesellschaftlich interpretiert und vom Motiv des kapitalistischen Marktliberalismus sowie der konservativen Eliteidee abgegrenzt wird? Dies würde jedoch die strategische Abkehr vom deliberativen Konsensmodell voraussetzen, das den Prozess der Entscheidungsfindung auf ein unpolitisches, neutrales Terrain gründet. Im Anschluss an Rosenbergs Unterscheidung von demokratischer Staatsform und demokratischer Bewegung dürften die Demokraten sich dann nicht scheuen, den politischen Konflikt wieder verstärkt in die demokratische Praxis einzuschreiben. 52 So schlagen Laclau und Mouffe vor, die soziale und kulturelle Fragmentierung der Gesellschaft in der Konstellation von „Globalisierung" und „Postmoderne" anzuerkennen, um zwischen den fragmentierten Positionen, Identitäten und Subjektivierungsformen einen demokratischen Block zu etablieren, welcher die Demokratisierung über die formale Grammatik des poli52 Das „Missverständnis, als wäre die Demokratie die Verkörperung der Gewaltlosigkeit", erweist sich daher als eine Schwäche der Demokraten, die aus der fehlenden Unterscheidung zwischen dem Legalitätsgebot der demokratischen Staatsform und dem Legitimitätsanspruch der demokratischen Bewegung herrührt. Vgl. Rosenberg 1988, S. 306 ff.
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tischen Systems hinaus auf alle Felder des Sozialen ausbreitet. 53 Ihr Begriff der „demokratischen Revolution" ist jedoch kein „high noon" der Weltgeschichte, sondern ein Prozess der demokratischen Extensivierung und Intensivierung, der sich von der Homogenität des klassischen Emanzipationsbegriffes verabschiedet hat. Demgegenüber kündigt sich, etwa im Werk von Michael Hardt und Antonio Negri oder Slavoj Zizek, eine Rehabilitierung des klassischen Revolutionsbegriffs an, welcher das postmoderne Universum vollständig durchquert hat und die Systemüberwindung auf die globale Agenda setzt.54 Diese Position lässt sich pointiert in Zizeks emblematischer Formel zusammenfassen: „Class Struggle or Postmodernism? Yes, please!"55
53 Vgl. u. a. Laclau 2002 und Mouffe 2000. 54 Vgl. Hardt/Negri 2002 u. 2004; Zizek 2002. 55 Zizek 2000.
Teil I : Das Zeitalter der großen bürgerlichen Revolutionen
Widerstandsrecht und Toleranzprinzip im Aufstand der Niederlande Der Aufstand der niederländischen Provinzen gegen die spanische Zentralgewalt im 16. Jahrhundert ist in der neueren Literatur häufig unter dem Gesichtspunkt diskutiert worden, ob er als „Elitenkonflikt" oder als „bürgerliche Revolution" eingeschätzt werden muß1, kurz: ob er einen „revolutionären" Charakter gehabt habe.2 So wichtig das Problem der Einordnung des niederländischen Aufstandes in den Zyklus der nachfolgenden Revolutionen in England, Nordamerika und Frankreich auch ist, so scheint mir nicht weniger bedeutsam die Frage zu sein, ob die Herausbildung der ersten wirklich bürgerlichen und kapitalistischen Nation3 von einer Umorientierung im politischen Denken begleitet war, die als eine Art Antizipation der bürgerlichen Naturrechtsdoktrin gewertet werden kann, in deren Namen der spätere antifeudale Emanzipationskampf des frühen Bürgertums geführt wurde. Friedrich Schiller scheint eben diese Perspektive vor Augen gehabt zu haben, als er 1788, ein Jahr vor Ausbruch der Französischen Revolution, schrieb: „Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mir die Gründung der niederländischen Freiheit. Wenn die schimmernden Taten der Ruhmsucht und einer verderblichen Herrschbegierde auf unsere Bewunderung Anspruch machen, wieviel mehr eine Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt, wo mit der guten Sache ungewöhnliche Kräfte sich paaren und die Hilfsmittel entschloßner Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf siegen".4 Für Schiller war der Widerstand der Niederlande gegen den spanischen Absolutismus ein „schönes Denkmal bürgerlicher Stärke", ein Beispiel dafür, „was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung". 5 Doch mit welchen Argumenten und Theorien wurde die antispanische Opposition gerechtfertigt? Gab es alternative Argumentationsmuster gemäßigter und radikaler Opposition gegen das alte Regime? Wie sind, ist dies der Fall, deren konkurrierende Vorstellung über die Organisation des Gemeinwesens zu charakterisieren? 1 Vgl. hierzu die neuere Literatur unter dieser Fragestellung auswertende Arbeit von Schilling o.J., S. 177-231. 2 Vgl. hierzu exemplarisch Griffiths 1959/60, S. 452-472; Nadel 1960, S. 473-484. Zur Kritik vgl. Schöffer 1961, S. 470-477. 3 Smit 1970, S. 52. 4 Schiller o.J.,S. 727. 5 Ebd.
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Wie ich meine, lassen sich diese Fragen vor allem auf zwei Ebenen aufrollen: Einerseits konzentrierte sich die zeitgenössische Auseinandersetzung auf die Rechtfertigung des bewaffneten Kampfes gegen die spanische Herrschaft, der das Problem, wie Souveränität zu definieren sei, korrespondierte. Andererseits wird auf Theorie und Praxis des Toleranzprinzips im Verlauf des Konflikts einzugehen sein, das auf verfassungsrechtlicher Ebene gleichfalls eng mit der Souveränitätsproblematik verklammert war.
I. Die Legitimierung des Widerstandes6 Es ist das Verdienst E. H. Kossmans und A. F. Mellinks 7 , zentrale, aber nur schwer zugängliche Dokumente (Pamphlete, Manifeste, Deklarationen etc.) herausgegeben zu haben, die, ins Englische übersetzt, einen vorzüglichen Überblick über die Argumentationsfiguren der antispanischen Opposition in den verschiedenen Phasen des Aufstandes bieten, mit denen das alte Regime angegriffen, das eigene politische Verhalten legitimiert und schließlich alternative Vorstellungen über die Struktur des anzustrebenden Gemeinwesens gerechtfertigt wurden. Die frühe Opposition, so können wir den edierten Quellen entnehmen, argumentierte auf dem Boden einer prinzipiellen, wenn auch fiktiven Interessenidentität mit dem König: Dies trifft sowohl für die wachsende calvinistische Minorität als auch für den größten Teil des niederen und höheren Adels zu, die das Zentralisierungsbestreben und die Religionspolitik Philipp II. ablehnten. Zugleich wird der bewaffnete Widerstand gegen die Verfälscher des königlichen Willens mit dem Rekurs auf die „Joyeuse Entrée" gerechtfertigt. Doch sollte sich in dem Maße, wie der Konflikt eskalierte, zeigen, daß die Bestimmungen dieses Vertrages keineswegs ausreichten, um die politische und militärische Praxis der Opposition zu legitimieren. Zwar verlangt Artikel 3 dieser niederländischen „Magna Carta", daß der König die „Herrlichkeit" (heerlichkeit) der Provinzen Brabant und Limburg anerkennt, nur mit deren Zustimmung Krieg zu führen, Steuern zu erheben, Münzen zu prägen etc. Auch verpflichtet er sich, die Rechte, Freiheiten und Privilegien der Bevölkerung und Städte, die von den Ständen repräsentiert werden, nicht zu verletzen. Gleichfalls regelt Artikel 5 die Modalitäten der Regierungsgeschäfte in der Weise, dass der Staatsrat sich aus 5 einheimischen Magnaten zusammensetzen soll, während die restlichen 2 Mitglieder vom König zu ernennen sind.8 Andererseits täuscht diese Bindung der Zentralgewalt an die Stände nicht darüber hinweg, daß der Umfang der Sanktionen, die der König im Falle einer Vertragsverletzung zu erwarten hat, eher auf den Normalfall begrenzter Konflikte innerhalb einer Feudalgesellschaft berechnet ist. Artikel 58 sieht als Form des Widerstandes gegen den König lediglich vor, daß die Untertanen weder ihm noch seinen Nach6 Vgl. hierzu auch grundlegend Oudendijk 1961; Oudendijk 1959, S. 264-278. 7 Kossman / Mellink 1974. s Vgl. hierzu Griffiths 1968, S. 346 f.
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folgern zu Gehorsam oder Dienstleistungen verpflichtet sind, bis er seine Fehler korrigiert hat.9 Genau genommen, wurde von der antispanischen Opposition in den Niederlanden dieser eng gesteckte Rahmen des Widerstandes gegen die spanische Zentralgewalt spätestens nach den großen Unruhen des Jahres 1566 modifiziert: Eine Opposition gegen die rigide Diktatur des Herzogs von Alba konnte ihre Chancen auf Effektivität nur dann wahren, wenn sie ihren Handlungsspielraum entscheidend über die Bestimmungen der „Joyeuse Entrée von Brabant" hinaus erweiterte. Bereits ab 1568 wurde im Sinne Bezas und später der „Vindicae" der bewaffnete Aufstand der niederen Magistrate gerechtfertigt; auch gehörte die Unterscheidung zwischen König und Königreich zum festen Bestandteil der oppositionellen Argumentation, noch bevor Hotman in seiner „Franco-Gallia" 1573 diesen Topos historisch zu fundieren suchte. Dem entsprach, daß sich ab 1574 in den Nordprovinzen immer mehr die Auffassung durchsetzte, die „natürlichen" Repräsentanten des „Volkes", die Stände, seien dem König übergeordnet; diese Metapher wurde ab 1579 in immer neuen Varianten vorgetragen. So heißt es im „Brief discourse" von 1579, die Stände der Niederlande hätten seit Menschengedenken die gesamte Nation repräsentiert, um deren Rechte und Privilegien sogar mit Waffengewalt zu verteidigen: notfalls sogar gegen ihre eigenen Prinzen (S. 185). In den „Proceedings of the peace négociations" von 1581 wird erneut im Sinne der „Vindiciae contra tyrannos" betont, daß der Fürst zum Wohle der Untertanen und nicht die Untertanen zum Wohle der Fürsten eingesetzt wurden. Infolgedessen komme den Ständen und nicht dem König die Entscheidung darüber zu, welchen Personen zum Wohl des Gemeinwesens Funktionen und Ämter übertragen werden sollten (S. 197 u. S. 199). Wie sehr sich die antispanische Opposition beim offiziellen Bruch mit der Zentralgewalt den Argumentationsmustern der calvinistischen Monarchomachen angenähert hatte, dokumentiert die „Unabhängigkeitserklärung" von 1581 eindrucksvoll: sah die „Joyeuse Entrée" nur eine temporäre Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Monarchen vor, so wird nun davon ausgegangen, daß bei einem Vertragsbruch der König „legal" seine Souveränität verwirkt habe (S. 216-228). Diese bedeutsame Akzentverschiebung von der passiven Gehorsamsverweigerung der, Joyeuse Entrée" zum aktiven Widerstand der Unabhängigkeitserklärung, der ausdrücklich das Recht auf Absetzung des Souveräns mit einschloß, wurde freilich bis 1581 gleichsam stillschweigend vorgenommen; zu einer expliziten Diskussion dieser Umorientierung kam es erst nach der formellen Loslösung der Vereinigten Provinzen von Spanien. In einem 1581 erschienenen Pamphlet wird festgestellt, daß diejenigen im Lager der Opposition, die auf einer wörtlichen Interpretation der Bestimmungen der „Joyeuse Entree" bestehen, sich selber bestrafen müßten, „for the text of the Privileges does not say that the inhabitants may wage war against him (den König, R. S.) if he infringes the privilèges" (S. 230). Tatsache sei, daß die ,Joyeuse Entrée" nicht mit einer dauernden Entfremdung zwischen 9 A. a. O., S. 348 f.
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König und Volk rechne. Auf Fälle bezogen, in denen nicht die Privilegien insgesamt, sondern nur in einzelnen Aspekten verletzt werden, gehe sie von Konflikten aus, die relativ einfach zu bereinigen sind: der Verfasser hält deswegen den Rekurs auf die Widerstandslehren der calvinistischen Monarchomachen zur Legitimierung der formellen Absetzung des Königs für unabdingbar. Die Frage ist allerdings, ob diese wichtige Modifikation, die entscheidend auf die politiktheoretischen Legitimationsmuster der niederländischen Aufstandsbewegung eingewirkt hat, noch bruchlos dem alteuropäischen Verfassungsdenken verhaftet blieb, wie dies zweifellos bei dem feudalen Herrschaftsvertrag der, Joyeuse Entrée" der Fall gewesen ist.
II. Zur theoriegeschichtlichen Einordnung der oppositionellen Argumentation Der Vertrag der „Joyeuse Entrée" umfaßt zwar die Rechte und Pflichten von Herrscher und Beherrschten, aber, dem Lehensrecht verbunden, sieht er ein Widerstandsrecht vor 1 0 , das nicht auf einem abstrakten Vertrag isolierter einzelner beruht, unter den das Herrschaftsverhältnis ohne Rest subsumierbar wäre 11 : er konstituiert mithin nicht Herrschaft, sondern seine Aufgabe besteht darin, ein lange bestehendes, quasi „natürliches" Herrschaftsverhältnis erneut zu bestätigen. Wenn demgegenüber der Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag der ursprünglich Gleichen und Freien in der frühbürgerlichen Politiktheorie als das entscheidende Konstituens der Staatsbildung angesehen werden muß, so wird man eine solche Konstruktion auch bei führenden calvinistischen Theoretikern wie Beza und Hotman vergeblich suchen. Ernst Troeltsch zog daraus gegen die These Albert Elkans, die calvinistischen Monarchomachen hätten ganz selbstverständlich die natürliche Gleichheit und Freiheit der Menschen vorausgesetzt12, den Schluß, daß diese Autoren noch völlig der teleologisch-organischen Staatskonstruktion des Aristoteles verpflichtet seien.13 Diese Interpretation wurde in der neueren Literatur von Jürgen Dennert 14 in seiner Einleitung zu dem Sammelband „Calvinistische Monarchomachen" dezidiert bestätigt: jeder Versuch, in den calvinistischen Autoren Vorläufer der bürgerlichen Naturrechtslehre zu sehen, sei verfehlt. „Für die Rationalisten...", so lautet seine zentrale These, „ist das Gemeinwesen kein gegebenes Zusammengesetztes, keine Ganzheit mehr. Denn das rationale Denken zweifelt ja gerade an allen Universalien und trachtet, sie auseinanderzulegen bis zum kleinsten und unteilbaren Teilchen. 10
Vgl. hierzu Delfos 1972, S. 79 ff.; zum mittelalterlichen Widerstandsrecht vgl. grundlegend Kern 1954. 11 Zur Bindung des mittelalterlichen Widerstandsrechts an den dem germanischen Rechtsdenken zuzuordnenden Begriff der „Treue" vgl. Mitteis 1956, S. 45. 12 Elkan 1905, S. 29 f. 13 Troeltsch 1912, S. 691 und S. 693, Anm. 374. 14 Dennert 1968.
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Im Gegensatz zum alten ontologischen Denken nimmt es jedes Ganze von vorneherein als eine Summe von Teilen. Im Rationalismus tritt ein neues Erkenntnisideal an die Stelle des alten ontologischen ..." (S. XLVII). Entsprechend sei denn auch bei Hobbes und Rousseau der Ausgangspunkt ihrer politischen Systeme der einzelne Mensch, „an dem noch gar kein unterscheidendes Merkmal zu irgendeinem anderen zu entdecken ist" (S. XLVI). Orientiert an der Methode der modernen Naturwissenschaft gehe es ihnen darum, „aus exakt bestimmten gleichen Größen - den von jeder Ungleichheit gereinigten Individuen - ein Gemeinwesen zu konstruieren. Aus einem logisch konstruktiven A k t . . . soll bei Rousseau das Ganze hervorgehen" (S. XLVII): identisch mit der volonté générale stelle das Volk nichts dar „als die Summe aller Einzelwillen" (S. L). Im scharfen Gegensatz zu dieser Konzeption, beinhalte der Begriff des Volkes in der Argumentation der calvinistischen Monarchomachen eine Recht und Gerechtigkeit konstituierende Ganzheit, die „durch die Institutionen, durch die Ämter, in denen die Magistratspersonen repräsentierend die Idee des Ganzen zur Darstellung bringen" (S. LII), ihre politische Form findet. Auch solle in der Sicht Bezas, Duplessis-Mornays und Hotmans durch das Paktum zwischen Herrscher und Beherrschten kein neues Gemeinwesen entstehen. Vielmehr setze der Vertrag das Herrschaftsphänomen als natürliche Größe voraus. Freilich stimmt diese Interpretation nicht in allen Punkten mit den Thesen der calvinistischen Monarchomachen überein. Das Fehlen einer Naturzustandskonzeption bei Beza und Hotman darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß in den „Vindiciae" durchaus auf einen status naturalis Bezug genommen wird. Zwar ist nicht erkennbar, ob in diesem ursprünglich Gleiche als isolierte Individuen existieren. Doch ist davon die Rede, „daß die Menschen von Natur aus frei sind, daß sie die Abhängigkeit hassen und mehr zum Befehlen als zum Gehorchen geboren sind. Nur eines großen Vorteils wegen haben sie es freiwillig geduldet, sich von anderen regieren zu lassen. Um den Vorschriften eines anderen zu gehorchen, haben sie gleichsam dem eigenen Naturgesetz entsagt" (S. 129). Dies sei allerdings erst in dem Augenblick geschehen, „als der Unterschied von Mein und Dein in die Welt kam und unter den Bürgern Kämpfe um den Besitz, bald auch unter den Nachbarvölkern Kriege um die Grenzen entstanden" (S. 130). Daß diese Interpretation des „natürlichen" Menschen eher an Hobbes und Locke als an Aristoteles erinnert, liegt auf der Hand. Dessen entscheidende Prämisse besteht nämlich darin, „daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist, und daß jedermann, der von Natur und nicht bloß zufällig außerhalb des Staates lebt, entweder schlecht ist oder besser als ein Mensch. ..". 1 5 In einer solchen Deduktion des Gemeinwesens haben einzelne keinen Platz, wie die „Vindiciae" sie vorsehen: nämlich konkurrierende Individuen, deren Konflikte auf die Unterscheidung von Mein und Dein in Verbindung mit einer ursprünglich unsoziablen Natur des einzelnen zurückgeführt werden. 15 Aristoteles 1958, S. 4.
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Wichtig ist nun, daß diese antiaristotelischen Implikationen in der zeitgenössischen Pamphletliteratur während des niederländischen Aufstandes rezipiert wurden. So sieht ein niederländischer Autor den Rekurs auf das Widerstandsrecht der Monarchomachen durch die Annahme gerechtfertigt, daß die Stände bei der Vertragsschließung zwar nicht explizit die Möglichkeit eines irreparablen Bruches einkalkuliert hätten. Doch sei dies auch nicht notwendig gewesen; gewöhnlich werde nämlich der Extremfall in einem solchen Vertrag nicht berücksichtigt, „as one always hopes for the best and does not expect a king to forget his oath and become a tyrant. And, in fact, it is not even necessary to mention it. It is a selfevident conclusion drawn from nature and human intelligence and it is graven into everyone's heart. For men have been created free by God and cannot be made slaves by people who have no power over them save that which they themselves have granted and given their rulers". 16 Der Verfasser spricht also nicht von einem ständisch strukturierten „Volk" als einer dem einzelnen vorgeordneten Größe, sondern von „men", von einzelnen, die von Gott als Freie geschaffen sind: es liegt hier eine eindeutige Antizipation des Lockeschen Postulats vor, wenn aufgrund selbstevidenter Einsichten gefordert wird, daß die Herrscher Macht nur in dem Umfange besitzen dürfen, der ihnen von den Beherrschten zugestanden worden ist. Andererseits muß jedoch betont werden, daß von den Monarchomachen und ihren Rezipienten während des niederländischen Aufstandes der aristotelische Bezugsrahmen ihrer Argumentation nur punktuell durchbrochen wurde. Zu Recht hat Gough darauf hingewiesen, dass Theodor Beza zwar von einem Herrschaftsvertrag ausgeht, aber außer der generellen Formel, das Volk existiere vor dem König und habe sich diesen gewählt, erfahren wir nichts über die Ursprünge der politischen Gewalt. Tatsächlich machen die Zitate, mit denen er seine These belegt, klar, was bei ihm zählt: es ist nicht die apriorische Rekonstruktion der kontraktualistischen Entstehung des Gemeinwesens, sondern das Beispiel der historischen Bünde im Alten Testament.17 Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des „pactum" in den „Vindiciae". Deren Autor unterscheidet zwischen zwei Verträgen, die beide am biblischen Vorbild orientiert sind: „Wir kennen bei der Einsetzung der Könige einen doppelten Bund, zunächst den zwischen Gott, König und Volk, durch den das Volk Gottesvolk wird; zweitens den zwischen König und Volk, der besagt, daß das Volk dem, der gerecht regiert, treu gehorcht" (S. 73). Was den ersten Bund betrifft, so umfaßt er zwei Komponenten: einerseits verpflichtet sich der König Gott gegenüber zu Treue und Gehorsam wie der Vasall seinem Herrn. Andererseits geht aber auch das Volk mit Gott einen Vertrag ein: dieser stellt freilich keine zweiseitige Willenserklärung dar, die prinzipiell widerrufbar wäre; vielmehr geht es darum, die ewigen Gesetze Gottes, die konstitutiv für die Gemeinschaft und den einzelnen sind, erneut anzuerkennen. Aber auch der zweite Vertrag zwischen dem 16 Kossman/ Mellink 1974, S. 229 f. 17 Dennert 1968, S. 58 f.
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Herrscher und dem Volk kann für sich nicht beanspruchen, daß ihm der bewußte und zielgerichtete Willensakt einzelner zugrunde liegt. In Analogie zum Feudalvertrag, fungiert das „Volk" als oberster Lehensherr und der König als sein Vasall. Auch hier ist Ziel des Vertrages nicht die Konstituierung von Herrschaft, sondern die erneute Bestätigung bereits existierender Abhängigkeiten, d. h. Herrschaft wird diesem Vertrag gleichfalls vorausgesetzt. Diese Interpretation wird ferner durch den Repräsentationsbegriff der Monarchomachen bestätigt. In dessen Kontext stellt nämlich der einzelne als Privater, von dem die bürgerliche Politiktheorie in der Nachfolge Hobbes' und Rousseaus ihren Ausgang nimmt, überhaupt keine politische Größe dar. Ausdrücklich wird die Differenz zwischen Privatheit und politisch relevanter Allgemeinheit darin gesehen, daß die einzelnen als Privatleute nicht tun müssen, wozu die Gesamtheit verpflichtet ist. „Zwar ist ein jeder in dem Amt, zu dem er berufen ist, verpflichtet, Gott zu dienen. Privatpersonen aber haben kein Amt, verwalten keine Obrigkeit, besitzen keine Macht und rechtliche Gewalt über Leben und Tod" (S. 104). Diejenigen, die also in der Sphäre des politisch Allgemeinen öffentliche Funktionen ausüben, repräsentieren wie der König selber die in der Verfassung konkretisierte „Gerechtigkeit" der Gesetze Gottes und der Natur: so gesehen, sind die Magistrate und der König „aus demselben Stoff gebildet" (S. 117). Nicht das unstrukturierte „empirische" Volk steht also über dem König, sondern diejenigen, die das Königreich als übergeordnete Seinsqualität, auf die der einzelne von seiner „essentia humana" her bezogen ist, „repräsentieren". Die durch die objektive Rechtsordnung vermittelte Identität zwischen Herrschern und Beherrschten zerbricht erst dann, wenn der Monarch in den Zustand der „Privatheit" zurückfällt; denn während sich „der König ... um den öffentlichen Nutzen (bemüht)", geht es dem Tyrannen „um den eigenen ... Wo das Gemeinwesen an erster Stelle steht, da sprechen wir von einem König und einer Königsherrschaft; wo das persönliche Wohl voransteht, da haben Tyrann und Tyrannis ihren Platz" (S. 171). In dieser Situation tritt das Widerstandsrecht des „Volkes" in Kraft: wie deutlich geworden sein dürfte, ist dadurch nicht etwa „die gesamte Volksmenge . . . , jenes Tier mit den unzählbaren Köpfen", berechtigt, sich „zu diesem Zweck (zu) erheben und (sich) sozusagen in dichten Scharen ... zusammenzurotten" (S. 93). In der Regel gilt nämlich, daß Private kein Widerstandsrecht besitzen; sonst würde, so wird immer wieder betont, „ruchlosen Aufständen und Verschwörungen Tür und Tor" (S. 16) geöffnet werden. Den Monarchomachen, so kann zusammenfassend festgestellt werden, erscheinen die Rechtsnormen der Verfassung durch unkontrollierbare Aufstände von „unten", die in Anarchie enden, mindestens genauso bedroht, wie die Usurpation von „oben", die der Tyrann betreibt. Daß dergestalt das Widerstandsrecht den etablierten Obrigkeiten (Magistrate der Städte, Provinzial- und Generalstände) zugeschlagen wird, verwundert nicht, wenn man sich dessen politische Funktion vor Augen führt: es ist prinzipiell defensiv; ihm geht es nicht, wie immer wieder betont wird, um Innovationen, sondern um die Wiederherstellung eines verletzten Rechtszustandes. Nimmt man zu der Anleh-
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nung an die mittelalterliche Konzeption des „gerechten Krieges" 18 die Einbindung des Widerstandsrechts in die feudale Kompetenzhierarchie, nicht nur von seiner Begründung (S. 83 f.), sondern auch von seiner Durchführung her, hinzu, so duldet es kaum einen Zweifel, daß die stark von den Monarchomachen beeinflußte Argumentation der Stände während des Aufstandes der niederländischen Provinzen trotz innovatorischer Elemente noch stark der traditionellen Politik und dem alteuropäischen Verfassungsdenken verpflichtet war. Bedeutet diese Feststellung zugleich aber auch, daß der niederländische Aufstand gegen Philipp II. mit Huyzinga als „konservative Revolution" 19 bezeichnet werden muß? Wie ich meine, ist dieses Problem differenziert nur zu behandeln, wenn gefragt wird, ob sich nicht möglicherweise hinter den tradierten Formen politischer Argumentation neue Inhalte verbergen. In dieser Perspektive fällt auf, daß in der politischen Theorie der Monarchomachen die Mitglieder der traditionellen politischen Schicht, nämlich der Adel, nicht mehr als Vorstände feudaler Haushalte definiert werden, sondern als Amtsträger des Königreichs. Was für die Monarchomachen im Grunde zählt, sind die konstitutionell fixierten Rechte und Pflichten der niederen und höheren Obrigkeiten, die sich als Institutionen, wie Michael Walzer zu Recht hervorhebt, gleichsam von der konkreten Person lösen und eine deutliche Entwicklung zu fortschreitender Formalisierung der Herrschaftsausübung signalisieren. 20 Dem entspricht, daß die Monarchomachen zwar ein Revolutionsrecht im modernen Sinne ablehnten; doch unterscheidet sich ihre Variante des „gerechten Krieges" von der mittelalterlichen Konzeption dadurch, daß die Amtsträger nicht nur als Repräsentanten des Gemeinwesens Widerstand leisten; dieser wird in erheblichem Maße auch legitimiert durch die individuelle Verantwortung gegenüber Gott: auf der Grundlage des Gewissen21 und nicht nur im Namen des „bonum commune" üben die Magistrate ihr Amt aus, das dadurch zugleich tendenziell aus dem System feudaler Patronage herausgelöst wird. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß die Monarchomachen insofern das mittelalterliche Widerstandsrecht erheblich modifizierten, als sie dessen „Legalisierung" in einem Maße vorantrieben, wie es das Mittelalter nicht kannte. Jedenfalls ist die Tendenz der calvinistischen Autoren unübersehbar, dem „Herrschaftsvertrag" nicht nur einen quasi legalen Status mit einklagbaren Rechten und Pflichten zu verleihen. Darüber hinaus versuchten sie systematisch, die historische und konstitutionelle Realität solcher Verträge nachzuweisen.22 Die politische Brisanz dieses Unterfangens ist evident, zumal unter den Bedingungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 18
Zur mittelalterlichen Konzeption des „gerechten Kriegs" vgl. Walzer 1970. 19 Huyzinga 1941, S. 41; vgl. aber auch die Rezension von Geyl 1955, S. 321. 20 Vgl. Walzer 1970, S. 72 f. 21 Zur konstitutiven Rolle des Gewissens vgl. Beza, in: Dennert 1968, S. 38. 22 Vgl. hierzu vor allem Hotman, in: Dennert 1968, S. 203 -327, der kasuistisch eine altfränkische Idealverfassung konstruiert, die die Überlegenheit der Stände gegenüber dem König legitimieren soll.
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HI. Die calvinistischen Monarchomachen und der Souveränitätsbegriff Bodins Zu Recht hat Gough hervorgehoben, daß der Kampf um religiöse Freiheit die Monarchomachen zwang, entscheidende Argumente gegen den erstarkenden Absolutismus zu formulieren. „And partisans though these controversial writers were, their discussions of the limits of monarchy led to the whole question of sovereignty, and so into the heart of general theory". 23 Diese These findet bestätigt, wer die Theorie der Monarchomachen mit der zeitgenössischen Lehre Bodins vergleicht. Erleichtert wird diese Aufgabe durch den von Horst Denzer 24 herausgegebenen Sammelband „Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen BodinTagung in München (1973)", der den fortgeschrittensten Stand der Bodin-Forschung repräsentieren dürfte. Bodins Stellung als geistiger Wegbereiter des absolutistischen Staates läßt allzu leicht die Tatsache in den Hintergrund treten, daß dieser Denker genauso wie die calvinistischen Monarchomachen von einem unauflösbaren Konnex zwischen dem von Gott geordneten Universum und dem politischen Gemeinwesen ausging: entsprechend sah er die entscheidende Restriktion des irdischen Souveräns darin, daß ihm die göttliche Autorität übergeordnet ist (S. 386, Anm. 29). Auch wäre es falsch, im politischen Souverän bei Bodin die bloße Negation aller anderen politischen Institutionen, wie etwa die Stände, sehen zu wollen. Zu Recht hebt Ulrich Scheuner in seinem Beitrag zu dem oben genannten Sammelband (S. 379-397) hervor, daß in der älteren Bodin-Forschung zu einseitig auf die „absolutistischen Neigungen des Autors" abgestellt wurde (S. 397). So habe Bodin die Anhörung der Stände und ihre Zustimmung zu den Gesetzen zwar nicht als eine Sache der necessitas, wohl aber der humanitas begriffen (S. 395). Auch tritt Bodin, wenngleich mit Vorbehalten, für das Recht der Stände auf Steuerbewilligung ein (S. 395). Ausdrücklich wandte sich Bodin gegen Autoren, die in ihnen eine Gefahr für die Monarchie sahen: Für eine stabile Monarchie seien sie eine unverzichtbare Voraussetzung; denn sie erst garantierten jene „mediocrite", ohne die der Staat zugrunde gehen und in einer „barbare tyrannie" enden würde (S. 396, Anm. 76). Nimmt man hinzu, daß Bodin als Repräsentant des 3. Standes in den Generalständen von Blois das Vermandois vertrat und dort für eine Politik des Ausgleichs mit der königlichen Prärogative eintrat, so scheint er den politiktheoretischen Positionen der calvinistischen Monarchomachen näher gekommen zu sein, als dies zunächst zu vermuten ist. Doch dürfen die gemeinsamen philosophischen Grundlagen des Gemeinwesens, sowie die Anerkennung der Stände als unverzichtbare Bestandteile einer stabilen Verfassung nicht darüber hinwegtäuschen, daß Bodin und die französischen Calvinisten in einem zentralen Punkt unvereinbare Ansätze vertraten: in der Frage der 23 Gough 1963, S. 50. 24 Denzer 1973.
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Souveränität. Auch wenn Bodin die Monarchomachen nur selten beim Namen nannte, sah er in deren Theorie der ständischen Gegengewalt, wie J. H. M. Salmon zeigen kann, eine größere Gefahr für das Gemeinwesen als in den Lehren Machiavellis und seiner Anhänger. Im Vorwort der Ausgabe der „Six Livres de la République" von 1572 konzedierte Bodin den calvinistischen Theoretikern zwar, sie seien mehr durch Unwissenheit über die Grundlagen des Staates als durch böse Absichten bei der Formulierung ihrer Theorien geleitet. Dennoch sieht er in ihnen Autoren, „qui, soubs voile d'une exemption de charges et liberté populaire, font rebeller les suiets contre leurs princes naturels, ouvrant la porte à une licentieuse anarchie, que est pire que la plus forte tyrannie du monde" (S. 361). Ähnlich argumentierte Bodin, als er sich 1583 im Dienst des Herzogs von Anjou in Antwerpen aufhielt und dessen Verhandlungen mit den niederländischen Generalständen in einem Brief an seinen Schwiegervater kommentierte. Er lehnte schroff den Vertragsentwurf der Stände mit dem Argument ab, daß deren Weigerung, die Zitadellen der Städte aufzugeben, notwenig die Entmachtung des Prinzen zur Folge haben müsse; denn derjenige sei der wahre Souverän, der das Militär (puissance publique) kontrolliere. Die dem Herzog angebotene Regelung jedoch laufe auf eine Teilung der Souveränität hinaus, die notwendig die Destruktion des Staates nach sich ziehen müsse.25 Bodin hat damit zugleich die wesentliche Differenz aufgezeigt, die seinen Ansatz von Theorie und Praxis der calvinistischen Monarchomachen unterschied: Im Gegensatz zu diesen definierte er die Souveränität von einer einzigen Kompetenz her, der alle anderen Rechte untergeordnet waren. Konfrontiert mit den zeitgenössischen Religionskriegen sah er deren Kern in dem Recht des Herrschers, Gesetze zu erlassen, ohne diesen selber unterworfen zu sein. Die Garantie der Verwirklichung dieses Anspruches konnte ihm zufolge nur eine Form der Souveränität leisten, die permanent, absolut und unteilbar war. Auf der Folie dieses Souveränitätsverständnisses arbeitet J. H. M. Salmon in dem bereits erwähnten Sammelband (S. 359-378) die entscheidenden Unterschiede zwischen der machtpolitischen Struktur des Gemeinwesens, d. h. dem Handlungsspielraum der Bürger und der Institutionalisierung der höchsten Gewalt im Staat bei Bodin und den Monarchomachen heraus. Bodins Souveränitätsbegriff impliziert, daß alle Privilegien, Gewohnheitsrechte, „Freiheiten" etc. normative und damit verbindliche Kraft nur besitzen, solange sie entweder vom Herrscher autorisiert sind oder aber dessen Gesetzen nicht widersprechen. Demgegenüber vermieden die Monarchomachen eine präzise Definition dessen, was sie unter legislativer Souveränität verstanden: sie respektierten nicht nur die Vielfalt der alten verbrieften Rechte, sondern sahen in deren Gesamtheit als Ausdruck gewachsener Verfassungsstrukturen den eigentlichen Ort der Souveränität. Indem in der Theorie der Monarchomachen den Ständen die Aufgabe zufiel, als „Hüter der Verfassung" zu fungieren, waren sie zugleich als die Repräsentanten des „Volks" den Königen übergeordnet. Zwar sollten diese souveräne Hoheitsrechte ausüben, 25 Griffiths 1959/60, S. 505.
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aber doch so, daß ihnen die Rahmenbedingungen ihres Handelns von den Generalständen vorgeschrieben wurden. Sie hatten das Recht, den Herrscher an seine Pflichten zu mahnen, ihn zu korrigieren und notfalls abzusetzen. Auch oblag es ihnen, Könige zu wählen und die höchsten Offiziere und Beamten des Landes zu ernennen; sie konnten Steuern erheben und alle wichtigen Angelegenheiten in Krieg und Frieden entscheiden. Eine solche Regelung mußte natürlich in einen scharfen Kontrast zum Souveränitätskonzept Bodins geraten. Das ausschließliche Recht des Souveräns, Gesetze zu erlassen, duldete es nicht, die politische Gewalt mit den Ständen zu teilen. Wenn diese die Gesetze zu verifizieren hatten, dann geschah dies nicht, wie Salmon zu Recht betont, um ihre Mitwirkung an deren Zustandekommen zu sichern, sondern nur, um deren Dauer zu garantieren. Nicht die aktive Partizipation an der Regierung war ihre Funktion, sondern die Bereitstellung einer Plattform, auf der einerseits der Souverän die Wirkung seiner Gesetze überprüfen konnte und andererseits die Untertanen die Möglichkeit hatten, Wünsche und Beschwerden vorzutragen. Unter dieser Voraussetzung ist es plausibel, wenn Bodin in den Ständen nicht eine Einschränkung, sondern eine Erhöhung der Souveränität sah, da diese durch deren Gegenwart gleichsam explizit anerkannt wurde. Die einzige aktive Rolle, die die Stände spielten, war, wie wir sahen, ihr Steuerbewilligungsrecht; aber auch hier konnte der Souverän während eines staatlichen Notstandes den Konsens der Stände suspendieren. Dies vorausgesetzt, ist Salmons Hypothese plausibel, daß Bodin wesentliche Passagen seiner „Republik" in Opposition zu den Theorien der Monarchomachen verfaßte. Wir haben gesehen, daß die von den Monarchomachen geforderte Unterordnung des Souveräns unter die Souveränität der Verfassung in den aufständischen Provinzen der Niederlande die Politik der Stände unmittelbar angeleitet hat. Wie Enno van Gelder zudem hervorhebt, waren ab Juli 1572 in Holland die legislative und ein großer Teil der exekutiven Gewalt abhängig von den vroedschap der Städte und den Provinzialständen. 26 Nimmt man die Verträge der Generalstände mit dem Erzherzog Matthias 27 , Wilhelm von Oranien 28, dem Herzog von Anjou 2 9 sowie die Konflikte mit dem Earl of Leicester 30 hinzu, die auf ein ständisches Kontroll- und Mitregierungsrecht hinweisen, wie es vorher in der Geschichte ohne Beispiel war, so erscheint mir die häufig vertretene These problematisch, der Rekurs auf die ,Joyeuse Entrée" und die von den Monarchomachen „fundamentalistisch" interpretierte Verfassung beweise per se den reaktionären bzw. mittelalterlichen Inhalt des Aufstandes der Niederlande. Weitaus mehr spricht dafür, daß die rückwärtsgewandten Implikationen der Legitimierung des Aufstandes unter dem Druck der 26 Gelder 1956, S. 62. 27 Vgl. hierzu Dokument 28, in Kossman/Mellink 1974, S. 141 -144. 28 Vgl. hierzu Kossman/Mellink 1974, S. 38 ff. 29 A. a. O., S. 41 f. 30 A. a. O., S. 44 ff.
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Konfrontation mit dem spanischen Absolutismus gleichsam unbewußt innovative Elemente hervorgetrieben haben, die sich durchaus mit denen der Bodinschen Theorie vergleichen lassen: entwickelte jener die theoretischen Grundlagen des modernen Staates als des alleinigen Inhabers des Monopols physischer Gewaltsamkeit (Max Weber), so lieferten die Monarchomachen im Sinne des Gewaltenteilungsprinzips John Lockes einen wesentlichen Beitrag für die Lösung der Frage, wie die im Staat konzentrierte Macht im Interesse der Bürger an Meinungsfreiheit und Toleranz wirkungsvoll zu kontrollieren sei. Damit ist übergeleitet zum zweiten Argumentationszusammenhang, innerhalb dessen der Widerstand der niederländischen Provinzen gegen die spanische Zentralgewalt legitimiert wurde: zur Rolle des Toleranzprinzips.
IV. Die doppelte politische Stoßrichtung des Toleranzprinzips Bei einem Vergleich zwischen den französischen und niederländischen Befürwortern der religiösen Toleranz im 16. Jahrhundert fällt auf, daß die französischen Legisten religiöse Duldsamkeit nur selten mit wirtschaftlichen Motiven in Verbindung brachten 31, während in den Niederlanden Toleranz immer wieder mit ökonomischen Argumenten verteidigt wurde. 32 Wie aus den von Lecler im 2. Band seiner grundlegenden Studie „Histoire de la tolérance au siècle de la Réforme" 33 diskutierten Quellen (Pamphlete, Denkschriften, Petionen usw.) hervorgeht, wurde die Forderung nach religiöser Toleranz vor allem von den gesellschaftlichen Kräften erhoben, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des sozial-ökonomischen Status quo hatten: die Schicht der Regenten, die Handelsbourgeoisie, der liberale Adel. Das entscheidende Argument, das von diesen gemäßigten Katholiken und Protestanten vorgebracht wurde, ging von der Befürchtung aus, religiöse Intoleranz führe zum Bürgerkrieg und damit zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft. So wies der Verfasser einer Denkschrift an Philipp II. 1566 auf die katastrophalen Konsequenzen hin, die aus der Verfolgung einer starken calvinistischen Minorität resultieren: es sei unglaublich, welchen Schaden die Verfolgungen seit 40 Jahren der Tuchherstellung, sowie der Seiden- und Garnproduktion dadurch zugefügt hätten, daß durch sie viele qualifizierte Arbeitskräfte nach England, Frankreich und anderen Ländern vertrieben worden seien (S. 168). Selbst Don Juan d'Austria, der Statthalter Philipps II., in den Niederlanden erkannte die Bedeutung des wirtschaftlichen Arguments in den Auseinandersetzungen über die religiöse Freiheit. In seinem Brief vom 26. Mai 1577 an den König schrieb er, Wilhelm von Oranien gelinge es, das Volk immer wieder davon zu überzeugen, daß zur wirtschaftlichen Blüte Gewissensfreiheit notwendig sei. Der Appell an die wirtschaftlichen InteresVgl. hierzu Schnur 1962. 32 Vgl. hierzu Hassinger 1973, S. 332-356; Hassinger 1966, S. 19-21 sowie Schnur 1962, S. 33 f. 33 Lecler 1955.
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sen führe dahin, daß sich die Leute seiner Partei anschließen, ohne an Gott und den König zu denken (S. 178). Noch 1579 optierte in der Zeit der Verhandlungen von Köln der Katholik Gaspar Schets aus Antwerpen, einer der Repräsentanten der Generalstände auf dem Kongress, für die Religionsfreiheit. Zwar sei diese kein absolutes Gut. Aber genauso wie man Wucher und Prostitution dulde, um ein größeres Übel zu verhindern, müsse man die calvinistische Religionsausübung tolerieren (S. 190). Ausdrücklich sieht er in der „Pazifikation von Gent" eine geeignete Basis für eine Verständigung mit Katholiken und Calvinisten. Im Unterschied zu dieser Argumentation, die die Verfolgung und Gewalt als untaugliche Mittel der Auseinandersetzung mit den Protestanten ablehnte, wurde von orthodox katholischer Seite geltend gemacht, in den Niederlanden sei die Anwendung des Toleranzprinzips unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Nur die konsequente Verfolgung der Ketzer gewähre, so argumentierte der Bischof Cunerus Petri, die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung. Wie es einerseits Beispiele erfolgreicher Bekämpfung der Ketzerei durch inquisitorische Maßnahmen in der Geschichte gebe, so sei andererseits für die calvinistischen Rebellen die Religionsfreiheit nur ein Vorwand, die Souveränität des Königs zu unterminieren: ihnen gehe es weniger um Religion als um politische Macht (S. 199 f.). Weit davon entfernt, bei Gewährung der Toleranz den bürgerlichen Frieden zu erhalten, würde sie jede Form der Duldung in ihrer subversiven Tätigkeit ermutigen. Nicht zufällig, so scheint es, war Cunerus Petri Bischof von Friesland, einer überwiegend ländlichen Provinz. Deren intakte traditionale Sozialstrukturen vor Augen, leuchtete es ihm keineswegs ein, daß im Interesse einer sich allmählich an bürgerlichen Prinzipien orientierenden Wirtschaft, die entscheidend von calvinistischen Kräften mitgetragen wurde, Konzessionen zu machen seien: aus ähnlichen Gründen lehnte auch der Theologe Pamelius das Toleranzprinzip kategorisch ab. Zwar sei aus bestimmten Gründen auch den Andersgläubigen die Freiheit des Aufenthaltes zu gewähren. Dies dürfe jedoch nicht aus rein politischen oder wirtschaftlichen Gründen geschehen, etwa im Interesse einer Stadt oder Provinz, die sich von einer solchen Maßnahme Vorteile für den Handel oder eine Erhöhung der Einnahmen versprechen (S. 204). Bedeutsam für die strategische Stoßrichtung des Toleranzprinzips während des Aufstandes der Niederlande ist nun, daß sie sich nicht nur gegen die repressive Politik der spanischen Krone im Interesse adliger und bürgerlicher Segmente der herrschenden Schichten an der Aufrechterhaltung des politischen und sozialen Status quo vor 1566 richtete. Wie Lecler zeigen kann, wandten Wilhelm von Oranien und seine Anhänger spätestens während der Auseinandersetzungen über den berühmten „Religionsfrieden" von 1578 das Toleranzprinzip auch gegen die Intransigenz der radikalen Calvinisten, die in den südlichen Provinzen vor allem in Gent ihre Hochburg hatten. Insbesondere Philipp du Plessis-Mornay tat sich als geschickter Apologet des „Religionsfriedens" hervor. 34 Mornay zufolge war der Frie34 Vgl. hierzu Elkan 1906, S. 460 - 480.
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den in den Niederlanden nur dann realisierbar, wenn er Staat und Religion gleichermaßen umfasse. Was den Staat betreffe, so wünschten alle politischen Gruppierungen den Abzug der spanischen Truppen und die Wiederherstellung der alten Freiheiten. Auch in der religiösen Frage sei man sich in einem Punkt einig: jeder strebe die Gewissensfreiheit an und lehne die Inquisition ab. Aber dieser partielle Konsens reiche nicht aus. Nur wenn sich die verschiedenen religiösen Strömungen untereinander gegenseitig tolerierten, könne der Frieden verwirklicht werden (S. 183). Moraays Unterscheidung zwischen der staatlichen und religiösen Sphäre wurde in einem 1579 erschienenen „Discours" am prägnantesten im Sinne der religiösen Toleranz interpretiert. Einerseits weigerte sich der anoyme Verfasser, zwischen der Freiheit des Gewissens und der Freiheit der Religionsausübung zu trennen, da letztere nichts weiter sei als der sichtbare Ausdruck der ersteren. Der Verfasser radikalisiert nun diesen Gedanken, indem er der Gewissensfreiheit und damit dem Recht ungehinderter Religionsausübung den Status eines Naturrechts zuspricht (S. 185). Andererseits hat jedoch die Religionsfreiheit dort ihre Grenze, wo sie politische Unruhe hervorruft. Dieses Verdikt wird damit begründet, daß die politische und die geistliche Ordnung zwei klar getrennte, souveräne Bereiche darstellen, deren Zielsetzungen grundverschiedener Natur seien: gehe es dem Politiker um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, so strebe der Geistliche transzendente Güter an (S. 185). Zwar sei es das Recht des Staates, Konzile und Synoden einzuberufen; die dort Versammelten erscheinen jedoch nicht als Mitglieder des politischen Gemeinwesens, sondern als Glieder der Kirche. Umgekehrt könne die Kirche zwar exkommunizieren, aber der Exkommunizierte bleibt Mitglied des politischen Gemeinwesens (S. 186). Begründet wurde diese Funktionsteilung von Marnix, Taffin und Villier, den drei wichtigsten Beratern Wilhelm von Oraniens, mit der These, daß sich der sorgsam gewahrte bürgerliche Friede zum Vorteil des reinen Evangeliums auswirken werde. Mit welchen Argumenten wurde nun aber von den radikalen Calvinisten das Prinzip der religiösen Pluralität im Staat abgelehnt? Zunächst ist festzustellen, daß sie sich genauso wie die militanten Katholiken über das wirtschaftliche Motiv in der Toleranzfrage hinwegsetzten.35 Darüber hinaus dürfte für ihre Haltung der Gewissenskonflikt des Johann von Nassau, eines Exponenten des oranischen Lagers, aufschlussreich sein. Auf der einen Seite fühlte er sich durch die von den Generalständen legalisierten Regelungen des „Religionsfriedens" gebunden. Auf der anderen Seite beeindruckte ihn aber das Argument, daß man keinen Pakt mit Götzendienern eingehen und sie in ihrem Aberglauben bestärken dürfe (S. 206). Demgegenüber hatten die radikalen Prädikanten die von Johann von Nassau geäußerten Skrupel nicht: gestützt auf einschlägige Bibeltexte, war es für sie eine ausgemachte Sache, daß das Prinzip des „Haereticis non servandam fidem" gegen die Katholiken zu wenden sei. So antwortete der Prädikant Jean Schuurman auf die Darlegungen Johann von Nassaus, es sei fromm und ehrenhaft, mit Katholiken geschlossene Verträge zu brechen und zu annullieren. Zwar könne man niemandem 35 Vgl. hierzu Hassinger 1966, S. 24.
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zum rechten Glauben zwingen; wohl aber sei es notwendig, die Untertanen zu veranlassen, das reine Evangelium zu hören und häufig das Sakrament zu empfangen. Ausdrücklich weist er auf das Beispiel Englands hin, wo man sich nicht scheue, die Privatsphäre der Katholiken zu verletzen (S. 207). Ähnlich argumentierte ein anderer Prädikant, Charles Gallus, Einwohner von Arnhem. Der Friede mit den „Papisten", so argumentierte er, sei nur unter der Bedingung möglich, daß ihr öffentlicher Gottesdienst verboten, ihre Klöster aufgelöst und ihre Hilfsdienste bei der Durchführung protestantischer Gottesdienste gefordert werden (S. 207). Der Option für religiöse Homogenität entsprach, daß die radikalen Calvinisten zwar die Unterscheidung zwischen Kirche und Staat genauso anerkannten wie die gemäßigten Repräsentanten ihrer Religion. Wie jedoch die Diktatur der Geusen in den großen flandrischen Städten zeigte, versuchten sie, den Magistrat zum säkularen Arm der geistlichen Gewalt umzuformen. Auf den ersten Blick scheinen dies die calvinistischen Anhänger des „Religionsfriedens" auch angestrebt zu haben. So erinnerte Theodor Beza daran, als er in die Kontroverse um den „Religionsfrieden" eingriff, daß es Aufgabe des Magistrats sei, die wahre Religion zu schützen und die falsche abzuschaffen. Dennoch riet er den Radikalen, sich an den „Religionsfrieden" zu halten. Gegen die Maxime „non sunt facienda mala, ut eveniant bona" wandte Beza ein, der Magistrat müsse sich in seinem Handeln von umsichtiger Klugheit (prudence) leiten lassen: daher sei es notwenig, dem katholischen Götzendienst mehr mit Überredung als mit Gewalt zu begegnen. Ausdrücklich lehnte er Holland und Seeland als nachzueiferndes Vorbild ab, die den katholischen Gottesdienst rigoros abgeschafft hatten. Es gehe zu weit, wolle man mit einem Schlag eine Religion unterdrücken, die sich seit Jahrhunderten auf einen universalen Konsens gestützt habe. Es war genau diese Unterscheidung Bezas zwischen der Ablehnung des Katholizismus im Prinzip und seiner faktischen Duldung in der konkreten historischen Situation, die die Geusen und radikalen Prädikanten zurückwiesen: sie foderten, der Magistrat habe im hic et nunc die Aufgabe, die religiöse Uniformität im Dienste des Calvinismus durchzusetzen und zu garantieren. Da unbestritten ist, daß sich die extremen Calvinisten nicht nur als die entschiedensten Gegner des spanischen Absolutismus und der katholischen Kirche profilierten, sondern zudem als die wichtigste ideologische und organisatorische Kraft innerhalb der Aufstandsbewegung zu gelten haben, der es immer wieder gelang, die plebejischen Schichten der großen Städte für ihre Ziele zu mobilisieren, erscheint es notwendig, anhand zweier neuerer Arbeiten auf ihr Verhältnis zu den „inarticulates" einzugehen.
V. Der radikale Calvinismus und die „inarticulates" Von einer calvinistischen Massenbewegung in den Niederlanden kann erst ab 1566 die Rede sein. Die Versuche, ihre Entstehung zu erklären, konzentrieren sich vor allem auf zwei Hypothesen. Auf der einen Seite wurde die Massenmobilisie-
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rung im Rahmen der calvinistischen „Heckenpredigten", die in dem berühmten Bildersturm vom August 1566 ihren symbolischen Höhepunkt erreicht habe, als Ausdruck sozialer und ökonomischer Konflikte interpretiert. Auf der anderen Seite stellte man die Unruhen dar als das Werk einer hochorganisierten und ideologisch intransigenten calvinistischen Minderheit, der es gelungen war, sich durch einen charismatischen Führungsstil eine Massenbasis zu verschaffen. Phyllis Mack Crew 36 versucht zu zeigen, daß beide Hypothesen zwar nicht grundsätzlich falsch sind, für sich genommen jedoch kaum ausreichen, die Massenbewegungen und Gewalttätigkeiten von 1566 in den südlichen Provinzen der Niederlande zu erklären. Die Vertreter der sozialökonomischen Hypothese weisen darauf hin, daß sich in den „Heckenpredigten", die dem Bildersturm vorhergingen, zumindest vereinzelt klassenkämpferische Motive feststellen lassen. Auch nahm die Bewegung des Bildersturms von Westflandern ihren Ausgang, einem Industriezentrum mit hoher Konzentration ungelernter Arbeiter, die zum großen Teil beschäftigungslos waren und unter den steigenden Lebensmittelpreisen litten. Umgekehrt gibt es Hinweise, daß die sozialen Unruhen, die aus der Wirtschaftskrise folgen konnten, gerade von Repräsentanten der herrschenden Schichten gefürchtet wurden. Doch läßt die sozialökonomische Konflikttheorie eine Reihe von Fragen offen. Wenn die Unruhen von 1566 vorwiegend oder ausschließliche Ausdruck wirtschaftlicher Frustrationen waren, bleibt unverständlich, weswegen während des Bildersturms weder Kornhändler überfallen und Bäckereien geplündert noch in den Kirchen und in den privaten Häusern der Reichen gestohlen wurde (S. 31 f.). Auch überraschte die Zeitgenossen, daß man gegen den verhaßten katholischen Klerus zwar verbale, nicht aber physische Gewalt anwandte (S. 32). Die in den Kirchen angerichteten Zerstörungen deuteten, sieht man vom Klerus ab, auf keinerlei Feindschaft gegen die herrschenden Schichten, insbesondere den Adel und die reiche Bourgeoisie, hin. Eher ist, wie Mack Crew betont, das Gegenteil der Fall: „the iconodasm was, among other things, an affirmation of popular respect for the nobility. Almost no one proposed to attack the sepulchres of the nobles or the houses of the rich" (S. 159). Schließlich ist hervorzuheben, daß der Bildersturm nur von wenigen, in der Regel bezahlten Leuten durchgeführt wurde: im Gegensatz zu den calvinistischen „Heckenpredigten" nahm also die Masse der Bevölkerung nicht aktiv an ihm teil. Dieser Passivität entsprach die abwartende Haltung der lokalen Magistrate, die um so erstaunlicher ist, als es in den wenigen Städten, in denen sie einschritten, zu keinen Zerstörungen in den Kirchen kam. Diese Fakten, so argumentiert Mack Crew, lassen es wenig sinnvoll erscheinen, „to describe the mentality of the people as frustrated and hostile, and then to describe their behavior during the iconoclasm as passive, but in fact the vast majority of the people were passive during the troubles. If we attempt to explain the iconoclasm in terms of social conflict, how explain the fact that neither the workers nor the ruling magistrates appeared willing to participate in this conflict?" (S. 36). 36 Crew 1978.
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Die Schwierigkeiten, die kollektiven Verhaltensmuster vor und während des Bildersturms zu erklären, werden nicht geringer, wenn wir von der anderen Hypothese ausgehen, die Ereignisse von 1566 seien das Werk einer kleinen, aber entschlossenen Minorität gewesen, nämlich der straff organisierten calvinistischen Elite und ihrer Anhänger. Wir stehen dann nämlich vor dem Problem, nicht nur exakt die Rolle zu beschreiben, die die Prädikanten während der Unruhen spielten. Darüber hinaus müßte nachgewiesen werden, daß sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich über eine effiziente Organisation und eine einheitliche politische Strategie verfügten. Mac Crew kann zeigen, daß selten klar wird, wann die calvinistischen Prädikanten als Individuen, also auf eigene Initiative hin, agierten und wann sie lediglich Politiken ausführten, die von den Konsistorien beschlossen worden waren (S. 36 f.). Auch kann bei den niederländischen Calvinisten bis 1566 von einer einheitlichen politischen Orientierung nicht die Rede sein. Zwar wurde die politische Doktrin Calvins rezipiert. Doch blieben die praktischen Folgerungen, die aus ihr gezogen wurden, höchst widersprüchlich. So konnte weder eine Einigung der Frage des Toleriertwerdens durch eine katholische Regierung noch der Tolerierung anderer reformierter Sekten erzielt werden (S. 131). Nicht weniger kontrovers war die Einschätzung des Bildersturms selber. Zwar stimmten sie mit Calvin und vielen Humanisten überein, daß der Gebrauch von Bildern im Gottesdienst abzulehnen sei. Aber wurde deren Zerstörung diskutiert, so waren die Meinungen der Prädikanten geteilt (S. 131 f.). Wenn es ein politisches Ziel gab, das von allen Calvinisten gleichermaßen angestrebt wurde, dann war es der Wille, innerhalb der bestehenden Gesellschaft einen legalen Status zu erhalten (S. 132). Dem entsprach, daß sie das Widerstandsrecht, das Calvin unter bestimmten Voraussetzungen den niederen Magistraten zubilligte 37 , nicht als eine Rechtfertigung der Revolution verstanden. Vielmehr lieferte es ihnen einen argumentativen Rahmen, innerhalb dessen sie die Gewaltanwendung durch private Personen verurteilen konnten. Überhaupt lehnten es die Prädikanten in der Frühphase des Konflikts ab, wie Mack Crew zeigen kann, Gewalt außerhalb des legalen Rahmens der bestehenden Ordnung auszuüben, selbst wenn sie mit Gefangenenbefreiung und Bildersturm sympathisierten. Gleichzeitig erklärt diese Orientierung am herrschenden Legalitätssystem die Besessenheit, mit der die Calvinisten gegen die Anabaptisten polemisierten, die nicht nur als religiöse Abweichler, sondern als politische Anarchisten, als Feinde von Gesetz und Ordnung gebrandmarkt wurden (S. 133 f.). Endlich bleibt festzuhalten, daß es den Calvinisten erst während und unmittelbar nach dem Bildersturm gelang, nennenswerte Organisationen in den meisten Städten und Dörfern aufzubauen. Aber nicht nur das Verhalten der Prädikanten bleibt im Licht der bisherigen Erklärungsversuche widerspruchsvoll, sondern das Agieren der Massen selber. Gehen wir davon aus, daß der Bildersturm lediglich den Höhepunkt jener sozialen Dynamik darstellt, die durch die calvinistischen „Heckenpredigten" initiiert wurde, so 37 Vgl. hierzu Wolf 1972, S. 152-169.
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bleibt unklar, warum sie aktiv an den Predigten partizipierten, während sie sich dem Bildersturm nicht anschlossen. Was erwarteten die plebejischen Schichten von ihrer Teilnahme an den Massenpredigten, wenn sie sich dem viel militanteren Ritual des Bildersturms versagten? Für die Thesenbildung MackCrews ist entscheidend, daß sie die Attraktion, die die calvinistischen Prädikanten und Laienprediger auf ihre Zuhörerschaft, die bis zu 24 000 Personen umfaßte, ausübte, als eine Variante charismatischer Herrschaft begreift, die freilich wesentlich von der entsprechenden Definition Max Webers abweicht. Weber verstand das „Charisma" als eine „außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit . . . , um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindest spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als Führer' gewertet wird". 3 8 Steht also nach Max Weber die charismatische Autorität über und außerhalb der sozialen Ordnung, so bedeutet dies für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den calvinistischen Prädikanten und ihrer Massenzuhörerschaft, daß jene gleichsam von außen eine „Botschaft" an diese herantragen, die im Sinne der „Außeralltäglichkeit" (Weber) einen Bruch mit den tradierten kollektiven Mentalitätsstrukturen und Verhaltensweisen impliziert. Genau diese Folgerung jedoch sieht Mack Crew in der Wirklichkeit der calvinistischen Massenbewegung nicht bestätigt. Abgesehen davon, daß es, wie wir bereits sahen, eine politisch konsistente „Botschaft" ebenso wenig wie eine effiziente Organisation bis 1566 im calvinistischen Lager in den Niederlanden gab, konnte auch ihre Theologie für die Massen kaum eine magische Qualität beanspruchen: ihre Ablehnung des Heiligenkults und des katholischen Klerus war lange vorher Teil der plebejischen Volkskultur geworden 39 , wie die zahlreichen populären Schauspiele der 60er Jahre zeigen. Auch muß hinzugefügt werden, daß die Differenz zu den Lutheranern auf der Ebene der volkstümlichen Theologie minimal war: beide hoben positiv auf die Allmacht und Gnade Jesus Christi und negativ auf die Verderbnis des römischen Klerus ab. Nimmt man hinzu, daß die Prädikanten ihren Zuhörern weder ein irdisches noch ein himmlisches Utopia versprachen und auf alle magischen Demonstrationen ihrer übernatürlichen Kräfte verzichteten, so scheint in der Tat die Webersche Kategorie charismatischer Herrschaft wenig hilfreich zu sein, das Phänomen der Massenwirksamkeit des Calvinismus ab 1566 zu erhellen. Angesichts dieser Schwierigkeiten modifiziert Mack Crew Webers Idealtypus charismatischer Herrschaft in Anlehnung an Peter Worsley 40 in zwei entscheidenden Punkten: im Unterschied zu Webers Ansatz kann ihr zufolge charismatische Autorität auf mehrere Personen verteilt ausgeübt werden, und sie wird, was noch 38 Weber 1964, S. 179. 39 Vgl. hierzu grundlegend Toussaert 1963. 40 Worsley 1957.
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wichtiger ist, akzeptiert, weil ihre „Botschaft" die Ängste und Hoffnungen ihrer Rezipienten artikuliert: „The message is imposed from below, not from above" (S. 151). Trifft dies zu, so treten bei der Erklärung der Entstehung der calvinistischen Massenbewegung von 1566 die Originalität der calvinistischen Theologie und ihrer Organisationsmethoden in den Hintergrund: entscheidend ist vielmehr der krisenhafte Zustand der Gesellschaft selber, der offenbar das kollektive Verhalten der Massen ähnlich wie das der calvinistischen Prädikanten determinierte. Dies vorausgesetzt, sieht Mack Crew die Ursache der calvinistischen Massenmobilisierung in dem 1566 in dramatischer Weise aufbrechenden Autoritätsvakuum, das bei allen Gruppen der Gesellschaft, die Katholiken inbegriffen, die Furcht vor der Anarchie hervorgerufen und gleichzeitig eine verstärkte Anlehnung an das Ideal legitimer politischer Praxis bewirkt habe. Die Abwesenheit extremer Gewalt während des Bildersturms, so Mack Crew, könne nur plausibel gedeutet werden, „if we grant that the desire to act legitimately was more important to most people than the desire to express anger against the Catholics or allegiance to the Calvinists - or simply to attack the rich" (S. 157). Die Loyalitätsbezeugungen der Zeitgenossen gegenüber dem König müßten wörtlich genommen und nicht bloß als Rationalisierung abweichender oder radikaler Motive angesehen werden. Zwar seien alle gesellschaftlichen Gruppen bereit gewesen, die Zerstörungen in den Kirchen zu akzeptieren; sie lehnten es zugleich aber ab, in der Krise die Initiative zu ergreifen und öffentliche Autorität auszuüben: „the magistrates because they had no noble mandate to do so; the nobles because they were unsure of Philip's position; the ministers because they had based their entire authority to act as spiritual leaders on their alliance with the nobility and their loyalty to the Crown" (S. 157). Gleichzeitig konnte, so Mack Crew, die Krise der öffentlichen Autorität deswegen nicht zum Ausgangspunkt einer militanten, d. h. auf die Anwendung extremer Gewalt rekurrierenden Massenbewegung werden, die das wirtschaftliche Elend der Unterschichten zu einer kollektiven Aktion hätte umformen können, weil eine entscheidende Voraussetzung fehlte: Der Zusammenbruch der öffentlichen Institutionen führte nämlich nicht zu einer Polarisierung der Gesellschaft, sondern zu einer Vielzahl von Gruppierungen mit unterschiedlichen Loyalitätsbeziehungen. Es war eben diese Fragmentierung der Gesellschaft, die es interessierten politischen und religiösen Gruppen unmöglich machte, eine Massenbewegung zu formen, die den Gegner im anderen Lager der Gesellschaft erblickte (S. 157 f.). Ohne ein militantes Feindbild jedoch, das das eigene Handeln in einen neuen Legitimationszusammenhang gestellt hätte, schloß die Bereitschaft zu Massenaktionen, die durch die Wirtschaftskrise begünstigt wurde, Gewalt nur insofern ein, als sie „legitim" im konservativen Sinne war. Daß die Calvinisten diesem Bedürfnis unter allen protestantischen Strömungen am dezidiertesten entgegenkamen, war nach Mack Crew der Schlüssel ihres Erfolges. Wie sie einerseits immer wieder als Kämpfer gegen die Anarchie auftraten, so betonten sie andererseits, die Inquisition sei abzulehnen, weil sie gegen alte lokale Privilegien verstoße. Auch wiesen sie in der Öffentlichkeit mit großem propagandistischem Aufwand auf ihre Beziehungen zum Adel
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und den reformierten Führern des Auslandes hin. Man könnte sagen, so faßt Mack Crew ihre These zusammen, daß das Ritual der calvinistischen Predigten gerade keine symbolische Alternative zur bestehenden Gesellschaft, sondern eher einen Mikrokosmos derselben repräsentierte, „but a society which was ideally integrated as the real society of the Netherlands certainly was not" (S. 170). Dieser Funktion des Calvinismus, das Kirche, Staat und Gesellschaft umgreifende Autoritätsvakuum durch die Suggestion einer intakten Gemeinschaft temporär zu füllen, entspreche die Tatsache, daß mit der Wiederherstellung der öffentlichen Autorität im Winter 1566/67 der Calvinismus als Massenbewegung zerfiel. Treffen die Thesen Mack Crews zu, so werden die Unruhen von 1566 nicht mehr als Präludium des Abfalls der niederländischen Provinzen von der spanischen Zentralgewalt interpretiert werden können. Wahrscheinlicher ist dann, daß die mobilisierten plebejischen Schichten der großen Städte in der Teilnahme an den in friedlichen Formen verlaufenden „Heckenpredigten" eine Alternative zu radikaleren Formen des Protestes sahen. Können sicherlich unter dieser Prämisse auch wichtige Fakten und Zusammenhänge der Ereignisse von 1566 plausibel gedeutet werden, so bleiben doch im Kontext dieses Interpretationsrahmens eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Setzen wir einmal den Willen der Calvinisten zu „legitimer" politischer Praxis voraus, so bleibt unverständlich, warum sie im September 1566 Truppen ausheben ließen, obwohl sich die Zentralgewalt noch gar nicht zur Gegenoffensive gerüstet hatte. Auch läßt sich mit der These Mack Crews die Tatsache nur schwer vereinbaren, daß die Calvinisten eine Reihe von Ortschaften nicht nur geistlich, sondern auch politisch kontrollierten: so mußte beispielsweise das „calvinisierte" Valanciennes erst durch Truppen der Zentralgewalt regelrecht zurückerobert werden. Offen bleibt auch die Frage, warum nach dem Ausbruch des Bildersturms der Hochadel, der die Oppositionsbewegung gegen die Zentralisierungspolitik Philipps II. eingeleitet hatte, sich mit dessen Statthalterin solidarisierte und den Aufstand militärisch niederschlug, bevor der Herzog von Alba mit seinen Truppen eintraf. Wie die Arbeiten von van der Wee 41 , Delmotte 42 , Pirenne 43, Kuttner 44 , Coonaert 45 u. a. zeigen, war zumindest in den Industriezentren ein soziales Konfliktpotential vorhanden: niemand vermochte zu garantieren, ob sich die Bewegung des Bildersturms weiterhin in relativ gemäßigten Formen hätte einbinden lassen, wäre sie nicht frühzeitig von der Zentralgewalt mit Hilfe des Hochadels niedergeschlagen worden. Im übrigen muß Mack Crew selber konzedieren, daß die von den Calvinisten praktizierte Politik des „law and order" gewissermaßen ihre immanente Grenze hatte: selbst wenn die Prädikanten die Anarchie ablehnten und die Wiederherstellung der politischen Ordnung anstrebten, 4i Wee 1963. « Delmotte 1963, S. 145-176. 43 Pirenne 1951, S. 624-641. 44 Kuttner 1949. 45 Coornaert 1930.
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war es doch in keiner Phase der Unruhen von 1566 ihr erklärtes Ziel gewesen, die Integrität einer erneuerten katholischen Kirche zu verteidigen; im Prinzip hielten sie jedenfalls an dem Ziel einer calvinistischen Theokratie fest, die eine Koexistenz mit der katholischen Kirche ausschloß (S. 172). Schließlich bleibt zu fragen, ob der Verzicht der Calvinisten und ihres plebejischen Massenanhangs auf revolutionäre Gewalt nicht ebenso sinnvoll dem politischen Umstand zuzuschreiben ist, daß ihnen von den etablierten Autoritäten zunächst ein ernsthafter Widerstand nicht entgegengesetzt wurde. Gleichfalls erscheint die Unterstellung nicht ohne weiteres plausibel, die Masse der Bevölkerung habe an die Rechtmäßigkeit der „Heckenpredigten" bzw. des Bildersturms geglaubt, nachdem die Ketzerverfolgungen bereits unter Karl V. massiv eingesetzt hatten. Sicherlich war das Streben nach Wiederherstellung intakter politischer und sozialer Strukturen eine wichtige Determinante des politischen Verhaltens fast aller Schichten der Bevölkerung. Die Frage ist nur, ob sich nicht hinter diesen Sehnsüchten zugleich auch eine Opposition gegen die Wirklichkeit des spanischen Absolutismus verbarg, die dessen Repräsentanten von Anfang an dazu bestimmte, im Protestantismus nicht in erster Linie ein religiöses, sondern ein politisches Problem zu sehen. Trotz dieser offenen Fragen bleibt jedoch ein wesentliches Resultat der vorliegenden Untersuchungen festzuhalten: es waren nicht die Calvinisten, sondern das Terrorregime Albas, das eine Situation hervorrief, „in which the forces of good an evil could be clearly discerned by everyone, and in which all elements of Netherlands society could feel unified against the malevolent foreigner. For the ministers it must have appeared that a sign from Providence had finally come, and that God intended them to strike down the tyrant" (S. 180). Erst jetzt gingen die niederländischen Calvinisten dazu über, sich in revolutionären Parteien zu organisieren 46, mit deren Hilfe sie nach dem Fall Brielles zunächst die Städte Hollands und Seelands eroberten 47 und nach 1576 in den großen Städten Flanderns Diktaturen errichteten, die sich nicht nur gegen die prospanischen Kräfte, sondern auch gegen die gemäßigten Calvinisten und Katholiken im Lager Wilhelm von Oraniens wandten. Die Frage ist freilich, welche sozialen Implikationen diese Radikalisierung hatte und in welchem Verhältnis die extremen Calvinisten unter diesen veränderten Bedingungen zu den plebejischen Schichten der großen Städte standen, auf die sie sich nach wie vor stützten. Tibor Wittman 48 kommt in seiner grundlegenden Studie über die Diktatur der Geusen in Rändern (1577-1584) zu dem Schluß, daß unter dem Gesichtspunkt der bewußten Überwindung feudaler Eigentums- und Produktionsstrukturen zwischen den radikalen Calvinisten und dem oranischen Lager keine qualitative Differenz bestanden hat. Über diesen fundamentalen Sachverhalt dürfe alle Polemik der Geusen gegen die politische Strategie Wilhelm von Ora46 Vgl. hierzu grundlegend Koenigsberger 1971, S. 224-252. 47 Vgl. hierzu den anschaulichen Überblick bei Griffiths 1959/60, S. 455-460. 48 Wittman 1969.
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niens, den antispanischen Kampf auf der Grundlage des „Religionsfriedens" zu führen, nicht hinwegtäuschen. Zwar seien in der politischen Artikulation der Geusen Tendenzen festzustellen, die auf eine Einheit von nationalen und antifeudalen Forderungen schließen lassen, wenn etwa in dem anonym erschienenen Pamphlet „Le vray patritot aux bons patriots" die Frage formuliert werde: „Man sagt, die Genter wollten den Adel vernichten: verdienen aber die, die mit den Spaniern sympathisieren, den Adelstitel?" 49 Doch verdichten sich solche Äußerungen, wie Wittman betont, im Verlauf des Aufstandes nicht zu einem prinzipiellen antifeudalen Programm. Die Konfiszierung der adligen und kirchlichen Güter wurde vorgenommen, um die Bezahlung der Söldner zu sichern; sie hatte keine grundsätzlich antifeudale Stoßrichtung. Auch sind keine Agrarprogramme bekannt, wie die „Diggers" sie während der englischen Revolution propagierten. Als im August 1579 der Wortführer der Radikalen in Gent, Hembyze, seine Ablehnung des Vorschlages, Wilhelm von Oranien in die Stadt einzuladen, begründete, brachte er ein einziges soziales Argument vor: Die Einführung des „Religionsfriedens" würde den einfachen Mann benachteiligen, da dann die Rückgabe der konfiszierten katholischen Güter unvermeidlich sei. Aber abgesehen davon, daß auch die oranische „Partei" nach dem Sturz des Hembyze an dieser Maßnahme festhielt, meint der Begriff des „gemeenen Man" die kleinen Kaufleute und Handwerker, nicht aber die Masse der Bauern. Die übrigen Punkte, mit denen sich Hembyze von Wilhelm von Oranien zu distanzieren suchte, waren Ausdruck eines kommunalen Separatismus, der geprägt wurde von dem Wunsch, die Vorherrschaft Gents in Flandern zu konsolidieren (S. 305 f.). Trotz gelegentlicher Vorstöße, „Liberalisierungen" bzw. Sonderregelungen für geflüchtete Handwerker aus den wallonischen Provinzen zu schaffen, blieb in Gent das rigide System der Reglementierung der Produktion und Distribution durch die Gilden, das die Entwicklung der kapitalistischen Herstellungsverfahren stark behinderte, während der gesamten Dauer des Aufstandes intakt. Selbst in einem so blühenden Zentrum der Tuchherstellung wie in Hondeschoote, wo ein plebejischer Militärrat neben dem Schöffenrat wirkte und die Bewegung des Bildersturms von 1566 besonders militante Formen angenommen hatte, wurde an dem Zunftprinzip des „un atelier, un maitre" starr festgehalten. 50 Aber auch die militärpolitische Konzeption der radikalen Geusen in Flandern war kaum revolutionär zu nennen: sie unterschied sich nicht grundsätzlich von der konventionellen Strategie Wilhelm von Oraniens, die auf die Hilfe ausländischer Söldnerheere setzte. Zwar forderte das „Komitee der Achtzehn" in Brüssel die Bewaffnung des Volkes. Zugleich appellierte es aber an das protestantische Ausland um militärische Hilfe (S. 169). Wenig später ging Gent dazu über, vor allem schottische und englische Söldner zu engagieren. Spätestens als Hembyze Johann Casimir als militärisches Gegengewicht gegen den Herzog von Anjou, mit dem sich die Generalstände auf Drängen 49 Wittman 1960, S. 21. so A.a.O., S. 31.
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Wilhelm von Oraniens verbündeten, zur Unterstützung Gents gewinnen konnte, war klar geworden, daß im Prinzip die Radikalen ebenso wenig wie die gemäßigte Opposition ernsthaft und systematisch versuchten, die internen Ressourcen des Widerstandes, also die plebejischen und bäuerlichen Schichten, für einen revolutionären Volkskrieg gegen die Spanier zu mobilisieren. Alles in allem wird gesagt werden können, daß die radikalen Calvinisten der südlichen Provinzen ihre Politik vor allem auf den Aufbau ihrer kirchlichen Organisation konzentrierten: so gesehen, waren sie weit davon entfernt, politische und soziale Funktionen ausgeübt zu haben, die sich mit denen der Jakobiner in der Französischen Revolution vergleichen ließen. Trotz dieser Abstinenz gegenüber der sozialen Frage, durch die sie sich scharf von den frühen Anabaptisten unterschieden, hatten sie jedoch, wie in der Frühphase des Konflikts, ihre treuesten Verbündeten in den verarmten plebejischen Schichten der Städte, wie das Beispiel Gents eindrucksvoll zeigt. In dieser Stadt bestand eine wesentliche Voraussetzung der Massenwirksamkeit calvinistischer Agitation sicherlich darin, daß sie sich legitimierte mit der Forderung nach Aufhebung der „Karolinischen Konzession" von 1540: die verarmten Meister, Gesellen, Lehrlinge und die lumpenproletarischen Elemente, aber auch die von Karl V. entmachteten Oligarchien der Zünfte sahen in der Wiederherstellung der mittelalterlichen Stadt- und Wirtschaftsverfassung den einzigen Schutz gegen die häufig über sie hereinbrechenden ökonomischen Krisen und damit zugleich den Schlüssel zur Verbesserung ihrer materiellen Situation. Indem die Geusen an dieser zentralen Vorstellung in ihrer Demagogie anknüpften, konnten sie die bis tief ins Mittelalter zurückreichende Tradition städtischer Revolten und Aufstände im Interesse der religiösen und politischen Hegemonie des Calvinismus ausnutzen. Gleichzeitig war für die Mehrheit der Bevölkerung zwar der militante Antikatholizismus der radikalen Calvinisten attraktiv, nicht aber deren reformiertes Glaubensbekenntnis.51 Die protestantischen Prediger erklärten häufig, daß der größte Teil der verarmten Schichten religiös indifferent sei. Ähnlich äußerten sich Duplessis-Mornay und Wilhelm von Oranien. Wie Pirenne hervorhebt, folgten die Massen, die die Prädikanten „mit sich fortrissen und die sie gegen die katholische Kirche aufwiegelten, indem sie ihren Haß gegen Spanien schürten und ihren demagogischen Trieben schmeichelten... lediglich aus revolutionärer Gesinnung"52. Unter dieser Voraussetzung stellte der radikale Calvinismus für große Teile der Plebejer nur einen legitimatorischen Rahmen dar, innerhalb dessen sie spontane Übergriffe auf die bestehenden Eigentumsverhältnisse rationalisieren konnten. Für diese These scheint zu sprechen, daß häufig antikatholische Demonstrationen von Ausfällen gegen die wohlhabenden Bürger begleitet wurden: so etwa in Gent in 51 Peter Burke kann zeigen, daß es den Calvinisten selbst im 17. Jahrhundert nicht gelang, die traditionelle plebejische Volkskultur zu zerstören. Vgl. hierzu die interessante Studie von Burke 1978. 52 Pirenne 1913, S. 178.
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der Nacht vom 10. auf den 11. März 1579, als man nach der vollständigen Plünderung zweier Kirchen, wie Jonghe berichtet, dazu überging, die Häuser der Reichen auszurauben. Diese Aktionen wurden von Rufen begleitet wie „Tod dem Antichrist!" und „papenbloet, rycke mans goet!" (S. 277). Fest steht zwar, daß die radikalen Calvinisten selber grundsätzliche Angriffe auf die bestehenden Eigentumsverhältnisse weder unternahmen noch legitimierten. Wohl aber setzten sie durch ihren demagogisch gefärbten Antikatholizismus, der von den plebejischen Schichten begierig aufgenommen wurde, eine soziale Dynamik frei, die von den Oberschichten als Bedrohung empfunden wurde. Nicht zufällig war es die Furcht vor der Vernichtung des Adels und des gehobenen Bürgertums, die die oranische „Partei", wie Wittman zeigen kann, veranlasste, auf den Sturz der Diktatur des Hembyze hinzuarbeiten (S. 301 f.). Bleibt abschließend zu fragen, welche objektive Funktion die radikalen Geusen der südlichen Provinzen während des Aufstandes ausgeübt haben. Nicht wenige Historiker übernahmen die Kritik des oranischen Lagers, die den Radikalen vorwarf, sie hätten durch ihre Intransigenz und Partikularismus die Teilung der Niederlande entscheidend mitzuverantworten. Andererseits ist jedoch zu bedenken, ob es nicht gerade die Militanz der extremen Calvinisten insbesondere in den großen flandrischen Städten war, die den nördlichen Provinzen im Rahmen der Union von Utrecht angesichts der vorrückenden spanischen Heere Alexander Farneses jene Atempause verschaffte, die sie zu ihrer Konsolidierung und damit zur Einführung liberalerer Strukturen in Staat und Kirche benötigten. Doch war die Institutionalisierung der Toleranz auch das Resultat eines innenpolitischen Kampfes, der ab 1581 in den unabhängigen Provinzen einzusetzen begann.
VI. Bourgeois-Republik oder calvinistische Theokratie? Die Kontroverse zwischen den radikalen und gemäßigten Calvinisten über die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat riss auch nicht nach der formellen Loslösung der Nord-Provinzen von Spanien ab. Wie Lecler in seiner bereits erwähnten Studie 53 zeigen kann, stieß bereits ab 1580 der zunehmende Einfluß der Prädikanten auf wachsendes Mißtrauen bei den staatlichen Institutionen. In dieser Situation setzte sich der Professor für Theologie in Leiden, Caspar Coolhaes, mit der Rückendeckung des lokalen Magistrats für die staatliche Kontrolle der Kirche ein, da sich nur so das Toleranzprinzip in religiösen Fragen durchsetzen lasse (S. 226 f.). Coolhaes wurde wegen dieser Thesen exkommuniziert und verlor damit seine Professur. Gleichwohl ist für die Situation charakteristisch, daß der Magistrat die Aktivitäten Coolhaes' honorierte: ihm wurde das Gehalt weiter gezahlt, so daß er seine Polemik gegen die extremen Calvinisten fortsetzen konnte. Aber auch in der einige Jahre später geführten Auseinandersetzung zwischen den sogenannten 53 Vgl. Lecler 1955.
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Remonstranten und Gegenremonstranten verlief die Konfliktfront in ähnlicher Weise. Die Remonstranten, die für eine staatliche Oberhoheit über die Kirche eintraten, stützen sich auf die Handelsbourgeoisie und die Schicht der Regenten, deren Exponent Oldenbarnevelt war. Während sie für die Beibehaltung der bisherigen soziopolitischen Machtverhältnisse optierten, forderten die Gegenremonstranten im Zeichen eines rigiden Calvinismus die militärische Diktatur und die Zentralisierung des Gemeinwesens: sie rekurrierten auf den Adel, die Bauernschaft und den Exponenten des oranischen Lagers, Maurice von Oranien. Geht man davon aus, daß für Maurice von Oranien dieser Konflikt nur eine politische Bedeutung hatte, die darin bestand, seinen Rivalen Oldenbarnevelt zu entmachten und gegenüber der Bürgeroligarchie in Holland seinen Handlungsspielraum zu erweitern, so demonstrierte jener Machtkampf eindrucksvoll, daß sich der strategische Stellenwert der gegen die radikalen Calvinisten gerichteten Toleranzpolitik im Vergleich zu seiner Funktion während des Aufstandes selbst nicht verändert hatte. Charakteristisch ist, daß nur wenige Familien des wohlhabenden Bürgertums, wie C. R. Boxer in seiner wichtigen Studie „The Dutch Seaborne Empire 1600-1800" 54 betont, den schlecht bezahlten Beruf eines calvinistischen Prädikanten attraktiv fanden. Da es zudem in den nördlichen Provinzen kaum Renegaten der katholischen Kirche gab, rekrutierten sich die Prädikanten vor allem aus den unteren Mittelschichten, in denen sie nach wie vor verwurzelt blieben. Das Mißtrauen des wohlhabenden Bürgertums gegen diese schlecht ausgebildeten Prediger, „who preached extempore sermons from ill-chosen texts", hatte sicherlich zum Teil seinen Grund darin, daß sie geneigt schienen, „to demand social justice for the lower classes" (S. 117). War dergestalt die Forderung nach staatlicher Kontrolle der Kirche Teil der Strategie der herrschenden Schichten zur Begrenzung der Macht der calvinistischen Bewegung, so ist allerdings auf den ersten Blick wenig einleuchtend, warum der radikale Calvinismus nach wie vor eine starke Kraft blieb: bekanntlich trugen die Gegenremonstranten mit der Entmachtung Oldenbarnevelts den Sieg über die Gemäßigten davon. Entsprechend wurde auf der Synode von Dordrecht 1618 das Prinzip der Intoleranz gegenüber den Katholiken und den protestantischen Dissidenten zur dominierenden Doktrin. Warum, so muß gefragt werden, leistete die herrschende Bürgeroligarchie gegen die nunmehr offizielle Calvinisierung der Bevölkerung keinen ernsthaften Widerstand? Die Vermutung liegt nahe, daß für die sozial und politisch Herrschenden das Risiko einer solchen Konfrontation größer war als die formale Anerkennung der Beschlüsse von Dordrecht 543 . Ein offener Konflikt hätte sie mit der Tatsache konfrontiert, daß die Calvinisten über eine starke Organisation verfügten, mit deren Hilfe sie, wie Boxer zeigen kann, bereits seit 1574 dazu übergegangen waren, die ländlichen und städtischen Arbeiterschichten im Sinne ihrer Doktrin zu beeinflussen, indem sie die Grundschulen unter ihre Kontrolle brachten (S. 118). Umgekehrt 54 Boxer 1965. 54a Vgl. hierzu Ault o. J., S. 9-12.
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bedeutete die calvinistische Indoktrinierung der arbeitenden Schichten solange für die herrschende Oligarchie eine relativ ungefährliche Entschärfung sozialen Konfliktpotentials, wie sie stark genug war, die Prädikanten an der Ausübung politischer Ämter zu hindern. Boxer weist außerdem darauf hin, daß die Stände von Holland mit der formalen Loslösung von der Herrschaft Philipp II. 1581 zugleich ein Gesetz erließen, das dem Magistrat einer Stadt verbot, Repräsentanten der städtischen Miliz und der Gilden in politischen Angelegenheit zu konsultieren. Mit diesem Ausschluß der gewöhnlichen Bürger von der direkten Partizipation an der lokalen und provinzialen Verwaltung war eine wesentliche Voraussetzung für die Garantie einer sich selbst perpetuierenden Bürgeroligarchie erfüllt, die den exekutiven Apparat ohne demokratische Kontrollen beherrschte und auf lange Sicht die Beschlüsse von Dordrecht unterlaufen konnte. Nimmt man das inoffizielle System der Bestechung hinzu, so wird gesagt werden können, daß allmählich die von den Prädikanten inaugurierte religiöse Homogenität von innen her aufgelöst wurde, bis man sie 1787 auch offiziell abschaffte (S. 125). Mit anderen Worten: auch nach der Synode von Dordrecht war die calvinistische Kirche keineswegs frei von der Kontrolle und Aufsicht des Staates, wie es die Prädikanten 1618 gehofft hatten (S. 122). Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Untersuchungen von Lecler und Boxer den Schluss zulassen, die sozialen Träger des Toleranzprinzips in jenen Schichten zu sehen, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen und politischen Status quo hatten, der durch die repressive Religionspolitik Philipps II. in Frage gestellt worden war. Eindeutig geht aus den Darlegungen beider Autoren hervor, daß die Mitglieder der Oberschicht weitaus mehr für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung als für die Uniformität der Religion optierten. Gleichzeitig wurde das Toleranzprinzip aber auch gegen die calvinistische Massenbewegung gewendet, die, wie wir sahen, die entscheidende organisatorische und ideologische Kraft bei der Mobilisierung der Unterschichten im Kampf gegen die spanische Krone während des Aufstandes der Niederlande war. Wenn so die Forderung nach Toleranz vor allem bürgerlichen Interessen diente, bleibt noch die theoriegeschichtliche Frage zu erörtern, ob religiöse Duldsamkeit im zeitgenössischen Kontext im Namen individueller Freiheitsrechte postuliert wurde, die man in den nachfolgenden bürgerlichen Revolutionen immer wieder gegen die Restriktionen des alten Regimes ausspielte.
VII. Toleranz und bürgerlicher Individualismus In einer sorgfältigen und materialreichen Studie hat Gerhard Güldner 55 die intellektuellen Ursprünge religiöser Duldsamkeit in den Niederlanden im Ausgang des 16. Jahrhunderts untersucht: gemeint sind Autoren wie Castellio, Coornhert und 55 Güldner 1968.
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Lipsius, deren Einfluß bis in die Auseinandersetzungen der Tagespolitik während des Aufstandes nachweisbar ist. Insbesondere ist Sebastian Castellio (1515-1563) hervorzuheben, dessen Schrift „De haereticis an sint persequendi" eine für die politische Propagierung des Toleranzgedankens bahnbrechende Arbeit wurde. Wie Güldner betont, versuchte Castellio in diesem Buch „zunächst aus der Bibel zu definieren, was ein Ketzer ist. Er findet jedoch nur an einer Stelle, im 3. Kapitel des Titusbriefes, das Wort Häretiker, und diese Stelle gibt nichts für eine Definition her" (S. 19). Wenn aber verbindliche Kriterien fehlen, nach denen ein Häretiker identifiziert werden kann, muß dessen Verfolgung fragwürdig werden: diesen Zustand verdeutlicht Castellio „durch einen Vergleich mit den Währungen verschiedener Länder... Was in dem einen Land gilt, ist im anderen wertlos" (S. 19). Castellio sieht zwei Möglichkeiten, aus diesem Dilemma herauszukommen: entweder man gehört allen Religionen an, um überleben zu können, oder man wählt den anderen Ausweg der Besinnung auf das allen Religionen Gemeinsame. Die letztere Alternative, für die Castellio optiert, „meint die Fundamentallehre, die für ihn im Glauben an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist und im Erfüllen der Gebote der Heiligen Schrift besteht. Man soll nicht verfolgen, die hierin übereinstimmen und sich nur durch die Taufe und ähnliche Dinge unterscheiden, die doch weiter nichts sind als unterschiedliche ,Prägung4 von Goldmünzen, die alle den gleichen Wert haben" (S. 19). Daran, daß dieser „gleiche Wert" auch von allen erkannt werden könne, hat Castellio nie gezweifelt. In seiner philosophischen Grundlegung der Toleranz, ,£>e arte dubitandi", geht es ihm im ersten Teil seiner Untersuchung dann auch darum, „das Recht des Einzelnen, sich seine eigene Meinung über Religion zu bilden, zu begründen" (S. 27). Entscheidend für das Toleranz-Verständnis Castellios ist also, daß er primär auf Grundwahrheiten abhebt, die „allein Wert (haben) und ... zudem nicht schwer zu verstehen (sind); es kommt nicht auf dogmatische Spitzfindigkeiten an, sondern auf die Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe in der Nachfolge Christ" (28). Dies vorausgesetzt, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Castellio die Toleranz keineswegs vom Individuum her dachte, das Kraft seiner autonomen Vernunft ein subjektives Naturrecht auf ungehinderte Meinungsfreiheit besitzt. Auch wenn er die Erkenntnisfähigkeit des Menschen betont, ist der Ausgangspunkt seines Denkens nicht der vernünftige einzelne, sondern Gott. Ausdrücklich will er den Glauben an Gott und die Achtung der Heiligen Schrift durch den Staat geschützt wissen. Die Grenzen seines Toleranz-Verständnisses zeigen sich dann auch in seiner Unterscheidung zwischen „hereticus" und „blasphemus": während jener zu tolerieren sei, weil gewaltsame Unterdrückung nur das Gegenteil dessen bewirke, was sie intendiere, wie der sich ausbreitende Protestantismus beweise, müsse dieser vom Magistrat bestraft werden. Aber auch Castellios Ethik, deren Innerlichkeit und Subjektivität zwar durch die große Bedeutung des Gewissens illustriert wird, ist dennoch nicht auf das autonome Individuum, sondern auf die Bibel, nämlich das Neue Testament, gegründet. So gesehen, scheint Toleranz im 16. Jahrhundert, selbst bei ihrem fortgeschrittensten Vertreter nicht interpre-
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tierbar zu sein, wie Wittman hervorhebt, „au sens bourgeois du terme, comme Schelven56 et autres le supposent, puisque le point de depart n'en est pas le droit naturel de l'individu". 57 Doch wird andererseits gesagt werden können, daß Castellios Ansatz einer überkonfessionellen Lehre nicht nur für die Humanisten, sondern gerade für jene bürgerlichen Schichten attraktiv war, deren wirtschaftliche Aktivität längst von der individualistischen Motivation privaten Akkumulierens lebte. Insbesondere die Kaufleute mußten, wie Güldner zu Recht hervorhebt, „in einem ideologisch unsicheren Zeitalter besondere Neigung für eine Lehre empfinden, die es ihnen ermöglichte, Handel mit Angehörigen der verschiedenen Konfessionen zu treiben, ohne in die dogmatischen Gegensätze verwickelt zu werden" (S. 135 f.). Es kommt aber noch ein weiterer wesentlicher Aspekt hinzu. Güldner kann nämlich zeigen, daß die individualistischen Elemente des Toleranzbegriffs Castellios von Coornhert und Lipsius weiterentwickelt wurden: beide stellten die strikte, durch den Staat garantierte Trennung von Religion und Politik als die conditio sine qua non der Verwirklichung der Toleranz in den Vordergrund ihres Denkens. Worin sie sich unterschieden, war offensichtlich die unterschiedliche Intensität, mit der sie die theologische Wahrheitsfrage von der Gewissensfreiheit trennten. Während Coornhert der Schwächung der staatlichen Autorität durch die reformierte Kirche von der Theologie her entgegenzuwirken suchte, war für Lipsius die Religion endgültig zur Privatsache geworden. Seine ausschließlich staatsrechtliche Begründung der Toleranz ebnete den Weg für die Unterscheidung zwischen „öffentlich" und „privat", die ihrerseits den religiösen Individualismus im engeren Sinne erst ermöglichte.58 Roman Schnur 59 hat in einer Carl Schmitt gewidmeten Schrift versucht, die Genesis dieser Entwicklung am Beispiel der Rolle der sogenannten Legisten oder „politiques" in den französischen Religionskriegen des 16. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Er sieht die entscheidende Voraussetzung dafür, daß der Neostoizismus, wie ihn Lipsius vertreten hat, zur moralischen Grundlage des politischen Absolutismus werden konnte, in der Erfahrung des Bürgerkriegs. „Der Bruch der durch die Religion zusammengehaltenen Gemeinschaften infolge des Religionsstreits warf den einzelnen auf sich selbst zurück und verwies ihn auf seine eigene Standhaftigkeit. Indem der Mensch den Handlungshalt, den ihm die Gemeinschaft gegeben hatte, verlor, mußte er sich auf sich selbst stützen und sich damit seiner Individualität bewußt werden" (S. 52). Zwar hätten die französischen „politiques" das Problem des Verhältnisses von Individuum und Staat nicht thematisiert wie der späte Hobbes. Doch in dem Maße, wie sich in den Wirren der Bürgerkriege die alten Gemeinschaften auflösten, habe in ihrem Denken das Individuum Konturen gewonnen, „das sich nur vermittels des rein subjektiven Entschlusses wieder zu 56 Vgl. Van Schelven 1933, S. 299-314. 57 Wittman (s. Anm. 49), S. 115 f. 58 Vgl. hierzu Oestreich 1965, S. 28. 59 Schnur 1962.
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einer (artifiziellen) Gemeinschaft bereitfinden möchte" (S. 70). Die Freiheit, die aus solcher Individualität resultiert, sei nicht mehr identisch mit der „Freiheit der einzelnen sozialen oder konfessionellen Gruppen gegenüber dem Inhaber der obersten Gewalt"; sie richte sich vielmehr vom Individuum aus gegen den Staat, „der seinen Arm den Kirchen lieh: Mit der Entstehung des »neuen4 Staats verwandelte sich diese Freiheit in einen Anspruch auf Schutz der konfessionellen Freiheit, die auch für die Nichtgläubigen oder Zweifelnden gelten sollte: Damit zeichnet sich der Übergang vom toleranten zum religiös neutralen Staat ab, der das Individuum vor dem gewaltsamen Zugriff der Kirchen schützte" (S. 70 f.). Die „politiques", so argumentierte Schnur, versuchten, diesem neuen Freiheitsbegriff auf politisch-staatlicher Ebene dadurch Rechnung zu tragen, daß sie eine rein weltliche Vorstellung von öffentlicher Sicherheit propagierten, der die Aufwertung des positiven Rechts gegenüber einer naturrechtlichen begründeten „Gerechtigkeit" genauso entsprach wie das notwenige Korrelat der staatlichen Garantie der „Privatheit": den unbedingten Gehorsam der Untertanen. „Gerecht war demnach, von Minimalforderungen der lois fondamentale du Royaume und der utilité abgesehen, das Gesetz, das vom Monarchen erlassen wurde. Gegen diese Gerechtigkeit des Gesetzes kann es keine Berufung auf eine andere (material verstandene) Gerechtigkeit geben" (S. 69). So richtig es ist, die Säkularisierung staatlichen Handelns im Kontext eines sich im 16. Jahrhundert allmählich herausbildenden Individualismus zu sehen, der zu seiner Entfaltung eines durch das Toleranzprinzip gesicherten Bereichs des „Privaten", der Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft, bedurfte, so problematisch erscheint die These, die Verwirklichung von Toleranz habe den absoluten Staat zur ausschließlichen Voraussetzung gehabt. Einerseits wird die Ideologiehaftigkeit dieser Behauptung daran deutlich, daß sie Ruhe und Ordnung zu Werten an sich stilisiert. 60 Andererseits ist diese Einschätzung aber auch historisch fragwürdig. Vergleicht man nämlich die Rolle des Toleranzprinzips im Aufstand der Niederlande mit ihrem Stellenwert in den zeitgenössischen französischen Religionskriegen, so fällt auf, daß in beiden Ländern verschiedene Wege seiner Verwirklichung eingeschlagen wurden, die unterschiedlichen politischen Kräftekonstellationen entsprachen. Die „politiques" in Frankreich sahen in der Monarchie die Instanz, die den zerstrittenen religiösen Kräften gleichsam von außen Kraft ihrer „potestas" Toleranz aufzuzwingen habe. Erst unter dieser Voraussetzung wird plausibel, weswegen Bodin das entscheidende Attribut seines Souveränitätsbegriffs im ausschließlichen Recht des Herrschers sah, Gesetze zu erlassen, die für alle politischen Gruppierungen gleichermaßen bindend waren. Die vor allem an der Gesetz60
Nach Schnur kann im Ordnungsbegriff der französischen „politiques" nur dann etwas Formales gesehen werden, „wenn man in der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung überhaupt keine Idee sieht. Das kann geschehen, wenn es so lange Sicherheit gibt, daß man sich ihres Wertes nicht mehr bewußt ist, oder wenn man den Bürgerkrieg in Kauf nimmt - freilich meistens auf Rechnung anderer. Wer auf das Extrem dieser Ruhe, die Ruhe des Friedhofs, hinweist, muß das andere Extrem, die Metzelei des Bürgerkriegs akzeptieren: Ewige Aporie des Politischen" (Schnur 1962, S. 661).
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gebungskompetenz festgemachte Unteilbarkeit der Souveränität erschien so als die Bedingung der Realisierung religiöser Toleranz und damit der Beendigung des Bürgerkriegs. Ganz anders stellte sich die Situation in den Niederlanden dar. Hier war es gerade der König, der jede Form religiöser Duldsamkeit kategorisch ablehnte. Für die oppositionellen Kräfte war damit der Weg, den Kampf für religiöse Toleranz vom absoluten Königtum her zu legitimieren, a priori ausgeschlossen. Wie einschlägige Dokumente des bereits besprochenen Quellenbandes „Texts concerning the Revolt in the Netherlands" zeigen61, war für sie religiöse Duldsamkeit Bestandteil der überlieferten vielfältigen Rechte, Freiheiten und Privilegien, die durch Verträge zwischen Herrschern und Beherrschten garantiert waren. Zugleich markiert diese Differenz zwischen den französischen und niederländischen „politiques" einen entscheidenden Unterschied in ihrem Verständnis der Souveränität selber: die letzteren sahen nicht nur ein Widerstandsrecht des „Volkes" gegen den Herrscher vor, sondern sie umgingen darüber hinaus eine präzise Definition des Verhältnisses von legislativer Kompetenz und Souveränität, kurz: sie optierten für eine Teilung der staatlichen „potestas", die den Ständen gegenüber dem Herrscher entscheidende Machtanteile sichern sollte. Umgekehrt wurden von den französischen „politiques" die Vertragstheorie der Monarchomachen weitgehend ignoriert oder, wie im Falle Bodins, explizit abgelehnt, weil sie mit ihrem Konzept der ungeteilten Souveränität unvereinbar war. So gesehen, hat die Legitimierung des Aufstandes der Niederlande gezeigt, daß Toleranz und Widerstandsrecht sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen können. Die historische Voraussetzung dieser Komplementarität war die Erfahrung, daß Toleranz nicht nur von politisierten gesellschaftlichen Gruppen mit ideologischem Absolutheitsanspruch bedroht wurde, sondern nicht minder vom staatlich sanktionierten Terror des spanischen Absolutismus. Diese Erfahrung vorausgesetzt, kann Toleranz nicht, wie Schnur suggeriert, garantiert sein, wenn sie als bloßes Derivat des „starken" Staates im Sinne des Hobbes erscheint. Die gesellschaftlichen Kräfte selber müssen sie als Aufgabe begreifen, die täglich zu lösen ist. Andererseits geht Toleranz aber auch nicht auf in ihrer möglichen Funktion als ideologische Rechtfertigung bestehender sozial-ökonomischer Machtstrukturen. 62 Als die conditio sine qua non des rationalen Diskurses ist sie zu einem entscheidenden Grundwert der parlamentarischen Demokratie geworden, in deren Rahmen die Arbeiterklasse im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre emanzipatorischen Interessen wirksam zu artikulieren begann, so daß sie die Öffnung zum massendemokratischen sozialen Rechtsstaat erzwingen konnte. In der letzten Konsequenz impliziert Toleranz also immer auch Elemente, die rational nicht zu rechtfertigende Machtstrukturen negieren: insofern ist sie, wie ich meine, auch ein schichten- und klassenneutrales Prinzip, ohne das Emanzipation nur schwer zu denken, geschweige denn zu verwirklichen ist. 61 62
Vgl. hierzu vor allem die Dokumente 33,41,43,48 und 53 in: Kossman/Mellink 1974. Zu den konservativen Funktionen der Toleranz vgl. grundlegend Wolff 1978.
Zur politischen Theorie der großen Englischen Revolution* Wenn von der politischen Theorie im England des 17. Jahrhunderts die Rede ist, wird nicht selten die Diskussion von Klassikern des politischen Denkens wie Hobbes, Locke oder Harrington beherrscht. Zu oft geraten jene Autoren aus dem Blick, die in die Auseinandersetzungen zwischen dem Parlament und der Krone publizistisch eingriffen und die Positionen der rivalisierenden Bürgerkriegsparteien auf dem Forum einer politisierten Öffentlichkeit rechtfertigten. Können diese Autoren auch nicht die Systematik und Gründlichkeit der politischen Klassiker für sich reklamieren, weil sie für den politischen Tageskampf und seine spezifischen Bedürfnisse schrieben, so sind ihre Pamphlete dennoch eine unersetzliche Quelle für jeden, der etwas über das politische Selbstverständnis einer Oppositionsbewegung der frühen Neuzeit erfahren will, für die die Hinrichtung eines „legitimen" Monarchen nicht nur denk-, sondern auch praxismöglich war. Ziel dieses Aufsatzes ist, neuere Untersuchungen zu diskutieren, deren Gegenstand eben jene normativ-legitimatorischen Theorien sind, mit denen in der Englischen Revolution das alte Regime kritisiert und die eigenen Alternativen einer Neuordnung des Gemeinwesens verteidigt wurden. Die zu besprechende Literatur legt es nahe, mit einer Anthologie zur Rezeptionsgeschichte der Magna Carta zu beginnen, deren legitimatorische Kraft freilich ab 1640 durch die Konzepte der Souveränität im Sinne Bodins und des individualistischen Kontraktualismus erheblich abgeschwächt wurde. Ferner wird einzugehen sein auf die sozio-politische Funktion des Puritanismus in der Englischen Revolution, auf die Wahlrechtskontroverse in Putney, das Demokratie-Verständnis der Levellers und - im Zusammenhang damit - auf deren Verhältnis zur großen Masse der Bevölkerung in der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. I. Die Magna Carta als Legitimationsmuster oppositioneller Argumentation Wohl kaum ein Dokument spielte für die frühe parlamentarische Kritik an der englischen Krone eine so entscheidende Rolle wie die berühmte Magna Carta von * Dieser Aufsatz stellt wie die Sammelbesprechung „Widerstandsrecht und Toleranzprinzip im Aufstand der Niederlande" in: NPL, XXIV (1979), S. 318-344, eine Vorstudie zu meiner Habilitationsschrift „Herrschaft, Toleranz, Widerstand Studien zur politischen Theorie der Niederländischen und Englischen Revolution" dar, die im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main erschienen ist.
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1215. Bedeutete der Rekurs auf sie per se, daß die im Parlament organisierte Opposition tradierte Legitimationsmuster politischen Handelns durchbrach? Trifft zu, was die herrschende liberale Interpretation im England des 19. Jahrhunderts für sie beanspruchte, nämlich ein Meilenstein auf dem Weg zur konstitutionellen Garantie individueller Freiheitsrechte und gleichzeitig „the first great public act of the nation" zu sein, „after it has realised its own identity . . . " (S. 24)? Es ist das Verdienst James C. Holts y eine Anthologie herausgegeben zu haben, in der wichtige Beiträge zur Einschätzung des Zusammenhanges zwischen „Magna Carta and the Idea of Liberty" 1 zusammengefaßt wurden. Noch 1897 vertrat William Stubbs die These, daß sich die Bevölkerung der Städte und Dörfer, d. h. „the Commons of later days" (S. 24), gemeinsam mit dem Adel gegen die Tyrannei König Johanns erhoben und diesem die Zugeständnisse im Interesse der gesamten Nation abgerungen habe, die die „Magna Carta" zum Ausgangspunkt und zur Grundlage der gesamten englischen Verfassungsgeschichte machten. „The whole of the constitutional history of England", so faßte Stubbs seine Interpretation zusammen, „is little more than a commentary on Magna Carta" (S. 25). Nun kann indes kaum ein Zweifel daran bestehen, daß diese Interpretation in wesentlichen Aspekten mit dem Wortlaut der „Magna Carta" nicht übereinstimmt: er artikuliert weder die Belange einer „Nation", noch stellt er ab auf die Sicherung der Freiheit „des" Individuums im modernen Sinn: eher wird er als Reflex jener sozialen und politischen Verhältnisse einer Feudalgesellschaft zu gelten haben, in der er entstanden ist. Edward Jenks stellte 1902 dem liberalen „Myth of Magna Carta" die nüchterne Tatsache entgegen, daß dieses Dokument den „Earls" und „Barons" 12 Rechte, den „Knights" 11 Rechte, den sogenannten „free men" 4 Rechte, dem niederen Klerus 1 Recht, den Kaufleuten und Bürgern 3 Rechte sowie den dienstpflichtigen Bauern 1 Recht garantierte. Ein großer Teil der Rechte, wie die Magna Carta sie formuliert, wird also der eigentlichen Oberschicht, also den Earls, Barons, Knights etc. zugeordnet, während sich ein sehr viel kleinerer Teil auf die große Masse der Bevölkerung bezieht, also die Bauern, die Kaufleute und Bürger, die etwa 5 / 6 der männlichen Gesamtbevölkerung stellten; ein Anteil, der sich noch wesentlich erhöht, wenn die abhängigen Personen, also Frauen und Kinder, mit berücksichtigt werden. Wie kann man dann aber noch einem Dokument einen „nationalen" Charakter zusprechen, fragte Jenks, „which guarantees five special rights to fivesixth of the so-called ,nation4 and twenty seven to the remaining insignificant minority" (S. 33)? Aber auch die drei Artikel der Magna Carta, die auf die Sicherung der Rechte der „free men" abzielen, können nicht für sich reklamieren, daß sie „Freiheit" im modernen Sinn meinen, die immer auch auf Gleichheit bezogen ist. Artikel 20 postuliert: „ A free man shall not be amerced for a trivial offence, except in accordance with the degree of the offence; and for a serious offence he shall be amerced according to its gravity, saving his livelihood (salvo contenemento i Holt 1972.
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suo) .. .". 2 Artikel 34 sieht vor, daß „The writ called praecipe shall not, in future, be issued to anyone in respect of any holding whereby a free man may lose his court". 3 Und der berühmte Artikel 39 postuliert: „No free man shall be taken or imprisoned or dissersed or outlawed or exiled or in any way ruined, nor will go or send against him, except by the lawful judgement of his peers or by the law of the land". 4 Für die Interpretation dieser Freiheitsgarantien ist nun entscheidend, auf wen sie konkret bezogen sind. Ist der „free man" der „common man" oder ist er Mitglied der Aristokratie des Landes? Glücklicherweise enthalten die drei zitierten Artikel Hinweise, die eine Beantwortung dieser Frage ermöglichen. Der ,Jiomo liber" hat nach Artikel 39 das Privileg, der Gerichtsbarkeit der Peers zu unterliegen. Außerdem verfügt er nach Artikel 20 über ein „contenementum"; er ist offenbar (nach Seiden) Eigentümer von Land im Umfang einer Grafschaft. Schließlich können wir Artikel 39 entnehmen, daß er die Gerichtshoheit ausübt. Daß ein mit solchen sozialen Attributen ausgestatteter „free man" nicht egalitäre Freiheitsrechte geschützt wissen will, sondern eher die Privilegien, die ihm als Mitglied der sozial und politisch herrschenden Schicht innerhalb einer Feudalgesellschaft zusteht, liegt auf der Hand (S. 33-35). Aber nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form der Magna Carta kann nicht per se für sich beanspruchen, daß sie neue Elemente einer politiktheoretischen Herrschaftslegitimation enthält. Antonio Marongiu ordnete sie zu Recht in jene Tradition mittelalterlicher Verträge zwischen den Königen und ihren Völkern bzw. Ständen ein, die zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert in einer Reihe europäischer Länder geschlossen wurden (S. 139 ff.); ihr gemeinsames Merkmal ist, daß sie einerseits den begrenzten Charakter mittelalterlicher Souveränität reflektieren und andererseits nicht einen kontraktualistischen Konsens ursprünglich Gleicher und Freier darstellen, durch die politische Herrschaft überhaupt erst konstituiert wird: ihre Funktion besteht vielmehr darin, ein quasi „natürliches" Herrschaftsverhältnis erneut zu bestätigen und gegebenenfalls zu modifizieren. Doch trifft dies zu, so muß gefragt werden, wie es möglich war, daß die Magna Carta in den Konflikten zwischen der Krone und dem Parlament im 17. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges eine so entscheidende Rolle spielen konnte. Wie ich meine, ist dieser Sachverhalt nur plausibel zu deuten, wenn davon ausgegangen wird, daß die Rechte der „free men", wie sie insbesondere in Artikel 39 der Magna Carta fixiert wurden, Dimensionen enthalten, die nicht in ihrem feudalen Kontext aufgehen. So erscheint wichtig, wie Holt bemerkt, daß die Begriffe jenes Artikels, nämlich „lawful judgement of peers" und „the law of the land" bei der Entstehung der Magna Carta keineswegs einen eindeutigen Sinn hatten, der jede Interpretation von vornherein ausschloß (S. 51). Auch wurde die Magna Carta allen „free men" des Königreichs gewährt, „and it assumed that the privileges which it conveyed would 2 Magna Carta, 1215, in: Holt 1965, S. 323. 3 A. a. O., S. 327. 4 Ebd.
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be held by the community" (S. 51). Was aber die Begriffe „free man" and „community" beinhalten, kann sich in unterschiedlichen sozialökonomischen Zusammenhängen sehr verschieden darstellen. Tatsächlich beginnt dieser Prozeß der Uminterpretation bereits im 14. Jahrhundert. So statuierte der Artikel 39, daß der Verurteilung eines „homo über" ein ordentlicher Prozeß vorauszugehen habe. „In the fourteenth century, this provision, originally a privilege conveyed to free men, was extended by statuary confirmation to all men of »whatsoever estate of condition4 they might be. The »lawful judgement of peeres' of the original charter was now equated with trial by jury and the ,law of the land4 of the original with due process of law. This was only the beginning. In the seventeenth century the parliamentary and legal Opposition to the Stuart kings revived these fourteenth-century interpretations and then went on to associate this chapter with the procedure of habeas corpus. Sir Edward Coke even argued that a man's property included his right to buy and sell; hence, he maintained Magna Carta was contravened by grants of patents of monopoly ... Thus there emerged a potent myth that the carter was a statement of individual liberty which governments infringed at their peril" (S. 50). Wenn man so will, bestand Cokes historische Interpretationsleistung darin, die feudale Form der „Magna Carta" mit einem privatkapitalistischen Inhalt gefüllt zu haben5, auch wenn dies nur um den Preis ihrer Mythologisierung möglich war. Gleichwohl hatte die einseitige Fixierung der bürgerlichen Kräfte im Unterhaus auf die „Magna Carta" als der entscheidenden Quelle ihrer politischen Legitimation ihre Grenzen: sie ließ sich nur so lange durchhalten, wie die Frage der legislativen Souveränität nicht auf der politischen Tagesordnung stand.
II. Das Problem der Souveränität und des Kontraktualismus Daß in der Tat sowohl das royalistische als auch das parlamentarische Lager spätestens seit dem Vorabend des 1. Bürgerkriegs in weit stärkerem Maße ihre Politiken vom Souveränitätsbegriff Bodins her rechtfertigten als dies bisher angenommen wurde, gehört zu den zentralen Resultaten der Untersuchungen von Ulrike Krautheim über die „Souveränitätskonzeption in den englischen Verfassungskonflikten des 17. Jahrhunderts". 6 Die Interpretation des Gemeinwesens von einer einzigen Kompetenz her, nämlich Gesetze zu erlassen und durchzusetzen, ohne ihnen unterworfen zu sein, bedeutete sowohl für die Royalisten als auch für die Anhänger des Parlaments gleichermaßen, wie Krautheim zeigen kann, daß der Hoheitsbereich der Souveränität per se von allen anderen Herrschaftsformen in der „Gesellschaft" unterschieden ist. Trifft dies zu, dann reduziert sich freilich die ideologische Differenz zwischen dem parlamentarischen und royalistischen Lager 5 Vgl. hierzu grundlegend Hill 1965, S. 225-265. 6 Krautheim 1977.
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darauf, daß die einen das Parlament und die anderen den König als Träger der souveränen potestas benennen. Krautheims materialreiche Studie hätte sicherlich an analytischer Schärfe gewonnen, wenn diese Gleichsetzung, die in der Perspektive der Anwendung souveräner Herrschaftstechniken berechtigt ist, selber noch einmal problematisiert worden wäre. Hatte die Rezeption des Souveränitätsbegriffs Bodins bei den Royalisten dieselbe Qualität wie bei den Parteigängern des Parlaments? Waren die Theoriezusammenhänge identisch, in denen beide „Parteien" den Souveränitätsbegriff integrierten und damit seine politische Stoßrichtung bestimmten? Für mich besteht kein Zweifel daran, daß die Rezeption des Bodinschen Souveränitätsbegriffs während der Konflikte zwischen Krone und Parlament die innovatorische Qualität der oppositionellen Theoriebildung genauso wenig zu verdecken vermag wie den traditionalistischen Kern des royalistischen Politikbegriffs. Die Royalisten betonten immer wieder, daß der einzelne im Sinne des Aristoteles von Natur aus auf das Gemeinwesen hin angelegt sei7: Sie führten deswegen den Ursprung der monarchischen Gewalt nicht auf den Konsens des Volkes, sondern auf den Willen Gottes zurück 8. Wie dieser als Vater herrscht, so interpretierten sie die legitime Machtausübung des Königs in Analogie zur patriarchalischen Herrschaft des „pater familias" über das ganze Haus9. Da eine so verstandene Herrschaft ihrem Wesen nach „natürlich" ist, sind gegen sie zwar Formen der Opposition, wie temporäre Gehorsamsverweigerung, möglich, nicht aber ein Recht auf bewaffneten Widerstand, das die paternalistische Bindung zwischen Herrschern und Beherrschten zerreißen und damit zugleich auch die „natürliche" Ordnung destruieren würde. 10 Diesem paternalistischen Politikverständnis entsprach die Sozialstruktur der geographischen Rekrutierungszentren der Royalisten. Die Wirtschaft dieser Gebiete orientierte sich weitgehend an dem Ziel der Selbstversorgung; von einer Kommerzialisierung der Landwirtschaft und feudaler Dienstleistungen konnte hier noch nicht die Rede sein. Die gesellschaftlichen Schichten also, die den König in erster Linie unterstützten, waren die „feudalen" Grundbesitzer des Nordens und Westens sowie die hohen Würdenträger der kirchlichen Hierarchie, „together with their tenants and dependents".11 Demgegenüber konnte das Parlament auf die Hilfe der südlichen und östlichen Landesteile zurückgreifen, deren wirtschaftliche Aktivitäten längst von den Erfordernissen des Londoner Marktes determiniert wurden: entsprechend hatte sich die Kapitalisierung der landwirtschaftlichen Produkte ebenso durchgesetzt wie in den großen Städten der unter dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung betriebene Handel; nicht zufällig optierten nicht nur das flache Land für das Parlament, 7
Vgl. hierzu exemplarisch Ferne 1642, S. 16. « Vgl. hierzu z. B. Ferne 1643, S. 17. 9 A. a. O., S. 9. 10
Vgl. hierzu exemplarisch Ferne 1642, S. 2 f. und S. 23. 11 Hill 1968, S. 155.
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sondern auch fast alle Seehäfen und die gesamte Flotte. 12 Wenn also - cum grano salis - gesagt werden kann, daß sich das revolutionäre Lager vor allem auf die gesellschaftlichen Kräfte stützen konnte, die sich in ihrer materiellen Reproduktion von dem Motiv privaten Akkumulierens leiten ließen, verwundert es nicht, daß die parlamentarische Kritik am Ancien Regime dem paternalistischen Politikverständnis eine unmißverständliche Absage erteilte. Den traditionalen Formen der Herrschaftslegitimation setzten sie die Denkfigur des Herrschafts- und Gesellschaftsvertrages entgegen, der sein Vorbild in den Verträgen des bürgerlichen Rechtsverkehrs hat. Für die parlamentarischen Autoren tritt dann auch der „original compact" in den Vordergrund ihrer Argumentation, vor dem alle Varianten traditionaler oder charismatischer Herrschaftslegitimation per se als irrational erscheinen: Der ursprüngliche Vertrag wird als ein Medium verstanden, in dem der Konsens Gleicher und Freier politische Herrschaft überhaupt erst hervorbringt. Gleichzeitig sind in dem Maße, wie alle Menschen von Natur aus als gleich und frei vorgestellt werden, die politischen Über- und Unterordnungsverhältnisse im Gemeinwesen nicht mehr „natürlich", sondern Veranstaltungen der Menschen selber 13: Aus dieser Prämisse wird dann auch der Anspruch abgeleitet, daß nur diejenigen, die die Obrigkeit beauftragten, ihr natürliches Recht auf Selbsterhaltung gleichsam treuhänderisch wahrzunehmen, in letzter Instanz auch entscheiden, ob dies wirklich geschieht. Ein so begründetes Widerstandsrecht sprengt den Rahmen der alteuropäischen Politiktheorie: Analog der Struktur eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages fungiert in seiner extremsten Version der König als „Diener" und das Volk als sein „Herr". Eindeutig über das Widerstandsrecht John Lockes hinausgehend, steht es, John Milton zufolge, dem Volk frei, einen Monarchen zu halten oder ihn abzusetzen, selbst wenn er kein Tyrann ist. 14 Andererseits bedeutet freilich der Rekurs der parlamentarischen Opposition auf das individualistische Naturrecht keineswegs, daß die Figuren des Gesellschaftsund Herrschaftsvertrages ausschließlich Derivate des bürgerlichen Rechtsverkehrs waren. Wie Winfried Förster in seiner Studie „Thomas Hobbes und der Puritanismus" 15 zeigen kann, haben sie neben biblischen Wurzeln gleichzeitig auch politische Theorien der Antike und des römischen Rechtsdenkens zum Vorbild. Förster selbst betont immer wieder den religiösen Einfluß auf die Lehre des Staatsvertrages. „Die im Protestantismus wurzelnde Idee des religiösen Bundes wirkt entscheidend auf die Gestaltung der politischen Vertragsvorstellungen ein. Auf dem Kontinent nimmt sie bald die weiterführende Naturrechtslehre der spanischen Moralphilosophie und der Jurisprudenz a u f (S. 76). Sie wird in Nordamerika, in Neuengland, rezipiert und wirkt von dort, wie Förster deutlich macht, auf Theorie und Praxis im englischen Bürgerkrieg ein (S. 112-126). Doch hat die Idee des 12 Ebd. B
Vgl. hierzu exemplarisch Rutherford 1644, S. 2 und 5. 14 Vgl. hierzu Milton 1658, S. 13. 15 Förster 1969.
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religiösen Bundes, wie sie etwa im 17. Jahrhundert von H. Jacob vertreten wurde, mit dem frühbürgerlichen Vertragskonzept eines Thomas Hobbes eine zentrale Gemeinsamkeit: „Beide sind sich einig, daß die weltlichen Dinge vom Menschen bestimmt werden können" (S. 222). Oder anders fomuliert: auch der „convenant" legitimiert nicht mehr ein quasi „natürliches" Herrschaftsverhältnis, sondern konstituiert dieses, indem er als subjektiver Konsens ursprünglich Gleicher und Freier gedacht wird. In der Lehre des convenant geht die Übereinstimmung zwischen Jacob und Hobbes so weit, daß die Substitution theologischer Begriffe in Jacobs Definition der Kongregation durch politische Kategorien „vor uns ... Hobbes' »Commonwealth4" entstehen läßt, „und zwar in der Form der souveränen Demokratie, die er ja als mögliche Staatsform in seinem ,Leviathan' anführt" (S. 218). Wenn dergestalt davon auszugehen ist, daß im religiösen Bund eine starke individualistische Komponente zu dominieren beginnt, die für die frühbürgerliche Emanzipationsbewegung gegen den Feudalismus zentrale Bedeutung erlangte, ist zugleich die seit Max Weber immer wieder diskutierte Frage aufgeworfen, welche Rolle der Puritanismus bei der Herausbildung kapitalistischer Strukturen in der Englischen Revolution gespielt hat.
III. Zur sozio-politischen Funktion des Puritanismus Daß der Puritanismus in der Englischen Revolution die entscheidende ideologische und organisatorische Kraft innerhalb der oppositionellen Bewegung gegen das alte Regime darstellte, ist in der Literatur unbestritten. Weit weniger hingegen herrscht Konsens in der Frage, welche sozialen und politischen Funktionen er während der Konflikte ausgeübt hat. Michael Walzer hat in seiner materialreichen Studie „The Revolution of the Saints" 16 den Versuch unternommen, die historische Rolle des Puritanismus, wie Max Weber sie in seinen bahnbrechenden religionssoziologischen Studien beschrieben hat, in wesentlichen Aspekten zu korrigieren: es ist insbesondere Webers Bestimmung des Verhältnisses von „kapitalistischem Geist" und Protestantismus, die Walzer problematisiert. Nun hat sich Weber immer wieder gegen die „töricht-doktrinäre These" gewandt, „daß der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ein Erzeugnis der Reformation sei. Schon daß gewisse wichtige Formen kapitalistischen Geschäftsbetriebs notorisch erheblich älter sind als die Reformation, stände einer solchen Ansicht ein für allemal im Wege. Sondern es soll festgestellt werden: ob und wieweit religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes »Geistes4 über die Welt hin mif beteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgeht". 17 Auch der Webersche Begriff der „innerweltlichen protestantischen Askese" ist nicht, wie Walzer hervorhebt, per se mit der für die 16 Walzer 1970. 17 Weber 1920, S. 82.
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kapitalistische Produktionsweise notwendigen Arbeitsdisziplin gleichzusetzen: sie lebte vielmehr von dem Bedürfnis, sowohl die Sünde als auch die Unordnung zu überwinden (S. 304). Doch andererseits geht Weber über diese Feststellung hinaus, wenn er das „spezifisch bürgerliche Berufsethos" als Ausfluß des Protestantismus interpretiert. „Mit dem Bewußtsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer, wenn er sich innerhalb der Schranken fomaler Korrektheit hielt, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum machte, kein anstößiger war, seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun. Die Macht der religiösen Askese stellte ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung". 18 Für Weber galt mithin als ausgemacht, daß, soweit „die Macht puritanischer Lebensauffassung reichte", sie „der Tendenz zu bürgerlicher, ökonomisch rationaler Lebensführung zugute [kam] ; sie war ihr wesentlichster und vor allem: ihr einzig konsequenter Träger. Sie stand an der Wiege des modernen »Wirtschaftsmenschen4.19 Es ist genau diese zentrale These Max Webers, daß die „innerweltliche protestantische Askese" einerseits den „unbefangenen Genuß des Besitzes", besonders die Luxuskonsumtion, perhorreszierte und andererseits die Aneignungsschranken der traditionalistischen Ethik sprengte 20, die Walzer kritisiert. Ihm zufolge war der Puritanismus keine Ideologie, die zur permanenten und unbeschränkten Kapitalakkumulation ermutigte. „Instead, the saints tended to be narrow and conservative in their economic views, urging men to seek no more wealth than they needed for a modest life, or, alternatively, to use up their surplus in charitable giving. The anxiety of the Puritans led to a fearful demand for economic restriction (and political control) rather than to entrepreneurial activity as Weber has described it" (S. 304). Liberalismus und Kapitalismus, so Walzer, entwickelten sich erst voll in ihrer säkularen Ausprägung, nachdem der Puritanismus seine kreative Potenz verwirklicht hatte: Das von den Puritanern angestrebte „Holy Commonwealth" jedenfalls sei weder liberal noch kapitalistisch gewesen. Doch trug andererseits die puritanische Lebensführung dazu bei, „to shape the disciplinary basis of the new economy and politics. In a sense, wordly asceticism preceded entrepreneurial freedom, just as political zeal preceded liberalism" (S. 306). Die gesellschaftliche Funktion des Puritanismus in der Englischen Revolution, so müssen wir Walzer interpretieren, leistete dem Kapitalismus nicht in dem Sinne Vorschub, daß er „teleologisch", gleichsam gezielt, diesen „vorbereitete". Daß der Kapitalismus vom Protestantismus „profitierte", ist Walzer zufolge eher kontingenten Umständen zuzuschreiben. Gleichwohl war der Puritanismus, so Walzer, in der Englischen Revolution innovativ; denn er stellte eine Ideologie der gesellschaftlichen Transformation dar, is A. a. O., S. 198. 19 A. a. O., S. 195. 20 A. a. O., S. 190.
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die zur materiellen Gewalt werden konnte, weil sie dem Legitimitätsverlust der alten Herrschaftsträger und ihrer staatlichen und kirchlichen Institutionen eine neue Ordnung, basierend auf unpersönlicher, ideologisch motivierter Disziplin, gegenüberstellte. Die historische Leistung des Puritanismus in England zwischen 1530 und 1660 habe dann auch darin bestanden, daß er angesichts des Verfalls der alten Autoritäten „a vigorous self-control, and narrowing of energies, a bold effort to shape a new personality against the background of social ,unsettledness'" (S. 312) verwirklichte. Dieser entschlossene Kampf gegen Unordnung, Anarchie, moralische Zersetzung, intellektuelle Orientierungslosigkeit etc. machte die Puritaner, so lautet Walzers zentrale These, zu Vorläufern der Jakobiner in der Französischen und der Bolschewiki in der Russischen Revolution. „ A l l forms of radical politics make their appearance at moments of rapid and decisive change, moments when customary status is in doubt and character (or »identity') is itself a problem. Before Puritans, Jacobins, or Bolsheviks attempt the creation of a new order, they must create new men. Repression and collective discipline are the typical methods of this creativity: the disordered world is interpreted as a world at war; enemies are discovered and attacked. The saint is a soldier whose battles are fought out in the self before they are fought out in society" (S. 315). Wollte man Walzers Ansatz auf eine kurze Formel bringen, so ließe sich sagen, daß er den Puritanismus als „response" auf die „challenge" der kollektiven Erfahrung der Herrenlosigkeit (masterlessness) in der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts interpretiert. Wie die Jakobiner im 18. und die Bolschewiki im 20. Jahrhundert konnten die Puritaner in dem Maße zu einer revolutionären Kraft werden, wie sie durch Selbstdisziplin, Repression und zweckrationalen Aktivismus neue Autoritäten hervorbrachten, die das Chaos und die Bindungslosigkeit des Ancien Regime überwanden. Walzers Verdienst besteht sicherlich darin, daß er zur Stützung dieser These puritanische Pamphlete, veröffentlichte Predigten etc. heranzieht, die bisher in der Forschung kaum Beachtung gefunden haben. Gleichwohl vermag ich nicht allen Implikationen seiner Untersuchung zu folgen. Nicht zufallig kann Walzer seine interpretatorische Perspektive nur um den Preis durchhalten, daß er die autoritären Strukturen des Calvinismus in der Englischen Revolution mit dem Puritanismus schlechthin gleichsetzt, während er die Sekten und sogar die Levellers als bedeutungslose Randerscheinungen aus seinem Untersuchungszusammenhang ausblendet (S. VIII). Durch diese Reduktion aber wird der Puritanismus zu einer homogenen Entität stilisiert, die er in seiner historischen Ausformung während der Konflikte zwischen dem Parlament und der Krone nie gewesen ist. Wie nämlich die Auseinandersetzungen über die Toleranzfrage innerhalb des revolutionären Lagers zeigen, diente er keineswegs nur als Alternative zur „masterlessness". Diese Stoßrichtung puritanischer Ideologie mag die Intentionen der Presbyterianer zutreffend charakterisieren; für große Teile der Independenten und erst recht für die zahlreichen Sekten, deren Bedeutung für den Verlauf der Revolution zwischen 1642-1649 gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, war der Puritanismus ein Medium, das
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nicht primär neue Autoritätsverhältnisse schuf, sondern die individuelle Freiheit und damit zugleich auch die Freiheit von sozialen Abhängigkeiten zu garantieren schien. Wichtig in diesem Zusammenhang ist nämlich, daß die Option für Toleranz vor allem bei den Unterschichten auf fruchtbaren Boden fiel. Deren Engagement für religiöse Duldung konvergierte nicht nur mit einem tief verwurzelten Antiklerikalismus; es bot zugleich auch für die verarmten Bevölkerungsteile die realistische Perspektive, mit dem Fall der Staatskirche von der Zahlung des „Zehnten" befreit zu werden, von dem die Reichen nur wenig betroffen oder sogar deren Nutznießer waren. Bedeutsam ist ferner, daß mit dem Zusammenbruch der etablierten Kontrollmechanismen der anglikanischen Staatskirche ab 1640, insbesondere des „Court of High Commission", Bevölkerungsgruppen einen entscheidenden Einfluß auf die öffentliche Meinung erlangten, die vorher von ihr ausgeschlossen waren. Diese Autoren, ohne Bildung, gesellschaftliche Stellung und etablierten Einfluß, lehnten die autoritäre Tradition des älteren Calvinismus ab 21 , dessen „soziale Kompetenz", also Selbstdisziplin und „innerweltliche Askese" (Max Weber), ihrem eigenen plebejischen Lebenszusammenhang widersprach. Stabilisiert wurde diese antiautoritäre Grundhaltung durch ein geschärftes Mißtrauen gegenüber jeder Bevormundung durch klerikale Führungseliten. Ohne Anleitung durch die etablierten Autoritäten gingen diese „inarticulates" dazu über, die englische Bibel selber auszulegen, die für sie eine Fundgrube an Argumenten bot, mit denen sie das „Establishment" verunsicherten. 22 Nicht zuletzt sahen die Wortführer der Levellers eine entscheidende Aufgabe darin, den engen Konnex zwischen klerikalem Interpretationsmonopol der Bibel und privater Bereicherung auf Kosten der Armen herauszustellen. Diese wenigen Andeutungen mögen als Nachweis genügen, daß der Puritanismus in seinen sozialen und politischen Funktionen breiter gefächert war als Walzers Studie offenbar unterstellt: er bot nicht nur eine neue Autorität für diejenigen, die unter ihrer „Herrenlosigkeit" litten. Nicht wenigen politischen Gruppen in der Englischen Revolution diente er auch als Rechtfertigung für das Bedürfnis, die „masterlessness" als Errungenschaft zu interpretieren. Dem entspricht, wie es scheint, daß das autonome Individuum, durch den Puritanismus gleichsam gedeckt, in der Englischen Revolution den Anspruch erhebt, seine politischen Verhältnisse selber zu gestalten: jedenfalls wird diese Tendenz eindrucksvoll durch die Auseinandersetzung zwischen den Independenten und Levellers über die Wahlrechtsfrage in Putney im Herbst 1647 dokumentiert. IV. Die Wahlrechtskontroverse von Putney Das Problem der einheitlichen Orientierung der Levellers in der Wahlrechtsfrage bestand lange Zeit in der Forschung nicht. Firth, G. P. Gooch, Don M. Wolfe, D. W. 21 Vgl. hierzu Jordan 1965, S. 273. 22 A.a.O.,S. 329-333.
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Petegorski, A. S. P. Woodhouse, T. C. Pease, M. Ashley, P. Zagorin, E. Bernstein, M. A. Gibbs, H. W. Schenk, Fancis D. Wormuth, Joseph Frank, N. Brailsford u. a. haben, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten und Nuancierungen, die These vertreten, die Levellers hätten für das allgemeine Männerwahlrecht optiert. Dieser Konsens wurde erst erschüttert, als C.B. Macpherson 1961 seine grundlegende Studie über „Die politische Theorie des Besitzindividualismus"23 veröffentlichte, in der er sich im dritten Kapitel mit dem Verhältnis der Levellers zum Wahlrecht auseinandersetzt. Er kam zu dem Resultat, „daß die Levellers während der gesamten Putney-Debatte wie auch in ihren Dokumenten nach Putney das Wahlrecht für alle frei geborenen Männer forderten, die nicht ihr Geburtsrecht verloren hatten, für alle Männer also, die nicht zu Bediensteten oder Almosenempfängern geworden waren. Es gab keinen Widerspruch zwischen ihren begrenzten Wahlrechtsforderungen und ihrem Glauben an gleiche natürliche Rechte: das gleiche natürliche Recht wird hinfällig, wenn ein Mensch in einem der genannten Verhältnisse der Abhängigkeit vom Willen anderer steht" (S. 105). Dieses Resultat seiner Untersuchung vorausgesetzt, ordnete er den Levellers von den zur Diskussion stehenden Wahlrechtstypen das „Wahlrecht der Nichtbediensteten" zu, dem er das „GrundbesitzerWahlrecht" der Independenten kontrastierte. Danach hätte bei einer Gesamteinwohnerzahl Englands von knapp 6 Millionen das von den Levellers befürwortete Wahlrecht 417 000 umfaßt, während auf der Basis des Grundbesitzerwahlrechts der Independenten 212000 Personen und bei Geltung des allgemeinen Männerwahlrechts etwa 1 170 000 Bürger das Stimmrecht erhalten hätten (S. 131 -137). Wenn Macphersons Interpretation zutrifft, waren die Levellers bereit, den Demokratisierungsprozeß in der Englischen Revolutuion wesentlich über das Wahlrecht der Grundbesitzer hinauszutreiben; gleichzeitig setzten sie ihm aber auch eine unübersteigbare Grenze, indem sie weit über die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung und allen Frauen die Vollbürgerschaft verweigerten. Macphersons These ist nun, daß diese gravierende Entscheidung nicht als ein Kompromiß gewertet werden kann, den die Levellers angesichts der konkreten politischen Kräfteverhältnisse mit den Independenten schließen mußten; vielmehr sei sie eine konsequente Folge ihrer eigenen Prinzipien. Wenn dem aber so ist, muß gefragt werden, wie er die kontroversen Äußerungen der Levellers zur Wahlrechtsfrage erklären kann, die, wie es scheint, zwischen einem allgemeinen Männerwahlrecht und einem Nichtbedienstetenwahlrecht schwankten. Macpherson löst diese Widersprüchlichkeit durch seine Hypothese auf, in das politische Denken der Levellers seien zentrale Prämissen eingegangen, die von ihnen in ihrer Selbstevidenz nicht mehr explizit thematisiert wurden. So deute der Konsens zwischen Cromwell, Reade und Petty in der Putney-Debatte darauf hin, daß „die Levellers den Ausschluß aller »Bediensteten4 als ganz selbstverständlich vorausgesetzt ... haben und von ihren Gegnern auch so verstanden worden zu sein (scheinen)" (S. 143). Auch der Rekurs Rainsbourroughs auf den „Ärmsten" oder den „ärmsten 23
Macpherson 1973.
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Bewohner Englands" sei stets mit der impliziten Einschränkung erfolgt, „daß Bedienstete und Bettler, da sie ja unfrei geworden waren, vom Wahlrecht ausgeschlossen blieben" (S. 155). Durchgehend bedeute für die Levellers der Begriff „der Ärmste unter uns" soviel wie der ärmste freie Mensch. „Die Grenze", so argumentierte Macpherson, „die die Levellers zogen, verlief nicht zwischen Armut und Reichtum, sondern zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit, und die beiden Grenzen deckten sich nicht" (S. 155). Keith Thomas hat, wie ich meine, die bisher überzeugendste Kritik an dieser Interpretation geübt. Die These Macphersons, die Levellers hätten von Anfang an das allgemeine Männerwahlrecht abgelehnt und dies auch mit einer konsistenten Theorie begründet, überzeuge nicht, weil sie wesentlichen Besonderheiten der Leveller-Bewegung nur unzureichend Rechnung trage. Vor allem stilisiere die Analyse Macphersons zu stark. Tatsächlich habe aber ihre heterogene soziale Zusammensetzung ihrer inkonsistenten Position zum Wahlrecht entsprochen: Rainsborough, Captain Clark und Captain Audly seien während der Putney-Debatte für das allgemeine Männerwahlrecht eingetreten, Petty dagegen nicht. Gleichfalls hätten Ireton und Cromwell die Intentionen der Levellers im Sinne des allgemeinen Männerwahlrechts gedeutet. Eine Konsistenz in dieser Frage, so Thomas, konnte Macpherson nur konstruieren, indem er Pettys Äußerung zur authentischen Aussage der Levellers erhob, unter die er dann - mehr oder weniger gewaltsam die anderen abweichenden Positionen subsumierte. Petty aber habe zu den mehr „obscure Leveller spokesmen" gehört, „but significantly one of those whom we know to have been prominent in hatching the compromise second »Agreement of the People4 and later to have become a member of Harrington's Rota Club, whose aristocratic republican tone was very different from that of the Leveller movement" 24 , Es gebe keinen Grund, „why he should be taken as a more representative Leveller than Rainsborough. For it was Rainsborough who was said to have had ,the greatest interest4 among the agitators 44.25 Daß die Levellers geschlossen für ein Nichtbediensteten-Wahlrecht optiert haben, hält Thomas deswegen für unwahrscheinlich, weil diese Bewegung keineswegs, wie Macpherson unterstellt, von einer „abstrakten Theorie44 ausging; vielmehr sei ein Teil der Levellers in der Wahlrechtsfrage tief in der traditionellen politischen Struktur Englands verankert gewesen, die sich in nicht wenigen „borroughs" durch eine relative breite politische Partizipation auch der Almosenempfänger, der Diener und der Lohnabhängigen am „local government44 ausgezeichnet habe. 26 Daß das allgemeine Männerwahlrecht durchaus im historischen Kontext eine mögliche und denkbare Option war, beweisen nach Thomas ferner die Diggers, die nur Verbrecher ausschließen wollten. Selbst die Fifth-Monarchy-Men seien bereit gewesen, Arbeiter in ihre Elite aufzunehmen. „It was by no means axiomatic44, so 24 Thomas 1972, S. 67. 25 Ebd. 26 A. a. O., S. 60 ff.
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konstatiert Thomas, daß Bettler, Diener und Lohnabhängige automatisch politisch entmündigt waren, „disqualified from voting". 27 Nun scheint freilich diese Aussage zumindest für die Zeit nach Putney quer zu stehen zu der offiziellen Politik der Levellers. Das 2. Agreement vom Dezember 1648 und das 3. Agreement vom 1. Mai 1649 bewegen sich eindeutig auf der Linie der Position Pettys in der Wahlrechtsfrage. Diese Tatsache räumt freilich nach Thomas keineswegs seine Vorbehalte gegenüber dem interpretatorischen Vorgehen Macphersons aus dem Wege. Es sei bekannt, daß das 2. Agreement einen Kompromiß zwischen den Levellers und der Armeeführung darstelle. Selbst Macpherson behaupte nicht „that the Levellers ideally wanted the ratepayer franchise it asked for". 2 8 Zwar sei das 3. Agreement, obwohl auch nicht frei von Kompromissen, ein „more independent and its exclusion of servants and almstakers can be reasonably taken as the final position of what remained of the Leveller party". 29 Signifikant sei jedoch, daß in dem Leveller-Pamphlet von 1653 „A Charge of High Treason exhibited against Oliver Cromwell" alle Männer Englands zu den Wahlurnen gerufen werden, „as well masters, sons, as servants". 30 Die bisher vorliegenden Dokumente, so faßt Thomas seine Kritik zusammen, erlauben mehr als eine Interpretation der Stellung der Levellers zum Wahlrecht. „It can be argued with Professor Macpherson, that when the Levellers appeared to be saying one thing they really meant something else; but it can also be argued that they were a heterogeneous party, divided among themselves, and forced to make a series of tactical compromises as they went along. Until new evidence appears both possibilities must be allowed for". 31 Was folgt aus dieser Kontroverse für unsere systematische Frage nach der Trennlinie zwischen den Levellers und den Independenten in der Definition der Vollbürgerschaft, derjenigen also, die das Volk als „politische" Größe konstituieren? Fest steht, daß die Independenten, trotz vorübergehender Kompromisse im 2. Agreement, stets für das Grundbesitzerwahlrecht optierten: dies hätte keine Ausweitung des Kreises der Vollbürger bedeutet, wohl aber eine gerechtere Repräsentanz derjenigen, die das Wahlrecht bereits hatten. Schwieriger ist die Situation bei den Levellers, weil wohl in der Tat davon ausgegangen werden muß, daß Macpherson ihnen eine Konsistenz in der Wahlrechtsfrage unterstellte, die stark stilisiert erscheint. Doch selbst wenn die Levellers in ihrer Bestimmung der Kriterien für eine Vollbürgerschaft schwankten, ist die qualitative Differenz, die sie von den Independenten trennte, nicht zu übersehen: tatsächlich deutet vieles darauf hin, daß die Levellers mit ihren Gegnern weniger gemeinsam hatten, als Macphersons Interpretation nahelegt. Denn gehen wir einmal davon aus, die Option für das Nichtbedienstetenwahlrecht sei Konsens der Levellers gewesen, so liegen auch in 27 A. a. O., S. 65. 28 A. a. O., S. 68 f. 29 A. a. O., S. 69. 30 Ebd. 31 Ebd.
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diesem Fall die revolutionären Konsequenzen einer solchen Position auf der Hand: sie wäre, zusammen mit den anderen Forderungen, auf die politische Entmachtung zumindest der Gentry, aber auch der Handelsbourgeoisie in London und in den anderen Städten hinausgelaufen. 32
V. Das Demokratie-Verständnis der Levellers Wenn, wie wir sahen, eine weitgehende Demokratisierung des politischen Systems zum zentralen Bestandteil der Leveller-Programmatik gehörte, wird auf die Frage einzugehen sein, von welchem Demokratie-Verständnis sich die Levellers in ihrer politischen Praxis anleiten ließen. Demokratie und Repräsentation, so hebt Martin Gralher in seiner Studie über den Repräsentationsbegriff der Levellers hervor 33 , stehen in deren politischer Theorie in einem bestimmten Verhältnis zueinander, „in dem sich beide nicht gegenseitig ausschließen" (S. 19). Die Levellers hätten schon damals den „rationalen Topos" der Repräsentation (Sternberger) begriffen, „daß bei zu großer Zahl nicht jeder direkt für seine eigenen Belange eintreten kann" (S. 169). Diese These trifft als generelle Umschreibung wesentlicher Intentionen der Levellers sicherlich zu; doch stellt sich die Frage nach dem sozialen und politischen Inhalt dieses Topos in ihrem politischen Denken. Den Begriff der Repräsentation, wie die Levellers ihn verstanden, sieht Gralher durch einen „trust" charakterisiert, der über das bloße Kriterium der Wahl als Bedingung legitimer politischer Machtausübung weit hinausgeht: „Weil es um die Sache der Freiheit, des Friedens und des Wohlergehens geht, braucht das Volk Leute, die das besorgen und jeder, der das tut, ist legitimer Sprecher, d. h. im eigentlichen Sinne Repräsentant des Volkes. Die Legitimationsbasis ist letztlich nicht die Wahl, obwohl sie als formales Mittel wichtig ist, weil durch sie die Repräsentanten in ihrer Funktion eingesetzt werden, d. h. mit Macht betraut werden; aber die Basis der Machtbetrauung ist das Vertrauen, das aber findet einen letzten Grund darin, daß die Repräsentanten die Sache des Volkes vertreten, bzw. vorgeben, sie besorgen zu wollen" (S. 83). Für die Levellers bestehe „zwischen dem Schutz und der Hilfe des Volkes gegenüber den Repräsentanten und umgekehrt ... eine Beziehung, eine Interdependenz ... Es ist ... eine gegenseitige Verpflichtung, die auf Vertrauen und Treue beruht" (S. 83 f.). Dieser auf Vertrauen und Treue beruhende Akt der Repräsentation sei im politischen Denken der Levellers mit einem „Seinszuwachs" (S. 76) der Repräsentanten verbunden, der seine Wurzel im Mittelalter habe: diejenigen, die das Volk repräsentieren, sind „sapientior" und „aptior" als die Repräsentierten. Dieser Gedanke, der konstitutiv für die Levellers gewesen sei, habe aber auch nach ihnen fortgewirkt: Edmund Burke, James Madison und George Santayana betonten gleichfalls die qualitative Komponente in der politischen Repräsentation, nämlich das „artistokratisch-elitäre Element" (S. 81). 32 Vgl. hierzu Aylmer 1975, S. 50. 33 Gralher 1973.
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Diese Interpretation des „trust"-Begriffs läßt sich freilich nur schwer mit anderen zentralen Zielsetzungen der Levellers in Einklang bringen: Wenn sie den „trust" auch stets durch das Mißtrauen gegenüber Korruption durch den Gebrauch der Macht korrigiert sehen wollten, wenn sie durch jährliche Wahlen der Legislative und der Exekutive, durch die Wahl der Geschworenengerichte und der Offiziere \ u f regionaler Ebene, durch uneingeschränkte Petitionsfreiheit etc. auf die strenge Kontrolle der „betrusted" drängten, scheint jedenfalls das Vertrauen in die „sapientiores" und die „aptiores" nicht eben groß gewesen zu sein. Die Betonung der elitären Qualität des Repräsentationsbegriffes der Levellers wird aber noch problematischer, wenn wir uns vor Augen führen, wen sie mit den „well-affected people" meinten, aus denen sich die Repräsentanten des Volkes rekrutierten sollten. Nicht unwichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Polemik der Levellers gegen die Juristen (lawyers), die - als Exponenten der Oberschicht - ihre Machtposition im Parlament skrupellos ausnutzen, um sich auf Kosten der Armen individuell zu bereichern. 34 Zu den „well-affected-people" zählten sicherlich auch nicht der anglikanische Klerus und die presbyterianische Geistlichkeit: indem sie sich weigerten, religiöse Toleranz zu gewähren, auf ihr Interpretationsmonopol der Heiligen Schrift zu verzichten und die Bibel ins Englische übertragen zu lassen, zementierten sie einen Herrschaftsanspruch, der auf der künstlichen Unmündigkeit des kleinen Mannes beruhte. Gleichwohl war in der frühen und mittleren Phase des Bürgerkrieges der Begriff der „well-affected" offenbar klassen- und schichtenneutral von den Levellers gemeint: er umfaßte alle Personen, die auf der Seite des Parlaments kompromißlos gegen die Royalisten kämpften. Zu dieser Gruppe gehörten Repräsentanten der Oberschicht wie Fairfax und Cromwell genauso wie aus den Unterschichten stammende Mitglieder der Sekten, deren patriotischer Kampf gegen die Anhänger des Königs immer wieder gepriesen wurde. Spätestens nach dem irreparablen Bruch der Levellers mit Cromwell jedoch wird deutlich, daß sich in ihrer Sicht das soziale Substrat der politischen Repräsentation gleichsam klassenspezifisch verengt: nachdem klar ist, daß der unkontrollierte Gebrauch der Macht Cromwell und die Independenten korrumpiert hat, reduziert sich für die Levellers der Bürgerkrieg auf den Konflikt der herrschenden Cliquen, die ihre Partikularinteressen verfolgen und sich längst über das „bonum commune" des Volkes hinweggesetzt haben. „The King, Parliament, great men in the City and Army", heißt es in einem Leveller-Pamphlet nach dem Ende des 2. Bürgerkrieges 1648, „have made you (d. h. das Volk, R. S.) but the stairs by which they have mounted to Honor, Wealth and Power. The only Quarrel that hath been, and at present is but this, namely, whose slave the people shall be: All the power that any hath, was but a trust conveyed from you to them, to be employed by them for your good". 35 Dieser „trust" aber sei verwirkt, seit es in den Konflikten und Auseinandersetzungen nur noch um einen „quarrel of Interest and Partyes" 34 Vgl. z. B. Lilburne 1645, S. 8 u. 35; Lilburne 1964, S. 94. Hier wird gefordert, daß Juristen nicht gleichzeitig ihren Beruf ausüben und Mitglieder des Parlaments sein dürfen. 35 Walwyn 1964, S. 145.
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gehe, „a pulling down of one Tyrant, to set up another, and instead of Liberty, heaping upon our selves a greater slavery then that we fought against.. . " 3 6 Wenn aber die Exponenten der Oberschicht nicht mehr den „trust" des Volkes verdienen, fällt es schwer, den Levellers zu unterstellen, sie meinten mit den „aptiores" als den politischen Repräsentanten des Volkes eine Elite, wie Byirke, Madison oder Santayana sie vor Augen hatten. Zwar forderten auch die Levellers von ihren Repräsentanten „morall rightousness"; ob sie aber für „wisdom and virtue" im Sinne Madisons optierten, die immer auch Bildung, im 17. Jahrhundert ein unangefochtenes Privileg der Oberschicht, mit einschloß, erscheint nicht weniger fraglich wie Santayanas elitäres Verdikt, ein durchschnittlicher Mann könne kein „moral representative", sondern bestenfalls „a fair social representative of the people" sein (S. 81). Jedenfalls werfen selbst die Independenten einem der wichtigsten Exponenten der Levellers, William Walwyn, vor, er sehe die „unworthinesse of our times" in der Existenz von,niches, and estates" und in „the great badge of distinction between man and man" 37 : Dies seien zugleich in der Sicht Walwyns auch so lange die Kriterien „of mens fitnesses for Government", bis Männer wählbar werden „into places of trust, that are vertuos and able, though poor and low in this world; and that Butchers and Coblers be chosen into the places of Magistracy and Government, as well as others that are rich in this world". 38 Nicht weniger aufschlußreich als diese „Kritik" ist Walwyns Erwiderung. Was man ihm vorwerfe, stehe im Gegensatz zu der hohen Meinung, die sich Jesus über die einfachen Leute gebildet habe: Als Sohn eines Zimmermanns wählte er sich einfache Hirten zu Propheten und arme Fischer zu seinen Aposteln. 39 Auch hätten die Independenten selbst „some Butchers, though not many", in ihre Kongregationen aufgenommen, „and I think you do not exclude for that trade: And as for Coblers, there are trades more in credit, hardly so usefull .. .". 4 0 Zwar habe er, Walwyn, niemals dafür optiert „either in behalf of Butchers or Coblers, as to place of government"; doch läßt er durchblicken, daß ihn nicht prinzipielle Gründe daran hinderten, sondern der schlichte Umstand, daß „the generality of our times cannot bear i t . . . 4 1 So gesehen, hieße es tatsächlich, zentrale politische Vorstellungen der Levellers in ihr Gegenteil zu verkehren, wolle man ihr Repräsentationskonzept als Rechtfertigung „für autoritär-elitäres Handeln" 42 begreifen: viel näher liegt es, den funktionalen Charakter ihres trust-Begriffes zu betonen. Zwar wird niemand den Levellers bescheinigen können, sie hätten die Volkssouveränität als einfache handgreif36 A. a. O., S. 140. 37 Walwyn 1964, S. 300. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Grebingl972, S. 171. Grebing charakterisiert mit dieser Formel den Repräsentationsbegriff bei Schmitt 1969, S. 44 f.
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lich-manifeste Identität von Herrschern und Beherrschten verstanden. Doch es spricht vieles dafür, daß sie in der Repräsentation ein „Instrument der Volkssouveränität" 43 sahen. Trifft diese Charakterisierung zu, so setzten die Levellers die verwirklichte Volkssouveränität zwar mit der Identität von Herrschern und Beherrschten gleich; aber zu realisieren war sie nach ihrer Einschätzung nur durch einen permanenten Prozeß politischer Beteiligung auf den verschiedenen Ebenen des Gemeinwesens im Medium und mit den Mitteln der Repräsentation bzw. des „trust". Diese Konzeption einer „identitären Demokratie" (Grebing) bedeutet für die Levellers zugleich, daß die politischen Repräsentanten über Qualitäten verfügen müssen, die funktional auf die Verwirklichung der Volkssouveränität bezogen sind: bemerkenswert ist, wie mir scheint, daß sie „Coblers" und „Butchers" diese Eignung nicht von vornherein absprachen. Wenn sich so ein plebejischdemokratisches Element in ihrem Repräsentationsbegriff unübersehbar Geltung verschaffte, so entsprachen dem ihre zentralen sozialen Forderungen, die auf die Interessenlage der unabhängigen kleinen Handwerker, Händler und Kaufleute ohne freies Grundeigentum und freie Mitgliedschaft in den Zünften sowie der Erbpächter und Pächter auf Zeit zugeschnitten waren. Die Frage ist allerdings, ob diese Option für die Interessen der kleinen Eigentümer zugleich eine Mobilisierungsgrenze gegenüber jener Masse der „inarticulates" in der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts darstellte, die unterhalb der Schicht der kleinen Selbständigen zu lokalisieren ist. Auf dieses Problem wird im folgenden einzugehen sein.
VI. Levellers und Diggers Christopher H i l l 4 4 hat in Anlehnung an den sowjetischen Historiker Barg die These vertreten, daß die auf die Interessen der kleinen Selbständigen zugeschnittenen Forderungen der Levellers nicht das Programm der Leveller-Bewegung schlechthin gewesen seien, sondern lediglich das ihres konservativen „konstitutionellen" Flügels. Die konstitutionellen Levellers um Lilburne, Wildman und Sexby, so Hill, „were not in fundamental disagreemen with the type of society that was being set up by the English Revolution. They accepted the sanctity of private property, and their desire to extend democracy was within the limits of a capitalist society" (S. 99). Demgegenüber sei der linke Flügel der Levellers um Overton, Walwyn und die Leveller-Zeitschrift „The Moderate" revolutionär gewesen: offenbar habe es zwischen ihm und den True-Levellers bzw. den Diggers um Gerrard Winstanly fließende Übergänge gegeben. So sei Overtons Appell vom Juli 1647, die Einhegung der Allmende rückgängig zu machen, für die offizielle Programmatik der Levellers ganz untypisch gewesen. „Official Leveller pronouncements failed even to take a clear and decisive stand in favour of security of tenure for copy43 Ebd. 44 Hill 1972.
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holders and against enclosure - until after the defeat of 1649" (S. 96). Walwyn habe niemals den gegen ihn wiederholt erhobenen Vorwurf überzeugend zurückgewiesen, er vertrete die These, daß mit der Einführung egalitärer Besitzverhältnisse die Ursache der Eigentumsdelikte und damit auch die Notwendigkeit staatlicher Repression entfalle. Sowohl er als auch Overton hätten stets die „atrocity propaganda" zurückgewiesen, „levelled against the Münster Anabaptists, allegedly communists. That lying story of that injured people ... the Anabaptists of Münster. ,Who writes the histories of the Anabaptists but their enemies?1" (S. 96). Und schließlich habe die Zeitschrift der Levellers „The Moderate" - im Gegensatz zu Lilburne - ständig die Notwendigkeit einer Agrarreform betont und das DiggerManifest „The True Levellers Standard Advanced" ohne abwertenden Kommentar abgedruckt. Der „Moderate" sei auch konsistenter für religiöse Toleranz eingetreten und habe in der Wahlrechtsfrage eine radikalere Position bezogen als der „konstitutionelle" Flügel: „on both these issues the official Leveller leaders were ready on occasion to compromise" (S. 96). Schließlich forderten, so Hill, die Levellers erst 1653 ernsthaft die Abschaffung der „base tenures", nachdem sie in den Untergrund gegangen und ihre „konstitutionellen" Führer aus der Bewegung ausgeschieden waren (S. 97). Diese Indizien stützen nach Hill die These des sowjetischen Historikers Barg, „that the Diggers on St. George's Hill were only the visible tip of the iceberg of True Levellerism, that Winstanley spoke for those who the »constitutional4 Levellers would have disfranchised - servants, labourers, paupers, the economically unfree" (S. 97). Gleichzeitig erkläre diese These auch, weswegen es Cromwell 1649 relativ einfach gelang, die Leveller-Bewegung als politische Kraft auszuschalten. Lilburne und seine Anhänger unterschieden sich nämlich nur graduell von den „Independent Grandees", da sie wie diese von der Unveränderlichkeit der bestehenden Eigentumsbeziehungen ausgegangen seien: Macphersons Analyse habe überdies gezeigt, daß die Levellers der politischen Theorie Lockes den Weg bahnten. „The Grandees stole the Levellers republican clothes in the early months of 1649, and the constitutional Levellers had no basis on which to appeal to the peasant majority of the population" (S. 98). Die Ignorierung der Interessen der armen Landbevölkerung mache zugleich die Bereitschaft verständlich, mit der Lilburne, Sexby und Wildman mit den Royalisten gegen die Republik Cromwells konspirierten: Ihr Verhalten stehe in einem charakteristischen Kontrast zu dem der Diggers. „The True Levellers remained convinced and consistent republicans, since monarchy for them was merely the chief captain of the army of landlordism: the Commonwealth was the lesser evil, offering some hope of further advance in a radical direction" (S. 96 f.). So plausibel die Barg-Hill-These auf den ersten Blick auch ist: bei genauerer Betrachtung läßt sie doch eine Reihe von Fragen offen. Zunächst ist gegen sie einzuwenden, daß Hills Behauptung, die „konstitutionellen" Levellers hätten wie die Independenten die bestehenden Eigentumsverhältnisse akzeptiert, so nicht aufrechterhalten werden kann. Wie oft gezeigt worden ist, traten sie gegen die großen
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Monopole im Interesse einer breiten Streuung der privaten Verfügung über die Produktions- und Arbeitsmittel auf. Jedenfalls hatten Ireton und Cromwell während der Putney-Debatte deutlich herausgestellt, daß sie unter Privateigentum etwas anderes verstanden als die Levellers, die mit einem Eigentumsbegriff operierten, der sich durch eine wesentliche Dimension von der Lockeschen Doktrin unterschied: sie meinten „self-propriety", das zwar Privateigentum ist, aber dennoch nicht mit dem kapitalistisch fungierenden Eigentum in Sinne Lockes gleichgesetzt werden kann. Aber auch Hills Einschätzung des Verhältnisses der Levellers zu den Diggers ist nicht unproblematisch. Zwar erscheint es sinnvoll, innerhalb der Leveller-Bewegung von einem ,/echten" und „linken" Flügel auszugehen, wie die unterschiedliche Akzentuierung in der Behandlung der Wahlrechtsfrage, die kontroverse Einschätzung der „Magna Carta" als legitimatorische Grundlage politischer Forderungen und wohl auch die nicht einheitliche Sicht der Dringlichkeit der Agrarreform zeigt. Doch spricht wenig dafür, daß die Linke um Walwyn und Overton für den Agrarkommunismus Winstanleys eingetreten wäre. Zunächst ist charakteristisch, daß nicht nur Overton, wie Hill behauptet, sondern auch Lilburne, also der Exponent des rechten Flügels, 1648 in seiner Schrift „A Declaration of some Proceedings" zustimmend ein Leveller-Pamphlet abdruckte, in dem die Rückgabe der Allmende an die Armen verlangt wird 4 5 : Diese Forderung ist also nicht einseitig den linken Levellers zuzuordnen. Außerdem bedeutet Overtons und Walwyns Inschutznahme der Anabaptisten von Münster gegenüber allzu durchsichtigen Diffamierungen keineswegs automatisch, daß sie mit deren kommunistischen Experimenten sympathisiert hätten: Der Kontext ihrer Äußerungen deutet vielmehr darauf hin, daß es ihnen um den eigenen und den Schutz der in den Sekten organisierten Minoritäten ging, die von den Herrschenden als Nachfahren der Wiedertäufer von Münster stigmatisiert wurden. 46 Ferner kann mit der Barg-Hill-These nicht erklärt werden, weswegen sich Lilburne zwar dezidiert von Winstanley distanzierte, sich aber stets solidarisch vor Walwyn stellte: wenn dieser in der Eigentumsfrage einen prinzipiell anderen Ansatz als Lilburne vertrat, spricht alles dafür, daß er ihn nicht weniger scharf attakkiert hätte als Winstanley. Aber das Gegenteil ist der Fall. Als 1648 kurz vor der Hinrichtung des Königs ein Treffen zwischen Vertretern der Levellers und Anhängern Comwells vorbereitet wurde, lehnte der Independent Price eine Teilnahme ab, solange Walwyn in die Diskussion einbezogen sei. Die Antwort Lilburnes war charakteristisch genug: „Unto which I replied, Mr. Walwyn had more honesty and integrity in his little finger than John Price had in all his body". 47 Diese eindeutige Parteinahme Lilburnes für Walwyn kann kaum als Beleg dafür gewertet werden, 45 Lilburne 1964, S. 313: „... that some good improvement may be made of waste grounds for their (der Armen, R. S.) use .. 46 Vgl. hierzu Walwyn 1964, S. 374. 47 Lilburne 1965, S. 343.
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daß er die Kritik, Walwyn sei Kommunist, teilte; plausibler erscheint es vielmehr, daß die Independenten in ihrer Polemik „Walwyns-Wiles" darauf abzielten, die Levellers zu spalten, indem sie Lilburne und Prince, obwohl in ihrer Sicht fehlgeleitet, immerhin subjektiv Patriotismus bescheinigen, während sie Walwyn mit den True-Levellers gleichsetzten. Für Lilburne bestand in der Tat nicht der geringste Grund, sich von diesem Manöver täuschen zu lassen. Sowohl Overton als auch Walwyn unterzeichneten alle „Agreements" und Petitionen, in denen die Unverletzlichkeit des Privateigentums festgeschrieben wurde. Darüber hinaus begründete Overton das andere von einer Sache ausschließende „Mein" und „Dein" mit naturrechtlichen Argumenten. Auch von Walwyn ist nicht bekannt, daß er jemals für die Einführung kollektiver Eigentumsformen optiert hätte. Zwar forderte er stets von der Regierung, „to provide that those who refuse not labour should eat comfortably". 48 Der Vorwurf aber, so wies er seine Kritiker zurück, er strebe ein „turning the world upside down" an, treffe ihn nicht: „it's not a work I ever intended, as all my actions, and the Agreement of the People do sufficiently evince and doth indeed so fully answer all your remaining rembling scandals, that I shall prey the courtous Reader hereof to read it, and apply it, and then shall not doubt my full and clear vindication: so far as that is, am I for plucking up all the pales and hedges in the Nation; so far, for all things common". 49 Das 3. Agreement of the People vom 1. Mai 1649 aber, auf das sich Walwyn bezieht, schreibt kategorisch vor, „That it shall not be in the power of any Representative, in any wise, to render up, or give, or take any part of this agreement, nor level mens Estates, destroy Propriety, or make all things Common". 50 Tatsächlich steht dieses Verdikt, dem auch Overton und Walwyn zustimmten, im scharfen Gegensatz zu den Vorstellungen einer Neuordnung der Eigentumsverhältnisse, wie sie von Winstanley und den Diggers angestrebt wurden. Zwar kritisierte Winstanley ebenso wie die Levellers das bestehende soziale und politische System als Ausdruck des „Norman Yorke"; auch verbinden beide Gruppierungen mit der Ablehnung des Zehnten einen militanten Antiklerikalismus; einig sind sie sich gleichfalls in ihren Aversionen gegen die Praktiken der Juristen, die sich auf Kosten der Armen bereichern. Doch schon mit der Interpretation des Naturrechts beginnen entscheidende Differenzen. Die Levellers vertraten, wie wir sahen, eine stark individualistisch akzentuierte Variante: ihnen zufolge handelt jemand, der sich selbst zerstört, „contrary to the law of Nature, which teacheth a man to preserve, but not to destroy himself' 51 : Diese Identität aber, die es als höchstes Gut zu bewahren gilt, wird durch das „self-property" definiert, das als Eigentum an der eigenen Arbeitskraft sich nur entfalten kann durch individuellen Besitz, der andere von einer Sache ausschließt. 48 Walwyn 1964, S. 348. 49 Ebd. 50 The (third and final) Agreement, in: Aylmer 1975, S. 167. 51 Lilburne 1645, S. 7.
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Gerrard Winstanley dagegen unterscheidet in seiner Untersuchung 52 klar zwischen „common preservation" und der „seif preservation". Die „common preservation" stellt für ihn die Wurzel des gerechten Magistrats und des „Law of Rightousness and Peace" dar; als die fundamentale Norm jeder gerechten Regierung ist dieses „Original Law" „written in the heart of every man, to be his guide and leader; so that if an Officer be blinded by covetousness and pride, and that ignorance rule in him, yet an inferiour man may tell him, where he goes astray..." (S. 84). Demgegenüber impliziert für sie die Orientierung an dem, was in der Reihenfolge natürlicher Rechte bei den Levellers ganz oben angesiedelt ist, nämlich self-preservation, die Ursache aller ungerechten Herrschaftsverhältnisse auf der Welt: sie dominiert dann, „when particular Officers seek their own Preservation, Ease, Honor, Riches, and Freedom in the Earth, and do respect persons that are in Power and Riches with them, and regard not the Peace, Freedom, and Preservation of the weak and foolish among Brethren" (S. 84). Dies vorausgesetzt, verwundert es nicht, daß die Diggers definitiv über die besitzindividualistischen Rahmenbedingungen des politischen Selbstverständnisses der Leveller hinausgehen: ihr Leitbild ist der ursprüngliche Zustand der Erde, den, wie sie meinen, „the great Creator, Reason" dazu bestimmt habe, „to be a common treasury, to preserve beasts, birds, fishes, and men the lord that was to govern his creation". 53 Zwar sei den Menschen die Herrschaft über alle Geschöpfe anvertraut worden. „But not one word was spoken in the beginning, that one branch of mankind should rule over another". 54 Dieser Zustand der Harmonie und Herrschaftslosigkeit währte so lange, wie die Postulate der Vernunft, in der Welt „a common treasury of relief for all, both beasts and men" zu sehen, befolgt wurden. In dem Augenblick aber, wo durch Hecken und Einhegungen die Allgemeinheit von der Nutzung einer bestimmten Bodenfläche ausgeschlossen wurde, warfen sich die Grundbesitzer zu „teachers and rulers" auf, „and the others were made servants and slaves".55 Die depravierenden Folgen des so entstandenen Privateigentums waren für die Diggers selbstevident: „And that this civil propriety is the curse, is manifest thus. Those that buy and sell land and are landlords, have got it either by oppression, or murder or theft .. .". 5 6 Winstanley sah dann auch im „selling and buying" die Wurzel aller sozialen Übel; konsequent lehnte er das Geld als Tauschmittel genauso ab wie den Markt als Medium der Produktion und Distribution. Kauf und Verkauf, so betonte er immer wieder, basierten auf der Ausbeutung der Armen durch die Reichen und habe notwenig Unzufriedenheit und Kriege zur Folge: „...the Nations of the world will never learn to beat their swords into plowshares, and their spears into pruning hooks, and selling be cast out..." (S. 59). 52 Winstanley 1973. 53 The True Levellers' Standard Advanced (1649), in: Woodhouse 1965, S. 379. 54 E b d .
55 Ebd. 56 A. a. O., S. 382.
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Demgegenüber forderten die Levellers einen von Monopolen befreiten Markt: ihr Glaube war, daß durch „buying and selling", sofern es nicht durch äußere Restriktionen behindert wird, sich nicht nur das individuelle, sondern auch das allgemeine Wohl herstellen lasse. Die Diggers postulierten eine tiefgreifende Agrarreform mit Enteignungen an Grund und Boden zugunsten der Allgemeinheit, d. h. der Besitzlosen. Betroffen worden wären „Crown Lands, Bishops Lands, with all Parks, Forests, Chases . . ( S . 205); ferner die gesamte Allmende „and wast lands which are called Commons, because the poor was to have part therein..(S. 105). Zwar lehnten die Diggers die sofortige Überleitung des gesamten Bodens in eine kommunistische Agrarverfassung ab, weil sie Gewalt als Mittel der Transformation nicht akzeptierten und sie stattdessen auf die langfristige Attraktivität ihres Modells für die Armen setzten, die dem alten System auf die Dauer die Arbeitsressourcen entziehen würden. Doch stehen auch so die agrarpolitischen Forderungen, die als Sofortmaßnahmen propagiert wurden, in scharfem Kontrast zu der relativen Konzeptionslosigkeit der Levellers in dieser Frage. Vielleicht läßt sich die Differenz zwischen den Levellers und den Diggers auf die Formel bringen, daß jene den Schwerpunkt ihrer Reformen auf den Distributionsbereich und das politische System, flankiert von sozialpolitischen Maßnahmen, legten, während diese eine kommunistisch organisierte Sphäre der Güterherstellung und -Verteilung forderten. Eben diese Diskrepanz macht, wie es scheint, gleichzeitig das Dilemma der Levellers deutlich: Einerseits gingen sie in ihren Politiken nicht weit genug, um primär die Interessen der großen Masse der besitzlosen Landbevölkerung vertreten zu können. Andererseits gingen sie jedoch mit ihren Forderungen entschieden zu weit, um auf die Dauer das Bündnis mit den Independenten aufrechterhalten zu können. Die Existenz agrarkommunistischer Gruppen wie die der Diggers machte es zudem den Independenten leicht, die Levellers mit ihnen zu identifizieren, obgleich sich selbst deren linker Flügel deutlich von Winstanley und seinen Anhängern unterschied. Der Verlust der Bündnisfähigkeit mit Teilen der revolutionären Oberschicht mußte aber für die Niederlage der Leveller-Bewegung als ebenso konstitutiv angesehen werden wie die nur begrenzten Identifikationsmöglichkeiten der ländlichen und Urbanen Besitzlosen mit ihrem Programm. Wie H. G. Koenigsberger am Beispiel der revolutionären Bewegung im 16. Jahrhundert aufgezeigt hat, besaßen diese Erfolgschancen nur, wenn sie, wie die französischen Hugenotten oder die Seegeusen in den Niederlanden, Mitglieder aller Gesellschaftsschichten umfaßten, „from artisans and fishermen to knights of the Order of the Golden Fleece and French princes of the blood". 57 Entscheidend war, daß sie sich in ihren finanziellen und militärischen Ressourcen, in ihrem Organisationstalent und politischen Führungsqualitäten mit ihren Gegnern messen konnten. Diese Bedingungen waren bis zum endgültigen Sieg über den König in der Englischen Revolution durch das Bündnis zwischen Independenten und Levellers ge57 Koenigsberger 1971a, S. 223.
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geben; sie entfielen jedoch für die letzteren, als die Koalition mit Cromwell zerbrach und es diesem gelang, die vollständige Kontrolle über die Armee wiederzuerlangen. Spätestens in diesem Augenblick hörten die Levellers auf, eine politische Kraft zu sein, die dem neuen Regime das Gesetz des Handelns hätte vorschreiben können. Umgekehrt entzog Cromwell freilich durch den Bruch mit der Linken seiner Regierung die Unterstützung, die er zur Durchführung seiner Reformpolitik so dringend benötigte. Am Ende, so stellt Christopher Hill fest, ruhte das Protektorat auf den Bajonetten der Armee, „and not much eise". 58
58 Hill 1966, S. 137.
Probleme der Sozialgeschichte der amerikanischen Revolution Wer sich einen Überblick über die neuere Historiographie zur amerikanischen Revolution verschafft hat, wird zweifellos einen ihrer zentralen Aspekte in der Frage nach der Rolle der Ideen im Konstitutionsprozeß der USA lokalisieren. Die Kritik, die in diesem Zusammenhang an der „progressiven Schule" von den Vertretern der „revisionistischen" 1 Geschichtsschreibung geübt wurde, ist oft dargestellt worden und soll hier nicht wiederholt werden2. Nur so viel sei angemerkt: Gingen die „progressiven" Historiker davon aus, daß Klassenantagonismen das eigentliche movens der amerikanischen Revolution waren und Ideen lediglich eingesetzt wurden, um sozioökonomische Interessen zu „rationalisieren" und politisch wirksamer durchzusetzen, so betont die in den 50er Jahren entstandene „revisionistische" Historiographie, den verfassungsrechtlichen Ideen komme per se eine tragende Rolle bei der Loslösung der Kolonien vom Mutterland zu. Noch jüngst geht Pauline Maier 3 in ihrer Untersuchung der revolutionären Transformation der Kolonien von der Prämisse aus, daß die Verfassungsinterpretation der „Real Whigs" konstitutiv für das Begreifen der Revolution sei. Politische Praxis der amerikanischen Revolutionäre, so könnte man Maiers These zusammenfassen, war das Handeln von Individuen, die, beinahe widerwillig, lediglich ausführten, was sie im Einklang mit obersten verfassungsrechtlichen Prämissen als notwendig und richtig erkannt hatten. In analoger Weise charakterisiert sie die Massenaktionen während der Krise. Auch deren Dynamik wurde, so Maier, kanalisiert durch die Orientierung an konstitutionellen Prinzipien. Von der in den Kolonien traditionellen Zielsetzung kollektiver Gewalt, weniger das Gesetz zu brechen als Versagen und Mängel der Exekutive durch direktes Eingreifen zu korrigieren, sei - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in der Auseinandersetzung mit England nicht abgewichen worden 4. 1 Der Terminus „revisionistisch" ist hier selbstverständlich nicht in dem von Eduard Bernstein geprägten Sinn zu verstehen; vielmehr bezieht er sich auf die Revision des Geschichtsbildes der amerikanischen Revolution, wie sie Anfang der 50er Jahre gegen die sog. „Progressiven Historiker" eingeleitet wurde. Zu deren wichtigsten Untersuchungen die in der Zeit von 1909-1926 publiziert wurden, gehören: Beard 1965; Becker 1968; Schlesinger 1968; Jameson 1969. Wichtige „revisionistische" Arbeiten der 50er Jahre sind: Brown 1955; Hammond 1957; Brown 1958; McDonald 1958; Boorstin 1953; Boorstin 1958. 2 Eine gute Zusammenfassung dieser Problematik findet sich bei Green 1962, S. 235259. 3 Maier 1972. 4
126.
Zur Rolle der Massen in der amerikanischen Revolution vgl. in diesem Band S. 113 —
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I. Die Krise des Legitimitätsglaubens Folgt man der orthodoxen „revisionistischen" Interpretation, so wird man vergebens nach jenem Zustand intellektueller Entfremdung von den existierenden politischen und sozialen Institutionen suchen, der für eine vorrevolutionäre Situation charakteristisch ist 5 . Gerade ihre Betonung der rationalen, d. h. verfassungsrechtlichen Aspekte radikalen Denkens läßt vermuten, daß die konventionellen Kategorien und Erklärungen zur Rationalisierung gesellschaftlicher und politischer Erfahrungen durchaus ausreichten. Wenn es nach der Interpretation der „Revisionisten" eine Legitimitätskrise des politischen und gesellschaftlichen Herrschaftssystems gab, dann nicht so sehr, weil die Gründe der Legitimität 6 , wie Max Weber es einmal formulierte, nicht mehr eingesehen wurden, sondern weil das britische Parlament den verfassungsrechtlichen Status quo veränderte; die radikale Fraktion der Kolonisten versuchte lediglich reaktiv, die Rechte zu behaupten, die ihnen die britische Verfassung garantierte. Allerdings wurde diese Deutung bereits 1965 durch Bernard Bailyn 1 um eine entscheidende Nuance modifiziert. Auf den ersten Blick scheint sich Bailyns Studie ganz dem „revisionistischen" Interpretationsrahmen einzufügen. Das Studium der revolutionären Pamphlete habe seine ziemlich altmodische These, daß die amerikanische Revolution vor allem ein ideologisch-konstitutioneller Kampf gewesen sei, bestätigt (S. VIII). Daß sie in dieser Perspektive „to a remarkable extent an affair of the mind" (S. 17) war, reflektiere sich in der didaktischen, rationalen und systematischen Anlage der besten Pamphlete. Diesen Feststellungen kontrastiert nun aber das interpretatorische Vorgehen Bailyns 8 . Im Unterschied zu den meisten Autoren der „revisionistischen" Schule, für die Ideen bzw. verfassungsrechtliche Argumentationszusammenhänge per se Indikatoren für individuelle, in sich konsistente Motive revolutionären Handelns darstellen, versucht Bailyn die Revolutionsliteratur von „innen" her zu interpretieren, um so die Prämissen und Überzeugungen zu begreifen, die sich hinter den manifesten Ereignissen jener Zeit verbergen (S. VII). Von dem Ergebnis dieses Vorgehens wurde der Autor selber überrascht: „Study of the pamphlets appeared to lead back 5 Ein Symptom dieser Situation sieht Crane Brinton „in the desertion of the intellectuals". Vgl. hierzu Brinton 1965, S. 39-49. Allerdings hat Barrington Moore neuerdings zu Recht darauf hingewiesen, daß dieser Terminus genau so wie der Begriff „relative Depravation" zu eng ist, um den hier gemeinten Sachverhalt zu fassen. Es handelt sich um den Verfall von Legitimität im Sinne Max Webers, der dann vorhegt, wenn „the whole intellectual and emotional structure that makes the prevailing order seem a mixture of the natural, the legitimate, and the inevitable - even to those who derive minimal benefits from that order - begins to crumble in the face of embarassing questions for which the prevailing orthodoxies gradually cease to have answers that appear satisfactory" (Moore 1973, S. 171). 6 Weber 1968, S. 151. 7
Bailyn 1965. Diese Einleitung erschien überarbeitet als selbständiges Buch: Bailyn 1972. 8 Auf diesen Zusammenhang hat zuerst Gordon S. Wood hingewiesen: Wood 1966, S. 3 32.
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into the inpredictable reality of the Revolution, and posed a variety of new problems of Interpretation" (S. VIII). Diese von Bailyn aufgedeckte Unpredictable reality of the Revolution" markiert, wie Gordon S. Wood bemerkt, gleichsam den Schritt über die orthodoxe „revisionistische" Historiographie hinaus. Indem nämlich Bailyn die in den Pamphleten artikulierten Ängste und Hysterien in seine Analyse mit einbezieht, die sich in der immer wieder geäußerten Furcht vor einer „Verschwörung" gegen die Freiheit in der englischsprechenden Welt reflektierten (S. IX), verlieren die Ideen als das dynamische Moment jener Realität ihren statischen Charakter. Sie sind nicht mehr der vordergründige Ausdruck individueller Absichten, sondern implizieren eine Eigengesetzlichkeit, die sich jeder Kontrolle entzieht. „The originality of these discussions of the nature of government and the uses of power was self-intensifying. Thinkers at each stage, impelled by a spirit at once quizzically pragmatic and loftily idealistic, built upon the conclusions of their predecessors and grasped implications only vaguely sensed before. The movement of thought was rapid, irreversible, and irresistible. It swept past boundaries few had set out to cross, into regions few had wished to enter. - How infectious this spirit of pragmatic idealism was, how powerful - and dangerous - the intellectual dynamism within it, and how difficult it was to plot in advance the direction of its spread, had become clear well before Independence. Institutions were brought into question and condemned that appeared to have little if any direct bearing on the immediate issues of the Anglo-American struggle. New, and difficult, problems, beyond the range of any yet considered, unexpectedly appeared" (S. 140). Mit anderen Worten: Die Träger der revolutionären Argumentation verlieren in der Darstellung Bailyns die aktive Rolle, die ihnen die „revisionistische" Literatur zugedacht hatte; sie reagieren hilflos auf die anonyme Gewalt von Ideen, deren Struktur und Richtung sie nicht voll durchschauen können: „Words and concepts had been reshaped in the colonists' minds in the course of a decade of pounding controversy - strangely reshaped, turned in unfamiliar directions, toward conclusions they could not themselves clearly perceive. They found a new world of political thought as they struggled to work out the implications of their beliefs in the years before Independence. It was a world not easily possessed; often they withdrew in some confusion to more familiar ground. But they touched its boundaries, and, at certain points, probed its interior" (S. 90). Bailyn zufolge wurde die Ratlosigkeit der revolutionären Wortführer gerade in der unmittelbar auf entscheidende Verfassungsfragen zentrierten Auseinandersetzung manifest: „where the possibility of standing fast did not remain; where the ultimate resolution of thought could not easily be seen; where the familiar meaning of ideas and words faded away into confusion, and leaders felt themselves peering into a haze, seeking to bring shifting conceptions somehow into focus" (S. 169). Für Gordon S. Wood 9 ist mit dieser von Bailyn entwickelten Interpretation der Rolle der Ideen in der amerikanischen Revolution eine Perspektive aufgezeigt wor9
Ebd. Dieser Aufsatz ist neuerdings erschienen in: Kaplan 1973, S. 113-148.
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den, die aus dem Dilemma herausführen könne, in das die Diskussion des Unabhängigkeitskrieges geraten sei. Indem sich nämlich sowohl die „revisionistischen" als auch die „progressiven" Historiker ausschließlich auf die Motive der Akteure konzentrierten, hätten sie lediglich die polemische Konfrontation zwischen den Radikalen und Loyalisten reproduziert. Eine intellektuell befriedigende Erklärung der Revolution müsse aber beide Positionen umfassen. Sei dies nicht der Fall, so laufe alles auf die Option für eine der beiden Bürgerkriegsparteien hinaus, ohne das geringste über die Ursachen des Geschehens auszumachen. Auch wenn die Bedeutung der Motive für die historischen Prozesse nicht in Frage gestellt werden sollen, seien die Absichten und Ziele der agierenden Personen während der Krise so zahlreich und widersprüchlich gewesen, daß ihre komplexen Interaktionen Resultate hervorbrachten, die niemand intendierte und vorhersehen konnte. Wolle man dieser Tatsache Rechnung tragen, müsse zu den „underlying determinants" und den „impersonal and inexorable forces" vorgedrungen werden (S. 16). - Dadurch, daß Bailyn die „revisionistische" Position gleichsam bis zu ihrer äußersten Konsequenz entwickelte, habe er, so Wood, eben dieses Postulat bereits teilweise verwirklicht. Ausgehend von der Erforschung der Motive, wie sie in den revolutionären Pamphleten artikuliert wurden, demonstriere er in Wirklichkeit deren Ohnmacht: als entscheidendes Resultat erweise sich nämlich die Autonomie der Ideen. Indem so die bewußten, rationalen Motive nur noch eine sekundäre Rolle spielen, kehre Bailyn zu einem Determinismus zurück, der freilich nicht wie bei den „progressiven" Historikern behavioristisch eingefarbt sei, sondern die letzte Steigerung einer idealistischen Interpretation des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges darstelle. Entscheidend sei nun aber, daß mit der Vollendung dieses Ansatzes zugleich dessen idealistische Struktur gesprengt werde. Denn der Dynamismus und Emotionalismus revolutionären Denkens, den Bailyn enthülle, provoziere die Frage nach den Bedingungen seiner Möglichkeit. Namier habe zu Recht darauf hingewiesen, daß im England des 18. Jahrhunderts den Ideen fürs politische Handeln nur geringe Bedeutung zukomme. 10 Zur selben Zeit erreichten sie, wie Bailyn nachweise, in den Kolonien eine Wirksamkeit wie nie zuvor (S. 22). Worin liegt die Ursache für diese Differenz? Eine befriedigende Antwort hierauf sei nur möglich, wenn die Funktion der Ideen, die Welt zu interpretieren und wahrzunehmen, ernst genommen werde. „Since ideas and beliefs are ways of perceiving and explaining the world, the nature of the ideas expressed is determined as much by the character of the world being confronted as by the internal development of inherited and borrowed conceptions" (S. 24). Dies vorausgesetzt, könne gesagt werden, daß aus einer relativ konsolidierten Sozialstruktur auch keine Fragen resultierten, von deren Beantwortung die Individuen in ihrem Selbstverständnis tangiert wären: Ideen würden dann in der Tat zu bloßen routinisierten Rationalisierungsmechanismen, zu stereotypen Reflexen, wie Namier sie unter den Bedingungen eines relativ konsolidierten Status quo der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts analysiert habe. Demgegenüber komme ihnen eine ganz andere Bedeutung zu in einer soziaio Vgl. hierzu Namier 1961, S. 16; Namier 1965, S. 5 - 6 .
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len Umwelt, deren Strukturen sich im zunehmenden Maße von den in ihr lebenden Individuen entfremden. Es ist dann die Situation gegeben, „where the questions come faster than men's answers, that ideas become truly vital and creative" (S. 24). Daß die von Wood konstatierte „Erschütterung des Legitimitätsglaubens" (Max Weber) nicht ausschließlich den Herrschaftsanspruch des britischen Mutterlandes, sondern auch die internen Machtstrukturen berührte, machte bereits die Studie von Charles S. Sydnor 11 am Beispiel Virginias deutlich. Seiner Untersuchung kommt im Kontext unserer Problemstellung insofern große Bedeutung zu, als die Kolonien des Südens über besonders stabile interne Machtstrukturen verfügten. Waren beispielsweise Maryland und Virginia an den sozialen Konflikten des 17. Jahrhunderts noch aktiv beteiligt, so erschienen die weißen Bevölkerungsgruppen um 1750 in ihrem politischen Verhalten außerordentlich homogenisiert: wie Richard Hofstadter 12 vermutet, trug die Furcht vor möglichen Sklavenaufständen erheblich zur Absorption gesellschaftlicher Konfliktenergie bei. Angesichts der daraus folgenden sozialen „Befriedung" der weißen Bevölkerung sind die Probleme, die Sydnor aufwirft, besonders interessant. In welchem Maße, so lautet eine seiner zentralen Fragen, wurde die Herrschaft der kolonialen Eliten am Vorabend der Revolution von den weißen Mittel- und Unterschichten 13 akzeptiert? Zunächst weist Sydnor darauf hin, daß Landbesitz die Voraussetzung für das aktive Wahlrecht war. Wer dieses Kriterium erfüllte, konnte den Nachweis eines »„permanent common interest with, and attachment to the Community4" (S. 41) erbringen. Wenn auch der größte Teil der weißen männlichen Bevölkerung durch die Ausübung des aktiven Wahlrechts in den politischen Staat integriert war - selbst die ausgeschlossenen Gruppen wie Sklavenaufseher, Verwalter, Pächter, Handwerker, Kaufleute und ihre Angestellten etc. hatten die objektive Chance, das Besitzkriterium zu erfüllen - , so wurde dieser selbst jedoch von der agrarischen Elite, den „gentlemen" der Pflanzeraristokratie, repräsentiert. Alle wichtigen Ämter waren praktisch ihnen vorbehalten. Zwar verlangte das Gesetz nicht mehr Eigentum vom Inhaber eines Amtes als vom Wähler, aber Gewohnheit und öffentliche Meinung gaben faktisch nur Mitgliedern der Oberschicht eine Chance, politisch relevante Funktionen auszuüben. Beeindruckend ist in diesem Zusammenhang, in welchem Maße die Gen Sydnor 1965. 12 Hofstadter 1973, S. 119 ff. 13 Wenn im folgenden von „Schichten" die Rede ist, gehe ich aus von dem Begriff „dass", wie die hier besprochenen Autoren ihn verwenden. Die Nachteile dieses Vorgehens liegen auf der Hand. Meint der Marxsche Klassenbegriff ein sozio-ökonomisches Herrschaftsverhältnis in seinem historischen Kontext, so ist „dass" eine deskriptive Kategorie die sich an statischen Kriterien wie Einkommenshöhe, Berufsqualifikation etc. orientiert; zur begrifflichen Durchdringung neuer sozialer Herrschaftsbeziehungen im Prozeß ihrer Durchsetzung und Konsolidierung erweist sie sich mithin als ungeeignet. Angesichts dieser Mängel kann ich den Rekurs auf den Begriff „Schicht" bzw. „dass" nur dadurch rechtfertigen, daß, soweit ich sehe, eine polit-ökonomische Analyse der Kolonialgesellschaft in der Perspektive der „ursprünglichen Akkumulation" bisher noch nicht vorliegt. Vgl. zu dieser Problematik auch Anm. 23.
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sellschaft Virginias durch ein Patronage-System charakterisiert war, das auf den verschiedensten Ebenen der politischen Willensbildung wirksam wurde. Der politisch ambitionierte „gentleman" besaß in den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten der wahlberechtigten Bürger eine Klientel. Wie er sich einerseits als „Patron" für deren Interessen „verantwortlich" fühlte, so erwartete er umgekehrt von dieser Loyalität bei den Wahlen. Da mündlich gewählt wurde, verfügte er über ein wirksames Kontrollinstrument. Ziehe man die anderen Beeinflussungsmöglichkeiten in Betracht, also die Wahlkampagne sowie die Ausnutzung materieller und psychischer Abhängigkeiten, so wird gesagt werden können, daß die „freie" yeomanry im politischen System lediglich die Funktion hatte, die herrschende Elite akklamativ zu legitimieren. Dennoch bleibt die erstaunliche Tatsache zu erklären, mit welcher Intensität sich die „gentlemen freeholder" um die Stimmen ihrer Wähler bemühten. Offensichtlich wurde die Möglichkeit, bei den Wahlen durchzufallen, von den Kandidaten ernst genommen. Dies war sicherlich teilweise darauf zurückzuführen, daß unter den politisch Aktiven der Aristokratie eine gewisse Konkurrenz, verstärkt durch temporäre Interessenkonflikte, bestand, die ihrerseits eine - wenn auch sehr begrenzte - politische Options- und Kontrollmöglichkeit für die einfachen „freeholder" darstellte. Aber es komme noch eine andere wichtige Komponente hinzu. Wie Sydnor nämlich mit dem Hinweis auf ein 1770 von Robert Munford geschriebenes Stück „The Candidates; or, The Humours of a Virginia Election" 14 dokumentieren kann, scheint sich in den Jahren unmittelbar vor der Revolution das Loyalitätsverhältnis, das die yeomanry mit der Gentry verband, gelockert zu haben. Bemerkenswert ist nämlich, daß die Kandidaten, die sich in diesem Stück um einen Sitz im House of Burgesses bemühen, keineswegs alle das Vertrauen der Gentry genießen. Zumindest zwei von ihnen passen nicht in das Konzept der Aristokratie. Plebejisch orientiert, sind sie „adept in the low arts of winning the Support of ignorant men" (S. 45). Nur mit Mühe können sich am Ende die beiden Kandidaten der Gentry durchsetzen und so die Herrschaft der politisch „Tugendhaften", wie die Aristokratie sie verstand, vor dem Ruin retten. 15 Neuerdings hat Jack P. Green 16 den Versuch unternommen, die wachsende Entfremdung der amerikanischen Kolonien von der englischen Autorität einerseits und - wenn auch in geringerem Maße - der herrschenden kolonialen Eliten von ihrer „Basis", nämlich den Mittel- und Unterschichten, andererseits in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext zu deuten. Er sieht die Ursache der amerikanischen
14 Vgl. hierzu Hubbell/Adair 1948. 15
Daß dem sich so andeutenden Verlust an Herrschaftslegitimität ein gewisses Maß an Desintegration der Oberschicht Virginias entsprach, geht aus deren privaten und öffentlichen Selbstdarstellungen hervor, die von Schlagwörtern wie „corruption", „luxury" und „virtue" beherrscht waren. Vgl. hierzu Wood 1966, S. 28 f. und die dort aufgeführten Literaturhinweise. 16 Green 1970, S. 189-220.
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Identitätskrise, die ihm zufolge nicht auf das politische System zu beschränken ist, darin, daß „two externally derived, overlapping, and occasionally conflicting social models", die die Kolonisten „with ,common images of good and evil'" ausstatteten und so als Folie dienten, auf der gut und böse, Erfolg und Niederlage gemessen wurden (S. 191), einer sich verändernden sozialen Realität nicht mehr Rechnung trugen. Gleichzeitig, so Green, hinderten sie die amerikanischen Kolonisten daran, ein mit ihrer gesellschaftlichen Praxis übereinstimmendes Wertesystem zu entwikkeln. Das erste dieser Modelle muß Green zufolge als eine idealisierte Konzeption des Charakters und der Leistungen der verschiedenen Kolonien in ihrer Gründerzeit angesehen werden. Akzeptierten im Rahmen der frühen „economy of scarcity" die mittleren und unteren Schichten „their »subordination and the obligation to cultivate the qualities appropriate to 4 their »subordination, such as submissiveness, obedience, and deference'" (S. 198), so wurde dieser „Tugendkatalog" angesichts einer gesellschaftlichen Realität mehr und mehr anachronistisch, die durch rasche ökonomische und demographische Expansion charakterisiert war: die mit der frühen Marktgesellschaft gegebene dramatische Ausweitung ökonomischer Möglichkeiten und individueller Aufstiegschancen auch der Mittel- und Unterschichten stellte die statische Struktur der frühen Kolonialgesellschaft und deren Legitimationssystem zunehmend in Frage 17: entsprechend wurde insbesondere von den Oberschichten die jetzt gesamtgesellschaftlich wirksame „uncertainty and impermanence of social status, the blurring of traditional social gradations and lines of social and political authority, defiance of established social and political institutions, and the sacrifice of concern for the public good to the unrestrained pursuit of individual wealth and ambition" (S. 197) „as evidence of a dramatic fall from the high standards set by the early founders and as the certain harbinger that society itself was on the verge of dissolution, about to ,tail (off) into a State of Anarchy and Confusion 4" (S. 198) interpretiert. Das zweite Modell, das das Wertesystem der Kolonisten entscheidend bestimmte, war Green zufolge eine idealisierte Version englischer Gesellschaft und Kultur. Initiiert und kultiviert wurden britische Institutionen und Verhaltensweisen insbesondere von den kolonialen Eliten, die angesichts der desintegrierenden Wirkung der frühen Marktgesellschaft dringend eines Ordnungsprinzips bedurften; einerseits zur Homogenisierung ihrer eigenen Schicht, andererseits zur Aufrechterhaltung ihres gesellschaftlichen und politischen Herrschaftsanspruches gegenüber den „middle and lower orders". Diese Funktion konnte nur ein System von Normen erfüllen, das sich auf die Annahme gründete, „that society was an organic unit which was distinct from and greater than the sum of the individuals who composed it and that individual considerations always had to give way before the interests of the society as a whole. It placed great stress upon reinforcing the authority of traditional social institutions such as the family, church, and community - all of
n Freilich sind andererseits gleichzeitig, besonders in den großen Städten, Verhärtungen der sozialen Gegensätze festzustellen. Vgl. zu dieser Problematik Anm. 20.
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which seemed to have lost much of their vigor as agencies of social control in the new world - and it looked forward to the achievement of a cohesive and coherent social order in which each man would move contentedly in his proper sphere, social distinction would be visible and respected, the social functions assigned to each group diligently and faithfully performed, the individual values of thrift, diligence in callings, humility, moderation, and deference adhered to by all men, and a devotion to the public welfare substituted for the almost universal concern for self that seemed to be the single most manifest characteristic of the colonial personality" (S. 211 f.). Entscheidend ist nun aber Greens Beobachtung, daß die „virtues of the founders" ebenso wie die „ancient British virtues" ihr Ziel nicht realisieren konnten, nämlich eine Art sozialer Kontrolle über die chaotischen und offensichtlich nicht beeinflußbaren sozialen Prozesse auszuüben (S. 218). Freilich ist Greens These, daß die amerikanische Identitätskrise vor Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges aus dem Widerspruch zwischen den normativen Ansprüchen der statisch-hierarchischen Gesellschaftsformation der Gründerzeit und einer zunehmend dynamisch-besitzindividualistischen Praxis andererseits resultiert, primär auf das Selbstverständnis der kolonialen Eliten selber bezogen: ob die eigentlichen Unterschichten, die, wie Eric Foner es formulierte, den „periodic depressions of the revolutionary period" 18 hilflos ausgeliefert waren, diese Identitätskrise in derselben Weise sahen, erscheint mehr als zweifelhaft. Im übrigen ist Greens These nur plausibel, wenn sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Tat eine sozio-ökonomische Transformation der Kolonien von der Subsistenzwirtschaft der Gründerzeit zu einer expandierenden, am Rentabilitätsgesichtspunkten orientierten Marktwirtschaft auf agrarkapitalistischer Basis ausmachen läßt. Eben diesen Trend hat die bisher fundierteste empirische Arbeit über die Sozialstruktur des revolutionären Amerikas im großen und ganzen bestätigt. Als Indikator dieser Entwicklung nennt Jackson Turner Main 1 9 die zunehmende soziale Ungleichheit am Vorabend der Revolution, deren entscheidende Ursache die wachsende Kommerzialisierung des Landes gewesen sei, die mehr und mehr den an der Eigenversorgung orientierten Farmbetrieb einer früheren Periode verdrängte. Da sowohl die kapitalisierten Agrargebiete als auch die Städte expandierende und durch größere soziale Unterschiede charakterisierte Sektoren der Gesellschaft waren, müsse davon ausgegangen werden, daß die Oberschichten relativ reicher und der Rest der Bevölkerung relativ ärmer wurde. Signifikant ist aber in unserem Zusammenhang, daß trotz dieser sich abzeichnenden Polarisierung bedeutende Teile der weißen Bevölkerung in den Mittelschichten an dem größeren Reichtum der Gesellschaft partizipierten 20: sich individuell zu bereichern, war mithin nicht is Foner 1973, S. 37. 19 Main 1965. 20 Aus Mains empirischer Studie lassen sich bei der Bestimmung des sozio-ökonomischen Entwicklungstrends der Kolonien am Vorabend der Revolution genau genommen zwei Hypothesen ableiten, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Wenn Main einerseits spekulativ eine „long-term tendency ... toward greater inequality, with more marked
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nur das Privileg der Eliten im engeren Sinne, sondern beeinflußte als ökonomischer Imperativ im zunehmenden Maße auch die gesellschaftliche Praxis jener mittelständischen Kleinkapitalisten, die sich aus dem Handwerk oder dem Agrarsektor rekrutierten. Deren besitzindividualistischer Appetit konnte im übrigen um so besser befriedigt werden, ohne in einen offenen Konflikt mit den herrschenden Eliten zu geraten, je mehr es der weißen Gesellschaft als ganzer gelang, das auf Sklaverei und der Institution der „indentured servants" entscheidend mit beruhende ökonomische Ausbeutungssystem zu optimieren. Richard Hofstadter 21 entwickelte die These, daß die objektive Möglichkeit, um 1750 in Amerika leichter Land zu erwerben als anderswo in der Welt, nicht zur Erklärung der individualistischen Bereicherungschancen im Rahmen der kolonialen „Mittelklassengesellschaft" ausreicht. Denn ohne intensive Bearbeitung, so lautet sein Argument, ist das beste Land in seinem Wert minimisiert, und Arbeit war in den Kolonien zu dieser Zeit äußerst knapp. Eben aufgrund dieser Tatsache kommt der Institution der Sklaverei und der vertraglich gebundenen unfreien Arbeit als vorkapitalistische Elemente einer sich zunehmend an kapitalistischen Gesichtspunkten ausrichtenden gesellschaftlichen Reproduktion entscheidende Bedeutung zu. Wie Hofstadter berichtet, erreichte die schwarze Sklaverei in den Kolonien um 1760 ihren Höhepunkt. In den südlichen Kolonien von Maryland bis Georgia lebten über 284 000 Sklaven, während in den Gebieten von Maryland bis New Hampshire 41 000 Afrikaner als Sklaven gehalten wurden. Wenn, wie diese Zahlen andeuten, die Ausbeutung schwarzer Sklaven zusammen mit den unfreien weißen Arbeitern (indentured servants) konstitutiv für das Funktionieren des ökonomischen Systems in den südlichen Kolonien war, so class distinctions" (S. 286) feststellt, ist impliziert, daß sich die Sozialstruktur der Kolonien verhärtet und aus der Abkapselung der Oberschicht eine Zunahme der sozialen Spannungen und Konflikte resultiert. Vgl. hierzu unten Kapitel: Die Spaltung der Gesellschaft, sowie Anm. 23a. Andererseits konzediert Main aber auch, daß an dem aus der Durchsetzung der Marktgesellschaft resultierenden größeren Reichtum der Gesellschaft auch relevante Teile der Mittelschichten, wenn gleich in geringerem Maße als die Eliten, teilhaben. Die damit verbundene Aufwärtsmobilität bedeutender Segmente der Bevölkerung scheint nun gerade das in Frage zu stellen, was die erste Hypothese beinhaltet: nämlich die Verschärfung der sozialen Gegensätze. - Jack. P. Green hat kürzlich darauf hingewiesen, daß beide Hypothesen sich nicht notwendigerweise ausschließen müssen. Er nennt drei Möglichkeiten, die diesen Widerspruch erklären könnten. „First, it is possible that there were significant spatial variations, that there was a tendency toward less coherence in some rapidly developing areas and more rigidity in other older and more stable areas. A less likely possibility is that a generalized long-term linear process was at work with a period of intense social and economic upheaval being followed just before the Revolution by a time of declining opportunity and greater stratification. Finally, it is possible, as P. M. G. Harris has recently suggested, that this process was cyclical, with colonial society becoming more or less flexible according to population change, community growth, institutional development, and various contingency factors, though the cycles may not have been quite so regular as Harris has posited. My own suspicion is that some combination of the first and third possibilités will probably turn out to provide the most plausible resolution to the problem." (Green 1973, S. 10 ff.). 2i Hofstadter 1973.
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scheint dies für die nördlichen Nachbarn nicht zuzutreffen. Aber dieser Eindruck täuscht wahrscheinlich. Ganz abgesehen davon, daß Neu-England v o m Sklavenhandel profitierte und in den sklavenfreien Gebieten wie etwa Pennsylvania vor allem „indentured servants" eingesetzt wurden, waren andererseits, wie Hofstadter betont, die Sklaven als eine billige und qualifizierte Arbeitskraft (als Handwerker etwa) möglicherweise für die Wirtschaft Neu-Englands wichtiger, als ihre kleine Zahl vermuten läßt (S. 103). Kürzlich hat Heide Gerstenberger 22 auf die konstitutive Bedeutung der Institution der Sklaverei und der „indentured servants" für die Herausbildung des Kapitalismus in den Staaten hingewiesen. Die entscheidende Akkumulationsschranke einer selbstversorgenden bäuerlichen Wirtschaft, nämlich das Fehlen einer Lohnarbeiterklasse 23 , konnte Gerstenberger zufolge nur gesprengt werden durch den 22
Gerstenberger 1973. Gerstenberger bestreitet, daß es in den Staaten eine sog. „ursprüngliche Akkumulation" gegeben habe. „Von königlicher Aufsicht durch ein Weltmeer getrennt, stand der Entfaltung bürgerlichen Gewinnstrebens in Nordamerika an Beschränkungen nur eines im Wege: die historisch nicht vollzogene ursprüngliche Akkumulation und die Unmöglichkeit ihrer beschleunigten Durchsetzung" (a. a. O., S. 26 f.). Die entscheidenden Kriterien der ursprünglichen Akkumulation, nämlich „die private (bzw. hilfsweise die öffentliche) Akkumulation von Kapital einerseits, die Trennung eines Teils der arbeitenden Bevölkerung von seinen Produktions- und Existenzmitteln andererseits" (a. a. O., S. 27) seien erst nach dem Sezessionskrieg erfüllt worden. Ich halte den Verzicht auf die Anwendung des Begriffs der ursprünglichen Akkumulation auf die Zeit vor dem 2. Bürgerkrieg für problematisch. Wie nämlich einerseits im Rahmen der Plantagenwirtschaft durchaus auf vorindustrieller Basis Kapital akkumuliert wurde, so kann andererseits kein Zweifel daran bestehen, daß die importierten Sklaven und „indentured servants" in ihren Heimatländern gewaltsam von ihren Produktionsund Existenzmitteln getrennt wurden. Ein anderes Problem ist sicherlich, ob der ursprünglichen Akkumulation notwendig vorkapitalistische Institutionen zum Opfer fallen. Marx hat sich bekanntlich im 24. Kapitel des 1. Bandes des „Kapital" mit der englischen Entwicklung beschäftigt: hier kam es in der Tat im Verlaufe jenes Prozesses zur allmählichen Auflösung der feudalen Sozialstruktur. Ob und in welchem Ausmaß indes von der ursprünglichen Akkumulation partiell vorkapitalistische Institutionen beseitigt werden, ist, wie ich meine, historisch kontingent, weil abhängig von dem konkreten Bedarf an Arbeit, der in dieser Übergangsphase zur Erzeugung des Mehrwerts notwendig ist. So war die englische Agrarwirtschaft vom 16.-18. Jahrhundert vor allem auf Wollproduktion spezialisiert, die ihrerseits die Umwandlung der Felder in Weiden bewirkte. Der mit dieser Veränderung der Produktionsstruktur verbundene Rückgang des Bedarfs an Arbeit hatte mit dem Fortschreiten der Einhegungen des Gemeindelandes die Vertreibung der Bauern und die Zerstörung der Dorfgemeinschaft mit ihren genossenschaftlichen Einrichtungen zur Folge. Demgegenüber stellte sich die Situation in den nordamerikanischen Kolonien bzw. der jungen Republik entgegengesetzt dar: die Plantagenwirtschaft war durch einen gesteigerten Bedarf an Arbeit charakterisiert, der, wie wir wissen, mit dem gewaltsamen Export von Sklaven und „indentured servants" gedeckt wurde. So gesehen, scheint mir in der Perspektive der „ursprünglichen Akkumulation" jener Transformationsprozeß in Nordamerika genau dem zu entsprechen, was Marx in Anlehnung an Adam Smith in diesem Zusammenhang als „ursprünglich" ansah, nämlich „nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise..., sondern ihr Ausgangspunkt" zu sein (Marx 1962, S. 741). Dem korrespondiert, daß die „Sklaverei der Plantagen in den Südstaaten.. .keine ökonomische Fessel des Industriekapitalismus bedeutete. Eher ist das Gegenteil richtig; die Sklaverei förderte das industrielle Wachstum Amerikas in den 23
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Rekurs auf vorkapitalistische Ausbeutungsformen: nicht gegen diese, so lautet ihre zentrale These, sondern mit ihnen verwirklichte sich die bürgerliche Gesellschaft in den USA. Zwar sei die „Sklavenwirtschaft der Plantagen ... nicht selbst schon eine kapitalistische Produktionsweise, aber es ist eine Produktionsweise, welche sich ohne nennenswerte Hindernisse in einen kapitalistischen Entwicklungsprozeß integrieren ließ. Und dieser kapitalistische Kontext der amerikanischen Sklavenwirtschaft verdrängt auch die analytische Relevanz aller etwaigen Übereinstimmungen mit antiken Formen der Sklavenwirtschaft" (S. 73). Daß die Sklaverei, zumal in der frühen Phase der USA, darüber hinaus auch die „Theoriebildung der amerikanischen Gesellschaft von sich selbst" (S. 9) entscheidend mitgeprägt hat, versucht Gerstenberger im letzten Teil ihres Buches anhand einer ideologiekritischen Analyse des „American Dream" nachzuweisen. Zwar sei dessen Kern, das Postulat politisch-ökonomischer Bürgerfreiheit, „das Ergebnis realer Emanzipationserfahrungen", in denen sich „jenes spezifische Mehr an individueller Bürgerfreiheit, welches die Amerikaner den meisten ihrer Zeitgenossen voraus hatten" (S. 188), reflektiere. Auch impliziere die von Jefferson beschworene Einheit von politischer und ökonomischer Freiheit zugleich eine der fundamentalsten „systemimmanenten Verurteilungen des Proletarisierungs- und Industrialisierungsprozesses" (S. 188). Aber diese Vision scheitere an den Widersprüchen und Entwicklungsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Dadurch nämlich, daß „die Verbindung von individueller Bürgerfreiheit und privater Akkumulation" auch „in der jeffersonischen Demokratie nicht aufgelöst wird, bleibt als einzig realer Ausweg aus der Proletarisierung von Bürgern die Fortdauer der Versklavung von Nichtbürgern" (S. 188). Auch wenn sich die von Gerstenberger aufgeworfene Fragestellung im ganzen als wichtig erwiesen hat, so ist trotzdem nicht zu übersehen, daß Sklaverei und Indentur allein zur „Erklärung" der Genese des Kapitalismus in den USA keineswegs ausreichen. Vieles spricht nämlich dagegen, daß sich der industrielle Kapitalismus gleichsam linear aus dem von Gerstenberger beschriebenen sozialen Konglomerat kapitalistischer und vorkapitalistischer Elemente bruchlos entwickelte. So unbestritten es ist, daß die Sklaverei bei der Entstehung des Kapitalismus in den USA eine bedeutende Rolle spielte, so offen bleibt doch die Frage, durch welche anderen Faktoren der Übergang zum Industriekapitalismus bewirkt wurde. Immerhin wissen wir, daß dieser sich erst durchsetzte, nachdem die Sklaverei abgeschafft und ein formal freies Proletariat der soziale Träger des Produktionsprozesses geworden war. Mir scheint, daß hier das eigentliche Problem liegt, das, soweit ich sehe, erst noch Gegenstand fundierter empirischer Untersuchungen werden muß. Auch gelingt es Gerstenberger nur bedingt, den eigenen Anspruch einzulösen, nämlich „die Forschungsrelevanz des klassentheoretischen Ansatzes" (S. 13) am Beispiel der politischen Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft in den USA zu verdeutlichen. Sie selbst stellt die restriktiven Bedingungen ihres UnterAnfangsstadien. Sie war jedoch ein Hindernis für eine politische und soziale Demokratie" (Moore 1969, S. 141).
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fangens fest, wenn sie schreibt: „Auf der allgemeinsten Ebene ihrer Bestimmungen konstituiere sich die bürgerliche Gesellschaft durch die kapitalistische Produktionsweise, also sowohl durch den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital als auch - damit zusammenhängend - durch das Vorherrschen industrieller Produktionsformen. Beide grundlegenden Bedingungen sind in Amerika für das ausgehende 18. Jahrhundert nicht gegeben" (S. 25). Damit ist gleichzeitig konzediert, daß der Begriff der sozialen Klasse, wie Marx ihn unter den Bedingungen des entwickelten industriellen Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte 23a , der sozialen Wirklichkeit Nordamerikas nur punktuell entsprach. Angesichts einer gesellschaftlichen Formation, in der sich das Wertgesetz noch keineswegs in einem Maße durchgesetzt hatte, daß gegenüber dem antagonistischen Auseinandertreten von Kapital und Arbeit als entscheidendes Kriterium der gesellschaftlichen Differenzierung andere Gliederungskategorien tendenziell bedeutungslos geworden wären, verwundert es nicht, daß, wie Verf. selbst betont, „ A d a m Smiths Arbeit ,Wealth of Nations', erschienen im Jahr der Unabhängigkeitserklärung, einen fulminanten Siegeszug antrat in den Staaten. Denn auch Smith legte seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft keine vollentwickelte kapitalistische Produktionsweise zugrunde, sondern er unterstellte weitgehend ökonomisch selbständige Warenproduzenten" (S. 48). Trotz dieser Einschränkungen bleibt jedoch festzuhalten, daß die Untersuchung von Gerstenberger für die polit-ökonomische Analyse der Genese der bürgerlichen Gesellschaft in den USA bedeutende Vorarbeit geleistet hat.
II. Die Spaltung der Gesellschaft Wie wir sahen, ist in der bisher diskutierten Literatur festgestellt worden, daß das gesellschaftliche und politische Herrschaftssystem der Kolonien am Vorabend der Revolution deutlich Symptome dessen aufwies, was Max Weber die „Erschütterung des Legitimitätsglaubens" nannte. Wenn wir ferner einen Zusammenhang vermuten können zwischen dieser Legitimitätskrise und dem in den Kolonien zu beobachtenden Modernisierungstrend, bleibt zu fragen, ob sie zugleich - wie etwa in der Puritanischen oder der Französischen Revolution - eine gesellschaftliche Polarisierung anzeigte, die den Unabhängigkeitskrieg in einen Bürgerkrieg umwandeln sollte. 23a
Marx operiert mit zwei Varianten des Begriffs „Klasse". Im „Kommunistischen Manifest" ist für ihn Geschichte das Produkt von Klassenkämpfen. „Klassen" sind in diesem Kontext also nicht an bestimmte historische Bedingungen gebunden, sondern gelten als gesellschaftliche Gliederungskategorie für die menschliche Geschichte schlechthin. Andererseits relationiert er sie auf das für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive antagonistische Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital im Unterschied zu den mittelalterlichen Ständen. Da es Gerstenberger in ihrer Untersuchung um die Rekonstruktion der polit-ökonomischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft in den USA geht, muß angenommen werden, daß sie von dem modernen Klassenbegriff ausgeht. Zum Marxschen Klassenbegriff vgl. neuerdings die wichtige Arbeit von Mauke 1970.
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Wie sehr diese Problematik von der „revisionistischen" Historiographie unberücksichtigt blieb, dokumentiert sich in den beiden neuesten Arbeiten, die uns in diesem Kontext interessieren: Sowohl Richard D. Brown als auch Mary Beth Norton stellten die Politik der Whigs und Tories in der Perspektive eines inneramerikanischen Konsenses dar, der im Grunde nie von den in der Revolution sich gegenüberstehenden Gruppen gekündigt worden sei. Brown versucht dies anhand der Untersuchung des berühmten „Boston Committee of Correspondence" 23*5 zu zeigen. Seine These ist, daß diese informelle Institution lediglich zu aktualisieren suchte, was an republikanischem Konsens bereits vorhanden war. „The activity of the committee stimulated an increased awareness of. . .shift in contemporary attitudes regarding political roles - a democratization - in which everyone was believed to have an active part in politics, every town and every individual. After six generations Massachusetts was turning away from the traditional ideal of active leader with passive followers toward the radical goal of an alert, actively engaged populace" (S. 246). Als ein katalysatorisch wirkender Faktor unter vielen in einem komplizierten revolutionären Prozeß habe das BCC nach Erfüllung dieser Funktion sich genauso spontan aufgelöst, wie es entstanden war. Daß in der Tat das BCC im „general frame of consensus" agierte, sofern es sich um die Integration whiggistischer Gruppen der verschiedensten couleur handelte, vermag der Verfasser überzeugend zu zeigen. Aber der andere Aspekt seiner Aktivität bleibt für Browns Beurteilung der revolutionären Politik folgenlos: daß nämlich das BCC spätestens seit dem Handelsboykott gegen England die oppositionelle Bewegung spaltete und so die Tories, also die probritischen Gruppen, zwang, sich außerhalb des „american consensus" (Clinton Rossiter) zu stellen. Mary Beth Norton 24 geht in ihrer Analyse der „British Americans", in der sie in faszinierender Weise die Erfahrungen von etwa 7000 Loyalisten im englischen Exil von 1774-1789 beschreibt, noch einen Schritt über Brown hinaus. Blendete dieser nämlich die Tories als einen mehr oder weniger irrelevanten Faktor aus, so bezieht sie die Loyalisten positiv in den inneramerikanischen Konsens mit ein. Ihr zufolge haben die Historiker aufgrund der Tatsache, daß die Revolution erfolgreich war, bisher die falsche Frage gestellt. „Instead of asking, What motivated the rebels? we ask, What motivated the Loyalists?" (S. 8). Der analytische Ausgangspunkt für das Verständnis der Revolution sei nicht so sehr die Opposition gegen das Mutterland, sondern die Gründe, „upon which to base their opposition, the methods they should use to express their displeasure with British policy, and the extent to which they should rely upon extralegal means to make their point... The consensus supporting reform was practically unanimous... They argued over means, not ends, and they did so within a purely imperial framework" (S. 4). Was Revolutionäre und Loyalisten trennte, war die Anwendung neuer Methoden der Opposition und des Protests durch die Radikalen. Erst als dies den Konservativen 23b Brown 1970. 24 Norton 1972.
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und Gemäßigten klar wurde, „they began to dissociate themselves from their former allies" (S. 5). In einem vor kurzem erschienenen Aufsatz 25 ist für Norton denn auch „The American Tory, ... in fact a Whig par excellence: he was a vehement supporter of the settlement resulting from the Glorious Revolution and a fervent admirer of the British Constitution. He was in the mainstream of 18 th century English whiggery: it was the American revolutionaries who, in the imperial world, were the aberrations" (S. 130). Ausgehend von dieser Einschätzung verwundert es nicht, daß sie fortan die amerikanische Revolution nicht mehr als einen Kampf zwischen Whigs und Tories charakterisiert sehen will. Für sie handelte es sich vielmehr um „a contest between different varieties of Whigs, Whigs whose respective world views brought some of them to become revolutionaries and others to become loyalists" (S. 130). Nortons These ist freilich nicht unproblematisch. Selbst wenn man davon ausgeht, die Tories hätten den „underlying consensus" der amerikanischen Politik geteilt, weil auch sie im gemeinsamen Kontext der sich herausbildenden Marktwirtschaft ihre Argumente in Kategorien der entscheidend von Locke geprägten Whig-Ideologie ausdrückten, sind doch abgesehen von der Wahl der Mittel beträchtliche inhaltliche Differenzen nicht zu übersehen. Ist beispielsweise auch Übereinstimmung zwischen der Whig- Elite und den Tories in der Ablehnung fundamentaldemokratischer Tendenzen festzustellen 26, so erscheint es andererseits kaum möglich, einen Autor wie Thomas Paine unter den von Norton inaugurierten Konsens zu subsumieren.27 Zeigen läßt sich dies an seiner Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft 28 und den Folgerungen, die er daraus für das Ausmaß der politischen Partizipation zieht. 29 Zunächst ist wichtig, daß Paine in „Common Sense" Staat und Gesellschaft streng unterscheidet: während nämlich diese auf unseren Bedürfnissen basiere, deren Befriedigung soziale Interaktion erst ermögliche, gehe jener auf unsere Laster zurück. Noch in seiner besten Verfassung ein notwendiges Übel, sei er nur deswegen gegründet worden, weil wir nicht immer unserem Gewissen folgen und zu Eigentumsdelikten neigen. Ausschließlich aus diesem Grunde erkläre sich der Einzelne bereit, „to surrender up a part of his property to furnish means for the protection of the rest". 30 Dieses Motiv determiniert gleichzeitig Zweck und Funktion des Staates: Ohne ein grundsätzliches Recht auf Intervention wird er gegenüber der Gesellschaft als ein auf den „principles of society" gegründetes Steuerungsinstrument begriffen, das von bereits im 25 Norton 1972a, S. 127-148. 26 Vgl. hierzu unten S. 113-126. 27 Auch wenn Paine im politischen Denken der Revolutionszeit sicherlich nur eine Minorität repräsentiert, dürfte sein Einfluß 1776 so beträchtlich gewesen sein, daß er nicht als „untypisch" abgetan werden kann. Auf diesen Zusammenhang verweist neuerdings Lemisch 1968, S. 13 f. 28 Vgl. hierzu Habermas 1971, S. 98 ff. und S. 113 ff. 29
Vgl. hierzu Anm. 34. 30 Paine 1894, S. 96.
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Naturzustand vergesellschafteten Individuen eingesetzt wurde, um reaktiv eventuelle Restkonflikte zu bereinigen. Prinzipiell jedoch ist für Paine die Gesellschaft eine autonome Sphäre, die sich aufgrund der ihr immanenten Gesetze des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit selbst integriert. Demgegenüber gehen die Loyalisten Seabury und Boucher in ihrer Argumentation zunächst zwar auch aus von einer sich selbst überlassenen bürgerlichen Gesellschaft. Aber diese ist in ihrer Sicht durch anarchistische Tendenzen charakterisiert. Da der Kongreß die politische Partizipation des „Mobs" legitimiert, so argumentiert Seabury, wurde die bürgerliche Gesellschaft auf ihren vorstaatlichen Zustand zurückgeführt, der vom „bellum omnium in omnes" beherrscht ist. 31 Seabury geht im Gegensatz zu Paine offenbar von sozialen Konflikten aus, die Klassenkampfcharakter 32 haben und sich mithin nicht gewaltlos über den Markt vermitteln und auflösen lassen. Dies vorausgesetzt, ist es nur konsequent, wenn Boucher das Majoritätsprinzip angreift, das nicht jene homogene staatliche potestas garantiert, die allein die gesellschaftlichen Antagonismen zu bändigen imstande wäre. „Such a system... can produce only perpetual dissensions and contests, and bring back mankind to a supposed State of nature; arming every man's hand, like Ishmael's, against every man, and rendering the world of an aceldama, or field of blood". 33 Paine hatte behauptet: wenn es unlösbare Konflikte im Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit gibt, dann gehen sie auf eine Regierung zurück, die sich gegenüber den „principles of society" verselbständigt hat. 34 Seabury und Boucher argumentieren umgekehrt: die entscheidenden Konflikte werden von der Gesellschaft hervorgebracht, ohne sie, auf sich allein gestellt, lösen zu können. Zu pazifizieren sind sie allein im Schöße des „Mighty Leviathan", der, auf die unteilbare Souveränität gegründet, a priori unvereinbar ist mit den demokratisierenden Auswirkungen des Majoritätsprinzips. 31 Zit. nach Sigler 1970, S. 39. 32 Dem entspricht, daß Boucher bekanntlich einen beginnenden Konflikt zwischen den Interessen der Arbeiter und der Unternehmer konstatiert. Vgl. hierzu Boucher 1797, S. 309. 33 Zit.nach Sigler 1970, S. 50. Auch wenn Paine selbst bestritten hat, er sei einer der Autoren der Verfassung von Pennsylvania gewesen, in der bekanntlich das Majoritätsprinzip am radikalsten verwirklicht wurde, ist sein Einfluß auf sie in der Forschung unbestritten. Paines uneingeschränkte Option fürs Majoritätsprinzip ist, wie deutlich geworden sein dürfte, durch seinen theoretischen Ansatz vermittelt: unter der Voraussetzung, daß die Gesellschaft als sich selbst regulierende Einheit vermittels der Smithschen „invisible hand" Klassenkonflikte per se auflöst, hat er vom Majoritätsprinzip nicht deren Politisierung bzw. Aktualisierung zu befürchten. So gesehen, erscheint Paine „ideologischer" als die Konservativen Seabury und Boucher. Wie wir feststellten, umgaben diese nicht die mit der Durchsetzung der Marktgesellschaft gegebenen Tendenzen zur Verschärfung der sozialen Konflikte mit dem Schleier des Smithschen Harmonieglaubens. Sie waren als Konservative konsequent gegen das Majoritätsprinzip, weil sie der Tatsache Rechnung trugen, daß mit der Entfaltung der Produktivkräfte signifikante Teile der Mittel- und Unterschichten aus einer ehemals statischen Ordnung herausgelöst und aufgrund ihrer Interessen eine Ausweitung politischer Partizipation fordern würden, deren soziale Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft ihnen zumindest nicht absehbar erschien.
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Willi Paul Adams 34a hat darüber hinaus in seiner Dissertation gezeigt, daß sich der Konflikt über die demokratischen Implikationen des Majoritätsprinzips auch nach der Erlangung der Unabhängigkeit perpetuierte: die Stellung der verschiedenen Gruppen zu diesem in der Auseinandersetzung über die Struktur der Einzelstaatsverfassungen in der Zeit von 1775-1780 sei das eigentliche Kriterium für die Unterscheidung zwischen „Radikalen" und „Konservativen" gewesen. Wichtig ist nun, daß Adams die alte wie auch die neu aufbrechende ideologische Konfliktfront nicht rein formal, sondern von der jeweiligen konkreten Situation bestimmt sieht. Wie wir feststellten, glaubten in der vorangegangenen Phase der Revolution die Tories nur innerhalb der britischen Verfassung einer möglichen radikaldemokratischen Dynamik des Mehrheitsprinzips wirksam steuern zu können. Folglich wurde „der Maßstab für die Unterscheidung der radikalen und konservativen Antworten die Loyalität gegenüber König und Parlament" (S. 617). Zwar hatte sich nach der Loslösung von England für die Amerikaner keine Alternative zur republikanischen Regierungsform abgezeichnet. Dieser Konsens wurde aber bald sekundär gegenüber der Frage, in welchem Ausmaß das Majoritätsprinzip im Rahmen der republikanischen Regierungsform inhaltlich realisiert werden sollte. „In der Situation der Verfassungsbildung war das Unterscheidungsmerkmal radikaler und konservativer Vorschläge der Wille zu voller, zumindest über das bekannte Maß hinausgehender Verwirklichung des Prinzips der Volkssouveränität" (S. 617). Auch wenn, wie Adams betont, kein Zweifel daran bestehen kann, daß der radikale Standpunkt, der nicht wie der konservative „durch die Sorge um Mäßigung, sondern durch die Sorge um Entstehung - eines neuen unkontrollierbaren Establishment" (S. 618) charakterisiert war, nur von einer Minderheit vertreten wurde, so rechtfertige dies jedoch nicht dessen Vernachlässigung. Gegen Bailyn gewandt, der in der Perspektive eines fiktiven ideologischen Konsenses faktisch konfligierende Positionen unter dem Oberbegriff „the colonists" zusammenfaßte, macht Adams deutlich, daß dessen Methode nur zu rechtfertigen sei, „wenn die Vertreter der nicht-dominanten Meinung inartikulierte Sektierer gewesen wären. In der Diskussion um die ersten Verfassungen war die radikale Minderheitenmeinung aber artikuliert genug, um die dominante Meinung zum Teil durch die Erzwingung einer öffentlichen Auseinandersetzung, zum Teil durch bloße erschreckte Reaktionen mit zu prägen" (S. 619). Es kommt aber noch ein anderer Einwand hinzu. Wer nämlich den ideologischen Konsens so weit faßt, daß er Revolutionäre und Loyalisten mit einschließt, ohne ihm zugleich im gesellschaftlichen Kontext auf eine materielle Interessenidentität beziehen zu können, ist außerstande, das entscheidende Problem, wodurch die Spaltung der ehemals geschlossenen antibritischen Opposition bewirkt wurde, in den Griff zu bekommen. Indem so Norton, streng geistesgeschichtlich vorgehend, die Szenerie der Revolution im Blickwinkel abstrakter Fundamentalübereinstimmungen ausleuchtet, begibt sie sich - gleichsam aufgrund der Logik ihres 34a Adams 1973.
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Ansatzes - der Möglichkeit, hinter der Fassade der gemeinsamen Whig-Ideologie entscheidende gesellschaftliche Interessenkonflikte aufzuspüren. So bleiben wichtige Zusammenhänge ungeklärt. Vor allem aber stellt sich das Problem, wie die Konfliktfront verlief und welche gesellschaftlichen Determinanten sie bestimmte. Die „progressiven" Historiker hatten auf diese Frage bekanntlich geantwortet, daß der interne Konflikt im Rahmen der Revolution im wesentlichen zwischen den Privilegierten (Handelsbourgeoisie, Großgrundbesitz) und den Unterprivilegierten (Pächter, kleine Handwerker, Farmer etc.) ausgetragen wurde. Die außerlegalen Komitees und Kongresse, die ursprünglich zur Behauptung der kolonialen Rechte gegenüber den Engländern dienen sollten, erwiesen sich nämlich bald, wie Carl L. Becker 35 es formulierte, als „the open door through which the common freeholder and the unfranchised mechanic and artisan pushed their way into the political arena" (S. 22). Wegen ihrer demokratischen Forderungen und der Anwendung offener Gewalt seien die plebejischen Schichten bald mit den Interessen der „landowning and merchant aristocracy" in Widerspruch geraten. „The stamp act riots at once revealed the latent opposition of motives and interests between the privileged and unprivileged, - an opposition which the war itself only half suppressed, and which was destined to reappear in the rivalry of Federalist and Republican" (S. 22). Nach einer berühmten Formulierung Beckers hätten daher von 17651776 zwei Fragen den Verlauf der Revolution entscheidend bestimmt. „The first was whether essential colonial rights should be maintained; the second was by whom and by what methods they should be maintained. The first was the question of home rule; the second was the question, if we may so put it, of who should rule at home" (S. 22). Staughton Lynd 3 6 hat in einigen wichtigen Untersuchungen die Thesen der „progressiven" Historiker überprüft, ohne hinter deren Einsichten in die Bedeutung sozialer Konflikte als Movens der Revolution zurückzufallen. Wichtig ist zunächst daß er Beckers These, der interne Konflikte („who should rule at home") habe vor dem Unabhängigkeitskrieg begonnen und fortgedauert, als dieser bereits beendet worden sei, im wesentlichen bestätigen kann. Wie er anhand einer Fallstudie über die sozialen Kämpfe in Dutchess county (New York) in der Zeit von 1766-1788 zeigt, muß in diesem Gebiet von einer „continuity of protest in the heavily-tenanted southern and south-eastern parts of the country" (S. 8) ausgegangen werden. Belegt wird diese Aussage durch die detaillierte Untersuchung des Pächteraufstandes von 1766, der Enteignung loyalistischer Landlords während der Revolution und der Teilung der „counties" 1787-1788 über die Frage der Ratifizierung der Verfassung. Beckers These, so Lynd, werde auch dadurch nicht widerlegt, daß die politischen Führer der Aufstände, die die soziale Unzufriedenheit artikulierten, kaum als Sozialrevolutionäre gelten können, zumal sie primär daran interessiert waren, den herrschenden Familien mit Hilfe der plebejischen Schichten die Füh35 Becker 1968. 36 Lynd 1967.
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rung der Revolution streitig zu machen. Dies falle nämlich deswegen nicht entscheidend ins Gewicht, weil die Interessen der Repräsentanten nicht unbedingt identisch mit denen der Repräsentierten sein müssen: wie der englische Bürgerkrieg deutlich mache, verfügten die Führer beider Lager im Langen Parlament über einen ähnlichen sozio- ökonomischen Hintergrund. Die Problematik, die Lynd aufweist, ist denn auch nicht die Frage, ob soziale Konflikte für den Verlauf der Revolution konstitutiv waren, sondern die Weise, wie die „progressiven" Historiker die Konfliktfront bestimmten. In seiner Untersuchung des „Tenant Rising at Livingston Manor, May 1777" kommt er nämlich zu dem Resultat, „that past studies have too often identified socio-economic radicalism with forwardness in the cause of independence. Precisely because they were so radical economically, the tenants of Livingston Manor opposed their Whig landlords politically. Their situation did not allow them to look farther than the primary issue of ,hearth and home4; and like the slaves of the South, the tenants felt their hope lay with the King" (S. 77). Der Zweifel, der sich so an dem von den „progressiven" Historikern inaugurierten engen Konnex zwischen sozialer Unterprivilegierung und der Option für die revolutionäre Sache ergibt, wird vollends erhärtet, wendet man sich dem politischen Verhalten der Mittel- und Unterschichten in den großen amerikanischen Städten während der Revolution zu. Lynd hat in der Perspektive dieser Fragestellung die Situation in New York untersucht, und seine Resultate sind eindeutig. War für Becker die arbeitende Bevölkerung von 1763 -1776 die revolutionierende Kraft und interpretierte Charles A. Beard die Verfassung als einen konterrevolutionären Staatsstreich37, so kontrastieren diese Thesen mit dem Problem, wie es möglich war, „that the city workingmen all over America overwhelmingly and enthusiastically supported the US constitution" (S. 9). Mit anderen Worten: Nach der Konzeption der „progressiven" Historiker hätten die plebejischen Gruppen der Städte gemeinsame Sache mit den Antifederalisten machen müssen. Dies war jedoch nicht der Fall. „In Boston, Philadelphia, Baltimore, and Charleston, as well as in New York City, the workingmen were Federalist. In New York City the case is particularly clear, because universal manhood suffrage and the secret ballot obtained in the election of delegates to the state ratifying convention, yet the Federalist ticket was elected twenty to one" (S. 9). Wenn die Konfliktlinie nicht horizontal verlief, weil sie keineswegs kongruent ist mit der Unterscheidung zwischen sozialer Privilegierung und Unterprivilegierung, ist die von den „progressiven" Historikern aufgeworfene Frage neu zu beantworten. Wie wenig diese Problematik von der amerikanischen Historiographie nach 1945 thematisiert wurde, geht aus der Tatsache hervor, daß die Entstehung und die Interessenlage der Tories in ihrem sozialhistorischen Kontext in erstaunlichem Maße von der Forschung vernachlässigt wurde. Zu erwähnen sind hier 37 Vgl. hierzu das berühmte Diktum Beards: „The Constitution was not created by ,the whole people4 as the jurists have said neither was it created by the »states4 as Southern nullifiers long contended; but it was the work of a consolidated group whose interests knew no state boundaries and were truly national in their scope44 (Beard 1965, S. 325).
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lediglich die Arbeiten von William H. Nelson und Wallace Brown. Brown 38 kann im Hinblick auf die koloniale Oberschicht zeigen, daß deren loyalste Gruppe die Inhaber königlicher Ämter waren: die Gouverneure der einzelnen Kolonien, die „provincial councillors", die Richter und höheren Zollbeamten. Diese Gruppe, die unmittelbar abhängig von der britischen Regierung war, hatte in der Krone ihre ausschließliche Patronage. Innerhalb der Oberschicht war ferner anfallig für eine probritische Haltung der Teil der Handelsbourgeoisie, dessen Existenz von seinen Geschäftsverbindungen mit England direkt abhing: hier handelte es sich vor allem um Immigranten und Mitglieder britischer Handelshäuser. Ferner ist wahrscheinlich, daß die Kaufleute, die britische Prämien erhielten, also Subventionen (cash subsidies) für bestimmte Produkte, oft konservativ waren. Umgekehrt läßt sich sagen, daß der andere Teil der Handelsbourgeoisie, der durch die „Declaration of Independence" seine wirtschaftlichen Expansionsmöglichkeiten verbessert sah, sich den Whigs anschloß: sie waren denn auch, wie für New York City 3 9 nachgewiesen wurde, vor allem im verbotenen Sektor des Handels engagiert (S. 50). Was die „landed Gentry" betrifft, so tendierten diejenigen zu einer Kooperation mit den Engländern, die große Teile ihres Landes von der britischen Krone erhalten hatten. Dies war vor allem in New York der Fall, wo die Großgrundbesitzer zudem politisch, religiös (sie waren zumeist anglikanisch) und aufgrund ihrer sozialen Stellung Teil der politisch herrschenden Aristokratie der Stadt New York waren (S. 54 f.). Unter den religiösen Eliten neigte nur die anglikanische Kirche zu den Loyalisten, wenngleich auch sie eine Spaltung nicht verhindern konnte (S. 56 f.). Wichtig ist nun, daß die Polarisierung nicht auf die herrschende Schicht beschränkt blieb, sondern nach unten ausgedehnt wurde. Ohne einem vereinfachenden ökonomischen Determinismus das Wort zu reden, hat William H. Nelson 40 darauf hingewiesen, daß sozio-ökonomische Faktoren die Struktur der geographischen Schwerpunkte des Rekrutierungspotentials der Tories beeinflußten. Demzufolge hatten die Loyalisten insbesondere in zwei deutlich voneinander getrennten Regionen den größten Rückhalt in den Mittel- und Unterschichten. Es war dies erstens die Gegend entlang der dünn besiedelten Westgrenze von Georgia und dem Distrikt Ninety-Six in South Carolina über die Regulator-Gegend von North Carolina und den Bergsiedlungen von Virginia, Pennsylvania und New York bis hin zu den neu besiedelten Gebieten von Vermont. Der andere geographische Schwerpunkt der Tories war die Küstengegend der mittleren Kolonien, die das westliche Long Island und die Counties des unteren Hudson-Tales, Süd New Jersey, die drei alten Counties von Pennsylvania um Philadelphia sowie die Halbinsel zwischen Delaware und den Chesapeake Bays umfaßte. Außerdem gab es lokale Zentren der Tories überall entlang der atlantischen Küste: in Charleston, in der Gegend von 38 Brown 1969. 39 Vgl. hierzu Harrington 1935, S. 349-351. 40 Nelson 1971.
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Wilmington und Norfolk sowie in Neu-England in der Umgebung von Newport und Portsmouth (S. 86 f.)- Verhältnismäßig schwach waren die Positionen der Loyalisten in den hochkommerzialisierten Plantagen-Regionen der südlichen Kolonien, in den dichtbesiedelten Teilen Piedmonts und in den meisten Gebieten des gleichfalls hoch entwickelten Neu-England. Was demgegenüber die Gebiete an der Berg- und Ozeangrenze gemeinsam hatten, bestand Nelson zufolge darin, „that both suffered or were threatened with economic and political subjugation by richer adjoining areas. The geographical concentration of the Tories was in peripheral areas, regions already in decline, or not yet risen to importance" (S. 87). Freilich hat der Versuch, die Anhängerschaft der Tories nach soziogeographischen Gesichtspunkten zu bestimmen, eine bedeutende Schwäche: er läßt nämlich die wichtigen kulturellen Einflüsse, zumeist nationaler und religiöser Art, unberücksichtigt, die in der Revolution eine Rolle spielten. Nelson erweitert daher sein Modell um eine zweite Ebene, indem er seine „cultural minority"These entwickelt. Darunter versteht er, daß kulturelle Minderheiten, die nicht voll anglisiert waren, zumeist auf der Seite der Tories standen. Dies trifft beispielsweise zu für holländische und deutsche Immigranten, aber auch für die französischen Calvinisten in New Rochelle, dem einzigen Ort, wo sie ihre Sprache bewahrt hatten. Die anglisierten Nachkommen der Hugenotten dagegen waren besonders aktive Revolutionäre (S. 89). Ferner sind religiöse Minoritäten (hier machten allerdings Katholiken und auch Juden eine Ausnahme) sowie vor allem Schwarze und Indianer zu nennen, die bevorzugt Partei für die Engländer ergriffen. Was hatten nun aber alle diese Gruppen, Fraktionen, Sekten, Schichten und Einwohner bestimmter Regionen gemeinsam? Nelson zufolge resultiert die Antwort daraus, daß es sich hier um bewußte Minderheiten handelte, die glaubten, schwach und bedroht zu sein. „The sense of weakness, which is so marked a characteristic of the Tory leaders, is equally evident among the rank and file. Almost all the Loyalists were, in one way or another, more afraid of America than they were of Britain. Almost all of them had interests that they felt needed protection from an American majority" (S. 91). Gegenüber einer drohenden Demokratisierung der Gesellschaft schien ihnen ausreichenden Schutz noch am ehesten die Patronage der britischen Krone zu gewähren. Wenn so das sozio-ökonomische und kulturelle Entwicklungsgefälle als die entscheidende Determinante jener vertikalen Spaltung der Gesellschaft angesehen werden muß, der die Tories ihre Massenbasis verdankten, ist zu fragen, welche Auswirkungen dies auf die Struktur des Unabhängigkeitskrieges hatte. Obwohl, wie Wallace Brown 41 in einer 1965 erschienenen Studie zeigen kann, die kommerziellen Berufe der in den Städten ansässigen Schichten (Kaufleute, Ladenbesitzer, Handwerker etc.) sowie die reichen Segmente der Gesellschaft in der probritischen Bewegung überrepräsentiert waren, hatten die Tories in allen Bevölkerungsschich41 Brown 1965.
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ten eine bedeutende Anhängerschaft 42. Dies zeigt nicht nur die Zahl der Emigranten, sondern auch die militärische Stärke der Loyalisten. Brown weist in Anlehnung an Palmer darauf hin, daß in der amerikanischen Revolution 1000 Einwohnern etwa 24 Emigranten gegenüberstanden, während in der Französischen Revolution auf 1000 Einwohner nur 5 Emigranten kamen. Dem entspricht, daß 1780 8000 Tories in der regulären Armee dienten, während Washington nur über 9000 und später höchstens über 30 000 Soldaten verfügte 43. Nimmt man die Tatsache hinzu, daß die Spaltung durch alle Schichten und Bevölkerungsgruppen verlief, wird man Browns These zustimmen müssen, den Loyalisten sei es gelungen, die Spaltung der Opposition in Whigs und Tories auf die Gesamtgesellschaft auszudehnen und die Revolution in den ersten amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu verwandeln, dessen terroristische Führung dem Civil War im England des 17. Jahrhunderts kaum nachstand. In gewisser Weise besaß die erste amerikanische Revolution, wie Brown betont, sogar mehr Merkmale eines Bürgerkrieges als der bekanntere Konflikt von 1861-1865, der zwischen zwei geographisch deutlich unterschiedenen Einheiten ausgetragen wurde. Zwar hatte die Massenbasis der Loyalisten und Revolutionäre gleichfalls geographisch bestimmbare Schwerpunkte. Im Gegensatz zum Konflikt zwischen den Nord- und Südstaaten vollzog sich die Polarisierung aber in allen Kolonien und trennte zuweilen sogar die Familien (S. 2). III. Der „mechanic" und die Revolution Ein wesentliches Resultat der im vorhergehenden Abschnitt diskutierten Arbeiten bestand darin, daß die Mittel- und Unterschichten in den Kampf um die Loslösung der Kolonien von England einerseits und - damit verbunden - in den internen Konflikt über die Frage, „who should rule at home" (C. Becker), andererseits aktiv einbezogen waren. Daß sich ihre Politisierung zuerst in den fünf großen amerikanischen Städten (Boston, Newport, New York, Philadelphia und Charleston) vollzog, ist Carl Bridenbaugh 44 zufolge kein Zufall. Nach 1760 hätten diese Städte eine wirtschaftliche und soziale Entwicklungsstufe erreicht, die zu fortgeschritten war, als daß sie sich widerstandslos mit der subalternen Rolle abfinden konnten, auf die die britische Kolonialpolitik sie festlegen wollte. Angesichts einer rasch expandierenden kapitalistischen Wirtschaft, die sich kontinuierlich in den Städten entwickelte, mußte insbesondere die Handelsbourgeoisie, als sie durch die briti42
Auch wenn Brown eine Reihe falscher Annahmen nachgewiesen wurden, auf denen er seine statistischen Schlüsse basiert (vgl. hierzu Fingerhut 1968, S. 254-258), besteht der Wert seiner Arbeit in dem Nachweis, daß die Loyalisten sich nicht ausschließlich aus den Oberschichten rekrutierten, sondern eine „Massenbasis" besaßen. Allerdings ist die soziologische Zuordnung des Rekrutierungspotentials der Loyalisten innerhalb der Mittel- und Unterschichten dadurch entscheidend vernachlässigt worden, daß Brown beispielsweise „craftmen" und „artisan" unter eine einzige Kategorie subsumiert. Vgl. hierzu Lemisch 1969, S. 27. 43 Vgl. hierzu Brown 1969, S. 227. 44 Bridenbaugh 1964.
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sehe Politik ihre ökonomische Existenz gefährdet sah, eine politische Antwort auf diese Herausforderung finden. Bisher bekannt für ihre Solidarität, spaltete sie sich, wie Bridenbaugh betont, in dem Augenblick in Konservative und Liberale, wo die breit gestreuten Mittelschichten, die sich hinsichtlich ihres Selbstbewußtseins, ihres kollektiven Wohlstandes und ihrer numerischen Größe als eine aufsteigende Schicht45 begriffen, in der Depression nach dem Friedensschluß von Paris, 1763, ihren ersten schweren Rückschlag erlitten 46 . Die aus dieser Frustration resultierende Radikalisierung ist Bridenbaugh zufolge jedoch nicht nur auf die restriktive Politik des Mutterlandes zurückzuführen, sondern sogar noch mehr auf die Oberschicht selber, von der insbesondere die „mechanics"47 in Kreditabhängigkeit gehalten wurden und die darüber hinaus alle Privilegien der Gesellschaft für sich in Anspruch nahm (S. 291). Daß die in diesem sozio-politischen Kontext politisierten Teile der „mechanics" in den großen amerikanischen Städten besonders empfänglich für radikale WhigParolen waren und durch die Anwendung kollektiver Gewalt eine entscheidende Rolle in jenen Ereignissen spielten, die zum Unabhängigkeitskrieg führten, ist in der amerikanischen Historiographie unbestritten. Arthur Maier Schlesinger 48 faßt diesen Konsens zusammen, wenn er daraufhinweist, daß „Mobs terrified the stamp agents into resigning and forced a repeal of the tax. Mobs obstrueted the execution of the Townshend Revenue Act and backed up the boycotts of British trade. Mobs triggered the Boston Massacre and later the famous Tea Party" (S. 244). Ferner seien die Tories durch die Androhung kollektiver Gewalt systematisch eingeschüchtert, in ihrer Aktivität gelähmt und schließlich ins Exil vertrieben worden. Gleichzeitig ist jedoch symptomatisch, daß Schlesinger in seinem Aufsatz nicht solche Massenaktionen diskutiert, „that were spontaneous explosions" (ebd.). Vielmehr konzentriert er sich auf die kalkulierte Anwendung von Gewalt, „engineered in advance by the Whig leaders" (ebd.). In der Tat sind sich die meisten Historiker darüber einig, daß sich die amerikanischen Massen qualitativ in dieser Hinsicht von ihrem europäischen Gegenstück unterscheiden. Lloyd I. Rudolph hat diese These auf der Basis eines systematischen Vergleiches mit der Französischen Revolution zu erhärten versucht 49. Zwar müsse davon ausgegangen werden, daß in beiden Revolutionen zunächst der Widerstand von liberalen Führern aus den Mittelschichten inspiriert, dann aber durch die plebejischen Massen über deren Wünsche und Ziele hinausgetrieben wurde. Der entscheidende 45
Vgl. hierzu in diesem Band S. 123. te Diese wirtschaftliche Rezession scheint zumal in den Städten in erster Linie die Mittelund Unterschichten getroffen zu haben. Wie zwei neuere Untersuchungen bestätigen, kam es in Boston zu einer signifikanten Verschärfung der sozialen Gegensätze. Vgl. hierzu Henretta 1965, S. 75-92; Kulikoff 1971, S. 375-412. Henrettas Studie läßt den Schluß zu, daß die reichsten 10 % der Bevölkerung Bostons über 65 % des gesamten Eigentums kontrollierten. 47
Zur sozialen Zusammensetzung der „mechanics" vgl. unten S. 122-126. 8 Schlesinger 1955. 4 9 Rudolph 1959. 4
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Unterschied bestehe aber darin, daß in Amerika die Massen nicht über ihre eigenen begrenzten Ziele hinausgegangen seien, während sie in Frankreich durch eine Dynamik transzendiert wurden, die sowohl ihre eigenen Führer als auch deren Opponenten vernichtete. Kurz: „The American mob moves from a little violencecum-negotiation to more peaceful means of political participation in the Sons of Liberty while in France the mob moves from violence of the assault on the Bastille to the attack on the Tuileries in August and the prison massacres in September, 1791, to the legalized and systematic Terror under the radical Jacobins of Paris" (S. 453). Den Grund für diese qualitative Differenz sieht Rudolph in der Tatsache, daß in Europa die Massen durch reformwillige Aristokraten und Vertreter der Bourgeoisie unter den Bedingungen eines feudalen Sozialsystems angeführt wurden. In ihren Bemühungen, ein liberales gesellschaftliches und politisches System einzurichten, mußten sie die politische Bühne teilen „with those who were distortedly exalted and those who were distortedly debased" (S. 464). Diese psychische Kluft (psychic gap) reflektiere sich in der Tatsache, daß die europäische Gesellschaft in drei gleichzeitige Klassenkulturen und ihre jeweiligen sozialen Substrate zerrissen gewesen sei, nämlich einer untergehenden Aristokratie, einer bourgeoisen Mittelschicht und einem sich konstituierenden Proletariat 50. In Amerika dagegen, so Rudolph, partizipierten die Massen und ihre Führer von Anfang an an einer gemeinsamen „Mittelstandskultur". Vom Erbe der feudalen Vergangenheit unbelastet 51 , intendierten aus diesem Grunde die Massenaktionen weder die Destruktion existierender Werte oder Institutionen noch die irrationale Zerstörung von Leben und Eigentum (S. 469). Pauline Maier geht in ihrer Analyse des konservativen Charakters des amerikanischen „Mobs" noch über Rudolph hinaus52. Ihrer Interpretation zufolge bewegten sich die Massenaktionen nicht nur im Rahmen eines allseitig akzeptierten Konsenses, sondern wurden zugleich von dem expliziten Ziel bestimmt, aktiv die bestehende Rechtsordnung zu schützen. Ihre These ist, daß „uprisings over local issues proved e x t r a i n s t i t u t i o n a l in character more often than they were antiinstitutional; they served the community where no law existed, or intervened beyond what magistrates thought they could do officially to cope with a local problem" (S. 8). Mit anderen Worten: die Massen betraten nach Maier die politische Bühne nur „after the legal channels of redress had proven inadequate" (S. 15). Als integrierter Bestandteil des existierenden Verfassungssystems trugen sie mehr zur Stabilisierung des Status quo bei, als daß sie ihn revolutionär zu verändern suchten: „So domesticated and controlled was the Boston mob that it refused to riot on Saturday and Sunday nights, which were considered holy by New Englanders" (S. 17). Dieser konservativen Grundorientierung der amerikanischen Massen entspreche im übrigen deren soziale Zusammensetzung: in den von Maier diskutierten 50
Vgl. zum Begriff „Proletariat" in der Französischen Revolution Anm. 75. 51 Vgl. hierzu Hartz 1955. 52 Maier 1970.
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„riots" nahmen nicht notwendigerweise Leute der Unterschichten teil, sondern auch Mitglieder der kolonialen Eliten. Selbst „Shays's rebellion", oftmals als Klassenaufstand interpretiert, sei aktiv von Männern unterstützt worden, „who were of good property and owed not a Shilling" (S. 13). Fassen wir die referierten Thesen über den Charakter der Massen in der amerikanischen Revolution zusammen, so waren diese durch zwei Aspekte charakterisiert: im Gegensatz zu ihrem europäischen Pendant konzentrierten sie sich einerseits, von den Oberschichten im großen und ganzen kontrolliert, auf genau definierte Ziele, über die sie - selbstdiszipliniert - nicht hinausgingen. Zum andern fügten sie sich in einem solchen Maße in die existierende Verfassungsstruktur ein, daß sie kaum als eine autonome Kraft angesehen werden können, die den Status quo - wenn auch nur der Tendenz nach - in Frage stellten. Beide Folgerungen sind in einigen neueren Arbeiten nicht unwidersprochen geblieben. Was die erste These betrifft, so wurde neuerdings wiederholt auf die Untersuchungen von George Rüde verwiesen 53. In der Tat kann Rüde zeigen 54 , daß die englischen und französischen Massen im 18. Jahrhundert - von einigen Ausnahmen abgesehen - mit „remarkable single-mindedness and discriminating purposefulness" handelten, selbst wenn ihre Aktionen höchst spontan zu sein schienen (S. 253). An sorgfältig ausgewählten Zielen orientiert, seien selten undiszipliniert Eigentum und Personen angegriffen worden. So habe man etwa in den „Gordon riots" eine beträchtliche Sorgfalt darauf verwandt, „to avoid damage to neighboring property" (S. 60). Auch sei es ein konservatives Vorurteil, die vorindustriellen Massen als blutdürstig anzusehen. Rüde zufolge ist der „famous ,bloodlust' of the crowd ... a legend, based on a few carefully selected incidents" (S. 255). Selbst wenn die Zerstörung von Eigentum ein charakteristisches Ziel war, so treffe dies nicht für die Vernichtung menschlichen Lebens zu. Die meisten, die während der Aufstände in Europa starben, seien Demonstranten gewesen, die von Magistraten oder der Armee getötet wurden. „ . . . it was authority rather than the crowd", resümiert Rüde, „that was conspicuous for its violence to life and limb" (S. 256). Die andere These, die den „Mob" zum Hüter des Status quo stilisiert, erscheint nicht weniger problematisch. Sie kontrastiert zumindest mit der Tatsache, daß sowohl die Loyalisten als auch die Whigs der Oberschicht die „Gefahr von unten" fürchteten. Sie waren, wie Richard B. Morris es formulierte, „alike conscious of the role of dass in the war" 5 5 . Andererseits bemerkt Morris zu Recht, es sei ein 53 So z. B. Wood 1966a, S. 437 f. 54 Rude 1964. 55 Morris 1962, S. 5. Niemand hat im Lager der Tories diese Furcht schärfer und anschaulicher artikuliert als der konservative Gouverneur Morris, der eine antibritische Massenkundgebung in seinem berühmten Brief vom 20. V. 1774 wie folgt beschreibt: ,J stood in the balcony and on my right hand were ranged all the people of property, with some few poor dependents, and on the other all the tradesmen, etc., who thought it worth their while to leave daily labour for the good of the country... The mob begin to think and reason. Poor reptiles! It is with them a vernal morning they are struggling to cast off their winter's slough, they
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leichtes zu dokumentieren, „that the Whig leadership was nearly as much concerned about the dangers from leveling forces as they were about the perils of subversion, disloyalty, and treason, that they had a pessimistic view of human nature, and that their debt to Hobbes was almost as great as it was to Locke" (S. 7). Diese These wird nicht nur durch John und Samuel Adams ambivalente Haltung zur kollektiven Gewalt 56 , sondern auch durch Thomas Jeffersons Entwurf einer Verfassung Virginias 57 bestätigt, in der auf der Basis eines Zweikammersystems und des Gewaltenteilungsprinzips das Mißtrauen vor radikaldemokratischen Tendenzen gleichsam institutionalisiert wurde. Auch wenn offenbleibt, inwieweit von der Führungselite der Whigs und Tories die Massenbewegungen insbesondere der Städte als eine tatsächliche Bedrohung des sozialen und politischen Primats der herrschenden Schichten angesehen und in welchem Ausmaß diese Gefahr zur Stärkung ihrer eigenen Position nur künstlich dramatisiert wurde, wird man die politisierten plebejischen Schichten als einen eminenten politischen Faktor ansehen müssen. Einige der Gründe hierfür hat Hiller B. Zobel in seiner Untersuchung des „Boston Massacre" aufgezeigt 58. Verursachten die plebejischen Schichten Bostons am Vorabend des Unabhängigkeitskrieges auch weder ein „wholesale" noch ein „retail slaughter", wie dies in Paris 1789 geschah, so müsse doch als entscheidendes Moment ihrer Aktionen der Eindruck ihrer Unberechenbarkeit (inpredictability) gelten. Diejenigen nämlich, die sich bedroht fühlten, wußten nicht, wie weit die Massenaktionen gehen würden. „To the victim, the purpose was really immaterial; the threat of physical harm, brutally and unreasoningly administered, lay behind the whistles and the shouts" (S. 28). Zobel sieht denn auch die Anwendung kollektiver Gewalt in Boston in der Zeit von 1765 -1770 durch eine eigenartige Ambivalenz charakterisiert. Obgleich die Massen einerseits unkontrolliert und unkontrollierbar zu sein schienen, seien sie, bewußt als ein politisches Mittel eingesetzt, beinahe militärisch diszipliniert vorgegangen. „The Boston mob's ardor, there is little doubt, could be turned on or off to suit the policies of its directors. It was a shaped political instrument, consciously used as such. The occasional excesses in which the mob indulged only emphasized its usual discipline; under stress of combat, even veteran troops sometimes temporarily get out of hand" (S. 29). Daß freilich diszipliniertes Verhalten allein noch kein Indiz für die Instrumentalisierung der Massenaktionen im Sinne der „policies of its directors" ist, hat George Rude 59 gezeigt. Seine Studien machen deutlich, daß die Analysen von Le Bon und Taine, bask in the sunshine, and ere noon they will bite, depend upon it. The gentry begin to fear this ... I see, and I see it with fear and trembling, that if the disputes with Great Britain continue, we shall be under the worst of all possible dominions; we shall be under the domination of a riotous mob". Zit. nach Lynd 1967 S. 89. 56 Vgl. hierzu Schlesinger 1955, S. 240. 57 Vgl. hierzu Jefferson 1950, S. 357 ff. 58 Zobel 1971. 59 Vgl. hierzu Rudé 1964.
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wonach die Massen nur durch die Initiative ihrer Führer zu mobilisieren und ihre Energien auf angebbare Ziele zu konzentrieren sind, gründlich korrigiert werden müssen, auch wenn einzelne Personen bei der Homogenisierung und Leitung der Massenaktionen keine unwesentliche Rolle spielten. Der These, die Massen hätten „no worthwhile aspirations of their own and, being naturally venal, can be prodded into activity only by the promise of a reward by outside agents of,conspirators 4" (S. 214), stellt er die Motive gegenüber, die zu den Aufständen führten. Diese reichten von der Forderung nach „elementary social justice at the expense of the rich, les grands, and those in authority regardless of whether they are government officials, feudal lords, capitalists, or middle-class revolutionary leaders" (S. 224) bis hin zu „new conceptions of man's place in society and the search for the millenium" (S. 233). Daß die Furcht vorm „thrust from below" nicht nur auf die Tories beschränkt war, geht im übrigen auch aus der Untersuchung der Morgans 60 über die „Stamp Act-Krise" hervor. Wie prekär nämlich das Verhältnis zwischen den Whigs der Oberschicht und ihrer „Basis" war, zeigt sich daran, daß jene zwar erfolgreich die Presse einsetzten, um die Massen gegen den Stamp Act aufzubringen. Zugleich waren sie sich aber darüber im klaren, daß diese Maßnahmen allein nicht zum Erfolg führen konnten. Die soziale Kluft zwischen ihnen und ihren Anhängern in den „middle and lower orders" war zuweilen so groß, daß die Mitglieder der eigenen Schicht nicht immer die Aktionen gegen den Stamp Act direkt anführen konnten. In solchen Fällen versuchten sie, die Massen dadurch gezielt gegen die britische Herrschaft zu mobilisieren, daß sie sich Führer aus deren Reihen durch Geldzuwendungen etc. gefügig machten. Freilich führte dies nicht immer zum beabsichtigten Ergebnis. Zwar erwies sich in Boston der Schuhmacher Mcintosh, der die plebejischen Gruppen des Bostoner Süd-Endes anführte, als williges Instrument seiner Auftraggeber. In Newport dagegen drohte dieses Experiment zu scheitern. Hier gelang es John Weber, einem jungen Matrosen, über seinen Auftrag hinaus für kurze Zeit die städtischen Massen hinter sich zu bringen, ohne von den Führern der „Sons of Liberty" kontrolliert zu werden. Nur mit Mühe konnten sie den unbotmäßigen Matrosen von seiner Anhängerschaft isolieren und politisch ausschalten (S. 245). Auch Roger J. Champagne61 bestätigt einen ähnlichen Trend. Zwar seien die New Yorker „Sons of Liberty" unter der direkten Führung von Isaac Sears, John Lamb und Alexander McDougall von der Aristokratie organisiert worden, um Gouverneur Colden einzuschüchtern und den Stamp-Act rückgängig zu machen. Dennoch hätten die organisierten Massen und ihre Führer von Anfang an dahin tendiert, unabhängig zu agieren. Dadurch nämlich, daß die beiden sich bekämpfenden aristokratischen Cliquen der Livingstons und De Lanceys sich um eine Klientel in den Mittel- und Unterschichten bemühten, um ihre politische Position zu 60
Morgan/Morgan 1971. 61 Champagne 1960.
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stärken, gewannen Sears, Lamb und McDougall erheblich an Bewegungsfreiheit. Auch als nach dem Zusammenbruch der „non-importation"-Bewegung die Livingstons ausschließlich die Patronage über die „Liberty Boys" ausübten, mußten sie füir diese Koalition einen Preis bezahlen, den sie nicht einkalkuliert hatten. Ging es ihnen ursprünglich darum, die De Lanceys politisch auszuschalten, so wurden sie nun von den Führern der „Liberty Boys" gezwungen, deren extreme antibritische Maßnahmen zu unterstützen. „ . . . they hoped to break De Lancey's political power, never really dreaming that British power in America might be broken instead. When the Livingstons awoke to the danger, it was too late to turn back" (S. 240). Eine andere Untersuchung hat darüber hinaus gezeigt, daß insbesondere die radikalisierten Handwerker ihre Politik auf der Basis ihrer spezifischen sozio-ökonomischen Interessenlage erfolgreich durchsetzten. Richard Walsh 62 kommt zu dem Ergebnis, „that the artisans of Revolutionary Charleston had their own distinct interests and moved from positions and leaders ... as readily as the artisan shifted tools for a job. There is little evidence to indicate that the artisans were used, led, or manoeuvered by their betters. The party had a mind of its own" (S. 136). Walsh verifiziert diese These, indem er die Koalitionen untersucht, die die Handwerker mit Teilen der Oberschicht eingingen. Er führt im wesentlichen die wechselnden politischen Orientierungen der „artisans" auf deren ambivalente ökonomische Interessen zurück, die zwischen denen der Pflanzeraristokratie und der Handelsbourgeoisie zu lokalisieren sind. Wie sie einerseits in Zeiten der Geldknappheit vergeblich Druck auf die Pflanzer auszuüben suchten, damit diese ihre Rechnungen bezahlten, so sahen sie sich andererseits selbst von der Handelsbourgeoisie bedrängt, die auf der Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen insistierten. Diese Situation reflektierte sich in ihrer politischen Stellung zur Oberschicht in der Zeit von 1763-1789, mit deren Interessen sie sich immer nur partiell identifizieren konnten. Vor und in der Revolution teilten sie die Option der verschuldeten Pflanzer für eine billigere Papiergeldwährung, um ihre Werkzeuge, Materialien etc. bezahlen zu können. Sie opponierten mithin gegen die Handelsbourgeoisie, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sich in der Position des Gläubigers befand und daher mehr geneigt war, die britische Finanzpolitik zu unterstützen. Nach der Revolution hatten die Handwerker dagegen mit der Handelsbourgeoisie gemeinsame Interessen: wie diese sahen sie nämlich in den englischen „New Adventurers" eine ernste Konkurrenz. Um sie abzuwenden, agitierten sie nun mit der Handelsbourgeoisie gegen die britischen Kaufleute und die Pflanzeraristokratie, die immer noch in den Engländern ihre besten Kunden sah. Nach den Arbeiten von Richard B. Morris, Hiller B. Zobel, den Morgans, Roger J. Champagne und Richard Walsh können die amerikanischen Massen nur als von der Oberschicht kontrolliert angesehen werden, weil einerseits die Möglichkeit ihrer autonomen, den bestehenden Status quo sprengenden Aktivität signifikanter Teil der politischen Wirklichkeit der amerikanischen Revolution war und anderer62 Walsh 1959.
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seits durchaus spezifisch sozio-ökonomische Interessen zumindest der radikalisierten Handwerker als Grundlage ihrer Politik festzumachen sind. Demgegenüber löst Jesse Lemisch 63 das bei den referierten Autoren zu beobachtende Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Manipulation der Massen64 auf, indem er, gestützt auf die Forschungen von George Rude, die eigentliche Gegenthese zum „konservativen Mob" zu entwickeln sucht. Für ihn bezeichnen die Stamp-Act-Riots den Beginn der politischen Emanzipation der „inarticulates". Entgegen der Interpretation zeitgenössischer Beamter, von vielen Historikern unkritisch für bare Münze genommen, seien die Aufstände keineswegs auf „the wiser and better sort" zurückzuführen. Die „gentlemen of property" hätten sich mit der Anwendung kollektiver Gewalt nur unter den extremsten Bedingungen identifiziert, die 1765 noch nicht gegeben waren. Im übrigen: „the assumption that an uninterested mob had to be artificially aroused - created - disregards the ability of the people to think for themselves; like everyone else in the colonies, they had real grievances against the British" (S. 20). Im Gegensatz zu den Eliten verfügten sie über geringere legale Möglichkeiten zur Artikulation ihrer Interessen. So seien sie gezwungen gewesen, eine neue Politik zu inaugurieren: die „Politik der Straße", die die „Politik der assembly halls" zu ersetzen begann, ohne in politischen Irrationalismus, anarchistischen Amoklauf oder persönliche Bereicherung abzusinken (S. 20). Nicht Plündereien und sinnlose Zerstörung sei das Ziel der politisierten Massen gewesen, sondern der logische politische Feind (the logical political enemy). Die Massen, so faßt Lemisch seine These zusammen, wurden geführt, aber nicht manipuliert: „the dismantle the puppet show is not to do away with the whole concept of leadership, but instead of cynical fomentors, we find direction of the most rudimentary sort, a question of setting times, of priorities, and in the heat of the riot, of getting from one street to another in the quickest way possible" (S. 20). 63 Lemisch 1969, S. 3-45. 64 Eine interessante Variante der Beurteilung der Massenaktionen in der Sicht der „revisionistischen" Historiographie hat Bernard Bailyn entwickelt. Vgl. hierzu Bailyn/Garrett 1965. Zunächst betont auch er den konservativen Charakter der Massen-Aktionen während der Revolution. Diese seien nicht revolutionär in sich selbst gewesen, zumal Aufstände unterdrückter Massen, „inflamed with meliorist aspirations, seeking to destroy the ruling class and to reconstitute the structure of state and society" (a. a. O., S. 581), nicht stattgefunden hätten. Gleichwohl sieht er in diesen Aktionen obwohl „in fact ideologically inert" (a. a. O., S. 582), ein mächtiges politisches Potential, „for they were all, in one way or another, anti-authoritarian, and in all of them dissent of some sort was mobilized into direct action against agencies of the law" (ebd.). Aktualisiert wurde Bailyn zufolge dieses „powerful political potential" zum ersten Mal während der Stamp-Act-Krise im Sommer 1765. Neu an diesen Aufständen sei nämlich gewesen, daß deren „hitherto diffuse and indeliberate antiauthoritarianism was now sharply focused and clearly articulated in terms that had universal meaning" (a. a. O., S. 583). Bailyn lehnt denn auch die These ab, daß die Aufständischen in Boston und anderswo „mindless instruments, passive tools, of unscrupulous demagogues like Mcintosh" gewesen seien, „who were themselves but tools of hidden cliques of plotters ..." (ebd.). Offen bleibt jedoch, ob Bailyn den Massenaktionen auch über die Stamp-Act-Krise hinaus einen politischen Charakter zuspricht.
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Wie läßt sich nun aber das soziale Substrat jener „inarticulates", jener „people on the bottom", konkretisieren, die nach Lemisch das eigentliche Subjekt der amerikanischen Revolution waren? Was bedeutet es, wenn von „inarticulates" die Rede ist? Zunächst läßt sich feststellen, daß sie Lemisch zufolge nicht notwendigerweise ohne die Fähigkeit sind, „to speak, or even necessarily without eloquence; their speech was simply less likely to have been recorded than the words of those whom historians deem ,articulate 4 " 65 . Ihrem soziologischen Sinn nach ist die Konzeption der „inarticulates" auf Herrschaft bezogen, wo immer sie sich manifestiert - sei es als Sex, Kaste, Rasse oder in den verschiedenen Variationen einer „natürlichen Aristokratie". Was die „inarticolates", so gesehen, gemeinsam haben, ist also nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse, obwohl dies oft genug der Fall ist, sondern, wie Lemisch es formuliert, ein relativer Mangel an Macht, in welcher Form er sich in der Gesellschaft auch äußert. „It is that lack of power which has translated into a kind of historical inaudibility" 66 . Lemisch selbst hat in zwei bedeutenden Fallstudien diese Konzeption der „inarticulates" am Beispiel der Rolle der Seeleute in der amerikanischen Revolution teilweise am historischen Material entfaltet. In , Jack Tar" 6 7 zeigt er die Ausbeutungsmechanismen auf, denen amerikanische Seeleute unterworfen waren und die ihren schärfsten Ausdruck in der brutalen „impressment"-Praxis der britischen Marine fand: sie gab den entscheidenden Anstoß zum Vorantreiben des revolutionären Prozesses durch die Matrosen „with the only weapon which the unrepresentative politics of the day offered them - riot"68. In „Listening to the Inarticulates" 69 geht es ihm darum, das demokratische Potential der Seeleute unter den miserablen Extrembedingungen britischer Gefängnisse während des Unabhängigkeitskrieges zu verdeutlichen. Dabei erweisen sich als zwei Aspekte desselben Prozesses, daß einerseits die meisten von ihnen der Versuchung widerstanden, als Preis für ihre Freilassung sich der Royal Navy anzuschließen, und daß sie andererseits spontan eine demokratische Selbstverwaltung in den Gefangnissen organisierten: „They had withdrawn their loyalties from the British and had given legitimacy to their own prison government, a government deriving its just powers from the consent of the governed" 70. Auch wenn es fraglich erscheint, ob die „inarticulates" per se ein demokratisches Potential darstellten 71, kann kein Zweifel daran bestehen, daß Lemisch durch 65 Lemisch/Alexander 1972, S. 131. 66 A. a. O., S. 132. 67 Lemisch 1968, S. 371-407. 68 A. a. O., S. 390 f. 69 Lemisch 1969/70, S. 1-29. 70 A. a. O., S. 25. 71 Lemisch selber konzediert: „I am not contending that Loyalism was necessarily an upper-class movement, only that in many situations class may have been a factor in determining loyalties one way or another. We have evidence for this contention in recent studies of groups at the bottom of society which saw freedom in an alliance with the British rather than
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seinen interpretatorischen Ansatz die Revolutionshistoriographie um einen Fragehorizont erweiterte, der sich eindeutig als fruchtbar erwiesen hat. Seine Weigerung, die Ideologie, mit der die Eliten die Gesellschaft interpretierten, als die Gesellschaft selbst zu nehmen, macht ihn sensibel für Probleme, die insbesondere in der neueren amerikanischen Geschichtsschreibung vernachlässigt wurden. Dennoch bleibt trotz aller neuen Einblicke in die gesellschaftliche Existenz derjenigen, die die Bürde des Kämpfens und Sterbens in der amerikanischen Revolution trugen, eine, wie ich meine, wichtige Frage ungeklärt: Woran lag es, daß es zu keiner demokratischen Diktatur wie in der Revolte in den Niederlanden 72 oder der Französischen Revolution kam? Welche Faktoren sind anzugeben, die offensichtlich verhinderten, daß die „inarticulates" zusammen mit Teilen der Mittelschichten, wenn auch nur temporär, direkt die Macht ergriffen, wie nur wenige Jahre später die Jakobiner und Sansculotten in Paris? Dieses Problem stellt sich nicht zuletzt auch darum, weil das soziale Substrat der radikalen Massenbewegung, innerhalb derer die „inarticulates" nur eine Fraktion waren, nicht minder heterogen gewesen ist als die Massen, die John Wilkes in England und die Jakobinerclubs in Paris unterstützten. Staughton Lynd und Alexander Young weisen darauf hin, daß das sozio-ökonomische Spektrum vom ungelernten Dockarbeiter auf der einen Seite bis hin zum Handwerksmeister auf der anderen reichte, der als Kleinkapitalist einen eigenen Laden besaß, ein Dutzend Gesellen und Lehrlinge beschäftigte und höher besteuert wurde als viele Kaufleute. Zwischen diesen Extrempunkten befand sich „a numerous body of cartmen or draymen ( . . . ) , petty retail tradesmen, and stallkeepers" 73. Von der sozialen Zusammensetzung her unterschied sich also das Rekrutierungspotential der radikalen Massenbewegung in der amerikanischen Revolution von dem der Pariser Sansculotten nicht nennenswert 74. Ferner dürfte eine weitere Analogie darin bestehen, daß innerhalb der radikalen Massenbewegung als der entschiedensten revolutionären Kraft nicht so sehr eine Art proletarischen Klassencharakters (sieht man vielleicht von Teilen der „inarticulates" ab), sondern eine bürgerlich-kleinbürgerliche Komponente vorherrschte 75. the Americans: see e. g., Staughton Lynd, ,The Tenant Rising at Livingston Manor, May 1777', New York Historical Society Quarterly, XLVIII (April 1964), 163-177; Beniamin Quarles, The Negro in the American Revolution (Chapel Hill, N. C., 1961), pp. 19-32, 111-33" (Lemisch 1969, S. 45, Anm. 141). 72 Vgl. hierzu neuerdings Wittmann 1960, S. 1 - 3 7 ; Wittmann 1969. 73 Lynd/Young 1964, S. 217 f. 74 Zum sozialen Substrat der Sansculotten vgl. Rude 1971, S. 178-190. 75 Albert Soboul hat bekanntlich gegen Daniel Guerin, der die Sansculotterie als eine Vorform des Proletariats betrachtete, auf deren kleinbürgerlichen, von der einfachen Warenproduktion bestimmten Charakter hingewiesen (Soboul 1956, S. 68 f.). Ob indes, wie Soboul argumentiert, das Kleinbürgertum mit der Entfaltung des kapitalistischen Privateigentums „notwendig" untergeht, läßt sich angesichts der faktischen Entwicklung nicht halten: abgesehen von England haben im Gegenteil die kleinbürgerlichen Schichten anderer Länder im Industrialisierungsprozeß sich neu stabilisieren können. Vgl. zu dieser Problematik neuerdings Grebing 1974, S. 82-110.
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So ließen sich die Teile der „mechanics", die, weil im Besitz ihrer Produktionsmittel, als relativ wohlhabend angesehen werden müssen, wie Carl Bridenbaugh 76 zeigt, vor allem von einer antiaristokratischen Oppositionshaltung bestimmen. Sie verlangten eine größere Einflußnahme auf den politischen Willensbildungsprozeß, um einer aristokratischen Klassengesetzgebung zuvorzukommen und sich selbst gerade in der Zeit der wirtschaftlichen Depression vor und während der Revolution vor dem Schuldgefängnis zu schützen. Außerdem strebten sie Gesetze zur „Ermutigung der Tugend" und zur Verhinderung der Unmoral, wie sie sie verstanden, an, sowie die Gründung von Schulen, die, von der Öffentlichkeit finanziert, ihre Kinder zu niedrigen Kosten ausbilden sollten. Durch solche Vorkehrungen glaubten sie, wie Bridenbaugh betont, die Gefahr der Perpetuierung des gesellschaftlichen Machtmonopols der kolonialen Aristokratie effektiv abwenden zu können (S. 173). Gleichzeitig waren sie aber auch darauf bedacht, ihre Position nach unten hin abzusichern. Wie Walsh am Beispiel der „artisans" von Charleston demonstriert, wollten diese den weißen Lohnarbeitern das Wahlrecht vorenthalten, und an der Sklaverei hielten sie nicht minder entschlossen fest als die Pflanzeraristokratie. Offensichtlich waren sie primär an kurzfristiger individueller Bereicherung orientiert, selbst wenn dies ihren langfristigen Interessen schadete. Symptomatisch ist nämlich, daß sie zur Vermietung und zum Verkauf schwarze Sklaven ausbildeten, um zu raschen Profiten zu kommen, obwohl sie sich dadurch zugleich eine Konkurrenz schufen, die ihnen schwer zu schaffen machte.77 Alles in allem wird man sagen können, daß die sozio-politische Praxis dieser Schicht innerhalb der revolutionären „mechanics" stark besitzindividualistisch orientiert war. Freilich war neben dem ausgeprägten Besitzindividualismus und dessen Tendenz zur Aufrechterhaltung faktischer gesellschaftlicher Ungleichheit von Anfang an in der amerikanischen Revolution eine egalitäre Komponente wirksam. Willi Paul Adams hat darauf aufmerksam gemacht, daß das naturrechtlich fundierte Gleichheitspostulat insbesondere von der Whig-Elite in der frühen Phase der Revolution als eine außenpolitische Maxime verstanden wurde, die, unter Abstraktion von allen sozialreformerischen Inhalten, die Gleichheit der Kolonisten mit den Bewohnern des Mutterlandes meinte. Charakteristisch ist nun, daß nach der Erlangung der Unabhängigkeit, als die möglichen innenpolitischen Konsequenzen des Gleichheitspostulats immer deutlicher wurden, dreiviertel der Einzelstaaten auf feierliche Bekenntnisse zum Gleichheitsprinzip verzichteten, da offenbar, wie vermutet werden kann, auf Seiten der Oberschicht kein Interesse bestand, eine unwillkommene innenpolitische Entwicklung zu beschleunigen.78 Adams zufolge läßt sich „die Grenze der Bedeutsamkeit des Gleichheitspostulates in der Reformdiskussion nach 1776 ... nirgends klarer ablesen als an den Anklagen und Verteidigungen der Rassendiskriminierung und der Versklavung von Negern und India76 Bridenbaugh 1971. 77 Vgl. hierzu Walsh 1959. 78 Adams 1971, S. 79.
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nern. Die Gründergeneration war sich der Unvereinbarkeit der Gleichheits- und Freiheitsklauseln der Unabhängigkeitserklärung und der Grundrechtskataloge mit Rassendiskriminierungen und Sklaverei voll bewusst".79 Bekanntlich versuchte man, diesen manifesten Widerspruch dadurch zu „lösen", daß Neger- und Indianersklaven der Status einer Sache zugeordnet wurde, die ihrerseits unter die „Unantastbarkeit des Eigentums" falle. Angesichts eines solchen auf vordergründigen Herrschaftsinteressen beruhenden Voluntarismus ist Adams sicherlich zuzustimmen, wenn er die These von Habermas kritisiert, im Gegensatz zur französischen Revolution habe es in Amerika eine „Spannung zwischen Theorie und Praxis, zwischen naturrechtlichen Prinzipien und ihrer technischen Verwirklichung, Überlegungen, wie philosophische Einsicht über die öffentliche Meinung selbst politische Gewalt erlangen könne,... nicht gegeben".80 Wurde die Entleerung der emanzipatorischen Inhalte des Gleichheitspostulats von den Mittel- und Unterschichten im großen und ganzen auch akzeptiert, so läßt jedoch andererseits, wie Adams betont, die „Diskussion um das Zustandekommen der ersten Verfassungen.. . den Beginn der Abkehr von dieser für eine ,deferential society4 charakteristische Haltung der ehrerbietigen Fügsamkeit erkennen. Eine Minderheit sah die Diskrepanz zwischen der amerikanischen Wirklichkeit und dem eben erst feierlich verkündeten Gleichheitspostulat und forderte Reformen". 81 Diese Minorität hatte bekanntlich in Paine und Woolman ihre radikalsten Sprecher und reichte in ihren Forderungen von der Ablehnung des Zweikammersystems und der Gewaltenteilung über die Einführung eines Wahlrechts ohne Eigentumsqualifikation bis hin zur Abschaffung der Sklaverei. 82 Aber auch der linke Flügel innerhalb der radikalen Bewegung war in seinem Programm nicht unbürgerlich oder sozialistisch im Sinne des proletarischen Sozialismus: die Unantastbarkeit des Privateigentums steckte auch für ihn den Rahmen ab, innerhalb dessen seine Politik sich bewegte.83 Deutlich wird dies durch die Analyse der demokratischsten Staatsverfassung in der Revolution, die bekanntlich in Pennsylvania entstand. Elisha P. Douglass84 weist darauf hin, daß der Absatz, der als einer der wenigen Beispiele in der Revolution angesehen werden muß, „where democratic political doctrines were used to qualify the absolute right of property" (S. 266), offensichtlich zu 79 A. a. O., S. 90. so Habermas 1963, S. 61. 81 Adams 1971, S. 80. 82 Vgl. hierzu neuerdings Lemisch 1969, S. 12 f. 83 Vgl. hierzu Schröder 1972. Auch wenn sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit England, in der zunächst die Verteidigung der „property rights" gegenüber der britischen Kolonialpolitik im Vordergrund stand, „bei der staatlichen Neuordnung der ehemaligen Kolonien das Problem des Eigentums als bedeutsam erweisen" sollte, so weist Schröder zu Recht darauf hin, daß, von einigen extremen Sekten abgesehen, „private property4 selber in der amerikanischen Revolution nicht grundsätzlich in Frage gestellt" wurde (a. a. O., S. 14). Weitere Literaturangaben a. a. O., S. 14, Anm. 14. 84 Douglass 1971.
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radikal war, um von der Mehrheit der verfassunggebenden Versammlung angenommen zu werden. Ohne grundsätzlich die Institution des Privateigentums in Frage zu stellen, geht der Artikel davon aus, daß „[an] ,enormous proportion of property vested in a few individuals is dangerous to the rights, and destructive of the common happiness of mankind; and therefore every free state hath a right to discourage possession of such property 4" (S. 266). Wenn dieser Egalitarismus, der auf staatsinterventionistischem Wege eine breitere Streuung des Eigentums intendiert, auch nie die Bedeutung in Amerika erlangt hat, wie dies wenig später in der Französischen Revolution der Fall sein sollte, so wird doch gesagt werden können, daß zwischen der Form der politischen Praxis, der sozialen Zusammensetzung und den Prämissen des sozio-politischen Programms der Sansculotten in Frankreich und der „mechanics" in der amerikanischen Revolution weitaus mehr Übereinstimmungen als Differenzen bestanden. Trifft dies zu, so muß der Grund für die unterschiedliche Intensität des Terrors und der unmittelbaren Machtausübung in Faktoren außerhalb dieser Bewegung gesucht werden. Gordon S. Wood sieht denn auch den entscheidenden Unterschied zwischen den vorindustriellen Massenbewegungen in Amerika und Europa darin, daß sie von differierenden Rahmenbedingungen determiniert wurden. Seien nämlich die „law and order" garantierenden Institutionen in England und Frankreich schwach gewesen, so müßten sie in Amerika als ineffizient bezeichnet werden. Die Hilflosigkeit der britischen Exekutive sei immer wieder dokumentiert worden, wenn sie sich mit dem kolonialen „Mob" konfrontiert sah, „reinforced by widespread sympathy in the community". 85 Wood zufolge war es mehr die Schwäche und Furchtsamkeit der britischen Behörden als die Zurückhaltung der amerikanischen Massen, die größere Opfer während der „riots" verhinderten. Dadurch, daß später starke konterrevolutionäre Elemente fehlten, hätte sich in dieser Hinsicht die Situation auch nach dem Unabhängigkeitskrieg nicht wesentlich verändert. „Unchecked by any serious internal opposition, unrestrained by any solid institutional bulwarks, the American Revolutionaries may have ultimately carried themselves further in the transformation of their society, although without the bloodshed or the terror, than even the French Revolutionaries were eventually able to do. For if the American mob was no less a mob because of the absence of effective resistance, was the Revolution any less a revolution?" (S. 642). Richard Buel j r . 8 6 hat Woods These für die Zeit unmittelbar nach der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung bestätigt. Wenngleich diese die nationale Exekutive vom unmittelbaren demokratischen Druck zu entlasten suchte, sah die politische Wirklichkeit der USA von 1789-1815 anders aus. Wie Buel zeigen kann, war die Regierung ohne ein großes Steuereinkommen und eine nennenswerte Patronage sowie ohne die Unterstützung eines effizienten militärischen und juridischen Apparates in einem direkten Sinne von der öffentlichen Meinung abhängig. 85 Wood 1966, S. 639. 86 Buel 1972.
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Teil I: Das Zeitalter der großen bürgerlichen Revolutionen
Daß angesichts dieser Tatsache die Federalists, deren zentrale politische Maxime bekanntlich darin bestand, „that government would never be safe until it was invulnerable to popular pressure" (S. IX), scheitern mußten, dürfte kein Zufall gewesen sein. Die politisch relevante öffentliche Meinung, die nicht zuletzt von den „mechanics" beeinflußt wurde, war Teil der politischen Wirklichkeit Amerikas geworden und diktierte selbst den Federalists die restriktiven Bedingungen ihres politischen Handelns: „They were forced ,hypocritically 4 to mouth egalitarian doctrines ... The Federalist dilemma showed how much had changed as a result of the Revolution" 87 .
87 Foner 1973, S. 37.
Teil I I : Deutscher Idealismus
Zum 200. Todestag Immanuel Kants* L Am 12. 02. 2004 jährte sich der Todestag Immanuel Kants zum 200. Mal. Die Öffentlichkeit nahm dieses Ereignis zum Anlaß, Bilanz zu ziehen: Es galt, die historische Genesis und die aktuelle Bedeutung der Kantischen Philosophie in ihrer vorkritischen und kritischen Entwicklungsphase Revue passieren zu lassen. Wie nicht anders zu erwarten, konnte dieses Stück Gedenkkultur keine neuen Einblicke in das philosophische Werk des großen Königsberger Philosophen gewähren: Hingewiesen wurde facettenreich in vielen Varianten und in den unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten auf den Paradigmenwechsel, den Kants theoretische und praktische Grundlegung der Grenzen der Vernunft der Philosophiegeschichte beschert hat. Im folgenden soll eine andere Form des Nekrologs gewählt werden. Er beabsichigt nicht, Kants Lebenswerk von seinen Resultaten und seiner Wirkungsgeschichte her zu würdigen. Im Vordergrund soll vielmehr die Art stehen, wie Kant einerseits Philosphie betrieben hat und wie andererseits viele seiner Anhänger heute mit diesem methodischen Ansatz umgehen. Im Kern kann man das Kantische Philosophieren auf zwei Grundmaximen zurückführen. Die erste hat er in einer Vorlesungsankündigung formuliert. Er vertrat die These, „daß es in der Philosophie sehr unnatürlich sei, eine Brodkunst zu sein, indem es ihrer wesentlichen Beschaffenheit widerstreitet, sich dem Wahne der Nachfrage und dem Gesetz der Mode zu bequemen, und daß nur die Nothdurft, deren Gewalt noch über die Philosophie ist, sie nöthigen kann, sich in die Form des gemeinen Beifalls zu schmiegen".1 Philosophie, so müssen wir Kant auslegen, entspricht ihrem Begriff nur dann, wenn sie in kritischer Distanz zur sozio-politischen Wirklichkeit verharrt, über die sie Aussagen trifft. Sie darf nicht bloß Ausfluss des Zeitgeistes, sondern muss dessen kritisches Korrektiv sein. Die zweite Maxime brachte Kant auf eine treffende Formel, als er schrieb, er sei „nicht der Meinung eines vortrefflichen Mannes, der da empfiehlt, wenn man einmal sich wovon überzeugt hat, daran nachher nicht mehr zu zweifeln. In der reinen Philosophie geht das nicht". 2 In der Philosophie, so legt Kant uns nahe, geht es nicht um das Auswendiglernen eines in Paragraphen gegossenen, in sich schlüssigen Systems, sondern um den Vorgang des Philosophierens selbst. Diese Warnung läuft auf den Imperativ hinaus: „Du sollst nicht Gedanken, sondern denken lernen! Aber * Der Aufsatz entstand in Zusammenarbeit mit Susann Held. 1 Zit. n. Dietzsch 2004, S. 127. 2 Zit. a. a. O., S. 126.
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das bedeutet dann auch umgekehrt: Man kann Philosophie (gewissermaßen als Wissenschaft) auswendig lernen, ohne danach allerdings philosophieren zu können. Dies ist eine bis heute unabgegoltene Warnung davor, die Philosophie nicht in einer gelehrten Attitüde der Philogisierung oder Historisierung verschwinden zu lassen".3 Beide Gefahren, auf die Kant hinweist, scheinen heute vor allem in der Diskussion über dessen Rechtsphilosophie virulenter als je zuvor zu sein. Die Anpassung an den Zeitgeist hat längst zur Instrumentalisierung Kantischer Reflexionen im Interesse der liberal-konservativen Rechtfertigung des sozio-politischen Status quo der westlichen Gesellschaften geführt. Dabei erfolgt der Umgang mit der praktischen Philosophie Kants nicht mehr im Geist des Zweifels, sondern in der Attitüde dogmatischer Gewißheit, die den Königsberger Philosophen längst in ein hagiographisches Gewand gehüllt hat: Nicht die kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk, sondern die philologisch angeblich unanfechtbare Auslegung seiner einschlägigen Schriften steht im Vordergrund der Auseinandersetzung mit ihm. Diesen Trend gilt es, im folgenden am Beispiel der Rechtsphilosophie Kants zu rekonstruieren. IL Nach Kants Tod im Jahre 1804 mehrten sich die Stimmen, die vor allem die zum Teil kryptischen Textstellen und unklaren Argumentationsgänge seiner „Metaphysik der Sitten" bemängelten. Nicht selten wurde versucht, die Sperrigkeit des kantischen Textes durch das hohe Alter des Königsberger Philosophen zu erklären. Auch der später von Gerhard Buchda4 entdeckte Buchdasche-Texteinschub, der Unstimmigkeiten in der Textabfolge der Rechtslehre zu erklären suchte, hat sicherlich nicht die Popularität von Kants Rechtslehre erhöht. 5 Der wohl bekannteste Kritiker der Kantischen Rechtsphilosophie war jedoch Arthur Schopenhauer. Sein vernichtendes Urteil über Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" hat mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entscheidend dazu beigetragen, daß die 1797 erschienene Rechtslehre von der Wissenschafts weit mit Nichtachtung gestraft wurde. So bezeichnet Schopenhauer die Rechtslehre als eines der schwächsten Werke Kants, das er auf die „satirische Parodie der Kantischen Manier" 6 herunterstuft. Mittlerweile ist jedoch erwiesen, dass Kant den Großteil der Rechtslehre, wie sie in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre" erschien, bereits Anfang der achtziger Jahre, also in seiner produktivsten Phase, verfasste. Die Rechtslehre ist also keineswegs das Produkt eines senilen Geistes, und ihre Unstimmigkeiten in der chronologischen Textabfolge sind lediglich darauf zurück3 4 5 6
Ebd. Buchda 1929. Ludwig 1986, S. xxvii. Schopenhauer 1972, S. 626.
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zuführen, dass Kant 1797 im Alter von dreiundsiebzig Jahren nicht mehr in der Lage war, den Druck des Buches zu überwachen.7 Wenn wir in diesem Jahr des 200. Todestags Immanuel Kants gedenken, dann sollten die Folgen des frühen Umganges mit der Rechtsphilosphie Kants nicht verschwiegen werden: Diese rückte erst in den letzten dreißig Jahren in den Fokus der Wissenschaft. Den Anfang dieser Entwicklung machten zu Beginn der siebziger Jahre die Veröffentlichungen von Richard Saage8 und kurz darauf von Reinhard Brandt. 9 Von diesem Zeitpunkt an stieg die Menge der Forschungsliteratur rasant an. Mittlerweile gehört es zum guten Ton, bei Fragen zur Theoriebildung von Staat und Recht auch auf die Kantische Rechtslehre zu verweisen. Doch in erstaunlicher Weise dominiert bei den meisten Autoren ein unkritischer Umgang mit Kants Rechtstheorie und dem daraus resultierenden Staatsbild. Die Mehrheit der Forscher konzentriert sich bei der Exegese der einschlägigen Texte vor allem auf dessen apriorische Methode. Im Vordergrund steht also die transzendentalphilosophische Begründung des Eigentums, basierend auf dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft. Oft vernachlässigt und mitunter als irrelevant behandelt, wurden hingegen die soziopolitischen Elemente der Rechtslehre, die ihrerseits das Bild des Kantischen Staates entscheidend geprägt haben. Hierzu zählt auch, daß er den Besitzlosen sowie den Frauen das Wahlrecht vorenthält, der Bevölkerung generell ein Verbot des aktiven Widerstand auferlegt, selbst wenn die Regierung noch so despotisch agiert, sowie die Gleichheit aller vor dem Gesetz als vereinbar mit der größten Ungleichheit in der Besitzverteilung erklärt. Dass Kant darüber hinaus die Todesstrafe befürwortet sowie Kinder und Bedienstete mit „Sachen" gleichsetzt und ihnen allenfalls ein „auf dingliche Art persönliches Recht" zugesteht, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Kurz: Er bricht, wie Hermann Heller einst schrieb, „dem demokratischen Gedanken alle Giftzähne" aus. 10 Diese zeitgebundenen, den bestehenden Status quo seiner Herkunftsgesellschaft legitimierenden Aspekte der Kantischen Rechtspilosophie erscheinen freilich im Licht der vorherrschenden neueren Kant-Interpretation als nebensächlich und kontingent. Man degradiert sie, wie Franco Zotta treffend feststellt, „zum vernachlässigbaren, zufälligen Füllmaterial." 11 Andererseits werden andere Teile der Theorie in nahezu hagiographischer Weise als sakrosankt erklärt. Indem man auf diese Weise Kant ideologisiert, blendet man die Schattenseiten seiner Rechtslehre aus, bis am Ende das Bewußtsein vorherrscht, Kant sei nichts anderes als der Begründer der modernen Demokratietheorie gewesen. Beispiele einer solchen Ideologisierung finden sich bei Kersting. Zwar lehnt er einerseits prinzipiell die These ab, daß Kants Staatsentwurf sozialstaatliche Elemente enthalte. Andererseits unternimmt 7 Vgl. Kühn 2003, S. 456 ff. s Saage 1973. 9 Brandt 1974. 10 Heller 1971, S. 312. 11 Zotta 1994, S. 12.
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er aber erhebliche Anstrengungen, sozialstaatliche Implikationen in das Kantsche rechtstheoretische Paradigma hineinzuinterpretieren. 12 Ähnliche exegetische Kraftakte lassen sich in der Auslegung der Schriften Kants unter anderem auch bei Maus 13 und Luf 1 4 nachweisen. Ihnen fällt es nicht schwer, über „konstruktive", den Kantischen Text nur als Ausgang benutzende Inteprationen sozialstaatliche Komponenten in die Rechtslehre zu implementieren, und zwar mit dem vorgegebenen Ziel, Kant als modernen Demokratietheoretiker erscheinen zu lassen. Kann es wirklich der Sinn einer Textexegese sein, Elemente, die ideologisch ins Bild passen, überzubetonen und wiederum andere Topoi mit der Begründung, sie seien irrelavant, unter den Teppich zu kehren, damit das Bild, welches den eigenen Intentionen des Interpreten entspricht, im Text seine angebliche Bestätigung findet? Der einzige Zweck dieser Interpretationsweise ist dann auch die „Fruchtbarmachung" der Theorie Kants für aktuelle Probleme. Kants rechts- und staatstheoretische Überlegungen innerhalb der „Metaphysik der Sitten" können demgegenüber nur dann den Standards einer kritischen Hermeneutik standhalten, wenn neben den apriorischen Bedingungen des Rechtsbegriffs auch die empirischen Setzungen des Staats- und Gesellschaftsbildes seines Entwurfs vorurteilsfrei in die Auslegung mit einbezogen werden. Nur durch eine Interpretation, die den Text ebenso ernst nimmt wie die kritische Reflexion der gesellschaftlichen Inhalte, die in ihn bewusst oder unbewusst Eingang gefunden haben, kann die entscheidende kritische Frage gestellt werden, inwieweit in Kants Rechtsphilosophie „uneingeschränkt eben nicht allgemein gültige Axiome [ . . . ] schon in den Fundamenten des Konzepts stecken und zu Unrecht den Status eines vernünftigen, d. h. in diesem Kontext voraussetzungslosen Elements beanspruchen".15
in. Als Beispiel für die ideologisch einseitige Sichtweise der neueren Kant-Hagiographie kann ihr Umgang mit der Besitzindividualismusthese angefühlt werden. Ausgehend von der Betonung eines Gesamtzusammenhanges zwischen der transzendentalphilosophischen Methode und den empirischen Aussagen Kants über Staat und Gesellschaft versucht diese These, dessen Rechtslehre als eine Einheit zu betrachten. Kern des Besitzindividualismus-Paradigmas ist die Annahme, dass das Individuum in der Sicht bürgerlichen Denkens in erster Linie als Eigentümer bzw. Besitzer in der historisch-politischen Welt in Erscheinung tritt. Eigentum ist in diesem Sinne ein Korrelat der Freiheit. Die Freiheit des Individuums basiert auf der Tatsache, daß der einzelne als Eigentümer seiner Person durch den rechtlichen Erwerb von Dingen und Dienstleistungen seine Autonomie rechtlich zu fundieren 12 Kersting 1993, S. 64. 13 Maus 1992. 14 Luf 1978. 15 Zotta 1994, S. 27.
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vermag. „Das menschliche Wesen", so schrieb der kanadische Politikwissenschaftler C. B. Macpherson, „ist Freiheit von der Abhängigkeit vom Willen anderer, und Freiheit ist die Funktion des Eigentums."16 In der Gesellschaft stehen sich die Menschen somit als freie und gleiche Eigentümer gegenüber. Dem Staat kommt dabei die primäre Funktion zu, das Eigentum seiner Bürger zu schützen. Um diese Hypothese am Beispiel der Rechtstheorie zu belegen, ist die Rekonstruktion des Staats- und Gesellschaftsbegriffs Kants im Fokus seiner Deduktion der Kategorie des Privateigentums unter „Berücksichtigung politiktheoretischer, geschichtsphilosophischer, soziologischer und rechtsphilosophischer Aspekte" 17 notwendig. Forscher, die mit Kants Rechtslehre generell unkritisch umgehen und deren empirische Ausführungen als marginal bewerten, bezweifeln an der Besitzindividualismusthese vor allem, „ob eine ideologiekritische Sichtweise aufgrund der ihr, so die Kritiker, eigenen »ökonomischen* Sichtweise überhaupt Erkenntnisse über den rechtsphilosophischen Gehalt der [ . . . ] Rechtslehre zutage fördern kann". 18 Einer solchen Kritik kann nur durch die Konfrontation mit den Texten Kants selbst begegnet werden. Zunächst wird bei dessen Eigentumsdeduktion deutlich, daß ihr ein individualistisches Gewaltmotiv zugrundeliegt, weil die Okkupation ein einseitiger Zwangsakt ist. Zwar auf die volonté générale bezogen, legitimiert diese das Privateigentum nur reaktiv, nachdem der gewaltsame Zugriff die Individualisierung des Besitzes, d. h. dessen Herauslösung aus dem ursprünglichen Gemeinbesitz der Erde, bereits vollzogen hat. Für Kant ist die Apprehension eines äußeren Gegenstandes ein einseitiger und subjektiver Akt. Er betont an dieser Stelle: „Apprehension ist die Besitznehmung des Gegenstandes [ . . . ] ; der Besitz also, in den ich mich setze".19 Dabei ist Erfassung des individuellen Eigentums in spe als ein Zwangsakt zu interpretieren. Die zweite Stufe der Aneignung und des „Akts meiner Willkür", die Bezeichnung, soll allen anderen Individuen symbolisieren: Auf diesen Gegenstand habe ich Besitzansprüche angemeldet. Auch dieses Moment ist als einseitiger Akt zu interpretieren, da in Kants Schrift keine Rede davon ist, dass zur Bezeichnung eines äußeren Gegenstandes ein Konsens aller Mitglieder (Kant verweist wiederum auf den „Akt meiner Willkür") existieren muss. Abgeschlossen wird diese Trias durch die Zueignung, welche alle anderen Individuen zur Akzeptanz dieses Privateigentums verpflichtet und die Herauslösung des individuellen Eigentums aus dem Gemeineigentum komplettiert. Obwohl sich die Okkupation in einer von der praktischen Vernunft normierten Sphäre abspielt, lässt Kant keinen Zweifel daran, dass „jeder Erdbewohner ( . . . ) im ursprünglichen dynamischen Besitz eines Bodens (ist), d. i. er hat ihn vor allem rechtlichen Akt in seiner Gewalt". 20 Ein weiteres 16 Macpherson 1990, S. 15. 17 Saage 1998, S. 244. iß Zotta 1994, S. 14. 19 Kant 1998, S. 368. 20 A. a. O., S. 374.
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Indiz für eine besitzindividualistische Ausrichtung der Kantischen Rechtslehre ist die Erwerbung des Privateigentums im Naturzustand: Sie findet also eindeutig vor der Konstituierung staatlicher Gewalt statt und hat somit nur provisorischen Charakter. Das Adjektiv „provisorisch" kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um eine relativ stabile Rechtsfigur handelt. Dem Staat kommt die erste und oberste Aufgabe des Eigentumsschutzes zu. Durch seine Sicherung wird aus dem provisorischen ein peremtorisches (durch positives Recht garantiertes) Eigentum, ohne dass er ihm darüber hinaus neue Komponenten hinzufügt. Vor allem aber untermauert Kants Konzeption der Aktivbürgerschaft die Besitzindividualismusthese: Kant teilt die Bürger in zwei Klassen auf der Grundlage des Zensuswahlrechts ein. Das Recht auf Partizipation am politischen Willensbildungsprozess kann nach Kant nur derjenige erlangen, der einerseits sein eigener Herr ist und andererseits über Eigentum verfügt, wozu Kant nicht nur das Eigentum am Boden zählt, sondern auch „Kunst", Handwerk und Wissenschaft. Wer kein Eigentum besitzt, dem bleibt die bürgerliche Selbstständigkeit und damit die aktive Staatsbürgerschaft verwehrt. Der somit passive Staatsbürger ist zwar hinsichtlich seines allgemeinen Freiheitsspielraums ein geschütztes Objekt der staatlichen Gesetze. Er bleibt jedoch von deren Zustandekommen selbst ausgeschlossen. Auch die Konzeption des Minimalstaates ist nur mit einer marginalen sozialen Komponente ausgestattet. Kant sieht für die Ärmsten der Gesellschaft eine Art Notopfer vor, welches durch die besondere Besteuerung der Eigentümer finanziert werden soll. Dessen Zweck ist es, den Bedürftigen „Mittel der Erhaltung" zur Verfügung zu stellen, um deren „notwendigste(n) Naturbedürfnisse" 21 zu befriedigen. Der Staat ist laut Kant also nur berechtigt, die Eigentümer so zu belasten, dass die Armen dem Hungertod entgehen. Diese soziale Komponente zielt nicht selbstlos auf die Kompensation sozialer Ungleichheiten und schon gar nicht auf die gesellschaftliche und politische Selbstbestimmung aller Bürger im Staat, sondern allein auf den übergeordneten Rechtszweck der Sicherung juridischer Rahmenbedingungen für alle. Indem Kant somit versucht, den inneren Frieden zu erhalten, wird in letzter Konsequenz vor allem das Eigentum der besitzenden Bürger gesichert. Ein explizites Recht des einzelnen auf soziale Unterstützung ist demgegenüber in der Kantischen Rechtslehre nicht nachweisbar. Der einzige Gerechtigkeitsanspruch, dem der bürgerliche Zustand genügen muß, ist, daß „niemand daran gehindert wird, Vollbürger werden zu können". 22 IV. Aus den bisherigen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass der besitzindividualistischen Interpretation der Kantischen Rechtslehre nicht mit dem 21 A. a. O., S. 446. 22 Zotta 2001, S. 7.
Zum 200. Todestag Immanuel Kants
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Argument beizukommen ist, sie laufe darauf hinaus, daß sie die Texte des großen Königsberger Philosophen „polit-ökonomisch zugegerichtet" 23 hätte oder daß lediglich dem „bekannten Buch von Macperson ein Kant-Kapitel" 24 hinzugefügt worden sei. Vielmehr sollte die Besitzindividualismusthese eine Diskussionsgrundlage bilden, die beweist, daß Kant nicht nur aus rechtsphilosophischer Sichtweise relevant ist, wenn es gilt, Einblicke in die Grenzen und Möglichkeiten des emanzipatorischen Potentials bürgerlicher Eigentümergesellschaften zu gewinnen. Darüber hinaus bietet dieser Ansatz auch die Möglichkeit, gerade durch den Aufweis der aus dem besitzbürgerlichen Denken folgenden Restriktionen zugleich auch die Schichten des Kantischen Denkens freizulegen, die dessen „überschießenden Gehalt" ausmachen. Wie modifiziert und gebrochen auch immer dieser wissenssoziologisch nicht relativierbare Überschuss in dem Spätwerk der Rechtsphilosophie Kants zum Tragen kommen mag, so wird er doch in seiner Idee einer allgemeinen Gesetzgebung, in der Forderung universaler Autonomie, dem Staatsvertrag, der Volkssouveränität und der Freiheits- und Gleichheitsforderung deutlich, auch wenn er vor allem im Spätwerk nicht selten von der engen Perspektive besitzbürgerlichen Eigentumsdenkens überlagert erscheint. Gerade die Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" bietet aufgrund ihres dualen Aufbaus, der die apriorische Methode mit inhaltlichen Aussagen verknüpft, Platz für eine interdisziplinäre Hermeneutik, die sicherlich dem von Kant intendierten Logos der Rechtslehre näher kommt als bloße ideologische Auslegungsversuche seiner Schrift. Ein Sinnverstehen und Ideologiekritik verbindender Ansatz könnte erheblich dazu beitragen, auch jene Grundtendenz seines Denkes freizulegen, an deren Existenz jenseits aller historischen und gesellschaftlichen Verengung kein Zweifel besteht. Ihr verlieh Kant in einer in seinem Nachlaß veröffentlichten Notiz Ausdruck, die auch heute noch als legitimatorische Grundlage gesellschaftswissenschaftlichen und rechtstheoretischen Denkens gelten kann: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die bisherige Unruhe darin, weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurechtgebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren, und ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtungen allen übrigen einen Wert erteilen können, die Rechte der Menschheit herzustellen". 25
23 Kersting 1983, S. 291. 24 Ebd. 25 Kant 1942, S. 44.
Kants Rechtsphilosophie und der Besitzindividualismus Anmerkungen zum 200jährigen Jubiläum der „Metaphysik der Sitten" Immanuel Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" - kurz „Metaphysik der Sitten" genannt, erschien 1797 im Königsberger Verlag Friedrich Nicolovius.1 Das 200jährige Jubiläum ist ein schöner Anlaß, die Frage aufzuwerfen, welche Gültigkeit diesem eigentlichen Lehrstück der Kantschen Rechtsphilosophie heute zukommt, nachdem es alle Höhen und Tiefen wissenschaftlicher Bewertung durchlaufen hat: Arthur Schopenhauer führte die editorischen, stilistischen und inhaltlichen Defizite der Kantschen Schrift auf die Senilität ihres Verfassers zurück; ein vernichtendes Urteil, das - mit einer kurzen Unterbrechung in den 20er und frühen 30er Jahren - die öffentliche Anerkennung dieses Kantschen Werkes nachhaltig beeinträchtigte. Erst Anfang der 70er Jahre erfolgte die Rehabilitation, die dann ein Jahrzehnt später, wie es scheint, in eine Art hagiographischer Apologie umschlug; Kants angeblich mißglücktes Alterswerk mutierte nun zu dessen „letzter philosophischer Großtat" (Kersting), ja sogar zur „emphatischsten Demokratietheorie der Moderne" (Maus), der ein neues „Paradigma" (Brocker) zu bescheinigen sei. Demgegenüber optiere ich dafür, dem Diskurs über die „Metaphysik der Sitten" das zurückzugeben, was der neueren Forschung angesichts der von ihr betriebenen Kant-Idolatrie verloren zu gehen droht - nämlich ihren kritischen Impetus, für den im übrigen das Lebenswerk des großen Königsberger Philosophen steht. I. Die interpretatorische Perspektive Vereinfacht ausgedrückt, ist das Muster der neuen rechtsphilosophischen KantOrthodoxie in Deutschland auf zwei Prämissen gegründet. Einerseits wird zwischen Kants der Apriorität verpflichteten Philosophiemethodik und ihren materiellen Aussagen unterschieden. Andererseits leiten ihre Vertreter aus dieser Trennung den Schluß ab, daß zwischen der ernst zu nehmenden apriorischen Methode und den inhaltlichen Aussagen kein notwendiger Zusammenhang bestehe: Während sich jene als „wahrheitsfähig" erweise, seien letztere nicht selten dem (kontingenten) historischen Kontext geschuldet und daher irrelevant. 1
Bei der Zitation der Kantschen Texte beziehe ich mich auf Weischedel 1968. Die Quellenangaben befinden sich im Text. Die erste arabische Ziffer bezeichnet den jeweiligen Band, die nach dem Komma folgende Ziffer die Seitenzahl.
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Demgegenüber insistiere ich auf der systematischen Einheit des rechtsphilosophischen Paradigmas, wie Kant es in der „Metaphysik der Sitten" entwickelt hat. Dadurch, daß die einzelnen Elemente des Kantschen Ansatzes nicht aus ihrem, freilich erst plausibel darzulegenden Zusammenhang gelöst werden, hat sich die interpretatorische Energie auf den Nachweis zu konzentrieren, daß auch die - aus heutiger Sicht - inakzeptablen Inhalte der Kantschen Rechtsphilosophie nicht historisch kontingent, sondern logisch zwingender Ausfluß ihrer Prämissen sind. Diese „kritische Hermeneutik" hat gegenüber der Trennung von (wahrheitsfähigen) apriorischen und (kontingenten) inhaltlichen Aussagen nicht nur den Vorteil, daß sie von den Intentionen Kants, zu einer geschlossenen Systematik zu gelangen, ausgeht. Darüber hinaus liefert sie sich keinem „selbstverhängten" Denkverbot aus, wenn es darauf ankommt, auch die Apriorität zentraler Prämissen und Aussagen zu hinterfragen. Die ideologiekritische Öffnung einer solchen Hermeneutik ermöglicht es zudem, bestimmte Aporien und vermeintliche Widersprüche des Kantschen Werkes aufzulösen. Dabei muß ein Erkenntnisinteresse, das den verborgenen gesellschaftlichen Interessenlagen in den Kantschen Konstruktionen nachspüren will, sich keineswegs zu einem doktrinären Vorurteil verhärten, zumal es seine Validität stets an den Kantschen Texten selbst überprüfen kann. Ferner bietet es den nicht unbeträchtlichen Vorteil, „trotz der Verwendung textexterner Interpretamente" erheblich textbezogener zu arbeiten als jene Ansätze, die - vermittelt über ein systematisches Interesse an der Kantschen Rechtsphilosophie - „die Ebene zwischen Deutung und Weiterentwicklung der Kantschen Theorie bis zur Unkenntlichkeit verwischen". 2 Vor allem aber hat ein solcher Ansatz nichts mit materialistischem Reduktionismus zu tun. Sein spezifischer Sinn wird erst durch den Bezug auf das deutlich, was gerade nicht wissenssoziologisch relativiert werden kann. Was an politischen Ideen „überschießend", d. h. generalisierbar ist, ist erst dann ganz zu begreifen, wenn dargelegt wurde, welchen materiellen und sozio-kulturellen Interessenlagen sie in ihrem Entstehungskontext entgegenkamen.
II. Die Besitzindividualismus-These Ausgehend von diesen methodologischen Prämissen ist zu Beginn der 70er Jahre der Versuch unternommen worden, unter Berücksichtigung politiktheoretischer, geschichtsphilosophischer, soziologischer und rechtsphilosophischer Aspekte den Staats- und Gesellschaftsbegriff von Immanuel Kant - insbesondere in seiner „Metaphysik der Sitten" - in der Perspektive seines Eigentumsbegriffs zu rekonstruieren. 3 In der Tat steht und fällt die sogenannte Besitzindividualismus-These mit dem Nachweis, daß die scheinbar heterogenen Elemente der Kantschen Überlegungen in einem kohärenten Gesamtzusammenhang stehen. Das verbindende 2 Zotta 1994, S. 41. 3 Vgl. Saage 1973.
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Moment seien Kants Ausführungen zum Eigentum, „um die sich die gesamte politische Philosophie Kants konzentrisch formiert". 4 Dieser Ansatz stieß bei den Vertretern der neuen Kant-Orthodoxie auf heftige Ablehnung. Wenn ich es richtig sehe, geht es in der Debatte über den „Besitzindividualismus" um die Frage, ob das für die Kantsche Eigentumsdeduktion zentrale Okkupationsprinzip als Machtoder als Konsenstheorie zu interpretieren ist. In Anlehnung an Reinhard Brandt optiert z. B. Wolfgang Kersting dezidiert für die Konsenstheorie.5 Er weist darauf hin, daß Kant in der Tradition Pufendorfs stehe, der die Okkupation auf einen Vertrag gründet. Über Pufendorfs Kontraktualismus gehe Kant sogar noch hinaus: Er ersetze den ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag durch die Idee eines vernünftigen Konsenses. Auch jene Theoretiker, die die These des Besitzindividualismus vertreten, haben dieses quasi-kontrakualistische Element in der Kantschen Eigentumsdeduktion nie bestritten. Aber sie haben darauf hingewiesen, daß der Individuierung des Privateigentums durch gewaltsame Okkupation die Priorität gegenüber der Idee eines a priori vereinigten Willens zukomme, weil sie der Aneignung einer Sache, die andere von ihrem Gebrauch ausschließt, erst im nachhinein den „Vernunfttitel der Erwerbung" verleihe. Kant selbst legte diese Interpretation durch die Reihenfolge der drei Elemente seiner Eigentumsdeduktion in der „Metaphysik der Sitten" zwingend nahe (7,368 f.): 1. Die Apprehension eines Gegenstandes, der keinem gehörte. Diese erste Besitznahme ist ein einseitiger Zwangsakt, der das Eigentum aus der „ursprünglichen Gemeinschaft der Erde" herauslöst und vor aller vertraglichen Fixierung privatisieren soll. 2. Die Bezeichnung (declaratio), die alle anderen davon abhält, auf den „Besitz dieses Gegenstandes" und den „Akt meiner Willkür" Anspruch zu erheben. 3. Die Zueignung (appropriatio), durch die der „allgemein gesetzgebende Wille (in der Idee)" das individuierte Eigentum zum Gegenstand des Konsenses aller macht. Das kontraktualistische Element in Gestalt des allgemeinen Willens in Kants Eigentumsdeduktion hat also keinen konstitutiven, sondern nur reaktiven Charakter. Der Umfang des Privateigentums ist nicht durch die volonté générale, sondern lediglich durch das faktische Vermögen begrenzt, einen Gegenstand in seiner Gewalt zu haben und gegen Angriffe zu schützen. Wer dieses individuierende Gewaltmotiv in der Kantschen Eigentumsdeduktion entschärft, verkennt, daß über die Struktur der Eigentumsverhältnisse bereits entschieden ist, wenn das demokratische und zugleich diskursive Prinzip des allgemeinen Willens greift und der prozedurale Charakter der Verallgemeinerungsidee zur Geltung kommt. Was spricht, außer den genannten Gründen, für diese These? Ich meine, daß sich ihre volle Evidenz erst dann zeigt, wenn man Kants Theorie des Rechts im bürgerlichen Zustand hinreichend berücksichtigt. Geschieht dies, so zeigt sich, daß Interpretationen, die Kants Theorie „der Tradition des liberalbürgerlichen Besitzindivi4 Zotta 1994, S. 13. 5 Vgl. Kersting 1991, S. 121.
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dualismus zuordnen, in der Tat eine beachtliche Plausibilität"6 haben. Folgende Gründe lassen sich für diese These anführen: 1. Die gesamte Eigentumsordnung des Naturzustandes wird im Staat lediglich gesichert, „eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt" (7,366). Entsprechend gilt das gesamte Privatrecht des Naturzustandes vernunftrechtlich auch im Staat. Es wird in ihm lediglich positiviert, konkretisiert und gerichtlich geschützt. Die einzige Korrektur besteht darin, daß der Staat einige soziale Funktionen übernimmt, die aber über das Niveau der Armenfürsorge kaum hinauskommen (7,447). 2. Niemand kann bestreiten, daß die Funktion der Eigentumssicherung nicht nur bei Locke, sondern auch bei Kant im Zentrum der Staatsaufgabenlehre der „Metaphysik der Sitten" steht. Für Kant hat sie eine solche konstitutive Bedeutung, daß er sie weitgehend vom tugendhaften bzw. moralischen Verhalten der Bürger abkoppelt. In seiner Wirksamkeit auf die Sphäre der Legalität eingeschränkt, soll die Errichtung eines solchen Staates auch eine für „ein Volk von Teufeln" lösbare Aufgabe sein, „wenn sie nur Verstand haben" (9,224). 3. Ebenso unbestreitbar ist, daß Kant unter Gleichheit immer rechtliche Gleichheit versteht, die „ganz wohl mit der größten Ungleichheit der Menge und den Graden des Besitztums ( . . . ) respektiv auf andere" (9,147) vereinbar ist. Tatsächlich finden sich in Kants Rechtskonzeption keine Aneignungsschranken, die die Entstehung von bürgerlichem Großgrundbesitz und Großkapital verhindern, solange alles rechtlich geschieht. 4. Und schließlich legt Kant, wie wir wissen, die Aktivbürgerschaft äußerst restriktiv aus. Er folgert sie charakteristischerweise aus dem Prinzip der bürgerlichen „Selbständigkeit", nach dem z. B. Gesellen, Dienstboten, Hauslehrer, Zinsbauern und „alles Frauenzimmer" (7,433) nicht wahlberechtigt sind. Es muß nicht eigens betont werden, daß die besitzindividualistische Interpretation der politischen Theorie Kants nie ihren „überschießenden Gerechtigkeitsgehalt" in Frage gestellt hat. Worin besteht ihr ideologiekritisch nicht relativierbarer Kern? Ich möchte hier den Gerechtigkeitsgehalt der Kantschen Idee des Sozialkontrakts nennen. Kant hat sie auf die Formel eines „Probierstein(s) der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes" gebracht. Deren Ziel ist es, „jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können,, und jeden Untertanen, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe" (9,153). Was sich an dieser Formel als „überschießender Gehalt" erweist, ist die Verallgemeinerungsfähigkeit der Argumentationsfigur des Sozialvertrags. Zwar steht seine Herkunft aus der Sphäre des bürgerlichen Warenverkehrs außer Frage. Doch geht er in seiner Verankerung in der Interessenlage des frühen Bürgertums nicht auf. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die Verallgemeinerungsidee im wesentlichen eine prozedurale Idee ist. „Demgemäß sind die Prinzipien, die ihr Ausdruck verleihen, wesentliche prozedurale Prinzipien, d. h. solche, die Rationalitätsbedingungen für Verfahren indi6 Dreier 1991, S. 180 f.
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vidueller und kollektiver Urteils- und Willensbildung formulieren, ohne das Ergebnis der Verfahren vorwegzunehmen".7 Nichts dokumentiert den Verallgemeinerungsgehalt des Kantschen Sozialkontrakts überzeugender als die Tatsache, daß ein moderner Klassiker wie John Rawls mit seiner Theorie der original position an ihn anknüpfte und zu ähnlichen Gerechtigkeitsvorstellungen gelangte, freilich im Unterschied zum Königsberger Philosophen mit einer klaren sozialstaatlichen Akzentuierung.
I I I . Kants „Metaphysik der Sitten" und der Sozialstaat Tatsächlich ist die Stellung der volonté générale innerhalb der Architektur der Kantschen Eigentumslehre noch in einer anderen Hinsicht Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen. Die Vertreter der Besitzindividualismus-These sehen nämlich im Kantschen Gemeinwesen einen Minimalstaat; er sei die Instanz, „durch welche jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird" (7,366). Wie die volonté générale lediglich reaktiv legitimierend auf das durch Okkupation individuierte Eigentum bezogen ist, so hat sie im verfaßten Staat keinerlei Kompetenz zum Eingriff in die Eigentumsverhältnisse zugunsten der sozial Schwachen. Dem die volonté générale institutionalisierenden bürgerlichen Rechtsstaat kommt lediglich die Aufgabe zu, ein voll ausgebildetes, d. h. gesellschaftlich wirksames „Mein" und „Dein" einerseits und darauf beruhende gesellschaftliche Beziehungen andererseits zu schützen, nicht aber die Voraussetzung für deren Bildung erst zu schaffen. Trotz dieser eindeutig im Text nachweisbaren Strukturbeziehung hält sich in der neueren Forschung hartnäckig die These, Kant müsse als Vater der Sozialstaatsidee gelten. Ihre Vertreter gehen von der Annahme aus, „daß die gesamte Eigentumsordnung aus der Sicht von Kants Theorie als »provisorisch 4 verstanden werden kann".8 Die Folgen sind für den Handlungsspielraum staatlicher Intervention in Kants politischer Theorie weitreichend: Nicht die individuelle Okkupation herrenlosen Bodens ist das Medium der Verteilung, sondern die volonté générale: Sie entscheide, „was und wieviel man haben darf 4 . 9 Kant begründet in den Augen dieser Interpreten „ein Recht des Staates auf Veränderung der vorgegebenen Eigentumsordnung nach Grundsätzen der Gerechtigkeit". 10 Es besteht kein Zweifel: Dieser Ansatz überschätzt die Rolle des allgemeinen Willens in Kants „Metaphysik der Sitten". Diesem Willen hatte Kant eine eingeschränkte, aber klare Aufgabe zugewiesen: Er sollte überprüfen, ob sich der Okkupant auch tatsächlich als erster Boden angeeignet und dadurch einen legitimen 7 A. a. O., S. 182. 8 Langer 1986, S. 169. 9 A. a. O., S. 157. 10 A. a. O., S. 159.
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Rechtstitel an ihm erworben hat. Demgegenüber wird in diesem Interpretationsparadigma der besitzindividualistische Kontext, innerhalb dessen die volonté générale in der „Metaphysik der Sitten" zu agieren hat, ersetzt durch einen Primat der Allgemeinheit gegenüber dem Anspruch der Individuen. Treffend formuliert Zotta: „In letzter Instanz erscheint Kant plötzlich als potentieller Theoretiker sozialistischer Staatsmodelle. Seine Theorie wird reduziert auf die Quintessenz: alles ist möglich, solange die volonté générale es beschließt".11 Damit ist auch der Versuch, mit analogen Argumentationsfiguren Kant für den Marxismus zu reklamieren, ein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Entsprechend sind, wenn man der Intention der Kantschen Texte folgt, alle Interpretationen abzulehnen, die im Eigentum bei Kant eine creatio ex nihilo der sich im Staat konkretisierenden volonté générale sehen.
IV. Das Demokratiepotential der „Metaphysik der Sitten" Aber auch die neueren Versuche, Kant zum Demokratietheoretiker par excellence zu stilisieren, 12 lassen sich eher als „Weiterentwicklung" denn als textnahe Interpretation rechtfertigen. Daran ändert auch Kants Formel nichts, deren suggestive Kraft viel dazu beigetragen hat, ihn als den genuinen Vordenker der modernen Demokratie zu feiern: „Was ein Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen" (9,162). Denn die Frage ist, was Kant unter dem Begriff „Volk" versteht. Eine von strategischem Denken unvoreingenommene Deutung der „Metaphysik der Sitten" kommt um die Tatsache nicht herum, daß die besitzindividualistische Prägung des Privatrechts durch das Okkupationsprinzip nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung öffentlicher Diskurse ist. Ebenso wenig, wie man die historischen Inhalte des Kantschen Privatrechts als bloße „Patina" seiner Rechtsphilosophie abtun kann, ebenso wenig kann sich der Schluß an den Texten ausweisen, daß nicht nur die Eigentumsverhältnisse, sondern auch die demokratischen Regeln der Willensbildung zur Disposition der volonté générale stehen. Die Ausführungen Kants machen sehr deutlich, daß er den vollentwickelten Menschen mit dem Eigentümer gleichsetzte. Die provisorisch-rechtliche Qualität seines im Naturzustand erworbenen Eigentums wird durch den Gesellschaftsvertrag zu einer peremtorisch-rechtlichen Größe transformiert. Wenn aber Eigentümer das Gemeinwesen konstituieren, um mit der Errichtung eines rechtsstaatlichen Gewaltmonopols das Mein und Dein zu sichern, dann hat dieser Zusammenhang Auswirkungen auf die Definition des Vollbürgers. Zwar kann Kant zufolge nur „die gesetzgebende Gewalt ( . . . ) dem vereinigten Willen des Volkes zukommen" (8,432). Doch wer glaubt, daß er unter dem vereinigten Volkswillen einen Zusam11 Zotta 1994, S. 38. 12 Vgl. exemplarisch Maus 1992.
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menschluß aller vernunftbegabten Menschen versteht, der irrt. Mit großer Konsequenz sieht Kant das Kriterium der Aktivbürgerschaft vielmehr darin, daß der einzelne „sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin ein Eigentum habe" (9,151). Der große Rest der Bevölkerung, der diesem Kriterium wirtschaftlicher Selbständigkeit nicht entspricht, muß sich hingegen mit dem Status eines bloßen „Schutzgenossen" zufrieden geben. „Das aktive Bürgerrecht ist selbst ein Eigentumsrecht", wird von Koslowski zu Recht konstatiert. 13 So gesehen, ist die demokratische Potenz der „Metaphysik der Sitten" eher gering; sie fällt, wenn man sie etwa mit Schlözers „Staatslehre" von 1793 vergleicht, hinter den Ansatz des Göttinger Gelehrten zurück. Schlözer stimmte zwar mit Kant überein, daß das Volk im weiteren Sinne, nämlich als Summe aller auf einem staatlichen Territorium lebenden Menschen, Anspruch auf die Respektierung und den Schutz seiner Menschenrechte hat. Im Gegensatz zu Kant konnte er jedoch nicht einen Begriff des Volkes im engeren Sinn, nämlich als Gesamtheit der citoyens actifs, akzeptieren, von dem ausgeschlossen waren: „1. das ganze weibliche Geschlecht, 2. alle Mannspersonen unter 25 Jahren, 3. alle, die etat domesticite sind oder 4. nicht so viel an contribution directe bezahlen als der Arbeitslohn von drei Tagen beträgt". 14 Er setzte sich also über besitzbürgerliche, weil auf dem Zensus beharrende Einschränkungen des Wahlrechts ebenso hinweg wie über patriarchalische Vorurteile, denen selbst Kant verpflichtet blieb. Warum man ihn dennoch als einen Vördenker der Demokratie bezeichnet, bleibt unklar.
V. Kants Naturzustand ohne anthropologische Setzungen? An der Besitzindividualismus-These wurde aber nicht nur die Priorität der Okkupation gegenüber der volonté générale kritisiert und die aus diesem Verhältnis folgende Minimalstaatskonzeption in Kants „Metaphysik der Sitten", die jede sozialstaatliche Tätigkeit ausschließt. Ihre Vertreter müssen sich auch mit der Kritik auseinandersetzen, sie hätten Aussagen Kants über die Triebstruktur der konkurrierenden Bürger als notwendige Voraussetzung für das antagonistische und auf einen „Krieg aller gegen alle" hinauslaufende Verhalten der einzelnen in der vorstaatlichen Gesellschaft mißverstanden, weil Kant in der „Metaphysik der Sitten" ausdrücklich auf die Irrelevanz anthropologischer Charakteristika bei der Beschreibung des Naturzustandes (vgl. 7,430) hingewiesen habe. Diesen programmatischen Anspruch bei der Niederschrift meiner Monographie verkannt zu haben, räume ich freimütig ein. Doch daß Kants negative Anthropologie für seine Rechtsphilosophie deswegen irrelevant sei, vermag ich nicht einzusehen. So hat Franco Zotta darauf hingewiesen, daß die den status naturalis bevölkernden Individuen Bewohner einer Kugelfläche sind, die in Form privater Eigentums13 Koslowski 1985, S. 16. 14 Schlözer 1793, S. 158.
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titel rechtmäßig und restlos aufgeteilt ist. Da die Erde von Kant als Privateigentumskonglomerat konzipiert wurde, liegen die Folgerungen einer solchen Option auf der Hand: Im Augenblick des Aufeinandertreffens zweier Menschen im Naturzustand stehen sich Eigentümer gegenüber, deren primäres Verhältnis über Besitzstände vermittelt ist. Der andere bedroht nun allein schon deshalb, weil er existiert, virtuell mein Recht auf rechtliche Verhältnisse, das sich in erster Linie im Recht auf Eigentum materialisiert. Infolgedessen resultiert aus einer solchen Konstellation notwendig ein antagonistisches Verhältnis der Individuen zueinander, „was aber nun von Kant nicht anthropologisch als Ausdruck egoistischen Besitzstrebens, sondern als Ergebnis einer vernunftrechtlichen Weltaufteilung" verstanden wird. 15 Was bedeutet dies für die Analyse der zwischenmenschlichen Beziehungen im Naturzustand? Zwar ist der Mensch nach Kant nicht notwendig böse, aber er ist notwendig potentieller Eigentümer. Um sein antagonistisches Verhalten zu erklären, bedarf es keines Rekurses auf eine vorgeblich negative Triebstruktur des Menschen, weil der latente Kriegszustand das Individuum ohnehin zu einem Verhalten zwingt, das zu tun, „was ihm recht und gut dünkt", ohne „hiervon von der Meinung des anderen ( . . . ) abzuhängen" (7,430). Das Individuum, so kann man argumentieren, „hat die Gestalt des moralischen ,Mängelwesens4 in sich aufgesogen und die boshaften Triebe in Form der ,Introjektion des ökonomischen und politischen Drucks in die eigene Seele' (Horkheimer) integriert". 16 Auch ohne anthropologische Fundierung erwächst aus der Dynamik konkurrenzbezogener Eigentumsverwertung der Zwang zum Gewaltmonopol des bürgerlichen Rechtsstaates; er ist die einzige Institution, in deren Rahmen die friedliche Koexistenz der Besitzbürger gesichert erscheint. Man könnte sogar sagen, daß die Preisgabe der anthropologischen Fundierung eine Radikalisierung des Kantschen Besitzindividualismus bedeutet. Wer das Menschenbild, das einer bestimmten Option der Gestaltung der sozio-politischen Verhältnisse zugrundeliegt, transparent macht, läßt Raum für normative Appelle an die Vernunft, aggressives und asoziales Handeln zu unterlassen. In dem Maße aber, wie Kant das Eigentümerverhalten mit der „Sakrosanktheit eines Vernunftbegriffs" (Zotta) aufwertet, wird es als Resultat einer Deduktion vorgestellt, die in ihrer angeblichen Rationalität nicht nur voraussetzungs-, sondern auch alternativlos ist.
VI. Abschließende Bemerkungen Das 200jährige Jubiläum des Erscheinens der „Metaphysik der Sitten" erinnert uns daran, daß auf die rechtsphilosophische Kant-Forschung große Aufgaben warten. Sie wird ihnen nur dann gewachsen sein, wenn sie ihre kritische Kompetenz zurückerlangt. Einerseits muß intensiver als bisher untersucht werden, welche Ele15 Zotta 1994, S. 21. 16 A. a. O., S. 22.
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mente der apriorischen Methode zu Lasten des Erfahrungswissens gehen. Andererseits ist zu analysieren, welche spezifisch aposteriorischen Komponenten von Kant in den Rang apriorischer Bestimmungen gehoben wurden, ohne universalisierungsfähig zu sein. Vor allem aber ist der Zusammenhang zwischen Rechtsphilosophie und geschichtsphilosophischer Teleologie neu aufzurollen. Diese Fragestellung erscheint auf den ersten Blick wenig plausibel, da Kant in seiner Spätschrift auf eine Auseinandersetzung mit geschichtsphilosophischen Fragestellungen verzichtet. Dennoch legen seine Ausführungen zum Widerstandsrecht und sein Eintreten für ein reformorientiertes Politikverständnis die Hypothese nahe, daß zentrale Elemente seiner Rechtslehre eine teleologische Ausrichtung haben. Treffen diese Beobachtungen zu, wäre nicht auszuschließen, daß erst die geschichtsphilosophischen Prämissen die innere Architektur der Kantschen Rechtsphilosophie vollenden. Zugleich müßte, ließe sich diese Hypothese erhärten, die Qualität des „regulativen Prinzips" in Kants Geschichtsphilosophie neu überdacht werden. Die bisher vorherrschende Interpretation sah die entscheidende Differenz zwischen der Geschichtsphilosophie Hegels und Kants darin, daß der erstere die Geschichte vollständig „logisierte" und sie dem welthistorischen Determinationszusammenhang des zu sich selbst kommenden Weltgeistes unterwarf. Demgegenüber wurde der Geschichtsphilosophie Kants Offenheit konzediert, da sie sich von regulativen Vernunftideen leiten ließ, die lediglich für eine mögliche Sicht des Geschichtsverlaufs warben, ohne den Anspruch zu erheben, daß das unterstellte vernünftige „telos" auch tatsächlich realisiert würde. Die Frage ist, ob diese Differenz dadurch erkauft wurde, daß man die gleichzeitige geschichtsdoktrinäre Intention Kants übersah. 17 Die rechtsphilosophische Kant-Forschung hätte sich also mit dem Problem auseinander zusetzen, was es für die Freiheitsgarantien der Individuen bedeutet, wenn es eine Dimension im geschichtsphilosophischen Denken Kants gibt, die der Vollendung des Menschengeschlechts als Gattung Vorrang gegenüber den Bedürfnissen des Individuums einräumt. Würde dann nicht in letzter Instanz die Integrität des seine Leiblichkeit akzeptierenden einzelnen der angeblich teleologischen „Geschichtslogik" geopfert werden?
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Vgl. Zotta 1997. Zotta kommt zu dem kritisch gegen die Stoßrichtung der Rechtsphilosophie Kants gerichteten Schluß, daß dessen „Verwendung des Begriffs ( . . . ) »regulativ4 ein Synonym für apodiktisch (ist), da jene regulativen Ideen universale und ewige Gültigkeit reklamieren. Kant untergräbt damit in folgenschwerer Weise die Unterscheidung zwischen Epistemologie und Ontologie" (a. a. O., S. 217).
Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres* Unter dem Eindruck des Baseler Friedens von 1795 entstanden, hat Kants Schrift „Zum ewigen Frieden" unter seinen Zeitgenossen großes Aufsehen erregt und eine breite publizistische Diskussion entfacht. So haben Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schlegel und Joseph Görres an Kant anknüpfend versucht, mit eigenen Untersuchungen über dessen Vorstellungen hinauszugehen. Erscheinen ihre Friedenskonzeptionen teilweise auch dezidierter und kühner als die im „Ewigen Frieden" vorsichtig formulierten Gedanken, so ist es das Ziel der folgenden Ausführungen, den hierfür zu zahlenden Preis aufzuzeigen. 1 Um nun aber verdeutlichen zu können, in welcher Richtung der im „Ewigen Frieden" entfaltete Ansatz modifiziert bzw. weiterentwickelt wurde, soll in den nachfolgenden Erörterungen das Kantsche Modell einer internationalen Friedenssicherung zunächst in seinen Grundrissen skizziert werden. Dabei liegt der Schwerpunkt anfangs auf den Funktionsbedingungen, die für die Wirksamkeit dieser Friedenskonzeption vorausgesetzt sind. Im Anschluß daran ist zu fragen, ob von Kant über deren normative Verbindlichkeit hinaus empirisch-historische Tendenzen ausgemacht werden, die, falls mit jenen konvergierend, seinen Überlegungen eine zusätzliche Plausibilität verleihen. Erst dann können wir uns dem eigentlichen Problem zuwenden, der Frage nämlich, wie er seine Friedensutopie2 mit der historischen Wirklichkeit zu vermitteln sucht. Schließlich haben wir in der Perspektive dieser Fragestellung zu prüfen, zu welchen Resultaten bzw. praktischen Folgerungen Fichte, Schlegel und Görres in der Auseinandersetzung mit den Grundpostulaten des Kantschen Modells gelangen.
* Dieser Einleitung liegt der Aufsatz zugrunde:,»Friedensutopien des ausgehenden 18. Jahrhunderts", in: Jahrbuch des Instituts fiirDeutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Bd. IV S. 111 ff. Der Aufsatz entstand in Zusammenarbeit mit Zwi Batscha. 1 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei bereits hier darauf hingewiesen, daß das Ziel dieser Studie gleichzeitig in dem Nachweis besteht, daß es „die" Utopie nicht gibt. Vielmehr wird man differenzieren müssen zwischen in ihren praktischen Auswirkungen sehr unterschiedlichen utopischen Ansätzen: je nachdem, in welchem Maße sie den polit-ökonomischen Kontext, von dem sie ausgehen, berücksichtigen. 2 Freilich muß betont werden, daß der Begriff „Utopie" von den Verfassern dieses Aufsatzes, nicht aber von Kant gebraucht wird. Er selbst distanziert sich von den Utopien Piatons, Thomas Morus' u. a., indem er deren subjektive und unpraktische Momente hervorhebt. Sie seien denn auch „nie ( . . . ) nur versucht worden". Ihnen konfrontiert er sein rechtliches Postulat des „Ewigen Friedens", dem „sich ( . . . ) zu nähern, nicht allein denkbar, sondern so weit es mit dem moralischen Gesetze zusammen bestehen kann, Pflicht" ist. (Kant 1977, S. 366.)
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L Im „Ewigen Frieden" bindet Kant die Möglichkeit der Überführung einer durch kriegerische Auseinandersetzungen charakterisierten zwischenstaatlichen Sphäre in einen umfassenden Friedenszustand bekanntlich an sechs negative (Präliminarartikel) und drei positive Bedingungen (Definitivartikel). Die erste negative Funktionsvoraussetzung seines Friedensmodells fordert, daß „kein Friedensschluß für einen solchen gelten (soll), der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffes zu einem künftigen Kriege gemacht worden" 3 ist. Gegen die absolutistische Arkanpolitik gerichtet, die die „wahre Ehre des Staates" „in beständiger Vergrößerung der Macht" sieht, verlangt Kant mit diesem Artikel mehr als bloß einen Waffenstillstand, d. h. einen „Aufschub der Feindseligkeiten", sondern das „Ende aller Hostilitäten" schlechthin. Ferner besteht eine weitere Voraussetzung für den internationalen Frieden in dem Verbot, daß ein „für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden" kann. Für Kant ist nämlich ein Gemeinwesen nicht „(wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe (Patrimonium)", sondern „eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders, als er selbst, zu gebieten und zu disponieren hat". Als „moralische Person" muß er vor jeder Instrumentalisierung geschützt sein. „ A u c h die Verdingung der Truppen eines Staats an einen andern, gegen einen nicht gemeinschaftlichen Feind, ist dahin zu zählen; denn die Untertanen werden dabei als nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und verbraucht". 4 Als weitere Bedingung nennt Kant die Forderung, daß „stehende Heere (miles perpetuus) .. .mit der Zeit ganz aufhören (sollen)". Indem nämlich diese ein Wettrüsten bewirken, durch dessen „Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg", seien „sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden". Auch müsse die Praxis der Söldnerheere, nämlich der „Gebrauch von Menschen als bloße Maschinen und Werkzeuge in der Hand eines anderen (des Staates)" „mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person" als unvereinbar angesehen werden. Dagegen optiert Kant für ein aus „Staatsbürger(n) in Waffen" bestehendes Volksheer, dessen Funktion freilich rein defensiv sein soll. Die vierte negative Voraussetzung geht davon aus, daß „keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden". 5 Eine solche Maßnahme führe unvermeidlich in den Staatsbankrott. Allerdings sei „zum Behuf der Landesökonomie (der Wegebesserung, neuer Ansiedlungen, Anschaffung der Magazine für besorgliche Mißwachsjahre u.s.w.)... diese Hülfsquelle unverdächtig". Die fünfte Bedingung schließlich verbietet, daß sich ein „Staat... in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig" einmischt. Wie dies schon beim zweiten und dritten Präliminarartikel der Fall war, leitet Kant auch hier seine Forderung aus der auf der volonté générale der Voll3 4 5
Batscha/Saage 1979, S. 39, auch die drei folgenden Zitate. A. a. O., S. 40, auch die drei folgenden Zitate. A. a. O., S. 41, auch die beiden folgenden Zitate.
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bürger gegründeten Autonomie eines Staates ab, die durch Intervention von außen in Frage gestellt würde. Ist allerdings die gesellschaftliche und politische Polarisierung eines Landes so weit fortgeschritten, daß de facto die bestehende Verfassung als aufgehoben gelten muss, weil zwei Staaten existieren, von denen jeder „auf das Ganze Anspruch" erhebt, kann es „einem äußern Staat nicht für Einmischung in die Verfassung des andern (denn es ist alsdann Anarchie) angerechnet werden" 6, wenn er darum um Hilfe gebeten wird. Das letzte Postulat bezieht sich nun nicht unmittelbar auf den Frieden selbst, sondern stellt auf eine „Ethisierung" des Krieges ab: ,3s soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind, Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats (perduellio) in dem bekriegten Staat etc." Wenn Kant mit diesen Präliminarartikeln die Faktoren nennt, die seiner Meinung nach strukturell eine Realisierung des Friedens verhindern, dann stellt sich die Frage, welches positive Surrogat er an die Stelle des von ihm kritisierten zwischenstaatlichen Bereichs setzen will. Diese Problematik versucht er durch eine Konzeption der internationalen Friedenssicherung zu lösen, die auf drei Voraussetzungen beruht. Die erste Voraussetzung folgt aus Kants Einsicht in die Verklammerung von innerstaatlicher Struktur und außenpolitischem Verhalten, die er, soweit wir sehen können, als einer der ersten in dieser Schärfe erkannt hat. Nach Kant kann sich eine internationale Friedensordnung nämlich nur unter der Bedingung konsolidieren, daß die an ihr partizipierenden Staaten Republiken sind. Deren Organisationsstruktur ist dadurch charakterisiert, daß sie erstens eine „nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen); und drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung - die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß" 7 , besitzen. Nur eine staatliche Einheit, deren inneres Konstitutionsprinzip das aus der volonté générale der Besitzbürger 8 fließende Recht ist, wird sich auch nach außen, d. h. im zwischenstaatlichen Bereich, an diesem orientieren. Darüber hinaus bringt Kant aber noch ein anderes Argument ins Spiel, das für das pazifistische Verhalten der Republiken spricht: es ist das wohlverstandene, in der Steuerautonomie verankerte materielle Interesse der die Republik konstituierenden Besitzbürger, das sie an außenpolitischen Abenteuern hindert. 9 In einer Verfassung dagegen, „wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist", sei „es die unbedenklichste Sache von der Welt", eine 6 A. a. O., S. 42. 7 A. a. O., S. 44. 8
Zu den besitzindividualistischen Grundlagen der Kantschen Republik vgl. Saage 1973. 9 Batscha/Saage 1979, S. 49, auch das folgende Zitat.
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außenpolitische Aggression zu versuchen, weil das Oberhaupt des Gemeinwesens als Staatseigentümer einen Krieg risikolos zu führen und daher aus unbedeutenden Ursachen zu beschließen in der Lage ist. Die fingierte Rechtfertigung des militärischen Unternehmens könne er dem dazu jederzeit bereiten diplomatischen Korps ruhig überlassen. Nachdem Kant die innerstaatlichen Voraussetzungen für einen zwischenstaatlichen Friedenszustand expliziert hat, wendet er sich der Frage zu, wie dieser institutionell abzusichern sei. Diese Problematik versucht er mit dem Postulat zu beantworten, daß „das Völkerrecht... auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein (soll)". 10 Zur Begründung dieser Forderung gelangt er, indem er den Übergang der einzelnen vom Naturzustand in das Gemeinwesen auf den zwischenstaatlichen Bereich überträgt: „Völker, als Staaten, können wie einzelne Menschen beurteilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinandersein lädieren, und deren jeder, um seiner Sicherheit willen, von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine, der bürgerlichen ähnliche, Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann". Freilich trifft die Analogie zwischen der Herstellung des inner- und zwischenstaatlichen Friedenszustandes nur begrenzt zu. Denn im Sinne jener Projektion müßten die einzelnen Staaten „eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Volkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Volker der Erde umfassen würde, bilden". 11 Da aber die Völker nach ihrer Idee des Völkerrechts auf ihrer Autonomie bestehen, „so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigungen aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs". Auf einer dritten Ebene kommt es Kant schließlich darauf an, eine Rechtssphäre zu begründen, die den zwischenstaatlichen Friedenszustand gleichsam vollendet: es ist das „Weltbürgerrecht", das ihm zufolge „auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein" soll und das „das Recht eines Fremdlings" meint, „seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden". 12 Zwar könne dieser „ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang" geschehe. Verhalte er sich aber friedlich, so dürfe „ihm nicht feindlich" begegnet werden. Abgeleitet wird dieses Besuchsrecht aus dem „Recht des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche", die Menschen „sich nicht ins Unendliche zerstreuen" können, so daß sie sich „einander dulden ( . . . ) müssen", sowie aus der Tatsache, daß „ursprünglich ( . . . ) niemand an einem Ort der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere". Allerdings 10 A. a. O., S. 46, auch das folgende Zitat, u A. a. O., S. 49, das folgende Zitat S. 49 f. 12 A. a. O., S. 50, die folgenden fünf Zitate S. 50 f.
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betont Kant, daß „die Befugnis der fremden Ankömmlinge sich nicht weiter erstreckt, als auf die Bedingungen der Möglichkeit, einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen". Wenn Kant hofft, daß auf diese Weise „entfernte Weltteile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden, und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können", so lehnt er andererseits scharf die ausbeuterische Kolonialpolitik der „gesitteten, vornehmlich handelstreibenden Staaten unseres Weltteils" ab. 13 Versuchten die bisherigen Ausführungen die idealtypische Skizzierung der dreistufigen Konstruktion des Kantschen Friedensmodells, so wurde damit zugleich auch die Diskrepanz deutlich, die dieses System der Bedingungen eines weltweiten Friedens von der Realität des ausgehenden 18. Jahrhunderts trennte. Wollte Kant dem Vorwurf gutgemeinter, aber naiver und möglicherweise gefährlicher Friedensvorstellungen entgehen, die, falls auf ihre Realisierung nicht von vornherein verzichtet wurde, ihrerseits nur durch Kriege zu verwirklichen waren, so mußte es ihm darauf ankommen, Vermittlungsebenen auszumachen, die seinen Vernunftpostulaten eine empirische Verwirklichungschance verbürgten, ohne in ihr Gegenteil umschlagen zu müssen. Daß Kant diese Gefahr sah und ihr bereits in der Konstruktion seines Modells zu begegnen suchte, hat, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, sein Verzicht auf die Konzeption eines homogenen, den internationalen Frieden garantierenden Völkerstaates genauso deutlich gemacht wie sein striktes Verdikt gewalttätiger Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Volkes 14 : wenn es nach Kant einen internationalen Frieden gibt, dann im Rahmen eines Volkerbundes, der die Autonomie der einzelnen Staaten nicht aufhebt, sondern voraussetzt. Wie aber konnte angesichts dieser Prämisse in einer überwiegend monarchisch organisierten Welt die entscheidende Voraussetzung seines Friedensmodells, nämlich die republikanische Struktur der Staaten, erfüllt werden? Oder anders gefragt: Wie konnte Kant mit einem Modell, das, wie es scheint, den bestehenden Status quo prinzipiell akzeptierte, diesen zugleich überwinden wollen? Zunächst ist in diesem Zusammenhang wichtig, daß Kant zwischen der Monarchie und der Republik keine unüberwindbaren Gegensätze sieht. Das für die Republik konstitutive Gewaltenteilungsprinzip wird von Kant nämlich keineswegs als ein empirischer Kontrollmechanismus verstanden, sondern als eine regulative Idee, die dem einzelnen lediglich einen Bewertungsmaßstab an die Hand gibt. Dies vorausgesetzt, kann ein Staat schon auf der Grundlage der Gewaltenteilung, also republikanisch, regiert werden, „wenn er gleich noch, der vorliegenden Konstitution nach, despotische Herrschermacht besitzt". 15 Nach Kant ist es also sehr gut möglich, daß ein absolut herrschender Fürst den Rechtsstaat und damit die Republik verwirklicht. Welches Interesse sollte er aber an solchen Reformen haben? In sei13 A. a. O., S. 51. 14 Vgl. hierzu den 5. Präliminarartikel, a. a. O., S. 41 f. 15 A. a. O., S. 62.
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ner Schrift „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte" deduziert Kant es aus dem egoistischen Verhalten der Staaten gegeneinander, „denn Kriegsgefahr ist auch noch jetzt das einzige, was den Despotismus mäßigt; weil Reichtum dazu erfordert wird, daß ein Staat jetzt eine Macht sei, ohne Freiheit aber keine Betriebsamkeit, die Reichtum hervorbringen könnte, stattfindet". 16 Diese Freiheit breitet sich auf reformerischem Wege weiter aus; ihr Vordringen resultiert aus der Logik der Selbstbehauptung der Staaten im internationalen Wettbewerb. 17 Es ist also der eigene Vorteil, den die Herrschenden im Sinne ihrer Machterhaltung, langfristig gesehen, zu wahren gezwungen sind, auf den Kant setzt, wenn er die Prognose stellt, die Aufklärung werde „nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen, und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluß haben". Wenn Kant so im faktischen Vorherrschen der Monarchien im ausgehenden 18. Jahrhundert kein Hindernis für die allmähliche Herausbildung republikanischer Strukturen sieht, so weist er darüber hinaus auf zwei Tatsachen hin, die ihm die realitätsbezogene Relevanz seiner Friedenskonzeption zu garantieren schienen. Zunächst macht er darauf aufmerksam, daß es doch „bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken läßt (indessen daß sie im bürgerlich-gesetzlichen Zustande durch den Zwang der Regierung sich sehr verschleiert)", erstaunlich sei, wenn das „Wort Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können, und sich noch kein Staat erkühnet hat, sich für die letztere Meinung öffentlich zu erklären". 18 Dieser Tatbestand beweise die, wenngleich noch nicht aktualisierte „moralische Anlage" im Menschen, die hoffen lasse, daß sie doch einmal über das „böse Prinzip" in ihm und den anderen siegen werde. Zum andern sieht Kant „die Ausführbarkeit (objektive Realität)" der für den Völkerbund konstitutiven Idee des Föderalismus durch das Ereignis der Französischen Revolution bestätigt: dadurch, daß „ein mächtiges und aufgeklärtes Volk" eine Republik, „die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß", gegründet habe, stelle „diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten" dar, „um sich an sie anzuschließen, und so den Freiheitszustand der Staaten, gemäß der Idee des Volkerrechts zu sichern, und sich durch mehrere Verbindungen nach und nach immer weiter auszubreiten". 19 Aber Kant geht bei seinem Versuch, sein Friedensmodell mit der Realität zu vermitteln, noch einen Schritt weiter. Neben dem bloß beschreibenden Aufweis von Indizien reflektiert er nämlich die Mechanismen in der empirischen Welt, die als Motor einer Entwicklung dienen, deren Ziel die auf einer weltbürgerlichen Verfassung gegründeten Friedensordnung ist. Für Kant wirkt nämlich hinter dem antagonistischen Verhalten der Staaten gleichsam eine „List der Vernunft", die Aus16 Kant 1977, S. 98. 17
A. a. O., S. 46, auch das folgende Zitat. 18 Batscha/Saage 1979, S. 47, auch das folgende Zitat. 19 A. a. O., S. 48 f.
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druck der „großen Künstlerin Natur" ist. Aus deren „mechanischem Laufe" leuchte „sichtbarlich Zweckmäßigkeit (hervor)", indem durch „die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen" 2 0 entstehe. Wie können nun aber Kriege die Realisierung des ewigen Friedens fördern? Wie gewährleistet die Natur, daß „dasjenige, das der Mensch nach Freiheitsgesetzen tun sollte, aber nicht tut, dieser Freiheit unbeschadet auch durch einen Zwang der Natur, daß er es tun werde, gesichert sei, und zwar nach allen drei Verhältnissen des öffentlichen Rechts, des Staats-, Völker- und weltbürgerlichen Rechts".21 Auf der Ebene des Staatsrechts stellt Kant zunächst fest, daß selbst dann, „wenn ein Volk auch nicht durch innere Mißhelligkeit genötigt würde, sich unter den Zwang öffentlicher Gesetze zu begeben", es dennoch zu diesem Schritt durch den „Krieg von außen" gezwungen würde, „indem, nach der vorher erwähnten Naturanstalt, ein jedes Volk ein anderes es drängende Volk zum Nachbarn vor sich findet, gegen das es sich innerlich zu einem Staat bilden muß, um, als Macht, gegen diesen gerüstet zu sein". Aber mit der Bildung von Staaten als solchen ist für den zwischenstaatlichen Frieden noch wenig bewirkt; denn seine konstitutive Voraussetzung ist, wie wir sahen, die Existenz von Republiken. Nun sind diese aber am schwersten zu stiften und noch schwerer zu erhalten, so „daß viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von sublimer Form nicht fähig wären". Dieses Argument sieht Kant jedoch dadurch widerlegt, daß das antagonistische Verhalten der einzelnen durch die Vermittlung der Natur seine eigene Neutralisierung erfährt, so daß der Mensch, wenngleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird". 2 2 Angesichts dieser Hilfestellung von Seiten der Natur ist Kant zufolge „das Problem der Staatserrichtung ( . . . ) , so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar.. ,". 2 3 Was Kant so für den innerstaatlichen Bereich feststellt, sieht er auch in dem Verhältnis der „noch sehr unvollkommen organisierten Staaten" sich herausbilden: nämlich die Annäherung an die Rechtsidee. Erreicht wird dies dadurch, daß sich die Natur - analog dem personalen Antagonismus - der zwischenstaatlichen Konflikte bedient, um die egoistischen Interessen der Volker zu einem Mittel zu verwenden, das „den inneren sowohl als äußeren Frieden ( . . . ) beförder(t) und ( . . . ) sicher(t)". Die Natur begünstigt aber durch die inner- und zwischenstaatlichen Antagonismen nicht nur die Entstehung republikanischer Staaten, sondern sichert auch in langfristiger Perspektive den organisatorischen Rahmen des ewigen Friedens, nämlich den auf einer föderativen Vereinigung beruhenden Völkerbund. Dieser setzt, wie wir sahen, die Autonomie der einzelnen Staaten und im Hinblick auf das Völkerrecht „die Absonderung vieler voneinander unabhängiger benachbarter Staaten voraus". Um demgegenüber die Entstehung einer Universalmonarchie zu verhin20 A. a. O., S. 52. 21 22 23
A. a. O., S. 55, auch die beiden folgenden Zitate. A. a. O., S. 56. A. a. O., auch die drei folgenden Zitate.
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dem, in der „die Gesetze mit dem vergrößerten Umfang der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt" 24 , bedient sich die Natur zweier Mittel: Es ist die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen, deren „Hang zum wechselseitigen Hasse" und kriegerischen Konflikten „bei anwachsender Kultur und der allmählichen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Prinzipien" in einen konstruktiven Wettbewerb einmündet, der ein Gleichgewicht zwischen den Völkern hervorbringt und sichert. Andererseits integriert die Natur die Völker zugleich durch deren Streben nach wirtschaftlicher Prosperität: was nämlich der Begriff des Weltbürgerrechts allein nicht „gegen Gewalttätigkeit und Krieg ... würde gesichert haben", folgt aus dem „wechselseitigen Eigennutz", d. h. den ökonomischen Interessen der einzelnen Staaten: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt".25 Freilich wirft die so festgestellte objektive Tendenz zum ewigen Frieden die Frage auf, welchen Stellenwert die bewußte Aktion von Individuen und Regierungen im Hinblick auf die Verwirklichung eines stabilen zwischenstaatlichen Rechtssystems besitzt. Realisiert die Natur ihre Ziele autonom, indem sie Individuen und Staaten nur als Instrumente benutzt? Oder hängt letzten Endes der Frieden auch von der gezielten Leistung der Staaten und deren Politiker ab? Es scheint zunächst, als ob Kant den objektiven Faktor eindeutig betont: „Wenn ich von der Natur sage: sie will, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel, als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu tun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie tut es selbst, wir mögen wollen oder nicht". 26 Diese These modifiziert Kant aber in dem Sinne, daß zwar die Natur „durch den Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden" 27 garantiert. Dies kann aber nur mit einer Sicherheit geschehen, „die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten". Der mit dem Wirken der Natur verklammerte Fortschritt in Richtung auf den ewigen Frieden ist also weder Gegenstand theoretischer Naturerkenntnis, noch läßt er sich einseitig ableiten aus den kategorischen Imperativen der praktischen Vernunft. ,»Dennoch ist eine teleologische, an der Idee der Zweckmäßigkeit orientierte Denkweise, die Kant »reflektierende Urteilskraft 4 nennt, nicht nur möglich, sondern sogar geboten. Die naturwissenschaftlich-theoretische Analyse erkennt nur kausale Zusammenhänge; doch daß in der Natur, zum Beispiel in Organismen, das teleologische Prinzip der Zweckmäßigkeit herrscht, drängt sich der Erkenntnis auf und muß, als erkenntnisleitendes regulatives Prinzip, bei dem Bemühen, die Gesetz24
A. a. O., S. 57, auch die beiden folgenden Zitate. 25 Ebd. 26 A. a. 0.,S. 55 27 A. a. O., S. 57, das folgende Zitat S. 57 f.
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mäßigkeiten natürlicher Zusammenhänge zu erkennen, zur Natur »hinzugedacht4 werden". 28 Dies vorausgesetzt, wird gesagt werden können, daß der „Mechanism" der Natur keineswegs die politisch Agierenden aus der Verantwortung entläßt, für den Frieden zu wirken: dieser bleibt, gerade weil die Natur ihn als objektiv möglich unterstellt, in letzter Instanz Angelegenheit der Menschen.29 Bringen wir wesentliche Elemente der Kantschen Friedensutopie auf eine Kurzformel, so kann von ihr gesagt werden, daß auf sie zutrifft, was Georg Picht als entscheidendes Moment einer aufgeklärten Utopie bezeichnet, nämlich „von einer kritischen Reflexion auf die prognostisch zu erschließenden realen Möglichkeiten des Handelns" 30 begleitet zu sein. In der Tat sahen wir, daß für Kant die Bedingungen der Verwirklichung seines Friedensmodells dessen integrierter Bestandteil ist. Indem er den Zwängen einer auf die Bedürfnisse von akkumulierenden Besitzbürgern zugeschnittenen innen- und außenpolitischen Ordnung Rechnung trägt, legte er seiner emanzipatorischen Phantasie Zügel an und restringierte sie auf das unter bestimmten historischen Bedingungen in einer bürgerlichen Welt Mögliche. Zwar zielt seine Konzeption auf die Abschaffung von Kriegen überhaupt ab. Gleichzeitig ist er aber bereit, die Schwierigkeiten, die aus einer solchen Zielsetzung folgen, als Korrektiv des utopischen Anspruchs zu akzeptieren. 31
n. 1796 veröffentlichte Johann Gottlieb Fichte eine Rezension mit dem Titel „Zum ewigen Frieden - ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant". Auf den ersten Blick scheint es, als ob sich Fichte im großen und ganzen mit dem Kantschen Ansatz identifiziert. Freilich muß bereits hier auf einige Abweichungen von wichtigen Kantschen Theoremen hingewiesen werden, die Fichte in seiner Rezension fälschlicherweise 28 Euchner 1974, S. 24 f. Euchner weist allerdings zu Recht darauf hin, daß Kant in der 1798 erschienenen Schrift „Der Streit der Fakultäten" glaubte, „angesichts der weltweit verbreiteten Solidarität mit der französischen Revolution, die das Streben der Menschen nach besseren politischen Zuständen unmißverständlich erkennen lasse, nun nicht mehr bloß von einer teleologischen Betrachtung der Geschichte sprechen zu müssen, sondern den wahren, allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbare(n) Satz formulieren zu können: ,daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei, und so fernerhin fortgehen werde'" (a. a. O., S. 10). 29 Batscha/Saage 1979, S. 57 f. 30 Picht 1967, S. 42. 31 Daß Kants Friedensutopie aus heutiger Sicht ihre prognostischen Schwächen hat, ist in der Literatur oft hervorgehoben worden. Damit ist aber keineswegs widerlegt, was von Raumer an der Kantschen Friedenskonzeption hervorhebt, dass sie nämlich „den Boden des Wirklichen nicht verläßt, ja daß er dieses Wirkliche nüchterner und illusionsloser sieht als irgendeiner seiner Vorgänger, das macht ihn, den Idealisten, gleichzeitig zum ersten Realisten des Friedensgedankens in der europäischen Geistesgeschichte" (Raumer 1953, S. 174).
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so interpretiert, als befänden sie sich im prinzipiellen Einklang mit eigenen Reflexionen. Diese Divergenzen erscheinen deswegen nicht uninteressant, weil sie die Vermutung nahelegen, daß Fichte die Rezension der Kantschen Schrift in erster Linie als ein Mittel sah, mit dessen Hilfe er die zentralen Resultate seiner etwa zur gleichen Zeit (1796) erschienenen Schrift „Grundlage des Naturrechts" in populärer Weise vortragen wollte. Deutlich wird dies z. B., wenn er die Kantsche lex permissiva erläutert: „Sie ist nur möglich dadurch, daß das Gesetz auf gewisse Fälle nicht gehe, - woraus man, wie Ree. glaubt, hätte ersehen mögen, daß das Sittengesetz, dieser kategorische Imperativ, nicht die Quelle des Naturrechts sein könne, da er ohne Ausnahme unbedingt gebietet: das letztere aber nur Rechte gibt, deren man sich bedienen kann, oder auch nicht". 32 Die damit ausgesprochene Trennung zwischen Naturrecht und Sittengesetz, die genau dem Reflexionsstand Fichtes zu dieser Zeit entspricht, läßt sich aber weder aus Kants Überlegungen zur lex permissiva noch aus dem Anhang „Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf dem ewigen Frieden" ableiten. Diese Tendenz Fichtes, Kantsche Gedankengänge im Medium der eigenen zu interpretieren und charakteristisch umzudeuten, begegnet uns noch evidenter, wenn er feststellt: „Es gibt sonach, wie jeder daraus leicht folgern kann, nach Kants Lehre kein eigentliches Naturrecht, kein rechtliches Verhältnis der Menschen, außer unter einem positiven Gesetze und einer Obrigkeit; und der Stand im Staate ist der einzige wahre Naturstand des Menschen: - alles Behauptungen, die sich unwidersprechlich dartun lassen, wenn man den Rechtsbegriff richtig deduziert". 33 Zwar entfaltet Kant im „Ewigen Frieden" keine Theorie des Naturrechts; dies bleibt seiner „Rechtslehre" vorbehalten. Daß aber „der Stand im Staate der einzige wahre Naturstand des Menschen" ist, kann jedoch unmöglich als eine von Kant in seiner Friedensschrift entwickelte These ausgegeben werden. Vielmehr kontrastiert er den Friedenszustand dem Naturzustand und weist ausdrücklich darauf hin, daß der erstere „also gestiftet werden (muß)". 34 Ferner sieht Kant im Unterschied zu der Fichteschen Interpretation in der Anmerkung auf derselben Seite den „bloßen Naturzustand" wie Hobbes durch Gesetzlosigkeit charakterisiert. Ähnlich geht Fichte vor, wenn er seinen neuen Rechtsbegriff darzustellen sucht. Ausgehend von Kants „alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung gehören", beweist er die Unmöglichkeit der menschlichen Isolation. Aus dieser Grundfeststellung folgt sein intersubjektiver und sozialer Rechtsbegriff, der gegenüber der subjektiven Fassung des Rechts bei Kant nicht nur eine Weiterentwicklung, sondern in gewisser Weise auch deren Negation darstellt. „Nur inwiefern Menschen in Beziehung aufeinander gedacht werden, kann von Rechten die Rede sein, und außer einer solchen Beziehung ... ist ein Recht nichts". 35 Aus dieser 32 33 34 35
Batscha/Saage 1979, S. 86. A. a. O., S. 88. Ebd., S. 43. A. a. O., S. 87.
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These leitet Fichte dann den Staat als Zwangsanstalt ab, der in der Garantie der Rechte der einzelnen seinen eigentlichen instrumentellen Zweck hat. Vorsichtiger verfahrt er allerdings bei der Auseinandersetzung mit der von Kant geforderten Trennung zwischen legislativer und exekutiver Gewalt. Hier bekennt er nämlich, daß er „seine Darstellung der Kantischen hinzufügen" 36 möchte. Die zentrale Differenz zwischen beiden Ansätzen besteht darin, daß Fichte dem Gewaltenteilungsprinzip seine in der „Grundlage des Naturrechts" entwickelte Konzeption der Absonderung des Volkes von seinen Herrschern nach Errichtung des Staates gegenüberstellt. Im Gegensatz zu Kant optiert er dafür, daß die Eigentümer nach der Konstituierung des Gemeinwesens in einer apolitischen Sphäre ausschließlich auf ihre Rolle als private Warenproduzenten beschränkt bleiben. Eine Politisierung tritt erst ein, wenn ihre Repräsentanten, die Ephoren, die Inhaber der staatlichen potestas wegen Machtmißbrauch vor dem sich dann zu einer politischen Größe konstituierenden Volk anklagen. Trotz dieser Abweichungen verteidigt jedoch Fichte Kants Friedensmodell ausdrücklich gegen den Vorwurf, die ihm zugrundeliegende Hauptidee sei „für nicht viel mehr anzusehen, als für einen frommen Wunsch, einen unmaßgeblichen Vorschlag, einen schönen Traum, der allenfalls dazu dienen möge, menschenfreundliche Gemüter einige Augenblicke angenehm zu unterhalten". 37 Fichte würdigt demgegenüber nicht nur die wissenschaftliche Relevanz der Kantschen Schrift, sondern behauptet, von deren Hauptidee lasse sich „ebenso streng, als von anderen ursprünglichen Anlagen erweisen . . . , daß sie im Wesen der Vernunft liege, daß die Vernunft schlechthin ihre Realisation fordere, und daß sie sonach auch unter die zwar aufzuhaltenden, aber nicht zu vernichtenden Zwecke der Natur gehöre". Dennoch ist nicht zu übersehen, daß Fichte in einem entscheidenden Punkt vom Kantschen Friedensmodell abweicht: war für diesen der Völkerbund als Föderalismus autonomer Staaten das Maximum der Realisationsmöglichkeiten des ewigen Friedens, so sieht Fichte in diesem Zustand nur die Zwischenphase eines Entwicklungsprozesses, dessen Ziel er in dem von Kant abgelehnten Völkerstaat projiziert. 38 Geht Fichte also in seiner Utopie des ewigen Friedens eindeutig über Kant hinaus, so stellt sich um so dringender die Frage, wie er sich die Vermittlung dieses Konzepts eines homogenen Völkerstaates, das die Autonomie seiner Mitglieder gleichsam konsumiert, vorstellt, ohne jene Homogenität durch den Rekurs auf Gewalt erzwingen zu müssen. Auch hier scheint zunächst Fichte den Rahmen der Kantschen Überlegungen nicht sprengen zu wollen, wenn er wie dieser empirische Gründe auszumachen sucht, die die Realisierung des von der Vernunft inaugurierten Volkerstaates als Garant des ewigen Friedens in der Sinnenwelt als möglich und absehbar erscheinen lassen. Fichte geht in seiner Argumentation davon aus, daß man angesichts der 36 A. a. O., S. 89 f. 37 A. a. O., S. 85, auch das folgende Zitat. 38 A. a. O., S. 91.
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aus jeder rechtswidrigen Verfassung resultierenden Unsicherheit annehmen sollte, „die Menschen müßten schon längst durch ihren eigenen Vorteil, welcher allein die Triebfeder zur Errichtung einer rechtmäßigen Staatsverfassung sein kann, bewogen worden sein, eine solche zu errichten". 39 Wenn dies trotzdem nicht der Fall sei, dann könne dies nur dadurch erklärt werden, daß „die Vorteile der Unordnung ... sonach noch immer die der Ordnung im allgemeinen überwiegen (müssen); ein beträchtlicher Teil der Menschen muß bei der allgemeinen Unordnung noch immer mehr gewinnen als verlieren, und denjenigen, die nur verlieren, muß doch noch die Hoffnung übrig sein, auch zu gewinnen". 40 Indem nämlich der rücksichtslose Konkurrenzkampf der „verschiedenen Stände und Familien" mit Aussicht auf Bereicherung geführt werde, weil im innerstaatlichen Bereich „die Güter in unseren Staaten ... noch bei weitem nicht alle benutzt und verteilt" sind und außerdem selbst bei völliger Ausnutzung der innergesellschaftlichen Ressourcen die Unterdrückung fremder Völker und Weltteile im Handel eine stets „fließende, ergiebige Hilfsquelle (eröffnet)", sei die „Ungerechtigkeit bei weitem nicht drückend genug" 4 1 , um die Realisierung eines rechtlich geregelten internationalen Friedenszustandes absehbar erscheinen zu lassen. Die Lösung dieses Dilemmas sieht Fichte in einem innergesellschaftlichen Zustand, in dem „der Mehrheit die sichere Erhaltung dessen, was sie hat, lieber wird, als der unsichere Erwerb dessen, was andere besitzen". Wie aber soll jene materielle Selbstgenügsamkeit als Voraussetzung des internationalen Friedens gesellschaftlich verwirklicht werden? Fichte baut hier auf das „fortgesetzte Drängen der Stände und der Familien untereinander", das ein Gleichgewicht unter diesen bewirke, „bei welchem jeder sich erträglich befindet. Durch die steigende Bevölkerung und Kultur aller Nahrungszweige müssen endlich die Reichtümer der Staaten entdeckt und verteilt werden durch die Kultur fremder Völker und Weltteile müssen doch diese endlich auf den Punkt gelangen, wo sie sich nicht mehr im Handel bevorteilen, und in die Sklaverei wegführen lassen, so daß der letzte Preis der Raubsucht gleichfalls verschwinde". Es besteht kein Zweifel, daß Fichte das Problem der innergesellschaftlichen Voraussetzungen der Entstehung eines zwischenstaatlichen Friedens durch den Rekurs auf den liberalen Harmonieglauben 42 zu lösen sucht: durch die konkurrierenden Egoismen soll sich offenbar, vermittelt durch eine mystische „invisible Hand", ein Gleichgewicht des Besitzes herstellen, das per se friedliche Motivationen erzeugt. Dieser Zustand setzt sich außerdem objektiv, d. h. ohne durch das Bewußtsein der 39 A. a. O., S. 92. 40 Ebd. A. a. O., die beiden folgenden Zitate S. 97 f. Bekanntlich hat sich Fichte vom Laisser-faire-Prinzip als „Garanten" des Friedens in seinem 1800 erschienenen „Geschlossenen Handelsstaat" distanziert. Seine Friedenskonzeption basiert in dieser Schrift darauf, daß jeder Staat seine „natürlichen" Grenzen erhält: gemeint ist damit ein Territorium, auf dem die Bewohner ihre wirtschaftliche Autarkie verwirklichen können, die sie vom internationalen Handel unabhängig macht. Vgl. hierzu Fetscher 1972, S. 47 ff. 42
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einzelnen vermittelt zu sein, gleichsam hinter deren Rücken durch: das bei Kant zu beobachtende Spannungsverhältnis zwischen der durch die Natur bewirkten und durch sie transparent gemachten objektiven Tendenz und der bewußten Einwirkung auf den Geschichtsprozeß wird zugunsten der ersteren einseitig aufgelöst. Was aber noch wichtiger erscheint, ist, daß Fichte den bei Kant zu beobachtenden engen Konnex zwischen dem Friedensmodell und der historisch-gesellschaftlichen Realität abschwächt: jedenfalls bleibt bei ihm die Reflexion der Realisationsbedingungen des Friedens für die Struktur seiner Konzeption folgenlos. Unintegriert steht in seiner Rezension die Utopie des Völkerstaates mit einheitlicher Exekutive den sehr allgemein angedeuteten objektiven Bedingungen gegenüber: der Grund für diese „Abstraktheit" dürfte in dem Einfluß der Rousseauschen Konzeption sowie der politischen Praxis Robespierres auf Fichtes Denken gerade zu dieser Zeit 4 3 zu suchen sein: wie wir wissen, betrachteten beide die Mediatisierung des Allgemeinen Willens durch Zwischeninstanzen als Verfälschung der Identität von Herrschern und Beherrschten. In biographischer Hinsicht entspricht dem der Streit Fichtes mit den Studentenkorporationen in Jena, die er bekanntlich als partikularen Faktor im Universitätsleben ablehnte.44 In dem Maße, so könnte zusammenfassend gesagt werden, wie Fichte die Kantsche Zielvorstellung zugunsten einer größeren Homogenisierung der Völker - analog der innerstaatlichen Konstituierung - modifiziert, tritt die Frage der Vermittlung in ihrer Bedeutung für die Struktur seiner Friedensutopie in den Hintergrund. Diese Schwierigkeit löst Fichte auch nicht, wenn er die Errungenschaften der amerikanischen und französischen Revolution zur Stützung seiner These anführt. 45 Ohne seine Konzeption des Völkerstaates im geringsten zu konkretisieren, bleibt ihm nur die vage Hoffnung: „So läßt sich sicher erwarten, daß doch endlich ein Volk das theoretisch so leicht zu lösende Problem der einzig rechtmäßigen Staatsverfassung in der Realität aufstellen, und durch den Anblick ihres Glückes andere Völker zur Nachahmung reizen werde".
in. Detaillierter als Fichte setzte sich Friedrich Schlegel mit der Friedenskonzeption Kants auseinander: Das Resultat seiner Überlegungen, der Aufsatz „Versuch über den Republikanismus. Veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden", erschien ebenfalls 1796. Ist bei Fichte die Tendenz zu beobachten, gleichsam von außen eigene Reflexionen auf Kantsche Theorie-Ansätze zu übertragen, so versucht Schlegel umgekehrt, durch immanente Kritik wichtiger Aspekte der Kantschen Schrift seine eigene Konzeption zu entfalten. Indem dabei analog dem Vorgehen Kants das Schlegelsche Friedensmodell aus einem spezifischen Begriff des « Vgl. Batscha 1970, S. 152 ff.; Palmer 1964, S. 114 ff. 44 Vgl. Fichte 1830, S. 78 ff. 45 Vgl. Batscha/Saage 1979, S. 92, auch das folgende Zitat.
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Republikanismus resultiert, dürfte die entscheidende Differenz am ehesten deutlich werden, wenn wir von der Schlegelschen „Deduktion des Republikanismus" ausgehen. Zunächst fällt auf, daß sie offensichtlich eine Überwindung des Kantschen Individualismus beabsichtigt.46 Schlegel setzt nämlich als „theoretisches Datum", aus dem die für die Republik konstitutive „höchste praktische Thesis" folgt, den Satz, „daß dem Menschen außer dem Vermögen, die das rein isolierte Individuum als solches besitzt, auch noch im Verhältnis zu anderen Individuen seiner Gattung, das Vermögen der Mitteilung (der Tätigkeiten aller übrigen Vermögen) zukomme; daß die menschlichen Individuen durchgängig im Verhältnis des gegenseitigen natürlichen Einflusses wirklich stehen oder doch stehen können". 47 Die aus dieser theoretischen These als „Fundament und Objekt der Politik" folgende praktische Forderung postuliert nun, daß die „Gemeinschaft der Menschheit (sein) soll ( . . . ) , oder das Ich soll mitgeteilt werden". 48 Das Medium der Verwirklichung dieser Aufgabe ist der Staat, dessen entscheidende Prinzipien zu diesem Zweck die politische Freiheit und Gleichheit sind. Die erstere ist notwendig, weil der praktische Imperativ als Voraussetzung aller Politik „nicht bloß im Verhältnis aller Individuen, sondern auch in jedem einzelnen Individuo sein soll und nur unter der Bedingung absoluter Unabhängigkeit des Willens sein kann". 49 Auf die Gleichheit kann nicht verzichtet werden, weil die aus der praktischen Thesis folgenden Postúlate im Bereich des Gemeinwesens „nicht bloß für dies und jenes Individuum, sondern für jedes (gelten); daher ist auch die politische Gleichheit ein ( . . . ) wesentliches Merkmal zum Begriff des Staats". Freiheit und Gleichheit erfordern nun aber ihrerseits, „daß der allgemeine Wille der Grund aller besonderen politischen Tätigkeiten sei (nicht bloß der Gesetze, sondern auch der anwendenden Urteile und der Vollziehung)". Dessen negative Entsprechung, der Despotismus, dagegen enthalte den Privatwillen als „Grund der politischen Tätigkeit". Ihm spricht Schlegel den Charakter eines Staates im engeren Sinne ab. Freilich konzediert er gleichzeitig, daß alle Staaten „von einem besonderen Zwecke, von Gewalt ( . . . ) und von einem Privatwillen - von Despotismus - ihren Anfang nehmen und also jede provisorische Regierung notwendig despotisch sein muß". Wenn ferner der Despotismus aufgrund seiner zivil- und strafrechtlichen Maßnahmen sowie des Merkmals der Kontinuität seiner Mitglieder „neben seinem besonderen Zwecke das heiüge Inter46 Vgl. Schulze 1925, S. 65 ff. 47 Batscha/Saage 1979, S. 97 f. Schlegel reagierte mit diesem Aufsatz nicht nur auf Kantsche Theoreme, sondern veranlaßte auch umgekehrt Kant zu einer Stellungnahme. Kant antwortet nämlich auf die von Schlegel aufgeworfene Frage, ob die Entwicklung des Menschengeschlechts zum Besseren nur ein praktisches Problem sei oder ob sie aus der Erfahrung abgeleitet werden könne. Faßt Kant den Fortschritt im „Ewigen Frieden" als praktisches Problem, so glaubt er ihn im 2. Teil des „Streits der Fakultäten" aufgrund der durch die Französische Revolution sichtbar gewordenen Tendenzen von der Erfahrung her begründen zu können. Vgl. hierzu auch Anm. 28. 48 A. a. O., S. 98. 4 A . a. O., die folgenden
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esse der Gemeinschaft wenigstens nebenbei befördert und wider sein Wissen und Wollen den Keim eines echten Staates in sich trägt und den Republikanismus allmählich zur Reife bringt: so könnte man ihn als einen Quasistaat, nicht als eine echte Art, aber doch als eine Abart des Staats gelten lassen".50 Daß Schlegel die besitzindividualistische Ausrichtung der Kantschen Republik durch einen gemeinschaftsbezogenen Staatsbegriff, der, vollendet, seine eigene Negation als Herrschaftsinstrument impliziert 51 , zu ersetzen sucht, wird vollends deutlich, wenn wir uns seiner Kritik an den Begriffen der Freiheit, Gleichheit und Abhängigkeit zuwenden, die für Kants Republik-Ideal entscheidend sind. Bekanntlich deduzierte dieser „die Erklärung der rechtlichen Freiheit, sie sei die Befugnis, alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht tut", als „leere Tautologie" und ersetzte sie dagegen durch „die Befugnis, keinen äußern Gesetzen zu gehorchen, als zu denen das Individuum seine Beistimmung habe geben können". 52 Demgegenüber kommt es Schlegel darauf an, beide Definitionen als notwendige Momente einer konkreten Totalität zu fassen, die in ihrer isolierten Absolutsetzung „falsch" werden. Die bürgerliche Freiheit sei nämlich eine Idee, „welche nur durch eine ins Unendliche fortschreitende Annäherung wirklich gemacht werden kann". Jede Progression aber enthalte ein erstes, letztes und mittlere Glieder. Infolgedessen gebe es auch in der unendlichen Annäherung an jene Idee „ein Minimum, ein Medium und ein Maximum". Nach Schlegel ist nun die Kantsche Definition der rechtlichen Freiheit das „Minimum", während als deren „Medium" die Befugnis zu gelten habe, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen als solchen, welche die (repräsentierte) Mehrheit des Volkes wirklich gewollt hat und die (gedachte) Allgemeinheit des Volkes wollen könnte". 53 Das „Maximum" der bürgerlichen Freiheit dagegen konkretisiere sich in der von Kant getadelten Explikation. Mit ihrer Realisierung in der sinnlichen Welt würde „die höchste politische Freiheit ( . . . ) der moralischen adäquat sein, welche von allen äußeren Zwangsgesetzen ganz unabhängig, nur durch das Sittengesetz beschränkt wird". Ähnlich verhalte es sich mit Kants äußerer rechtlicher Gleichheit. Auch sie könne lediglich als „das Minimum in der unendlichen Progression zur unerreichbaren Idee der politischen Gleichheit" betrachtet werden. „Das Medium besteht darin, daß keine andere Verschiedenheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Bürger stattfinde, als eine solche, welche die Volksmehrheit wirklich gewollt hat und die Allheit des Volks wollen könnte. Das Maximum würde eine absolute Gleichheit der Rechte und Verbindlichkeiten der Staatsbürger sein und also aller Herrschaft und Abhängigkeit ein Ende machen." Mit der Verwirklichung dieses herrschafts50 A. a. O., S. 99. 51 Die Konzeption der herrschaftsfreien Gesellschaft dürfte Friedrich Schlegel unter dem direkten Einfluß Fichtes entwickelt haben. Er war 1794 Fichtes Schüler in Jena, als dieser im Rahmen seiner Vorträge über die „Bestimmung des Gelehrten" seine Theorie des absterbenden Staats entwickelte. 52 Batscha/Saage 1979, S. 95, auch die beiden folgenden Zitate. 53 A. a. O., auch die drei folgenden Zitate S. 95 f.
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freien Zustandes entfallt natürlich zugleich auch der dritte, für die Kantsche Republik konstitutive Begriff, nämlich die Abhängigkeit. Entscheidend ist nun, daß es nach Schlegel zur Vollendung des Republikanismus notwendig ist, ihn zu internationalisieren: nicht auf der Grundlage des partiellen Republikanismus eines einzelnen Staates und Volkes, sondern nur im Rahmen eines universellen Republikanismus hat er eine Chance auf Verwirklichung. Dessen Existenz kann Schlegel zufolge nur das Resultat eines Prozesses sein, der über vier Stufen verläuft: „1. Polizierung aller Nationen, 2. Republikanismus aller Polizierten, 3. Fraternität aller Republikaner, 4. die Autonomie jedes einzelnen Staates und die Isonomie aller" 54 . Schlegel hat damit seine Konzeption des ewigen Friedens, die zwar von Vorstellungen Kants ausgeht, sie aber gleichzeitig qualitativ modifiziert, deutlich umrissen: Indem die Autonomie und Isonomie der Staaten als Äquivalente der Freiheit und Gleichheit der einzelnen im vollkommenen Gemeinwesen fungieren, läuft sein Modell auf eine herrschaftsfreie Weltvereinigung freier und gleicher Völker hinaus, die sich weder dem Kantschen Völkerbund noch Fichtes Völkerstaat subsumieren läßt. Von der Fichteschen Konzeption unterscheidet sich Schlegels Friedensutopie dadurch, daß dessen Volkerstaat durch eine zentralisierte Exekutive - analog den zwischenstaatlichen Verhältnissen - die Konflikte seiner Mitglieder nach „positiven Gesetzen" bereinigen soll. Im Gegensatz zu Schlegel bleibt bei Fichte also Herrschaft ein konstitutives Moment des internationalen Friedens. An Kants föderativem Völkerbund dagegen bemängelt Schlegel, daß er die Möglichkeit eines „ungerechten und überflüssigen Krieges" selbst dann noch impliziert, wenn seine Mitglieder durchweg republikanische Staaten sind. Der Zweck des Föderalismus im Kantschen Sinne nämlich bestehe darin, daß die Freiheit der republikanischen Staaten gesichert werde. Mithin setze dessen Völkerbund „Staaten von kriegerischer Tendenz, d. h. despotische Staaten voraus", deren bloße Existenz genügend „Kriegsstoff' übriglasse. Damit ist die entscheidende Differenz zu Kant aufgezeigt. Im Gegensatz zu dessen Konzeption zielt Schlegel auf die Eliminierung von Herrschaft im inner- und zwischenstaatlichen Bereich ab: dies ist aber nur im Sinne einer Totalität zu erreichen, die die auf Herrschaftslosigkeit gegründete völlige Homogenität aller Völker voraussetzt und Freund- Feind-Konstellationen als mögliche Ursache neuer Herrschaftsstrukturen a priori ausschließt. Wenn somit „der universelle und vollkommene Republikanismus und der ewige Friede ( . . . ) unzertrennliche Wechselbegriffe (sind)", stellt sich die Frage nach der „historischen Notwendigkeit oder Möglichkeit" der angestrebten herrschaftsfreien Assoziation der Völker. Anders formuliert: Wie soll die Utopie vom Gedanken in 54 A. a. O., S. 105, die beiden folgenden Zitate S. 105 f.
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die Wirklichkeit transponiert werden? Es ist genau diese Frage der Vermittlung, im Gegensatz zur logischen Stringenz der Utopie selbst, die Schlegels Konzeption in ein merkwürdiges Zwielicht taucht. Zunächst scheint es so, als ob er die Notwendigkeit des Realitätsbezuges der Friedensutopie dezidierter fordert als Kant. 55 Aber Schlegel bleibt eigenartig abstrakt, wenn man seine eigenen Überlegungen mit dem von ihm selber formulierten Postulat konfrontiert, daß „die Gesetze der politischen Geschichte und die Prinzipien der politischen Bildung ( . . . ) die einzigen Data (sind), aus denen sich erweisen läßt, ,daß der ewige Friede keine leere Idee sei, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziel beständig näher kommt" 4 . Über die inhaltliche Bestimmung jener „notwendigen Gesetze der Erfahrung" jedenfalls schweigt er sich aus. Diese Ratlosigkeit wird auch spürbar, wenn er die mögliche innerstaatliche Transformation der Despotien in Republiken kommentiert. Zunächst konzediert er, daß in der Welt der Erscheinung stets ein empirischer Wille als Surrogat des absolut allgemeinen Willens anzusehen sei und, „da die reine Auflösung des politischen Problems unmöglich ist", man „sich mit der Approximation dieses praktischen x zu begnügen"56 habe. Wie aber soll diese Annäherung bewirkt werden? Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob Schlegel sich in der Frage der Vermittlung seines Modells mit der Wirklichkeit den Vorstellungen Kants annähert. Deutlich wird dies, wenn er das eigentliche Hindernis auf dem Weg zum Republikanismus bezeichnet: Die Oligarchie, d. h. der orientalische Kastendespotismus bzw. das europäische Feudalsystem, die deswegen für die Realisierung republikanischer Prinzipien so gefährlich sind, weil „eben die Schwerfälligkeit des künstlichen Mechanismus, welche ihre physische Schädlichkeit lähmt, ( . . . ) ihr eine kolossale Solidität (gibt). 57 Gegenüber diesem absoluten Despotismus hebt Schlegel positiv die aufgeklärte Monarchie ab, die „zwar in ihrer Form despotisch, in ihrem Geist jedoch repräsentativ und republikanisch sei". 58 Offenbar sieht er in ihr ein Medium, innerhalb dessen sich republikanische Prinzipien verwirklichen können: jedenfalls wird deren Kriterium in der „größtmöglichein) Beförderung des Republikanismus" ausgemacht. Andererseits kontrastiert dieser reformerischen Strategie die Tatsache, daß Schlegel die revolutionäre Durchsetzung republikanischer Prinzipien keineswegs ausschließt. Lehnte Kant das Recht auf Revolution grundsätzlich ab, weil es seiner Meinung nach die Kontinuität des Rechtssystems schlechthin torpedierte, so stellte sich dieses Problem für Schlegel anders, weil er im Unterschied zu Kant in der ,»herrschenden Moralität die notwendige Bedingung der absoluten Vollkommenheit (des Maximums der Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit) des Staates ja sogar jeder höheren Stufe politischer Trefflichkeit" 59 sieht. Ausgehend von diesem Glau55 56 57 58 59
Vgl. hierzu Batscha/Saage 1979, S. 106, das folgende Zitat S. 106 f. A. a. O., S. 99. A. a. O., S. 103. A. a. O., das folgende Zitat S. 103 f. A. a. O., S. 105.
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ben an die absolute Vollkommenheit, die an Robespierres „vertu" gemahnt60, konfrontiert er dem Kantschen Verdikt schroff das Recht auf Revolution. Zwar würde eine Verfassung, die einen Artikel enthält, „der in gewissen vorkommenden Fällen die Insurrektion peremtorisch geböte, ( . . . ) sich zwar nicht selbst aufheben; aber dieser einzige Artikel würde null sein: denn die Konstitution kann nichts gebieten, wenn sie gar nicht mehr existiert; die Insurrektion aber kann nur dann rechtmäßig sein, wenn die Konstitution vernichtet worden ist". 6 1 Trotzdem lasse sich ein Artikel denken, der die Möglichkeiten in einer Verfassung bestimmt, „in welchen die konstituierte Macht für de facto annulliert geachtet werden und die Insurrektion also jedem Individuum erlaubt sein soll". Dies ist der Fall bei einer transitorischen Diktatur 62 , in der der Diktator seine Macht über die ihm zugestandene Zeit behauptet oder wenn ganz generell die konstituierte Gewalt sich gegen ihre eigene rechtliche Basis wendet. In diesem Falle ist die Revolution das einzige Mittel, den Republikanismus von neuem zu organisieren. „Diejenige Insurrektion ist also rechtmäßig, deren Motiv die Vernichtung der Konstitution, deren Regierung bloß provisorisches Organ und deren Zweck die Organisation des Republikanismus ist". 63 Die zweite Möglichkeit einer Revolution ist nach Schlegel dann gegeben, wenn das Gemeinwesen auf der Grundlage eines absoluten Despotismus regiert wird; denn dieser „ist nicht einmal ein Quasistaat, sondern vielmehr ein Antistaat (wenn auch vielleicht physisch erträglicher) doch ein ungleich größeres politisches Übel als selbst Anarchie". Aber auch das Recht auf Revolution wird von Schlegel in charakteristischer Weise modifiziert. Obwohl er für die demokratische Republik 6 4 und deren, wenn die Situation es erfordert, gewaltsame Einführung optiert, lehnt er die Massen als einen entscheidenden politischen Faktor in der Französischen Revolution ab. Die Distanzierung von den Sansculotten und dem vierten Stand wird sehr deutlich in seiner negativen Charakterisierung der Ochlokratie. 65 60 Kant dagegen distanziert sich, wie es scheint, von Robespierre, wenn er schreibt: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen" (Kant 1977a, S. 754). 61 Batscha/Saage 1979, S. 108, auch das folgende Zitat. 62 Am antiken Vorbild orientiert, ist nach Schlegel in bestimmten Sonderfällen eine zeitlich begrenzte Diktatur durchaus vorteilhaft; zudem steht sie keineswegs im Gegensatz zu den Grundsätzen des Republikanismus und der repräsentativen Demokratie. 63 Batscha/Saage 1979, S. 108, das folgende Zitat S. 109. 64 Nach Schlegel ist der Republikanismus deswegen demokratisch, weil für ihn der Allgemeine Wille konstitutiv ist, der als Idealität seine Entsprechung in der „Welt der Erscheinung" im Willen der Mehrheit hat. Dies vorausgesetzt, muß Schlegel denn auch Kants Urteil über die Demokratie modifizieren, wonach unter den drei Staatsformen der Autokratie, Aristokratie und Demokratie, „die der Demokratie im eigentlichen Verstände des Worts notwendig ein Despotism" ist. (Batscha/Saage 1979, S. 45) Schlegel wendet demgegenüber ein, „der von Kant gegebene Begriff der Demokratie (scheint) der Ochlokratie angemessener zu sein. Die Ochlokratie ist der Despotismus der Mehrheit über die Minorität" (a. a. O., S. 103). 65 A. a. O., S. 103.
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Vielleicht zeigt sich an dieser - im Rahmen seiner Vermittlungsversuche erfolgenden - Zurücknahme des radikalen Anspruchs am deutlichsten der zentrale Strukturfehler des Schlegelschen Modells. Solange nämlich die Abschaffung von Herrschaft postuliert wird, ohne deren gesellschaftliche Basis als einen konstitutiven Faktor in den Reflexionszusammenhang mit einzubeziehen, muß der Begriff der Herrschaftslosigkeit vor einer Wirklichkeit kapitulieren, die sich diesem nicht fügen kann. Demonstrieren läßt sich dies auch an dem entscheidenden Aspekt, der die „Überwindung" der Kantschen Position indiziert, nämlich der Bestimmung des „politischen Werts" eines republikanischen Staates. Wie wir sahen, wird dieser neben der Freiheit und Gleichheit vor allem durch „das extensive und intensive Quantum der wirklich erreichten Gemeinschaft" 66 determiniert: für Schlegel ist denn auch neben der republikanischen Organisation die „herrschende Moralität die notwendige Bedingung der absoluten Vollkommenheit (des Maximums der Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit) des Staates, ja sogar jeder höheren Stufe politischer Trefflichkeit". Was Schlegel also mit seinem Republik-Ideal intendiert, ist die Abstraktion von der für den Kantschen Rechtsstaat konstitutiven Selbständigkeit, die u. E. nur den im Arbeitsprozeß autonomen Produzenten das Stimmrecht verleiht. Ohne die „Basis" der politischen Theorie Kants, nämlich die private Disposition über Eigentum, grundsätzlich zu verlassen, soll das Prinzip der Selbständigkeit substituiert werden durch eine lebendige Gemeinschaft freier und gleicher Individuen. Im Gegensatz zu Schlegel hat Kant offensichtlich um die Vergeblichkeit dieses Unterfangens gewußt.67 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Schlegel unter der Utopie des ewigen Friedens den Zustand der Herrschaftslosigkeit schlechthin versteht. Besticht diese Konzeption auch durch die logische Stringenz ihrer Ableitung und - von ihren Prämissen her - durch die emanzipatorischen Inhalte ihrer Konsequenzen, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß sich ihr radikaler normativer Anspruch gegenüber der Vermittlung zur realen Welt immunisiert: der abstrakt geforderte Realitätsbezug ist angesichts der wenig überzeugenden Bemühungen Schlegels, ihn herzustellen, nichts als ein kontingentes Korrelat dieses Modells, das dessen innere Architektur eher stört als vollendet.
IV. Wenn Kant die französische Republik vorsichtig als einen möglichen Kristallisationskern deutet, um den herum sich ein föderativer Völkerbund bilden kann, so interpretiert Joseph Görres in seiner 1798 erschienenen Schrift „Der Allgemeine Frieden, ein Ideal" die Liquidierung des Ancien Régime in Frankreich als ein Naturereignis von kosmischem Ausmaß, mit dem die eigentlich bewußte, d. h. von inner- und zwischenstaatlichen Konflikten befreite Geschichte der Menschheit erst 66 A. a. O., S. 105, auch das folgende Zitat. 67 Vgl. hierzu Saage 1972, S. 192 f.
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beginnt. Was nämlich dem politischen und gesellschaftlichen Umsturz in Frankreich und seiner Bedeutung für das System der internationalen Beziehungen über alles historisch Kontingente hinaus die Bedeutung eines absoluten Wendepunktes in der Geschichte der Menschheit verleiht, ist die Tatsache, daß die Französische Revolution „die durch den Rost eines so langen Zeitraums unkenntlich gemachten Menschenrechte ihrem Usurpateur entriß und sie verklärt, in ihrem ursprünglichen Glänze, vor die Augen des erstaunten Europas hinpflanzte". 68 Erst in der Perspektive der durch die französische Republik verwirklichten Menschenrechte ist es Görres zufolge möglich, die Geschichte der Menschheit sinnvoll zu deuten, nämlich als „ein Gemälde der Situationen, in die der Mensch gekommen ist und kommen mußte, um das zu werden, was er sein soll". 69 Diese Entwicklung sieht Görres durch zwei idealtypische Fixpunkte („Hauptsituationen") begrenzt, „von denen sie und alle mit ihr verwandten Untersuchungen ausgehen und auf die sie zurückkommen müssen". Der Ausgangspunkt jener Skala ist durch den sog.„Naturstand" bezeichnet, in dem „die tierischen Kräfte, so ungezügelt sie sind, in vollem zerstörenden Spiel" einen bellum omnium in omnes entfachen. Der Endpunkt der Entwicklung ist erreicht, wenn sich der „Stand der höchsten Kultur" realisiert hat und unter der absoluten Herrschaft des Sittengesetzes „das Reich des Geistes mit dem der Materie harmonisch ineinandergeflossen" sind. Wie stellt sich Görres nun aber den Prozeß der Versittlichung im Rahmen seines Evolutionsmodells vor? Er geht hier von der Hypothese aus, daß das Sittengesetz und die damit gegebenen Urrechte des einzelnen bereits im Naturzustand virtuell in den Individuen angelegt sind. Werden diese durch „glückliche Zufalle unter einem milden Himmel, eine vorteilhafte Anlage etc." teilweise schon im status naturalis verwirklicht, so ist eine Situation gegeben, in der die etwas ausgebildeteren Individuen „den Entschluß fassen, einen Staat zu formen". 70 In diesem Augenblick entsteht eine qualitativ neue Form der Vergesellschaftung; denn zwischen den einzelnen „bildet sich aus dem Geistigen, das ihnen zum Anteil gefallen ist, ( . . . ) eine moralische Einheit, eine Uni Versalintelligenz".71 Dieser stellt nun der Wille Aller die entscheidende Aufgabe, „einen Weg auszumitteln, um trotz des Widerstrebens der selbstsuchtigen Tierheit, trotz der Ungebundenheitsliebe jedes einzelnen, doch im ganzen durch künstliche Mittel die wechselseitige, im soeben verlassenen Stande der Barbarei suspendierte Ausübung der Urrechte aller zu sichern". 72 Angesichts der auch nach dieser Willensäußerung noch vorherrschenden Disposition der einzelnen, einander die Urrechte zu verletzen, hat der Staat 68 Batscha/Saage 1979, S. 121. 69
A. a. O., S. 144, auch die drei folgenden Zitate. 70 A. a. O., S. 145. 71 Ebd. Der hier skizzierte Gedankengang Görres' steht stark unter dem Einfluß Rousseaus. Vgl. hierzu insbesondere das 8. Kapitel des 1. Buches des „Contrat Social". Zum Einfluß Rousseaus in Deutschland vgl. Weissei 1963. 72 Batscha/Saage 1979, S. 145, auch das folgende Zitat.
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nur dann eine Chance, seinen Erziehungsauftrag zu erfüllen, wenn ihm ein Zueignungsrecht auf die „mit Kultur nur tingierten Menschen" zugestanden wird. Zu diesem Zweck erhält er außerdem nach einem bestimmten Grad der Versittlichung auch das Eigentumsrecht auf seine Untertanen. Offenbar an der Formationstheorie John Lockes orientiert 73 , hat nämlich Görres zufolge „wie jedes individuelle geistige Wesen" auch „jener Staatsgeist das Recht, jede Materie, die die Spuren seiner Kraftanwendung trägt, ausschließend zu besitzen".74 Unter dieser Voraussetzung scheint auf den ersten Blick die Verfügungsgewalt des Staates über seine Untertanen total zu sein, doch nach Görres, der sich hier offenbar an Fichte 75 anlehnt, nimmt die Ausübung des Eigentums- und Zueignungsrechts in dem Maße ab, wie die Moralisierung der ihm Unterworfenen voranschreitet. Er verschwindet schließlich ganz, wenn das Maximum an Sittlichkeit und Kultur erreicht ist, weil nun die Urrechte aller nicht mehr verletzt werden: jeder tut jetzt freiwillig, was er nach dem Sittengesetz tun soll. Auch ist in diesem Zusammenhang die Limitation der staatlichen potestas auf die ihm übertragenen Erziehungsaufgaben hervorzuheben. Die Eigentums- und Zueignungsrechte sind nämlich gegenstandslos, „wenn die Universalintelligenz, durch Zwang oder sonst eine rechtswidrig eingreifende Ursache gedrungen, entweder eine in sich unrechtmäßige Form (die einen andern oder gar entgegengesetzten Zweck hat, als die höhere Kultur der geformten zu befördern), oder doch eine solche, die in den Händen derjenigen, die durch sie mit der obersten Gewalt bekleidet werden, gar zu leicht eine solche zweckwidrige Tendenz bekommt, adoptiert". 76 In beiden Fällen steht den Untertanen ein Widerstandsrecht zu, weil die Machthaber das verletzen, was sie schützen und verwirklichen sollen: die Urrechte aller. Gleichzeitig hat Görres damit das entscheidende Kriterium jener Staaten genannt, die er - im Gegensatz zu Demokratien und Republiken - als Despotien ablehnt. Eine Despotie liegt Görres zufolge vor, wenn wie bei Kant legislative und exekutive Gewalt in einer Person vereint sind (monarchisch-despotische Verfassung). Sind beide Funktionen getrennt, d. h. auf die ganze Masse der Bürger verteilt, so haben wir es mit einer Demokratie zu tun. Sie ist dann vollendet, wenn die Zahl der Machthaber ein Maximum erreicht: Jeder wird dann Teil der legislativen und exekutiven Gewalt sein (holarchisch-demokratische Verfassung). Da jetzt Machtmißbrauch ausgeschlossen ist, weil die völlige Identität von Herrschern und Beherrschten dies logisch unmöglich macht, wendet sich Görres auch gegen Kant, der bekanntlich die Demokratie eo ipso als Despotie bezeichnet. Daß Görres wie Schlegel die Perspektive eines allgemeinen Friedens mit der Existenz herrschaftsfreier Assoziationen verbindet, wird vollends deutlich, wenn 73 74 75 76
Vgl. Locke 1967, S. 218 f. Batscha/Saage 1979, S. 146. Vgl. Fichte 1967, S. 93. Batscha/Saage 1979, S. 146.
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wir uns seiner Analyse des zwischenstaatlichen Zustandes und den Folgerungen zuwenden, die sich aus jenen für die Sicherung des internationalen Friedens ergeben. Für Görres sind aufgrund der despotischen Verfassung fast aller Nationen deren Beziehungen zueinander dem vorstaatlichen Zustand der einzelnen Gemeinwesen völlig analog.77 Die Aufhebung dieses zwischenstaatlichen Naturzustandes ist nach Görres nur möglich, wenn auf einem allgemeinen Volkerkonvent nicht nur die Urrechte der Staaten gegeneinander entwickelt und eine Völkerverfassung verabschiedet wird, „in der eine der besseren jener vier oben angegebenen Regierungsformen (nämlich die polyarchisch republikanische und die holarchisch demokratische, die Verf.) zu Grunde liegt", sondern auch „die Gesetze des Konflikts eines Staates mit ihm fremden Individuen" bestimmt sowie ein „Kodex für die Kollisionen verschieden gebürgerter Individuen" 78 entworfen worden ist. Das Verhältnis der auf dem Gesamtwillen basierenden Regierung der Weltrepublik zu deren Mitgliedern ist der innerstaatlichen Relation zwischen den Machthabern und den Untertanen völlig analog: der Allgemeine Wille des Völkerstaates hat aufgrund seiner sittlichen Priorität und der daraus resultierenden Erziehungsfunktion ein Zueignungs- bzw. Eigentumsrecht auf die ihm angeschlossenen Gemeinwesen. Die mit diesen Rechten gegebene Zwangsgewalt schwächt sich in dem Maße ab, wie sich die allgemeine Sittlichkeit oder „Kultur" der einzelnen Mitgliederstaaten verwirklicht hat: sie verschwindet ganz, wenn das Maximum an sittlicher Sublimation der Völker erreicht und der Allgemeine Frieden diesen zur zweiten Natur geworden ist: das Phänomen der Herrschaft gehört dann der Geschichte an. Wie aber soll dieser Entwurf im Bereich der historischen Realitäten verwirklicht werden? Wie wir sahen, war es gerade diese Frage, gegen deren Beantwortung sich Schlegels Modell einer herrschaftsfreien Assoziation der Völker sperrte. Görres dagegen glaubt, diese Problematik definitiv dadurch lösen zu können, daß er nicht wie Kant im revolutionären Frankreich das Indiz einer Tendenz zum ewigen Frieden sah, sondern in ihm ein historisches Subjekt entdecken zu können glaubte, das nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, „eine Idee zu verwirklichen, die das Altertum nicht kannte; die unter allen Jahrhunderten nur das Neunzehnte ausgebildet sehen konnte; ( . . . ) nämlich: die einer großen Völkerrepublik". 79 Erst die französische Republik und die in ihr durchgesetzten „gesetzmäßigen, Mißbräuchen weniger unterworfenen Formen" rücke die Realisation dieser Idee dadurch in den Bereich der Möglichkeit, daß die von ihr veranlagten Kriege „in allen dazu empfänglichen freigewordenen Völkern jene glückliche Disposition" hervorbringen, „deren Dasein wir auch vorher nötig fanden, wenn Individuen die Stimme des Pflichtgebots hören und aus dem Stande der Barbarei herausgehen sollen". Das Recht des revolutionären Frankreich, seine Nachbarstaaten im Sinne der in seiner konstitutionellen Struktur verankerten Friedensidee zu „republikanisieren", ergibt 77 A. a. O., S. 147 f. 78 A. a. O., S. 148. 79 Ebd., auch das folgende Zitat.
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sich aus der Tatsache, daß „ebenso wie nun nach dem bisherigen ein rechtmäßig organisierter Staat, im Augenblick seiner Bildung, ein inneres Zueignungs-, und nach derselben, ein inneres Eigentumsrecht auf seine Individuen bekommt", das revolutionäre Frankreich ein „äußeres Zueignungsrecht auf die (es) umgebenden Barbaren (erhält); und nach der Einverleibung derselben ein ebenso gegründetes Eigentumsrecht als wie das auf seine Urbürger. Er hat nicht nötig, hiezu eine Verletzung abzuwarten; schon die Maxime derselben, bloß ihren Vorteil zur Richtschnur und die Befriedigung ihrer tierischen Gelüste sich zum Zwecke zu machen, ist Verletzung genug". 80 Das Zueignungs- und Eigentumsrecht der französischen Republik besteht aber nicht nur gegenüber den despotischen Staaten, sondern gilt auch im Hinblick auf die der Völkerrepublik beigetretenen Nationen.81 Spätestens an dieser Stelle wird klar, daß sich die Friedensutopie bei Görres als affirmative Legitimationstheorie des revolutionären Frankreich erweist. Ohne die soziale und politische Realität der französischen Republik am Vorabend der napoleonischen Ära kritisch mit ihren eigenen Prinzipien zu konfrontieren, legitimiert sie im Namen der Abschaffung von Herrschaft deren Herrschaftsanspruch im zu begründenden Völkerstaat und im Namen des Friedens deren Recht auf offensive Kriegführung. Damit ist keineswegs, wie konservative Kritiker suggerieren, das Urteil über die Utopie eines weltweiten Friedens schlechthin gesprochen; wohl aber verdeutlicht die Wendung, die das Friedensmodell bei Görres in seinen praktischen Auswirkungen nimmt, Gefahren, die ein naives Utopieverständnis impliziert: Geht Kant aus von einer aufgeklärten Utopie, die gleichsam die aus der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft resultierenden restriktiven Voraussetzungen ihrer Verwirklichung in sich aufgenommen hat, so wird die Friedensutopie in dem Maße, wie sie sich bei Fichte und Schlegel in ihrer Zielsetzung radikalisiert, von ihrem konkreten Bedingungskontext gelöst, bis sie beim jungen Görres, nun vollends verabsolutiert, in ihr Gegenteil umschlägt: sie verkehrt sich zur missionarischen Kreuzzugsideologie, deren emanzipatorischer Anspruch in der Praxis seine eigenen Prämissen verleugnen muß. Gleichzeitig konnte diese Untersuchung aber auch zeigen, daß jeder Versuch, die Utopie per se unter Totalitarismus-Verdacht zu stellen, zu kurz greift. „Das Abwägen von Vor- und Nachteilen", schreibt ein konservativer Interpret, „ist nicht Sache der Utopie, die ja alle Nachteile abschaffen will. Daran liegt das Gefährliche dieses Denkens: Aus Verzweiflung darüber, das Wesen der Macht nicht erkennen zu können, nimmt es Zuflucht zur schieren Gewalt. Das Problem des gehegten Krieges soll gelöst werden, indem der totale Krieg begonnen wird. Das Problem des Freund-Feind-Verhältnisses wird durch die reine Freund-Theorie gelöst, die sich verwirklicht, indem man den Feind abschafft". 82 Man sieht: um utopisches Denken als solches zu diffamieren, wird von „der" Utopie und ihren totalitären Implikationen gesprochen. Daß Utopien 80 A. a. O., S. 147. 81 A. a. O., S. 150 f. 82 Schnur 1963, S. 317.
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nicht notwendig abstrakt und blind gegenüber dem „Wesen der Macht" - was immer dies heißen mag! - sein müssen, sondern konkret, d. h. realitätsbezogen im „Abwägen von Vor- und Nachteilen" ihr eigentliches Zentrum besitzen können, dürfte nicht zuletzt Kant überzeugend gezeigt haben.
Zur neueren Rezeption der politischen Philosophie Johann Gottlieb Fichtes1 „Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation (die französische, R. S.) von den äußeren Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge [?] an sich ... Es ist in den Jahren, da sie mit äußerer Kraft die politische Freiheit erkämpfte, durch inneren Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurteilen entstanden; nicht ohne ihr Zutun; ihr valeur war, der mich noch höher stimmte, und jene Energie in mir entwickelte, die dazu gehörte, um dies zu fassen. Indem ich über diese Revolution schrieb, kamen mir gleichsam zur Belohnung die ersten Winke [?] und [?] Ahndungen dieses Systems".2 Diese Passage aus einem im Jahre 1795 geschriebenen Brief Fichtes deutet darauf hin, wie stark sich bei diesem Denker theoretisches Philosophieren und politische Sensibilität berühren und gegenseitig bedingen. Diese Vermutung findet bestätigt, wer sich einen Überblick über den neuesten Stand der politologischen Fichte-Forschung verschafft hat. Wie einerseits die „Wissenschaftslehren" ohne die ihr inhärierende politische Dimension kaum adäquat begriffen werden können3, fällt andererseits auf, daß viele Resultate von Untersuchungen, die sich mit Fichtes politischer Theorie im engeren Sinne beschäftigen, nur schwer oder unzulänglich zu verstehen sind ohne die Kenntnis wenigstens der Grundfragen und Intentionen der „Wissenschaftslehren". Es erscheint daher gerade im Hinblick auf Fichtes politische Reflexionen sinnvoll, diesen Bericht mit der Diskussion von Arbeiten zu beginnen, die sich als Einführung in die Problemstellung des von Fichte entfalteten subjektiven Idealismus verstehen.
1 Dieser Bericht, der eine erweiterte Fassung der in der NPL; 3/1970, S. 354-376 erschienenen Sammelrezension „ A s p e k t e der politischen Philosophie Fichtes" darstellt, konzentriert sich im wesentlichen auf die seit 1960 erschienene Fichte-Literatur. Aus marxistischer Sicht gibt Manfred Buhr einen kritischen Überblick über den Stand der älteren FichteForschung in: Buhr 1965, S. 27-41. Eingegangen werden konnte auch nicht auf Fichtes Konzeption der internationalen Beziehungen. Vgl. hierzu aber neuerdings: Fetscher 1972, S. 4 7 - 5 2 sowie Batscha/Saage 1975, S. 124-130. 2 Fichte 1925, S. 61. Der Brief Fichtes war vermutlich an Jens Baggesen gerichtet. 3 Auf diesen Zusammenhang, von dem oftmals abstrahiert worden ist, macht neuerdings besonders Manfred Buhr aufmerksam.
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I. Fichtes subjektiver Idealismus Wie der Titel seiner zu Fichtes 200. Geburtstag gehaltenen Rede ankündigt4, sieht Wilhelm Weischedel das Denken Fichtes durch eine dichotomische Struktur charakterisiert. Es halte sich zwischen den Extremen der leidenschaftlichen, auf die Veränderung der Wirklichkeit zielenden Aktion einerseits und der passiven, die Realität reflektierenden Kontemplation andererseits gleichsam in der Schwebe. Dem entspreche, daß Fichtes Philosophieren einsetzt „mit dem Gedanken der absoluten Tat, und ... damit (endet), daß das tätige Ich sich in den Abgrund der Gottheit versenkt" (9). 5 Bekanntlich war es Immanuel Kant, durch den Fichte „zum Philosophieren erweckt worden (ist)" (9). Dessen Gedanke, „daß das Wesen des Menschen die Freiheit ist, half Fichte, sich von den Fesseln zu befreien, in die die Überzeugung von einer durchgängigen Determiniertheit alles Geschehens sein Denken geschlagen hatte" (9). Freilich enthielt der Kantische Freiheitsbegriff eine bedeutsame Einschränkung. Zwar liegt ihm die Erkenntnis zugrunde, daß die Dinge, wie sie mir erscheinen, „nämlich als raum-zeitliche Substanzen", durch „eine rein apriorische Zutat des Subjekts" (II) konstituiert werden.6 Zugleich aber erschafft das Ich „die Dinge doch nicht völlig aus seiner Freiheit heraus. Um seine Vorstellungen von Dingen zu haben, muß es vielmehr von etwas außerhalb seiner affiziert sein: von dem ,Ding an sich 4 " (II). An diesem Punkt setzen die eigenständigen Reflexionen Fichtes ein. Sie gehen, grob vereinfacht, von folgender Überlegung aus: Die von Kant vorgenommene Trennung zwischen dem „Ding an sich" als Materiallieferant der Erscheinungswelt und dem transzendentalen Subjekt als Stifter der Kategorien und der apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit ist wenig einsichtig.7 Viel zwingender erscheint es, beide Instanzen als eine 4 Weischedel 1962. 5 Die in runden Klammern angegebenen Ziffern stellen die Seitenzahl der jeweils besprochenen Arbeit dar. 6 Durch diesen Ansatz hatte Kant auf dem Gebiet der Philosophie die sog. „Kopernikanische Wende" herbeigeführt. Wahrend etwa der dogmatische Rationalismus annahm, man könne die Dinge so ausmachen, wie sie an sich sind, zeigt Kant, daß wir nur Erscheinungen der Dinge erkennen: Nicht nur die Kategorien und die Anschauungsformen von Raum und Zeit gründen in der Subjektivität, sondern auch das vom Ding an sich gestiftete Material der chaotischen Mannigfaltigkeit. Die „Kopernikanische Wende" bei Kant besteht also darin, daß sich die Erkenntnis nicht mehr nach den Gegenständen richtet, sondern umgekehrt die Objekte nach dem erkennenden Subjekt. Diese Einsicht ist insofern kritisch, als sie das positive Wissen auf die Erfahrungswelt, für die die subjektiven Formen der Erkenntnis allein zutreffen, einschränkt. Freilich wird Kants Schritt, das philosophierende Subjekt zum Konstituens der Objektivität zu erheben, oftmals im Gegensatz zu der Theorie des Kopernikus gesehen, durch die die Welt ihre zentrale Stellung im Kosmos verlor. Dazu muß bemerkt werden, daß „ein solcher (Gegensatz) nur bei oberflächlicher Betrachtung (besteht). Was Kopernikus tat, war nicht weniger, als daß er die göttliche lex aeterna, wofür das System der Gestirne bis dahin gehalten wurde, als menschliche Konstruktion und noch dazu als eine falsche deklarierte. Er stellt in den Naturwissenschaften ebenso eine Konsequenz des Nominalismus dar wie Kant in der Philosophie. Nach Wilhelm von Ockham mußten Kopernikus, Descartes, Newton und Kant kommen" (Haag 1967, S. 29).
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einzige zu denken, als absolutes Ich, zumal das vom „ D i n g an sich" stammende Material der empirischen Mannigfaltigkeit als völlig strukturloses ohnehin unbedeutend ist. Zugleich fällt aber mit diesem Schritt auch die durch das unerkennbare „ D i n g an sich" erfolgte Einschränkung der Autonomie des Ich weg, wodurch „alles, was mit dem Ich geschieht, auch sein Erkennen, eine Sache seiner eigenen Spontaneität (wird). Der Mensch ,soll sich selbst bestimmen und nie durch etwas Fremdes sich bestimmen lassen 4 . Nichts also kann an sich sein, als nur die Freiheit. ,Das einige rein Wahre ist meine Selbständigkeit'" (II). Wenn jedoch real nur das völlig dynamisierte I c h 8 und seine Freiheit ist, zerrinnt die Außenwelt in Nichts. Wie aber ist dieser Schluß mit dem Bewußtsein vereinbar, daß es Dinge außer mir gibt? 9 Bei dem Versuch, dieses Problem zu lösen, 7 Als Einführung in die Grundproblematik des Überganges von Kant zu Fichte ist die Lektüre von Zahn 1960 zu empfehlen. Hier arbeitet Zahn zunächst u. a. die Differenz zwischen Kant auf der einen, sowie Reinhold und Fichte auf der anderen Seite heraus, um dann aufzuzeigen, wie Fichte seinerseits über Reinhold hinausgeht. Bekanntlich sah Reinhold eine Inkonsequenz der Kantischen Philosophie darin, daß diese den Konstitutionsradius der transzendentalen Apperzeption auf den Bereich der Erscheinungswelt einschränkte und von deren Relevanzbereich streng die Sphäre des „Ding an sich" abhob. Dieser Dualismus sei aber, so argumentierte Reinhold, insofern nicht überzeugend, als die Unterscheidung von „Welt der Erscheinung" und „Ding an sich" selber „in und durch das Wissen" vollzogen werde. Deswegen müsse es dem Kantschen Dualismus „notwendig noch als Einheitspunkt vorausgehen" (a. a. O., S. XIV). Auf diesen zu reflektieren - und hierin stimmt Fichte mit Reinhold über-ein - habe Kant versäumt. Die Kritik Fichtes an Reinhold ergibt sich erst bei der Bestimmung der von Kant nicht konstituierten „Spitze des Systems". Während Reinhold nämlich glaubt, „das die Gegenstandsbezogenheit des Subjektes und gleichzeitig Subjekt und Objekt selbst als so bestimmte ermöglichende ... Bewußtsein schlechthin" könne dinglich, d. h. „als ein, obzwar höchstes, Objekt" (a. a. O., S. XV) gefaßt werden, versucht Fichte zu zeigen, „daß eine gegenständliche Fassung des in allem (einzelnen) Wissen schon immer Vorausgesetzten nicht nur nicht möglich, sondern sogar widersprüchlich ist" (a. a. O., S. XV). Würde nämlich das Bewußtsein schlechthin verdinglicht, so wäre es fremdbestimmt, mithin nicht mehr absolut. Verliert es aber seinen Absolutheitscharakter, so kann es auch nicht mehr als „reine Form des Wissens" gelten. Gleichzeitig würde aber damit „die Unterscheidung zwischen dem jeweilig besonderen Inhalt des Wissens und der Form des Wissens als solchem" hinfällig werden, „in der sich eine transzendentale Rekonstruktion der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung bewegen muß" (a. a. O., S. XV). Zu den aus dieser Kritik für Fichtes „absolutes Ich" resultierenden Konsequenzen und der damit verbundenen Problematik vgl. Anm. 8,9 und 10. 8 Das Ich, das sich von seiner letzten Bindung, dem Ding an sich, emanzipiert hat, besitzt den Status reiner Spontaneität. Es ist ein total dynamisiertes Setzen und darf deswegen nicht verwechselt werden mit dem Gottesbegriff der alten Metaphysik. Hier wurde Gott zwar ebenfalls als actus purus, als Agilität, gedacht, aber zugleich und wesentlich auch als Substanz. Fichte, in der Tradition des Protestantismus stehend, sieht dagegen im Göttlichen das ganz andere, dasjenige, was sich nicht mit den Kategorien des Endlichen, etwa dem Substanzbegriff, fassen läßt. Dessen Anwendung implizierte bereits eine Verdinglichung, eine Verendlichung des Absoluten. Vgl. hierzu Anmerkungen 7 u. 9. 9 Es war schon in der scholastischen Philosophie ein Geheimnis, wie aus der „causa prima", die als reine Aktualität und damit als reiner Geist gedacht wurde, etwas von ihr Unterschiedenes, weil mit Potentialität Behaftetes, resultieren sollte. Mit diesem Problem ringt im Grunde auch Fichte, wenn er fragt, wie das reine Denken etwas produzieren kann, das es
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kommt Fichte zu folgendem Resultat: Wenn das Ich die reinen Erkenntnisformen (Kategorien und apriorische Anschauungsformen von Raum und Zeit) und das Material (der empirischen Mannigfaltigkeit) von vornherein ineinander verschränkt stiftet, dann kommt die „Annahme einer an sich bestehenden Welt... dadurch zustande, daß das Ich seine eigene Wirklichkeit - die einzige Wirklichkeit, die es gibt - aus sich hinausschaut, sie so anschaut, als befände sie sich außerhalb seiner selbst. ,Du selbst bist durch den innersten Grund deines Wesens ... vor dich selbst hingestellt, und aus dir selbst hinausgeworfen; und alles, was du außer dir erblickst, bist immer du selbst4" (13 f.). Die Frage nach der Vereinbarkeit von absolutem Ich und Realitätsbewußtsein konnte nur deswegen sich stellen, weil der „Mensch in seinem faktischen Dasein ... nichts von diesen geheimnisvollen und unbewußten Vorgängen in den Tiefen seines Selbstbewußtseins (weiß). Daher faßt er die Welt der Dinge fälschlicherweise als an sich seiend auf. Was das Erzeugnis seiner eigensten Tätigkeit ist, sieht er als eigenständige Wirklichkeit an. In Wahrheit aber gilt, ,daß das Bewußtsein eines Dinges außer uns absolut nichts weiter ist, als das Produkt unseres eigenen Vorstellungsvermögens 444 (14) 1 0 Allerdings muß Weischedel darauf hinweisen, daß „diese Übersteigerung des menschlichen Ich zum absoluten Ich44 (16) teuer genug bezahlt wird. Vor der totalen Freiheit des Ich zerrinnt nicht nur die Eigenständigkeit der Realität: „Auch das freie Ich, wenn es so absolut gedacht wird, wie Fichte dies tut, wird zum leeren Ich44 (16). 11 Fichtes Versuche, das Ich vor seiner Auflösung zu bewahren, können hier im einzelnen selber nicht ist, d. h. wie das absolute Ich ein Nicht-Ich aus sich hervorbringen soll. Es liegt hier ebenfalls ein geheimnisvoller Akt des Setzens, ein „mysterium creationis", vor. 10 Das transzendentale Subjekt Kants macht die chaotische Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt durch die Stiftung der apriorischen Erkenntnisformen erst erkennbar für das empirische Subjekt. Fichte versucht nun insofern über Kant hinauszugehen, als er den absoluten Status des transzendentalen Subjekts gewahrt wissen will: Das aber ist nur möglich, wenn es nicht auf die Kategorien bezogen wird, die es selber stiftet. In diesem Fall würde nämlich das Prinzip zum Prinzipatum, das Unendliche verendlicht, das Absolute relativ werden. Fichte postuliert daher, daß die Synthesis der Begriffe nur vermittels der sog. „intellektuellen Anschauung" erfaßt werden kann, die der Kategorien und Anschauungsformen selber enträt. Daß nun aber dieser Vorgang von mystischer Intuition nicht zu unterscheiden ist, liegt auf der Hand. - Die Fichtesche Konstruktion, wonach das Ich sein Nicht-Ich, seine Objekte setzt, veranschaulicht N. Hartmann folgendermaßen: „Wir müssen uns einen gewissen Vordergrund des Subjekts von einer viel größeren Tiefe abgeteilt denken. Der vordere Teil ist der bewußte Teil des Subjekts, von dessen eigentlicher Tiefe ich kein Bewußtsein habe. In dem unfaßbaren, unbewußten Teil des Subjekts - so kann man sich vorstellen - liegen das Reich der Kategorien und die Produktivität des Subjekts, und zwar so, daß die Produktion unbewußt bleibt, das Produkt allein ins Bewußtsein fällt. Das hat Schelling später die »bewußtlose Produktion* und das ,Ins-Bewußtsein-Fallen der Produkte' genannt" (Hartmann 1956, S. 81). 11 Denn wenn alles, „was zu sein scheint, sich in bloße Vorstellung auflöst, kann dann das Ich als Einziges sich diesem Schicksal entziehen? Was hindert den Gedanken, die Aufhebung alles Seins auch auf das Ich anzuwenden? So daß es schließlich zum nur noch Gedachten wird, ,eine bloße Erdichtung', geschaffen von dem Verstand, dem ,spielenden und leeren Bildner von Nichts und zu Nichts'. Fichte zieht selber diese Konsequenz. ,Ich weiß überall von keinem Sinn, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. ...'" (Weischedel 1962, S. 17).
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nicht reproduziert werden. Es möge der Hinweis genügen, daß für ihn schließlich nicht mehr das Ich „die ontologische Priorität (hat), sondern die Gemeinschaft freier Wesen, die den einzelnen umgreift" (23). Der späte Fichte entdeckt gar, daß die Freiheit im Grunde nur ein Derivat des wahrhaft Absoluten, der Gottheit, ist: damit hat, Weischedel zufolge, der „ Z w i e s p a l t Im Denken Fichtes" auf philosophischer Ebene sich vollendet. Ausgehend von der Selbstherrlichkeit des absoluten Ich tritt am Ende an dessen Stelle der absolute Gott. 12 Auch Walter Schulz 13 thematisiert Fichtes Ringen um einen neuen Realitätsbegriff. Fichtes Dilemma bestehe nicht primär darin, daß die Subjektivität „alles auf sich »zustellt"4 (17). Im Gegensatz zu seinen modernen Kritikern habe Fichte gewußt, daß das Problem der Subjektivität „als sich wissendes Wissen44 vielmehr die „Selbstbespiegelung haltloser Reflexivität" (19), kurz, die Selbstdestruktion des Ich, ist. „Nur von hier aus läßt sich ein Doppeltes zeigen, einmal, daß Realität allein zu finden ist außerhalb dieser absoluten Selbstreflexion, und daß doch zugleich - und darin liegt das Zweite - diese eigentliche Realität keineswegs eine dingliche Vorhandenheit ist, sondern vielmehr in engem Bezug zum um sich wissenden Ich steht44 (19). Den so strukturierten Realitätsbegriff entwickelt Fichte in seiner Schrift „Bestimmung des Menschen44, die im Zentrum der Arbeit von Schulz steht. Schon in seiner „Wissenschaftslehre 44 von 1794 war sich Fichte des dialektischen Verhältnisses von Freiheit und Grenze bewußt. Diese Dialektik führt er nun in der 1800 erschienenen Abhandlung in der Form aus, daß zuerst die dogmatische Behauptung, Realität gebe es nur in der Dingwelt, negiert wird „durch die Setzung des absoluten Ich, das die Dinge in ihrer Selbständigkeit entmächtigt. Aber dieses Ich - das ist das Zweite - muß seinerseits erst bestimmt werden durch den Bezug zu einem Du. Und damit nicht genug: Ich und Du werden schließlich noch einmal vermittelt in einem Gemeinsamen, das sie übergreift. Und dieses Übergreifende ist die eigentliche Realität. Sie kann an dem dogmatischen Wirklichkeitsbegriff gar nicht gemessen werden. Fichte setzt als den eigentlichen Sinn des Begriffs Realität nicht dingliche Massivität oder überhaupt feststellbare Vorhandenheit an, sondern bringt Realität und Handlung in dialektischen Bezug44 (24). Mit anderen Worten: Das Ich gewinnt Konturen auf einer Ebene oberhalb der Dingwelt: die Grenze, durch die es sich strukturiert und bestimmt, „ist das ihm gleiche Wesen, der An12 In der Perspektive dieser in Fichtes Spätwerk zu beobachtenden Priorität des Göttlichen wendet sich Reinhard Lauth der aus Fichtes Ansatz resultierenden Problematik der Gesellschaftlichkeit des Menschen zu. Er kommt ebenfalls zu dem Resultat, daß Ich und Du bei Fichte letztlich auf der Basis des Sittengesetzes, des Göttlichen also, vermittelt werden. Lauth sieht das „Überraschende" in Fichtes späten Reflexionen darin, daß „das ichhafte Objekt, der wahre andere,... sich nicht nur als etwas (erweist), das infolge einer unaufhebbaren Gesetzlichkeit des Bewußtseins nur Beschränkung des Ich wäre, sondern als eine Ermöglichung seiner Absolutheit. Das fremde Ich, das zunächst als potenziertes Objekt auf das Ich, dem es Objekt ist, zukommt, ... kann gerade dessen absolute Erfüllung werden. Denn das Sittengesetz gebietet Liebe; Liebe aber ist nur interpersonal möglich. Der andere wird damit für mich zur Ermöglichung sittlicher Liebe ..." (Lauth 1965). 13 Schulz 1962.
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dere. Allein am anderen Ich gewinnt das Ich Halt und Ständigkeit" (20). Aber dieser gegenseitige Bestimmungsprozeß von Ich und Du ist seinerseits nur möglich „in der gemeinsamen Ausrichtung auf ein allererst zu Gestaltendes. Dies zu Gestaltende ist eine bessere Welt. Fichte redet von der »absoluten Forderung einer besseren Welt" 4 (23). Dies sind, wie Horst Stuke 14 nachweist, Gedankengänge, die entscheidend auf die Entwicklung der Junghegelianer (etwa Cieszkowsky, Bauer, Hess) eingewirkt haben. Denn das Postulat, eine bessere Welt zu realisieren, läuft auf dem Hintergrund dieser Reflexionen auf die Struktur einer Wirklichkeit hinaus, deren Gestaltung nicht erst im nachhinein von der Philosophie erkannt wird. 15 Vielmehr setzt die philosophierende Abstraktion das vernünftige „telos", auf das hin die soziale und politische Realität in einem sekundären Akt erst zu formen ist. Stuke schreibt denn auch: „Fichtes Auffassung vom geschichtlichen Auftrag der »wahren4 Philosophie mußte für die Junghegelianer um so mehr an Bedeutung gewinnen» als er im Gegensatz zu Hegel das Wissen der Vernunft geschichtlich der Wirklichkeit der Vernunft vorordnet. Die von der Philosophie erkannte und zum Bewußtsein gebrachte Idee und Wahrheit der Wirklichkeit bezieht sich bei Fichte nicht auf die gegenwärtige, sondern auf die künftige Wirklichkeit. Sie ist die Idee einer Welt, die noch gar nicht ,da ist 4 , sondern erst ,durch unser Handeln4 wirklich werden soll. Infolgedessen ist sie ,Vorbild 4, nicht »Abbild4 oder »Nachbild4 der Wirklichkeit44 (82). 16 Auf die geschichtsphilosophische Fundierung des Anspruchs, „,daß die Menschheit alle ihre Verhältnisse im Erdenleben nach der Vernunft einrichte 444 (159), macht gleichfalls Iring Fetscher in seinem Artikel über „Fichte 4417 aufmerksam. Danach endet der Fichteschen Konstruktion zufolge der dialektisch über fünf Stufen verlaufende Geschichtsprozeß mit dem „Umschlagen der Wissenschaftslehren in sittlich-politische Praxis44 (519). Dem entspricht nicht nur, „daß Fichte die grob-materielle Wirklichkeit von Politik und Wirtschaft weniger als irgendein anderer deutscher Philosoph ignoriert hat44, sondern auch sein persönliches Engagement während der Befreiungskriege. Deren Sinn war ihm nicht, wie Fetscher betont, „die Wiederherstellung des Status quo, sondern die Stiftung eines vorbildlichen, freiheitlichen deutschen Gemeinwesens, das den anderen Völkern den Weg in eine bessere Zukunft weisen würde44 (520). Daß freilich parallel zu diesem expliziten Willen zur Veränderung der politischgesellschaftlichen Verhältnisse bei Fichte eine deutliche Tendenz zur Praxisferne 18 14 Stuke 1963. 15 Wie dies für den von Hegel in der „Rechtsphilosophie" entfalteten Ansatz charakteristisch ist. 16 Den Einfluß Fichtes auf Moses Hess konstatierte bereits Bloch 1967, S. 700 f.: „Er (Hess, R. S.) ging mit dieser »Philosophie der Tat' viel mehr auf Fichtes Tathandlung zurück als zur Erfassung der ökonomisch-materiellen Faktoren der Geschichte voran". 17 Fetscher: 1961, S. 519-521. 18 Vgl. hierzu auch den oben besprochenen Aufsatz von Claus Träger, der die relative Praxisferne Fichtes bereits in dessen Revolutionsschriften eruiert.
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festzustellen ist, die sich mit dem Ausbau seines Systems eher noch verstärkte und spätestens im ,Atheismus-Streit" (1798/99) eine deutliche Akzentuierung erfuhr, weist Frank Böckelmann in seiner „Einführung" in die von ihm herausgegebenen „Schriften zu J. G. Fichtes Atheismus-Streit" 19 nach. Er wirft zu Recht die Frage auf, ob nicht die praktisch-gesellschaftlichen Konsequenzen der von Fichte inaugurierten absoluten Praxis zweideutig bleiben, auch wenn man dessen Enthusiasmus für die Französische Revolution in den Frühschriften in Rechnung stelle. Insofern nämlich, als sich bei Fichte am Ende „die Indifferenz seines Systems, das auf verinnerlichte sittliche Wesenheiten gemünzt ist, gegenüber allen empirischen Inhalten hinterrücks durch(setzt)" (17), würden sich vor allem hinsichtlich der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit zwei Folgerungen ergeben. Wie einerseits eine Lehre, „die jedem Menschen sein eignes Geschäft... durch die erhabne Idee der Pflicht (heilig macht)' und die ,ihn für dieses sorgen (lehrt), ohne um andre sich zu kümmern', wenig gegenüber staatlicher Gewalt und den überindividuellen Gesetzen des Tauschverkehrs" auszurichten vermag, so könne und wolle Fichte andererseits auf der Basis seines rigiden Apriorismus nicht „die Zweifel darüber zerstreuen, ob die moralische Weltordnung sittlicher Wesen und Taten mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Freiheit identisch werden oder zumindest mit ihm als einem notwendigen Agens sich ,gatten' kann" (18). Angesichts der von Fichte mit zunehmender Radikalität betriebenen Degradierung aller empirischen Handlungen und Situationen zu bloßen Mitteln „für die übersinnlichen Zwecke" müsse bezweifelt werden, „ob die innere Einheit von evidenter Selbsterkenntnis und pflichtgemäßer, an reinen Motiven orientierter Praxis sich überhaupt selbst (zu) entäußern" (18 f.) imstande sei. Zwar könnten „bestimmte Aufgaben, Bedürfnisse und durchaus auch revolutionäre Umwälzungen als Vehikel und Nahziele temporär identisch mit der Pflichterfüllung werden. Aber abgesehen davon, daß in der unentschiedenen Geschichte alle Prozesse und Verhältnisse nur Medien des entschiedenen Willens und daher austauschbar sind, wird die reale Bedeutung der Veränderungen im Reich der Erscheinung wiederum nur der internen Selbstgewißheit, nie jedoch allgemein, objektiv einsichtig" (19). Trotz dieser Einschränkungen sieht Böckelmann den Ansatz von Fichte keineswegs diskreditiert, zumal dieser, „nahezu isoliert, die ungeschehene revolutionäre deutsche Geschichte in der Abstraktion nachholen, auf ihren Begriff bringen und aufarbeiten muß" (20). So gesehen, leugnet auch er nicht, daß sich Fichtes Philosophie, wie Johann Mader 20 es formuliert, „im Horizont des Praktischwerdens" (33) 21 entfaltet. Mader kommt es darauf an, jenen systematischen Ort im „Gang 19 Böckelmann 1969, S. 9-24. 20 Mader 1968. 21
Daß der Primat des Praktischen Fichtes philosophischem Ansatz nicht kontingent ist, betont auch Zahn 1963. Zwar habe schon Kant auf Grund seiner Darstellung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Philosophie auf der Priorität der letzteren insistiert. Jedoch gelte bei ihm diese Akzentsetzung deswegen nur eingeschränkt, weil er sich „auf das Postulat, auf ein Sollen, dem jede seinsmäßige Grundlage zwangsläufig entzogen bleiben
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der transzendentalen Reflexion" Fichtes auszumachen, an dem sich diese selbst „in ihrem ursprünglichen Sinne... aufzuheben genötigt findet, um sich nicht als unendliche, nie endende Reflexion denken zu müssen und damit sich selbst in ihrem ursprünglichen Sinne zu verlieren" (32). Versuchte Fichte noch, diese Grenze im Göttlichen zu verankern, so habe Feuerbach „in antithetischer Entgegenstellung" die in sich kreisende unendliche Reflexion des Ich dadurch beendet, daß die Subjektivität „als Selbstbewußtsein in der,Natur 4 als ihrer,Basis 4 begründet wird. Der Mensch mit »Einschluß der Natur 4 wird Fundament" (32). Auf dem Hintergrund dieser Transformation des absoluten zum anthropologischen Ich will Mader nun zeigen, daß durch Marxens kritische Feuerbach-Rezeption „sich das Wesen der Philosophie mit der Verwandlung ihres Fundamentes vom Ich als reinem Selbstbewußtsein zur Gesellschaft als dem ganzen der ihr Leben produzierenden Menschen zu einem ,ideologischen Reflex und Echo dieses Lebensprozesses4 (verwandelt)44 (33). Damit sei der entscheidende Schritt „von der ,Wissenschaftslehre 4 zur »wissenschaftlichen Weltanschauung4 und insoferne sie diese nur ist als Kritik an Religion, Recht, Politik, Ökonomie zur universalen revolutionären Theorie44 getan, „die sich als wissenschaftliche berechtigt glaubt, ihre, wie L. Feuerbach formuliert, »absolute Negativität4 auch in der Praxis zu entfalten. Bei J. G. Fichte selbst werden diese Ansätze bereits deutlich44 (33). 22 Ähnlich erblickt Manfred Buhr in seinem Aufsatz »»Spekulation und Handeln4423 das Ziel der Fichteschen Reflexionen darin, „von der Spekulation über das absolute Ich einen Übergang zum handelnden Ich, das sich in der Welt der Erscheinungen entfalten und bewähren soll, zu finden 44 (29). Von dieser Einsicht her entwickelt Buhr die interessante These, die „Wissenschaftslehren 44 könnten nur im Zusammenhang mit den Revolutionsschriften von 1793 und den anderen praktisch-politischen Werken wie etwa der „Grundlage des Naturrechts" oder der „Sittenlehre44 adäquat interpretiert werden. Daß Fichtes Reflexionen dergestalt um das spannungsreiche Verhältnis von Spekulation und Handeln kreisen, ist nach Buhr desmuß, beschränkt. ... Bei dem Versuch, das unbedingte sittliche Gebot handelnd zu verwirklichen, kommt das Handeln unter die im Bereich des Seins, der Natur, überall wirksamen notwendigen Gesetze" (a. a. O., S. XII). Indem so die „Unbedingtheit des Sollens ... in der naturgemäßen Bedingtheit von Sein keine angemessene Möglichkeit der Verwirklichung" findet, ergebe sich für Kant notwendig „der Begriff des unendlichen Sollens" (a. a. O., S. XII), der auch für Fichte eine wichtige Rolle spiele. Sein Inhalt werde jedoch von diesem dadurch entscheidend verändert, daß infolge der Aufhebung des letzten und endgültigen Charakters der „von Kant vorgenommenen Unterscheidung von theoretisch und praktisch" (a. a. O., S. XII), sowie der damit korrelierten „einseitige(n) Verteilung von Sein und Sollen" (a. a. O., S. XÜI) die freie Selbstbestimmung zu der konstitutiven Voraussetzung der Transzendentalphilosophie überhaupt avanciere. 22 Freilich ist an der Arbeit Maders u. a. auszusetzen, daß sie auf einen undifferenzierten Totalitarismusbegriff rekurriert und diesen in Anlehnung an Bernard Willms auf die politische Theorie Fichtes überträgt. Zur Kritik an Willms siehe in diesem Band S. 194-203. 23 Buhr 1962, S. 27-61. Zu Buhrs Fichte-Interpretation vgl. auch: Johann Gottlieb Fichte. Die Wissenschaftslehre: Das praktisch handeln sollende autonome Subjekt", in: Buhr/Irrlitz 1968, S. 78-140.
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wegen möglich gewesen, weil Fichte „noch in der Lage war, sich an den durch die Französische Revolution umgewandelten gesellschaftlichen Zuständen zu orientieren" (51), Seine ganze Philosophie sei nichts weiter als ein gewaltiger, wenn letztlich auch gescheiterter Versuch, die durch dieses zentrale Ereignis aufgeworfene Frage zu lösen: „ wie ist geschichtliche Entwicklung, wie ist die Ablösung einer historisch gewordenen Form der Gesellschaft durch eine andere eigentlich möglich, und wie kann sie philosophisch erklärt werden?" (47). Die Fichtesche Lösung dieser Antinomie von objektivem Geschichtsprozeß einerseits und subjektivem Handeln andererseits „ist bekannt: die gesamte Außenwelt ist Produkt des Geistes, seine freie sittliche Tat" (47).
II. Jakobinisches in der politischen Philosophie Fichtes Wenn man der Fichteschen Philosophie nicht voll gerecht werden kann, ohne ihre Beziehung zur Französischen Revolution zu berücksichtigen, muß an den Texten selber ihr Einfluß nachzuweisen sein. Dieser Aufforderung kommt Claus Träger in seiner glänzend geschriebenen Abhandlung „Fichte als Agitator der Revolution" 24 nach. Träger verdichtet eine Fülle historischer Details zu einem konkreten Hintergrund, auf dem Fichtes „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten" (1793) als „das vorzügliche Zeugnis eines allgemeinen literarischen Prozesses und das erstaunliche Indiz für die potentielle Wendung seines Autors von der philosophischen Theorie zur revolutionären Agitation" (172) erscheint. Träger gibt nicht nur der Absicht des jungen Fichte, der französischen Republik seine Dienste anzutragen, innerhalb des von ihm entwickelten historischen Bezugsrahmens einen adäquaten Stellenwert; es gelingt ihm auch, durch einen subtilen Vergleich mit Äußerungen der Mainzer Jakobiner die relative Praxisferne der Fichteschen Agitationsschrift darzustellen. „Seinen revolutionären Gedanken kam keine revolutionierte Wirklichkeit entgegen. In Fichtes Umwelt existierte weder das praktische Bedürfnis noch auch die praktische Möglichkeit, die Belange der arbeitenden Klassen auf der politischen Tagesordnung als entscheidenden Punkt zu berücksichtigen" (198). Diese Feststellung markiert, so scheint mir, die Misere der deutschen jakobinischen Demokraten überhaupt. 25 24 Träger 1962, S. 158-204. 25 Träger weist allerdings nach, daß die führenden Köpfe der Mainzer Jakobiner (also Wedekind, Hofmann, Metternich, Eickemeyer, Blau und vor allem Forster, um nur einige Namen zu nennen) insofern eine Ausnahme machen, als sie nach der Eroberung der Stadt durch die Truppen Custines infolge ihres Engagements, das die Umwandlung des Erzbistums in eine Republik anstrebte, das Bewußtsein praktischer Bedürfnisse ansatzweise entwickeln konnten. Träger kommt denn auch zu der Feststellung, daß etwa Wedekind „bereits eine Anleitung zum Handeln gab", während es bei Fichte vorerst nur zu einer »Anleitung zum Denken" (Träger 1962, S. 192) reichte. Jedoch muß Träger einschränkend hinzufügen, daß „der ganze Unterschied schließlich - wenn man so will - auf einem historischen Zufall (beruht). Es war der Zufall der Eroberung eines deutschen Landes durch die Revolutionsarmeen der Franzosen, aus welchem die Differenz zu den propagandistischen Methoden der anderen
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Dennoch ging Fichte in seinen sozialen und politischen Forderungen weiter als die meisten deutschen Intellektuellen seiner Zeit, die mit der Französischen Revolution sympathisierten. Der junge Fichte erhebt nämlich im zweiten Teil seiner „Grundlage des Naturrechts" von 1796 zur Prämisse einer jeden vernünftigen Staatsverfassung, daß , Jedermann... von seiner Arbeit leben können (soll)". 26 Die Konsequenzen, die er aus diesem Grundsatz zieht, sind, zumal für die Verhältnisse in Deutschland, nichts weniger als revolutionär: ,,a) Alle zeigen allen, und bei Leistung der Garantie dem ganzen, als einer Gemeine an, wovon sie zu leben gedenken. Dieser Satz gilt ohne Ausnahme. Wer dies nicht anzugeben weiß, kann kein Bürger des Staates sein, denn er kann nie verbunden werden, das Eigentum der anderen anzuerkennen, b) Alle, und bei der Garantie die Gemeine, erlauben jedem diese Beschäftigung, ausschließend in einer gewissen Rücksicht. - Kein Erwerb im Staate ohne Vergünstigung desselben. Jeder muß seinen Erwerb ausdrücklich angeben, und keiner wird sonach Staatsbürger überhaupt, sondern tritt zugleich in eine gewisse Klasse der Bürger, sowie er in den Staat tritt. Nirgends darf eine Unbestimmtheit sein. Das Eigentum der Objekte besitzt jeder nur insoweit, als er dessen für die Ausübung seines Geschäftes bedarf, c) Der Zweck aller dieser Arbeiten ist der, leben zu können. Alle, und bei der Garantie die Gemeine, sind jedem Bürge dafür, daß seine Arbeit diesen Zweck erreichen wird, und verbinden sich zu allen Mitteln dazu von ihrer Seite". 27 Fichte fordert also nicht nur, daß die Pflicht entfällt, des anderen Eigentum anzuerkennen, wenn man von der eigenen Arbeit nicht leben kann. Darüber hinaus optiert er auch für das Zwangsrecht auf Unterstützung durch den Staat sowie für dessen Oberaufsicht über das Eigentum des einzelnen im Interesse der Allgemeinheit. Wer garantiert nun aber, daß diese „essentials" auch tatsächlich verwirklicht werden und nicht bloße Deduktion bleiben? Fichte ordnet diese Aufgabe der „exekutiven Macht" zu, die „darüber so gut als über alle anderen Zweige der Staatsverwaltung verantwortlich (ist)". 28 Als Kontrollinstanz der Exekutive sieht er die Institution des Ephorats vor, das, da die Regierung nur der „Gemeinen" verantwortlich ist, notfalls das Volk zusammenruft und die Regierung vor ihm anklagt. Nun kann nicht bestritten werden, daß dieses Verfahren viel zu unpraktisch ist, um tatsächlich die Exekutive dauerhaft im Sinne der Beherrschten zu instrumentalisieren. Fichte scheint dies selber gespürt zu haben, wenn er an anderer Stelle recht unvermittelt im Volk nicht mehr eine vielfach mediatisierte Appellationsinstanz sieht, sondern ein selbsttätiges Subjekt: „das Volk ist nie Rebell, und der Ausdruck Rebellion, von ihm gebraucht, ist die höchste Ungereimtheit, die je gesagt worden; denn das Volk ist in der Tat, und nach dem Rechte, die höchste Gewalt, über welche keine geht, die die Quelle aller anderen Gewalt, und die Gott allein verantwortlich ist. Durch seine Versammlung verliert die exekutive revolutionären Köpfe folgte. Die Theorie als Theorie blieb davon vorderhand in ihrem Wesen unbetroffen" (Träger 1962, S. 193). 26 Fichte 1922, S. 214. 27 A. a. O., S. 216 f. 28 A. a. O., S. 215.
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Gewalt die ihrige, in der Tat, und nach dem Rechte ... Sein Aufstand ist, der Natur der Sache nach, nicht nur der Form, sondern auch der Materie nach stets gerecht". 29 Zu Recht hebt Hermann Klenner angesichts dieser Argumentation hervor, daß „sich die Proklamierung des Rechtes auf Arbeit als ökonomische Untermauerung des Rechts zur Revolution (erweist), wie andererseits das Recht zur Revolution als politische Garantie des Rechts auf Arbeit" 30 . Dem entspricht die dezidiert antifeudalistische Stoßrichtung der Vertragskonzeption des jungen Fichte. Manfred Buhr 31 weist darauf hin, daß in Fichtes 1793 erschienener Schrift „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" insbesondere Rousseau und Kant die Autoren 32 sind, die er als Gewährsmänner der frühsten Version seiner politischen Theorie „ausdrücklich nennt und als Autoritäten mit allgemeingültigen Aussagen hervorkehrt" (S 51). Charakteristisch für die revolutionären Intentionen 323 des jungen Fichte sei nicht nur seine These, Rousseau gehe es bei seiner Vertragstheorie „niemals um Fakten, sondern immer nur um Grundsätze, um Rechte - ums Recht schlechthin" (52). 33 Er modifiziere dessen Ansatz auch noch in einem anderen entscheidenden Punkt insofern, als er den Vorwurf erhebe, Rousseau verweise zwar auf die Inhumanität der historischen Gesellschaften, verzichte aber zugleich darauf, „an die Kraft der Vernunft zu appellieren, die diesen Verderbnissen ein Ende bereiten kann" (54). 34 Der in dieser These implizierte 29 A. a. O., S. 186. 30 Klenner 1957, S. 154. 31 Buhr 1965. 32 Vgl. grundlegend zum Verhältnis Fichtes zu Kant und Rousseau die stark theorieimmanent orientierte Studie von Philonenko 1968. 32a In Übereinstimmung mit den Untersuchungsresultaten Trägers macht Buhr auf zwei wesentliche Sachverhalte aufmerksam. Einerseits könne angesichts der Tatsache, daß die neuere Revolutionsgeschichtsschreibung inzwischen ein „fundiertes Bild der Französischen Revolution als komplexer Erscheinung" (Buhr 1965 S. 46) gezeichnet hat, nicht mehr vom Einfluß „der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben" (a. a. O.) die Rede sein. So sei im Falle Fichtes lediglich seine Beziehung zu ihrer letzten Phase, zur revolutionär-demokratischen Diktatur der Jakobiner, relevant. Andererseits gehe es aber auch nicht an, aus dieser Relation den Schluß zu ziehen, „daß Fichte jemals Jakobiner gewesen wäre" (a. a. O., S. 48). Nachweisbar sei allein „die Tatsache der Übereinstimmung und des Gleichklanges bestimmter Theoreme von Fichte mit denen der jakobinischen Spitzen" (a. a. O., S. 48). Es ist also das fehlende Korrelat Sansculotten, wodurch sich Fichte und auch die anderen Repräsentanten des Jakobinertums außerhalb Frankreichs vom Vorbild unterscheiden. Zu der mit diesem Sachverhalt zusammenhängenden ambivalenten Haltung Fichtes gegenüber revolutionärer Praxis vgl. Anm. 25. 33 Die Rousseau-Rezeption Fichtes läuft also darauf hinaus, den „contrat social" rationalistisch zu interpretieren. Die revolutionäre Implikation dieses Schritts ist evident. Vor der sich geschichtslos dünkenden Vernunft wird die historische Legitimation der beiden ersten Stände als „widernatürlich" denunziert. 34 Auf die Tatsache, daß Rousseaus Lehre nicht revolutionär war, sondern „erst revolutionär interpretiert werden" mußte, weist Jürgen Habermas hin (Habermas 1967, S. 75). Vgl. im übrigen zu diesem Thema: Fetscher 1968.
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Wille zur Revolution wird Buhr zufolge theoretisch durch den Rückgriff Fichtes auf die Kantsche Ethik fundiert. Auf deren Boden minimisiere er die Funktion des Staates auf die Unterstützung des einzelnen „bei der Verwirklichung seiner Bestimmung, die in der Entwicklung des Menschengeschlechts und mithin jedes einzelnen Menschen zu Kultur und Freiheit liegt" (60). Dergestalt auf der Prämisse insistierend, daß die etatistische Funktion sich „bei genügend zu verzeichnendem Kulturfortschritt" (60) selber überflüssig macht, gewinne Fichte den historischen Staaten gegenüber einen zwar utopischen, zugleich aber revolutionär gewendeten Standpunkt. Widerspricht nämlich der empirische Staat „der Beförderung des Individuums zu Humanität und Freiheit", dann hat „sowohl jedes Volk als Ganzes als auch jedes einzelne Individuum oder eine Gruppe von Individuen, die sich zum Zweck der Revolution zusammenschließen" (61), nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zur Verfassungsänderung. Wichtig für die innere Schlüssigkeit des Fichteschen Theorems ist nun, daß dieses Postulat eindeutig auf jene europäischen Staaten bezogen wird, „in denen es privilegierte Stände gibt und die katholische Kirche ein Teil der Sinnwelt ist" (66). D. h.: Fichte konkretisiert das zunächst völlig formalisierte Revolutionspostulat, indem er die empirischen „Voraussetzungen zu einem rechtmäßigen, d. i. dem Sittengesetz entsprechenden und mit ihm übereinstimmenden Staat" (66) an die Aufkündigung aller Verträge mit dem Adel und der Kirche bindet. 35 Dieser Schritt ist deswegen von entscheidender Bedeutung, weil er das aus Fichtes Ansatz der absoluten moralischen Autonomie resultierende Dilemma löst, einerseits zwar das Recht bzw. die Pflicht des Individuums qua Individuum zur Revolution hinreichend begründen, ohne es jedoch andererseits durch äußere Kriterien inhaltlich bestimmen zu können. 36 Zugleich stellt sich aber ein neues Problem: was geschieht, „wenn sich die Begünstigten (Adel und Geistlichkeit) der rechtmäßigen Aufkündigung der Verträge widersetzen" (66)? 37 35 Buhr sieht nicht in der Postulierung des Rechts auf Revolution Fichtes originelle Leistung, zumal dies vor ihm bereits viele andere Autoren ebenfalls getan haben. „Was Fichte jedoch aus der Masse der Anhänger des Rechts auf Revolution seiner Zeit heraushebt, ist, daß er über das bloß allgemeine Formulieren dieses Rechts hinausgeht und alle damit zusammenhängenden Fragen konkret zu beantworten sucht. Und hier ist eben der Punkt, an dem seine ursprünglich radikale liberale Staatsauffassung ins Revolutionär-Demokratische umbiegt, umbiegen muß - sie durch revolutionär-demokratische Züge bereichert. Es ist dieses Moment, das ihn 1793 zu Robespierre in Beziehung setzt" (Buhr 1965, S. 63). 36 Zweifellos enthält Fichtes anfänglicher radikal-liberaler Standpunkt im Sinne weitestgehender Minimisierung staatlicher Macht, würde er konsequent durchgehalten werden, selbstmörderische Implikationen. „Denn wenn jedes Individuum schon als Individuum das Recht auf Staatsumwälzung als Naturrecht sein eigen nennen kann, so besitzt es in der Konsequenz auch jeder Konterrevolutionär" (Buhr 1965, S. 62). Dieses Argument ist dann auch gleich nach Erscheinen des ,3eitrags" von der Reaktion gegen Fichte ausgespielt worden. 37 Formal verfassungsrechtlich gesehen, ist natürlich jede einseitige Kündigung eines Vertrages ohne Schadenersatzpflicht nicht rechtens. Nur urteilt Fichte in diesen Passagen der Revolutionsschrift offensichtlich „nicht als Rechtstheoretiker, sondern als Politiker und in dieser Eigenschaft als Anwalt der kleinbürgerlichen Schichten, die sich von der bürgerlichen Revolution eine Gesellschaft mit maximaler Vermögensgleichheit versprechen" (Buhr 1965, S. 70 f.).
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Fichte läßt, wie Buhr zeigen kann, keinen Zweifel daran, daß die angesichts der realen Verfassung der empirischen Staaten zwingend vorgeschriebene Pflicht zu deren Änderung nur dann gewaltlos zu realisieren ist, wenn alle Individuen der Aufkündigung des die Entfaltung des autonomen Ich verhindernden Staatsvertrages zustimmen. Liegt dieser Fall nicht vor, d. h. insistieren Adel und Kirche auf ihren sittenwidrigen Privilegien, ist der Rekurs auf revolutionäre Gewalt unvermeidlich. 3 8 Diese Deduktion ist, Buhr zufolge, insofern jakobinisch zu nennen, als Fichte die Frage nach der Anwendung revolutionären Terrors genau so stellt wie die Revolutionsregierung von 1793/94 unter Robespierre, nämlich als Problem des Strafrechts. Danach gilt zwar prinzipiell jede Todesstrafe als Mord, „ w e i l der Mensch Selbstzweck und nicht Mittel für einen seinem Wesen fremden Zweck ist" (67). Wer jedoch konterrevolutionären Widerstand leistet, erklärt durch die Mißachtung eines unveräußerlichen Menschenrechts der bürgerlichen Gesellschaft den Krieg und legitimiert den nunmehr rechtmäßigen Staat „ m i t Gewaltmaßnahmen bis zur physischen Vernichtung gegen (ihn) vorzugehen" (68). Daß damit der radikal-liberale Ansatz, von dem Fichte ausging 3 9 , erheblich zugunsten etatistischer Funktionen zurückgenommen wird, muß nicht eigens betont werden. 38 Allerdings ist hinzuzufügen, daß Fichte den revolutionären Terror als inadäquates Mittel zur Veränderung der politischen und sozialen Landschaft in Deutschland ansah, obwohl er, wie Buhr zeigen kann, von allen Vertretern des deutschen Idealismus den konkretesten Bezug zu ihm hatte. Im übrigen teilte er die Auffassung des größten Teiles der progressiven deutschen Intelligenz seiner Zeit, daß nur durch eine Reform „von oben" die aufgeklärte Veränderung des Status quo im eigenen Lande zu bewirken sei. In einem bestimmten Sinn kann diese Abstinenz gegenüber revolutionärer Praxis sicherlich deswegen, wenn auch aufgrund des sozialen, ökonomischen und politischen Rückstands der deutschen Verhältnisse im 18. Jahrhundert als notwendiges „falsches" Bewußtsein bezeichnet werden, wie ihr zweifellos der deutsche Hang zur Innerlichkeit, bzw. die Blindheit gegenüber der Einsicht, daß die innere Autonomie erst durch den Erwerb der äußeren politischen Freiheit zu ihrem Recht kommt, korrespondiert. Andererseits wäre es aber falsch, aus diesem Sachverhalt ein „Versagen" des deutschen Bürgertums und seiner ideologischen Repräsentanten zu deduzieren, dem eine spezifisch deutsche „Fehlentwicklung" komplementär sei. Eine solche These ist, zumindest vom Standpunkt des Bürgertums aus, deswegen problematisch, weil dessen politische Emanzipation nur dann „notwendig" erscheint, wenn sie einerseits als konstitutive Voraussetzung möglicher Profitmaximierung historisch relevant wird und sich andererseits gleichzeitig die Möglichkeit einer, wenn auch nur vorübergehenden Koalition mit den Unterschichten bietet. Das Zusammenfallen dieser Bedingungen ist aber historisch kontingent. Die Befriedigung des ökonomischen Primärinteresses des Bürgertums, die allemal Priorität hat, kann nämlich, wie gerade die Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert zeigt, durchaus im Zusammenspiel mit den feudalen Klassen und im Rahmen der alten absolutistischen Institutionen geschehen, sofern deren Repräsentanten flexibel genug sind, den aus der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise resultierenden Notwendigkeiten gesellschaftlich Rechnung zu tragen. Die prinzipielle politische Dominanz der alten nichtbürgerlichen Machteliten braucht dadurch keineswegs in Frage gestellt zu werden, wenn auch ihr Aktionsradius den „Sachzwang" der bürgerlichen Ökonomie nicht zu sprengen vermag. 39 Vgl. hierzu grundlegend Georges Vlachos, L'état et l'économie dans l'œuvre du jeune Fichte, in: Revue international d'histoire politique et constitutionelle, Bd. 7 (1957), N. S., S. 226-261.
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Buhr führt aber nicht nur den Nachweis jakobinischer Elemente in der Revolutionsschrift. Auch bezüglich der „Grundlage des Naturrechts" (1796/97), in der die radikal-liberale Intention des „Beitrags" ganz fehlt, kann er zeigen, daß sowohl die erneute Begründung des Rechts auf Revolution als auch die hier entwickelten sozialen Anschauungen „trotz mannigfacher Unterschiede" (72) identisch mit denen der Jakobiner sind. Im Gegensatz zu dem von Condorcet inspirierten girondistischen Verfassungsentwurf etwa, der das Recht auf Revolution als Menschen- und Bürgerrecht zwar explizit anerkennt, zugleich aber dadurch entschärft, daß in der politischen Praxis „ein Volk niemals das Recht auf Insurrektion, sondern bloß auf Petition und Anrufung" (73) eigens zu diesem Zweck begründeter Institutionen hat, werde das Widerstandsrecht sowohl von Fichte als auch von Robespierre konsequent bejaht, wenn auch mit der „Einschränkung", daß dessen Vollzug nicht einem einzelnen, sondern dem ganzen Volk zukommt. Weiterhin teilen beide die Auffassung, daß in dem Augenblick, wo „die ,ideale Konstitution4 (Fichte) vom Volke verabschiedet und auf ihrer Grundlage regiert wird oder die republikanische Bürgertugend in Gestalt der revolutionären Regierung (Robespierre) zur Herrschaft gelangt ist, ... das Insurrektionsrecht eine Frage der Vollständigkeit der Verfassung, nicht mehr unbedingt der politischen Praxis (ist), weil diese durch die aus dem Volk hervorgegangene und nur in dessen Auftrag handelnde Regierung in den Bahnen des Gesamtinteresses des Volkes gehalten wird" (76 f.). Freilich kontrastiert dieses Demokratie-Verständnis, das den maximalen Abbau von Herrschaft, nämlich die Identität von Herrschern und Beherrschten 40, impliziert, mit der gleichzeitigen Betonung etatistischer Gedanken. Dieses Phänomen erscheint Buhr nicht zufällig. Zwar gingen „Fichte wie Robespierre ... von der Annahme aus, daß sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die verhältnismäßige 40
Das auf Rousseau zurückgehende radikaldemokratische Prinzip der Identität von Herrschern und Beherrschten wird bekanntlich in der neueren Politikwissenschaft häufig mit dem Hinweis auf Totalitarismus-Verdacht abgelehnt. Die mit diesem Modell prätendierte Minimisierung von Herrschaft ufere realiter einerseits in soziale Nivellierung aus, und zwar mit der expliziten Tendenz, Minderheiten, die sich der „Identität" nicht subsumieren lassen, zu unterdrücken, und andererseits begünstige es genau das, was es auszuschalten suche: die Entstehung neuer unkontrollierbarer Herrschaftseliten. Angesichts solcher ernstzunehmenden Perspektiven muß das Fichtesche Modell geradezu deswegen als Prototyp eines radikaldemokratischen Systems totalitären Zuschnitts erscheinen, weil seine Orientierungsnorm nicht die Kontrolle von Herrschaft ist, wenngleich auch dieser Aspekt in seine Reflexion eingeht (s. Anm. 95), sondern der radikale, sukzessiv zu erfolgende Abbau staatlicher Herrschaft überhaupt zugunsten der freien Entfaltung autonomer Individuen. Es ist nun ein leichtes, dieses Demokratie-Verständnis auf der Ebene eines dem Status quo verpflichteten Denkens als „Utopismus" zu diffamieren. Allerdings „muß (demgegenüber) einmal daran erinnert werden, daß zwischen der Aussagekraft der Behauptungen »Herrschaft wird es immer geben* und »herrschaftslose Gesellschaften können verwirklicht werden* kaum Unterschiede bestehen: es handelt sich in beiden Fällen um unbeweisbare Aussagen, wenngleich die historische Erfahrung den ersten Satz als den plausibleren erscheinen läßt. Auch setzt der Hinweis auf die bisherige Persistenz von Herrschaft die Gültigkeit der Forderung, daß eine herrschaftsfreie Gesellschaft, welche maximale Selbstbestimmung der Individuen zuläßt, anzustreben sei, nicht außer Kraft" (Euchner 1969, S. 17).
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Gleichheit der Vermögen aller Bürger herstellen läßt, j a sie sehen darin geradezu den Sinn der neuen Gesellschaft" (77). Objektiv könne jedoch zumindest bezüglich der europäischen Variante der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich auf dem Kontinent darstellte, selbst in ihrer aufsteigenden Epoche von einer solchen sozialen Homogenität nicht die Rede sein. 4 1 Deswegen mußte das Festhalten an der Idee sozialer Gleichheit in dem Maße eine Aufwertung staatlicher Funktionen nach sich ziehen, wie Fichte und Robespierre den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen praktisch Rechnung trugen. Buhr formuliert zweifellos eine der differenziertesten Thesen der neueren Fichte-Forschung, wenn er sich angesichts der eindeutig sozial orientierten Zwangsfunktionen des Staates dagegen wendet, Fichte in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen ausschließlich „unter dem Gesichtspunkt des Grades der Staatsverneinung oder Staatsbejahung" (84) zu sehen. Die Fichteschen Reflexionen kreisten nicht um „die Konstruktion eines idealen Staatsgebildes, sondern (um) die Fruchtbarmachung der Tatsache Staat zur Durchsetzung des Grundrechts auf Existenz durch Arbeit" ( 8 4 ) . 4 2 Wenn der Staat diesen Anforderungen nicht genügt, ist das Volk berechtigt, sie „durch revolutionäres Vorgehen gegen die Regierung zu erzwingen" (87). Daß ein so strukturierter, eindeutig auf die Interessen des revolutionären Kleinbürgertums und der Bauernschaft bezogener Staat nicht mit den Kriterien des Gewaltenteilungsmodells adäquat zu beurteilen ist, liegt auf der Hand. Jenes auf John 41
Dieser entscheidende Sachverhalt wird in seiner politischen und ideologischen Tragweite erst ganz evident, wenn man die gesellschaftlichen Voraussetzungen der amerikanischen und französischen Revolution vergleicht. Die entscheidende Differenz liegt offenbar darin, daß das Amerika des 18. Jahrhunderts in realsoziologischer Hinsicht dem Modell der Kleinwaren produzierenden Gesellschaft (vgl. Anm. 82), das ein breit gestreutes Eigentum an Produktionsmitteln voraussetzt, sehr nahe kam, während im Ancien régime der gesamtgesellschaftlichen Durchsetzung dieses Modells die sozialen Privilegien der beiden ersten Stände und die unmittelbar präsente politische Macht der absolutistischen Monarchie im Wege standen. Deswegen stellte sich auch das Problem des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft einerseits, sowie des Demokratieverständnisses und der Einschätzung der Funktion der Revolution andererseits in beiden Ländern verschieden, wenngleich hier wie dort die Entfaltung des gesellschaftlichen ordre naturel das eigentliche Ziel der revolutionären Aktivität war. Bestand etwa für Thomas Paine kein Zweifel daran, daß mit dessen Emanzipation der Staat sich selbst aufheben würde, so konnten die Franzosen - und keiner wußte dies besser als Robespierre -„nicht mit einer vom Staat getrennten Naturbasis der Gesellschaft (rechnen), die Befreiung einer Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit vom staatlichen Interventionismus muß selber noch politisch, wie sie glauben, im Rahmen einer stets auch die Gesellschaft umfassenden Gesamtverfassung realisiert und behauptet werden" (Habermas 1967, S. 74). 42 Die interessante Frage, ob Fichte in seinen ökonomischen Anschauungen direkt von Babeuf beeinflußt worden ist, wird von Forschern wie Marianne Weber und Anton Menger eindeutig positiv beantwortet. Manfred Buhr dagegen möchte nur „von Babeuf-Motiven in Fichtes ,Naturrecht' und ,Handelsstaat'" (Buhr 1965, S. 79) sprechen. Er betont ausdrücklich, „daß das letzte Wort über die möglichen Beziehungen Fichtes zu Babeuf noch nicht gesprochen ist, da es durchaus im Bereich des Möglichen liegt, daß in dem noch nicht verwerteten Quellenmaterial Hinweise zu finden sind, die diese Frage erneut zur Diskussion stellen" (a. a. O., S. 80).
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Locke 43 und Montesquieu zurückgehende Schema hatte bekanntlich die Funktion, auf der Basis eines gesellschaftlichen Ausgleiches zwischen den alten feudalen Gewalten und der aufstrebenden Bourgeoisie die Monopolisierung von Macht durch die eine oder andere Seite zu verhindern. Naturgemäß wurde das revolutionäre Kleinbürgertum von dieser Problematik der Behauptung alter bzw. neuer Privilegien nicht tangiert. Sein Primärinteresse, das Recht auf Existenz durch Arbeit, konnte innerhalb einer Gesamtgesellschaft mit konkurrierenden und sich tendenziell gegenseitig ausschließenden Interessenstrukturen nur eine Staatsgewalt maximal durchsetzen, „die weder im Sinne Montesquieus geteilt noch im Sinne Pufendorffs limitiert war - eine Staatsgewalt, die einen einheitlichen Willen verkörperte, sich als Verkörperung dieses einheitlichen Willens empfand und die - wenn notwendig - berechtigt war, zu unumschränkten Machtmitteln, zumindest einschränkenden Maßnahmen zu greifen" (91). Genau diese Konsequenz, nämlich die Delegation von Machtbefugnissen an den Staat, „die mit liberalen staatsrechtlichen Grundsätzen nichts mehr zu tun haben" (84), ziehen bekanntlich Robespierre und seine Anhänger in ihrer praktischen Politik durch die Errichtung der „revolutionärdemokratischen Diktatur" genau so wie Fichte in theoretischer Hinsicht „in seiner Rechtslehre von 1796-1800, vor allem im »Geschlossenen Handelsstaat4, der von dieser Seite als Entwurf eines Systems kleinbürgerlicher Diktatur zur Durchsetzung einer Gesellschaft kleiner Eigentümer mit maximaler Vermögensgleichheit erscheint44 (91). 44 Auch wenn Buhr nicht selten den metaphysisch überhöhten Standort dessen einnimmt, der im nachhinein einen objektiven Sinn in die Geschichte projiziert, um diesen zum dogmatischen Kriterium „richtiger 44 bzw. „falscher 44 sozialer und poli43
Vgl. hierzu grundlegend: Euchner 1969a. Zu Fichtes Konzeption des „Geschlossenen Handelsstaates" vgl. den Aufsatz von Krause 1962, S. 158-204. Ohne hier auf den Fichteschen Ansatz näher eingehen zu können, sollte trotzdem bemerkt werden, daß Fichte der Sicherheit als Vorbedingung der freien gesellschaftlichen Tätigkeit des einzelnen eindeutig den Vorrang vor der privaten Verfügungsgewalt über Sacheigentum gibt. Diese Tendenz äußert sich darin, daß der Staat den Individuen ihre Existenz sichert, indem er ihnen das Recht auf Arbeit garantiert. Daß er auf diese Weise als Regulationsmechanismus der Gesellschaft beachtliche Macht akkumuliert, ist genau so unbestreitbar wie es fragwürdig erscheint, die Fichtesche Konzeption auf Grund dieser Tatsache als „Staatssozialismus" zu bezeichnen. Angesichts der Fichteschen Intention, auf dem Boden einer ständisch gegliederten Gesellschaft das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht abzuschaffen, sondern es vielmehr zu garantieren und zu sichern, ist Buhr zuzustimmen, wenn er schreibt: „Der bürgerliche Spiegel wird im »Geschlossenen Handelsstaat* nirgends gebrochen, das Verhältnis von ökonomischer Basis und staatlicher Institution nur umgekehrt, das wirtschaftliche System des Kapitalismus in eine dienende Rolle gegenüber der erhofften Staatsform versetzt - ganz gleich der Verkehrung des Rapports zwischen Kapitalismus und Demokratie im Jakobinerstaat" (Buhr 1965, S. 91). „Abgesehen davon, daß Sozialismus nichts zu tun hat mit staatlicher Omnipotenz oder merkantiler Staatsbevormundung zum Zwecke der Versorgung aller Glieder der Gesellschaft" (a. a. O., S. 151, Am. 44), könnte in diesem Zusammenhang auf der Bezeichnung „Staatssozialismus" nur insistieren, wer bereit wäre, diesen Begriff dermaßen auszuweiten, daß er jede Schärfe verliert und dadurch das Spezifische der Fichteschen Überlegungen nicht mehr faßt. 44
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tischer Strategien zu machen 4 5 , so verringert dies nicht sein Verdienst, Fichtes politische Reflexionen bis 1800 unter Berücksichtigung ihrer Strukturbeziehungen zur jakobinischen Phase der Französischen Revolution analysiert zu haben. Durch die Freilegung dieses wichtigen Vermittlungszusammenhanges, der übrigens den Zeitgenossen Fichtes deutlich vor Augen stand, dürfte zumindest auf wissenschaftlichem Gebiet die skandalöse Zuordnung Fichtes zu ziemlich jeder politischen und weltanschaulichen Position obsolet geworden sein. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß jene von Fichte rezipierten jakobinischen Gleichheitsvorstellungen, die in der Französischen Revolution zur materiellen Gewalt wurden, die sozial-ökonomische Stellung des weiblichen Teils der Bevölkerung kaum veränderten. Zwar erzwangen sie die soziale und politische Emanzipation der Bürger von feudalen Fesseln. Daß hingegen die Betätigung der Frauen auch i n der revolutionär durchgesetzten bürgerlichen Gesellschaft die unbezahlte Arbeit i m Haushalt (Oikos) bleiben sollte, wurde nicht zuletzt gerade von Fichte in seiner „Grundlage des Naturrechts" in dezidierter Form festgeschrieben. Wie Hannelore Schröder 4 6 in ihrer Analyse des i n der neueren Forschung kaum beachteten Familienrechts, das Fichte i m ersten Anhang zu seiner „Grundlage des Naturrechts" systematisch entwickelte, zeigen kann, intendiert - in Übereinstimmung übrigens mit den meisten 45 Deutlich wird diese Tendenz etwa, wenn Buhr schreibt, Fichte habe mit seinem Versuch, die Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse in Deutschland über eine Veränderung des Bewußtseins zu erreichen, „natürlich" eine falsche Strategie gewählt. Ein leicht metaphysisch verbrämter Marxismus zeigt sich auch, wenn Buhr davon spricht, sowohl Fichte als auch Robespierre „scheiterten an der Unaufhebbarkeit der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Epoche" (Buhr 1965, S. 93). Buhr scheint hier auf die von Guerin und Soboul vertretene These anzuspielen, daß die jakobinische Diktatur erfolglos bleiben mußte, weil sie im Rahmen einer bürgerlichen Revolution den objektiven Interessen der Sansculotten nicht genügen konnte. Dem ist zwar auf den ersten Blick insofern zuzustimmen, „als die sans-culottes sich nicht zur Verteidigung Robespierres erhoben und daß Robespierre selbst während der Krise sich nicht wirklich um ihre Hilfe bemühte, wenngleich andere versuchten, sie zum Aufstand zu bewegen. Die bittere Enttäuschung der sans-culottes war zweifellos die unmittelbare Ursache des Sturzes von Robespierre. Die Unterstützung, die er von Seiten der breiten Massen erfahren hatte, hatte sich verflüchtigt. Aber aus welchem Grund? Dabei von einem Konflikt zwischen einer bürgerlichen und einer radikalen Revolution zu sprechen, hieße das eigentliche Problem vernebeln. Robespierre und das Komitee der öffentlichen Sicherheit hatten sich durchaus willens gezeigt, bezüglich des Privateigentums weit über die Grenzen einer Revolution hinauszugehen. Die Schwierigkeit lag darin, daß diese Politik zwar insofern erfolgreich war, als sie den militärischen Sieg sicherstellte, aber andererseits einen direkten Konflikt zwischen den Landbewohnern und den Armen der Städte auslöste, durch den das Elend der Städter nicht verringert, sondern noch verschärft wurde" (Moore 1969, S. 188 f.). Auf Buhrs „hin und wieder simplifizierenden Marxismus" weist auch Bernard Willms in der Einleitung zu dem von ihm edierten Band (Fichte 1967a, S. XIX) hin. Zum Glück bleiben jedoch diese dogmatischen Elemente der von Buhr durchgeführten Untersuchung, die sich in ihrer eigentlichen Intention auf das Aufspüren jakobinischer Einflüsse in Fichtes politischen Schriften bis 1800 konzentriert, äußerlich. So muß auch Willms konzedieren, Buhr habe durch sie seine These überzeugend belegen können, daß Fichtes Philosophie als Versuch zu verstehen ist, „die von der klassischen bürgerlichen Revolution aufgeworfenen Fragen in philosophische Kategorien umzusetzen" (a. a. O., S. XIX).
* Schröder 1975.
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frühbürgerlichen Theoretikern - seine freiheitliche Vertragstheorie nicht Emanzipation schlechthin, sondern die Emanzipation der bürgerlichen Männer. Auch wenn sich Fichtes Denken, soweit es die Kleinbürger und Bauern betrifft, „politisch-theoretisch... auf der progressiven Höhe seiner Zeit" bewegte, habe er sich in der Frauenfrage von mittelalterlichen Vorstellungen leiten lassen. „Daher der eminente Widerspruch zwischen egalitären Rechtsansprüchen einerseits und absolut patriarchalen Postulaten andererseits, ein für den Geschlechterpatriarchalismus in seiner Rechtsform charakteristischer Widerspruch, der sich zuspitzt und umso anachronistischer wird, als eben alle Männer gleich, aber alle Frauen bürgerlich ungleich sein sollen und es tatsächlich sind" (22). In der Tat ist Marianne Weber zuzustimmen, die bereits um die Jahrhundertwende das „patriarchale Eheideal" kritisierte, das in Fichte, „an der Schwelle unserer Zeit", „seinen größten (Fürsprecher) seit Paulus" 47 gefunden habe. Zwar muß nach Fichte eine juridisch gültige Ehe zur Voraussetzung haben, daß „das Menschenrecht des Weibes... nicht verletzt sein (muß); sie muß sich aus freiem Willen, aus Liebe, und nicht gezwungen, gegeben haben. Jeder Bürger muß gehalten sein, dies vor dem Staate zu erweisen; widrigenfalls der Staat das Recht haben würde, den Verdacht der Gewalttätigkeit auf ihn zu werfen, und gegen ihn zu untersuchen". 48 Ist aber die Ehe erst einmal auf freiwilliger Basis geschlossen, die beide Partner zu einem Willen macht, so besteht die ganze „Würde" der Frau darin, „daß sie ganz, so wie sie lebt, und ist, ihres Mannes sei, und sich ohne Vorbehalt an ihn und in ihm verloren habe. Das Geringste, was daraus folgt, ist, daß sie ihm ihr Vermögen und alle Rechte abtrete, und mit ihm ziehe. Nur mit ihm vereinigt, nur unter seinen Augen, und in seinen Geschäften hat sie noch Leben, und Tätigkeit. Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen; ihr Leben ist ein Teil seines Lebens geworden". 49 Auch wenn Fichte nicht nur für ein relativ liberales Scheidungsrecht und eine bloß moralische Verurteilung des Konkubinats optierte, sondern auch der ledigen, verwitweten und geschiedenen Frau das volle Eigentumsrecht und das Recht zur Ausübung eines Gewerbes zugesteht, so ändern doch diese „Konzessionen" nichts daran, daß in der vom Staat sanktionierten Ehe die Frau als juridische Person gleichsam ausgelöscht ist und sie ihre persönliche Identität nur durch ihren Mann hindurch finden kann. Diese unbeschränkte „Akquisition" des Mannes 50 hat ihrerseits zur Folge, daß er „der Verwalter aller ihrer Rechte (ist)... Er ist ihr natürlicher Repräsentant im Staate, und in der ganzen Gesellschaft". 51 Zwar hält Fichte es „für die Schuldigkeit des Mannes, daß in Staaten, wo der Bürger eine Stimme über öffentliche Angelegenheiten hat, diese Stimme nicht gebe, ohne mit seiner Gattin sich darüber unterredet, und durch das Gespräch 47 48 49 so
Weber 1907, S. 306. Fichte 1922, S. 324. A. a. O., S. 314 f. A. a. O., S. 328.
51 A. a. O., S. 347.
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mit ihr seine Meinung modifiziert zu haben. Er wird sonach nur das Resultat ihres gemeinsamen Willens vor das Volk bringen". 52 Die prinzipielle soziale und politische Entmündigung der Frau in der Ehe wird dadurch keineswegs aufgehoben, zumal Fichte sie mit fragwürdigen scholastischen Konstrukten gleichsam anthropologisch zu untermauern sucht. Der Behauptung nämlich, der Mann verkörpere beim Zeugungsakt „das erste bewegende Prinzip", entspricht seine Doktrin, nur Männer könnten in Begriffen denken, während die Frau, unfähig zur philosophischen Spekulation, „in das Innere, über die Grenze ihres Gefühls hinaus (nicht) eindringen kann ... und (auch) ... nicht (soll)". 53 Nach Fichte muß ihr also z. B. eine akademische Bildung und damit der Aufstieg zu gesellschaftlichen Führungspositionen versagt werden. Es wird also festgestellt werden müssen, daß sich patriarchalische Herrschaftspositionen selbst in der revolutionären Phase der bürgerlichen Rechtsphilosophie durchhalten konnten, weil, wie Schröder zeigen kann, auch in deren Rahmen, wie in der bisherigen Geschichte überhaupt, es der Frau entweder unmöglich gemacht oder erschwert wurde, autonom über Eigentum zu verfügen: in dem Maße, wie sie unbezahlte Arbeit im Haushalt zu verrichten hat, konnte sie sich weder von ihrer untergeordneten Rechtsstellung emanzipieren noch war sie in der Lage, die Rolle eines Vollbürgers faktisch wahrzunehmen. Zu Recht kann Schröder darauf verweisen, daß dieses Problem nicht nur in feudalen und bürgerlichen Gesellschaften existiert hat und existiert. Auch in der sozialistischen politischen Ökonomie muß noch immer davon ausgegangen werden, daß die Frau „dem männlichen proletarischen freien Arbeiter keineswegs gleichgestellt ist, weder ökonomisch, noch bürgerrechtlich: die Kriterien der freien Lohnarbeit treffen auf sie nicht zu. Da diese Frauen nicht Proletarier sind wie die Männer, bedeutet das, daß sie in der Arbeiterbewegung für fremde politische Ziele ausgebeutet werden, Ziele, die nicht die ihren sind, bzw. nur sehr indirekt" (250).
I I I . Der „totalitäre" Fichte Wie zu zeigen versucht wurde, sieht Buhr den Staat bei Fichte vor allem als Instrument kleinbürgerlicher Schichten zur Durchsetzung ihrer materiellen Primärinteressen. Die im Staatsapparat akkumulierte Macht kann sich nach diesem Interpretationsmodell deswegen nicht von ihrer Basis lösen, weil in dem Moment, wo der ohnehin nur temporäre etatistische Zwang nicht mehr Ausdruck der Identität von Herrschern und Beherrschten ist, das Volk durch einen revolutionären Akt korrigierend eingreift. Wird freilich das Funktionieren dieses Rückkoppelungsmechanismus mit dem Hinweis auf einschlägige historische Erfahrungen grundsätzlich in Frage gestellt, muß der Fichtesche Staat als Inkarnation etatistischer Omnipotenz O., S. 348. 53 A. a. O., S. 354. 52 A . a.
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erscheinen. Als solche stilisiert ihn denn auch J. L. Talmon 54 . Die von ihm entwikkelte Fichte-Kritik ist deswegen bemerkenswert, weil sie den Rahmen absteckt, innerhalb dessen von liberal-konservativer Seite gegen die politische Theorie Fichtes argumentiert wird. Die Grundthese Talmons wirft Fichte vor, seine Konzeption des extremen Individualismus lasse sich in der politisch-empirischen Wirklichkeit nur durch die Anwendung massiven „totalitären" Zwanges realisieren. Das zeigten u. a. nicht nur die Theorie vom „totalitären »Geschlossenen Handelsstaat"4, sondern auch seine Versuche, das von Rousseau aufgeworfene Problem der volonté générale zu lösen: sei es, daß sich der allgemeine Wille in Form der „Herrschaft von Recht und Gerechtigkeit" im Beamtenstand als der „Verkörperung eines reinen objektiven kategorischen Imperativs, im Gegensatz zu dem Wankelmut, den heterogenen egoistischen Interessen und der groben Unwissenheit der Menge" (165) konkretisiere, sei es, daß Fichte zu seiner Konzeption des „ Z w i n g h e r r n " Zuflucht nehme, „einer Art Rousseauscher Gesetzgeber oder Platonischer Philosoph, der die Nation dazu erzieht, den allgemeinen Willen zu wollen", notfalls „mit Hilfe einer machiavellistischen »medicina forte'" (165). Freilich krankt die Fichte-Kritik Talmons daran, daß sie dort mit „empirischen" Argumenten arbeitet, wo Fichte apriorische Ansätze entwickelte. Andererseits abstrahiert sie vom historisch Besonderen, wenn sie die Fichtesche Position als Glied einer langen Kette totalitär demokratischer Theoreme charakterisiert. 55 Auf diese Weise selbst abstrakt geworden, ist sie, paradox genug, zugleich von der Intention bestimmt, jeden Apriorismus, der sich kritisch aufs Bestehende zurückkehrt, als „Utopie" zu perhorreszieren, ja diese selbst als jenen Archimedischen Punkt herauszustreichen, auf den hin alle „totalitären" Systeme strukturiert sein sollen. 56 Daß Talmon damit dem konservativen Bedürfnis entspricht, jeden Versuch der Veränderung des Bestehenden in Richtung auf die materielle Verwirklichung der in den Verfassungen niedergelegten demokratischen Prinzipien als „totalitär" zu diffamieren, liegt auf der Hand. Vergessen wird bei solchen Argumentationen allzu leicht, daß eben dieser, zum Maß aller Dinge erhobene Status quo das Resultat eines historischen Prozesses ist, der ohne den Rekurs auf die Fiktion des autonomen und sich emanzipierenden bürgerlichen Subjekts kaum ein neues Selbstverständnis und neue Formen der Legitimation von Herrschaft hervorgebracht hätte. Die einseitige Herabsetzung der Utopie hat ihr Äquivalent in dem von 54 Talmon 1963. 55 Vgl. hierzu: Batscha 1970, S. 260 f. Iring Fetscher charakterisiert die Schwäche der Talmonschen Interpretation sehr treffend, wenn er auf „verhängnisvolle Simplifikationen" hinweist, „die Rousseau, Robespierre, Hegel und Hitler in eine undurchdringliche Nacht tauchen, in der bekanntlich alle Kühe grau sind" (Fetscher 1968, S. 282). 56 Damit soll die Fragwürdigkeit solcher Utopien, die die Wirklichkeit abstrakt negieren, weder übersehen noch heruntergespielt werden. Wenn sich die „Wahrheit" einer Utopie daran zu erweisen hat, daß es ihr gelingt, die verdinglichten Formen des Bestehenden zugunsten einer vernünftigeren sozialen Verfassung im weitesten Sinne aufzulösen, wird sie sich davor hüten müssen, gegen die erstarrte Faktizität des hic et nunc die ideologisierte Positivität des Zukünftigen auszuspielen.
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Talmon verwandten Totalitarismus-Begriff: seiner undifferenzierten Allgemeinheit wird das Besondere rücksichtslos subsumiert. 57 Wenn Talmon etwa seine Grundthese mit der lapidaren Bemerkung zu untermauern sucht, der für Fichte charakteristische Übergang von extremem Individualismus zu terroristischem Zwang lasse sich in der historischen Wirklichkeit am „Fall Robespierre" (160) demonstrieren, wird einmal mehr evident, daß ihn politische Gewalt als solche, nicht aber ihre historisch-gesellschaftlichen Ursachen interessieren. Gerade die Analyse der Genese des jakobinischen Terrors würde ergeben, daß er weniger aus einer „abstrakten" Theorie des extremen Individualismus resultierte als vielmehr aus der Tatsache, daß unmittelbar Korruption und feudale Reaktion ihn provozierten. 58 Was Talmon gleichsam als grob skizzierte These gegen Fichtes politische Theorie vorbringt, versucht Richard Schottky 59 durch detaillierte Text-Exegese zu konkretisieren. Schottky, der sich auf die „kontraktualistische Staatstheorie in Fichtes Schriften bis 1800" konzentriert, weist darauf hin, daß diese in der „Grundlage des Naturrechts" (1796/97) einen ,»radikalen Wandel" durchmacht. Orientierte sich Fichte im „Beitrag" 60 ausschließlich an der Idee des reinen Vernunftsrechts, was ihn 1793 in eine völlige „nahezu anarchistische Bagatellisierung des Staates hineingetrieben hatte" (132), so gelange er jetzt, nicht zuletzt durch die Rezeption des Hobbesschen Ansatzes61, „zur Anerkennung der fundamentalen Bedeutung des Staates im menschlichen Dasein" (132). Fichtes Konzeption der Rechtswissenschaft inhäriere dann auch nicht mehr ein der Empirie gegenüber indifferentes Normensystem, das zu seiner Realisierung allein auf den „zufällig guten Willen des einzelnen angewiesen" (134) ist. Vielmehr sei ein den Grund seiner Verwirk57 Dem Totalitarismusbegriff Talmons, dessen Kern geschichtsloser Zwang als solcher ist, korrespondiert die Charakterisierung totalitärer Staaten, wie sie etwa von C. J. Friedrich vorgenommen wurde. Danach sind diesen folgende Strukturelemente immanent: die Existenz „einer Ideologie, einer einzelnen Partei, die im typischen Fall von einem Mann geleitet wird, einer terroristischen Polizei, eines Kommunikationsmonopols, eines Waffenmonopols und einer zentral gelenkten Wirtschaft" (Friedrich 1967, S. 17). Die Unzulänglichkeit einer solchen Typologie, die auf die Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus hinausläuft, ist evident. So wendet Werner Hofmann gegen sie ein, daß „über formalen Ähnlichkeiten das Inhaltliche die besondere gesellschaftliche Trägerschaft, der Unterschied zwischen Privateigentum und Gemeineigentum an den Wirtschaftsmitteln und der tiefere soziale Zweck jeweiliger Machtausübung vernachlässigt (wird)" (Hofmann 1967, S. 17). Über den neuesten Stand der Totalitarismus-Diskussion informiert kritisch: Schäfer 1969, S. 105 -154. 58 Vgl. hierzu die vorzügliche Studie von Moore 1969, besonders S. 62-137. 59 Schottky 1962. 60
Ähnlich wie Buhr sieht auch Schottky die Stellung des jungen Fichte zu den „staatsphilosophischen Grundproblemen" charakterisiert durch einen „extremen bis in den Anarchismus hinein überspitzten Liberalismus" (Schottky 1962, S. 115). Wie er jedoch ganz allgemein den revolutionären Charakter der Vertragstheorie verkennt (vgl. hierzu Willms 1967a, S. 21), so abstrahiert er leider auch in diesem Zusammenhang vom revolutionären Aspekt dieser frühesten Version der politischen Theorie Fichtes. 61 Soweit ich sehen kann, ist es das Verdienst Schottkys, als erster den von Hobbes herrührenden Einflüssen auf die politische Philosophie Fichtes systematisch nachgegangen zu sein.
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lichung implizierendes Recht nur denkbar, wenn es sich als „realer sozialer Mechanismus" manifestiere, der „sich selbst erhaltend, mit innerer Notwendigkeit die Rechtsidee durchsetzt und darstellt" (134). Recht erscheint also im Unterschied zu den Reflexionen des „Beitrags" nicht mehr als eine vom Staat isolierte Entität, sondern strukturell mit diesem verklammert. 62 Es liegt nun auf der Hand, daß angesichts dieser Modifikation der Staat gegenüber dem Ansatz von 1793 keine zu vernachlässigende Größe mehr ist. 63 Mehr noch: Wenn „Nur totale Souveränität. .. totale Sicherheit zu schaffen" vermag und der wahre Rechtsfrieden nur zu realisieren ist durch die Ableitung des Staates „als notwendige Form des Rechts" (159), stellt sich die Frage, ob Fichtes Ansatz sich vom „great Leviathan" überhaupt noch qualitativ unterscheidet. Schottky weist jedoch darauf hin, daß Fichte im Gegensatz zu Hobbes der Antithesis des starken Staates die Thesis der liberalen Freiheitsrechte des einzelnen konfrontiert. Bei Fichte sei nach dessen eigenen Worten „Die Freiheit der Person nach dem Rechtsgesetze durch nichts beschränkt als durch die Möglichkeit, daß andere neben ihr auch frei sein, und Rechte haben können. Alles was keines anderen Rechte kränkt, soll sie nach dem Rechtsgesetze tun dürfen..." (159). In dem Versuch, diese harte, sich in „dramatischer Unmittelbarkeit" (159) darstellende Antinomie „zwischen liberaler und totalitärer Richtung in der aufklärerischen Staatstheorie" (160) zu vermitteln, sieht Schottky die eigentliche Intention Fichtes in der „Grundlage des Naturrechts". Über Hobbes hinausgehend, verwerfe er zunächst dessen postulierte 62 Aus dieser Modifikation ergibt sich natürlich eine bedeutsame Konsequenz. Impliziert nämlich das Recht seine eigene Realisierung, so ist es nicht mehr, wie Fichte dies im b e i trag" unterstellte, unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ ableitbar. Folgerichtig sieht Fichte dann auch das Motiv für die Rechtskonformität nicht wie noch 1793 in der moralischen Gesinnung, sondern in deren Gegenteil, dem Egoismus. Allerdings weist Schottky darauf hin, daß Fichte schon 1796 das Rechtsgesetz mit der Moral insofern korreliert, als dieses „trotz seiner ursprünglichen inhaltlichen Eigenständigkeit doch sekundär durch das Sittengesetz verbindlich gemacht" (Schottky 1962, S. 173) wird. Durch die so angedeutete prästabilierte Harmonie von Moralität und Legalität ist zugleich dafür gesorgt, „daß der sittliche Mensch aus Pflichtbewußtsein dasselbe tut, was zu tun das Rechtssystem vermittels seiner Zwangsinstitute den Egoisten nötigt" (a. a. O., S. 143). Schottky spricht denn auch die Vermutung aus, daß sich im Aufbau von Fichtes Gesamtsystem schließlich „eine objektiv-idealistische Tendenz ausgewirkt hat, die ja immer eine »aufhebende* Aneignung naturalistischer Gedankenmotive und Konzeptionen in das idealistische System begünstigt" (a. a. O., S. 144). 63
Die Deduktion des Staates und die Auslegung des Eigentumsvertrages können hier nicht diskutiert werden. Schottkys These jedoch, Fichtes Konzeption sei ein „Staatssozialismus", der auf die „Verknechtung" des Individuums „an eine bestimmte vom Staat eng zu bestimmende und zu reglementierende Arbeit*' (a. a. O., S. 168) hinauslaufe, überzeugt deswegen nicht, weil hier offensichtlich moderne Erfahrungsgehalte in die Interpretation einfließen. Es ist ohne die genaue Berücksichtigung der besonderen historischen und gesellschaftlichen Umstände überdies wenig sinnvoll, wenn man einem Denken »totalitäre« Implikationen vorrechnet, das auf die Abschaffung manifesten ökonomischen Elends reflektierte. Im Gegensatz zu Schottky war Fichte mit seiner Forderung des Rechts auf Arbeit, Kleidung, Muße etc. einerseits und seiner Insistenz auf der Realisierung der Menschen- und Bürgerrechte andererseits seiner Zeit, zumal in Deutschland, weit voraus. Was die Bezeichnung der Wirtschaftskonzeption Fichtes als Staatssozialismus betrifft, vgl. Anm. 44.
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„absolute Aufgabe der Selbstbestimmung an einen empirischen Willen" (160). Ein solcher Schritt bedeutete nämlich die völlige Rechtlosigkeit aller, was „nicht im Ernst vom Vernunftrecht geboten sein (kann)" (160). Die angesichts des menschlichen Egoismus notwendige Unterwerfung der Individuen kann deswegen „nur gegenüber dem Willen des Gesetzes" erfolgen, „nämlich der positiven Rechtsnorm gegenüber, die subsumtiv als Anwendung des juridischen Prinzips auf die konkrete Menge und ihre Umstände deduzierbar ist" (160). Andererseits ist aber genauso evident, daß - solange sich die empirische Natur des Menschen gegen partikuläre Neigungen nicht immunisiert hat - das Gesetz als solches, als bloße Norm nicht herrschen kann. Vielmehr muß das vernünftige Apriori in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst durchgesetzt werden, „notfalls auch mit Gewalt" (160). Damit sieht Schottky zugleich das Ziel präzisiert, auf das Fichtes Reflexionen hinauslaufen: die Konstruktion eines Staates, der „mit der totalen Machtfülle Hobbesischer Souveränität ausgerüstet, seinem Inhalt nach zugleich mit der Rechtsnorm selbst zusammenfiele. Der herrschende Wille müßte zugleich Faktum und Norm sein" (160). 64 Genau diese bei Fichte zu beobachtende Intention, auf einem vernünftigen Willen zu insistieren, der die empirische Welt radikal zu verändern sucht, ist Schottky zutiefst suspekt. Auch wenn der empirische Herrscher immer nur als Repräsentant des Volkes fungiere, so könne er doch realiter jederzeit von diesem losgelöst agieren, weil in Fichtes „totalem Rechtsstaat" die volonté générale „immer auf das Recht geht, aus dem Rechtsprinzip aber jeder Verständige' das richtige positive Gesetz für das besondere Volk, also den , wahren4 Gemein willen des Volkes ableiten kann. Die Geltung dieses Prinzips dehnt Fichte offenbar auch auf die richterliche und exekutive Staatstätigkeit aus. Selbst die konkreten politischen Einzelmaßnahmen betrachtet er als bloße subsumtive »Anwendungen* der Rechtsregei auf die gegebenen Verhältnisse" (183). Demgegenüber macht Schottky den „logischen Hiatus" geltend, „der zwischen dem apriorischen-generellen Prinzip und der konkreten Realisierung - mindestens im menschlichen Bereich klafft" (188). Selbst wenn man von einzelnen Exekutivmaßnahmen einmal absehe, sei die Annahme illusionär, man könne bestimmte positive Gesetze „aus dem Rechtsprinzip ableiten". Diese ließen „sich höchstens nachträglich, wenn sie entworfen sind, auf ihre Übereinstimmung mit diesem prüfen und dadurch als rechtlich möglich (aber nicht als die einzig möglichen bzw. notwendigen) erweisen" (189). Bestenfalls gehe es an, aus dem apriorischen Rechtsprinzip einen unantastbaren Rahmen der Gesetzgebung zu deduzieren, nicht aber die konkreten Akte der Gesetzgebung selbst. Indem Fichte aber diesen logischen Unterschied „zwischen generell-apriorischem Rahmen und konkreter Ausfüllung zugunsten des allgemeinen aufhebt", könne man sich seinen Entwurf, in die Praxis umgesetzt, „kaum anders als totalitär vorstellen" (189 f.). 65 64 Nicht zuletzt deswegen schreibt Fichte: „Das Gesetz muß eine Macht sein: der Begriff des Gesetzes ... und der der Übermacht müssen synthetisch vereinigt werden" (zit. n. Schottky 1962, S. 161). 65 Es ist hier Willms zuzustimmen, wenn er an Schottky kritisiert, er unterscheide nicht hinreichend zwischen „total" und „totalitär". Vgl. Willms 1967b, S. 12.
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Schottky hat seine Fichte-Interpretation, wie sie hier in groben Zügen skizziert wurde, auch in den 1967 erschienenen und von ihm kommentierten „Texten zur Staatstheorie" 66 im wesentlichen beibehalten. Er weist darauf hin, daß Fichte insofern mit allen anderen Vertretern des staatsphilosophischen Kontraktualismus konform gehe, als auch bei ihm „die gegenseitige Sicherheitsleistung, die in der Herstellung des Rechtsfriedens enthalten sein muß, nur als Unterordnung aller unter einen gemeinsamen Herrscher vollzogen werden kann" (105). Im Gegensatz zu John Locke aber strebe er keinen Kompromiß an, sondern die „Synthese zwischen der von Hobbes intendierten absoluten Friedenssicherheit und dem absoluten Freiheitsanspruch der Einzelperson, den der Liberalismus vertritt" (105). Die Lockesche Lösung dieser Antinomie, daß nämlich „die Unterwerfung von vornherein nur unter Bedingungen mit Vorbehalten erfolgt und daß gegen den Herrscher sofort ein Widerstandsrecht eintritt, wenn er seine rechtliche Beschränkung zu durchbrechen versucht", sei deswegen für Fichte nicht akzeptabel, weil „hier der Staat doch dauernd durch den Rückfall in den ,Naturzustand' bedroht (ist), der ja als Stand unbedingter Rechtlosigkeit gelten muß" (105). Fichte strebe nicht ein labiles Gleichgewicht „zwischen Anarchie und totalem Staat" an, sondern - einer Grundintention von Rousseaus Contrat social folgend - „die totale Herrschaft eines Staatswillens, der inhaltlich mit dem Vernunftrecht und folglich mit der rechtlichen Freiheit jedes Einzelnen wesenhaft identisch ist; er will, wie man formulieren könnte, den »totalen Rechtsstaat'" (105 f.). Daß Schottky, der im Rahmen seiner „Kommentare", die Texte der klassischen Staatsphilosophie67 für den politischen Unterricht fruchtbar zu machen sucht, sich ganz auf Fichtes „Grundlage des Naturrechts" konzentriert, ist offensichtlich kein Zufall. Angesichts der Tatsache, daß Fichte „im populären Geschichtsbild ... als pathetischer Vertreter eines übersteigerten Nationalismus, als wortgewaltiger Prophet borniert-reaktionärer Deutschtümelei, als durch idealistische ,Verstiegenheit' ganz besonders gefährlicher Ideologe chauvinistischer Selbstvergötzung und chauvinistischer Machtpolitik (fungiert)" (88), dürfte diese „gründlichste von Fichtes Schriften über Recht und Staat" (89) sicherlich am besten geeignet sein, Vorurteilen solcher Art zu begegnen. Wie Talmon und Schottky ordnet auch Bernard Willms 6 8 die politische Theorie Fichtes dem Modell der „totalitären Demokratie" zu. 69 Im Gegensatz zu Schottky 66 Schottky 1967. 67 Schottkys Kommentare behandeln folgende Themen: 1. „Von Wesen und Sinn des Staates" (Aristoteles, Thomas von Aquin, John Locke, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Leopold von Ranke, Wladimir Iljitsch Lenin). 2. „Recht und Staat" (Johann Gottlieb Fichte, Ernst Bloch, Jacques Maritain, Walter Künneth). 3. „Staatsformen und Staatsideale" (Piaton, Thomas Hobbes, Wilhelm von Humboldt, Jean Jacques Rousseau, Emil Brunner, Karl Jaspers). Der Band enthält außerdem ein Personen- und Sachregister. 68 Willms 1967a. 69 Freilich muß bei Schottky hier insofern differenziert werden, als er insbesondere in seinem „Kommentar" dem Fichteschen Staat, wie er in der „Grundlage" konzipiert wurde, zugesteht, er eröffne „das Verständnis für die fundamentale Forderung nach Rechtsstaatlichkeit, dafür also, daß jeder wahre Staat sich wenigstens prinzipiell an die allem bloßen Macht-
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aber, dessen Fichte-Rezeption und -Kritik ausschließlich unter einem strukturell verfassungspolitischen Gesichtspunkt erfolgt, interpretiert Willms die politische Theorie Fichtes unter dem Aspekt der Revolution einerseits und des ihr komplementären Problems der Differenzierung von Staat und Gesellschaft andererseits. Durch die partielle Einbeziehung der gesellschaftlich-historischen Dimension kommt Willms zweifellos zu einem differenzierteren Fichte-Verständnis, als dies etwa bei Schottky und Talmon der Fall ist. Daß er freilich dann auf Grund des von ihm verwandten Politik-Begriffs am Ende über deren formalisierte und undifferenzierte Totalitarismus-These nicht hinauskommt, wird noch zu zeigen sein. Willms' Analyse setzt ein mit den Frühschriften Fichtes. Anders als Schottky, der durch seine einseitige und damit Fichtes Intentionen nicht immer adäquat reproduzierende Strukturanalyse einen „radikalen Bruch" zwischen den frühen Arbeiten und den späteren Versionen konstatiert, glaubt Willms in den Schriften von 1793 bereits alle Momente angelegt, die dann in den Arbeiten der mittleren Phase und der späten Periode zur Entfaltung kommen. Die wesentlichsten Aspekte von Fichtes „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" (1793) zusammenfassend, schreibt Willms: „Mit dem Prinzip der sittlichen Autonomie, der revolutionären Vertragstheorie, der Zurückweisung der Ansprüche der Gesellschaft bzw. des Staates in bezug auf den Endzweck der Menschheit und schließlich mit dem utopischen Ausblick hat das erste Kapitel des »Beitrags4 bereits alle wesentlichen Momente der politischen Theorie Fichtes zu dieser Zeit zur Sprache gebracht" (26). Da diese Elemente gewissermaßen das Fundament darstellen, auf dem die Willmssche Fichte-Interpretation ruht, sollen sie kurz in ihrem Kontext dargestellt werden. Schon in dem ersten, uns von Fichte überlieferten Aufsatz „Zufallige Gedanken in einer schlaflosen Nacht" (1788) glaubt Willms die „Struktur der radikal entfremdeten Subjektivität" (16) ausmachen zu können, deren revolutionäres Potential freilich noch gebunden bleibe durch den „furchtbaren Druck" des philosophischen Determinismus, wie er sich im Gefolge der Wolffschen Schule weithin durchgesetzt hatte. Erst ein „durch Kant modifizierter Fichte" 70 war in der Lage, sich eindeutig mit den Prinzipien der Französischen Revolution zu identifizieren und die Agitation gegen den absolutistischen Staat offensiv zu führen. 71 Willms weist nun darauf hin, daß Fichte durch seine revolutionären Intentionen bereits im „Beitrag" zu einer bedeutsamen Modifikation der Vertragstheorie und damit der Legitimationsbasis gesellschaftlicher bzw. staatlicher Systeme überhaupt getrieben wird. „Gesellschaft ist... für Fichte auch ohne Vertrag denkbar; auf ihr besteht er ausdrücklich, indem er heftig gegen den Hobbesschen Naturzustand polemisiert, den Krieg aller gegen alle. Von der »ursprünglichen Bösartigkeit 4 der Menschen kann wesen gegenüber selbständige Rechtsidee binden muß und daß ein Staat in eben dem Maße den inneren, im Gewissen bindenden Gehorsamsanspruch verliert, in dem er zum UnrechtsStaat wird" (Schottky 1967, S. 107 f.). 70
Vgl. hierzu die Ausführungen über Fichtes subjektiven Idealismus. 71 Vgl. den Aufsatz von Träger 1962, S. 158 ff.
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Fichte ,sich nicht überzeugen4. Der Revolutionär, der im Namen ,des Menschen' gegen die bestehende Ordnung aufsteht, muß den Begriff dieses Menschen so fassen, daß dieser,Mensch überhaupt', vor aller Gesellschaft, vor allem Vertrag, seiner Natur nach schon Garantie für Frieden, Freiheit und Ordnung ist. Diese Natur des Menschen aber ist als Freiheit bestimmt; Naturzustand bedeutet: nur unter dem - nie suspendierbaren - Sittengesetz stehend" (34). Wie stellt sich nun aber im Naturzustand das Verhältnis zwischen Sittengesetz und Staat dar? Wird, so fragt Willms, das Sittengesetz, lediglich mit Postulatscharakter ausgestattet, „ohne einen Effektivitätsfaktor, also etwa den Staat, auch in der Wirklichkeit herrschen" (34) können? Diese Fragen sieht Willms dadurch unterlaufen, daß Fichte den Naturzustand „moralisiert" ihm gehe es nicht „um das Mögliche und Effektive, zu dem eben der Mensch als ,Wolf' auch gehören kann, sondern um das Gesollte. Fichtes Theorie ist notwendig eine durchaus moralische, der von ihrem Ansatz her die Möglichkeit, eine politische zu werden, ebenso notwendig abgeht" (34). Diese „Moralisierung" des Naturzustandes hat Willms zufolge weittragende Konsequenzen. Nicht zuletzt resultiere aus ihr der Stellenwert, den die „Gesellschaft qua Vertragsgesellschaft oder gar qua Staat" (35) in der politischen Theorie Fichtes hat. Wenn die „wahre" Gesellschaft sich allein durch die Partizipation autonomer Individuen am Sittengesetz konstituiert, ist Fichte gezwungen, „an einem Gesellschaftsbegriff außerhalb des Vertrags überhaupt und vor allem außerhalb des Staates festzuhalten und in diesen schon alle Möglichkeit der Entwicklung zur Vollkommenheit der Subjektivität hineinzulegen" (35). Zum Begriff des Menschen ist somit ein auf Vertrag basierendes Gemeinwesen nicht nur nicht notwendig - es würde der Autonomie des einzelnen geradezu zuwiderlaufen. Dadurch erfährt aber zugleich der Staat eine radikale Abwertung. Er findet seinen Ort in jenem Reservat, „das die Vernunft,freigelassen 4 hat" (35), um als bloßes Mittel zu fungieren, „nachdem ihm die politische (Ordnung stiftende und garantierende) Dimension schon durch den moralischen Ansatz abgeschnitten" (35) ist. Freilich sei nicht zu übersehen, daß Fichte mit wachsender Einsicht in die Konkurrenzmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft diesen Ansatz modifiziert: Spätestens in der „Grundlage des Naturrechts" setzte er sich mit der Frage auseinander, wie die von ihm postulierte praktische Autonomie des einzelnen mit dem „hypothetischen Krieg aller gegen alle" zu vermitteln sei. Willms zufolge stellte Fichte den Zusammenhang zwischen den anthropologischen Prämissen seiner Revolutionstheorie und der Notwendigkeit der für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiven staatlichen Zwangsfunktionen dadurch her, daß er die Legalität als Zwangssphäre des Staates nicht auf die „»ursprüngliche 4 Bosheit", sondern auf die „ursprüngliche Freiheit" zurückführt. „Auf diese Weise war die suspendierte Moralität als abstrakte subjektiv-unendliche Freiheit wieder in die Deduktion der Legalität eingebracht, aber nur, um sogleich rigoroser wieder aus dieser vertrieben zu werden" (110), weil angesichts einer politischen Konzeption, in der die moralische Autonomie des einzelnen die absolute Priorität hat, der „ganze Bereich des Gemeinwesens mit allen Eingriffen und Zwängen... ,nur' Legalität" (124) sein kann: wie schon in den Frühschriften fungiert also auch hier der Staat lediglich als „notwendige Stufe für
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die Erhebung der Subjektivität als solcher - der »Menschheit* - zur absoluten M o ralität" (124). Eben dieser Sachverhalt eröffnet für Willms die Perspektive einer „totalitären Demokratie". Indem nämlich die Gesellschaft auf dem Wege zur sittlichen Vollkommenheit den Staat vollständig instrumentalisiere und kontinuierlich aufhebe, sei sie keineswegs des Zwangs enthoben, zumindest intermediär Funktionen, die der historische Staat hatte, weiterhin auszuüben. Vielmehr müsse jetzt die Gesellschaft, ihrer Grundlage beraubt, „sich selbst garantieren, allen Zwang i n sich einbauen und nach ihren Grundsätzen, also moralisch beurteilen. Recht und Gesetz erscheinen somit als Zwang, und zwar in der Einbeziehung des Politischen aus einem Gegenüber in das Strukturgesetz der Gesellschaft hinein als potenzierter Zwang" (41 f.). Willms' negative Bewertung dieser bei Fichte zu beobachtenden Funktionalisierung des Staates gründet sich auf jenen politischen Denker, der für die gesamte Carl Schmitt-Schule konstitutiv ist: Thomas Hobbes. 7 2 Infolge der Radikalität, mit 72 Freilich ist die Willmssche Position dadurch charakterisiert, daß er im Gegensatz zu Schmitt den Hobbesschen Ansatz gewissermaßen auf dem Boden der Hegeischen Rechtsphilosophie für seine Intentionenfruchtbar macht. Die dazu erforderliche Interpretation der Hegelsehen Staatsphilosophie entwickelt er in dem Aufsatz „Theorie, Kritik und Dialektik" (in: Willms 1968). Als theoretische Gegenposition zu seinem eigenen Ansatz stellt Willms hier die These Adornos heraus, Hegel habe angesichts seiner Erkenntnis, daß in der bürgerlichen Gesellschaft „mit dem gesellschaftlichen Reichtum die Armut ... anwächst" keinen anderen Ausweg gesehen, als den Staat „beschwichtigen" zu lassen, „was sonst nicht zu beschwichtigen wäre. Hegels Staatsphilosophie ist notwendiger Gewaltstreich; Gewaltstreich, weil sie Dialektik sistiert im Zeichen eines Prinzips, dem Hegels eigene Kritik des Abstrakten gebührte, und das dann auch, wie er zumindest andeutet, keineswegs jenseits des gesellschaftlichen Kräftespiels seinen Ort hat ..." (Adorno 1963, S. 42). Demgegenüber ist für Willms die Hegeische Anrufung des Staates „kein ideologischer Verzweiflungsakt" (Willms 1968, S. 75). Zwar sei Gesellschaft bei Hegel in der Tat „ein Prinzip, das in seinem Antagonismus ... die Dynamik der »besonderen4 Interessen unaufhebbar macht" (a. a. O., S. 74). Zugleich erhalte aber der Staat erst dann innerhalb des Hegeischen Systems den ihm angemessenen Stellenwert, wenn er als das angesehen werde, was er in Wirklichkeit sei: „die ,minimum condition' von Gesellschaft, in der diese zu einem politisch handlungsfähigen Subjekt wird" einerseits und der Garant der Freiheit „der persönlichen Besonderheit" (a. a. O., S. 77) andererseits. Die zuletzt genannte Funktion des Staates ergebe sich daraus, daß das von ihm ermöglichte abstrakte Prinzip der Gesellschaft intentional auf den einzelnen übergreife, bis sich dieser am Ende dem „verselbständigten Prinzip der Freiheit der organisierten Interessen machtlos" (a. a. O., S. 77) ausgeliefert sehe. In dieser verzweifelten Isolierung des einzelnen trete ihm der Staat als „natürlicher Verbündeter" zur Seite, nicht als Instrument der herrschenden Klasse, wie Adorno im Anschluß an den jungen Marx unterstelle, fungierend, sondern vielmehr als „Verwirklichung der Freiheit des einzelnen" (a. a. O., S. 77). Willms stellt somit auf seine Weise den Hegel der Rechtsphilosophie vom Kopf auf die Füße. Den Spätkapitalismus als Gesellschaftsformation ohne Alternative behauptend, sind dem ihn garantierenden Staat alle verpflichtet: die organisierten gesellschaftlichen Gruppen, denen er ihren Spielraum erst ermöglicht, und der nichtorganisierte einzelne, den er vorm Zugriff der gesellschaftlichen Partikularinteressen schützt. Was Willms auf diese Weise gegenüber dem ursprünglichen, Hegel nicht systematisch rezipierenden Ansatz Carl Schmitts voraus hat, scheint mir darin zu liegen, daß er nicht ständig die Möglichkeit eines sozialen, politischen und ökonomischen Ausnahmezustandes beschwören muß, wie dies ein „reiner", vorwiegend
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der dieser als erster bedeutsamer Theoretiker des „Possessive Individualism" 73 die Einsicht in den dynamischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft theoretisch verarbeitete, trete im „Leviathan", diesem „klassischen politischen Werk der Neuzeit" (111), die Existenzbedingung der modernen „bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Bezogen- und Angewiesensein auf das politische Gegenüber - den Staat zum erstenmal klar hervor" (111), Hobbes sei mit Fichte insofern zu vergleichen, als auch bei ihm bereits Ansätze zu einer „funktionalen Reduktion" des Staates, „die aus der Notwendigkeit der Oberwindung des konfessionellen Bürgerkrieges die große Leistung der bürgerlichen politischen Theorie ist" (38), vorliegen. Im Unterschied zu Fichte aber habe er „die konstitutive Bedeutung des Staates für die Gesellschaft gesehen und sie in der Reduktion auf das Politische positiv festgehalten" (38). Mit anderen Worten: Dadurch, daß bei Hobbes der Staat in der Ausnahmesituation den inneren oder äußeren Feind bestimmt, garantiert er der Gesellschaft als dem „System der Bedürfnisse" den Frieden, ohne den ihre eigene, wenn auch eingeschränkte Entfaltung nicht möglich wäre. 74 Die Differenz zwischen dem politischen Ansatz Hobbes' und Fichtes sieht Willms korreliert mit einem bedeutsamen Wandel im Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft. Während für Hobbes aus deren movens, dem „bellum omnium contra omnes", „die elementare Furcht vor dem gewaltsamen Tod als Grunderlebnis menschlicher Existenz" resultiert, schwand, was bei Locke sich bereits ankündigt, „mit dem erfolgreichen Funktionieren dieser »schützenden Schicht4 des Staates ... die Einsicht in ihre konstitutive Bedeutung" (100). Ließ Hobbes „die an Hobbes orientierter Dezisionismus voraussetzt. Dem in der Hegeischen Rechtsphilosophie „aufgehobenen" Hobbes entspricht in der Tat - und hierin liegt die Relevanz des Willmsschen Ansatzes - ein gesellschaftlicher Zustand, in dem anhaltende ökonomische Prosperität und ein wachsendes Sozialprodukt das Gespenst des offenen Klassenkonflikts gebannt zu haben scheint, wenngleich doch als entfernte Möglichkeit mit ihm gerechnet wird. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Aufsatz von Hennig 1968, S. 287-306. 73 Vgl. zu diesem Begriff Macpherson 1962. 74 Dies ist die zentrale These Carl Schmitts, der sowohl sein Begriff des Politischen als existentielle Freund-Feind-Bestimmung, den Willms übrigens vorbehaltlos rezipiert, als auch die systematisch gepflegte Furcht vor der Pluralisierung staatlicher Homogenität durch partikulare gesellschaftliche Kräfte entspricht. Allerdings ist der These, die Gesellschaft könne sich erst im „Schoß des Leviathan" entfalten, entgegenzuhalten, daß bei Hobbes , jene Dialektik der Zähmung politischer Naturgewalt durch die zweite Natur der vertraglich begründeten Souveränität. ... nicht nur (verlangt), daß die in der Generalklausel des Gesellschaftsvertrages gleichsam pauschal erwarteten Gesetze des bürgerlichen Verkehrs ausschließlich in der Form souveräner Befehle gegeben werden können (auctoritas non veritas facit legem); die Dialektik erfüllt sich erst darin, daß auch noch das Urteil, ob diese Befehle mit den Erwartungen des Gesellschaftsvertrages übereinstimmen, dem Souverän selbst vorbehalten bleiben muß. Ohne diesen Vorbehalt wäre nämlich seine Souveränität keine absolute, wie es doch vorausgesetzt war. Er gibt nicht nur alle Gesetze, sondern er allein definiert auch, daß sie mit dem natürlichen Recht des Gesellschaftsvertrages übereinstimmen" (Habermas 1967, S. 39 f.). Angesichts dieses Sachverhaltes wird man feststellen können, daß bei Hobbes am Ende der Dualismus Staat-Gesellschaft gerade nicht garantiert, sondern einseitig zugunsten des Staates, und zwar im Namen der Gesellschaft, liquidiert wird.
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freie Individualität i m Schöße und i m Schutz des Leviathan erstehen", so trat sie jetzt 150 Jahre später „ i n einer extremen Form, als Fichtesches Ich, an die Aufgabe, nun als der eigentliche Grund alles Seins und Erkennens sich selbst mit der nun entfremdeten Gewalt des Staates zu vermitteln. Die historische Gestalt des Staates erschien der revolutionären Subjektivität unvernünftig und widernatürlich, der funktional aufgefaßte Rest der Staatlichkeit - die gefährliche Dynamik der Gesellschaft blieb j a erkannt und wurde vernünftig deduziert - , die Sicherung, wurde in die Gesellschaft selbst eingebaut. Nunmehr war nicht mehr die bloße Ermöglichung des subjektiven Daseins i m Sinne der einfachen physischen Subsistenz die Aufgabe des »Staates4, sondern das Individuum und seine Zwecke sollten jetzt vollständig in Selbstorganisation garantiert werden" ( I I I ) . 7 5 Die Absolutsetzung des bürgerlichen Subjekts, indiziert durch die Abstraktion von jenen realen Bedingungen, auf denen seine konkrete Existenz basiert, wird von Willms auch i n der „Einleitung" thematisiert, die er dem von ihm edierten Band „Johann Gottlieb Fichte. Schriften zur Revolution" 7 6 voranstellt. Willms weist in 75
Das angeblich durch die Selbstorganisation oder Selbstverwaltung der Gesellschaft freigesetzte totalitäre Potential leitet Willms so ab: „Die Praktikabilität der ,Selbstverwaltung4 einer Gesellschaft, deren Strukturprinzip als so gefährlich dynamisch erscheint, hängt aber davon ab, wieweit diese Gesellschaft von außen her politisch garantiert ist. Selbstverwaltung ist nur in einem Rahmen sinnvoll, der seinerseits der Verwaltung entzogen ist, insofern er die Bedingungen schafft und den Gegenstand der Selbstverwaltung freisetzt - eben frei, sich selbst zu verwalten. Das war der Effekt des Leviathan. Wenn aber Verwaltung auch Regierung umfaßt, so wird es, wenn der Dualismus gesellschaftlich-politisch abgelehnt wird - was ja wieder eine separate Regierung bedeuten würde - dazu kommen, daß die ganze Verwaltung zur Regierung wird, d. h. daß die Gesellschaft durchpolitisiert wird - die eigentliche Gefahr für die Freiheit" (Willms 1968, S. 113). Dieser Ansatz dekretiert, daß auf die Gesellschaft bezogenes Selbstverwalten apolitisch zu sein hat, das dem Staat zugeordnete Regieren aber eine spezifisch politische Dimension besitzt, kurz: daß es neben dem Verwalten als Agieren innerhalb vorgegebener, vom Staat garantierter Normen einen dem Leviathan vorbehaltenen Bereich der politischen Dezision gibt, die normativ ungebunden und rational nicht mehr ableitbar erscheint. Demgegenüber ist festzustellen, daß die behauptete Unableitbarkeit des Politischen sich auf ein Verdikt gründet, das selbst eine Dezision darstellt: an sich wäre es nämlich sehr gut möglich, die dem jeweiligen Vollzug des Politischen zugrundeliegende objektive Interessenstruktur auszumachen. Zum anderen ist die Trennung zwischen der „reinen" Anwendung von Herrschaftswissen und der gestaltenden Dezision, die sich Max Weber zufolge an konkurrierenden Wertsystemen orientiert, nicht weniger fragwürdig. Denn „offensichtlich besteht zwischen Werten, die aus Interessenlagen hervorgehen, einerseits und den Techniken, die zur Befriedigung wertorientierter Bedürfnisse verwendet werden können andererseits, ein Verhältnis der Interdependenz. Wenn sogenannte Werte ihren Zusammenhang mit einer technisch geeigneten Befriedigung realer Bedürfnisse auf die Dauer einbüßen, werden sie funktionslos und sterben als Ideologien ab; umgekehrt können sich mit neuen Techniken aus veränderten Interessenlagen neue Wertsysteme bilden" (Habermas 1969, S. 125 f.). 76 Die verdienstvolle und sorgfältig edierte Fichte-Ausgabe von Willms umfaßt folgende Schriften: „Zufällige Gedanken einer schlaflosen Nacht" (1788), „Über die Achtung des Staates für die Wahrheit" (1792), „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten" (1793), „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution" (1793). Die Ausgabe enthält außerdem eine umfassende Bibliographie.
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diesem Zusammenhang auf „fundamentale Entzweiungen"77 hin, die aus Fichtes abstrakt revolutionärem Ansatz resultierten und deren Vermittlung ihm nicht gelang. So werde in den Frühschriften einerseits deutlich, daß „im revolutionären Ansturm auf die Herkunftswelt, auf die historischen Staaten... jedes Verständnis für deren politische Leistung, die bei Hobbes etwa die Überwindung des konfessionellen Bürgerkriegs war, abgeschnitten (ist)". Zugleich solle aber auch die deduzierte Vernunftstaatlichkeit, die Fichte den historischen Staaten polemisch gegenüberstellt, politische Funktionen ausüben, „etwa Wahrung der Rechtssicherheit". Dadurch aber, daß infolgedessen auch der Vernunftstaat auf Zwang rekurriert, kollidiere er mit jenem Prinzip, dem er sich allein verdankt: der Autonomie des einzelnen. Nicht weniger widerspruchsvoll ist für Willms das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit in der politischen Theorie des jungen Fichte. „Im Ansturm auf die konkrete Ungleichheit in der Gesellschaft, auf Privilegien und Ausbeutung, mußte das abstrakte revolutionäre Argument, das sich als klassenspezifisches nicht verstehen durfte, auch auf abstrakter Gleichheit bestehen". Dieser politischen Forderung aber stehe das „Fundament von Fichtes System" gegenüber: Freiheit, die, konstitutiv für die Subjektivität, „als moralische Kategorie nur negativ zu politischer Praxis" sich bestimmen lasse, nämlich als „Ausdehnung des Privat-Moralischen". Mit dem Gleichheitspostulat, „das in seiner Entwicklung in der bürgerlichen Theorie ein politisches Postulat im genauen Sinne geworden war", betrete Fichtes Denken, zwar Autonomie als „Privat-Moralisches" intendierend, zugleich die Ebene des „PolitischÖffentlichen". Auf dem Hintergrund dieser „Entzweiungen" wird Willms zufolge die systematische Bedeutung der Utopie in Fichtes politischer Philosophie sichtbar: sie ist der deus ex machina, durch den dieser die Widersprüche löst, in die sein Denken gerät. Freilich hätte es nach dem Willmsschen Interpretationsmodell mit ihrer Realisierung keinen Sinn mehr, „von Individualität oder Freiheit zu sprechen", zumal „in der Verbindung mit Vernünftigkeit und Freiheit... die in gleicher abstrakter Allgemeinheit aufgefaßte Gleichheit zur Nichtunterschiedenheit, zu einer abstrakten Identität der Subjekte" (XXXIII) 7 8 würde. Kurz: der Preis, der für die die Widersprüche lösende Utopie zu zahlen ist, impliziert nach Willms das genaue Gegenteil dessen, was ursprünglich intendiert war: Nicht die konkrete Befreiung, sondern „die Opferung des Individuums auf dem Altar der Weltgeschichte" , 7 9 77 78
Alle Zitate aus der „Einleitung" sind S. XXXII entnommen.
Rolf Tiedemann bemerkt in seiner Rezension (in: Das Argument 45, S. 442 f.) hierzu folgendes: „Er (Willms, R. S.) denunziert an der Fichteschen Utopie die ,abstrakte Identität der Subjekte*, fühlt sich an den Marxismus ,erinnert4 und erklärt sein »Unbehagen': in solchem Vernunftreiche gebe es weder »Individualität* noch jene »Subjektivität', um deren Freiheit und Selbständigkeit es ja ursprünglich geht. Daß Kategorien wie Subjektivität und Individualität sich in der Geschichte verändern, daß der Mensch, der endlich zu dem seinen gekommen wäre, nicht länger ,in der bestimmten Entgegensetzung zu allen anderen sich konstituierende Individualität' wäre, vermag die Argumentation nicht zu antizipieren, ihr selber ist Geschichte so fremd, wie sie es Fichte vorwirft, sie akzeptiert das historisch Besondere als Allgemeines, das in alle schlechte Ewigkeit sich fortschleppen müsse". 7 9 Willms 1967a, S. 124.
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Allerdings täuscht der Aufriß des totalitären Potentials der politischen Philosophie Fichtes, das Willms, wie wir sahen, in engem Kontext mit der sich emanzipierenden bürgerlichen Subjektivität darstellt, nicht darüber hinweg, daß er von genau dieser gesellschaftlich-historischen Dimension wieder abstrahiert, wenn er Fichtes „Totalitarismus" an dessen Konzeption des absterbenden Staates festmacht. Fichte teilte, wie deutlich geworden sein dürfte, die Prämisse des progressiven Bürgertums, daß durch die konsequente Verbreitung von Aufklärung die sozialen Antagonismen auflösbar seien und zugleich die staatlichen Zwangsfunktionen sich überflüssig machen würden. Wie Habermas 80 zeigt, erwies sich freilich das Postulat, Herrschaft im Medium der Öffentlichkeit qualitativ zu verändern, mit der politischen Konstituierung der besitzlosen Unterschichten, deren Interessenstruktur den gegebenen gesellschaftlichen Rahmen sprengen mußte, als Ideologie. Hegel zog bekanntlich aus diesem Sachverhalt in der „Rechtsphilosophie" seine Folgerung: Er lehnte die Moralisierung der Politik und ihr Pendant die Hereinnahme des Staates in die Gesellschaft als „Seichtigkeit der Vorstellung von Moralität, von der Natur des Staates und dessen Verhältnisse zum moralischen Gesichtspunkte"81 ab. So gesehen, war er, eine Generation nach Fichte, „realistischer" als dieser. Das aber ist der springende Punkt. Willms hätte unter Berücksichtigung der „zurückgebliebenen" deutschen Verhältnisse analysieren müssen, ob die Basis der von Fichte angestrebten Rationalisierung von Herrschaft, nämlich eine Gesellschaft von Kleinwarenproduzenten 82, zu seiner Zeit noch als so stabil angesehen werden so Habermas 1968. 81 Hegel 1967, S. 287. 82 Auf das Modell der klassischen Ökonomie kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Zu erwähnen ist aber, daß für sein Funktionieren nicht nur der freie Wettbewerb garantiert sein muß, sondern auch der Austausch von Gütern auf dem Markt so zu erfolgen hat, daß diejenigen, die deren Wert durch Arbeit produzieren, ihn sich auch aneignen. Hinzu kommt die dritte Funktionsbedingung, das sog. Saysche Gesetz, wonach bei vollständiger Mobilität von Produkten, Produzenten und Geld sich Angebot und Nachfrage stets ausgleichen. Sind diese Bedingungen erfüllt, so ist sichergestellt, daß einerseits jedes Individuum mit Tüchtigkeit und Glück die Chance hat, Warenbesitzer zu werden und daß andererseits die Macht des einzelnen Marktteilnehmers nicht als Herrschaft über andere wirksam werden kann: sie ist mithin der gewaltlosen und anonymen Entscheidung des Marktes unterworfen, sofern dieser sich selbst überlassen bleibt. Genau hierin ist die Basis für eine tendenziell herrschaftsfreie, sich selbst regulierende Gesellschaft zu sehen, die zunehmend der staatlichen Dezision entraten kann, weil sie von ihrer eigenen Rationalität getragen wird. Daß diese Funktionsbedingungen realiter nie ganz erfüllt waren, selbst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht, muß wohl kaum eigens betont werden. Trotzdem war, zumindest in den ökonomisch fortgeschrittenen Ländern, „das liberale Modell der Wirklichkeit soweit angenähert, daß das Interesse der bürgerlichen Klasse mit dem allgemeinen Interesse identifiziert und der dritte Stand als Nation etabliert werden konnte - die Öffentlichkeit als Organisationsprinzip des bürgerlichen Staates war in jener Phase des Kapitalismus glaubwürdig" (Habermas 1968, S. 100). Natürlich konnte Fichte, konfrontiert mit den ökonomisch und sozial zurückgebliebenen deutschen Verhältnissen und ihren intakten absolutistischen Institutionen, dieses Modell nicht unmodifiziert übernehmen, wenngleich er dessen Grundintention, nämlich die Rationalisierung von Herrschaft, beibehielt. Vielleicht erklärt sich auch hieraus teilweise, daß er nach 1794 angesichts der in Deutschland noch kaum
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konnte, daß ihm der Satz „ventas non auctoritas facit legem" der gesamtgesellschaftlichen Situation und ihren Tendenzen angemessener erscheinen mußte als dessen Umkehrung, die Willms, die antagonistische Struktur der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft absolut setzend, als einzig mögliche Politik-Definition behauptet. Indem Willms diesen zentralen Vermittlungszusammenhang ignoriert, trifft auf ihn in erstaunlichem Maß selber zu, was er Fichte vorwirft: das „Abschneiden der historischen Dimension". 83 Ihm müssen deshalb einerseits die Fichteschen Reflexionen genauso als Bestätigung dessen erscheinen, was Talmon mit dem Namen „Robespierre" assoziierte, wie ihm andererseits eben das notwendig entgeht, was die Beschäftigung mit Fichte erst lohnend macht: jene progressiven Intentionen, die, den Status quo in Deutschland transzendierend, ahnen lassen, daß derjenige, der die Konfrontation des vernünftigen Apriori mit einer Wirklichkeit, die ihr nicht entspricht, als „totalitär" disqualifiziert, Gefahr läuft, die Ohnmacht der Vernunft selbst zur Norm zu machen. Auch in seiner 1969 erschienenen Schrift „Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts" 84 , in der Willms die Veränderung des revolutionären Selbstverständnisses des bürgerlichen Individuums, wie es sich im Denken von Hobbes, Fichte, Hegel, Marx und Marcuse auf dem Hintergrund einer sich verändernden bürgerlichen Gesellschaft niederschlage, nachzuzeichnen sucht, hat Willms sein in den besprochenen Arbeiten stilisiertes Fichte-Bild nicht wesentlich verändert. Auch hier gewinnt es seine spezifischen Konturen auf der Folie der ausgebildeten Sphäre des „Sozialen" die Konstituierung des „bonum commune" als apriorische volonté générale dem aufgeklärten Rechtsstaat zuschlug, wobei dieser jedoch - und das ist von zentraler Bedeutung - sich zugunsten der Gesellschaft als Zwangsanstalt selbst aufheben sollte. 83 Das Argument, Fichte stelle abstrakt die ideale Norm der vernünftigen Subjektivität der schlechten korrumpierten Wirklichkeit gegenüber, spielt Willms immer wieder gegen Fichtes revolutionären Apriorismus aus. Indem Hegel dagegen in der Rechtsphilosophie der „Herkunftswelt des historisch-politisch Bestehenden" voll Rechnung getragen habe, vermeide er den abstrakten Freiheitsbegriff, dessen Äquivalent die totale Unfreiheit sei. Dem ist insofern zuzustimmen, als in Hegels Einsicht, daß Freiheit auf Erkenntnis des Vernünftigen in der historisch gewordenen Objektivität beruht, etwas Wahres steckt. Aber Erkenntnis beschränkt sich allemal auf den Begriff. Begrifflich ist jedoch bei Hegel auf der Ebene des Gemeinwesens - und davon abstrahiert Willms - in letzter Instanz das, was als objektive Vernunft den Staat konstituiert. Wenn das Subjekt als freies also gelernt haben muß, nichts anderes zu wollen als dasjenige, was es erkannt hat und es nur erkennen kann, was sich in den offiziellen Institutionen als herrschende Vernunft objektiviert, dann hat es in dem Augenblick seine Freiheit verwirklicht, wo es aufhört, sich im Staat als Unmittelbares zu begreifen: Mit diesem identisch, ist es zugleich identisch mit seinem Wesen. Diese von der Hegeischen Philosophie „betriebene Selbstauflösung alles Individuellen läßt seine Subsumtion unters Allgemeine als seinen eigenen Willen erscheinen. Als Einheit nicht von Dingen an sich, sondern von bloßen Momenten seiner realen Erscheinung ist jenes Allgemeine selber eine Abstraktion - als Staat. Und es ist absoluter Staat, wenn die Abstraktion vom subjektiven Denken und Wollen der Menschen sich vollendet hat. Ihn kann Hegel mit größerem Recht, als er selbst ahnte, den »präsenten Gott4 nennen44 (Haag 1967, S. 39). 84 Willms 1969.
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„liberal" interpretierten Philosophie Thomas Hobbes'. Diese Tendenz zeigt sich etwa, wenn Willms Differenz und Identität beider Ansätze u. a. durch die vergleichende Analyse der für beide Denker zentralen Kategorie der Autonomie darstellt. Wenn auch bei Fichte eine „physikalisch-materialistische Herleitung des abstrakten Subjekts" (36) nicht vorliege, so bestehe dennoch kein Zweifel daran, daß „das Ich, das er an den Beginn des Philosophierens setzt, ... Freiheit in dem genauen Sinn (ist), wie es bei Hobbes Ergebnis der materialistischen Deduktion war: Freiheit als Abwesenheit irgendeiner Beeinträchtigung, als reine Negation" (36). Den gemeinsamen Kern der Konzeption des bürgerlichen Subjekts bei Fichte und Hobbes sieht Willms also darin, daß es, als unendliche Freiheit, „ein ursprüngliches Recht auf alles habe und daß es in dieser Bestimmung nur gebunden oder bestimmt werden könne, wenn es, selbst das Subjekt dieser Bindung oder Bestimmung" (37) sei. Die spezifische Differenz beider Ansätze beruht nach Willms auf dem theologischen Kontext, in den Fichte und Hobbes die bürgerliche Subjektivität jeweils stellen. Hobbes, Materialist und Christ zugleich, habe die Immanenz in dem Sinne radikal und materialistisch gedacht, daß der einzelne, nachdem er von Gott die natürliche Vernunft empfangen hatte, diesen als das ganz andere auf sich beruhen ließ. Dadurch - und darin sieht Willms die entscheidende Konsequenz - „entlastete sich das bürgerliche Subjekt von Theologie und begab sich ans Werk, an das Werk nämlich, die Welt zu einer selbstgemachten zu machen. Es deduzierte sich einen vernünftigen Staat, den Leviathan, ohne sich ihm total unterwerfen zu wollen, und übergab diesem - dem sterblichen Gott - auch die Aufsicht über den hergebrachten Glauben und über den Frieden und was zu ihm nötig war, also über die Sittlichkeit" (37). Eben zu dieser Trennung zwischen der Autonomie als weltveränderndes Handeln der bürgerlichen Subjektivität und der Sittlichkeit, die als Bereich des Theologischen der Aufsicht des Leviathan unterstellt ist, sei Fichte, unter dem Einfluß des Pietismus stehend, nicht mehr bereit gewesen: er identifizierte beides und provozierte damit den „Sündenfall des klassischen bürgerlichen Denkens, zu dem die Radikalität seines revolutionären Momentes es verführt hatte" (38). Das Resultat dieser „Versittlichung der Autonomie", die ihre Entsprechung in der „Moralisierung des Naturzustandes" einerseits und in der „Vergesellschaftung des Staates" andererseits hat, sind uns hinlänglich bekannt: Steigerung des gesellschaftlichen Zwanges bis in seine terroristische Konsequenz - , Jedes Subjekt hat jetzt seinen Leviathan in sich" - und der Rekurs auf die „Dimension des Utopischen" als Legitimation des aus der unendlichen Freiheit resultierenden unendlichen Zwanges. Die von Willms systematisch durchgeführte Subsumtion der politischen Philosophie Fichtes unter die Kategorie des Totalitarismus blieb freilich in den neuesten Publikationen nicht unwidersprochen. So macht insbesondere Karl Hahn 85 geltend, die in der „Grundlage des Naturrechts" und im „System der Sittenlehre" erfolgte Degradierung der Rechtssphäre zum Bereich hypothetischer Imperative und die damit verbundene Reduktion des Rechts zu einer bloß zweckrationalen Rechts85 Hahn 1969.
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technik 86 ergebe sich keineswegs, wie Willms dies unterstelle, „mit Notwendigkeit aus dem Grundprinzip der Philosophie Fichtes" (113). Den Beweis für diese These versucht Hahn vor allem dadurch zu erbringen, daß er das „Methodisch-Didaktische" 87 als Ursache der radikalen Trennung von Recht und Sittlichkeit bestimmt. „Während nämlich in der »Bestimmung des Gelehrten' Fichte, wie es von einem Philosophen, der den Primat der sittlich-praktischen Vernunft gegenüber der technisch-praktischen und theoretischen behauptet, zu erwarten ist, das Gemeinwesen zunächst nur nach ethischen Prinzipien zu konzipieren beginnt und die juridischen nur als Ergänzung ansetzt, abstrahiert er in der »Grundlage des Naturrechts' von den ethischen Prinzipien vollkommen und konstruiert die ökonomisch-politische Welt allein nach juridischen" (112). Der entscheidende Fehler von Willms bestehe darin, daß er die „Defizienz der nur-juridischen Rechts- und Staatstheorie", die aus der nicht durchgeführten Vermittlung von Recht und Sittlichkeit folge, absolut setze. In Wirklichkeit sei dem rechtlichen Zwangsmechanismus das Sittliche als begrenzendes Regulativ komplementär. Fichte selber habe darüber hinaus in der „Rechtslehre von 1812" die Trennung von Rechts- und Sittenlehre zwar nicht aufgehoben, sie jedoch dergestalt relativiert, daß das für ihn „gültige Verhältnis von Recht und Sittlichkeit das der relativen Differenz ist" (113). Der Kern seiner Kritik an der Staatskonzeption von 1796/97 drücke sich in der Einsicht aus, „daß das geschlossene juridische System in einem Zirkel befangen ist, welcher in dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis der gesellschaftlichen, rechtlichen und staatlichen Momente begründet ist. Fichte macht deswegen die methodische Abstraktion, der zufolge er von den sittlichen Prinzipien absah, rückgängig. Nach der Rechts- und Sittenlehre von 1796/97 bzw. 98 sanktionierte zwar das Sittengesetz das Rechtsgesetz und den Staat, doch war dieser so konstruiert, daß er auch ohne das Eingreifen eines sittlichen Wollens die Rechtsrealisation gewährleisten könnte. Die Unmöglichkeit der immanenten Vermittlung sieht Fichte jetzt ein. Der Widerstreit der Gesellschaft, die die Voraussetzung der Politik und des Staates darstellt, kann nicht durch immanente, auf der gleichen Ebene befindliche Mittel aufgehoben werden, sondern nur von einer der Gesellschaft transzendenten Position her. Der nur auf juridische Prinzipien aufgebaute Staat ist infolge des hypothetischen Charakters des Rechts der Gesellschaft nicht transzendent" (127 f.). 88
86 Aus dem „Fehlen einer wirklichen Vermittlung zwischen Moralität und Recht" in der „Grundlage des Naturrechts" resultieren nach Willms folgende Konsequenzen: „Erstens, der Bereich des Rechts, der Legalität, wird zum Bereich hypothetischer Imperative. ,So viel läßt sich einsehen, ... daß sonach, wer diese Gemeinschaft wolle, notwendig das Gesetz auch wollen müsse, daß es also hypothetische Gültigkeit habe* (Fichte, R. S.). Zweitens wird die Herausnahme der Sittlichkeit, also auch der Freiheit aus dem Bereich der Legalität diesen der bloß zweckrationalen Rechtstechnik ausliefern" (Willms 1967a, S. 87). 87 Daneben nennt Hahn noch „sachliche Gründe" der „Defizienz der nur-juridischen Rechts- und Staatslehre" bei Fichte. Vgl. hierzu Hahn 1969, S. 117 f. 88 Damit hat Hahn den für seine Interpretation entscheidenden Begriff der sittlichen Transzendenz ins Spiel gebracht, der ihm zufolge allein „die Egoismen der Gesellschaft zur Konkordanz bringen" (a. a. O., S. 128) kann.
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Freilich liegt ein Hauptmangel der Fichte-Interpretation Hahns darin, daß sie sich nicht durchgehend „vom Buchstaben" her, sondern nur auf Grund einer prätendierten „Einsichtigkeit" (115) legitimieren kann. Indem Hahn ferner die prinzipielle Einbeziehung des Sittlichen in die juridisch-politische Sphäre, wie er sie seit den „Reden an die deutsche Nation" feststellen zu können glaubt, als die eigentliche Intention der politischen Philosophie Fichtes bestimmt 89 , muß er wesentliche Ansätze ihrer früheren Entwicklungsphasen als „Inkonsequenzen" abtun. Daß Hahns im ganzen nicht uninteressanter und mit beträchtlicher Akribie durchgeführter Interpretationsversuch auf diese Weise nicht frei von restriktiven Zügen ist, liegt auf der Hand. Verhängnisvoller für die Relevanz dieses Ansatzes ist aber dessen Verklammerung mit dem von Hahn unterstellten Totalitarismusbegriff. Für diesen sei die Frage entscheidend, „ob das sittliche Prinzip als absolut anerkannt und ihm der Primat zuerkannt wird, oder ob die Absolutheit einem untergeordneten, rein bewußtsein- und weltimmanenten Disjunktionsmoment der Wirklichkeit, dem politischen oder ökonomischen, dem sozialen oder rassischen Faktor, um nur die wichtigsten zu nennen, zugesprochen wird" (15). 90 Um Fichte nun von einem so strukturierten Totalitarismusverständnis, das auf die undifferenzierte Diskreditierung aller säkularen Emanzipationstendenzen überhaupt hinausläuft, absetzen zu können, muß Hahn ihn zu einem Denker stilisieren, der mit seiner Insistenz auf dem Primat des Sittlichen zugleich die Möglichkeit der Entwicklung einer humaneren Welt durch weltimmanente Strategien grundsätzlich in Frage stellt. 91 Proble89 Wahrend Willms davon ausgeht, alle für die politische Theorie Fichtes relevanten Momente seien bereits in seinen Frühschriften von 1793 angelegt, glaubt Hahn also umgekehrt zu einem adäquaten Verständnis nur durch den Rekurs auf die Spätschriften, besonders die „Rechtslehre" von 1812, gelangen zu können. Von der in dieser Schrift entwickelten Position aus, durch die „das nur-juridische Recht und der Staat rechtsimmanent gesehen seinen absoluten Charakter (verliert)", müßten, so fordert er, auf der Basis einer „nicht nur historischein), sondern systematische(n) Interpretation" Fichtes „rechts- und staatstheoretische Konstruktionen neu" reflektiert werden. „ E i n e Arbeit, die dies versuchen und das Ineinander der bei Fichte meist isolierten und radikalisierten Momente untersuchen würde, existiert leider noch nicht" (a. a. O., S. 130 f.). Ob freilich dieses von Hahn geäußerte Bedauern gerechtfertigt ist, erscheint nach der Lektüre seines Buches mehr als fragwürdig. 90
Eben weil Fichte „trotz der zweifellos vorhandenen ideologischen, utopischen und totalitären Rudimente" (a. a. O., S. 5) in seinem Werk stets die säkularen Gewalten in dem von der apriorischen Norm des Sittengesetzes gesteckten Rahmen relativiert habe, könne er nicht den »totalitären« Denkern Hobbes, Hegel und Marx gleichgesetzt werden. Anders als Fichte hielten diese Theoretiker nicht an der „Relation von Politik und geistig-sittlich-religiöser Wertwelt und Wertwirklichkeit" (a. a. O., S. 14 f.) fest. Vielmehr abstrahierten ihre Ansätze von der Korrelation zwischen Freiheit und Sittlichkeit. Jene sei aber „nur in dem Maße gewährleistet . . . , als diese verwirklicht wird" (a. a. O., S. 15). Auch wenn gegen die von Hahn intendierte Weigerung, Politik auf den nackten Machtkampf zu reduzieren, nichts eingewandt werden kann, besteht doch angesichts einer radikal säkularisierten Welt die Problematik dieses Totalitarismus-Begriffs darin, daß man in seiner Perspektive über die pauschale Aussage, alle gegenwärtigen Staatswesen seien mindestens im Ansatz mehr oder weniger „totalitär", nicht hinauskommt. 91 Hahn kann seine Abhängigkeit von der Voegelin-Schule nicht leugnen. Für diese ist die Gnosis das „Signum der neuzeitlichen theoretischen Bestrebungen, die sich schuldhaft von
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matisch wird diese Interpretation vor allem deswegen, weil in ihrem Kontext den revolutionär-demokratischen Intentionen Fichtes, wie sie von Träger, Buhr, Willms u. a. thematisiert wurden, nur akzidentielle Bedeutung zukommt, während die elitär-konservativen und autoritären Momente seiner politischen Philosophie in affirmativer Weise zum dominierenden Faktor werden.
IV. Die Ambivalenz im politischen Denken Fichtes Wie wir gesehen haben, isoliert Willms das totalitäre Moment in der politischen Philosophie Fichtes in einem ihrer Zentren: der Konzeption des absterbenden Staates, nach der dem Willmsschen Interpretationsmodell zufolge dieser zwar in die Gesellschaft „zurückgenommen" wird, ohne daß jedoch realiter die repressiven Funktionen verschwunden wären, die er dieser einst abnahm. Die Gesellschaft muß sich nun selber einem gesteigerten, „totalitären" Zwang unterwerfen, will sie nicht das Opfer der ihr immanenten Dynamik werden und in ihre Atome zerfallen. Im Gegensatz zu dieser Interpretation ist für Zwi Batscha92 in der politischen Philosophie Fichtes die systematisch angelegte Substitution des Staates durch die Gesellschaft nicht zu trennen von der Veränderung der Bewußtseins- und Bedürfnisstrukturen der sozialisierten Individuen selbst: anders als Willms geht er von der Prämisse aus, daß die mit dem Abbau des Staates korrelierte Verbreitung von Aufklärung gerade jene antagonistischen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft beseitigt, die staatliche Repression erst notwendig machen. Wenn Batscha auch mit Willms das Interesse teilt, die Priorität der Gesellschaft vor dem Staat in der politischen Philosophie Fichtes nachzuweisen, so impliziert doch das, was Willms als Bestätigung seiner Totalitarismus-These erscheinen muß, für ihn das genaue Gegenteil: die Funktionalisierung des Staates bei Fichte läuft nicht auf die Potenzierung, sondern auf die stufenweise Reduktion institutionalisierter Gewalt hinaus. Batscha glaubt in diesem Ansatz zwei Motive unterscheiden zu können. Das erste führt er auf jene Gesellschaftsmodelle zurück, wie sie sich in der Nachfolge von Adam Smith herausbildeten. Diese Konzeptionen, deren Basis eine Gesellschaft von Kleinwarenproduzenten ist, gingen bekanntlich davon aus, daß sich Gesellschaften tendenziell durch den für sie konstitutiven Marktmechanismus selbst regulieren, insofern keine außerökonomische Instanz in den Tauschprozeß eingreift. 93 In diesem herrschaftsfreien Raum kann sich dann in Korrelation mit der Rationalität des Marktes zugleich die „Rationalität der Mitglieder der menschlichen Gesellschaft und die auf dieser Rationalität aufbauende gesellschaftliche Harmonie" (34) entfalten. Das zweite Moment sieht Batscha in der „Theorie vom der göttlichen Transzendenz abgeschnitten haben und an die Machbarkeit einer besseren Welt durch die Menschen selbst glauben ..." (Euchner 1969b, S. 4). 92 Batscha 1970. Zu Batschas Fichte-Interpretation vgl. Batscha/Saage 1977, S. 8-58. 93 Vgl. Anm. 82.
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Verderben der Gesellschaft" (34), die Rousseau94 ja bekanntlich als erster gegen jene Entfremdungserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft kritisch richtete, die aus der für den Markt produzierenden Ökonomie resultieren. „Diese zwei Momente werden von Fichte vereinigt und in der behandelten Problematik als Ziel und Mittel dargestellt. Das Ziel ist die Harmonie der vollkommenen Gesellschaft, aber ihr »zeitlich-empirisches4 Verderben macht die Zwischenstufe des Staates als Mittel nötig" (34). Freilich muß auch Batscha darauf hinweisen, daß Fichte spätestens nach 1794 seine Konzeption des absterbenden Staates erheblich modifizierte. Daß aber trotz der Aufwertung des Staates als Zwangsanstalt auch der ältere Fichte diesen weder in Hegelscher Manier als Selbstobjektivation eines pantheistischen Gottes feiert; noch in ihm einen dezisionistischen Willen sieht, der sich in der Ausnahmesituation kraft seines faktischen Durchsetzungsvermögens eine Legitimation erschleicht, versucht er u. a. an jener Konzeption zu entfalten, der Fichte in der Literatur seinen „totalitären" Ruf entscheidend mitverdankt: die Institution des Zwingherrn. Batscha analysiert sie in engem Kontext mit konkreten historischen Vorgängen, auf die Fichte vom Stand seiner philosophischen Reflexionen aus politisch reagierte. Wandte er sich schon 1793 unter dem Einfluß der Französischen Revolution vergeblich an die „Fürsten Europens" mit dem Postulat, die längst fälligen Reformen „von oben" durchzuführen und formulierte er 1806 nach der Niederlage von Jena mit den „Reden an die deutsche Nation" eine Antwort auf die Bedürfnisse einer konkreten Situation, so versuchte Fichte 1813 in verstärktem Maße auf die politische Realität einzuwirken. „Diesmal ist es das Jahr vor Abschluß des Krieges gegen den Prototyp des willkürlichen Herrschers, Napoleon. Die deutsche Nation soll in diesem Krieg ihren Völkskrieg sehen und sich zugleich auf ihre Zukunft vorbereiten, das heißt, das Vernunftreich errichten und mit ihm die »Gleichheit der Rechte aller' in die Geschichte einführen" (135). Dies ist aber, Fichte zufolge, nur auf der Grundlage eines Rechtsbegriffs möglich, der, vom Kontingenten der Empirie gereinigt, ausschließlich apriorischer Natur ist: Das, was sein soll, kann nicht von der Zustimmung und den konkreten Interessen derjenigen abhängen, die die schlechte Wirklichkeit in eine nicht bessere Zukunft zu perpetuieren gedenken. Nicht zuletzt deswegen kann der Zwingherr, der kraft seiner hervorragenden intellektuellen Fähigkeiten diesen apriorischen Rechtsbegriff verkörpert, zur Durchsetzung desselben in der Sinnenwelt auf Zwang nicht verzichten. Freilich ist Fichte, was in der Literatur oftmals übersehen wird, weit davon entfernt, den Zwang als solchen zu hypostasieren. „Der Zwang ist... kein Postulat für alle Situationen und für alle Völker, und auch er hat seine Begrenzungen und seine Sanktionen, denn nur dadurch kann er von bloßer Willkür unterschieden werden. Nichts liegt Fichte ferner, als in einer nicht rückständigen Situation eine Zwangsherrschaft errichten oder rechtfertigen zu wollen" (139). Zwang erscheint in dieser Konzeption gleichsam als das letzte Mittel, „wenn es nicht anders geht" (140), und der Zwingherr 94 Vgl. hierzu: Fetscher 1958, S. 112 f. und Fetscher 1968.
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weist sich nicht kraft seiner potestas „existentiell" aus, sondern wird stets an seiner eigenen Funktion, sich selbst überflüssig zu machen, gemessen.95 So gesehen ist Zwang, dessen Intensität dem jeweils in der Gesellschaft erreichten Bewußtseinsstand entspricht, auch in seiner radikalsten Form nicht mit nackter physischer Gewalt gleichzusetzen: Er ist bei Fichte allemal logischer Natur und kann, wie Batscha es formuliert, nur dort „existieren, wo diskutiert wird, wo das Argument selbst einen Wert besitzt. In einer auf Gewalt basierenden Gesellschaft besitzt das logische Argument nur geringe Kraft. Nur dort, wo es als Faktor in der und für die Gesellschaft anerkannt wird, kann das Argument »logischen* Zwang bewirken" (144). Allerdings müßte dieser progressive Zug in Fichtes politischem Denken relativiert werden durch die inhaltliche Analyse seines Vernunftbegriffs. Ihn transparenter zu machen, scheint ein Hinweis auf die Kantischen Reflexionen hilfreich, wie sie in den drei „Kritiken" durchgeführt wurden. Auch sie sind von der systematischen Intention bestimmt, am Prinzip der Einheit der Vernunft festzuhalten. 96 Nur prätendierte Kant nicht wie nach ihm der Deutsche Idealismus, diese sei als monistisches Prinzip positiv beweisbar. Vielmehr unterscheidet er bekanntlich zwischen dem nicht erkennbaren Ding an sich, aus dessen Sphäre alle Moralität und mithin Freiheit als unbeweisbares Postulat resultiert, und der Welt der Erscheinung, in der allein positive Wissenschaft, vermittelt durch die vom transzendentalen Subjekt gestifteten apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit und die Kategorien, möglich ist. Dadurch jedoch, daß Kant pantheistische Konsequenzen vermeidet durch die Insistenz auf dem Dualismus der einheitlich gedachten Vernunft, reduziert sich die Wirklichkeit nicht auf ihren Begriff, ist die Welt mehr als das System, das die philosophierende Abstraktion von ihr entwirft. 97 Genau das, was 95 Batscha zeigt übrigens, daß sich Fichte der Problematik seiner Konzeption völlig bewußt war, ohne auf die historischen Erfahrungen seiner modernen Kritiker zurückgreifen zu können. So hatte Fichte mindestens drei Kontrollinstanzen vorgesehen, um zu verhindern, daß der Zwingherr zum Tyrann wird. Er ist nicht nur an die aposteriorische Zustimmung aller gebunden, die letztlich darüber entscheidet, ob die Erziehung zur Freiheit und zum Recht erfolgt ist. Auch der „Akt der öffentlichen Gesetzgebung wird ... nicht verschoben, bis alle mündig (sind), er selbst soll einen Akt zur Mündigkeit darstellen" (Batscha 1970, S. 143). Und schließlich sieht Fichte vor, daß „der Zwingherr ... von der öffentlichen Meinung der anderen Länder beurteilt" wird (a. a. O., S. 45). 96 Wenn Kant beispielsweise nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori fragt, geht es ihm nicht wie etwa dem Neukantianismus um eine wissenschaftstheoretische Fragestellung. Wichtig ist für ihn allein der Nachweis, daß es eine Identität von Subjekt und Prädikat gibt, die sich weder auf Erfahrung gründet noch darauf, daß das Prädikat dem Katalog der im Subjekt enthaltenen Eigenschaften entstammt. Kant versucht diese Schwierigkeit mit seiner Konstruktion des sich erst im Akt der Erkenntnis konstituierenden transzendentalen Subjekts zu lösen. Die von ihm gestiftete Einheit in der Natur, die alle empirische Erfahrung erst ermöglicht, konkretisiert sich auch im Bereich der praktischen Vernunft als Ding an sich, obzwar dies - und darin besteht die kritische Leistung Kants - nicht positiv beweisbar ist. 97 Freilich ist nicht zu übersehen, daß „die Motive, die zum deutschen Idealismus führten, aus der Transzendentalphilosophie hervorgegangen (sind). Kant konnte aufgrund der nominalistischen Voraussetzungen seiner Philosophie sich nicht plausibel machen, wie ein Material, das an sich keine begriffliche Struktur besitzen sollte, für sein Denken bestimmend sein
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Kant zu vermeiden trachtete, wird jedoch durch Fichtes „Wissenschaftslehren" inauguriert. 98 Indem er nämlich das Ding an sich und das transzendentale Subjekt zu einer einzigen Instanz, dem absoluten Ich, zusammenzieht, gewinnt sein Vernunftbegriff zwar an logischer Stringenz und Einheit, zugleich aber wird die Welt ihm subsumiert. Eine so strukturierte Vernunft kann Herrschaft i m letzten nicht auflösen. Weil das empirische Ich Substanz nur besitzt, insofern es am absoluten Ich partizipiert, hat seiner Allgemeinheit das empirisch Besondere sich bedingungslos zu unterwerfen. Dessen Entfaltung durch den Begriff hindurch jedoch würde konkrete Humanität erst ermöglichen. Diese subtilste und gleichsam von ihren Prämissen her irreduzible Form von Herrschaft ist ein Anspruch, auf dem der philosophische Idealismus seit Piaton 9 9 bestand und der sich bekanntlich i m absoluten Idealismus H e g e l s 1 0 0 vollendete. Immerhin hat Fichte, wie wir sahen, versucht, die i m absoluten Ich komprimierte Vernunft mit den emanzipatorischen Tendenzen der Französischen Revolukönnte. Dieses Material war jedoch niemals real gegeben, sondern einzig als Behauptung der nominalistischen Tradition. Indem jene von Kant der Realität als ihr wahres Sein unterschoben wird, mußte reines Denken zum allein Bestimmenden und die empirische Mannigfaltigkeit zu dem werden, als was sie bei Fichte erscheint: zum bloßen Begriff des Nichtidentischen" (Haag 1967, S. 31). 98 Kant hat sich übrigens persönlich von der Fortführung seines transzendentalphilosophischen Ansatzes durch Fichte distanziert. Bereits in dem Brief an Johann Heinrich Tieftrunk vom 5. April 1798 bemerkt er über die in der „Wissenschaftslehre" vertretene Konzeption, mit der er sich durch die Lektüre einer Rezension in der „Allgemeinen Literaturzeitung" vom 4. 8. Januar 1798 vertraut gemacht hatte, sie erscheine ihm „wie eine Art von Gespenst..., was, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst und zwar hievon nur die Hand die darnach hascht vor sich findet. - Das bloße Selbstbewußtsein u. zwar nur der Gedankenform nach, ohne Stoff, folglich ohne daß die Reflexion darüber etwas vor sich hat, worauf es angewandt werden könne u. selbst über die Logik hinausgeht, macht einen wunderlichen Eindruck auf den Leser. Schon der Titel (Wissenschaftslehre) erregt, weil jede systematisch geführte Lehre Wissenschaft ist, wenig Erwartung finden Gewinn weil sie eine Wissenschaftswissenschaft u. so ins unendliche andeuten würde" (Kant 1970, S. 262). Den offenen Bruch mit Fichte führte er dann durch die öffentliche „Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre" vom 7. August 1799 herbei. Hier wiederholt er die bereits im Brief an Tieftrunk geäußerte Kritik, daß Fichte deswegen „ein gänzlich unhaltbares System" vertrete, weil„reine Wissenschaftslehre ... nichts mehr oder wenig als bloße Logik (ist), welche mit ihren Principien sich nicht zum Materialen des Erkenntnisses versteigt, sondern vom Inhalte derselben als reine Logik abstrahirt, aus welcher ein reales Object herauszuklauben vergebliche und daher auch nie versuchte Arbeit ist..." (a. a. O., S. 267). 99 Vgl. hierzu die ausgezeichneten Aufsätze von K. H. Haag „Das Unwiederholbare" und „Hegels idealistische Dialektik", in: Haag 1967. 100 Die große idealistische Philosophie, die von Piaton ihren Ausgang nahm, findet im Hegeischen Denken deswegen ihr Ende, weil es deren latenten Nihilismus durchschaute und explizit ins Bewußtsein hob. Was als reine Positivität galt, wurde von Hegel als Nichts, das es je war, erkannt. Freilich ist es die Intention des von ihm entfalteten absoluten Idealismus, durch diese Einsicht gleichsam hindurch das Positive zu retten. Eine schlüssige Antwort auf die Frage jedoch, wie sich eine Differenzierung des Undifferenzierten bewerkstelligen lasse, bleibt er genau so schuldig wie Fichte auf seine Weise. Vgl. hierzu: Haag 1967, besonders S. 43 f. und bezüglich der Analogie zum Differenzierungsproblem bei Fichte Anm. 9.
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tion zu vermitteln. Daß jedoch der Fichtesche Vernunftbegriff selber diesen Vermittlungsversuchen Grenzen setzt, wird spätestens dann evident, wenn man sich den hierarchischen Charakter seiner Ständegesellschaft vor Augen führt. Nicht zufällig steht an deren Spitze „der Gelehrte par excellence, der Forscher also, der die Wissenschaft aus ihren ersten Prinzipien selbst entwickelt" (218). Nach ihm „kommt der Volkslehrer als Erzieher zur Moral, dann der Künstler, welcher die Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis und Freiheit darstellt. Unter ihm stehen die Staatsbeamten" (219). Auf der Basis der Pyramide sind dann die „niederen Stände" angesiedelt, dadurch charakterisiert, daß sie „durch physische Kraft unmittelbar auf die Natur einwirken" (216). Konstitutiv für dieses Gesellschaftsmodell ist also, daß die Entscheidung darüber, wer welchen Platz in der sozialen Hierarchie einnimmt, abhängt vom Maß der Partizipation an der in den „Wissenschaftslehren" entfalteten Vernunft. Daß in realsoziologischer Hinsicht deren Träger Repräsentanten des Besitz- und Bildungsbürgertums sind, die mit den herrschenden feudalen Schichten eine Koalition eingehen, läßt Fichte schon im „Beitrag" durchblicken. Dem Herrschaftsanspruch dieser neuen „nobilitas", deren gesellschaftliche Heterogenität er durch die gemeinsame Teilhabe an der Wissenschaft überspielen zu können glaubt, ist die Funktion der niederen Stände in diesem Gesellschaftsmodell komplementär. Batscha schreibt: „Fichte läßt keinen Zweifel daran, daß sie eine notwendige Funktion für den Fortschritt der Gesellschaft ausüben. Auch ihre Arbeit soll durch wissenschaftlichen Fortschritt erleichtert werden, so ,daß der Kampf gegen die Natur nicht mehr ein so angelegenes Geschäft sei*. Aber trotz dieser Erleichterungen sollen sie sich mit ihrem Platz abfinden und ihn als definitiv ansehen, ohne daran denken zu dürfen, ihre soziale Position oder gar den ganzen Charakter der ständischen Gesellschaft zu ändern. ,Es ist Gottes Wille, was ich tue. Dies können die Mitglieder der niederen Völksklassen mit höchstem Recht von sich sagen. ,Ein ,hohes Recht4: sich sagen zu dürfen, daß Gott einen dazu bestimmt hat, in eine niedere Klasse zu gehören und immer in ihr verbleiben zu müssen" (220). In der Tat scheint es so, als ob Fichte den Unterschichten auch jenes bescheidene Maß an sozialer Mobilität vorzuenthalten sucht, das die bürgerliche Gesellschaft gegenüber dem Feudalismus mit der Durchsetzung des formalen Rechts gesamtgesellschaftlich institutionalisierte. Jedenfalls bestimmt er „das richtige Verhältnis zwischen höheren und niederen Klassen" so, daß „die höheren ... der Geist des einen großen ganzen der Menschheit (sind); die niederen die Gliedmaßen desselben; die ersten das Denkende und Entwerfende, die letzten das Ausführende. Derjenige Leib ist gesund, in welchem unmittelbar auf die Bestimmung des Willens jede Bewegung ungehindert erfolgt; und er bleibt gesund, inwiefern der Verstand fortdauernd die gleiche Sorgfalt für die Erhaltung der Glieder trägt. So in der Gemeine der Menschen. Ist nur dieses Verhältnis, wie es sein soll, so stellt zwischen den übrigen Ständen sehr bald von selbst das richtige Verhältnis sich ein". 1 0 1 loi Fichte 1963, S. 361 f.
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Dieses ,»richtige Verhältnis" zwischen „oben" und „unten", dem Fichtes Primat der geistigen gegenüber der körperlichen Arbeit entspricht 102 , schreibt als gesellschaftliches Formprinzip fest, was seine Staatskonzeption mit ihrer Forderung nach Identität von Herrschern und Beherrschten, die ihr entscheidendes Kriterium in der Verwirklichung des Rechts auf Existenz durch Arbeit hat, gerade abschaffen will: die gesellschaftliche Herrschaft einer Elite, die sich als „Stand" nach unten hin abkapselt. Fichte selber hat diesen Widerspruch nicht reflektiert. So gesehen, bleibt sein sozialphilosophisches und politisches Denken in der Schwebe: Fortschrittliches mischt sich mit Konservativem und aristokratischen Komponenten stehen unvermittelt demokratische Implikationen gegenüber. Wer immer daher diese Spannung divergierender Argumentationsstränge nach der einen oder der anderen Richtung aufzulösen sucht, läuft Gefahr, Elemente dieses Denkens für dessen Totalität auszugeben.
102 Vgl. hierzu grundlegend: Batscha 1972, S. 1-54.
Hegel und die Demokratie In der politischen Ideengeschichte sind Hegels Leistungen als Analytiker der bürgerlichen Gesellschaft unbestritten. Einerseits wird ihm attestiert, daß er früher als die meisten deutschen Philosophen seiner Zeit die Reproduktionsmechanismen der modernen bürgerlichen Gesellschaft erkannt und, nach seiner Rezeption der englischen politischen Ökonomie während seiner Frankfurter Zeit (1787-1801 ) \ auch mit einem tragfähigen begrifflichen Instrumentarium zutreffend beschrieben habe, wie insbesondere seine frühen politischen Systeme zeigen. Entstanden in Jena in der Zeit zwischen 1801 und 1807, faßt der Hegel-Forscher Gerhard Göhler deren Bedeutung mit den Worten zusammen: „Sie zeigen noch intensiver als in der späteren Rechtsphilosophie das Bemühen, den sozioökonomischen Bereich philosophisch zu erfassen" 2. Andererseits hat man darauf hingewiesen, daß seine Gesellschaftstheorie Potentiale enthalte, die ihn gegenüber seinen linken Schülern, vor allem gegenüber Marx, als überlegen ausweise, weil er gerade nicht von einer dialektischen Selbstaufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern von deren Integrationsfähigkeit ausgegangen sei, die sie befähigte, in letzter Instanz alle bisherigen Krisen zu überwinden.3 Aber der Glanz, der von Hegels Gesellschaftstheorie ausging, ließ anscheinend wenig Raum für die Frage, ob jenes andere Phänomen, das der modernen bürgerlichen Gesellschaft wie ein Schatten folgte, nämlich die moderne liberale Demokratie, von ihm in gleicher Weise begrifflich vertieft und antizipiert wurde wie die materiellen Reproduktionsmechanismen der kapitalistischen Sozietät, die er mit erstaunlichem Scharfsinn auf den Begriff brachte. Ein Grund für diese Vernachlässigung könnte darin bestehen, daß Hegel die Demokratie vom Staat her und nicht den Staat aus der Perspektive der Demokratie dachte. Seine systematische Frage war nicht, was der Staat für die Demokratie zu leisten vermag, sondern umgekehrt: Ihn interessierte, was die Demokratie im Verlaufe der Weltgeschichte zur Konstituierung des Staates beitrug. Tatsächlich ersetzte er in dem Maße, wie er die attische Demokratie zu einem historischen Medium in der Entfaltung des Weltgeistes funktionalisierte, Piatons Kreislauf der Verfassungen durch eine Teleologie des Fortschritts, in deren Verlauf sich der Weltgeist vom Zustand seiner Potentialität allmählich über drei Stufen selbst expliziert und damit seine Freiheit aktualisiert: Erst innerhalb dieser Stufenleiter hat die Demokratie ihren welthistorischen Stellenwert. 4 1 Vgl. Lukâcs 1967. 2 Göhler 1974, S. 8. 3 Vgl. Euchner 1973a, S. 19.
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Doch im folgenden soll es nicht um eine Rekonstruktion der Hegeischen Geschichtsphilosophie gehen: Wir wollen vielmehr seinen Demokratiebegriff untersuchen, ohne sein historisches Evolutionsparadigma aus den Augen zu verlieren. Was bedeutet Hegels These unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten, in der antiken Welt seien einige frei und was seine Aussage, in unserer Zeit sei dies für alle der Fall? Diese Fragen spitzen sich auf drei Probleme zu. Erstens: Von welchem Demokratiebegriff ging Hegel in seiner Staatsformenlehre aus? Zweitens: Wie ist das Bild zu charakterisieren, das Hegel innerhalb seiner geschichtsphilosophischen Teleologie vom Ursprung der Demokratie im antiken Athen zeichnete? Drittens: Wie beurteilte er die moderne liberale Demokratie, welche zu seinen Lebzeiten in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Frankreich und in Großbritannien ihren Siegeszug antrat? Abschließend soll kurz versucht werden, seine Beurteilungen der Demokratisierungstendenzen in der westlichen Welt im zeitgenössischen Kontext zu reflektieren. I. Für Hegel ist das Phänomen politischer Herrschaft in Gestalt der Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten nicht hintergehbar. Insofern sind ihm zufolge nach antikem Vorbild „mit Recht [ . . . ] die Verfassungen im allgemeinen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie" 5 sowie in ihre Verfallsformen Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie eingeteilt worden. 6 Allerdings operiert Hegel neben den drei klassischen Staatsformen und ihren Depravationstypen auch mit 4
„Der abstrakte, jedoch notwendige Gang in der Entwicklung wahrhaft selbständiger Staaten ist dann dieser, daß sie mit dem Königtum anfangen, es sei dieses ein patriarchalisches oder kriegerisches. Darauf hat die Besonderheit und Einzelheit sich hervortun müssen - in Aristokratie und Demokratie. Den Schluß macht die Unterwerfung dieser Besonderheit unter eine Macht, welche schlechthin keine andere sein kann als eine solche, außerhalb welcher die besonderen Sphären ihre Selbständigkeit haben, das ist die monarchische. Es ist so ein erstes und zweites Königtum zu unterscheiden" (Hegel 1986, S. 65). An anderer Stelle formuliert Hegel diese historische Evolution in Kategorien des Zugewinns an Freiheit im Sinne der Transformation des Weltgeistes vom Zustand des „An sich" in den des „Für Sich": „Mit dem, was ich im allgemeinen über den Unterschied des Wissens von der Freiheit gesagt habe, und zwar zunächst in der Form, daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei, ist zugleich auch die Einteilung der Weltgeschichte und die Art, in der wir sie abhandeln werden, angegeben" (a. a. O., S. 32). Ausdrücklich korrelierte Hegel diese Stufen der Entwicklung der Freiheit mit Regierungsformen der klassischen Staatsformenlehre: „Die Weltgeschichte ist die Zucht von der Unbändigkeit des natürlichen Willens zum Allgemeinen und zur subjektiven Freiheit. Der Orient wußte und weiß nur, das Einer frei ist, die griechische und römische Welt, daß Einige frei seien, die germanische Welt weiß, daß Alle frei sind. Die erste Form, die wir daher in der Weltgeschichte sehen, ist der Despotismus, die zweite ist die Demokratie und Aristokratie, und die dritte ist die Monarchie " (a. a. O., S. 134). 5 Hegel 1986, S. 63. 6 Hegel 1996a, S. 249 f.
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dem Begriff der „Republik". In seinem Begriffsgebrauch umfasst die Republik formal alle nichtmonarchischen Staatsformen, also Aristokratien und Demokratien. Inhaltlich gewährt sie ihren Bürgern ein Optimum an individueller Freiheit, setzt aber eine relativ unausgebildete bürgerliche Gesellschaft voraus. Wird diese jedoch durch Bevölkerungszusammenballung in Metropolen „kompakt" und entsteht die Notwendigkeit einer Konfliktregulierung durch einen starken Staat, so wird nach Hegel der etatistische Minimalismus der Republik durch die konstitutionelle Monarchie abgelöst.7 Worin ist nun aber Hegel zufolge der unverwechselbare Kern der Demokratie zu erkennen, wenn man von dem quantitativen Kriterium der Herrschaft aller einmal absieht. Zunächst setzt Hegel nach antikem Muster Demokratie mit direkter Demokratie gleich, in der alle Bürger ohne Repräsentation bzw. Stellvertreter am politischen Willensbildungsprozess teilhaben. Deren Übertragung auf die Gegenwart hält er für unmöglich. Er begründet dieses Verdikt mit unterschiedlichen Argumenten. Zunächst verbietet sich ein solcher Transfer aufgrund der Stufenförmigkeit der welthistorischen Evolution: Ist ein Prinzip historisch obsolet geworden, so kann es nicht mehr bestimmend für die nachfolgende Epoche sein8. Sodann steht nach Hegel die entscheidende sozio-politische Funktionsvoraussetzung direkter Völksherrschaft, nämlich die überschaubare Größe eines städtischen Territoriums, quer zu den großflächigen und dicht besiedelten Gesellschaften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa. Diese entscheidende Differenz resultiere aus der Tatsache, „daß, weil unsere Staaten so groß, der Vielen so viele seien, diese nicht direkt, sondern indirekt durch Stellvertreter ihren Willen zu dem Beschluß über die öffentlichen Angelegenheiten zu geben haben, d. h. daß für die Gesetze überhaupt das Volk durch Abgeordnete repräsentiert werden solle. Die sogenannte Repräsentativverfassung ist die Bestimmung, an welche wir die Vorstellung einer freien Verfassung knüpfen, so daß dies festes Vorurteil geworden ist". 9 Hegel, so kann also vorläufig festgestellt werden, operierte mit zwei Demokratiebegriffen. Vor allem in der griechischen Antike wurde die Demokratie als direkte Herrschaft des Volkes „erfunden": Sie erfüllte in ihrer Epoche die welthistorische Funktion, das Prinzip der individuellen Freiheit Weniger zur Geltung zu bringen, nämlich der freien attischen Vollbürger. Es ist charakteristisch, daß Hegel den pejorativen Begriff der Athener Demokratie, der auf die von Aristoteles 10 und vor allem von Piaton11 schulemachend entwickelten Kritik zurückgeht, nicht übernimmt, sondern im Gegenteil eindeutig aufwertet. „Wenn wir aber ein Urteil der Alten über das politische Leben Athens haben wollen, so müssen wir uns nicht an Xenophon, selbst nicht an Piaton wenden, sondern an die, welche sich 7 Hegel 1986, S. 64. s A. a. O., S. 66. A. a. O., S. 67; vgl. dazu auch Mittermaier/Mair 1995, S. 126 f. 10 Vgl. Aristoteles 1968, S. 1327b u. 1329a.
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11 Vgl. Piaton 1984, S. 564c-e, 565a-d.
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ausdrücklich auf den bestehenden Staat verstehen, welche dessen Angelegenheiten geführt und als die größten Führer desselben gegolten haben - an die Staatsmänner". 12 Unter ihnen, so Hegel, rage der „Zeus von Athen", Perikles, hervor. Ausdrücklich zustimmend zitiert er dessen Totenrede aus Anlaß der ersten Athener Gefallenen 13, die Thukydides in seinem „Peloponnesischen Krieg" überliefert hat. 14 Hegel wird nicht müde, dessen vorbildlichen Charakter zu loben. Wenn man so will, konzentrieren sich in diesem Staatsmann alle Vorzüge der attischen Demokratie: „Als er sich dem Staatsleben widmete, tat er auf das Privatleben Verzicht, von allen Festen und Gelagen zog er sich zurück und verfolgte unaufhörlich seinen Zweck, dem Staate nützlich zu sein, wodurch er zu so großem Ansehen gelangte, daß ihn Aristophanes den Zeus von Athen nennt. Wir können nicht umhin, ihn aufs höchste zu bewundern. [ . . . ] . Nach der Seite der Macht der Individualität hin können wir keinen Staatsmann ihm gleichstellen".15 Das positive Demokratiebild, das Hegel von der athenischen Volksherrschaft zeichnete, wird noch dadurch verstärkt, daß er es in einen scharfen Kontrast zum Herrschaftsmodell Spartas setzte. Wurde in Athen Herrschaft durch Kommunikation, Rhetorik und das öffentliche Argumentieren in der Ekklesia durchgesetzt, so herrschte in Sparta selbst im Frieden der Zustand des latenten Bürgerkriegs zwischen den unterworfenen Heloten und der spartanischen Herrenschicht: „Wie auf einem Sklavenschiff die Besatzung beständig bewaffnet ist und die größte Vorsicht gebraucht wird, um eine Empörung zu verhindern, so waren die Spartaner auf die Heloten immer aufmerksam, stets in dem Zustande des Krieges, wie gegen Feinde". 16 Durch eine mißglückte Bodenreform wurde in Sparta, so Hegel, die Grundlage der Freiheit, das Eigentum, zerstört, aber auch das Familienleben marginalisiert. Vor allem aber entwickelte sich in der spartanischen Mischverfassung das Institut der Ephoren mit ihrer „Vollmacht, Volksversammlungen zusammenzurufen, abstimmen zu lassen, Gesetze vorzuschlagen, ungefähr wie die tribuni plebis in Rom" 1 7 , zu einem Instrument der Unterdrückung. War in Athen das Signum der Demokratie die individuelle Freiheit, so wurde in Sparta die Gewalt der Ephoren „tyrannisch, der ähnlich, welche Robespierre und seine Anhänger eine Zeitlang in Frankreich ausgeübt haben". 18 Dagegen ist in Hegels eigener Gegenwart die konstitutionelle Monarchie mit ihrer Ausrichtung auf den starken Staat das Medium des Fortschritts. Entsprechend kritisch fallen seine Urteile über die Demokratie aus, die sich jetzt - im Unterschied zu ihrer antiken Variante - in das Gewand der modernen Repräsentativ12 Hegel 1986, S. 318 f. 13 A. a. O., S. 319. 14 Vgl. Thukydides 1981, S. 139-147. 15 Hegel 1986, S. 317. 16 A. a. O., S. 320. 17 A. a. O., S. 322. 18 Ebd.
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Verfassung gehüllt hat. Für Hegels Begriff der Repräsentation ist charakteristisch, daß er sie - ähnlich wie Rousseau - nicht als eine Erfindung der Neuzeit ansieht. Aus dem Lehenssystem des Mittelalters hervorgegangen, ist sie „mit der Entstehung eines Bürgerstands verwebt, daß es die albernste Einbildung genannt werden kann, wenn sie für eine Erfindung der neuesten Zeiten gehalten worden ist" 1 9 . Diese Stellvertretung habe es ermöglicht, daß ,jeder eine mittelbar, durch Repräsentation entstehende Beziehung" zu „einem Staat und Gesetze" habe, wodurch er auf diese Weise „auf einen bleibenden, festen Mittelpunkt" bezogen sei. 20 Freilich lehnte Hegel, wie noch gezeigt wird, eine Repräsentation ab, welche die einzelnen ohne Vermittlung mit dem Staat konfrontiert. Er akzeptierte nur eine Variante der „Stellvertretung", die auch die konkreten Lebenswelten der einzelnen in Familie, Beruf und korporativer lokaler Selbstverwaltung mit berücksichtigt. Doch die Frage ist, wie Hegel im Licht dieser allgemeinen Charakterisierung die liberalen Demokratien in den Vereinigten Staaten von Amerika, im revolutionären Frankreich und in Großbritannien konkret beurteilte.
n. Hegel zufolge sind die Vereinigten Staaten von Amerika das klassische Beispiel einer republikanischen Verfassung: „Die subjektive Einheit ist vorhanden, denn es steht ein Präsident an der Spitze des Staates, der zur Sicherheit gegen etwaigen monarchischen Ehrgeiz nur auf vier Jahre gewählt wird. Allgemeiner Schutz des Eigentums und beinahe Abgabenlosigkeit sind Tatsachen, die beständig angepriesen werden". 21 Ferner hebt er den kapitalistischen Grundzug der rechtlich geschützten individuellen Nutzenmaximierung hervor. „Damit ist zugleich der Grundcharakter angegeben, welcher in der Richtung des Privatmannes auf Erwerb und Gewinn besteht, in dem Überwiegen des partikulären Interesses, das sich dem Allgemeinen nur zum Behufe des eigenen Genusses zuwendet. Es finden allerdings rechtliche Zustände, ein formelles Rechtsgesetz statt, aber diese Rechtlichkeit ist ohne Rechtschaffenheit, und so stehen denn die amerikanischen Kaufleute in dem üblen Rufe, durch das Recht geschützt zu betrügen". 22 Zugleich ist Nordamerika in der Sicht Hegels das, was man heute ein „Entwicklungsland" nennt. Aufgrund der Größe seines Territoriums sind der sozialen Differenzierung der Vereinigten Staaten enge Grenzen gesetzt. Gesellschaftliche Spannungen werden durch unbegrenzte Kolonisationsmöglichkeiten im Ansatz absorbiert. Die Konsequenz eines solchen sozialen Systems ist eine Republik, die zu ihrer Integration lediglich eines Minimalstaates bedarf. „Was nun das Politische in 19 Hegel 1999, S. 536. 20 A. a. O., S. 536 f., FN. 21 Hegel 1986, S. 112. 22 Ebd.
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Nordamerika betrifft, so ist der allgemeine Zweck noch nicht als etwas Festes für sich gesetzt", schreibt Hegel in diesem Sinne, „und das Bedürfnis eines festen Zusammenhaltes ist noch nicht vorhanden, denn ein wirklicher Staat und eine wirkliche Staatsregierung entstehen nur, wenn bereits ein Unterschied der Stände da ist, wenn Reichtum und Armut sehr groß werden und ein solches Verhältnis eintritt, daß eine große Menge ihre Bedürfnisse nicht mehr auf eine Weise, wie sie es gewohnt ist, befriedigen kann. Aber Amerika geht dieser Spannung noch nicht entgegen, denn es hat unaufhörlich den Ausweg der Kolonisation in hohem Grade offen, und es strömen beständig eine Menge Menschen in die Ebenen des Mississippi. Durch dieses Mittel ist die Hauptquelle der Unzufriedenheit geschwunden, und das Fortbestehen des jetzigen bürgerlichen Zustandes wird verbürgt". 23 Dies vorausgesetzt, sah Hegel die spezifische Differenz zwischen Europa und Nordamerika in der unterschiedlichen demographischen Entwicklung und in geopolitischen Tatbeständen. In Europa sei es - trotz aller Auswanderungen - mangels Expansionsmöglichkeiten zu einer Bevölkerungszusammenballung gekommen: „hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre freilich die Französische Revolution nicht ins Leben getreten". 24 Daher könne Nordamerika mit Europa „erst verglichen werden, wenn der unermessliche Raum, den dieser Staat darbietet, ausgefüllt und die bürgerliche Gesellschaft in sich zurückgedrängt wäre. Nordamerika ist noch auf dem Standpunkt, das Land auszubauen. Erst wenn wie in Europa die bloße Vermehrung der Ackerbauer gehemmt ist, werden sich die Bewohner, statt hinaus nach Äckern zu drängen, zu städtischen Gewerben und Verkehr in sich hineindrängen, ein kompaktes System bürgerlicher Gesellschaft bilden und zu dem Bedürfnis eines organischen Staates kommen. 25 Ferner falle geopolitisch ins Gewicht, daß die „nordamerikanischen Freistaaten ( . . . ) keinen Nachbarstaat (haben), gegen den sie in einem Verhältnis wären, wie es die europäischen Staaten unter sich sind, den sie mit Mißtrauen zu beobachten und gegen welchen sie ein stehendes Heer zu halten hätten". 26 Der anarchische Grundzug der amerikanischen Republik, so Hegel, schlägt sich vor allem in der religiösen Beliebigkeit bzw. der Pluralität der zahlreichen Sekten nieder. „Wenn einerseits die protestantische Kirche das Wesentliche des Zutrauens hervorruft, ( . . . ) so enthält sie andererseits eben dadurch das Gelten des Gefühlsmoments, das in das mannigfaltigste Belieben übergehen darf. Jeder, sagt man von diesem Standpunkte, könne eine eigene Weltanschauung, also eine eigene Religion haben. Daher das Zerfallen in so viele Sekten, die sich bis zum Extreme der Verrücktheit steigern und deren viele einen Gottesdienst haben, der sich in Verzückungen und mitunter in den sinnlichsten Ausgelassenheiten kundgibt. Dieses gänzliche Belieben ist so ausgebildet, daß die verschiedenen Gemeinden sich Geistliche 23 24 25 26
A.a.O.,S. 113. Ebd. A.a.O.,S. 113 f. A.a.O.,S. 114.
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annehmen und ebenso wieder fortschicken, wie es ihnen gefällt; denn die Kirche ist nicht ein und für sich Bestehendes, die eine substantielle Geistigkeit und äußere Einrichtung hätte, sondern das Religiöse wird nach besonderem Gutdünken zurechtgemacht. In Nordamerika herrscht die ungebändigste Wildheit aller Einbildungen, und es fehlt jene religiöse Einheit, die sich in den europäischen Staaten erhalten hat, wo die Abweichungen sich nur auf wenige Religionen beschränken". 27 Hegels Beurteilung der Vereinigten Staaten in der welthistorischen Perspektive der ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts ist ambivalent. Einerseits bezeichnet er es als „Land der Zukunft, in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten ( . . . ) die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll; es ist ein Land der Sehnsucht für alle, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt". 28 Andererseits spielt Amerika Hegel zufolge keine welthistorische Rolle. „Was bis jetzt sich hier ereignet, ist nur der Widerhall der alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit, und als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an; denn wir haben es nach der Seite der Geschichte mit dem zu tun, was gewesen ist, und mit dem, was ist, - in der Philosophie aber mit dem, was weder nur gewesen ist noch erst nur sein wird, sondern mit dem, was ist und ewig ist - mit der Vernunft, und damit haben wir zu Genüge zu tun." 29 Oder anders formuliert: Die liberale Demokratie, welche die Verfassung der Vereinigten Staaten festschreibt, hat für Hegel keinen Vörbildcharakter. Im Gegenteil: Kulturell und politisch handelt es sich um ein klassisches Entwicklungsland mit geringer sozialer Differenzierung, das - weit davon entfernt, eine autonome Potenz auszubilden - ein Anhängsel des „alten Europa" ist und sich als Republik weit unter der welthistorischen Stufe der konstitutionellen Monarchie positioniert sieht.
in. Wie schneidet nun aber das zweite Fallbeispiel, die Repräsentativverfassungen der Französischen Revolution, in der Sicht Hegels ab? Um Hegels Beurteilung der Verfassungen von 1791 und 1793 und damit der liberalen Demokratie nach vollziehen zu können, ist es notwendig, seine Interpretation der Ursachen der Revolution zur Kenntnis zu nehmen30. Die Mißstände des Ancien Régime ließen ihm zufolge eine friedliche Umwälzung im Sinne einer Reform nicht zu. 31 Doch für Hegel war die Revolution nicht nur ein notwendiger und unvermeidlicher Reflex auf die Fehlentwicklungen des Absolutismus in Frankreich. Auch die Resultate des revolutionären Umbruchs haben ihm zufolge insofern einen welthistorischen Sprung nach vorn in der Entfaltung des Weltgeistes bewirkt, als die Revolutionäre 27 28 29 30
A.a.O.,S. 112 f. A.a.O.,S. 114. Ebd. Vgl. A. a. O., S. 528.
31 Vgl. A. a. O., S. 529.
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zum ersten Mal „im Gedanken des Rechts" 32 eine Verfassung gründeten, auf deren Basis sie alle zukünftigen Institutionen errichteten. „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen", schrieb Hegel, „war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut". 33 Diese Positivierung des egalitären Naturrechts war Hegel zufolge eine welthistorische Tat, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden konnte, wie Habermas zutreffend hervorhebt. 34 Die Fehlentwicklung in der Französischen Revolution setzt Hegel zufolge an einem anderen Punkt an: Es ist der atomistische Ansatz, welcher der Repräsentativverfassung zugrunde liegt. Hegel will zwar das Resultat des egalitären Naturrechts, den modernen Rechtsstaat. Doch er lehnt dessen kontraktualistische Genesis in Gestalt des Sozialvertrags zwischen ursprünglich Gleichen und Freien ab, der als abstrakter, der Gesellschaft und Geschichte vorgelagerter Größe den Staat erst konstituiert. 35 Gewiß, Hegel verschweigt die emanzipatorischen Auswirkungen des modernen, jetzt positivierten Naturrechts nicht, sofern deren Ausfluß der moderne Rechtsstaats ist: Er begräbt unter sich die hierarchischen Strukturen des Feudalsystems. „Die Gesetze der Vernünftigkeit, des Rechts an sich, die objektive oder die reelle Freiheit: hierher gehört Freiheit des Eigentums und Freiheit der Person. Alle Unfreiheit aus dem Lehnsverband hört hiermit auf, alle jene aus dem Feudalrecht herkommenden Bestimmungen, die Zehnten und Zinsen fallen hiermit weg. Zur reellen Freiheit gehört ferner die Freiheit der Gewerbe, daß dem Menschen erlaubt sei, seine Kräfte zu gebrauchen, wie er wolle, und der freie Zutritt zu allen Staatsämtern. Dieses sind die Momente der reellen Freiheit, welche nicht auf dem Gefühl beruhen, denn das Gefühl läßt auch Leibeigenschaft und Sklaverei bestehen, sondern auf dem Gedanken und Selbstbewußtsein des Menschen von seinem geistigen Wesen".36 Hätte die Revolution an diesem Punkt Halt gemacht, so wäre Hegel als ihr Protagonist in die Geschichte eingegangen. Aber sie entwickelte eine Dynamik, die den ausschließlich rechtsstaatlichen Pfad der Legalität sprengte, weil sie gleichzeitig, vom subjektiven Bewußtsein des Individuums ausgehend, den Partizipationsgedanken zur vollen Entfaltung brachte. Diese Konsequenz hängt mit der Notwendigkeit der Regierungstätigkeit im Rechtsstaat unmittelbar zusammen:„Die Betätigung kommt einem subjektiven Willen zu, einem Willen, der beschließt und entscheidet. Schon das Machen der Gesetze - diese Bestimmungen zu finden und positiv aufzustellen - ist eine Betätigung. Das Weitere ist dann das Beschließen und Ausführen". 37 Genau an dieser Stelle steht Hegel zufolge die eherne Frage auf 32 33 34 35 36 37
Ebd. A. a. O., S. 529. Vgl. Habermas 1967, S. 93. Vgl. a. a. O., S. 364 - S. 369. Hegel 1986, S. 539. A. a. O., S. 539.
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der politischen Tagesordnung: „Welches soll der Wille sein, der das entscheidet?" 38 Es ist, wenn man so will, in der Sicht Hegels die große Tragik der französischen Revolutionäre, daß sie sich nicht für den Willen eines konstitutionellen Monarchen entschieden haben, der, umgeben von einer kompetenten Beamtenelite, den Rechtsstaat als Sphäre der Legalität hätte konsolidieren können. Vielmehr schlugen sie das Erbe Piatons aus, daß ein Philosophenkönig an der Spitze des Rechtsstaats den chaotischen Druck von unten in rechtsstaatlichen Bahnen kanalisiert. ,,Platon in seiner Republik", so schreibt Hegel, „setzt alles auf die Regierung und macht die Gesinnung zum Prinzip, weshalb er denn das Hauptgewicht auf die Erziehung legt. Ganz dem entgegengesetzt ist die moderne Theorie, welche alles dem individuellen Willen anheimstellt. Dabei ist aber keine Garantie, daß dieser Wille auch die rechte Gesinnung habe, bei der der Staat bestehen kann". 39 Mit dem angeblich staatszerstörenden Individualismus des subjektiven Naturrechts ist die entscheidende Prämisse genannt, auf der Hegels Kritik an der modernen Repräsentativverfassung beruht. Immer wieder weist er auf die scheinbare Konsequenz eines Ansatzes hin, der ausschließlich das Gemeinwesen vom Willen der Individuen her denkt und dieses als Ausfluß subjektiver Freiheit versteht. „Ist aber der Staat auf Freiheit gegründet, so wollen die vielen Willen der Individuen auch Anteil an den Beschlüssen haben. Die Vielen sind aber Alle, und es scheint ein leeres Auskunftsmittel und eine ungeheure Inkonsequenz, nur Wenige am Beschließen teilnehmen zu lassen, da doch jeder mit seinem Willen bei dem dabei sein will, was ihm Gesetz sein soll. Die Wenigen sollen die Vielen vertreten, aber oft zertreten sie sie nur. Nicht minder ist die Herrschaft der Majorität über die Minorität eine große Inkonsequenz".40 Das Dilemma der revolutionären Repräsentativverfassungen in Frankreich von 1791 und 1793, so Hegel, habe dann auch darin bestanden, daß die Stabilität des Staates ausschließlich auf dem Willen der einzelnen gegründet wurde, und zwar ohne eine Garantie ihrer staatskonformen Gesinnung. „Die erste Verfassung in Frankreich war die Konstituierung des Königtums: an der Spitze des Staates sollte der Monarch stehen, dem mit seinen Ministern die Ausübung zustehen sollte; der gesetzgebende Körper hingegen sollte die Gesetze machen".41 Der Widerspruch dieses Verfassungskonstrukts bestand Hegel zufolge darin, daß die gesamte administrative Macht nicht beim Monarchen, sondern in den Händen der Legislative lag: „das Budget, Krieg und Frieden, die Aushebung der bewaffneten Macht kam der gesetzgebenden Kammer zu. Unter Gesetz wurde alles befaßt. ( . . . ) Damit hängt weiter zusammen die indirekte Ernennung der Minister und der Beamten usf. Die Regierung wurde also in die Kammern verlegt, wie in England ins Parlament". 42 38 Ebd. 39 A. a. O., S. 531. 40 A. a. O., S. 530 f. 41 A. a. O., S. 532. 42 Ebd.
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Zugleich krankte Hegel zufolge diese Repräsentativverfassung daran, daß sie von Anfang an mit dem Makel des Mißtrauens behaftet war: „die Dynastie war verdächtig, weil sie die vorhergehende Macht verloren, und die Priester verweigerten den Eid. Regierung und Verfassung konnten so nicht bestehen und wurden gestürzt". 43 Der Theorie nach ging sie zurück ins Volk, der Sache nach lag sie in den Händen des Nationalkonvents und dessen Komitees. Damit waren für Hegel die erste moderne Repräsentativverfassung in Frankreich gescheitert: In einem polarisierten Land waren nicht mehr die Nation als Ganze, sondern nur noch jene Teile Gegenstand der Repräsentation, welche die „richtige" revolutionäre Gesinnung hatten. Aber auch den zweiten Versuch einer stellvertretenden Darstellung der Nation in der Nationalversammlung unter der Prämisse ursprünglich Gleicher und Freier sah Hegel als gescheitert an. Zwar wurde die demokratische Verfassung von 1793 unter Robespierre vom ganzen Volk angenommen, ohne freilich zur Ausführung zu gelangen. Doch selbst wenn dies geschehen wäre, hätte, so Hegel, auch diese Variante einer demokratischen, weil weitgehend vom Zensus absehenden Verfassung keine Stabilität garantieren können. Denn statt auf eine Dauerpolitisierung des Demos wäre sie, ihm zufolge, auf die Erzeugung massenhafter Apathie hinausgelaufen. 44 Gewiß, die Verfassung von 1793 sah vor, wie Hegel zutreffend bemerkt, „daß den einzelnen Bürgern auch die Gesetze über die öffentlichen Angelegenheiten zur Beschlußnahme vorgelegt werden sollten". 45 Allerdings wäre der Versuch, die Deputierten an Instruktionen zu binden (im Sinne eines imperativen Mandats, R. S.), in der Praxis aus zwei Gründen gescheitert: Erstens: Die sogenannten „Cahiers", in welchen die Wähler als Souverän ihren Auftrag an die Deputierten mitteilten, wären „beiseite gelegt und von beiden Teilen vergesssen" worden. 46 Zweitens: Die Deputierten hatten jede Legitimation dieser Welt, sich von den Wünschen ihrer Auftraggeber zu lösen, weil sie bei der Stimmabgabe genauso souverän waren wie diese.47 Die Folgen lagen für Hegel auf der Hand: Der Kontrollmechanismus des imperativen Mandats funktionierte nicht, „und die Tyrannei, der Despotismus erhob unter der Maske der Freiheit und Gleichheit seine Stimme". 48 Zwar wurde die Regierung der Theorie nach demokratisch vom Volk, der Sache nach aber vom Nationalkonvent und dessen Komitees ausgeübt, „Es herrschen nun die abstrakten Prinzipien der Freiheit und - wie sie im subjektiven Willen ist - der Tugend. Die Tugend hat jetzt zu regieren gegen die Vielen, welche mit ihrer Verdorbenheit und mit ihren alten Interessen oder auch durch die Exzesse der Freiheit und Leidenschaften der Tugend ungetreu sind. Die Tugend ist hier ein einfaches 43 44 45 46 47 48
Ebd. Hegel 2003, S. 113. A.a.O.,S. 114. Ebd. Ebd. Hegel 1986, S. 312.
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Prinzip und unterscheidet nur solche, die in der Gesinnung sind, und solche, die es nicht sind. Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtig wird, ist schon verurteilt". 49 Der revolutionäre Terror, so Hegel, ist unausweichlich, wenn der Konsens eines Staates - auch in einer Repräsentatiwerfassung ausschließlich auf die individuelle Gesinnung der Tugend bzw. auf den Verdacht, ihr nicht zu entsprechen, gegründet wird. „Der Verdacht erhielt eine fürchterliche Gewalt und brachte den Monarchen aufs Schaffot, dessen subjektiver Wille das katholisch religiöse Gewissen war. Von Robespierre wurde das Prinzip der Tugend als das Höchste aufgestellt, und man kann sagen, es sei diesem Menschen mit der Tugend Ernst gewesen. Es herrschten jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich. Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche Formen und ihre Strafe ist ebenso nur einfach - der Tod". 50 Es gab nun eine Repräsentatiwerfassung zur Zeit Hegels, die weder das Defizit der nordamerikanischen Republik aufwies, weil auf einer noch unterwickelten bürgerlichen Gesellschaft gegründet, noch - wie Frankreich ab 1789 - dem Polarisierungsprozess einer revolutionären Umwälzung ausgesetzt war, wie ihn die Weltgeschichte bisher noch nicht erlebt hatte. Wenn man so will, haben wir es beim englischen Beispiel mit dem differenzierten Normalfall einer sich der allmählichen Demokratisierung öffnenden liberalen Demokratie zu tun, die außerdem durchaus - im Unterschied zur radikalen Phase der Jahre 1793/94 in Frankreich - zwischen Moralität und Legalität, zwischen subjektiver Tugend und objektivem Gesetzesgehorsam zu unterscheiden wußte. So gesehen, kommt Hegels Beurteilung des englischen Parlamentarismus eine besondere Bedeutung zu, weil er - auf den ersten Blick jedenfalls - dem Kriterium staatlicher Stabilität, das für ihn absoluten Vorrang hatte und welches er in der Französischen Revolution vermißte - voll entsprach. Wir werden uns also dem englischen Beispiel zuzuwenden haben.
IV. Hegel attestierte England, daß es angesichts der von der Französischen Revolution ausgelösten Erschütterungen „seine alten Grundlagen" 51 erhalten habe. Dies sei um so bemerkenswerter, als das Land durch „das öffentliche Parlament, durch die Gewohnheit öffentlicher Versammlungen von allen Ständen, durch die freie Presse" 52, regiert werde: Das Regierungssystem hätte also ein Einfallstor für die „französischen Grundsätze der Freiheit und Gleichheit bei allen Klassen des 49 A. a. O., S. 532 f. 50 A. a. O., S. 533. 51 A. a. O., S. 536. 52 Ebd.
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Volkes" 53 darstellen können. Oder war das, was in Frankreich revolutionär eingeklagt wurde, in England bereits verwirklicht? Hegel löste das Problem der Revolutionsabstinenz der Briten durch einen Vergleich der Repräsentatiwerfassungen in beiden Ländern. Er konfrontierte das englische dezentrale Prinzip der Selbstverwaltung mit dem Zentralismus der Franzosen, der auch von den Jakobinern in der Französischen Revolution beibehalten wurde. „Englands Verfassung ist aus lauter partikulären Rechten und besonderen Privilegien zusammengesetzt: die Regierung ist wesentlich verwaltend, d.i. das Interesse aller besonderen Stände und Klassen wahrnehmend; und diese besonderen Kirchen, Gemeinden, Grafschaften, Gesellschaften sorgen für sich selbst, so daß die Regierung eigentlich nirgend weniger zu tun hat als in England. Dies ist hauptsächlich das, was die Engländer ihre Freiheit nennen, und das Gegenteil der Zentralisation der Verwaltung, wie sie in Frankreich ist, wo bis auf das kleinste Dorf hinunter der Maire vom Ministerium oder dessen Unterbeamten ernannt wird". 5 4 Es ist nach Hegel diese assoziative, dezentrale Verwaltungsstruktur, welche die Briten so unempfindlich gegenüber den abstrakten Prinzipien von Freiheit und Gleichheit der Franzosen macht. Dennoch hält Hegel das stark dezentralisierte System der parlamentarischen Repräsentativverfassung des Vereinigten Königreichs auf der Verwaltungsebene für alles andere als vorbildlich. Die dominierenden partikularen Interessen hätten ihren Ursprung in der Zeit des Feudalsystems, die sich in England länger als in einem anderen europäischen Land hielten: „Im Privatrecht, in Freiheit des Eigentums sind sie auf unglaubliche Weise zurück; man denke nur an die Majorate, wobei den jüngeren Söhnen Offiziers - oder geistliche Stellen gekauft und verschafft werden". 55 Zwar regiere das Parlament, doch die Abgeordneten gelangten durch Bestechung zu ihren Mandaten. Immerhin habe dieser durch und durch korrupte Zustand den Vorteil, die Existenz einer aristokratischen politischen Klasse zu sichern, welche die Politik als ihre selbstverständliche Beschäftigung betrachte. Von der Nation akzeptiert, stabilisiere sich die Regierung dadurch, daß ihr zu ihrer Rekrutierung eine Gruppe von Politikern zur Verfügung stehe, „die von Jugend auf sich den Staatsgeschäften gewidmet und in ihnen gearbeitet und gelebt haben". 56 Zugleich blickte Hegel freilich mit Sorge auf die englische Parlamentsreform von 1832. Er warf die Frage auf, ob bei deren Durchführung, die auf eine Ausweitung des aktiven und passiven Wahlrechts auf das industrielle Bürgertum hinauslief, das alte zwar korrupte, aber doch immerhin stabile parlamentarische Regierungssystem einem solchen Demokratisierungsschub gewachsen wäre. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß Hegel zufolge das moderne Naturrecht, das in Frankreich zur revolutionären Katastrophe geführt habe, in England, wenngleich in abgemilderter Form, ebenfalls virulent sei. Einerseits verändere 53 54 55 56
Ebd. A. a. O., S. 537. Ebd. A. a. O., S. 538.
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zwar die geplante (begrenzte) Ausweitung politischer Partizipation nichts an den politischen Kräfteverhältnissen, weil sie sich auf die Oberschicht beschränke. Diejenigen, die die Vollbürgerschaft erhielten, stünden gegenwärtig weiterhin unter dem Einfluß der traditionellen politischen Klasse. „Brougham beschrieb bei einer vorigen Wahl launig eine Szene, wo man", wie Hegel zu berichten weiß, die Wähler „in Höfen bei Feuern, Pudding und Porter biwakieren und, um sie dem Einfluß der Gegner zu entziehen, darin bis zu dem Augenblick verschließen ließ, wo sie ihr gehorsames Votum abzugeben haben!". 57 Andererseits, so Hegels Argument, könnte jedoch der alten politischen Klasse, infolge der Ausweitung des Wahlrechts durch „homines novi" ergänzt, im Namen von individueller Gleichheit, Freiheit und Volkssouveränität die Macht entgleiten.58 Ausgehend vom Parlament hätte die Wahlrechtsreform die Auslösung eines Demokratisierungsprozesses von oben zur Folge, und zwar in Analogie, wie man hinzufügen könnte, zu den französischen Révolutions Verfassungen von 1791 und 1793. „Der Gegensatz der hommes d'état und der hommes a principes, der in Frankreich zu Anfang der Revolution gleich ganz schroff eintrat und in England noch keinen Fuß gefaßt hat, mag wohl durch die Eröffnung eines breiteren Wegs der Parlamentssitze eingeleitet sein; die neue Klasse kann um so leichter Fuß fassen, da die Prinzipien selbst als solche von einfacher Natur sind, deswegen sogar von Unwissenden schnell aufgefaßt und mit einiger Leichtigkeit des Talents ( . . . ) sowie mit einiger Energie des Charakters und des Ehrgeizes für eine erforderliche, alles angreifende Beredsamkeit ausreichen und auf die Vernunft der zugleich ebenso hierin unerfahrenen Menge eine blendende Wirkung ausüben ( . . . ) . Durch ein solches neues Element würde aber nicht nur diejenige Klasse gestört, deren Zusammenhang die Staatsgeschäfte in den Händen hat, sondern es ist die Regierungsgewalt, die aus ihrem Gleise gerückt werden könnte". 59
V. Die Untersuchung der Reflexionen Hegels als Demokratietheoretiker seiner Zeit wirft auf diese ein ernüchterndes Licht. Es mag gute Gründe dafür geben, seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft erstaunlich nach vorn gerichtete analytische Potentiale zu bescheinigen. Als Demokratietheoretiker fällt Hegel jedoch hinter liberale zeitgenössische Theoretiker wie Tocqueville60, Guizot 61 und John Stuart M i l l 6 2 weit zurück. Diese Denker sahen im Prozeß der Demokratisierung einen 57 Hegel 2003, S. 112. 58 A. a. O., S. 126. 59 Hegel 2003, S. 122, zu Hegels Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts vgl. auch Mittermaier/Mair 1995, S. 126. 60 Vgl. Tocqueville 1987, S. 5. 61 Vgl. Guizot 1849, S. 7. 62 Vgl. Mill 1984, S. 303.
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unumkehrbaren Vorgang, den man wohl teilweise entschärfen und im Interesse der Oberschichten kanalisieren, aber nicht dauerhaft sistieren könne. Zwar zeichnet Hegel ein positives Bild der direkten Demokratie Athens. Aber im Unterschied zu Thomas Paine63 leugnet er jede Verbindung zwischen der antiken Volksherrschaft und den liberal-demokratischen Repräsentativsystemen seiner Zeit: Die attische Demokratie war mit der Geltungmachung des Individualprinzips verantwortlich für einen welthistorischen Durchbruch, wohingegen das liberal-demokratische Repräsentationssystem zugleich Ausdruck und Ursache entweder für unterentwickelte gesellschaftliche Verhältnisse (USA), revolutionär-terroristische Umwälzungen (Frankreich) oder eines korrupten Parlamentarismus (England) ist. Hegel will zwar auch nicht mehr hinter den gesellschaftlichen Stand einer rechtstaatlich verfassten bürgerlichen Gesellschaft, wie die Französischen Revolution ihn realisierte, zurückfallen. Aber er will den erreichten Stand der Demokratisierung, der im Namen des individualistischen Naturrechts erkämpft wurde, dadurch rückgängig machen, daß die politische Teilhabe nicht durch vom Volk, sondern durch von den Ständen und Korporationen gewählte Abgeordnete vollzogen wird, bis sie, auf diese Weise von Einflüssen des Demos gereinigt, Eingang in den Staat der konstitutionellen Monarchie finden. Nur so glaubte er, die Gefahr bannen zu können, die von den „ Vielen als Einzelne" drohe, „was man gerne als Volk versteht ( . . . ) - eine formlose Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich wäre". 64 Nur auf diese Weise seien die Defizite und Gefahren der liberalen Demokratie zu vermeiden. Das „atomistische" Prinzip des egalitären Naturrechts vorausgesetzt, sei selbst das Zensuswahlrecht kein wirksames Bollwerk gegenüber einer durch die „abstrakten" Prinzipien individueller Gleichheit und Freiheit legitimierten Dynamik von unten. Die Alters- und Vermögensqualifikation als Kriterium des Wahlrechts räume den einzelnen „ein hohes politisches Recht ohne alle Verbindung mit den übrigen bürgerlichen Existenzen, ein und führt für eine der wichtigsten Angelegenheiten einen Zustand herbei, der mehr mit dem demokratischen, ja selbst anarchischen Prinzip der Vereinzelung zusammenhängt als mit dem Prinzip einer organischen Ordnung". 65 Für den einzelnen aber bedeute das Wahlrecht per se „bei der großen Anzahl von Stimmgebenden"66 kaum einen Zuwachs an politischem Einfluß. Diese Entwertung der Einflußnahme des Wählers werde noch dadurch gesteigert, daß „der Deputierte, den er wählen hilft, selbst wieder nur ein Mitglied einer zahlreichen Versammlung ist, in welcher immer nur eine geringe Anzahl sich zur Evidenz einer bedeutenden Wichtigkeit bringen kann, sonst aber durch nur eine Stimme unter vielen einen ebensolchen unscheinbaren Beitrag liefert". 67 Die psy63 64 65 66 67
Vgl. Paine 1995, S. 229. Hegel 1955, S. 265. Hegel 1996a, S. 482. A. a. O., S. 484. Ebd.
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chologischen Auswirkungen lägen auf der Hand: Politische Apathie innerhalb der Wählerschaft mache sich breit, so daß gesetzliche Regelungen zu treffen seien, welche den Demos verpflichten, sich zum Stimmgeben einzufinden". 68 Es entbehrt nicht einer gewissen, wenn auch unfreiwilligen Ironie, wenn Hegel ausgerechnet den Deutschen Bund mit seinem, alle freiheitlichen Entwicklungen zerstörenden oder unterbindenden „System Metternich" nach dem Zusammenbruch des alten Reiches als Vorbild für die westlichen Staaten der nordamerikanischen Republik, Frankreich und England hinstellt. „Die Lüge eines Reiches ist vollends verschwunden. Es ist in souveräne Staaten auseinandergefallen. Die Lehensverbindlichkeiten sind aufgehoben, die Prinzipien der Freiheit des Eigentum und der Person sind zu Grundprinzipien gemacht worden. Jeder Bürger hat Zutritt zu Staatsämtern, doch ist Geschicklichkeit und Brauchbarkeit notwendige Bedingung. Die Regierung ruht in der Beamtenwelt, und die persönliche Entscheidung des Monarchen steht an der Spitze, denn eine letzte Entscheidung ist, wie früher bemerkt worden, schlechthin notwendig". 69 Nicht das politische Signum der Modernisierung, die Demokratie auf repräsentativer sowie individuelle Freiheitsrechte kodifizierender Grundlage war für Hegel erkenntnisleitend, sondern das platonische Modell kompetenter Eliten, die sich nicht durch Wahlen, sondern ausschließlich durch Wissen zu legitimieren haben: „Es sollen die Wissenden regieren ( . . . ) , nicht die Ignoranz und die Eitelkeit des Besserwissens"70, in denen er das Signum des modernen Zeitalters sehen zu können glaubte.
68 Ebd. 69 Hegel 1986, S. 539. 70 Ebd.
Teil I I I : Demokratie in der Zwischenkriegszeit
Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht Das Beispiel Hans Kelsens und Max Adlers in der Zwischenkriegszeit1 L Der Begriff „Demokratie" gehört zu jenen Kategorien der Staatsformenlehre, die zwei Aufgaben erfüllen sollen. Einerseits wird von ihm erwartet, daß er den sozio-politischen Sachverhalt einer bestimmten Herrschaftsstruktur nach empirisch-analytischen Kriterien möglichst eindeutig bestimmt. Andererseits findet er aber auch, normativ aufgeladen, Verwendung als politischer Kampfbegriff: Gegen andere Interpretationen der Legitimität politischer Herrschaft gerichtet, soll er die der eigenen desto nachhaltiger rechtfertigen. Als normativ-legitimatorische Kategorie wurde „Demokratie" im 20. Jahrhundert so gut wie von allen sozialen Bewegungen und den von ihnen errichteten Regimes reklamiert. Die Arbeiterbewegung hat seit ihren Anfängen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die These vertreten, die politische Demokratie des Bürgertums sei erst dann vollendet, wenn sie die sozialen Interessen des Industrieproletariats mitumfasse. 2 Alle faschistischen 3 und stalinistischen4 Regime nahmen für sich in Anspruch, die „wahre" Demokratie zu verkörpern, die der der bloß „formalen" Demokratie der westlichen Länder weit überlegen sei. Angesichts eines 1 Der vorliegende Aufsatz ist Walter Euchner gewidmet. Dem von ihm entwickelten Ansatz einer demokratietheoretisch orientierten politischen Ideengeschichte, wie er sie insbesondere in seiner im Sommersemester 1974 an der Universität Göttingen gehaltenen Vorlesung entwickelt hat, verdankt der vorliegende Versuch wesentliche Impulse. 2 Vgl. Rosenberg 1962.
3 Vgl. Schmitt 1983, S. 227 u. S. 243. Schmitt greift die für den Rousseauschen Demokratiebegriff konstitutive Kategorie der Homogenität des Allgemeinen Willens auf, ordnet ihr aber eine völkisch-rassische Bedeutung zu. Sie soll es ihm ermöglichen, dem faschistischen Führerstaat des „Dritten Reiches" eine demokratische Legitimation zu verschaffen. 4 Vgl. Bauer 1980a, S. 650 f. Bauer attestiert dem Verfassungsentwurf der Sowjetregierung vom 11. Juni 1936 „geschichtliche Bedeutung". Auch wenn dieser Entwurf noch nicht die vollendete Demokratie bringe, „so tut er doch einen wesentlichen Schritt zur Demokratie. ( . . . ) Der gegenwärtige Entwurf selbst enthält in sich die Bürgschaft, daß das politische Interesse, das politische Selbstbewußtsein, der politische Entscheidungswille der Volksmassen, die durch das geheime und direkte Wahlrecht und durch die parlamentarischen Gesetzgebungs- und Regierungsformen sehr bald bedeutend gestärkt werden, die der gegenwärtige Entwurf der Selbstbestimmung des Volkes noch setzt" (a. a. O., S. 650 f.).
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Teil III: Demokratie in der Zwischenkriegszeit
solchen inflationären Gebrauchs des Begriffs der Demokratie formulierte George Orwell treffend: „Für ein Wort wie »Demokratie4 gibt es nicht nur keine allgemein anerkannte Definition, sondern ein derartiger Versuch stößt auch allseits auf Widerstand ( . . . ) . Die Verfechter jedes beliebigen Regimes behaupten, es sei eine Demokratie, und befürchten, sie müßten auf den Gebrauch des Wortes verzichten, wenn es auf irgendeine Bedeutung festgelegt würde". 5 Die Beispiele selbsternannter „Demokraten" und „Demokratien" ließe sich endlos fortführen. Doch der Preis dieses Aufstiegs des Begriffs „Demokratie" zu der zentralen Legitimationsressource politischer Regime im 20. Jahrhundert ist hoch. Bis auf den etymologischen Konsens, daß Demokratie „Herrschaft des Volkes" sei, leidet sie an einer kaum noch zu überbietenden Verschwommenheit. „Wir leben also ausgesprochen in einem Zeitalter der verworrenen Demokratie schreibt der bekannte Demokratietheoretiker Giovanni Sartori. „Das »Demokratie* mehrere Bedeutungen hat, damit könnte man leben. Daß aber ,Demokratie4 einfach alles und jedes bedeutet, das ist zuviel". 6 Daher kann das entscheidende Ziel einer politischen Ideengeschichte der Demokratie nur darin bestehen, Klarheit in diese Kategorie durch tragfähige begriffliche Merkmale zu bringen. Freilich ist bei einem solchen Versuch stets die Gefahr der Beliebigkeit von Definitionen zu beachten, vor allem dann, wenn sie als Ausfluß der Definitionsmacht bestimmter Herrschaftssysteme oder dominanter wissenschaftlicher Schulen identifiziert werden können. Diese Warnung entwertet die Definition als Instrument sozialwissenschaftlicher Forschung in keiner Weise. Es ist selbstverständlich legitim, weil der intersubjektiven Verständigung im Forschungs- und Wissenschaftsbetrieb dienlich, wenn ein Wissenschaftler in seiner Untersuchung von einer bestimmten Definition der Demokratie ausgeht. Nur sollte von Anfang an klar sein, daß sie den Status eines heuristischen Hilfsmittels hat, d. h. es handelt sich um eine definitorisch festgesetzte Annahme, die der Ermöglichung von empirisch überprüfbaren Erkenntnissen dient. Um einen - im Vergleich zu einer bloß heuristischen Definition - höheren Verbindlichkeitsgrad des Begriffs „Demokratie" zu erreichen, bieten sich drei methodologische Ansätze an: 1. Man kann sich für die von Aristoteles bereits so virtuos gehandhabte komparative Methode entscheiden. In diesem Falle müßte man alle historisch nachweisbaren Varianten der Demokratie von der attischen Demokratie und der römischen Mischverfassung über die vielen historischen Varianten der Rätedemokratie seit dem 16. Jahrhundert und den auf Zensuswahlrecht beruhenden Honoratiorendemokratien bis hin zu den sogenannten liberalen Demokratien des Westens und den Volksdemokratien des ehemaligen Ostblocks miteinander vergleichen: Ihre gemeinsame Schnittmenge wäre dann identisch mit der begrifflichen Bestimmung der Demokratie. Doch das Ergebnis ist absehbar: Um das Gemeinsame der stark 5 Orwell 1957, S. 149. 6 Sartori 1992, S. 15.
Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht
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differierenden Konzepte von „Volksherrschaft" erfassen zu können, muß es so abstrakt und so weit gefaßt werden, daß ihr Allgemeinheitscharakter jegliche analytische Schärfe vermissen läßt. Das, worauf es ankommt, nämlich die Bestimmung des konkreten Kerns der Demokratie als Gestaltungsprinzip der Lebenswelt der Menschen, wird mit der komparativen Methode nicht erreicht. 7 2. Einen anderen Weg, zu einem tragfähigen Demokratiebegriff zu gelangen, weist die normative Methode. 8 Sie fundiert die Demokratie auf der Grundlage unveränderbarer Werte, die ihr Wesen konstituieren, d. h. sie arbeitet mit dem mehr oder weniger gut begründeten Postulat, wie die Demokratie sein soll Von dieser Prämisse ausgehend, kann ich zwar alle anderen historischen Varianten als „undemokratisch" verwerfen, sofern sie den vorgegebenen normativen Kriterien der „wahren" Demokratie nicht entsprechen. Doch zugleich verlagere ich das Problem auf die Ebene der Normen und Werte. Während die Komparatistik zumindest in der Empirie konkrete Anhaltpunkte für die Bestimmung der Demokratie findet, wächst bei diesem methodischen Ansatz das Risiko der Beliebigkeit. Sagt der eine, Wesensmerkmal der Demokratie sei ihre klassische Definition, nämlich die tendenzielle Identität von Herrschern und Beherrschten, so wendet der andere ein, eine solche Begriffsbestimmung verfehle ihr Ziel: Angesichts der konkreten Verfassung der menschlichen Natur könne Demokratie allenfalls Bestellung der Herrschenden durch Volkswahl in Verbindung mit kodifizierten individuellen Freiheitsrechten sein. Wie mir scheint, ist diese Kontroverse nicht zu entscheiden. Denn gegen eine, von bestimmten normativen Voraussetzungen abhängige Definition kann eine andere gesetzt werden, ohne daß sie - trotz logischer Schlüssigkeit - in der Lage wäre, Anspruch auf Verbindlichkeit erheben zu können. 3. Wie mir scheint, ist dem Dilemma der komparativen und der normativen Methode bei der Bestimmung der Demokratie nur zu entgehen, wenn wir uns für den historisch-analytischen Ansatz 9 entscheiden. Er versteht „Demokratie" als 7
Damit ist freilich keine Kritik an der komparativen Methode als solcher gemeint. Die Komparatistik gehört zum unverzichtbaren Kernbestand des Arsenals sozialwissenschaftlicher Ansätze. Doch wie dies bei jeder methodologischen Option der Fall ist, muß auch sie stets erneut auf ihre Gegenstandsadäquanz überprüft werden. 8 Sie ist zweifellos im Umkreis normativ-ontologischer Wissenschaftstheorien angesiedelt. „Da Werte nach normativ-ontologischem Verständnis ahistorisch , d. h. überzeitliche normative Größen sind, können Werte, die in der Vergangenheit unbekannt waren oder keine Rolle gespielt haben, wie etwa die »Demokratisierung der Gesellschaft4, mit der Begründung, sie würden andere, ältere Werte verletzen, als unerwünscht oder sogar als »Preisgabe von Grundlagen der abendländischen politischen Kultur4 (Hennis) abgelehnt werden ( . . . ) . Eine enge Verbindung zwischen normativ-ontologischen Theorien und konservativen oder bewahrenden wird hier deutlich. ( . . . ) Für Hennis erweist sich z. B. Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft schon deshalb als unsinnig, weil sie die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen politischer und hausväterlicher (ökonomischer) Herrschaftsweise negiert. Da Demokratie ein Begriff der polis ist, kann sie nicht auf den oikos, den nicht-staatlichen Bereich der Ökonomie, übertragen werden44 (Bohret 1979, S. 405 f.). 9 Dieser Ansatz weist gemeinsame Schnittmengen mit den dialektisch-historischen Theorien der sogenannten älteren „Frankfurter Schule44 aus. In ihrem Fokus wird die Demokratie
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Teil III: Demokratie in der Zwischenkriegszeit
eine historische Kategorie. Zwar gehört auch hier die „Herrschaft des Volkes" und dessen Partizipation an der politischen Willensbildung zum unverzichtbaren Kernbestand einer jeden Demokratie. Doch wie sie sich hegemonial oder pluralisiert in den jeweiligen Epochen darstellt, muß stets erneut in ihrem gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext geklärt werden. Diese Rekonstruktion ist durch drei Schwerpunkte charakteririsiert, die stets aufeinander verweisen, aber analytisch zu trennen sind: a) Die Dimension der historischen Kontroversen und Kämpfe um die Demokratie in ihrem politischen und sozial-ökonomischen Kontext. Wer kämpfte für oder gegen die Demokratie? Wer insistierte insbesondere in den europäischen Revolution seit der Frühen Neuzeit auf dem erreichten Stand politischer Partizipation, und wer setzte sich ein für ihre Ausweitung aus welchen sozio-politischen Interessenlagen und Motivationen heraus? b) Die philosophisch-reflexive Dimension. Auf dieser Ebene ist darzulegen, wie sich die Demokratie begrifflich-theoretisch in den Köpfen derer gebrochen hat, die über sie in schulemachender Weise nachdachten. Bei der Bilanzierung dieser demokratietheoretischen Lehrstücke ist von entscheidender Bedeutung, ob die jeweiligen Reflexionen in ihrem historischen Kontext nur einen bestehenden Zustand politischer Partizipation kritisieren oder rechtfertigen wollten, oder ob sie das Ziel verfolgten, durch vorausgreifende Antizipation Möglichkeitspotentiale einer weitergehenden Demokratisierung zu erschließen. c) Die sozio-technische Dimension. Auf dieser Ebene geht es um die Überprüfung von Realisationsmöglichkeiten von Demokratie nach Maßgabe des wissenschaftlich-technischen Entwicklungsstandes einer Gesellschaft. Sie trägt mithin dem Umstand Rechnung, daß es für eine Ideengeschichte der Demokratie nicht gleichgültig sein kann, ob sie ihren Gegenstand innerhalb einer auf tierischer und menschlicher Muskelkraft sich reproduzierenden Agrargesellschaft oder in einer auf hochentwickelter Technik beruhenden Sozietät mit zunehmender Wegrationalisierung körperlicher Arbeit und einem ständig expandierendem Freizeitsektor darstellt oder untersucht. Ein solches Dreistufen-Modell unterscheidet sich nicht nur von den im deutschen Sprachraum weit verbreiteten Darstellungen der Demokratietheorien bei Sartorius 10, Schmidt 11 und Waschkuhn12. Es hätte auch den Vorteil, einerseits an als Teil eines offenen historischen Prozesses verstanden, der nur im Zusammenhang mit den auf ihn reagierenden Bewußtseinsformen und den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsmechanismen verstanden werden kann. Vgl. hierzu grundlegend Euchner 1973, S. 9 - 4 6 . 10 Sartoris Darstellung bewegt sich im Gegensatz zu dem hier vorgeschlagenen Dreistufen-Modell einer politischen Ideengeschichte der Demokratie fast ausschließlich auf der begriffsanalytischen Ebene. Einerseits überprüft er demokratietheoretische Aussagen in der Manier philosophischer Argumentation auf die logische Stringenz und Geltung ihrer Aussagen. Andererseits beschreibt er den demokratietheoretischen Diskurs seit der Antike als einen Lernprozeß, der sich allein im Bereich des Denkens, sozusagen nur ideellen Antrieben folgend, abspielt. Diesen beiden methodologischen Optionen folgend, konzentriert er in sei-
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dem Begriff der Partizipation des Volkes an allen politisch relevanten Entscheidungen als unverzichtbarem Bestandteil der Demokratie festzuhalten, zugleich aber die Möglichkeit einer historischen Differenzierung dieser Teilhabe offen zu lassen. nem Buch die Auseinandersetzung mit Demokratietheorien auf zwei Schwerpunkte. Im ersten Teil geht es ihm um die Klärung des Verhältnisses zwischen normativen und empirischen Theorien der Demokratie. Während die normativen Demokratietheorien sich auf die Ideale und Werte der Demokratie beziehen und daher einen präskriptiven Charakter haben, wollen empirische Demokratietheorien zeigen, wie die Demokratien tatsächlich funktionieren und „was sie in der wirklichen Welt eigentlich sind" (Sartori 1992, S. 4): Sie erlangen durch dieses Erkenntnisinteresse eine deskriptive Qualität. Auch wenn Sartori die Wichtigkeit der analytischen Unterscheidung zwischen normativen und empirischen Demokratietheorien nicht bezweifelt, fokussiert er seine Überlegungen auf die Wechselbeziehungen zwischen Sein und Sollen der Demokratie, weil es diese niemals mit,/einen" Fakten, sondern „in Wahrheit mit wertgeprägten Tatsachen zu tun" (ebd.) habe. Der zweite Teil ist weniger aktuell als vielmehr ideengeschichtlich orientiert. Nicht die Spannung zwischen Tatsachen und Werten ist das Generalthema, sondern die im politischen Denken nachweisbaren Verfahren von Versuch und Irrtum. Kernbegriffe der Demokratietheorie wie Macht, Zwang, Freiheit, Gleichheit, Gesetze, Gerechtigkeit etc. werden als Träger historischer Erfahrung verstanden, die durch eine Prüfung in ihrer praktischen Anwendung zugleich „historisches Lernen" enthalten. Angesichts der Fehleranfälligkeit aller real existierenden Demokratien seit der Antike soll politische Ideen- bzw. Theoriengeschichte der Demokratie auf diese Weise verhindern, daß „die Vernachlässigung früherer Erfahrung ( . . . ) nur frühere Irrtümer und Schrecken erneut heraufbeschwören ( . . . ) . Wenn wir vorankommen wollen, dürfen wir nicht dulden, daß wir zurückfallen" (a. a. O., S. 6). 11
Das hier vorgeschlagene dreistufige Darstellungsmodell einer politischen Ideengeschichte der Demokratie unterscheidet sich gravierend von dem Paradigma, innerhalb dessen Manfred G. Schmidt die Demokratietheorien von der Antike bis zur Gegenwart verortet. Ich möchte die folgenden Differenzen nennen: 1) Bei Schmidt spielt die historische Dimension der Kämpfe, die - insbesondere in den frühneuzeitlichen Revolutionen - für die Ausweitung der Demokratie gefuhrt worden sind ebensowenig eine Rolle wie die Berücksichtigung der Demokratiepotentiale, die aufgrund der wissenschaftlich-technischen Entwicklung der Gesellschaft gegeben sind. 2) Der methodologische Zugriff Schmidts auf die Ideengeschichte der Demokratie ist - im Gegensatz zu dem von mir vorgeschlagenen Ansatz - strikt teleologisch ausgerichtet. Anstatt, wie vorgesehen, die demokratietheoretischen Reflexionen im Kontext ihrer Zeit zu verorten und zugleich deren „überschießende Gehalt" zu verdeutlichen, der ihre Transferierbarkeit in andere Epochen erst ermöglicht, stuft Schmidt die klassischen Demokratietheorien von Aristoteles bis Marx zu bloßen „Vorläufern der Theorie entwickelter Demokratien" herunter, und zwar wie sie „von Max Weber und Schumpeter über die Ökonomische Theorie der Demokratie bis hin zu den kritischen Demokratielehren und zur komplexen Demokratietheorie von Fritz W. Scharpf (Schmidt 2000, S. 20) entwickelt worden sind. 3) Schmidt untersucht die Ideengeschichte der Demokratie in der Perspektive eines anderen Erkenntnisinteresses als der von mir vorgeschlagene Ansatz. Ihm geht es im Kern darum, „die Eignung der älteren und neueren Theorien für die Untersuchung moderner Demokratien zu erkunden" (ebd.). Dagegen läßt sich das von mir vorgeschlagene Interpretationsmuster von dem Erkenntnisinteresse leiten, sowohl auf der deskriptiven als auch auf der explikativen Ebene zu rekonstruieren, wie das ursprüngliche, aus der Antike herrührende Verständnis der Demokratie als der Selbstbestimmung des Volkes in einen Begriff der politischen Teilhabe umschlägt, der Demokratie zu einer bloßen Herrschaftstechnik reduziert. 12 Im Gegensatz zu dem hier skizzierten Paradigma einer politischen Ideengeschichte der Demokratie konzentriert sich Waschkuhns Darstellung ausschließlich auf die Ebene der Rekonstruktion der Demokratie, wie sie sich im Denken jener Theoretiker und Philosophen
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Allerdings ist die Leistungsfähigkeit eines solchen Ansatzes einer politischen Ideengeschichte der Demokratie freilich erst dann zu erbringen, wenn er sich durch die diese drei Dimensionen berücksichtigende Erschließung des Quellen- und Literaturmaterials von der attischen Demokratie bis zum Verfassungstyp „westliche Demokratie" am Beginn des 21. Jahrhunderts auch tatsächlich bewährt hat. Ein solches Programm kann selbstverständlich im Rahmen eines Aufsatzes nicht bewältigt werden. Um die Thematik entsprechend einzugrenzen, möchte ich mich im folgenden paradigmatisch auf die philosophisch-reflexive Dimension einer noch zu schreibenden politischen Ideengeschichte der Demokratie beschränken, und zwar am Beispiel der für das republikanische Lager in Deutschland und Österreich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges paradigmatischen Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Max Adler über das Wesen der Demokratie. Erst im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich auf die historisch-politische und die sozio-technologische Dimension des Demokratie-Diskurses eingehen, die in dieser Debatte ebenfalls eine Rolle gespielt haben. II. 1920 veröffentlichte Hans Kelsen im „Archiv für Sozialwissenschaft" seine klassische Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie". 13 Das methodologische Muster, innerhalb dessen er sie zu bestimmen suchte, ist dem Kantschen Dualismus zwischen der Sphäre des „Dinges an sich" und der „Welt der Erscheinung" oder - politologisch gewendet - zwischen der „republica sive demokratia noumenon" und der „republica sive democratia phänomenon" verpflichtet. 14 Der Welt der Normen und der Geltung entspricht die ideelle Seite der Demokratie: Sie bedarstellt, die sich - aus welchen Gründen auch immer - mit ihr auseinandergesetzt haben. Die Arbeit verfolgt den Zweck, „den Studentinnen und Studenten der Sozialwissenschaften einen einführenden Überblick zu verschaffen" und gleichzeitig „politiktheoretischen Ansprüchen" ebenso zu genügen wie „ideengeschichtlich gehaltvoll" (Arno Waschkuhn 1998, S. VII) zu sein. Eine darüber hinausgehende systematische Fragestellung verfolgt Waschkuhn in seiner Überblicksdarstellung nicht. 13 Im folgenden wird zitiert nach dem 2. Neudruck der 2. Auflage Tübingen 1929: Kelsen 1981. Die in runden Klammem stehenden Ziffern im Text bezeichnen die Belegstellen der Zitate. 14 Kant selbst hat im „Streit der Fakultäten" diese Terminologie eingeführt. „Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß, durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon, Hervorhebung von mir, R. S.), ist nicht ein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt, und entfernet allen Krieg. Eine dieser gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon, Hervorhebung von mir, R. S.), und kann nur nach mannigfaltigen Befehdungen mühsam erworben werden; ihre Verfassung aber, wenn sie im großen einmal errungen worden, qualifiziert sich zur besten unter allen, um den Krieg, den Zerstörer alles Guten, entfernt zu halten ( . . . ) " (Kant 1968, S. 364).
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steht aus reinen Sollenssätzen. Ihr steht die „Welt der Erscheinung" in Gestalt der historisch-realsoziologischen Seite der Demokratie gegenüber, die ihren eigenen Kausalitäten folgt. Wie in der Kantschen Transzendentalphilosophie vorgezeichnet, ist nun aber die Sphäre der Normen nicht einfach von der historisch-politischen Welt abgeschnitten. Vielmehr beeinflußt sie, obwohl die Urteile der empirischen Erscheinungswelt auf sie nicht anwendbar sind, die reale Verfassung der Demokratie in dem Sinne, daß diese sich an jene anpassen soll: ein Ziel, das freilich immer nur annäherungsweise erreicht werden kann. Daß Kelsen auf der normativen Ebene seines Demokratiebegriffs 15 an das emanzipatorische Erbe des frühen Bürgertums anknüpft, geht schon aus den ersten Sätzen seiner Schrift hervor. Sie macht deutlich, daß er die Idee der Demokratie von der Freiheit des einzelnen her deutet, die auf individuelle Autonomie und Selbstbestimmung festgelegt ist (3): In der Sphäre der Normen haben wir es mit einem Zustand der vollendeten Herrschaftslosigkeit ursprünglich Freier und Gleicher zu tun. 16 Wie ist er aber mit dem notwendigen Tatbestand sozialer Ordnung in der historisch-sozialen „Welt der Erscheinung", deren Herrschaftsordnung Kelsen als eine unabänderbare Größe einführt, zu verbinden? Es ist bei der Beantwortung dieser Frage für Kelsens Argumentationsstruktur kennzeichnend, daß er jeden Versuch der Vermittlung der individuellen Freiheit in der „idealen Demokratie" mit der Notwendigkeit einer sozialen Ordnung in der „realen Demokratie" ablehnt. Genauso, wie der Dualismus zwischen der „Sphäre des Dinges an sich" und der „Welt der Erscheinung" unaufhebbar ist, muß auch jener Konflikt als unauflösbar gelten, „in dem die Idee der individuellen Freiheit zur Idee einer sozialen Ordnung steht, die ihrem innersten Wesen nach nur in objektiver, d. h. nur in einer, letzten Endes von den Willen des Normunterworfenen unabhängigen Gültigkeit möglich ist" (7). Es ist ja gerade die Pointe seines Ansatzes, daß er zwar das Ideal der individuellen Freiheit als Ausdruck persönlicher Autonomie und Selbstbestimmung anerkennt: Es avanciert gleichsam zum Sollwert einer jeden Demokratie. Aber zugleich betont er, daß dieses Ideal in der sozialen Realität nicht verwirklicht werden kann: Es ist lediglich eine Annäherung möglich. 15
Zu seiner Demokratietheorie sind aus politikwissenschaftlicher Sicht vor allem zwei jüngere Arbeiten zu nennen: Luthardt 1986, S. 149-160 und Lenk 1992, S. 114-125). 16 „In der Idee der Demokratie - und von ihr, nicht von der ihr mehr oder weniger angenäherten politischen W i r k l i c h k e i t soll zunächst die Rede sein - vereinigen sich zwei Postulate unserer praktischen Vernunft, drängen zwei Urinstinkte des geselligen Lebewesens nach Befriedigung. Fürs erste die Reaktion gegen den aus dem gesellschaftlichen Zustande fließenden Zwang, der Protest gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muß, gegen die Qual der Heteronomie. Es ist die Natur selbst, die sich in der Forderung der Freiheit gegen die Gesellschaft aufbäumt. - Die Last fremden Willens, die soziale Ordnung auferlegt, wird um so drückender empfunden, je unmittelbarer im Menschen das primäre Gefühl des eigenen Wertes sich in der Ablehnung jedes Mehrwertes eines anderen äußert, je elementarer gerade dem Herrn, dem Befehlenden gegenüber das Erlebnis des zu Gehorsam Gezwungenen ist: Er ist ein Mensch wie ich, wir sind gleich! Wo ist also sein Recht, mich zu beherrschen? So stellt sich die durchaus negative und tief innerst antiheroische Idee der G1 e i c h h e i t in den Dienst der ebenso negativen Forderung der Freiheit" (Kelsen 1981, S. 3).
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Damit ist übergeleitet zu dem Problem, welche konkreten Mittel zur Verfügung stehen, um die reale Demokratie ihrem eigenen Ideal einer auf individueller Freiheit und Selbstbestimmung beruhenden fiktiven volonté générale, in der alle Spuren von Herrschaft getilgt sind, annähern zu können. Das wichtigste Instrument zur Erreichung dieses Zieles ist nach Kelsen das Mehrheitsprinzip. Er geht bei dessen Begründung von der realistischen Annahme aus, daß der einzelne in eine fertige Staatsordnung hineingeboren wird, an deren Entstehung er selbst nicht beteiligt war. Auf der Tagesordnung stehe für ihn also nur die Frage der Fortbildung oder Abänderung dieser Ordnung. Unter dieser Voraussetzung bedeute allerdings „das Prinzip der absoluten (und nicht das der qualifizierten) Majorität die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit" (9), weil dann möglichst wenige Menschen mit ihrer individuellen Autonomie in Widerspruch zum allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten. Oder anders formuliert: Reale Demokratie liegt dann vor, wenn die Mehrheit der der „staatlichen Ordnung Unterworfenen" an deren Erzeugung beteiligt sind: Wenn schon nicht alle, so folgt dann doch der überwiegende Teil der Bevölkerung nur den Normen, die er sich selbst gegeben hat. Zugleich bedeutet diese Metamorphose des Freiheitsprinzips aber auch, daß die Minorität ihrerseits die Chance haben muß, zur Majorität zu werden: Sie setzt deren Garantie zwingend voraus. 17 Wenn durch den Mehrheitsbeschluß das „Maximum des möglichen Freiheitsweites - Freiheit als Selbstbestimmung vorausgesetzt - erreicht" (55) wird und er so in der „Welt der Erscheinung" als Surrogat der ideellen volonté générale gelten muß, stellt sich die Frage, wie er in der realen Welt zu organisieren ist. Aus dem Fehlen eines a priori erkennbaren Gemeinwillens in der historisch-politischen Welt, der Volk und Volks willen als Einheit umfaßt 18 , zog Kelsen - gemessen an dem Paradigma der herrschenden Staatsrechtslehre der ersten Republiken in 17 Ursprünglich zum Schutz des Individuums gegen die vollziehende Gewalt konzipiert, besteht Kelsen zufolge die wesentliche Funktion der Grund- und Freiheits- oder Menschenund Bürgerrechte darin, daß „nur mit Zustimmung einer - qualifizierten - Minorität, nicht gegen deren Willen, also nur im Einverständnis zwischen Majorität und Minorität" Eingriffe in nationale, religiöse, wirtschaftliche oder algemeine geistige Interessensphären möglich sind (a. a. O., S. 31). 18 Kelsen folgt auch bei der Bestimmung des Volkes dem bekannten transzendentalphilosophischen Schema Kants. Der Idee nach ist das Volk, das sich eine demokratische Staatsund Gesellschaftsordnung gibt, eine zur Einheit geronnene Vielheit von Menschen, die nicht so sehr Objekt als vielmehr Subjekt der Herrschaft sein soll. In der Realität jedoch stellt sich das Volk nicht in einer solchen homogenen volonté générale dar. Tatsächlich ist Kelsen in seiner realsoziologischen Analyse konsequenter Positivist. Überindividuelle Wesenheiten sind für ihn metaphysische Spekulation. Was es real für ihn gibt, ist der politische Wille der im unterschiedlichen Maße zur Aktivbürgerschaft berechtigten einzelnen und der Einfluß organisierter Gruppen. Man müsse sogar noch weitergehen und innerhalb der Aktivbürgerschaft zwischen jenen unterscheiden, „die als urteilslose Menge ohne eigene Meinung dem Einflüsse anderer folgen, und jenen Wenigen, die wirklich durch selbständige Willensentscheidung - der Idee der Demokratie entsprechend - Richtung gebend in das Verfahren der Gemeinschaftswillensbildung eingreifen" (a. a. O., S. 18 f.).
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Deutschland und Österreich - ketzerische Konsequenzen: Das Mehrheitsprinzip sei nur zu organisieren über die Institution der politischen Parteien, die als eines „der bedeutendsten Elemente der realen Demokratie" zu gelten hätten: Es sei offenkundig, daß die isolierten Individuen „politisch überhaupt keine reale Existenz" hätten (20). Sie seien erst dann in der Lage, einen wirklichen Einfluß auf die staatliche Willensbildung zu gewinnen, wenn sie sich „unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen politischen Ziele zu Gemeinschaften integrieren " (20): Als politische Parteien schieben sie sich zwischen das Individuum und den Staat, indem sie die gleichgerichteten Willen der einzelnen zusammenfassen und so durchsetzungsfahig machen.19 Die Parteienfeindlichkeit der konstitutionellen Monarchie, in deren Namen ein unüberwindbarer Gegensatz zwischen der politischen Partei und dem Staat konstruiert wurde, sei nichts anderes gewesen „als eine schlecht verhüllte Feindschaft gegen die Demokratie". Da diese notwendig und unvermeidbar Parteienstaat sei, könne dessen Diskreditierung nur als „ein ideologischer maskierter Stoß gegen die Realisierung der Demokratie" (20) gewertet werden. In der „Welt der Erscheinung" ist Demokratisierung also erst dann möglich, wenn sich die Interessen der isolierten einzelnen zu politischen Parteien integrieren, die erst jene politische Größe hervorbringen, die man einigermaßen als „Volk" bezeichnen kann. Aber die Durchsetzung des Mehrheitsprinzips im Sinne der Minimisierung von Herrschaft und Fremdbestimmung kann neben den politischen Parteien noch auf ein anderes Hilfsmittel zurückgreifen: das Parlament. Zwar seien Demokratie und Parlamentarismus keineswegs identisch. „Allein da für den modernen Staat die unmittelbare Demokratie praktisch unmöglich ist, darf man wohl nicht ernstlich daran zweifeln, daß der Parlamentarismus die einzige reale Form ist, in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann. Darum ist die Entscheidung über den Parlamentarismus zugleich die Entscheidung über die Demokratie" (27). Kelsen beurteilt den Parlamentarismus in der sozio-politischen Realität ausschließlich funktional. Auch ohne Zuhilfenahme des Repräsentationsprinzips könne sein „Wert als spezifisches, sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der staatlichen Ordnung" (32) legitimiert werden. Was sie zu leisten habe, besteht darin, die Freiheit als Selbstbestimmung „mit dem unverzichtbaren Bedürfnis nach Arbeitsteilung, nach sozialer Differenzierung" zu verbinden. 20 19 Erst jetzt sind nach Kelsen die Bedingungen gegeben, daß sich so etwas wie ein „künstlicher" aposteriorischer Gemeinwillen in der „Welt der Erscheinung" herauszubilden vermag, der angesichts der unvermeidlichen Interessengegensätze nichts anderes sein kann „als die Resultante, das Kompromiß zwischen entgegengesetzten Interessen. Erst die Gliederung des Volkes in politische Parteien ermögliche es, „daß sich der Gemeinschaftswille in der Richtung einer mittleren Linie bewege" (a. a. O., S. 22). Dies vorausgesetzt, forderte Kelsen die verfassungsmäßige Anerkennung der politischen Parteien: sie seien auch rechtlich zu dem zu gestalten, „was sie faktisch schon längst sind: zu Organen der staatlichen Willensbildung" (a. a. O., S. 19). 20
So gesehen, stellt sich für Kelsen der Parlamentarismus als ein Kompromiß zwischen der demokratischen Forderung nach Freiheit und dem Grundsatz differenzierender Arbeits-
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Aus dieser Funktionsbestimmung des Parlamentarismus resultieren für die Demokratie zwei Aufgaben. Einerseits läuft das Postulat der Minimisierung von Herrschaft auf eine grundlegende Reform des Parlamentarismus hinaus: Sie reicht von der Einführung des Referendums (38 f.) und der Volksinitiative (39 f.) über die Bindung der Abgeordneten an die politischen Parteien durch das imperative Mandat (40) und die Abschaffung des unzeitgemäßen Privilegs der Immunität der Parlamentsmitglieder (41 f.) bis hin zu der Formulierung, daß „die Regierung nichts als ein Ausschuß des Parlaments" sei und „unter der schärfsten Kontrolle der Opposition, ja der ganzen Öffentlichkeit" (41) stehe. Andererseits macht aber die „Erzeugung der staatlichen Ordnung" eine Reihe von Institutionen erforderlich, die das regulative Prinzip einer Identität von Herrschern und Beherrschten in seiner Wirksamkeit erheblich einschränkten: Sie umfassen nicht nur das Gewaltenteilungsprinzip (83) und das Erfordernis einer effizienten Elitenrekrutierung aus der „Gemeinschaft der Geführten" (84) 21 , sondern auch die Notwendigkeit einer zentralisierten Verwaltung mit autokratischen Elementen (71) sowie die Akzeptanz von Bürokratisierungstendenzen, die im Sinne der Funktionsfähigkeit der Demokratie unvermeidlich sind.
in. Hans Kelsen setzte seine Konzeption ausdrücklich vom Demokratieverständnis eines austromarxistischen Autors wie Max Adler ab. Adler hatte unterschieden zwischen politischer oder formaler Demokratie auf der einen und sozialer Demokratie auf der anderen Seite. Die recht verstandene Demokratie, so seine These, könne nur eine soziale Demokratie sein, weil die politische bzw. formale Demokratie nichts anderes bedeute als eine verschleierte Form der Dikatur der Bourgeoisie über das Proletariat. Diese These wies Kelsen entschieden zurück. Er warf Adler vor, an die Stelle der individuellen Freiheit die Ideologie der sozialen Gerechtigkeit gesetzt zu haben, die auch in einem autokratisch-diktatorischen System wie dem der Sowjetunion verwirklicht werden könne. Es sei darüber hinaus ein „offenbarer Mißbrauch der Terminologie, das Wort Demokratie, das ... eine bestimmte Methode der Erzeugung der sozialen Ordnung darstellt" (94), für deren Inhalt zu gebrauchen.22 teilung modemer Gesellschaften dar, der notwendigerweise die Übertragung staatlicher Funktionen auf Institutionen außerhalb des Volkes bedeutet. 21 Kelsen folgt hier zweifellos Max Weber, der eine der wichtigsten Funktionen der parlamentarischen Demokratie nach englischem Vorbild in der Elitenrekrutierung sah: „Es kommt nur alles darauf an: daß diese überall menschlichen, oft allzu menschlichen, Interessen so wirken, daß dadurch eine Auslese der mit Führerqualitäten begabten Männer wenigstens nicht geradezu verhindert wird. Das aber ist in einer Partei ausschließlich dann möglich, wenn ihren Führern im Falle des Erfolgs die Macht und: die Verantwortung im Staate winkt. Es ist nur dann möglich. Aber es ist damit allein allerdings noch nicht gesichert. - Denn nicht ein redendes, sondern nur ein arbeitendes Parlament kann der Boden sein, auf dem nicht bloß demagogische, sondern echt politische Führerqualitäten wachsen und im Wege der Auslese aufsteigen. Ein arbeitendes Parlament aber ist ein solches, welches die Verwaltung fortlaufend mitarbeitend kontrolliert" (Weber 1988, S. 350).
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Tatsächlich folgen aus M a x A d l e r s 2 3 systematischer Unterscheidung zwischen „politischer" (35 f., 49) und „sozialer Demokratie" (33) Bestimmungen, die i m wesentlichen den Strukturmerkmalen des Demokratieverständnisses Kelsens widersprechen. 24 Zunächst fällt auf, daß sowohl Kelsen als auch Adler die Autonomie zum Ausgangspunkt ihrer demokratietheoretischen Reflexionen wählen. Kelsen faßte sie, wie wir sahen, streng individualistisch: Demokratie war für ihn die maximale Annäherung der einzelnen als isolierte Individuen an das Ideal der Freiheit. Demgegenüber interpretiert Adler die Autonomie nicht vom Individuum, sondern vom Kollektiv her. Für ihn ist Selbstbestimmung nur durch die Einordnung des einzelnen in ein Ganzes möglich, „ w e i l j a das Individuum eben nur als vergesellschaftetes Wesen existiert" (56). Er wirft Kelsen vor, daß er „den Schein des atomischen Individuums für eine Realität (nimmt)" (56) und so das soziologische Wesen der Demokratie verfehle. Dieser Absage an Kelsens individualistischem Demokratieverständnis entspricht Adlers Begriff des „Volkes". Kelsen war zu dem Schluß gekommen, daß es in der empirisch-historischen Welt nur eine Gestalt des Volkes als einer aktiven poli22
Kelsens Anknüpfen an die Tradition des emanzipatorischen Freiheitsbegriffs Rousseaus und des deutschen Idealismus vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß der Geltungsanspruch seines Demokratiebegriffs in der realen „Welt der Erscheinung" in einer entscheidenden Hinsicht reduziert wird. Bekanntlich hatte der klassische Demokratiebegriff als Selbstbestimmung des Volkes immer auch das Eintreten für soziale Gerechtigkeit bedeutet. Sie gab sich nicht, wie bei Kelsen zu lesen ist, damit zufrieden, „den Normunterworfenen ( . . . ) formal gleichen Anteil an der Erzeugung des Gemeinwillens" (Kelsen 1981, S. 93) zuteil werden zu lassen, sondern beabsichtigte auch eine egalitäre Vereilung von Gütern. Diese Unterscheidung verwirft Kelsen, weil Demokratie in erster Linie vom Freiheitswert, nicht von der sozialen Gleichheit bestimmt werde (a. a. O., S. 93 f.). 2 3 Im folgenden zitiere ich nach dieser Edition: Adler 1926. Die in runden Klammern stehenden Ziffern im Text bezeichnen die Belegstellen im Text. 24 Diese Differenz ist bereits in den methodologischen Voraussetzungen beider Ansätze angelegt. Wie wir sahen, wählte Kelsen in Anlehnung an Kants transzendalphilosophischer Unterscheidung zwischen der Sphäre des „Dinges an sich" und der der „Welt der Erscheinung" ein idealistisches Paradigma für seine Demokratietheorie: Die volonté générale ist ein in der Welt der Normen verankertes Postulat der praktischen Vernunft. Auf den Status einer bloßen Denknotwendigkeit festgelegt, wird sie nicht als ein reales Phänomen betrachtet, das aus den materiellen Interaktionsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht. Demgegenüber erklärt Max Adler den normativen Gehalt des Begriffs der Demokratie aus dem Freiheitskampf des frühen Bürgertums im 18. und der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert. Ursprünglich, so Adler, hatte „Demokratie" einen eindeutigen Inhalt: Seit der Antike bezeichnete sie die Herrschaftsform der kleinen Leute, die durch eine soziale Umwälzung zur Autonomie und Selbstbestimmung gelangen wollten. Der Auseinanderfall des Begriffs in eine geschichtliche Tatsache und in eine normative, in die Zukunft gerichtete Dimension sei erst mit dem Sieg des Bürgertums über Absolutismus und Ständegesellschaft in der Französischen Revolution erfolgt. Jetzt zeigte sich nämlich, daß das soziale Elend auch in der realen Demokratie fortdauerte und sich sogar - im Vergleich zur Ständegesellschaft - verschärfte. Die Enttäuschung der kleinen Leute über diese Entwicklung blieb nicht folgenlos: Von der „realen Demokratie" setzte sich auf der semantischen Ebene des Begriffs ein „überschießender" Gehalt ab, der den uneingelösten Hoffnungen der Revolution Ausdruck verlieh. Vgl. Adler 1926, S. 40-48.
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tischen Größe geben könne: als Parteienstaat, der die Individuen überhaupt erst befähige, an der Entstehung der Normen der staatlichen Ordnung zu partizipieren. Diese Konzeption lehnte Adler strikt ab: Für ihn war das „Volk" „nicht das Resultat einer bloßen Summierung von Kräften" (126). Er verstand unter diesem Begriff vielmehr im Sinne Rousseaus „eine Integration, das heißt eine Ineinssetzung und Verschmelzung zahlloser gleichgerichteter Interessen und Kräfte in eine gewaltige Kollektivkraft, in der jeder einzelne sich vertreten, gefördert und gestärkt sieht" (126 f.). 25 Doch die Frage ist, wie in einer sozial homogenen Gesellschaft als der materiellen Basis der sozialen Demokratie die volonté générale zu ermitteln ist, wenn es um die Lösung anstehender politischer und gesellschaftlicher Probleme geht. Unter den Bedingungen eines klassengespaltenen Gemeinwesens hatte Kelsen als das entscheidende Instrument das Mehrheitsprinzip vorgeschlagen. Gegen diese These wendet Adler ein, daß die „soziale Demokratie" keine Herrschaft der einen über die anderen, also auch keine Herrschaft der vielen über die wenigen kenne. Dadurch, daß Freiheit und Gleichheit aller durch die Unterwerfung des eigenen Willens nur unter die Selbstbestimmung, nicht unter die Heteronomie anderer Zwecke garantiert werde, bildeten Demokratie und Ordnung durch Autonomie eine untrennbare Einheit; sie erlangen den Status von Wechselbegriffen. Wo aber Herrschaft aufgehört habe zu existieren, sei nicht der Mehrheitswille, der ja immer noch Unterwerfung fordert, das Prinzip der Demokratie, sondern der Gedanke des Allgemeininteresses, „an dem alle gleich beteiligt ( . . . ) und das alle in gleicher Weise zu schaffen berufen und berechtigt sind" (57). Diese Feststellung bedeutet nun nach Adler keineswegs, daß in der sozialen Demokratie alle Beschlüsse einstimmig sein müssen. Was sich aber verändere, sei die soziale Funktion des Mehrheitsprinzips. Indem nämlich eine „Einheitlichkeit in der Lebenslage und eine Einstimmigkeit in der Interessiertheit am Ganzen" vorausgesetzt werden könne, sei das Mehrheitsprinzip von dem Zwang entlastet, die Minorität in ihrer Existenz oder Entfaltung durch die Majorität zu hemmen. Zur Abstimmung stünden jetzt lediglich „Verwaltungsverfügungen innerhalb der für alle gleich sichergestellten Lebensinteressen und Entwicklungsmöglichkeiten" (58). 26 25 Es handele sich um die große Idee der volonté générale , auf der Rousseau die Demokratie gegründet habe. „Sie allein schafft erst den Begriff eines einheitlichen Volkes, den Begriff einer Staats- und Volksgesamtheit" (a. a. O., S. 127). Zugleich sei sie „aber auch nichts anderes als ein ideeller Ausdruck für eine in ihren Lebensinteressen solidarische, das heißt klassenlose Gesellschaft" (ebd.). 26 Das Mehrheitsprinzip habe nun lediglich über verschiedene Durchführungsarten eines gemeinsamen Interesses zu entscheiden: Es nehme, wie schon Saint-Simon antizipiert habe, den Charakter einer Verwaltung an. Zugleich werde nun der Kritik von Piaton und Sokrates an der Demokratie der Boden entzogen, daß es widersinnig sei, gerade in Staatsangelegenheiten die bloße Majorität entscheiden zu lassen, während man sich sonst in allen anderen Dingen an die besten Fachleute wende. Dieser Widerspruch entfalle in der solidarischen Gesellschaft, weil jetzt infolge eines gemeinsamen Zweckes auch ein gemeinsames Interesse und ein darauf hervorgehendes Verständnis der Abstimmenden vorausgesetzt werden könne. Vgl. Adler 1926, S. 83.
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Max Adler betonte immer wieder, daß die soziale Demokratie nur in einer staatsfreien Gesellschaft möglich sei, für die wegen der fehlenden Klassenkonflikte die Notwendigkeit eines zentralisierten Monopols zur Ausübung physischer Gewalt entfalle. In ihr streift die immer noch notwendige Zwangsordnung ihren Herrschaftscharakter ab: Sie wird nicht nur vereinbar mit der Demokratie, sondern ist deren Resultat, weil sie auf dem gemeinsamen Interesse und dem übereinstimmenden Willen aller beruht (70). 27 Wie soll nun aber mit jenen verfahren werden, die den allgemeinen Willen nicht anerkennen? Für Kelsen hatte dieser Fall konstitutive Bedeutung. Die überstimmte Minorität wurde in ihrer Existenz durch individuelle Grund- und Menschenrechte geschützt, die nur durch qualifizierte Mehrheiten suspendiert werden konnten: Erst so schien ihm die Gefahr gebannt, daß der Majoritätsbeschluß in ein Diktat umschlägt und die Demokratie unter sich begräbt. Für Adler dagegen ist die Abweichung vom Mehrheitswillen von unerheblicher Bedeutung, weil eine solche Widersetzlichkeit in der solidarischen Gesellschaft stets nur ein Ausnahmefall sein könne: Er habe seinen Grund nicht in der Struktur der Gesellschaft, „sondern in einer individuellen Veranlassung" (72), deren Schutz durch vorstaatliche Garantien nicht vorgesehen ist. 28 Diese Entlastung der Exekution von Herrschaft durch staatliche Institutionen ließ Adler notwendigerweise zu einer ganz anderen Einschätzung der Gewaltenteilung und der Struktur der Verwaltung in der Demokratie gelangen als Kelsen. Für Kelsen war das Prinzip der Gewaltenteilung eine unverzichtbare Institution zur Verhinderung unkontrollierter Macht, die die Freiheit der einzelnen und damit den Grundwert der Demokratie gefährdet. Adler dagegen sieht in ihm eine historisch überholte Einrichtung aus der Zeit der Ständegesellschaft, die mit dem Kern seiner Demokratiekonzeption, der volonté générale , unvereinbar erschien. Die Demokratie könne nicht darin bestehen, daß die Gesamtheit der Staatsbürger gleichmäßig zur Gesetzgebung berufen sei, aber auf die Durchführung und Anwendung der Gesetze nicht einen ebensolchen Einfluß habe. Insbesondere die Verwaltung müsse unter die Kontrolle der Demokratie kommen: Sie mache die Ersetzung der „volksgegensätzlichen Bureaukratie in Staat, Bezirk und Gemeinde" (134) zwingend erforderlich. Kelsen hatte eine ganz andere Option vorgeschlagen. Er ließ keine Zweifel daran, daß in einer Demokratie eine zentralistische, ja, autokratische Verwaltung am besten geeignet sei, die aus dem Mehrheitsprinzip fließenden Gesetze in der Realität anzuwenden: Eine entsprechende Bürokratisierung müsse als notwendige Einschränkung des Prinzips der Freiheit in Kauf genommen werden. 29 27 ,3s gibt also keinen Teil, der den anderen beherrscht, es gibt keinen Willen, der dem anderen aufgezwungen würde. Die Ordnung einer solchen Gesellschaft, ihre Gesetze gehen aus der gleich interessierten Beschlußfassung aller hervor und stellen die Selbstbestimmung dieser Gemeinschaft dar. Hier also ist die Zwangsordnung der Gesellschaft nicht eine Herrschaftsordnung, sondern eine Selbstbestimmungsordnung, eine Autonomie" (a. a. O., S. 37). 28 Wer sich, so Adler, außerhalb des Gemeinwillens stellt, ist „nur ein anormaler pathologischer Einzelfall ( . . . ) , der daher keineswegs zur Bildung von Lebensgegensätzen fuhren könnte. Betrachten wir sogar schon heute eine solche Denkweise als eigentlich ins Krankenhaus gehörig" (a. a. O., S. 79).
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Max Adler hat, so kann zusammenfassend festgestellt werden, seine „soziale Demokratie" negativ dadurch definiert, daß er sie von allen Institutionen entblößte, die zur Verhinderung, Kanalisierung oder Auflösung von Konflikten durch Kompromisse in Hans Kelsens „realer Demokratie" eine zentrale Rolle spielen. Kelsen selbst hat Adler auf diesen Sachverhalt kritisch hingewiesen. Auch in einer solidarischen Gesellschaft, so argumentierte er, die den ökonomischen Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr kenne, sei das Herrschaftsproblem keineswegs aus der Welt geschafft. Max Adlers Antwort auf diese Kritik war charakteristisch genug: Der Denkfehler Kelsens bestehe darin, daß er den bürgerlichen Menschen der Gegenwart einfach in die soziale Demokratie der Zukunft projiziere. Ganz anders stellte sich für Adler das anthropologische Problem dar. Für ihn ist der „neue Mensch" 30 der entscheidende Dreh- und Angelpunkt seiner Demokratiekonzeption. Nicht wie das Individuum unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft nun einmal ist, war der Ausgangspunkt seiner demokratietheoretischen Überlegungen, sondern wie er sein wird, wenn sich, vermittelt durch einen mehrere Generationen dauernden Erziehungsprozeß, das „allgemeine Niveau der Gesellschaftsmitglieder an intellektueller und moralischer Bildung gehoben" und sich ein „immer stärkerer Gemeinsinn" (76) entwickelt hat.
IV. Inwiefern enthält nun aber die Debatte zwischen Hans Kelsen und Max Adler die eingangs erwähnte Dimension der historischen Kontroverse und Kämpfe um die Demokratie in ihrem politischen und sozial-ökonomischen Kontext? „Demokratie" bezeichnet bekanntlich von der Antike bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Herrschaftsform der kleinen Leute. Zugleich wurde sie immer auch als direkte Selbstbestimmung des Volkes verstanden, die im Fall ihres Sieges mit durchgreifenden Reformen der gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten der Armen, Handwerker und Bauern verbunden gewesen wäre. Wir haben gesehen, daß Max Adler seine „soziale Demokratie" eben diesem ursprünglichen demo29 Mit der Abschaffung des Staates als einer von der Gesellschaft getrennten Instanz gelangt Adler zu einer gegensätzlichen Folgerung: Die soziale Demokratie werde an die Stelle einer zentralistischen Staatsverwaltung „ein ganzes System von autonomen, aber miteinander verbundenen Selbstverwaltungskörpern" setzen, „die sich nach den verschiedenen Zwecken des Wutschafts- und Kulturlebens organisieren werden" (a. a. O., S. 84, auch S. 134). 30 „Neue Menschen! - Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung, einer Erziehung, die jene neue Gesellschaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet, die sonst in ihrer Vorbereitung durch den ökonomischen Prozeß bloß eine objektive Möglichkeit bleibt" (Adler 1924, S. 66 f.). Und Adler fährt fort; „Wir müssen also Kinder erziehen nicht für die heutige Welt der Lohnarbeit und des Individualinteresses, sondern für die künftige der Gemeinarbeit und Solidarität. Wir müssen in den Seelen der Kinder den Bruch mit der heutigen Welt nicht etwa hervorrufen, sondern stärken. Denn die Ungerechtigkeiten und Widersprüche der kapitalistischen Welt sind dem Kindergemüt aller Klassen, auch der besitzenden, unverständlich" (a. a. O., S. 77 f.).
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kratischen Selbstverständnis zuordnete, das er freilich utopisch überhöhte. Nun hat aber Arthur Rosenberg in seinem bekannten Buch „Demokratie und Sozialismus" 31 gezeigt, daß es in der Revolution von 1848 in Frankreich zu einer folgenschweren Trennung zwischen dieser älteren Demokratie des armen Volkes und der jüngeren liberal-bürgerlichen Demokratie gekommen ist. Er dokumentiert diesen Vorgang an einer Kontroverse zwischen der Zeitschrift der bürgerlichen Republikaner „National" und dem Organ der Vertreter der alten Demokratie „Réforme". Im Verlauf dieser Polemik behauptete der „National", die Vertreter seiner Richtung seien die „wahren" Demokraten, während er die hinter der „Réforme" stehenden Gruppen als „Demagogen" und „Ultrademokraten" kritisierte. Parallel ging mit dieser Hinwendung des Bürgertums zur Demokratie eine wichtige Neudefinition ihres Begriffs einher: Es wurde nicht nur behauptet, daß das allgemeine Wahlrecht das Privateigentum keineswegs notwendig einschränken oder sogar abschaffen müsse, sondern im Gegenteil zu dessen Stabilität beitrage. Darüber hinaus wurde die Demokratie aber auch in dem Sinne „reduziert", daß sie ihren Anspruch auf „Selbstbestimmung des Volkes" verlor. Man deutete sie zu einer bloßen Methode um, die dem Ziel der Erzeugung der Normen der bestehenden staatlichen Ordnung zu dienen hat. Es duldet keinen Zweifel, daß Hans Kelsen als ein Vertreter dieser Richtung gelten muß 32 , auch wenn er seine Herkunft von Rousseau und dem deutschen Idealismus nicht leugnet. Aber auch die zu Beginn meiner Ausführungen genannte sozio-technische Dimension der hier vorgeschlagenen Konzeption einer politischen Ideengeschichte 31 Vgl. Rosenberg 1962, S. 43 ff. 32 Dieser Paradigmenwechsel von der Demokratie als der Selbstbestimmung des Volkes zur Demokratie als eine bloße Herrschaftstechnik setzte, wie Rosenberg zeigen kann, um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit Lamartine ein und erreichte in der Geschichte der Demokratietheorie bei Max Weber seinen ersten Höhepunkt. Weber sah bekanntlich in der parlamentarischen Demokratie nach englischem Vorbild die effizienteste Methode nationaler Machtentfaltung. In dem Maße, wie in und durch das auf dem allgemeinen Wahlrecht und der Konkurrenz politischer Parteien beruhende Parlament fähige politische Führerpersönlichkeiten hervorbringt, die in der Lage sind, ihre Verwaltung zu kontrollieren, reift Max Weber die Bevölkerung eines Landes zu einem ,»Herrenvolk" heran, weil es die Auslese seiner Führer entscheidend mitbestimmt. „Nur Herrenvölker haben den Behuf, in die Speichen der Weltgeschichte einzugreifen. Versuchen das Völker, die diese Qualität nicht besitzen, dann lehnt sich nicht nur der sichere Instinkt der anderen Nationen dagegen auf, sondern sie scheitern an dem Versuch auch innerlich" (Weber 1988, S. 442). Zwar wird diese machtstaatliche Demokratiekonzeption von Kelsen nicht übernommen. Worin er aber Weber zustimmt, ist die Reduktion der auf die Selbstbestimmung des Volkes festgelegte ältere Demokratiebegriff auf eine bloße Methode in der empirisch-historischen „Welt der Erscheinung" zur Hervorbringung staatlicher Herrschaft. Zweifellos hat er damit den Weg für Schumpeters Konzept der „Konkurrenz-Demokratie" geebnet, die heute hegemonial geworden ist. Deren Voraussetzung hat Schumpeter in der klassischen Formulierung zusammengefaßt: „Die Demokratie ist eine politische Methode, das heißt: eine gewisse Art institutioneller Ordnung, um zu politischen - legislativen und administrativen - Entscheidungen zu gelangen, und daher unfähig, selbst ein Ziel zu sein, unabhängig davon, welche Entscheidungen sie unter gegebenen historischen Verhältnissen hervorbringt. Und dies muß der Ausgangspunkt für jeden Versuch einer Definition sein" (Schumpeter 1975, S. 384).
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der Demokratie läßt sich in der Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Max Adler nachweisen. Beide Denker gingen von der Annahme aus, daß die entfaltete Industriegesellschaft Potentiale politischer Partizipation bietet, die eine konstitutionelle Monarchie mit ihren halbfeudalen gesellschaftlichen als Anachronomismus erscheinen läßt. Die durch den Industrialisierungsprozeß aus der Ständestruktur gelösten und zunehmend ihrer eigenen Interessen bewußten Arbeitermassen, so Kelsen und Adler, waren nur in einer auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden Demokratie in das politische System zu integrieren. Doch charakteristisch ist auch, daß beide Denker sehr unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der Modalitäten dieser politischen Teilhabe vertraten. Für Kelsen tritt der Bürger als politische Größe nur einmal in Erscheinung: während des Wahlakts am Ende einer jeden Legislaturperiode. Er beauftragt durch ihn die von den politischen Parteien gestellten Mandatsträger, stellvertretend für ihn selbst die Politik zu gestalten. Zugleich verbindet er mit diesem Auftrag, daß unter den Abgeordneten in ihren Parteien und vor allem im Parlament eine effektive Elitenrekrutierung stattfindet, die die Kompetenz der Regierung und ihre Stabilität verbürgt. Für Adler dagegen war klar, daß die Republik erst dann ihre wahre Identität erlangt hat, wenn in ihr, um mit Otto Bauer zu reden, die Demokratie „zum gewaltigsten Mittel der Selbsterziehung der Massen", zum Mittel „völliger Umwälzung des Verhältnisses der Massen zum Staat" und „zur Weckung der Initiative, der fruchtbarsten Selbstbestätigung der Massen" 33 wird. Doch welchen Geltungsanspruch können diese beiden Konzeptionen heute für sich beanspruchen? Ohne Zweifel muß Kelsen als einer der wichtigsten Vorläufer und Pioniere der parteienstaatlichen Konkurrenz-Demokratie gelten, die heute, zumal nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa, als der hegemoniale Verfassungstyp zu gelten hat. Dieser Triumph darf uns aber nicht die Augen vor bedenklichen Erosionserscheinungen verschließen lassen, die seine legitimatorischen Grundlagen in Frage zu stellen scheinen. Dadurch, daß er die Demokratie zu einer bloßen Methode verkürzt, die sich zunehmend des von Kelsen noch geforderten regulativen Prinzips der individuellen Selbstbestimmung begibt, ist ihre Akzeptanz bei vielen Bürgern alles andere als gesichert. Wenn immer mehr Menschen in der Privatheit und nicht in den demokratischen Institutionen den Ort ihrer Selbstentfaltung sehen und eine zunehmende sozio-kulturelle Fragmentierung den gesellschaftlichen Minimalkonsens untergräbt 34, dann sind Zweifel begründet, ob dieser Verfasssungstypus den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein wird. Die massiven Individualisierungstendenzen in den westlichen Ländern stehen aber erst recht quer zum Geltungsanspruch der sozialen Demokratie Max Adlers, die mit der Utopie einer „solidarischen Gesellschaft" steht und fällt. Zudem setzt sich Adlers Demokratie-Konzept heute ungeschützt dem Totalitarismusverdacht aus. Vom ungedeckten Wechsel auf den „neuen Men33 Bauer 1923, S. 188. 34 Vgl. hierzu die den Stand der neueren Literatur zu diesem Thema reflektierende Arbeit Bermbach 1994, S. 285-300.
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sehen" der Zukunft lebend, fehlt seinem Modell alles, was nach den Erfahrungen der faschistischen und stalinistischen Unrechtsregime zum zivilisatorischen Mindeststandard eines jeden politischen Systems gehört: die Garantie individueller Grund- und Menschenrechte, effiziente Institutionen der Konfliktaustragung sowie der Gewaltenkontrolle und einer transparenten politischen Willensbildung. Der vorliegende Vergleich hat die Grenzen des individualistischen und kollektivistischen Demokratieverständnisses am Beispiel zweier Autoren aufgezeigt, die zu seinen hervorragendsten Vertretern gehören. Die Auseinandersetzung mit den Positionen Kelsens und Adlers verdeutlichte aber auch, daß die Lösung des Problems der zukünftigen Demokratie irgendwo in der Mitte zwischen den Extremen der Garantie individueller Selbstbehauptung und den Ansprüchen einer kollektiven Solidargemeinschaft zu liegen scheint: Sie neu zu bestimmen, wird eine der zentralen Aufgaben der Demokratietheorie des 21. Jahrhunderts sein.
Otto Bauer (1881 -1938): Ein Lebensbild I. Bauers Jugend und sein Verhältnis zum Austromarxismus bis zum Ende des ersten Weltkrieges Am 5. September 1881 in Wien geboren, entstammte Otto Bauer einer jüdischen Fabrikantenfamilie. Sein Vater Philipp Bauer besaß eine Faktorei in Nâchod, Nordböhmen, sowie eine Textilfabrik in Warnsdorf an der sächsischen Grenze. Bauer wuchs unter „schweren familiären Belastungen auf', heißt es in einem neueren biographischen Abriß. „Der Vater, ein kränklich gewordener Lebemann..., und die Mutter, deren nervöse Ordnungsliebe den Haushalt dominierte, zogen ihre beiden Kinder in ein Familiendrama bürgerlicher Dekadenz hinein. Bauers Kindheit und Jugend verweisen auf jenen Raum des fin de siècle, aus dem Freud den Stoff seiner Psychoanalyse geschöpft hat. Ottos ein Jahr jüngere Schwester Ida ist eine der historisch gewordenen Patientinnen Freuds". 1 Bauer scheint es gelungen zu sein, sich aus den familiären Spannungen herauszuhalten, ohne daß es jemals zu einem Bruch gekommen wäre. Geduldig soll er die aus dem Reinlichkeitswahn seiner Mutter folgenden Zumutungen ertragen haben. Den erkrankten Vater pflegte er bis zu seinem Tod, und mit seiner Schwester Ida verbanden ihn ebenso freundschaftliche Kontakte wie mit anderen Verwandten selbst zu einem Zeitpunkt, als er die Brücken zur bürgerlichen Welt längst abgebrochen hatte. Freilich wurden die eher bedrückenden Familienverhältnisse gemildert durch die freigeistige und von materiellen Sorgen entlastete Atmosphäre eines assimilierten jüdischen Elternhauses, in dem sich sehr früh Bauers überragende geistige Fähigkeiten entfalteten. Als Zehnjähriger hat er ein Schauspiel über „Napoleons Ende" verfaßt. 2 Nach seiner gymnasialen Ausbildung in Wien, Meran und Reichenberg, die er als Klassenbester seines Jahrgangs abschloß, studierte Bauer vom Wintersemester 1901 bis zum Wintersemester 1906 an der Wiener Universität Rechtswissenschaften. Die Promotion erfolgte am 26. Januar 1906. Doch den Wunsch seines Vaters, sich auf die Leitung seiner Fabrik vorzubereiten, lehnte er ab. „Ich bin vom wissenschaftlichen Sozialismus her zur Partei gekommen" schrieb er 1910: „Als Marxist wollte und will ich ihr dienen".3 1 Kende 1989, S. 409. 2 Braunthal 1975, S. 4. 3 Bauer 1980, Bd. 1, S. 763.
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Mit dem Marxismus begann sich Bauer, angeregt durch einen in der Verwandtschaft als Sonderling geltenden Onkel, bereits in der Gymnasialzeit auseinanderzusetzen. Daß er sich schließlich der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung anschloß, ist wohl auch durch seine frühen Erfahrungen mit der sozialen Lage der Arbeiter in den väterlichen Fabriken zu erklären. Für Bauers eigenständige Weiterentwicklung des Marxismus wurde entscheidend, daß er seit 1904 in der Wiener Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker in einen Diskussionszusammenhang mit jüngeren Marxisten wie Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Friedrich Adler u. a. eintrat. Diese wissenschaftliche Schule des „Austromarxismus" vor dem ersten Weltkrieg sah Bauer dadurch charakterisiert, daß sie, teils von Immanuel Kant, teils von Ernst Mach herkommend, in der Struktur und Methode des marxistischen Denkens durch die Auseinandersetzung mit der sogenannten Österreichischen Schule der Nationalökonomie geprägt worden ist. Vor allem aber habe sie in der von Nationalitätenkämpfen erschütterten Habsburger Monarchie lernen müssen, „die marxistische Geschichtsauffassung auf komplizierte, aller oberflächlichen, schematischen Anwendung der Marxschen Methode spottende Erscheinungen anzuwenden. So entwickelte sich hier eine engere Geisteswissenschaft innerhalb der Marxschen Schule, die man eben, um sie einerseits von der älteren, vor allem durch Kautsky, Mehring, Cunow vertretenen Marxistengeneration, andererseits von den gleichaltrigen Marxistenschulen der anderen Länder, der russischen vor allem und der holländischen, die sich beide unter wesentlich anderen geistigen Einflüssen entwickelten, zu unterscheiden, die ,Austromarxisten' genannt hat". 4 Bauer selbst hat - im Sinne dieser Option für eine empirieoffene marxistische Forschungsmethode - bereits 1907 sein erstes bahnbrechendes Werk vorgelegt, nämlich die „Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage". Wie sein politischer Weggefährte in der Redaktion der Wiener „Arbeiterzeitung", Otto Leichter, schreibt, ist diese Studie die Voraussetzung für den meteorartigen Aufstieg 5 Bauers als Theoretiker und Praktiker in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) gewesen. Tatsächlich gründete er 1907 zusammen mit Renner und Adolf Braun eine der wichtigsten Theoriezeitschriften des europäischen Sozialismus, „Der Kampf'. Und im selben Jahr sorgte Victor Adler dafür, daß Bauer die einflußreiche Funktion eines Sekretärs des Clubs der sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlament der Habsburger Monarchie übernahm. Als der erste Weltkrieg ausbrach, teilte Bauer die Auffassung jener Sozialisten, die es als ihre Pflicht ansahen, „mit den Waffen in den Händen" das Vaterland „gegen den Einbruch des äußeren Feindes zu schützen".6 Wie ernst Bauer diese Pflicht nahm, zeigt der Umstand, daß er es aufgrund seines persönlichen Einsatzes an der Front bis zum Oberleutnant brachte. Doch geriet er bereits am 23. November 1914 4 A. a.O.,Bd. 8, S. 11 f. 5 Leichter 1970, S. 17. 6 Bauer 1980, Bd. 2, S. 85.
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in russische Kriegsgefangenschaft. „Ich war drei Jahre völlig von der Welt isoliert", berichtete er in seinem Brief an Kautsky vom 28. September 1917 über diese Zeit, „habe über Deutschland sehr wenig, über Österreich überhaupt nichts erfahren können. Erst nach der russischen Revolution konnte ich die Petersburger Parteiblätter beziehen und erst aus ihnen habe ich ein einigermaßen deutliches Bild auch der deutschen und österreichischen Parteiverhältnisse gewonnen".7 Bauer bezog sich in diesem Brief auf seine Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft, die auf Betreiben Victor Adlers durch die Intervention des schwedischen Sozialisten Hjalmar Branting veranlaßt wurde. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in Petersburg kehrte er im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustausches im September 1917 nach Wien zurück. Es steht außer Zweifel, daß der Ausbruch der russischen Revolution, den Bauer in der Kriegsgefangenschaft erlebte, ihn wie kein anderes politisches Ereignis geprägt hat. Er untertrieb eher, wenn er in seinem Brief an Karl und Luise Kautsky vom 6. Oktober 1931 schrieb, er nehme für sich in Anspruch, daß er sich „seit 1917 ständig... bemüht" habe, „die russische Entwicklung so sorgsam und ernsthaft wie möglich zu studieren". 8 In Wirklichkeit gehörte er nicht nur zu den besten Kennern der sowjetischen Verhältnisse in der Zwischenkriegszeit. Noch wichtiger erscheint, daß seine eigene Konzeption des demokratischen Sozialismus und die aus ihr folgende Transformationsstrategie ohne die ständige Auseinandersetzung mit der bolschewistischen Oktoberrevolution und ihren mittel- und langfristigen Folgen für Rußland und die Weltpolitik gar nicht nachvollzogen werden kann.
II. Der Politiker Bauer in der Ersten österreichischen Republik Nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft schloß sich Bauer der sogenannten sozialdemokratischen Linken um Friedrich Adler, Max Adler, Robert Danneberg, Gabriele Proft, Therese Schlesinger u. a. an, die die Burgfriedenspolitik des Parteivorstandes auf der Basis der Zimmerwalder Konferenz bekämpfte. Im Rahmen dieser Gruppe setzte sich Bauer dafür ein, daß nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie die slawischen Völker ihre uneingeschränkte nationale Autonomie erlangen sollten; für Österreich lief diese Option auf den Anschluß an das Deutsche Reich und den Verzicht Italiens auf die Annexion Südtirols hinaus. „Für diese Aufgabe", schreibt Julius Braunthal, „konnte nach Victor Adlers Tod keine bedeutendere Persönlichkeit als Otto Bauer gefunden werden. In ihm hatte sich die Anschlußidee gleichsam verkörpert. Der Staatsrat zögerte darum nicht, ihn (am 21. November 1918) zum Staatssekretär des Äußeren zu wählen".9 7 A. a. O., Bd. 9, S. 1038. s A. a. O., S. 1077. 9 Braunthal 1975a, S. 21.
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Diese Funktion legte Bauer am 26. Juli 1919 nieder, weil er, wie aus seinem Demissionsschreiben hervorgeht, mit seinem Bemühen gescheitert sei, „Italiens Unterstützung für die Vereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich, seinen Schutz gegen die Ansprüche unserer slawischen Nachbarn auf deutsche Gebiete zu erlangen und in freundschaftlicher Auseinandersetzung mit ihm eine für beide Teile annehmbare Lösung der Frage Deutschsüdtirols zu finden". 10 Das zweite wichtige Amt übte er vom 15. März 1919 bis zum 17. Oktober 1919 aus, nachdem er von der konstituierenden Nationalversammlung zum Präsidenten der „Staatskommission für Sozialisierung", „mit dem Rechte und der Verantwortung eines Staatssekretärs" 11, ernannt worden war. Daneben war Bauer, der am 16. Februar 1919 als Vertreter der Wiener Bezirke Innere Stadt, Landstraße und Wieden zum Abgeordneten der Nationalversammlung gewählt wurde, „nicht nur ein guter, sondern auch ein außerordentlich fleißiger Parlamentarier", wie Heinz Fischer bemerkt. „Abgesehen von den mehr als hundertdreißig Reden, die er in der Zeit von 1919 bis 1933 im Plenum des Nationalrates beziehungsweise in der Nationalversammlung gehalten hat, war er intensiv in einer Reihe von parlamentarischen Ausschüssen tätig". 12 Obwohl Bauer nur wenige Monate Außenminister und Vorsitzender der Sozialisierungskommission war und er weder den Vorsitz der SDAPÖ noch den der Fraktion im Nationalrat innehatte, gilt er zu Recht als der unbestrittene Wortführer der SDAPÖ in der Zwischenkriegszeit. 13 Diese Position verdankte er dem Umstand, daß er wie kein anderer Politiker das geistige Profil dieser Partei prägte. Daß aber auch umgekehrt für Bauer „die alte Partei Vaterhaus und Lebensinhalt"14 gewesen ist, trifft für ihn als praktischer Politiker wie auch als Theoretiker zu. Bauer drückte nicht nur durch seine zahlreichen Beiträge der „Arbeiter-Zeitung" und der Theoriezeitschrift „Der Kampf* seinen Stempel auf. Darüber hinaus trug er durch seine Lehrtätigkeit an der Arbeiterhochschule, durch seine zahlreichen Reden auf den Parteitagen und in den verschiedenen Organisationen seiner Partei sowie nicht zuletzt durch seine Funktion als Vertreter der SDAPÖ im Exekutivkomitee und im Büro der Sozialistischen Arbeiter-Internationale entscheidend selbst dazu bei, daß seine politische Linie mehrheitsfähig wurde. Bei diesem Bemühen mag ihm geholfen haben, daß er, wie Kende in seinem Bauer-Essay bemerkt, auf viele seiner Anhänger wie ein Prophet gewirkt hat. Doch von Eitelkeiten frei, distanzierte sich Bauer stets von dieser Rolle. Jedem charismatischen Führerkult abgeneigt, hatte er seinen engsten Freundeskreis in der 10 A. a. O., S. 775. 11 Fischer 1975, S. 734. 12 A. a. O., S. 735. 13 Vgl. Miller 1985, S. 8-19. 14 Bauer 1980, S. 464.
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Redaktion der „Arbeiter-Zeitung". Es ist charakteristisch, daß einer ihrer Journalisten, Otto Leichter, während der Ersten Republik zu seinen schärfsten linken Kritikern gehörte. Vereinfacht formuliert, wird man sagen können, daß Bauers Maxime in der Gestaltung seines Privatlebens darin bestand, dem Ideal des freiheitlichen Sozialismus, wie er ihn verstand, so nahe zu kommen wie möglich. „Mit den jungen Redakteuren und deren Freunden unternahm er Wochenendausflüge, auf denen viel gelacht wurde. Der Freundeskreis um die „Arbeiter-Zeitung" reichte in den Helene Bauers hinein, die eine Studiengemeinschaft junger sozialistischer Intellektueller leitete. Hier verstand man unter Sozialismus auch den Bruch mit den Konventionen des bürgerlichen Alltags. Nicht anders das Ehepaar Bauer. Man weiß von der Geliebten Bauers, die mit einem Redakteur der „Arbeiter-Zeitung" verheiratet war. Man weiß aber auch von dem innigen Verhältnis, das Otto und die mehr als zehn Jahre ältere Helene Bauer verband, die sich gern von jungen Studenten umschwärmen ließ - so wie sie einst von dem jungen Otto Bauer umschwärmt worden war. Aus Helene Bauers Arbeiten läßt sich entnehmen, daß sie dem radikalen politischen Projekt ihres Mannes nicht nur vertraut, sondern kritisch herausfordernd begegnet ist". 1 5 Zugleich war freilich Bauers politische Praxis, den Kurs der SDAPÖ nicht nur durch die Macht des Parteiapparates, sondern durch geistige und moralische Autorität zu bestimmen, schon bei seinen Zeitgenossen nicht unumstritten. Eine der differenziertesten Analysen des Politikers Otto Bauer stammt aus der Feder Wilhelm Ellenbogens, der sich - als Zeitgenosse - gegenüber Bauers intellektueller und wissenschaftlicher Brillanz, seinem Charisma und seinen mitreißenden rhetorischen Fähigkeiten ein kritisches Urteilsvermögen bewahrte. „Er wäre eine der größten Leuchten der Wissenschaft der politischen Ökonomie geworden", schrieb Ellenbogen, „wenn er beim Handwerk des Forschers geblieben wäre". 16 Dagegen stelle der „handelnde Otto Bauer" als praktischer Politiker der Ersten Republik eher ein Problem dar. Bauer habe gefehlt, was einen erfolgreichen Politiker erst ausmache: gelassen abwarten zu können, bis sich eine wirkliche Chance ergibt, eine bestimmte Politik gegen den Widerstand des Gegners durchzusetzen. Statt dessen reagierte er, so Ellenbogen, mit raschen Gegenschlägen, ohne zu erkennen, „daß dieser Gegner sich an solche Blitztaktik bald gewöhnte und aus der gewohnheitsmäßigen Wiederholung bestimmter Kampfmittel die Lehre zur Sammlung von Gegenkräften zog, die nach längerer Vorbereitung ihn stark und überlegen machte".17 Dieser Vorwurf des fehlenden Augenmaßes wurde ergänzt durch die Kritik an Bauers nicht selten arrogantem Umgang mit politischen Opponenten. „Im Grunde seiner Seele ein weicher Mensch", habe es Bauer als Politiker an der Kunst vermissen lassen, „durch gewinnende Manieren und Eingehen auf die Schwäche des 15 Kende 1989, S. 417. »« Ellenbogen 1980, S. 1097. 17 A. a. O. S. 1098.
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Gegners ihn zu Zugeständnissen zu veranlassen. Auch hervorragende Personen der Arbeiterbewegung hat Bauer manchmal zu schroff behandelt; nicht aus Hochmut, nicht aus Mangel an Erziehung, sondern weil sein Erfolgswille mit ihm durchging und er im Unterbewußtsein die Gründlichkeit seiner Überlegung durch die Unausgegorenheit des Einwurfs gehemmt fühlte". 18 Daß Bauer nicht nur bei bürgerlichen Politikern, sondern auch bei sozialistischen Intellektuellen und Akademikern den „Eindruck des Hochmuts" 19 , wie Bruno Kreisky es formulierte, hinterließ, ist von vielen Zeitzeugen bestätigt worden. Aber diese Schwäche wurde doch - wenigstens zum Teil - dadurch korrigiert, daß sein Umgang mit Arbeitern und Angestellten ungezwungen und herzlich war. Auch betrachtete er den politischen Kontrahenten niemals als Feind, sondern immer nur als Gegner. Der zweite Vorwurf, den Ellenbogen gegen den Politiker Bauer erhob, zielte auf dessen mangelnde Härte und Durchsetzungskraft in Entscheidungssituationen ab, in denen es auf Leben und Tod ging. Zwar habe er unermüdlich die Machtübernahme der Arbeiterbewegung vorbereitet. Doch in dem Maße, wie am Ende der Republik der Entscheidungskampf herannahte, wirkte sich, so Ellenbogen, Bauers Verantwortungsgefühl gegenüber den zu opfernden Menschenleben geradezu paralysierend auf die österreichische Sozialdemokratie aus.20 Es ist sicherlich richtig, daß Otto Bauer kein Lenin war. Noch am 11. März 1933, als die SDAPÖ längst mit dem Rücken zur Wand stand, rief er auf dem Schwarzenbergplatz in Wien den Demonstranten zu, „daß, wenn es zum Entscheidungskampf kommt, Opfer fallen würden, die wir vor den Müttern dieses Landes nur verantworten können, nachdem wir vorher alles getan haben, was eine friedliche Lösung auf dem Boden der Volksfreiheit möglich macht". 21 Bauer lag es mit Victor Adler fern, in der Arbeiterklasse „lediglich ein Werkzeug zur Verwirklichung ihres Ideals" 22 zu sehen. Eine entscheidende Prämisse nicht nur seiner und Adlers, sondern der Politik des demokratischen Sozialismus insgesamt bestand ihm zufolge darin, weder sich noch anderen zu erlauben, daß man sich „mit einer geschichtlichen Konstruktion" oder „mit einer wissenschaftlichen Abstraktion" von der Pflicht entbindet, „die konkreten individuellen Menschen, die konkreten individuellen Aufgaben des Tages, die konkreten individuellen Umstände des Orts und der Zeit ins Auge zu fassen". 23 Victor Adlers „harte Zucht", auf die sich Bauer berief, „in keinen Kampf zu gehen, ohne die Möglichkeit des Erfolges mit unbestechlicher Gewissenhaftigkeit zu 18 A.a.O.,S. 1101. 19 Kreisky 1975, S. 20. 20 Ellenbogen 1980, S. 1101 f. 21 Bauer 1980, Bd. 6, S. 576. 22 A. a. O., Bd. 7, S. 702. 23 A. a. O., S. 703.
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prüfen und die Möglichkeit des Rückzuges im voraus gewissenhaft zu erwägen" 24 , entsprach Bauers Rolle als wissenschaftlicher Vordenker der SDAPÖ. Es gibt kein relevantes Politikfeld der Ersten Republik, für das er nicht durch bahnbrechende Studien die wissenschaftlichen Fundamente legte. In seiner ersten großen Untersuchung aus dem Jahr 1907 „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie" kam es ihm darauf an, die Nationalitätenpolitik der SDAPÖ in der Habsburger Monarchie „aus der Stellung der Arbeiterklasse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft" und „die nationale Frage als soziales Problem zu begreifen". 25 In seiner 1919 erschienenen Schrift „Der Weg zum Sozialismus" entwickelte er die von der SDAPÖ geschlossen vertretene Sozialisierungskonzeption. Die Arbeit „Bolschewismus oder Sozialdemokratie", 1920 publiziert, wurde für die Partei in zweierlei Hinsicht wichtig: Einerseits kritisiert sie, ohne die prinzipielle Solidarität mit der russischen Revolution aufzukündigen, die Übertragung des bolschewistischen Transformationsmusters auf die mitteleuropäischen Verhältnisse. Andererseits enthält sie eine demokratietheoretische Begründung des defensiven Gewaltbegriffs, wie er später vom Linzer Programm übernommen worden ist. Bauers historisches Meisterwerk von 1923 „Die österreichische Revolution" stellt eine differenzierte Analyse der Ursachen und Ergebnisse des Zusammenbruchs der Habsburger Monarchie sowie der wichtigsten Entwicklungen in den ersten Jahren der Republik dar. Zugleich begründete diese Studie die sozialdemokratische Weichenstellung in der Koalitionspolitik, der sich - trotz aller verbalen Opposition - faktisch auch Karl Renner unterordnete. Die bedeutende agrarhistorische Studie von 1925 „Der Kampf um Wald und Weide" analysiert die historischen und sozialökonomischen Voraussetzungen des Agrarprogramms der SDAPÖ von 1925. Es ist ebenso wie das Linzer Programm von 1926 entscheidend von Bauer gestaltet worden. In „Rationalisierung - Fehlrationalisierung", 1931 erschienen, ging es Bauer um eine marxistische Deutung der Weltwirtschaftskrise. Die praktische Stoßrichtung dieser Untersuchung zielte darauf ab, zur politischen Orientierung der SDAPÖ angesichts der größten Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft und des gleichzeitig erstarkenden Faschismus auf der einen sowie der Industrialisierung und der Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion auf der anderen Seite beizutragen. Die beiden großen Bücher, die während der Emigration vom Februar 1934 bis zu Bauers Tod entstanden, sind der Arbeit der in der Illegalität operierenden Revolutionären Sozialisten in Österreich gewidmet. Zwar handelt die 1936 erschienene Untersuchung „Zwischen den Weltkriegen" von den Problemen des internationalen Sozialismus nach dem Sieg des Faschismus in Deutschland. Doch ohne Zweifel sollte die in diesem Werk entwickelte Theorie des integralen Sozialismus der Koordinierung sozialdemokratischer und kommunistischer Widerstandsgruppen unter 24 Ebd. 25 A.a.O., Bd. 1, S. 49.
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den Bedingungen des Austrofaschismus dienen. Diese Absicht verfolgte Bauer auch in seiner aus dem Nachlaß herausgegebenen Schrift „Die illegale Partei", die 1939 in Paris verlegt wurde. Ihr liegt die These zugrunde, daß nach ihrer Zerschlagung durch den Faschismus die alte Sozialdemokratie nicht unverändert wiedererstehen kann. Die aus dieser Einsicht folgenden Organisations- und Orientierungsprobleme im historischen und internationalen Kontext zu untersuchen, war das Ziel seiner Arbeit. III. Sozialismus bei Bauer Bauers Politikkonzeption wird in der Regel mit dem Begriff „Zentrismus" umschrieben. Doch was ist unter der Formel eines ,»Dritten Weges", die aus ihm folgt, zu verstehen? Eine befriedigende Antwort ist nur möglich, wenn wir uns dem Sozialismus-Begriff Bauers und der ihm zugrundeliegenden Transformationsstrategie zuwenden. In Bauers Sozialisierungskonzeption von 1919 können wir unschwer die von ihm angestrebte integrale Einheit von individueller und kollektiver Vernunft in der sozialistischen Wirtschaft wiedererkennen. Bauer bestand nämlich darauf, daß das ökonomische System des Sozialismus nicht mit dessen „Verstaatlichung" gleichgesetzt werden dürfe. Der Staat eigne sich nicht zum Unternehmer, da angesichts der Herausbildung bürokratischer Strukturen ein effizientes Wirtschaften unmöglich sei. Zugleich lehnte Bauer aber auch, charakteristisch genug, eine völlig „staatsfreie Ökonomie" ab. Der Staat erschien ihm als Garant des Allgemeininteresses im Wirtschaftsprozeß unverzichtbar angesichts möglicher syndikalistischer Betriebsegoismen. Das Organisationsmodell, innerhalb dessen er die Vermittlung zwischen den individuellen wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter in ihren Betrieben und denen der Gesamtwirtschaft anstrebte, war nach seinen eigenen Aussagen angeregt worden durch den englischen Gildensozialismus und die ursprünglichen Organisationsversuche der Bolschewiki, wie sie der Kongreß der Volkswirtschaftsräte im Mai 1918 formuliert hatte. Beiden Ansätzen sei es darauf angekommen, „die Verwaltung der sozialisierten Industrie auf die Kooperation zwischen dem Staat - als des Vertreters der Gesamtheit - und der Gewerkschaft als der Vertreterin der Sonderinteressen der in dem sozialisierten Industriezweig tätigen Arbeiter und Angestellten" zu gründen. Allerdings schaltete Bauers Organisationsplan in diese Kooperation „als ein drittes, gleichberechtigtes Glied die Organisation der Konsumenten ein". 2 6 Die Vergesellschaftung des land- und forstwirtschaftlichen Großgrundbesitzes sah als Lenkungsgremien analoge Verwaltungsräte vor. Dagegen sollte das bäuerliche Arbeitseigentum erhalten und durch genossenschaftliche Regelungen gefördert werden. Diesem Modell des industrial self-government, das in der Sicht Bauers ganz von der „Selbsttätigkeit und Selbsterziehung der Masse" lebte 27 , entsprach seine Kon26 A. a. O., Bd. 2, S. 712. 27 A. a. O., S. 357.
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zeption der sozialistischen Demokratie. Vieles spricht dafür, daß er deren teilweise Antizipation in der Art des Regierens in Österreich während der ersten Monate nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie sah. Die Synthese der individuellen Freiheitsrechte der in den Organisationen tätigen einzelnen und dem Staat als dem Repräsentanten der kollektiven Interessen aller habe darin bestanden, daß der Staat seine von der Gesellschaft abgehobene „Universalität" verlor: Selber nur eine Organisation unter vielen, sei er lediglich noch das Ergebnis des Kräftespiels der in den Parteien und Verbänden sich entfaltenden einzelnen gewesen. Das Charakteristische dieser Regierungsform sah Bauer darin, daß sie auf jegliche Gewalt zur Durchsetzung ihres Willens verzichtete: In dem Maße, wie sie zum Vollzugsorgan der gesellschaftlichen Organisationen wurde, fungierten diese ihrerseits als die Organe, mit deren Hilfe die Regierung herrschte. Dieser Mechanismus, so Bauer, bedeutete keineswegs einen prinzipiellen Bruch mit dem Parteienstaat der parlamentarischen Demokratie. Ausdrücklich betonte er, daß von einer sozialistischen Demokratie erst dann die Rede sein könne, wenn eigenständige politische Parteien in gleichen, freien und geheimen Wahlen unter den Bedingungen uneingeschränkter Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit um das Vertrauen des Volkes werben können. Zwar entkleide der Sozialismus die Parteien ihres Klassencharakters und ihrer Klassenfunktionen, „aber die Freiheit der Bildung von Gemeinschaften, die ihre Auffassung über gesellschaftliche Fragen innerhalb der Volksgemeinschaft durchzusetzen versuchen, die Freiheit der Parteibildung also, wird auch in einer sozialistischen Gesellschaft bleiben". 28 Freilich sah Bauer die Vollendung des Sozialismus nicht in der wirtschaftlichen und politischen Partizipation der Massen, sondern in ihrer kulturellen Selbstentfaltung. Auf dieses Ziel ist der im politischen und wirtschaftlichen System stets erneut anzustrebende Ausgleich zwischen den organisierten partikularen und den kollektiven Interessen des Ganzen von Anfang an bezogen. Wenn die bisherige Kulturgeschichte mit der Geschichte der besitzenden Klassen gleichgesetzt werden müsse, so legte er schon 1907 dar, so bedeute der Sozialismus insofern eine gravierende Zäsur, als in seinem Rahmen zum ersten Mal in der Geschichte die Kultur von den Massen erobert werde. Allerdings setzte er diesen Prozeß nicht mit der revolutionären Zerstörung der kulturellen Errungenschaften der vorsozialistischen Gesellschaftsformationen gleich. Vielmehr werde, „was je Menschen erdacht und ersonnen, gedichtet und gesungen haben, nun zum Erbe der Massen".29 Marx und Engels hatten im Kommunistischen Manifest angenommen, daß die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie verschwänden. Demgegenüber vertrat Bauer die These, daß in dem Maße, wie die arbeitenden Schichten selber zu Kulturträgern und -genießern werden, sich eine steigende Differenzierung der nationalen Kulturen durchsetzt. 28 A. a. O., Bd. 9, S. 973. 29 A.a.O.,Bd. 1,S. 164.
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IV. Die Transformationsstrategie Wie ist aber das Ziel der allseitig in ihren kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten entwickelten Persönlichkeiten in der Sicht Bauers zu erreichen? Wie stellte er sich die Transformation vom Kapitalismus zum Sozialismus, von der sozialen Herrschaft der Kapitaleigner im Betrieb zum industrial self-government, vom bloßen parlamentarischen System zur sozialistischen Demokratie, von der Kunst für eine kleine Elite zur emanzipatorischen Massenkultur vor? Mit diesen Fragen konfrontiert, ist Otto Bauer die „historische Notwendigkeit" der weltgeschichtlichen Entwicklung im Sinne der Triade: „Feudalismus - Kapitalismus Sozialismus" selbst nach dem Sieg des deutschen Faschismus und der Zerschlagung der österreichischen Arbeiterbewegung im Februar 1934 nicht zum Problem geworden. Die geschichtsmächtige Teleologie linkshegelianischer Provenienz hatte ihm zufolge eine subjektive und eine objektive Seite. Die objektive Dimension bestand darin, daß durch „die Konzentration des Kapitals, die Zusammenballung der Arbeitsmittel unter dem Kommando verhältnismäßig weniger Unternehmungen die Möglichkeit der Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum vom Kapitalismus selbst geschaffen" wird. 30 Ihre subjektive Seite äußere sich in der Entwicklung des Proletariats vom „willenlosen Werkzeug in der Hand des Fabrikherren" zur „allseitig entwickelten Persönlichkeit". 31 Der welthistorische Sinn dieser Entwicklung erhelle daraus, daß „die Arbeiterklasse zu immer neuen, immer höheren Formen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens aufsteigen (müsse), bis schließlich die sozialistische Gesellschaft verwirklicht ist". 3 2 Freilich wird dieses linkshegelianische Fortschrittsszenario von Bauer in höchst origineller Weise „operationalisiert". Ich möchte fünf Aspekte hervorheben: 1. Bereits 1913 betonte Bauer, daß der Kapitalismus nicht „an der mechanischen Unmöglichkeit, den Mehrwert zu realisieren, scheitern" werde. Vielmehr werde er „der Empörung erliegen, zu der er die Volksmassen treibt". 33 Tatsächlich hat kein Marxist der Sozialistischen Internationale vor und nach dem ersten Weltkrieg die Bedeutung des „subjektiven Faktors" beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus so stark betont wie Bauer. Einerseits galt es, die Einheit der Arbeiterklasse auf nationaler und internationaler Ebene unter allen Umständen zu wahren oder doch zumindest in Gestalt des „integralen Sozialismus" die übergeordneten Ziele der sozialdemokratischen und kommunistischen Weltbewegung zu betonen. Andererseits kam es für die Arbeiterparteien darauf an, durch systematische Erziehungs- und Aufklärungsarbeit die geistige Reife der 30 A. a. O., S. 156 f.
31 A. a. O., Bd. 2, S. 742. 32 A. a. O., S. 866. 33 A. a. O., Bd. 7, S. 1040.
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Arbeiterschaft so voranzutreiben, daß sie ihrer „historischen Mission" gewachsen sein würde. 2. Bauer lehnte - zumindest bis 1931 - eine sozialistische Politik im Namen eines antizipierten Willens der Arbeiterklasse, wie es Lenins Avantgarde-Prinzip forderte, grundsätzlich ab. Die innere Stabilität und die volle Entfaltung des Sozialismus sei nämlich erst dann erreicht, wenn im Rahmen der Demokratie die sozialen Machtfaktoren der Arbeiterschaft (Zahl der Klassenangehörigen, Art, Stärke, Leistungsfähigkeit ihrer Organisationen, Stellung im Produktions- und Verteilungsprozeß, wirtschaftliche Machtmittel, Höhe der Bildung, Stärke des politischen Interesses, Opferbereitschaft, Anziehungskraft ihrer Ideologie etc.) so dominieren, daß sie zur unbestrittenen geistig-politischen Hegemonie der Gesamtgesellschaft werden. Umgekehrt sei die „Riesenaufgabe", die der Sozialismus stelle, nicht von einem Proletariat zu bewältigen, „das geistig nicht einmal reif genug ist, sich von kapitalistischen Zeitungen und kapitalistischer Wahlweise nicht beeinflussen zu lassen".34 3. 1919 warf Bauer den Bolschewiki vor, sie strebten die Konfiskation des Mehrwertes an, auch wenn sie dies nur in einem ständigen, die Produktion vernichtenden Bürgerkrieg erreichen könnten. Demgegenüber hielt er es mit Kautsky für notwendig, die Sozialisierung in den fortgeschrittenen Ländern des Westens in einer Weise durchzuführen, „daß sie die Produktion nicht stört, sondern steigert". 35 Gleichzeitig rechnete er mit einer ausgedehnten Periode einer „gemischten Ökonomie" während der Übergangsphase. Der Sozialismus siege nur dann, „wenn die Erfahrung selbst zeigen wird, daß die vergesellschafteten Betriebe besser und billiger produzieren und dabei die Arbeiter und Angestellten besser stellen können als die kapitalistischen Betriebe". 36 Allerdings wußte Bauer, daß dieser Gradualismus in dem Maße, wie er sich dem sozialistischen Ziel näherte, auf den entschiedenen Widerstand des bürgerlichen Lagers stoßen werde; jenes sei versucht, mit der diktatorischen Gewalt des Faschismus die politische Grundlage der Transformation, die Demokratie, zu zerstören. In diesem Fall wird, wie es das Linzer Programm von 1926 kodifizierte, entweder die Mehrheit oder eine starke Minderheit des Proletariats im Parlament ihrerseits diktatorische Machtmittel beanspruchen. Doch sei diese Diktatur nicht gegen die Demokratie gerichtet; sie diene vielmehr ihrer Wiederherstellung, um dem Sozialismus optimale Entfaltungsmöglichkeiten zu sichern. 4. Bauers geschichtsphilosophische Prämisse eines „notwendigen" Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus hat ihn nie daran gehindert, nüchtern und illusionslos die Handlungsspielräume der Arbeiterschaft in den verschiedenen Ländern zu analysieren. Soweit ich sehe, gibt es nach dem ersten Weltkrieg keinen 34 A. a. O., Bd. 2, S. 349. 35 A. a. O., Bd. 8, S. 1004. 36 A. a. O., Bd. 5, S. 420.
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Marxisten, der das Instrumentarium einer materialistischen Restriktionsanalyse so virtuos und überzeugend handhabte wie er. Die Rahmenbedingungen sozialistischer Politik untersuchte er in doppelter Perspektive: Ausgehend von dem analytischen Muster des „Gleichgewichts der Klassenkämpfe", das sein Vorbild in der Marxschen Untersuchung der 48er Revolution in Frankreich hat, konzentrierte er sich auf die restriktiven Rahmenbedingungen, die der Arbeiterbewegung im Spannungsfeld der klassenkämpferischen Auseinandersetzungen „extern" vorgegeben sind. Bauer wies auf zwei Möglichkeiten hin: Das Klassengleichgewicht kann entweder zu einer Teilung der Staatsgewalt zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen Lager führen wie in Österreich zwischen dem November 1918 und dem Sommer 1919. Oder aber es führt zur Herausbildung einer „verselbständigten Exekutive" wie in Italien, die sich in Gestalt des Bonapartismus oder Faschismus sowohl die Parteien und Organisationen des Bürgertums als auch der sozialistischen Arbeiterschaft unterwirft. Nicht ganz so eindeutig beantwortete er die Frage nach den Bedingungen der „Veränderung" des Klassengleichgewichts zugunsten der Arbeiterschaft. Auf der einen Seite betonte er den Zwang der zunehmenden Anpassung des politisch-institutionellen „Überbaus" an die Interessenlage der bürgerlichen Schichten, nachdem es der Arbeiterklasse in der Revolution nicht gelungen war, die kapitalistische Produktionsweise abzuschaffen. Auf der anderen Seite interpretierte er aber auch die Ursachen für die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen als Resultat „politischer" Auseinandersetzungen: Als eine politische Machtfrage wird sie bestimmt durch den Ausgang der Wahlen, durch Konflikte innerhalb des bürgerlichen Lagers, durch die politische Orientierung der Armee, durch bewußtseinsmäßige Faktoren der Arbeiterklasse, die Entwicklung ihrer Organisationen etc. 5. Bauers Restriktionsanalysen begründeten zugleich seine Skepsis gegenüber einem universalistischen Transformationsmodell. Er ging in der Betonung der unterschiedlichen kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des Übergangs zum Sozialismus in den einzelnen Ländern so weit, daß er ab 1931, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung der Sowjetunion vor Augen, selbst der stalinistischen Diktatur konzedierte, sie schaffe die Fundamente des Sozialismus. Freilich ließ er keinen Zweifel daran, daß dessen Entfaltung und Vollendung erst im Rahmen einer uneingeschränkten Demokratie möglich sei, die ein sozialistisches Mehrparteiensystem ebenso einschließt wie institutionell abgesicherte vorstaatliche Individualrechte. Bauers Transformationskonzept, so kann zusammenfassend festgestellt werden, steht und fällt mit der Annahme, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse ihr eigenes Werk ist. Diese Aufgabe kann ihr weder eine selbsternannte Avantgarde noch eine anonyme „historische Notwendigkeit" abnehmen.
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V. Tod im Exil Bauer ist im Februar 1934 nach der Niederlage des bewaffneten Aufstandes von Teilen des Republikanischen Schutzbundes, den er zusammen mit Julius Deutsch leitete, ins Brünner Exil geflohen. In seiner Schrift „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter" hat er unmittelbar nach der Zerschlagung der österreichischen Arbeiterbewegung selbstkritisch die Fehler seiner Politik benannt, aber auch die externen, von der Führung der SDAPÖ nicht zu verantwortenden Rahmenbedingungen, die zu dieser Katastrophe führten. Bauer widmete seine Arbeit im Exil vor allem zwei Aufgaben: Einerseits stellte er sich ganz in den Dienst der illegalen Partei, die sich nun Revolutionäre Sozialisten nannte. Durch die Fortführung der Theoriezeitschrift „Der Kampf 4 und der „Arbeiter-Zeitung" trug er erheblich dazu bei, daß die sozialdemokratische Identität auch unter den Bedingungen des Austrofaschismus durchzuhalten vermochte. Obwohl, wie die Aufzeichnungen Joseph Buttingers zeigen, die politische Linie der Auslandsleitung unter ihm und Friedrich Adler gravierende Unterschiede zu den illegalen Genossen in der Einschätzung des Faschismus und der Möglichkeiten des Widerstandes gegen ihn erkennen lassen, war der Einfluß, den Bauer auf sie nach wie vor ausübte, beträchtlich. Andererseits versuchte Bauer als hochangesehenes Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Internationale eine wirksame Konzeption des antifaschistischen Kampfes dadurch zu erarbeiten, daß er die theoretischen Fundamente für die erneuerte Einheit des gespaltenen internationalen proletarischen Sozialismus legte, ohne die grundlegenden Differenzen zwischen dem kommunistischen und dem sozialdemokratischen Lager zu verwischen. „Aber der integrale Sozialismus", schrieb er 1936, „der die beiden großen Arbeiterbewegungen in sich aufnehmen soll, kann den Gegensatz zwischen reformistischer Arbeiterbewegung und revolutionärem Sozialismus, der in den Daseinsbedingungen der Arbeiterklasse liegt, nicht aufheben. Er kann nur und er muß den revolutionären Sozialismus in ein anderes Verhältnis zur reformistischen Arbeiterbewegung, die reformistische Arbeiterbewegung in ein anderes Verhältnis zum revolutionären Sozialismus setzen als in den polaren Gegensatz".37 Wie seine Korrespondenz aus dieser Zeit zeigt, versuchte Bauer mit aller Kraft, angesichts des erstarkenden Faschismus eine Annäherung dieser beiden Linien des marxistischen Sozialismus herbeizuführen. Daß er dabei - trotz aller Vorbehalte große Hoffnungen auf die stalinistische Sowjetunion als das entscheidende Bollwerk gegen den Faschismus setzte, kann hier nur angedeutet werden. Gezwungen, das Brünner Exil und damit die unmittelbare Nachbarschaft zu Wien nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich aufzugeben, verlegte Bauer das Auslandsbüro im April 1938 nach Paris. Der authentischste Bericht 37 A. a. O., Bd. 4, S. 302.
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über Bauers letzte Monate stammt von Otto Leichter, mit dem er in der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung" eng zusammengearbeitet hatte. Bauer habe sich, so berichtete er, vor allem nach dem „Anschluß" Österreichs an das Deutsche Reich um das Schicksal seiner zurückgebliebenen Freunde gekümmert. Noch Stunden vor seinem Tod organisierte er eine Juristenkonferenz der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, an der auch deren Sekretär Friedrich Adler teilnahm. Sie sollte die Weltöffentlichkeit zum Protest gegen die Verfolgung von Juden und antinazistischen Oppositionellen in Österreich aufrufen. Auch lastete das Schicksal seines Freundes Robert Danneberg, der in Dachau umkam, wie ein Alpdruck auf Bauer. „Daß Bauer den Freund, der schon in seiner Nähe gewesen war, nicht hatte retten können, quälte ihn bis in seine letzten Stunden", erinnerte sich Leichter. Noch acht Stunden vor seinem Tod habe Bauer ihn aufgesucht, um mit ihm über Leichters Frau Käthe zu sprechen, die von den Nationalsozialisten verhaftet worden war. „Freundschaft und Wärme - das ist die Erinnerung an meine letzte Begegnung mit Otto Bauer". 38 Bauer starb am 5. Juli 1938 in einem bescheidenen Pariser Hotel an einem Herzinfarkt. Wie auch immer dessen Ursachen medizinisch zu bewerten sein mögen: Der Deutung Otto Leichters ist in der Literatur bisher nicht überzeugend widersprochen worden, „daß Bauer im wahrsten und traurigsten Sinn des Worts an gebrochenem Herzen starb". Dies sei für jeden klar gewesen, „der die letzten Monate seines Lebens mit ihm verbringen konnte". 39 Bittere Ahnungen und eine bei seiner Selbstkontrolle ungewöhnliche Traurigkeit hätten ihn in seinen letzten Tagen erfüllt. Ist diese „psychische Depression" 40 Ausfluß eines gescheiterten Lebenswerkes? Die Antwort auf diese Frage hängt von den politischen Prämissen dessen ab, der sie stellt. Gewiß, Bauers politische Konzeption hat den Sieg des Faschismus nicht zu verhindern vermocht, auch wenn es mit ihr - im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie - gelang, die Einheit der österreichischen Arbeiterbewegung zu wahren. Auch hat er sicherlich aus seinem Scheitern 1936 im Exil die falsche Folgerung gezogen, der Sieg des Faschismus zerstört die „Illusion" des reformistischen Sozialismus, daß die Arbeiterklasse friedlich und allmählich, durch bloße Ausnutzung der demokratischen Institutionen, ohne revolutionären Sprung die Formen der Demokratie mit sozialistischem Inhalt erfüllen, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu einer sozialistischen entwickeln könne.41 Seine revolutionäre Option mag angesichts der katastrophalsten Niederlage der Arbeiterbewegung in ihrer Geschichte subjektiv verständlich sein; sie fällt indes hinter seine eigenen Einsichten zurück. 38 Leichter 1970, S. 21. 39 A. a. O., S. 14. 40 A. a. O., S. 15. 41 Bauer 1980, Bd. 4, S. 200.
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Aber andererseits trug seine politische Konzeption entscheidend dazu bei, daß zum ersten Mal in Europa in Österreich dem Faschismus bewaffneter Widerstand geleistet wurde. Diese Tat hat die österreichische Sozialdemokratie nach dem zweiten Weltkrieg zu einem zentralen Pfeiler der Zweiten Republik werden lassen. Noch wichtiger aber erscheint mir, daß der Kern Bauerscher Theorie und Praxis, wenn auch unter veränderten Rahmenbedingungen, unveränderte Aktualität besitzt. Bauer hat nämlich, wie deutlich geworden sein dürfte, Individualität und Kollektivität nicht als Gegensätze, sondern als Einheit gesehen. Wer als Sozialist die Kollektivität so versteht, daß ihr rücksichtslos die Individualität der einzelnen geopfert wird, der landet beim Stalinismus. Wer umgekehrt die Individualität so begreift, daß sie zum ausschließenden Gegensatz zur Kollektivität wird, setzt sich im Grunde genommen für die Entfaltung einer kleinen Elite auf Kosten der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung ein. Demgegenüber hat Otto Bauer klar gesehen, daß eine humane Individualität nur dann möglich ist, wenn sie zur Lebensperspektive aller wird. Freiräume aber, in denen ein solcher Anspruch verwirklicht werden kann, entstehen nur unter der Bedingung, daß sie durch solidarische Anstrengung aller Betroffenen erkämpft werden. Otto Bauers Leben und Werk sind geeignet, uns nachdrücklich an diese Lehre aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zu erinnern. 42
42 Anmerkung: Diesem Aufsatz liegt mein Artikel „Otto Bauer (1881 -1938)" in: Euchner 1991, S. 166-180, zugrunde. Die Überarbeitung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Verlages C. H. Beck.
Zwanzig Jahre danach: .Faschismustheorien" und ihre Kritiker Vorwort zur Neuauflage Das vorliegende, 1976 in erster Auflage erschienene Buch „Faschismustheorien"1 hat eine heftige Kontroverse 2 ausgelöst, die den Verfasser eines Leserbriefes an die F.A.Z. die Frage aufwerfen ließ: „woher dieser Furor?" 3 Daß er etwas zu tun haben könnte mit der zum Teil emotionalisierten Öffentlichkeit der Bundesrepublik im Schatten von Studentenbewegung und Außerparlamentarischer Opposition, legt zumindest ein Kommentar zu diesem Buch in einer bayerischen Zeitung nahe. So weitete der Rezensent es als einen Akt der Subversion, daß sich der Verlag C.H. Beck bereit gefunden habe, diese Studie in seine „Schwarze Reihe" aufzunehmen. Jedenfalls hielt er es für ausgemacht, „daß dieses Lektorat auch schon fest in der Hand sozialistischer Systemveränderer ist". 4 Aber auch in der Geschichtswissenschaft wurde bei nicht wenigen Historikern dieses Buch als Provokation empfunden. Für die DDR-Historiographie dokumentierte es „die Grenzen der sozialgeschichtlichen »Theorien4 bürgerlicher Ideologen". Es gehe ihm im Kern darum, der „marxistisch-leninistischen Faschismusforschung Unwissenschaftlichkeit und damit Unglaubwürdigkeit zu unterstellen". 5 Einem anderen Rezensenten aus der ehemaligen DDR zufolge „verfälschte" das Buch das „Wesen" der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie.6 In der Sicht nicht weniger westdeutscher Historiker dokumentierte die vorliegende Studie, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen, gleichfalls „die Erkenntniskosten ideologischer Vorurteile". 7 So war für einen anderen prominenten Vertreter des Fachs das Buch nichts anderes als der Ausfluß „vermanschter Ideologiekritik linkssektiererischer Wissenschaftstheorie". Er fragte sich vergeblich, „welcher Teufel den Verlag, der doch sonst dem 1 Saage 1976. Vgl. u. a. die folgenden Rezensionen: Nipperdey 1976; Dahmer 1976, S. 9; Dülffer 1976, S. 307; Fuchs 1976, S. 225 f.; Hensel 1976; Hoyer 1976; W. P. 1976; U.O. 1977, S. 187 f.; Peeters 1977, S. 312; Loesdau/Friedt 1977; Winkler 1978 S. 645 f.; Steinberg 1978, S. 271 f.; Mühlen 1978, S. 583 f.; Hennig 1978, S. 94; Rößling 1978, S. 761; Petzold 1978, Sp. 404 -406; Kühnl 1980, S 138 f.; Muhlack 1981, S. 772; Kiss 1993, S. 377-381. 3 Dahmer 1976, S. 9. 2
4
In: Deutsche Wochenzeitung Rosenheim v. 14.1. 1977. 5 Loesdau/Friedt 1977. 6 Rößling 1978, S. 761. 7 Winkler 1978, S. 646.
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Modischen von gestern nicht zugeneigt ist, geritten hat", dieses Buch „in seine angesehene Reihe ( . . . ) aufzunehmen". 8 Andererseits gesteht freilich derselbe Kritiker dem Band zu, daß er um Fragen „von bedeutendem Interesse" kreise: Hat die Großindustrie Hitler zur Macht verholfen, war er, wie die Sowjetmarxisten sagen, ihr Agent? Oder waren ihre Beziehungen zum NS eher zufällig? Oder kam es zu einem »Bündnis' aufgrund eines »gestörten Klassengleichgewichts'? Wie hat sich das Verhältnis zwischen NS und Industrie zwischen 1933 und 1936 und nachher entwickelt, als Politik und Exekutive sich der Wirtschaft gegenüber ,verselbständigten4, war das System noch privatkapitalistisch? Welche Bedeutung hatte es, daß NS-Wähler und Mitglieder ganz überwiegend mittelständisch waren, gab es nach 1933 eine ,Entmachtung des Mittelstandes, beispielsweise zugunsten der Großindustrie, war sie gar der ,Nutznießer des Röhmputsches', oder entwickelte sich auch hier eine Autonomie der Politik? Ist der NS als eine deutsche Sondererscheinung aus dem Problem einer teils zurückgebliebenen, teils forcierten Modernisierung entstanden, hat er gar wider Willen als ,braune Revolution' die Modernisierung in Deutschland vorangetrieben und die Gesellschaft egalisiert?9
Von diesen Fragen, die in der Tat zum Zentrum des vorliegenden Buches führen, und ihrer inhaltlichen Umsetzung war eine Reihe anderer Rezensenten nicht unbeeindruckt geblieben. Sie begrüßten es „als eine sachliche Darstellung verschiedener Interpretationen des Nationalsozialismus"10, hoben trotz Vorbehalte die überzeugende Auseinandersetzung des Vf. mit den faschismustheoretischen Problemen hervor („his treatment of the issue is, however, excellent") 11 oder sahen in der Arbeit „die bislang verwendungsfähigste Einführung (gegenüber dem schulzentrierten Überblick Wippermanns)". 12 Auch wird die vorliegende Untersuchung als eine hervorragende Analyse („an excellent analysis, certainly the best, most serious short introduction to the theories of fascism I have read") 13 und als der „beste Überblick" 14 über die hier zu diskutierenden Problemlage empfohlen. Man sieht: die Rezeption dieses Buches in den letzten zwanzig Jahren ist außerordentlich kontrovers verlaufen. Dieser Tatbestand wirft einige Fragen auf. Warum lehnten einige Rezensenten das Buch kompromißlos ab? Und warum sahen sich andere nach der Lektüre in ihrer positiven Einschätzung bestätigt? Von welchem Verständnis von „Theorie" gehen die Kritiker aus, und welches Konzept liegt diesem Buch zugrunde? Was verstehen sie unter „Faschismus", und welche Konzeption hatte der Vf. vor Augen, als er dieses Buch schrieb? Im folgenden soll kurz auf diese Fragen eingegangen werden, weil zu vermuten ist, daß eine solche Auseinandersetzung den Zugang zu dieser Studie erheblich erleichtert. 8
Nipperdey 1976. 9 Ebd. 10 W. P. 1976. 11 Steinberg 1978, S. 2171. 12 Hennig 1978, S. 94. 13 Steinberg 1978, S. 271. 14 Franke 1988, S. 230.
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Die am weitesten gehende Kritik an diesem Buch wurde von Historikern geübt. Sie warfen ihm im wesentlichen drei Defizite vor: 1. Die Auswahl der ausgewerteten Arbeiten sei „einseitig und parteilich". 15 Es wird bemängelt, daß sich der Vf. weder mit Bracher noch mit Schulz noch mit Nolte, weder mit den Klassikern der Totalitarismustheorie, C. J. Friedrich und H. Arendt, noch mit den älteren nichtmarxistischen Theorien, weder mit den neueren Arbeiten über Nationalsozialismus und Arbeiterschaft noch mit den internationalen Beiträgen zur vergleichenden Faschismusforschung auseinandersetzt.16 Ein anderer Kritiker vermißt, daß „Arbeiten aus dem tiefen-, sozial- oder individualpsychologischen Bereich ( . . . ) nicht erwähnt (werden)". Namen wie Freud, Reich oder Fromm erschienen nicht einmal im Literaturverzeichnis. 17 2. Dadurch, daß die spezifische Signatur des Nationalsozialismus in einem allgemeinen Faschismusbegriff ausgelöscht und dessen ursprünglich soziale Funktion auf die Stabilisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems reduziert werde, komme es zu einer grotesken Verharmlosung der nationalsozialistischen Herrschaft. Nationalismus, Antisemitismus und Lebensraumideologie hätten in dem vorgeblich dialektischen Interpretationsschema ebensowenig einen Platz wie der gesamte Bereich der Außenpolitik und der Kriegsführung. 18 3. Dem Vf. werden mangelnde Quellenkenntnisse vorgeworfen: Er kenne die Dinge nicht aus erster Hand; infolgedessen sei er auch nicht in der Lage, die Ergebnisse der historischen Faschismusforschung angemessen zu beurteilen. In dem Maße aber, wie sich sowohl sein Wissen als auch seine Kritik aus sekundären Quellen speise, verliere er sich in ideologischen Abstraktionen. 19 Was die Kritik an der Auswahl der behandelten Autoren betrifft, so ist sie insofern berechtigt, als sie in dem vorliegenden Buch nicht explizit begründet wurde. Doch hat der Vf. ausdrücklich hervorgehoben, wie ein Rezensent zu Recht bemerkt, daß er vor allem jene Arbeiten diskutieren wird, „die das Verhältnis von Faschismus und Kapitalismus in seiner sozialgeschichtlichen Dimension für die jeweilige Forschungsrichtung besonders repräsentativ ausloteten".20 Die Relevanz der Fokussierung auf die beiden Schwerpunkte „Großindustrielle Interessen und nationalsozialistische Herrschaft" sowie „Der Nationalsozialismus und seine Massenbasis"21, so heißt es in einer anderen Besprechung, stehe außer Frage: Sie bestimmten den Stellenwert der jeweiligen Faschismustheorie und stellten „a cutting edge into the material" dar. 22 Auch wird darauf hingewiesen, daß „ein Großteil der Literatur über den deutschen Faschismus nicht auf die Fragen" antwortet, die den Vf. interessieren. „Was Wunder, wenn auf klassentheoretisch formulierte Fragen in is Nipperdey 1976. 16 Ebd. 17 Hensel 1976. is Winkler 1978. 19 Nipperdey 1976, sowie Winkler 1978, S. 646. 20 Hennig 1978, S. 94. Vgl. auch Saage 1997, S. 19. 21 Vgl. Saage 1997, S. 22 ff., 81 ff. 22 Vgl. Steinberg 1978, S. 271.
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der Regel klassentheoretisch formulierte Antworten gegeben werden?" Die auf diese Weise von dem systematischen Erkenntnisinteresse bestimmten Auswahlkriterien ließen sich auch auf andere Ansätze übertragen. So kümmere sich ein der Totalitarismustheorie verpflichteter Autor wie Bracher nicht um Trotzki, Thalheimer und Bauer, während für einen marxistischen Autor wie Mason, C.J. Friedrich und H. Arendt wenig relevant seien. Demgegenüber liege ein Verdienst der vorliegenden Studie gerade darin, wichtige Autoren vorgestellt zu haben, die zumindest bis Mitte der 70er Jahre im Faschismus-Diskurs der Bundesrepublik keine Rolle spielten. „Zur Differenz der unter dem Etikett »Faschismus* behandelten Fragen gesellte sich" nämlich „eine gravierende Differenz im Bekanntheitsgrad der »Theorien* beim Publikum: Wer kennt nicht Nolte, wer kennt Neumann?**.23 Ferner ist dem Einwand, in dem vorliegenden Buch würden wesentliche Politikfelder des „Dritten Reiches** ausgeklammert werden, entgegenzuhalten, daß vom Autor keine Enzyklopädie des „Dritten Reiches** beabsichtigt war. Nicht behandelte Aspekte des nationalsozialistischen Herrschaftssystems wie die Massenpsychologie des Faschismus, die Ideologie oder die Außenpolitik, deren Relevanz nicht bestritten wird, waren schlicht nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Wer das Fehlen dieser Problem- und Politikfelder dennoch bemängelt, sollte sich fragen, von welcher Qualität eine Kritik ist, die dem Kritisierten vorwirft, er hätte ein Buch schreiben sollen, das den Vorstellungen des Kritikers entspricht. Im übrigen hat diese Eingrenzung des Themas nichts mit einer Verharmlosung des „Dritten Reiches** zu tun; 24 im Gegenteil: Die Engführung der analytischen Perspektive versteht sich vielmehr als einen Beitrag zur Erklärung jener sozio-politischen Rahmenbedingungen, die Auschwitz erst möglich gemacht haben.25 Aber auch die Unterstellung mangelnder Quellenkenntnis kann nicht überzeugen. „Was soll der Vorwurf*, so fragt zu Recht ein Rezensent, „es handele sich um »Wissen aus zweiter Hand*, was soll das Ausspielen der »Sachen* gegen die »Abstraktionen*, wenn es doch erklärtermaßen um Interpretationen der,Sache* geht**.26 Eine solche Kritik verliere in dem Maße an Berechtigung, wie sie von der Suggestion lebe, „die sekundäranalytische Darstellung von Ansätzen und Forschungsrichtungen sei unsinnig**.27 Freilich geht es in diesem Zusammenhang nicht nur darum, daß ... gerade die Vielfalt von Analysen der untereinander kaum kommunizierenden Forschungsschulen ( . . . ) den Wert eines einführenden Überblicks** bestimmen, wie Hennig meint. 28 Vielmehr ist die Untersuchung der theorieangeleiteten Paradigmen auch deswegen dringend geboten, weil in ihrem Rahmen erst die in den Quellen geronnenen Fakten sinnvoll eingeordnet und dem forschenden Intellekt verständlich gemacht werden können. Dies vorausgesetzt, hat die so verstandene kri23 24 25 26 27
Dahmer 1976, S. 9. Zu Neumann vgl. in Saage 1997, S. 59-66. Vgl. Winkler 1978., S. 646. Vgl. Saage 1997, S. 18. Dahmer 1976, S. 9. Hennig 1978, S. 94.
28 Ebd.
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tische Sichtung von Faschismustheorien auch nichts mit Dogmatismus29 zu tun: Ihr Kriterium ist nicht die „alleinseligmachende Wahrheit", sondern die Frage, in welchem Maße sie uns hilft, nicht vor der kaum zu überblickenden Fülle der Fakten, die uns über das „Dritte Reich" überliefert sind, kognitiv zu kapitulieren. Diese Feststellung leitet zu der Frage über, welches Theorieverständnis diesem Buch zugrundeliegt, und wie es in der Rezeption beurteilt wurde. Jonathan Steinberg nannte zwei Theorietypen, die in diesem Zusammenhang in Betracht kommen. Auf der einen Seite wies er auf die szientifische Variante hin, „in which there are theories on the one hand and facts on the other". Ein solcher Ansatz war deswegen für die Erkenntnisziele des vorliegenden Buches ungeeignet, weil das hier zu untersuchende Material quer stand zu einer strikten Subjekt-Objekt-Trennung. Weder aus „facts without theoretical assumptions" noch aus Theorien „not composed of facts" bestehend, war der Untersuchungsgegenstand „not only not repeatable and hence experimentally unverifiable but it is remote in time". Auf der anderen Seite stellte er einen Theorietyp heraus, der von Anfang an auf „Praxis" bezogen ist. In diesem Falle werde Theorie verifiziert „by its impact on the world". 30 Dem Rezensenten ist zuzustimmen, daß die hier diskutierten historischen Faschismustheorien im Banne eines solchen Ansatzes standen: Sie mündeten alle in eine Konzeption des „Antifaschismus" ein und arbeiteten - jedenfalls soweit sie marxistischer Provenienz waren - mit der geschichtsphilosophisch untermauerten Absicht, auch Aussagen über den weiteren Verlauf des historischen Prozesses zu machen.31 Doch der Rezensent irrt, wenn er meint, der Vf. dieses Buches habe gleichfalls die Vorstellung übernommen, über die Relevanz einer Faschismustheorie werde auf den Barrikaden entschieden32 und ihr Wert daran gemessen, inwieweit sie einem intendierten „Fortschritt" im praktischen Kampf gegen den Faschismus dient. Ihm kam es vielmehr darauf an, neben modernisierungs- und konflikttheoretischen Interpretationsmustern drei sozialwissenschaftlich relevante Ansätze, nämlich die Totalitarismustheorie, die Dimitroff-These und die bonapartismustheoretische Faschismusauffassung, durch die Konfrontation mit den Resultaten der neueren historiographischen Forschung über den Nationalsozialismus gleichsam zu „testen". Jenseits des politischen Praxisbezuges und geschichtsphilosophischer Fortschrittsspekulationen ging sein Erkenntnisinteresse in zwei Richtungen. Einerseits wollte er herausfinden, inwieweit es Faschismustheorien gelingt, die von der Forschung vorgelegten Fakten analytisch aufzuschlüsseln. Andererseits warf er die Frage auf, in welchem Maße es möglich ist, aus Faschismustheorien sinnvolle Hypothesen für die historisch-empirische Erforschung der sozio-politischen Voraussetzungen, der gesellschaftlichen Basis, der sozialen Funktion und des Verhältnisses von Ökonomie und Politik am Beispiel des Nationalsozialismus zu gewinnen. 29 Vgl. Nipperdey 1976, sowie Winkler 1978, S. 646. 30 Steinberg 1978, S. 272. 31 Vgl. Saage 1997, S. 35 ff., 86 ff., 114 ff. 32 Vgl. Steinberg 1978, S. 272.
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Wie hat die Kritik auf diesen Versuch reagiert? Zunächst ist auffällig, daß die Darstellung und Diskussion des konflikt-, modernisierungs- sowie des totalitarismustheoretischen Ansatzes kaum problematisiert wurde. Um so mehr konzentrierten sich jedoch die Rezensenten auf die Auseinandersetzung mit den sowjetmarxistischen und bonapartismustheoretischen Paradigmen. Es versteht sich von selbst, daß die sogenannte Dimitroff-Formel, wonach der Faschismus an der Macht „die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" ist, im Mittelpunkt des Interesses von Vertretern der Geschichtsforschung der ehemaligen DDR, aber auch westdeutscher Autoren stand, die mit ihr sympathisierten. In dem Buch selbst wird die These vertreten, daß die sowjetmarxistische Faschismustheorie insofern hinter den Stand der Forschung zurückfällt, als sie an zwei Defiziten leidet, die eng aufeinander verweisen: Wie sie einerseits dem deutschen Faschismus trotz seiner massenhaften Verwurzelung in den Mittelschichten und in den nichtorganisierten Teilen der Arbeiterschaft jede Autonomie gegenüber der Interessenlage großindustrieller Gruppierungen abspricht, 33 so stellt sie andererseits, wie ein Rezensent richtig bemerkt, „die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Nationalsozialismus und Kapitalismus nicht, sondern (hält) sie a priori für beantwortet". 34 Insbesondere der These „von der strukturellen Identität von Monopolkapital und NS-Regime" 35 haben einige Rezensenten heftig widersprochen. Von einer solchen Ineinssetzung könne deswegen keine Rede sein, weil „G. Dimitroff, der maßgeblich an der Ausarbeitung dieser Definition beteiligt war", lediglich festgestellt habe, „daß in Hitlerdeutschland nicht das Kleinbürgertum herrschte - wie viele behaupteten, die nur die soziale Herkunft der meisten Naziführer und ihres Anhanges sehen wollten - , sondern eine Diktatur bestimmter Gruppen des Großkapitals bestand".36 Doch im Grunde bestätigt dieser Kritiker genau die These, die in diesem Buch entwickelt wird. An der Dimitroff-Formel übersah der Vf. keineswegs, wie in einer anderen Besprechung unterstellt wurde, „daß die Gesellschaftsformation des Kapitalismus verschiedene politische Herrschaftsformen zuläßt" 37 . Die angesichts des Standes der Forschung nicht haltbare „Identifizierung" meint in diesem Zusammenhang vielmehr Dimitroffs Behauptung, daß die „Tendenz zum Faschismus von vornherein im Wesen des Imperialismus - der höchsten und letzten Entwicklungsetappe des Kapitalismus - selbst begründet (lag)". 38 Auch wenn es eine Zwangsläufigkeit zur faschistischen Diktatur nicht gebe, komme er weder „von außen, noch steht er neben oder über dem Monopolkapital, sondern er stellt die brutalste Variante seiner Herrschaft im Kampf gegen die Arbeiterbewegung und um die 33 34 35 36 37 38
Vgl. Saage 1997, S. 89 f. Mühlen 1978, S. 584. Vgl. Saage 1997, S. 35 f. Petzold 1978, Sp. 405. Kühnl 1980, S. 139. Petzold 1978, S. 406.
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Neuverteilung der Welt dar. 39 Prägnanter kann das, was im vorliegenden Buch als „strukturelle Identität von Monopolkapital und Faschismus kritisiert wird, nicht auf den Begriff gebracht werden. Auch die These vom „heimlichen Revisionismus" der Dimitroff-Formel in der DDR-Historiographie der 70er Jahre wird von diesem Kritiker ungewollt bestätigt, wenn er schreibt, ihn gebe es nicht, weil die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung lediglich dem Rat Dimitroffs auf dem VII. Weltkongreß der Komintern folgte, „die faschistischen Entwicklungen so konkret wie möglich zu untersuchen und dabei zu zusätzlichen Erkenntnissen zu gelangen".40 Wendet man nämlich diese Aussage kritisch, so deckt sie sich durchaus mit dem oben genannten Diktum: Die Faschismusforscher der früheren DDR hielten als Staatsintellektuelle dogmatisch an der von der kommunistischen Diktatur sanktionierten Dimitroff-Formel fest, obwohl vierzig Jahre vergangen sind „und weitere Erfahrungen mit faschistischen Herrschaftsformen gesammelt"41 wurden, die sich mit ihr keineswegs ohne Rest vereinbaren ließen. Es versteht sich von selbst, daß die DDR-Historiographie der eher positiven Bewertung der bonapartistischen Faschismustheorie in diesem Buch 42 , sofern sie flexibel und empirieoffen gehandhabt wird, nicht folgte. Eine der zentralen Aussagen des bonapartismustheoretischen Ansatzes ist, wie es in einer Besprechung heißt, „daß der Faschismus als partielle Verselbständigung der Exekutive gedeutet (wird), die die mittelständische Massenbasis des Faschismus zur Voraussetzung" habe. „Faschismus und Großindustrie treten in einen klassenanalytisch bestimmbaren Kontext gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse als Verbündete auf 4 . 4 3 Auch der Begriff der „verselbständigten Exekutive" wurde in einer anderen Besprechung zutreffend charakterisiert. Sie basiere auf der „Annahme einer innen- und wirtschaftspolitisch bedingten Schiedsrichterrolle des Staates, die diesem eine relative Eigenständigkeit und Entscheidungsfreiheit gegenüber wirtschaftlichen und politischen Interessengruppen verleiht". 44 Doch gerade diese relative Autonomie staatlicher Zwangsgewalt unter den Bedingungen eines „Klassengleichgewichts" in einer bestimmten Ausnahmesituation der bürgerlichen Gesellschaft geriet ins Zentrum der Kritik. Zwar bleibe unbestritten, so Joachim Petzold, daß jede Exekutive - und noch dazu eine so diktatorische - ein gewisses Eigengewicht besitzt und sich zum Beispiel das Verhältnis zwischen dem politischen Machtanspruch der Naziführung und den Wirtschaftsinteressen des Monopolkapitals am Ende des zweiten Weltkrieges komplizierter gestaltete als zu Beginn des Naziherrschaft. Aber zu einem prinzipiellen Gegensatz ist es niemals gekommen. Die faschistische Politik, die in die Katastrophe des zweiten Weltkriegs führte, wurde in engster Zusammenarbeit mit den Vertretern des Monopolkapitals konzipiert und letzten Endes von deren ökonomischen Interessen 39 Ebd. 40 Ebd. 41 « 43 44
Ebd. Vgl. die Begründung in: Saage 1997, S. 132 f. Muhlack 1981, S. 772. Mühlen 1978, S. 583.
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Teil III: Demokratie in der Zwischenkriegszeit
bestimmt. Es war schließlich kein Zufall, daß die Kriegsziele des ersten und des zweiten Weltkriegs stark übereinstimmten.45
Der Vf. hat diese Argumentation vor allem deswegen kritisiert, weil sie von einem ontologisierten Begriff „des" Monopolkapitals ausgeht: Er erweist sich in dem Maße als reine Fiktion, wie die wirtschaftsgeschichtliche Forschung über das „Dritte Reich" gezeigt hat, daß die deutsche Großindustrie seit 1936 aufgrund ihrer Zersplitterung in rivalisierende Einzelinteressen gar nicht mehr als einheitlicher politischer Entscheidungsträger auftreten konnte. 46 Aber auch die Kritik an einem wichtigen Strukturmerkmal des bonapartismustheortischen Paradigmas, der Bündnis-These, vermag nicht zu überzeugen. Gegen sie ist vorgetragen worden, daß von einer Durchsetzung wesentlicher mittelständischer Interessen keine Rede sein kann und daß also das ,Bündnis' nicht darin besteht, daß faschistische Massenbewegungen und gesellschaftliche Führungsschichten ihre Interessen gleichgewichtig zum Zuge bringen konnten. Weshalb man dennoch von einem »Bündnis4 sprechen kann, wird dann zu einem schwierigen Problem.
Zu solchen notwendigen Konkretisierungen fänden sich in dem vorliegenden Buch nur wenige Ansätze.47 Demgegenüber ist zu betonen, daß der Vf. sehr wohl die zunehmende Loslösung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik im Zuge der Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen von den mittelständischen Interessenlagen im „Dritten Reich" hervorgehoben hat. 48 Doch in jeder Phase seines Regimes war der Nationalsozialismus in der Lage, seine Massenbasis in den Zwischenschichten und in Teilen der Arbeiterschaft gegen den Bündnispartner in den alten Eliten (Großindustrie, Großgrundbesitz, staatliche Bürokratie, Heer) zu mobilisieren. Genau diese Entwicklung vor Augen, hat der Vf. auch niemals eine starre Konzeption des „Bündnisses" vertreten: Es hatte nach seinen Erkenntnissen 1933 eine andere Gewichtung als 1936, und nach Kriegsausbruch 1939 wurde es erneut modifiziert, weil der Nationalsozialismus seine restriktiven Rahmenbedingungen einschränken und dadurch seinen Handlungsspielraum erweitern konnte, ohne daß er freilich in der Lage gewesen wäre, auf die Kooperation mit großen Teilen der alten Elite ganz zu verzichten. Ein drittes Argument, das sich gegen den bonapartismustheoretischen Ansatz wendet, muß erwähnt werden. Zwar könne er das Verdienst für sich reklamieren, „den Faschismus nicht als isoliertes oder isolierbares historisches Phänomen, sondern immer im Zusammenhang mit der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lage (zu) sehen" und damit die sozialgeschichtliche Betrachtungsweise „zum erstenmal konsequent auf den Faschismus angewandt" zu haben.49 Doch müsse ihm - wie allen marxistischen Ansätzen - der Vorwurf gemacht werden, daß durch die „Verabsolu45 46 47 48 49
Petzold 1978, Sp. 406. Vgl. Saage 1997, S. 46 ff. Kühnl 1980, S. 139. Vgl. Saage 1997, S. 123 ff. Muhlack 1981, S. 772.
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tierung oder Dogmatisierung des sozioökonomischen Faktors der Interpretationsrahmen unzulässig verengt wird. Die vorgängige Funktionalisierung des Faschismus bedeutet eine analytische Fremdbestimmung des Phänomens"50. Auch wenn in seinem Rahmen „die kapitalistische Funktionalisierung des Faschismus" stark modifiziert erscheine, werde sie keineswegs aufgegeben. 51 In ähnlicher Weise warf ein anderer Kritiker dem Vf. vor, er akzeptiere almost uncritically historical metaphors for scientific assumptions. So we are told on p. 79 f. that conflict theories do not go far enough; we need to look at the ,viel fundamentaleren Konflikt zwischen den sozialökonomischen Rahmenbedingungen nationalsozialistischer Herrschaft'. But why are socio economic factors more basic? how much more basic? These are questions he cannot answer. He simply assserts as desirable arguments, which are »strukturelle4, »notwendige4, »fundamentale', as if histoiy were not also composed of chance, accident and personalities.52
Gegen diese beiden Kritikvarianten ist zweierlei einzuwenden. Es wurde schon hervorgehoben, daß dem Vf. bei der Konzipierung des vorliegenden Buches nichts ferner lag als eine Dogmatisierung seiner wissenschaftstheoretischen Prämissen. Für ihn ist der bonapartismustheoretische Ansatz, dessen Kernstück, das Konzept des „Klassengleichgewichts", bereits vor den Marxschen Analysen der 48er Revolution in Frankreich 53 für James Harringtons Interpretation der Ursachen des Englischen Bürgerkriegs 1642 - 49 grundlegend war 54 , ausschließlich unter analytischen Gesichtspunkten interessant. Weit davon entfernt, die Bedeutung von Zufällen, unerwartet sich bietenden Gelegenheiten und die subjektiven Entscheidungen von Personen im Ablauf des historischen Geschehens zu bezweifeln, stellt er ein Interpretationsmuster dar, das sich gleichberechtigt der Konkurrenz mit anderen Ansätzen zu stellen hat, deren Gegenstand die sozial-ökonomische Dimension des Faschismus ist. Es erscheint nicht einmal sinnvoll, für den bonapartismustheoretischen Ansatz unter dem Aspekt der „Wahrheitsfrage" zu optieren: Das einzige Kriterium seiner Validität ist, ob er sich bei der Strukturierung der Fakten im Forschungsprozeß bewährt oder nicht. Es kommt aber noch ein inhaltlicher Einwand hinzu. Eine der wichtigsten Aussagen dieses Buches besteht nämlich darin, daß der deutsche Faschismus nicht in seiner Instrumentalisierung durch das in Deutschland herrschende Wirtschaftssystem aufgeht. Zwar stellte es vor 1933 eine wichtige restriktive Bedingung für die Regimephase des Nationalsozialismus dar. Doch wird im vorliegenden Buch gerade gezeigt, daß es dem deutschen Faschismus zunehmend gelang, sie zu durchbrechen und sich damit einer Funktionalisierung in wichtigen Hinsichten zu entziehen.55 Wie freilich dieser Tatbestand mit dem so Ebd. si Ebd. 52 Steinberg 1978, S. 271. 53 Vgl. Marx 1970, S. 222-316. 54 Vgl. Harrington 1991. 55 Vgl. Saage 1997, S. 59 ff.
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Teil I: Demokratie in der Zwischenkriegszeit
bonapartismustheoretischen Ansatz vereinbar ist, stellt nun in der Tat ein Problem dar, das einer genaueren Begründung bedarf, als sie im vorliegenden Buch zu finden ist. Die Beantwortung der Frage, inwieweit es möglich erscheint, innerhalb eines bonapartismustheoretischen Ansatzes das Phänomen der Durchbrechung der funktionalen Bindung des Nationalsozialismus an den wirtschaftlichen Rahmen, den er zu Beginn seiner Herrschaftsausübung 1933 vorfand, zu untersuchen, hängt freilich mit einer anderen Kritik zusammen, die gegen dieses Buch vorgetragen worden ist. Der Vf. schreibe ein Buch über Faschismustheorien, so Steinberg, „when he means National Socialism. He writes not a word about Italy, Spain, France or Rumania. It is possible to discuss the theory of a phenomenon which appeared once and once only?". 56 Der Begriff „Faschismustheorien", so resümierte auch Kühnl, sei „insofern unangemessen", als sich der Vf. „ausschließlich mit dem deutschen Faschismus befaßt". Auch aus der genauesten Analyse des „Dritten Reiches" und seiner Vorgeschichte lasse sich noch keine allgemeine Faschismustheorie gewinnen, weil erst ein Vergleich mit anderen Faschismen die Voraussetzung schafft zu unterscheiden, was ihnen gemeinsam und was besondere nationale Ausprägung ist. 57
Diese Kritik wiegt dann um so schwerer, wenn man mit Nipperdey unter „Theorie" den auf Vergleich beruhenden „Versuch einer umfassenden wissenschaftlichen Erklärung für das mehrfache, gleichzeitige oder sich wiederholende Auftreten von Phänomenen oder doch zumindest für die unterschiedlichen Phänomene eines Gegenstandsbereichs"58 versteht. Tatsächlich hat der Vf. dieses Buches nicht explizit begründet, warum er auf den allgemeinen Faschismusbegriff rekurrierte, obwohl er auf eine komparative Analyse der einzelnen Faschismen und ihrer Regime verzichtet hat. Nicht unerwähnt sollte aber bleiben, daß er bei der Niederschrift seiner Untersuchung stillschweigend von zwei Annahmen ausging. Die erste unterstellte, daß der Nationalsozialismus die radikalste Variante der Faschismen war 59 , die gleichsam alle Potenzen des Rechtsextremismus zwischen 1919 und 1945 bis zur Selbstdestruktion realisierte. Idealtypisch rein verwirklicht, glaubte der Vf. daher, er könne ihn als „Faschismus" schlechthin behandeln. Die zweite Prämisse bestand darin, daß in den meisten Theorien, die in dem vorliegenden Buch diskutiert werden, stets vom „Faschismus" die Rede ist, auch wenn ihre Autoren sich lediglich auf den Nationalsozialismus bezogen. Daß diese im historischen Kontext der Zwischenkriegszeit erfolgte Reduktion unkritisch vom Vf. übernommen wurde, ist sicherlich ein ernst zu nehmendes Defizit des vorliegenden Buches. Doch hat er in seinem Aufsatz 56 Steinberg 1978, S. 271. 57 Kühnl 1980, S. 139. 58 Nipperdey 1976. 59 Vgl. hierzu Nolte 1979.
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„Der italienische und der deutsche Faschismus"60 in komparativer Perspektive gezeigt, daß der bonapartismustheoretische Ansatz in seiner Anwendung auf den „Staat Hitlers" (Broszat) und auf das Regime Mussolinis ebenso weiterführend wie der allgemeine Faschismusbegriff zu ihrer Abgrenzung von anderen Herrschaftssystemen haltbar ist. Auf beide Resultate der erwähnten Komparatistik sollte abschließend kurz eingegangen werden. Das wichtigste Ergebnis der erwähnten Studie besteht darin, daß das bonapartismustheoretische Muster - wie alle Interpretationsansätze - eine begrenzte Reichweite hat: Es läßt sich nämlich wohl auf die Entstehungsbedingungen des „Dritten Reiches" und auf die ersten Jahre seiner Konsolidierung, nur bedingt aber auf die Regimephase im engeren Sinn anwenden, während es im Blick auf den italienischen Faschismus und sein Regime durchgängige analytische Relevanz beanspruchen kann. Diese Differenz habe ich durch die Formel „Vom ,Leviathan' Mussolinis zum ,Behemoth' Hitlers" zu charakterisieren versucht. 61 Was verbirgt sich hinter dieser Metaphorik in Bezug auf den bonapartismustheoretischen Ansatz? Bekanntlich geht er von der Annahme aus, daß die Kapitaleigner ihre politische Herrschaft auf eine „verselbständigte" Exekutive übertragen, um ihre private Kontrolle der Produktionssphäre in einer zugespitzten sozialen Krise der bürgerlichen Gesellschaft aufrechterhalten zu können. Diesem Muster einer „Arbeitsteilung" zwischen dem in der faschistischen Diktatur verankerten Politikmonopol und der bei den besitzenden Schichten verbleibenden sozialen Herrschaft, wie sie sich in der privaten Verfügung über die Produktions- und Arbeitsmittel konkretisiert, entsprach das Regime des italienischen Faschismus weitgehend. Auf der Grundlage einer hochgradig homogenen potestas, spaltete der „totale Staat" sich auf in einen „Normenstaat", in dem die bürgerlichen Rechtsgeschäfte abgewickelt wurden, und in einen „Maßnahmenstaat", in dem die faschistische Diktatur ihren „Primat der Politik" exekutierte. Demgegenüber kann von einer solchen „einheitlichen Staatsgewalt", die gleichsam die Geschäftsgrundlage des Bündnisses der faschistischen Bewegung und der alten Eliten, darstellt, im „Dritten Reich" bestenfalls bis 1936/37 die Rede sein. Nach diesem Zeitpunkt gewannen nämlich die „führerunmittelbaren" und gegeneinander konkurrierenden „Sondergewalten" des Nationalsozialismus gegenüber dem klassischen preußischen Staat zunehmend an machtpolitischer Bedeutung. In dem Maße, wie sich diese Entwicklung dynamisierte, wurde die Differenz zur Diktatur des italienischen Faschismus immer offensichtlicher: Das „Dritte Reich" nahm Züge des ,3ehemoth" an, mit dem Hobbes den Zerfall des homogenen Staates in einen „bellum omnium in omnes" symbolisieren zu können glaubte, weil es sich zunehmend in einer parasitären Zersetzung der übernommenen staatlichen Institutionen der Weimarer Republik und Preußens erschöpfte. Das visionäre Politikverständnis der Nazis konnte nur mühsam diesen institutionellen Verfall, der in einem spezifischen System der Nichtkommunikation der führenden Dienststellen seinen prägnantesten Ausdruck fand und dessen 60 Vgl. Saage 1987, S. 121 -159. 61 Vgl. zum folgenden Saage 1987, S. 147-152.
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Teil III: Demokratie in der Zwischenkriegszeit
Signum eine „Polykratie der Ressorts" auf der staatlichen Entscheidungsebene war, ideologisch verdecken. 62 Was bedeutet dieser Befund für die Anwendung des allgemeinen Faschismusbegriffs und die analytische Relevanz der bonapartistischen Faschismustheorie als eines heuristischen Interpretationsmusters? Im Blick auf die erste Frage müssen der angeführten Differenz in der Regimephase des nationalsozialistischen Herrschaftssystems und der Diktatur Mussolinis die übereinstimmenden Merkmale gegenübergestellt werden, die von den sozio-politischen Entstehungsbedingungen beider Regime in der Krise der liberalen Demokratie, dem Aufstieg des Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus zur Massenbewegung und damit zur „Dritten Kraft" zwischen dem bürgerlichen Lager und den sozialistischen Arbeiterparteien bis hin zur programmatischen Zurücknahme des Antikapitalismus von rechts und der präventiven Zerschlagung der „zweiten Revolution" in den eigenen Reihen durch Mussolini und Hitler reichen. 63 Ein solcher Vergleich zeigt, daß die Gemeinsamkeiten beider sozialer Bewegungen und ihrer Regime gegenüber den Unterschieden zwischen ihnen überwiegen. So gesehen, spricht alles für die Anwendung des allgemeinen Faschismusbegriffs. Mit anderen historischen Strukturbegriffen wie „Feudalismus", „Absolutismus" etc. hat er gemeinsam, daß die „Identität" des sozio-politischen Phänomens, für das er steht, stets auf den jeweiligen spezifischen nationalen, sozialen und kulturellen Kontext bezogen werden muß, innerhalb dessen es sich historisch entwickelte. Aber auch der bonapartismustheoretische Ansatz kann sich bestätigt sehen. Jedes wissenschaftliche Paradigma muß verdeutlichen, was mit ihm „erklärt" werden kann und was nicht. Zwar haben wir gesehen, daß die Entwicklung in Deutschland ab 1936/37 eine wesentliche Grundannahme seines analytischen Zugriffs außer Kraft zu setzen scheint, nämlich die Voraussetzung einer homogenen staatlichen potestas. Doch wirft dieser Sachverhalt seinerseits eine Reihe weiterführender Fragen auf, die gerade der Vergleich mit dem italienischen Faschismus nahelegt. Wenn sich der Herrschaftsapparat des italienischen Faschismus mit der Formel des „Leviathan", der des Nationalsozialismus eher mit dem Symbol des „Behemoth" sinnvoll charakterisieren läßt, dann wäre zu klären, welche Rolle die Ideologie beider Regime in diesem Zusammenhang spielt. Ist sie entscheidend für die Formen der Gewaltausübung? Oder wirkte sich gravierender das unterschiedliche Machtverhältnis zwischen der faschistischen Massenbewegung und den alten Eliten bei der Ausprägung der Herrschaftsapparate in beiden Ländern aus? Ein bonapartismustheoretischer Ansatz legt also die Frage nahe, was es für die Entwicklung beider Diktaturen bedeutet, wenn die traditionellen Eliten Italiens in Großindustrie, Heer, Monarchie und Kirche im wesentlichen ihren Besitzstand wahren konnten, während sich ab 1936 innerhalb wichtiger Teile der traditionellen deutschen Eliten eine Spaltung vollzog. 62 Vgl. Broszat 1974. 63 Vgl. hierzu Saage 1987, S. 1 2 4 - 1 4 7 .
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Eine weitere Grenze des bonapartismustheoretischen Ansatzes besteht sicherlich darin, daß er nicht zeigen kann, wie sich das faschistische Herrschaftssystem in seinem Zentrum, nämlich den Konzentrations- und Todeslagern, auf der Ebene der subjektiven Betroffenheit seiner Opfer niedergeschlagen hat. Dennoch steht er diesem „Zivilisationsbruch" (Diner) nicht hilflos gegenüber. Im Gegenteil: Gerade in dem Aufweis, daß der deutsche Faschismus die von dem bonapartismustheoretischen Modell nahegelegte „Normalität des starken Staates" gesprengt hat, kann er uns zumindest die sozio-politischen Rahmenbedingungen und ihre Ursachen vor Augen führen, die diese Katastrophe in Gestalt von „Hitlers willfährigen Vollstreckern" (Goldhagen)64 ermöglichten: die systematische Zerstörung rechtsstaatlicher Strukturen und institutioneller Machtkontrollen, ohne die die Ermordung von sechs Millionen Juden, aber auch anderer ethnischer Minoritäten nicht möglich gewesen wäre.
64 Vgl. Goldhagen 1996.
Teil I V : Aspekte der demokratischen Entwicklung nach 1945
Die SPD und die Furcht unserer Nachbarn vor einem „Vierten Reich" I. Spätestens seit den Volkskammerwahlen in der ehemaligen DDR vom März 1990 geht für nicht unbeträchtliche Teile der Weltöffentlichkeit ein Gespenst herum in Europa: es ist die Gefahr des wiedererstehenden „Furor teutonicus" auf dem Weg zu einem „Vierten Reich". Vor ihr hat in der Bundesrepublik niemand nachdrücklicher gewarnt als der Schriftsteller Günter Grass. In seiner Rede auf dem Parteitag der SPD in Berlin am 18. Dezember 1989 führte er unter anderem aus: „Vereinigung als Einverleibung der DDR hätte Verluste zur Folge, die nicht auszugleichen wären: denn nichts bliebe den Bürgern des anderen nunmehr vereinnahmten Staats von ihrer leidvollen, zum Schluß beispiellos erkämpften Identität; ihre Geschichte unterläge dem dumpfen Einheitsgebot. Nichts wäre gewonnen, außer einer beängstigenden Machtfülle, gebläht vom Gelüst nach mehr und mehr Macht. Allen Beteuerungen, selbst den gutgemeinten zum Trotz, wären wir Deutschen wieder zum Fürchten. Weil von unseren Nachbarn mit berechtigtem Mißtrauen aus zunehmender Distanz gesehen, könnte bald wieder einmal das Gefühl des Isoliertseins und mit ihm jene gemeingefährliche Mentalität aufkommen, die sich aus Selbstmitleid als ,von Feinden umringt 4 begreift. Ein wiedervereinigtes Deutschland wäre ein komplexgeladener Koloß, der sich selbst und der Einigung Europas im Wege stände".1 Noch vor dieser Parteitagsrede warb Oskar Lafontaine sechs Wochen vor Öffnung der DDR-Grenze im SPIEGEL um „Vorsicht ... mit unbedachten Wiedervereinigungsparolen. Das Gespenst eines starken Vierten Deutschen Reiches erschreckt unsere westlichen nicht weniger als unsere östlichen Nachbarn". 2 Der in außenpolitischer Hinsicht bisher krisenfrei verlaufene Prozeß der deutschen Einheit vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß Grass und Lafontaine wußten, wovor sie warnten: unterhalb der Ebene offizieller Politik ist in breiten Schichten und in der öffentlichen Meinung jener Länder, die unter dem vom „Dritten Reich" entfesselten Zweiten Weltkrieg zu leiden hatten, ein neu vereinigtes Deutschland eher ein Trauma als eine freudig begrüßte Einlösung des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker. „Fürchtet Euch vor den Deutschen4, warnte das französische Magazin ,Challenge\ die ,können uns lebendig verzehren 4. Die Verbindung von westdeutschem Kapital und technologischem Know-how mit einem 1 Grass 1990, S. 10 f. 2 Der Spiegel, 18. 12. 89, S. 17.
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Teil IV: Aspekte der demokratischen Entwicklung nach 1945
mitteldeutschen 9-Millionen-Heer relativ gut ausgebildeter und dabei billiger Arbeitskräfte, plus 16 Millionen neuer konsumhungriger Nachfrager, läßt Freunde und Konkurrenten »Zustände kriegen', so George A. Carver vom Zentrum für Strategische und Internationale Studien in Washington".3 Der ehemalige britische Handels- und Industrieminister Nicholas Ridley vertrat kürzlich in einem Interview, das er dem britischen Magazin „The Spectator" gab, die Ansicht, daß Schritte zur europäischen Währungsunion nichts anderes seien als ein „deutsches Komplott mit dem Ziel, ganz Europa zu übernehmen". Ein deutsch beherrschtes Europa aber würde zu einer „blutigen Revolution" führen. Die Franzosen schimpfte er „Schoßhündchen der Deutschen".4 Auch die englische Premierministerin Thatcher zeigt, sich besorgt über eine mögliche deutsche Vorherrschaft. „In Regierungskanzleien von Whitehall und Westminster kursiert der Begriff »Viertes Reich4 als viel benutzter terminus technicus: So wie Deutschlands ,Drittes Reich1 seine Nachbarn militärisch überrollte, könnte ein Viertes Reich Europa wirtschaftlich beherrschen". 5 Und der sowjetische ZK-Berater Nikolai Portugalow warf die Frage auf: „Wird es dem geeinten Deutschland, diesem Koloß, gelingen, mit der harten Mark zu vollbringen, was Hitler mit Feuer und Schwert nicht hat erreichen können?".6 Die Furcht vor der wirtschaftlichen Hegemonie Deutschlands wurde verstärkt durch die Dynamik, mit der sich die Vereinigung zwischen den beiden deutschen Staaten gleich nach der Öffnung der Mauer zu vollziehen begann. Im SPIEGEL vom 18. 12. 1989 heißt es: „Großdeutsche Schlachtgesänge, laut auf Leipzigs Straßen, verhalten noch zwischen Rensburg und Lindau, lassen im Ausland den deutschen Michel, die deutschen Michel, als nachgerade unheimlich erscheinen: Es ist die Geschwindigkeit des Umbruchs, welche die deutschen Nachbarn aufschreckt. Sie haben Angst, wie schnell sich die 60 und die 16 Millionen schon unterhalb der Wiedervereinigungsschwelle zusammenfinden". 7 Der rasante Prozeß der Auflösung der DDR, der wenig später zugunsten eines neu vereinigten Deutschlands folgte, hat das Unbehagen unserer Nachbarn eher noch verstärkt. Es rührt vor allem aus dem Gefühl, „daß ihnen gar keine andere Möglichkeit geblieben war - so elementar hatte sich der Zusammenbruch des östlichen Systems und der deutsche Einigungsprozeß vollzogen".8 Politbüromitglied Jegor Ligatschow sprach von einer „Annexion, oder besser dem Schlucken der DDR durch die Bundesrepublik, was er für eine gefährliche Verletzung der europäischen Stabilität [ . . . ] , die vollständige Annullierung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges"9 hielt. 3 4 5 6 7
Ebd., S. 20. Der Spiegel, 16. 7. 90, S. 18. Ebd., S. 19. Der Spiegel, 23. 7. 90, S. 23. Der Spiegel 18. 12. 89, S. 16.
8 Der Spiegel 23. 7. 90, S. 21. 9 A. a. O., S. 23.
Die SPD und die Furcht unserer Nachbarn vor einem „Vierten Reich"
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Was Ligatschow als „Verletzung der europäischen Stabilität" ansieht, ist für andere Beobachter die Gefahr, daß ein neu vereintes Deutschland in Mitteleuropa hegemoniale Ansprüche erhebt, die das seit Adenauer geltende Konzept der Westintegration sprengen. Selbst die Optimisten unter den Teilnehmern der Tagung in der Premierminister-Residenz Chequers, zu der Frau Thatcher vor dem anglo-deutschen Gipfeltreffen Ende März amerikanische und britische Deutschland-Experten eingeladen hatte, konnten, wie es im Protokoll heißt, gewisse Befürchtungen „hinsichtlich der Auswirkung der Vereinigung auf das Verhalten der Deutschen in Europa nicht unterdrücken". Es sei unwahrscheinlich, „daß ein vereintes Deutschland genauso denken und handeln werde wie die Bundesrepublik, die wir seit 45 Jahren kennen. Und das gelte, obgleich ein vereintes Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit die Institutionen der BRD übernehme [ . . . ]". Vor allem wurde bezweifelt, ob sich ein vereintes Deutschland so reibungslos in Westeuropa einfügen werde wie die BRD. Vielmehr sei mit der Neigung zu rechnen, „das Konzept »Mitteleuropa4 wiederzubeleben, in dem Deutschland die Rolle des Maklers zwischen Ost und West zufiele. Es sei bemerkenswert, daß Kanzler Kohl bereits von Deutschlands Partnern in Ost und West spreche". 10 Ähnliche Befürchtungen äußerte der Pariser Deutschland-Experte Jean Francois-Poncet über die Neuvereinigung und die im Juni 1990 beschlossene Allianz mit Moskau: „Frankreich fragt sich, ob das stark gewordene Deutschland, das seine politischen Ziele erreicht hat, ein zuverlässiger Partner für Europa bleibt oder ob es in Europa seinen eigenen Weg gehen wird. Wenn Deutschland etwa dem gemeinsamen Markt den Rücken kehren würde und sich durch die klassische Idee von Mitteleuropa verführen ließe, würden in Frankreich alle alten Ängste wieder hochkommen".11
n. Wer die deutsche Geschichte seit den gescheiterten Revolutionen von 1848 und 1918/19 sowie das Versagen der traditionellen deutschen Macht- und Bildungseliten am Vorabend des „Dritten Reiches" kennt, wird kaum geneigt sein, diese Vorbehalte unserer Nachbarn gegenüber der deutschen Neuvereinigung nicht ernst zu nehmen. Dennoch dürfen gewichtige Fakten nicht verschwiegen werden, die geeignet erscheinen, die geäußerten Ängste zumindest in kurz- und mittelfristiger Perspektive wenigstens zu mildern: 1. Daß die Furcht unserer Nachbarn vor einer ökonomischen Hegemonie in der Wirtschaftskraft Gesamtdeutschlands eine reale Basis hat, kann kaum bestritten werden. Schon heute stammt „ein Viertel der gesamten EG-Produktion [ . . . ] aus bundesdeutschen Werken und Kontoren. Über 140 Milliarden Mark Handelsüberschüsse Bonns entsprechen ähnlich hohen Defiziten der Partner. Die neuen OstChancen werden das Mißverhältnis weiter vergrößern. »Germanys second Wirt»o Der Spiegel 16. 7. 90, S. 111. ii Der Spiegel 23. 7. 90, S. 22.
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Teil IV: Aspekte der demokratischen Entwicklung nach 1945
schaftswunder 4, von der englisch-sprachigen Wirtschaftspresse für die nahe Zukunft fest einkalkuliert, stärke den deutschen Exportschwung, prophezeit David Kern von der Londoner National Westminster Bank". Tatsächlich ist schon jetzt davon auszugehen, daß „Europas Zinssätze [ . . . ] in Frankfurt gemacht (werden)", wie sich britische Kommentatoren beschweren. 12 Andererseits muß die Wahrscheinlichkeit, daß das neuvereinte Deutschland Ost- und Mitteleuropa ökonomisch beherrschen wird, noch nicht unbedingt bedeuten, wie es im Protokoll der Thatcher-Konferenz in Chequers heißt, daß „es nun mit wirtschaftlichen Mitteln erreichen würde, was Hitler mit militärischen Mitteln nicht geschafft habe". Es sei vielmehr die Differenz zwischen der wirtschaftlichen Dominanz eines vereinten Deutschlands und dem ökonomischen Imperialismus der Nazi-Herrschaft zu beachten: sie bestehe in der Tatsache, „daß der Wunsch nach ökonomischer deutscher Präsenz mindestens ebensosehr von den Osteuropäern komme wie von den Deutschen selbst. Sie wollten und bräuchten deutsche Hilfe und deutsche Investitionen. Und dies sei wohl auch die einzige Möglichkeit, Osteuropa wieder mit Leben zu erfüllen", nachdem sich weder Briten noch Franzosen bereit zeigten, die notwendigen Mittel zu investieren. 13 2. Das Tempo, mit dem die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik erfolgte, ist aus guten Gründen kritisiert worden. Aber niemand kann bestreiten, daß sich die Qualität dieses Einigungsprozesses von der Reichsgründung von 1871 unter Bismarck gravierend unterscheidet. Zunächst ist hervorzuheben, daß „diesmal [ . . . ] ein geeintes Deutschland in Harmonie mit den alten Demokratien des Westens (entsteht), institutionell mehrfach mit ihren verbunden und als Partner hoch geschätzt. Und die Völker Osteuropas erwarten von diesem Deutschland Hilfe beim Abräumen des gigantischen Trümmerfeldes", das der diktatorische Staatssozialismus hinterlassen hat. 14 Ferner ist im Vergleich zur Vereinigung von 1871 hervorzuheben, daß die zusätzliche Macht, die einem vereinten Deutschland zukommen wird, nicht aktiv von ihm angestrebt wurde: „Entstanden ist sie zum Teil durch den Zusammenbruch des russischen Imperiums und dank der aus innenpolitischen Gründen verminderten Macht der Vereinigten Staaten", wie der amerikanische Historiker Fritz Stern hervorhebt. 15 Erst dieses Machtvakuum setzte die Dynamik des Vereinigungsprozesses in Gang. Zweifellos wurde er durch die Gefahr des Zusammenbruchs der DDR beschleunigt, nachdem klar war, wie Jürgen Kocka betont, daß es „in dieser historischen Situation an einem einigermaßen genauen theoretisch durchdachten und praktikablen Modell des demokratischen Sozialismus als leistungsfähiger Alternative zum diskreditierten Staatssozialismus des Ostens einerseits, zur westlichen, sozialstaatlich überwölbten Marktwirtschaft (einschließlich ihrer sozialdemokratischen Fortentwicklungsmöglichkeiten) anderer12 Der Spiegel 18. 12. 89, S. 20. 13 Der Spiegel 16. 7. 90, S. 111. 14 Der Spiegel 23. 7. 90, S. 16. 15 Stern 1990.
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seits fehlte". 16 Und schließlich muß im Vergleich zur Reichsgründung von 1871 hervorgehoben werden, daß auch die Revolution in der DDR trotz ihrer nationalen Wende den Spuren folgte, auf denen sich die übrigen Umbrüche des Jahres 1989 in Osteuropa vollzogen. Orientiert an freiheitlichen und demokratischen Ideen, ging es ihnen um „die Durchsetzung der Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft (civil society) und repräsentativer, pluralistischer, rechts- und verfassungsstaatlicher Regierungsformen [ . . . ] . In diesem Sinn hat das Jahr 1989 wirklich gezeigt, daß die Französische Revolution die Zukunft der russischen war und nicht umgekehrt (Füret)". 17 3. Die SPD hat zu Recht Kritik an der innenpolitischen Methode geübt, mit der Bundeskanzler Kohl den Prozeß der deutschen Einheit vorantrieb. Der Kanzler habe sie von Anfang an als Privatsache behandelt und die Zusammenarbeit mit der Opposition erst gesucht, als das wegen der neuen Mehrheiten im Bundesrat unumgänglich geworden sei. „Schlimmer wirkte sich aus", so Hans-Jochen Vogel am 11. August 1990, „daß der Bundeskanzler im Vorfeld der Volkskammerwahlen am 18. März 1990 den Menschen nicht die Wahrheit gesagt, sondern sie geradezu getäuscht hat". Kohl habe genau gewußt, daß die Umstellung der SED-Kommandowirtschaft auf die Marktwirtschaft für die Menschen in der DDR nicht ohne „existentielle Erschütterungen" und für die Bürger der Bundesrepublik nicht ohne hohe Kosten zu machen sein würde. „Große Männer haben ihren Völkern in vergleichbaren Situationen die Größe und Schwere der Aufgaben klar vor Augen geführt und dadurch zusätzliche Kräfte geweckt. Kohl hat das Gegenteil getan und dadurch Enttäuschung und Bitterkeit geradezu vorprogrammiert". 18 Dieser innenpolitischen Einschätzung Vogels ist nichts hinzuzufügen. Andererseits kann freilich niemand im Ernst der gegenwärtigen Bundesregierung vorwerfen, sie gebe Anlaß zu der Befürchtung, ein neu vereintes Deutschland wende sich von der europäischen Integration ab, um in Mitteleuropa zu einer Weltmacht aufsteigen zu können. Zwar hat das Zögern Kohls, die Oder-Neiße-Linie zu akzeptieren, bei unseren Nachbarn berechtigte Ängste vor Deutschlands „Mission" in Ost- und Mitteleuropa hervorgerufen. Unterdessen jedoch ist die endgültige Anerkennung der gegenwärtigen polnischen Westgrenze integrierter Bestandteil des offiziellen Bonner Regierungskurses. Bei einer Feier zum 40. Jahrestag der Charta der deutschen Heimatvertriebenen am 5. August 1990 in Stuttgart bezeichnete der Kanzler diesen Schritt als zwingende Voraussetzung für das Erreichen der deutschen Einheit. Von der Zustimmung der vier Siegermächte hänge es ab, „ob das vereinte Deutschland volle Souveränität erlangt. Es wäre verantwortungslos, diese Tatsache zu ignorieren". Ausdrücklich erinnerte er daran, daß Hitler das polnische Volk habe versklaven und auslöschen wollen. Grenzen dürften weder in Zweifel gezogen noch verschoben werden; nur so verlören sie ihren trennenden Charakter. 19 16 Kocka 1990. 17 Ebd. 18 Frankfurter Rundschau, 13. 8. 90. 19 Vgl. Frankfurter Rundschau, 6. 8. 90.
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Dieser Absichtserklärung folgten Taten. Am 8. November 1990 kündigte Kohl bei einem Treffen mit Ministerpräsident Mazowiecki in Frankfurt an der Oder den Abschluß eines Vertrages über die völkerrechtliche Anerkennung der Grenze zwischen Polen und Deutschland noch vor den Bundestagswahlen an. Am 14. November wurde er von Bundesaußenminister Genscher und seinem polnischen Kollegen Skubiszewski in Warschau unterzeichnet. Er soll im Februar 1991 zusammen mit einem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag, der auch die Rechte der deutschen Minderheit in Polen regelt, ratifiziert werden. Dem Verzicht auf Gebietsansprüche gegenüber Polen entspricht die Absage an jedes Großmachtstreben. „Wir sind keine Weltmacht, und ich halte es für töricht, Weltmachtträume zu träumen", legte sich Kohl verbindlich fest. „Deutschland sei kein Koloß, der irgendwo in Mitteleuropa liegt, sondern voll eingebettet in die europäische Sicherheitsarchitektur. Damit wandte sich Kohl auch gegen im Ausland aufgekommene Befürchtungen", berichtet „Die Welt", „es könne zu einem Sonderverhältnis zwischen dem vereinten Deutschland und der Sowjetunion kommen. Einen ,Geist von Rapallo' zu beschwören sei »völlig abwegig*. Der deutsche Einigungsprozeß werde von beiden Weltmächten befürwortet und vollziehe sich im Einklang mit der europäischen Integration". 20 Auch diese Aussage des Bundeskanzlers wurde bestätigt, als am 12. September 1990 die Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Moskau den Vertrag über die Souveränität Gesamtdeutschlands unterzeichneten.
in. Sind also die im ersten Teil meiner Ausführungen dargelegten Ängste unserer Nachbarn vor einem neuvereinigten Deutschland gegenstandslos? Sie wären es zweifellos, wenn es das bliebe, was die Bundesrepublik seit 45 Jahren gewesen ist. Aber es ist keine Selbstverständlichkeit, daß dies der Fall sein wird, auch wenn die ehemalige DDR das gesamte institutionelle Gefüge des Grundgesetzes übernimmt. Was Sorge hervorruft, ist nicht die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft Deutschlands, sondern die fernere Wegstrecke, wie es im Protokoll der ChequersKonferenz heißt, „die sich unserer heutigen Einsicht entzieht". 21 Worin bestehen nun aber die Unwägbarkeiten des geeinten Deutschlands in langfristiger Perspektive? Und welche Aufgaben kommen auf die deutsche Sozialdemokratie zu, um möglichen Fehlentwicklungen zu begegnen? Zunächst muß die Zielperspektive verdeutlicht werden, an der die SPD ihre Deutschland-Politik orientieren sollte. Ihr normativer Fixpunkt ist rasch benannt: Wenn jemals die SPD nach 1945 eine politische Großtat vollbracht hat, dann ist es der Moskauer Vertrag, der vor 20 Jahren unterzeichnet wurde. Damals verpflichteten sich die Bundesrepublik und die Sowjetunion, „in ihrer Politik auf Drohung mit Gewalt und Anwendung von Gewalt zu verzichten, die territoriale Integrität 20 Die Welt, 18. 7. 90. 21 Der Spiegel 16. 7. 90, S. 112.
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aller Staaten in Europa zu achten und keinerlei Gebietsansprüche gegen irgendjemanden geltend zu machen". Zugleich wurde durch einen Brief des Außenministers der deutsche Standpunkt hervorgehoben, „daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel steht, auf den Zustand des Friedens in Europa hinzuarbeiten, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". 22 Rückblickend läßt sich sagen, daß dieser Vertrag eine historische Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen ist, deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Bewußt die historische Schuld der Deutschen im „Dritten Reich" ohne Einschränkungen und „Normalisierungen" anerkennend, trat die Bundesrepublik, durch den Kniefall Willy Brandts in Warschau eindrucksvoll symbolisiert, endgültig aus dem Schatten einer unheilvollen deutsch-nationalen Vergangenheit heraus. Zugleich schuf der Moskauer Vertrag die Voraussetzungen für den KSZE-Prozeß, ohne den der friedliche Wandel in Europa und die deutsche Einheit nicht möglich gewesen wäre. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet der führende Politiker des konservativen Lagers, nämlich der Bundeskanzler selbst, die Ostverträge zum Dreh- und Angelpunkt seiner Deutschland-Politik erhebt. „ A u f b a u e n d auf dieser wichtigen Grundlage", bestätigte Kohl am 11. August 1990 erneut dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow,,»haben sich der politische Dialog und die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Staaten und Völkern, insbesondere in letzter Zeit, beträchtlich erweitert und vertieft". Mit der Einigung Deutschlands und dem Ausbau des deutsch-sowjetischen Verhältnisses solle zu einer „dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung" beigetragen werden. 23 Es duldet keinen Zweifel: Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bewegt sich in einem außenpolitischen Rahmen, den die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel mit dem Moskauer Vertrag von 1970 erst gegen den zähen und kompromißlosen Widerstand der CDU /CSU durchsetzen mußte. „Ich wage, hier zu sagen", führte Franz Josef Strauß am 27. Mai 1970 im Bundestag aus, „daß Abkommen des Entgegenkommens, Abkommen mit einseitigen Verzichtleistungen zugunsten kommunistischer Diktaturen nicht nur zu höheren Forderungen anstacheln, sondern der wirklichen Versöhnung der Völker im Wege stehen und schon gar nicht diese zu begünstigen geeignet sind". 24 Ferner warf er Brandt vor, daß er den Frieden nicht sicherer, sondern unsicherer mache, „weil der Schatten Moskaus über Europa von Jahr zu Jahr länger wird, wenn die entscheidende zentrale Macht dieses Kontinents diese Politik fortsetzt, die im Oktober mit der Übernahme der Zweistaatentheorie begonnen hat". 25 Ausdrücklich betonte er, die Forderung der Vertriebenenverbände nach Wiederherstellung des deutschen Reichsgebiets in den Grenzen von 1937 sei nicht das Ziel „eines besonders isolier22 23 24 25
Faulenbach 1990. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.8. 90. Das Parlament, 13. 6. 70. Ebd.
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ten Elements des deutschen Volkes", sie entspreche vielmehr der „Meinung der Deutschen oder sollte es jedenfalls". 26 In der Mittagsstunde des 7. Dezember 1970 sagte Willy Brandt nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages in einer über alle Rundfunk- und Fernsehsender der Bundesrepublik ausgestrahlten Ansprache: „Was ich im August Ihnen aus Moskau gesagt habe, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, gilt auch für den Vertrag mit Polen: er gibt nichts preis, was nicht längst verspielt worden ist. Verspielt nicht von uns, die wir in der Bundesrepublik politische Verantwortung tragen, sondern verspielt von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus. Wir dürfen nicht vergessen, daß dem polnischen Volk nach 1939 das Schlimmste zugefügt wurde, was es in seiner Geschichte hat durchmachen müssen. Dieses Unrecht ist nicht ohne Folgen geblieben".27 Im Kern wußte Gerhard Stoltenberg in derselben Sendung für die CDU/CSU-Fraktion dieser illusionslosen Feststellung nichts als das Bedauern darüber entgegenzusetzen, daß „die Bundesregierung [ . . . ] mit der heutigen Unterschrift in Warschau die Oder/Neiße-Linie endgültig als deutsche Ostgrenze anerkennen und damit völkerrechtlich auf ein Viertel des Reichsgebiets verzichten" will. 2 8 Aber es wird für die SPD nicht ausreichen, dieses historische Verdienst ihren Wählern immer wieder vor Augen zu führen. Gewiß, der Moskauer Vertrag hat, wie wir heute wissen, eine solche hegemoniale Kraft entfaltet, daß seine konservativen Opponenten von damals ihn am 13. September 1990 durch die Unterzeichnung eines „Vertrags über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" mit der Sowjetunion weiterentwickelten. Er sieht nicht nur eine Nichtangriffsverpflichtung und regelmäßige Konsultationen der Regierungschefs vor, sondern auch die Zusammenarbeit auf den Gebieten Wirtschaft, Wissenschaft und Technik sowie Kultur, Umweltschutz und Verbrechensbekämpfung. Doch seine innergesellschaftliche Grundlage, der Verzicht auf den Machtstaatsgedanken, erscheint nur dann gesichert, wenn sie unterhalb der Ebene offizieller Politik durch eine stabile demokratische und liberale politische Kultur gestützt wird. Genau diese Bedingung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von vornherein gegeben. Niemand vermag auszuschließen, daß die Integration von 16 Millionen DDR-Bürgern die politische Kultur Gesamtdeutschlands in einer Weise verändern könnte, die ihrer Orientierung an den universalistischen Verfassungsprinzipien der Aufklärung den Boden entzieht. Zwar wurde im November und Dezember 1989 die Demokratie in der DDR auch durch Massenbewegungen von unten entscheidend mit erzwungen. So gesehen, hat die DDR die parlamentarische Demokratie nicht nur als Geschenk der Reform-Politik Gorbatschows erhalten - im Unterschied zum westlichen Teil Deutschlands, der sie nach 1945 auf Initiative der westlichen Siegermächte ohne einen erkennbaren Druck von unten einführte. Dennoch sind Zweifel erlaubt, ob es den Bürgerrechtsbewegungen gelungen ist, mit dem Sturz des alten Regimes für 26 Ebd. 27 Das Parlament, 12.12. 70. 28 Ebd.
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die politische Kultur der neuen Bundesländer gleichsam mit einem Schlag nachzuholen, was die Studentenbewegung und die außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik seit Ende der 60er Jahre eingeleitet haben: die Schaffung einer Streitkultur, in deren Rahmen der politische Gegner nicht sofort und mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum „Feind" gerät. Für diese These spricht, daß die politisch-geistige Hegemonie der Bürgerrechtsbewegungen in der früheren DDR nur eine kurze Zeit dauerte. Schon seit Januar 1990 wurde sie in den Montagsdemonstrationen nicht nur in Leipzig von politischen Strömungen verdrängt, die das radikal-demokratische „Wir sind das Volk!" durch das eher nationalistische „Deutschland einig Vaterland!" ersetzten: nicht „Verfassungspatriotismus" im Sinne demokratischer und liberaler Ideale war gefragt, sondern Vereinigung unter nationalem Vorzeichen. Diese „neue Hegemonie" prägte den Stil des Wahlkampfes vom März 1990 entscheidend. „Der Morgen", die Zeitung der Liberal-Demokraten, stellte am 17. März 1990 fest: „Grobes Pro und Contra dominierten, Kraftmeierei an Mikrofonen und vor Kameras [ . . . ] . Überklebte und zerrissene Plakate, Handgreiflichkeiten und Bombendrohungen fügten sich in keinerlei demokratisches Bild". In der Bilanz des Wahlkampfes, gezogen vom DDR-Innenministerium, heißt es, in der Zeit vom 1. bis 14. März habe es 598 Kundgebungen und Demonstrationen mit insgesamt rund 1,2 Millionen Teilnehmern gegeben. Es seien Intoleranz und Aggressivität sowie Beschädigungen und Vernichtung von Wahlkampfmaterial festzustellen gewesen. Wahlbüros und Politikern sei Gewalt angedroht worden. 29 An dieser Atmosphäre der Intoleranz, so scheint es, hat sich prinzipiell auch nach den Wahlen vom März und Mai 1990 nichts geändert. So attestiert die Ausländerbeauftragte des Ost-Berliner Senats, Anetta Kahane, ihren Mitbürgern „ein »katastrophales Bewußtsein' nach dem Motto: Rassistisch sein ist jetzt doch erlaubt". 30 Für sie gehört zum Alltag, erleben zu müssen, „wie Schwarze, Vietnamesen, Sinti und Roma auf der Straße, einfach so, zusammengeschlagen werden". Den amtlichen Stellen fällt dazu nichts anderes ein, als daß sie zur Zeit „andere Sorgen" hätten.31 Die Ausländerbeauftragte der ehemaligen DDR, Almuth Berger, gibt offen zu, daß von einer Integration der Ausländer derzeit nicht die Rede sein könne. Statt dessen schlägt sie „Sicherheitspartnerschaften zwischen Polizei und beispielsweise Wohnheimen von Ausländern" vor, „um rechtzeitig Schutz zu bieten. Oft gibt es Drohungen, daß ein solches Heim überfallen werden soll". 32 Daß dieser militante Ausländerhaß mit massenhafter Zustimmung in den neuen Bundesländern rechnen kann, geht aus einer repräsentativen Umfrage hervor, die kürzlich die PDS-nahe Stiftung „Gesellschaftsanalyse" durchgeführt hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß „56,8 Prozent der Befragten [ . . . ] ein Beschäftigungsverbot für Ausländer in Deutschland (wollen). 29 Vgl. Der Tagesspiegel, 18. 3. 90. 30 Frankfurter Rundschau, 12. 7. 90. 31 Süddeutsche Zeitung,14./15. 7. 90. 32 Frankfurter Rundschau, 27. 7. 90.
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Hauptgrund ist die Furcht um den eigenen Arbeitsplatz. Zehn Prozent meinten, die fremde Lebensart „passe nicht zu den Deutschen".33 Dieses düstere Szenario wird noch bedrohlicher, wenn man bedenkt, daß sich in der früheren DDR lediglich 95 000 ausländische Arbeitskräfte befinden, die mit ihren Familien etwa 1 Prozent der Wohnbevölkerung ausmachen. Wie wird dann aber die politische Kultur im östlichen Teil Deutschlands aussehen, wenn im Zuge der Neuvereinigung mit der Bundesrepublik bald Hunderttausende aus der EG und den osteuropäischen Ländern kommen werden? Schon jetzt haben sich in Ostdeutschland nationalistische Gruppen etabliert. Wie wir der Anfang August von der ARD ausgestrahlten Sendung „Deutschland erwache . . . " entnehmen konnten, predigen sie offen Ausländerhaß, Rassismus, Revanchismus und Antisemitismus. Für die Autoren der Sendung, Achtnich und Schütz, steht außer Zweifel: „Die Rechte hat in der DDR großen Zulauf; der Boden für nazistisches Gedankengut ist dort mit Sicherheit fruchtbarer als in der Bundesrepublik". 34 Es kommt aber noch eine zweite Differenz hinzu, durch die sich das politische Selbstverständnis vieler Bürgerinnen und Bürger der früheren DDR von der politischen Kultur der Bundesrepublik unterscheidet. Ich stimme dem Hamburger Politologen Hans-Hermann Hartwich zu, wenn er schreibt: „Die ,antiwestliche Tradition' Deutschlands, die sich im 19. Jahrhundert ausbildete und in Ablehnung von Pluralismus und Parlamentarismus ihren Niederschlag fand, ist im westlichen Deutschland überwunden. Wesentlich dazu beigetragen hat die Verfassung und ihre Auslegung sowie die Überwindung der Nachkriegsrestauration durch die antiautoritäre Bewegung, die für mich über zwanzig Jahre bis heute anhaltend eine Umwälzung politischen Denkens und Verhaltens, ja eben im Kern auch die, innere Akzeptanz, all jener Prinzipien der politischen Philosophie gebracht hat, die das Staats- und Verfassungsdenken vor allem der angelsächsischen Gesellschaft seit je geprägt hat. Den Staat von unten her sehen".35 Vieles spricht dafür, daß bei den meisten Einwohnern der neuen Bundesländer dieses westliche Verfassungsdenken nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Anstatt den Staat von der Gesellschaft her zu denken und nicht umgekehrt, könnte sich nun rächen, daß die eigentliche Phase der Umwälzung der DDR theorielos, das heißt ohne fundierte Auseinandersetzung mit den demokratietheoretischen Grundlagen der Alternative zum überwundenen SED-Staat verlief. Dies vorausgesetzt, droht jetzt im östlichen Deutschland jene unheilvolle Kontinuität des starken Obrigkeitsstaates fortzubestehen, die das Kaiserreich von 1871 bis 1918 genauso bestimmte wie das „Dritte Reich" von 1933 bis 1945 und den „realen Sozialismus" in der DDR, allerdings seit 1949 im Gewand der marxistisch-leninistischen Ideologie. Zwar gehören alle jene Institutionen, die als „Organe" der „starken" Staatsgewalt Ausfluß dieser etatistischen Tradition sind, nämlich Nationale Volksarmee, Grenztruppen, Stasi, 33 Frankfurter Rundschau, 16. 8. 90. 34 Frankfurter Rundschau, 9. 8. 90. 35 Hartwich 1989, S. 2.
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Paßbehörden und so weiter heute tendenziell der Vergangenheit an. Ob sich aber die Mentalitätsstrukturen, die von ihnen und dem sie legitimierenden Staatsverständnis geprägt wurden, gleichfalls revolutionierten, ist zu bezweifeln. Hinzu kommt, daß der mit großer Schnelligkeit verlaufende Prozeß der deutschen Einheit viele DDR-Bürger politisch-geistig entwurzelte. Diese Entwurzelung macht, vor allem in Phasen der Wirtschaftskrise und des sozio-politischen Umbruchs, anfällig für rasche autoritäre Lösungen von oben, für die „die rechtsstaatlich garantierte Autonomie der Person als Begrenzung des Prinzips der Volkssouveränität" 36 möglicherweise kein Thema ist. Niemand sollte sich Illusionen darüber machen, was dieses obrigkeitsstaatliche Erbe, mit dem die ehemalige DDR die Neuvereinigung der beiden deutschen Staaten belastet, für die entstehende gesamtdeutsche politische Kultur bedeuten könnte. Schon jetzt steht außer Frage, daß „die DDR-Rechte [ . . . ] nicht selbständig (agiert); sie ist vielmehr mit der West-Rechten verschmolzen" 37 Eine andere Gefahr sieht Hartwich darin, „daß der heute so theorielos verlaufene Vereinigungsprozeß und die fehlende Demokratiedebatte jene Geister zu neuem Leben erweckt, die der fehlenden Sicherheit im Obrigkeitsstaat, bei uns noch immer nachtrauern". 38 Und was ich 1983 in meinem Buch „Rückkehr zum starken Staat?" angesichts wachsender neokonservativer Tendenzen als Prognose formulierte, könnte im neu vereinten Deutschland eine größere Gefahr bezeichnen, als ich es im Blick auf die alte Bundesrepublik für möglich hielt: „Daß der Neokonservatismus [ . . . ] mit einem Potential in der Bevölkerung rechnen kann, das auf sein autoritäres Ordnungsdenken positiv reagiert und wenig an seiner Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit interessiert ist, duldet kaum einen Zweifel. Die Erhebung sekundärer Tugenden zu den zentralen Erziehungszielen in den Schulen; die Abkehr vom Sozialstaat bei gleichzeitigem Versprechen einer drastischen Steuersenkung; die Garantie von Ruhe und Ordnung unter rigoroser Ablehnung liberaler Kompromißformeln bei Massendemonstrationen und Hausbesetzungen; ein gezieltes Feind-Denken gegen »Linksintellektuelle4 und andere mißliebige Minoritäten und so weiter macht, zumal in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, einen rechtspopulistischen Resonanzboden wahrscheinlich". 39 Die Umrisse eines solchen Populismus sind jedenfalls erkennbar, und die Frage drängt sich auf, ob er der Konservatismus nicht nur der 80er Jahre der Bundesrepublik, wie ich damals vermutete, sondern des geeinten Deutschlands im ausgehenden 20. Jahrhundert wird.
36 Hartwich 1990, S. 162. 37 Frankfurter Rundschau, 9. 8. 90. 38 Hartwich 1990, S. 162 f. 39 Saage 1983, S. 274.
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IV. Wenn nicht alles täuscht, könnte die politische Kultur, die sich in der Bundesrepublik seit Ende der sechziger Jahre herausgebildet hat, vor ihrer bisher schwersten Belastungsprobe stehen. Sie wird ihr nur dann gewachsen sein, wenn von ihr Impulse auf die Menschen in der ehemaligen DDR ausgehen, die ihnen helfen, das nachzuholen, wofür der westliche Teil Deutschlands über 40 Jahre Zeit hatte, nämlich den Anschluß an das westliche Demokratieverständnis zu finden. Gelingt dieses Experiment nicht, so vermag niemand auszuschließen, daß die politische, militärische und wirtschaftliche Einbindung des neu vereinten Deutschlands in die EG und das westliche Sicherheitssystem in eine gefährliche Spannung zur innenpolitischen Entwicklung gerät, die erneut an das deutsch-nationale Vormachtstreben anknüpft, das unsere Nachbarn zu Recht fürchten. Das wirft die Frage auf, mit welchen Aufgaben die SPD angesichts eines solchen Zukunftsszenarios konfrontiert ist. Es gibt kritische Stimmen, die behaupten, daß die SPD an einer entscheidenden Aufgabe bereits gescheitert sei: als Opposition hätte sie seit November 1989, wie Günter Grass es kürzlich formulierte, dem „hastigen Sofortprogramm Einheit" ablehnend entgegentreten müssen. Statt dessen nehme sie in Kauf, „daß nach vierzig Jahren Auseinanderleben das übereilte Zusammenschustern - ich rede vom Staatsvertrag - die Gefahr birgt, [ . . . ] die ohnehin große Distanz zwischen den Deutschen in beiden Staaten jetzt durch ein festgeschriebenes soziales Gefälle zusätzlich" zu vergrößern. 40 Die Alternative, für die Grass eintritt, ist klar: ein ,3und deutscher Länder", bereichert um fünf weitere Länder, mit einer vom Volk bestätigten Verfassung, die weitgehend auf dem Grundgesetz fußt. 41 Es handelt sich also um eine Art Konföderation, die ihre ideelle Einheit in einer „deutschen Kulturnation" findet. Grass' Konzeption, radikal mit verhängnisvollen Kontinuitäten der deutschen Geschichte brechend, steht in den besten Traditionen der Aufklärung. Aber ihr Nachteil ist, daß es ihrem Autor nicht gelingt, sie mit den realpolitischen Gegebenheiten der Revolution in der ehemaligen DDR in Einklang zu bringen. „Wer immer regierte", sagte kürzlich Willy Brandt zutreffend in einem Interview der Frankfurter Rundschau, „mußte unter den Wirkungen dessen, was am 9. November kopflos in Ost-Berlin entschieden worden ist, agieren. Und ich sehe keine Regierung, die die Schotten wieder dichtgemacht hätte [...]. Manches [...], was an Alternativvorstellungen entwickelt worden ist, geht doch von der Annahme aus, man hätte" die beiden Teile Deutschlands „eine Zeit in milderer Form als früher voneinander getrennt halten können. Ich glaube, das war unmöglich". 42 Es war unmöglich, weil, wie man Willy Brandt ergänzen muß, sich in beiden deutschen Staaten nicht, wie dies zum Beispiel in Österreich der Fall ist, eine authentische 40 Frankfurter Rundschau, 27. 7. 90. Ebd. 42 Frankfurter Rundschau, 2. 7. 90.
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nationale Identität herausgebildet hatte und weil die einzige kollektive Orientierung, die die DDR besaß, nämlich der „reale" Staatssozialismus, wie ein Kartenhaus zusammenbrach, ohne daß ein praktikables Konzept des demokratischen Sozialismus in Sicht gewesen wäre, das eine Perspektive hätte eröffnen können. Dies vorausgesetzt, halte ich es für falsch, der SPD Versagen vorzuwerfen, wenn sie die Dynamik des Vereinigungsprozesses nicht gebremst hat. Ihre historische Aufgabe, an der sie einmal gemessen wird, ist eine ganz andere. Ihre ganze Geschichte zwingt sie dazu, sich als die politische Kraft zu bewähren, die dafür sorgt, daß das entstehende gesamtdeutsche Bewußtsein, vermittelt durch gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte und geographische Lage, wirkungsvoll von den universalistischen Verfassungsprinzipien der Aufklärung in einem geeinten Europa korrigiert wird, damit der „Neuvereinigung" der Restgebiete des ehemaligen deutschen Reiches keine „Wiedervereinigung" folgt, die auf ein neues Großdeutschland hinausliefe. Daß die SPD durch die Ostverträge von 1970 den außenpolitischen Rahmen für die Erreichung dieses Zieles abgesteckt hat, ist bekannt. Wenn heute dessen innenpolitische Absicherung auf der politischen Tagesordnung steht, bedeutet dies für die SPD, daß sie unter veränderten sozialen, politischen und historischen Bedingungen ihren Verdienst, die emanzipatorischen Traditionen der Aufklärung mit dem westlichen Demokratieverständnis und einem partizipatorisch gewendeten Sozialstaat verbunden und unbeirrt zur Richtschnur ihres Handelns gemacht zu haben, erneut einlösen muß. Gewiß, Willy Brandts Diktum zu Beginn des Einigungsprozesses, daß nun zusammenwachse, was zusammengehöre, war nicht nur durch den demokratischen Basisdruck in der ehemaligen DDR selber gedeckt; es konnte sich darüber hinaus auf das universalistische Prinzip der Selbstbestimmung der Völker berufen. Aber ebenso sicher ist, daß Brandts Formel in großen Teilen der Öffentlichkeit nationalistisch interpretiert wurde. Und die SPD hat, wie Günter Grass mit großem Recht wiederholt betonte, zu wenig getan, um einer solchen Auslegung wirkungsvoll entgegenzutreten. Um so wichtiger erscheint, daß sie sich in Zukunft als das entscheidende Bollwerk gegen eine nationalistische Emotionalisierung im neu vereinten Deutschland bewährt. So gesehen, hat dieser Aufsatz auch eine normative Dimension: sie besteht darin, die deutsche Sozialdemokratie an das internationalistische Erbe der alten Arbeiterbewegung zu erinnern und an sie zu appellieren, es stärker als bisher in den Einigungsprozeß einzubringen. Nur wenn ihr unverwechselbares Politikverständnis im neu vereinten Deutschland vorherrschend wird, gehört auch langfristig die Furcht unserer Nachbarn vor einem „Vierten Reich" der Vergangenheit an.
Liberale Demokratie. Zur aktuellen Bedeutung eines politischen Begriffs L Als im Jahr 1991 die Sowjetunion zusammengebrochen war und bereits ab 1989 die anderen mittel- und südosteuropäischen Länder unter dem Druck oppositioneller Massenbewegungen erfolgreiche Anstrengungen unternahmen, eine liberaldemokratische Revolution nach westlichem Vorbild „nachzuholen", schien für nicht wenige Analytiker des Zeitgeistes eine historische Situation wiedergekehrt zu sein, wie die Welt sie nach dem Ausbruch der Französischen Revolution nicht mehr erlebt hatte. Damals nannte Kant die Ereignisse in Frankreich ein „Phänomen in der Menschengeschichte", das „sich nicht mehr (vergißt), weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlecht vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte".1 Kant sah dann auch in der Französischen Revolution ein „Geschichtszeichen", das die „Tendenz" der Entwicklung des Menschengeschlechts „im ganzen ( . . . ) beweisen könnte" 2 und das „in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiel verwickelt sind), eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt" 3, erweckt habe. Wir alle wissen, daß die das 20. Jahrhundert profilierenden Ereignisse, die von den sinnlosen Opfern zweier Weltkriege über die ideologisch gerechtfertigten Massenmorde Hitlers und Stalins bis hin zu der Bedrohung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit durch Fehlentwicklungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts reichen, Kants geschichtsphilosophischen Optimismus zunächst zu widerlegen schienen. Wenn es nach Auschwitz nicht mehr möglich war, zwischen zivilisierten Völkern und Barbaren zu unterscheiden: Was blieb dann übrig von Kants „Geschichtszeichen", die die weltweite Errichtung von Republiken bzw. von liberalen Demokratien nach universalen Vernunftprinzipien, in deren Zentrum neben der Volkssouveränität die Freiheits- und Rechtssphäre autonomer Individuen stehen sollte, zu verbürgen schienen? Tatsächlich gab es bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa kaum eine Zeitdiagnose von Rang, die nicht von einem eher pessimistischen oder zumindest 1 Kant 1968, S. 361. 2 A. a. O., S. 357. 3 A. a. O., S. 351.
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defensiven Szenario gegenwärtiger und zukünftiger Entwicklung liberaler Demokratien ausgegangen wäre: Die zentralisierten Planwirtschaften der kommunistischen Regime und ihrer politischen Systeme wurden als bleibende Alternativen zu den bürgerlichen Gesellschaften bzw. den liberalen Demokratien des Westens von den Wortführern sowohl des rechten4 als auch des linken 5 politischen Spektrums akzeptiert. Auch davon, daß die liberale Demokratie mit einem universalen Anspruch hätte auftreten können, wie Kants geschichtsphilosophische Prognose noch unterstellen zu können glaubte, war seit Max Weber schon lange nicht mehr die Rede: Ausfluß spezifischer sozio-politischer Konstellationen der westeuropäischen Welt, schien ihre Übertragbarkeit auf andere gesellschaftliche und kulturelle Kontexte begrenzt zu sein6 - trotz der Versuche vor allem amerikanischer Modernisierungstheoretiker nach dem Zweiten Weltkrieg, das Gegenteil zu beweisen. In dem Maße aber, wie die Vorstellung dominierte, daß der Geschichtsprozeß in seiner Stoßrichtung selber pluralisiert ist und von dem Ansatz einer einheitlichen Universalgeschichte nicht ausgegangen werden könne, nahm die liberale Demokratie unter den möglichen Regierungsformen keinen besonderen Rang mehr ein. Dieser Trend wurde noch dadurch verstärkt, daß in der Zwischenkriegszeit die liberalen Demokratien selbst in Europa gegenüber der faschistischen Aggression in einem erschreckenden Maße zu versagen schienen. Zwar waren sie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in der Kontinuität des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts auf dem Vormarsch. Doch bereits 1920 gab es weltweit lediglich „fünfunddreißig konstitutionelle und gewählte Regierungen ( . . . ) . 1938 waren vielleicht noch siebzehn solcher Staaten und 1944 noch etwa zwölf von den weltweit fünfundsiebzig übriggeblieben. Der Trend auf der Welt schien eindeutig".7 Dies vorausgesetzt, kann die Bilanz der liberalen Demokratie in der Zwischenkriegszeit nicht anders als ernüchternd bezeichnet werden: Man sollte nicht vergessen, daß es in diesem Zeitraum in Europa nur fünf Staaten gab, deren liberal-demokratische Institutionen ohne Unterbrechung funktionierten: Großbritannien, mit Einschränkungen Finnland, der Freistaat Irland, Schweden und die Schweiz. Wenn man so will, stand die gesamte Nachkriegszeit im Schatten der Vorstellung, daß sich die liberale Demokratie zwar in einigen Zentren der westlichen Welt gegenüber den faschistischen und stalinistischen Totalitarismen zu behaupten vermochte. Doch - gemessen an den Hoffnungen, die Kant mit dem Ausbruch der Französischen Revolution verband - änderte dieser Umstand wenig an der Selbsteinschätzung ihrer prinzipiellen Defensive. Dieses zeitdiagnostische Paradigma wurde erst mit dem Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs in Europa nachhaltig in Frage gestellt. An sich selbst ein Ereignis von welt* 5 6 7
Vgl. z. B. Kissinger 1977 sowie Kirkpatrick 1979, S. 43-45. Vgl. z. B. Hough 1977, S. 5 u. 8 sowie MacAdams 1987, S. 107-118. Vgl. Weber 1923. Hobsbawm 1995, S. 146.
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historischer Bedeutung, lenkte er erneut die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß nicht nur die linken, sondern auch die rechten Diktaturen nach der Zerschlagung des „Dritten Reiches" gescheitert waren. Nach dem Sturz des Caetano-Regimes in Portugal 1974 folgte die Überwindung der Franco-Diktatur im Jahr 1977. 1974 hatte das rechts gerichtete Obristen-Regime in Griechenland ebenso die Macht verloren wie eine Reihe von rechten Militärdiktaturen in Lateinamerika: 1980 traten die Militärmachthaber in Peru, 1982 in Argentinien, 1983 in Uruguay, 1984 in Brasilien ebenso zurück wie Ende der achtziger Jahr die Diktatoren Stoessner in Paraguay und Pinochet in Chile. Ahnliche Entwicklungen waren in Ostasien vor allem auf den Philippinen, Südkorea, Taiwan und Burma sowie in Südafrika zu beobachten. Diese Regime hinterließen nach ihrem Sturz kein Vakuum: Sie wurden alle, wenn auch in unterschiedlicher Abstufung, durch liberal-demokratische Herrschaftsordnungen ersetzt. Was bedeutet dieser Tatbestand, daß der Krise der Zwischenkriegszeit und der Defensive nach dem Zweiten Weltkrieg der weltweite Triumph mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums folgte, für den Zustand der liberalen Demokratie heute? Heute wissen wir, daß deren Diagnose durchaus zwiespältig ist. Ihre dualistische Struktur läßt sich mit den beiden Extrempunkten einer Skala vergleichen, zwischen denen die Zustandsbeschreibung der liberalen Demokratie heute gleichsam oszilliert. Für die eine Position, die idealtypisch rein von Francis Fukuyama vertreten wurde, hatte das „goldene Zeitalter" der liberalen Demokratie, das Kant - wenn auch verfrüht - im „Streit der Fakultäten" prognostizierte, jetzt gerade erst begonnen.8 Für die andere Position, die Eric Hobsbawm entwickelte, war das „goldene Zeitalter" der liberalen Demokratie von Anfang der 50er bis Anfang der 70er Jahre definitiv beendet und ihre Zukunftsprognose düster.9 Der eine beantwortet die Frage, ob es am Ende des 20. Jahrhunderts wieder sinnvoll ist, „von einem kohärenten und zielgerichteten Verlauf der Menschheitsgeschichte zu sprechen, der letztlich den größten Teil der Menschheit zur liberalen Demokratie führen wird" 1 0 , mit einem eindeutigen „Ja". Mit ihrem Sieg gehe die Welt dem „Ende der Geschichte" entgegen, in dem die großen Auseinandersetzungen über die Zukunft der Menschheit der Vergangenheit angehören. Der andere prognostizierte, daß die Welt des dritten Jahrtausend „eine Welt der gewalttätigen Politik und gewalttätiger politischer Auseinandersetzungen sein" 11 wird. Da niemand wissen könne, wohin die blutigen Konflikte der Zukunft führen, ist für ihn die liberale Demokratie weit davon entfernt, das ahistorische Telos des geschichtlichen Prozesses zu sein. Im folgenden geht es mir nicht so sehr um die Frage, welcher der beiden Ansätze „wahr" oder „falsch" ist. Auch liegt mir ihre ideologiekritische Untersuchung fern. Vielmehr möchte ich von zwei Hypothesen ausgehen. Die eine lautet, daß die 8 Vgl. Fukuyama 1992. 9 Vgl. Hobsbawm 1995, S. 711 -718. 10 Fukuyama 1992, S. 13. 11 Hobsbawm 1995, S. 571.
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liberale Demokratie nach dem Scheitern linker und rechter totalitärer bzw. autoritärer Regime in Europa heute innerhalb ihres eigenen Geltungsbereichs in der westlichen Welt keiner ernsthaften Bedrohung von außen, d. h. von rivalisierenden politischen Systemen mehr ausgesetzt ist. Die andere unterstellt, daß die oft genannten sozio-politischen, ökonomischen und ethno-kulturellen Herausforderungen, die von der Ökologiekrise und den Migrationsströmen aus den unterentwickelten Ländern des Südens über Weltwirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit bis hin zu Fragmentierungen der Sozialstruktur in Gestalt nationalistischer und religiöser Fundamentalismen reichen, im Rahmen der liberal- demokratischen Institutionen besser lösbar sind als in allen anderen bisher bekannten Regierungsformen. Diese hypothetischen Annahmen vorausgesetzt, möchte ich an die liberale Demokratie westlichen Typs die Frage richten, ob sie, auf sich selbst gestellt, ihre innere Stabilität aus eigener Kraft zu garantieren vermag, oder ob sie im Augenblick ihres scheinbaren weltweiten Triumphes die Tendenz erkennen läßt, von innen her zu verfallen. IL Das Kernstück der liberalen Gesellschaft ist der Markt. Es verwundert daher nicht, daß es in der Nachfolge von Schumpeters „Konkurrenz-Demokratie" zahlreiche Versuche gibt, das Marktprinzip selbst und damit den „homo oeconomicuspoliticus" ins Zentrum der liberalen Demokratie zu stellen. Der bekannteste Ansatz dieser Art stammt, wie wir wissen, von Anthony Downs. Seiner „ökonomischen Theorie der Demokratie" liegen drei Annahmen zugrunde: 1. Die Gruppe der künftigen Abgeordneten und Regierungsmitglieder sieht in den Wahlen die Chance zur Stimmenmaximierung, um zu Macht und Einkommen zu gelangen. Wollen sie dieses Ziel erreichen, so müssen sie wie bei jedem Geschäftsunternehmen Zeit und Geld investieren. Zugleich verwandelt sich die politische Arena in einen Markt, sobald mindestens ein zweiter Bewerber mit dem gleichen Ziel zur selben Zeit um den Wahlsieg konkurriert. 12 2. Die Wähler gehen nicht anders als die um Stimmen werbenden Parteien und deren Politiker von ihren unmittelbaren und zukünftigen materiellen und ideellen Interessen aus. Sie erwarten sich von Partei A oder B oder C einen bestimmten Vorteil. Wenn dies ihrer individuellen Nutzenmaximierung dient, sind sie bereit, zum Wahllokal zu gehen und sich Informationen über das Programm und die Ziele der Parteien zu beschaffen. 13 3. Angesichts der nur geringen Aufnahmebereitschaft der meisten Wähler werden ihnen - meist in verkürzter und symbolischer Form - die notwendigen Informationen von den Parteien zur Verfügung gestellt. Dabei verhalten sie sich nicht anders als die Warenproduzenten auch, deren Werbeagenturen vielfach nebenbei die Wahlreklame der Parteien übernehmen.14 12 Downs 1968, S. 11 f., 33 f. 13 A. a. O., S. 35 f. 14 A. a. O., S. 217, 224 f., 231.
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Doch ist Downs ökonomische Theorie der Politik geeignet, den Bestand der liberalen Demokratie zu garantieren? Auf den ersten Blick scheint in der Tat dem Downschen Modell eine innere Kohärenz attestiert werden zu müssen. Die MarktDemokratie oder der Demokratie-Markt tritt nämlich mit dem Anspruch auf, die Wähler optimal mit der von ihnen gewünschten Ware Politik zu versorgen. Deren Nachfrage hinreichend zu befriedigen, ist das Ziel des Angebots, auf das sich nicht nur die Werbung, sondern auch die Politik der jeweils regierenden Partei bezieht. Offenbar sind die Mechanismen des ökonomischen und des politischen Marktes kompatibel: Wie das Damokles-Schwert der Konkurrenz zu einer optimalen Versorgung der Verbraucher mit Konsumgütern führt, zwingt das Risiko der Abwahl die regierende Partei, so weit wie möglich den Wählerwünschen zu entsprechen. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß der Versuch, aus der Prämisse eines ausschließlich seinen privaten Nutzen anstrebenden „homo oeconomicus-politicus" ein in sich stabiles politisches System zu konstruieren, scheitern muß. Wie wir sahen, unterstellt nämlich Downs dem Wähler durchgehend die Fähigkeit zu einer Zweck-Mittel- Rationalität nach dem Kriterium der individuellen Nutzenmaximierung. Was bedeutet aber diese Prämisse, wenn sich herausstellt, daß nur die ökonomisch potenten Bürger aufgrund ihres Einflusses durch die Wahl ihren privaten Vorteil zu optimieren vermögen, während für den Normalwähler der Einfluß auf die Politik vermittels der Stimmabgabe fast unendlich klein ist? Folgen wir der Donwnschen Logik, so ist die Antwort eindeutig: Wenn die Kosten für die Informationsbeschaffung und den Gang zum Wahllokal womöglich größer sind als der zu erwartende Nutzen, wird sich die große Masse der Normalbürger nicht an der Wahl beteiligen und das System der liberalen Demokratie bricht zusammen. Diese Konsequenz vor Augen, sah sich Downs zu einer Konzession gezwungen, die seinem Basisaxiom des eigensüchtigen „homo oeconomicus-politicus" diametral zuwiderläuft. Er mußte nämlich zugeben, daß es in einer Demokratie „rationale Menschen ( . . . ) gibt, (die) bis zu einem gewissen Grade durch ein soziales Verantwortungsbewußtsein motiviert (sind), das von ihren eigenen kurzfristigen Gewinnen und Verlusten relativ unabhängig ist". 15 Die neueren Diagnosen der liberalen Demokratie nach dem Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs in Europa haben aus diesem Versagen, das Modell des reinen Marktes als Erklärungsmuster für das Verhalten von Wählern, Abgeordneten, Parteien sowie Regierungen zu nutzen, einschlägige Folgerungen gezogen. So gegensätzlich ihre Befunde auch sein mögen, so stimmen sie doch in der Annahme vollständig überein, daß sich die liberale Demokratie nicht selbst trägt. Das Gemeinschaftsleben der Bürger, so lautet ein breit gefächerter Konsens, von dem sie letztlich abhängt, ist auf normative Ressourcen angewiesen, die sich aus anderen voroder jedenfalls nichtliberalen Quellen speisen. Die Gründungsväter der Vereinigten Staaten, so wird immer wieder betont, waren keine isolierten Individuen, denen es ausschließlich um eine vernünftige Durchsetzung ihres Eigeninteresses ging. Fest 15 A. a. O., S. 262.
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verwurzelt in religiösen Gemeinschaften, „deren Zusammenhalt auf einem gemeinsamen Moralkodex und dem Glauben an Gott beruhte" 16 , sei der aufgeklärte Liberalismus, zu dem sie sich schließlich bekannten, nicht Ausfluß einer bereits vorhandenen Kultur. Vielmehr habe sich der Wert des „wohlverstandenen Eigennutzes" in einer gewissen Spannung zu der älteren, vorliberalen Lebenswelt befunden, in der die frühen Protagonisten des Liberalismus fest verwurzelt waren. Tatsächlich bestimmte dieser Zusammenhang selbst noch Tocquevilles klassische Analyse der amerikanischen Demokratie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend. Wie kein Klassiker der politischen Ideengeschichte vor ihm, sah er die innere Gefährdung der liberalen Demokratie genau in der Motivation, der die bürgerliche Gesellschaft ihre Dynamik verdankt: die marktbezogene Selbstsucht, die er zu „den Mängeln des Geistes" und „den Fehlern des Herzens" 17 zählte. Sie dörre alle öffentlichen Tugenden im Keim aus und motiviere den einzelnen, sich vom Gemeinwesen abzuwenden und sich „in der Einsamkeit seines eigenen Herzens einzuschließen".18 Aber Tocqueville zeigte auch auf, daß die Amerikaner den besitzindividualistischen Egoismus erfolgreich durch freiheitliche Einrichtungen einschränkten. Das Gegengift zu der gesamtgesellschaftlich wirkenden Eigensucht sah er unterhalb der zentralen staatlichen Institutionen in den zahlreichen Vereinigungen, in denen sich auf lokaler Ebene spontan des Bürgerleben in überschaubaren Einheiten organisierte. „Etliche Leidenschaften, die die Herzen erstarren machen und sie entzweien", schrieb Tocqueville, „müssen sich alsdann in den Grund der Seele verkriechen und verbergen. Der Hochmut verhüllt sich, die Verachtung wagt sich nicht hervor. Die Selbstsucht hat Angst vor sich selber". 19 Eine wichtige Instanz, die zu dieser Selbstvertretung des Volkes jenseits des individualistischen Kosten-Nutzen-Prinzips motiviert, sah Tocqueville in der Religion. Sie avancierte in seiner Analyse der amerikanischen Demokratie gleichsam zur vorrationalen Quelle der Bürgersolidarität. Einerseits gelinge es ihr mit Erfolg, „den Geist der persönlichen Unabhängigkeit zu bekämpfen, der für sie allein der gefährlichste ist". 2 0 Und andererseits mute sie dem einzelnen „Pflichten gegenüber dem Menschengeschlecht oder im Verein mit ihm" 2 1 zu, die ihn auf diese Weise aus dem Zustand egozentrischer Selbstbetrachtung herausrissen. Was bedeutet diese Analyse der amerikanischen Demokratie des 19. Jahrhunderts für unser Thema? Sie läßt nur einen Schluß zu: Das von Tocqueville aufgezeigte Gleichgewicht zwischen den traditionalen Solidaritätsressourcen, wie sie die Lebenswelten der Bürgervereinigungen, der Familien, aber auch noch großer Segmente des Handwerks und der Landwirtschaft bestimmten, einerseits und der 16 Fukuyama 1992, S. 430. 17 Tocqueville 1987a, S. 147. 18 A. a. O., S. 150. 19 A. a. O., S. 154. 20 A. a. O., S. 46.
21 A. a. O., S. 37.
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Marktlogik des individuellen Nutzen-Kosten-Kalküls mit dem Ziel selbstsüchtiger Bereicherung andererseits war die entscheidende Voraussetzung für die innere Stabilität der liberalen Demokratie. Wie ist es aber über hundert Jahre später um ihren Zustand bestellt, wenn dieser Balance der Boden entzogen zu werden droht? Diese Frage erscheint berechtigt, weil viele sozio-ökonomische Indizien seit den 50er Jahren dafür sprechen, daß das Marktprinzip in zunehmendem Maße genau in jene Lebensbereiche westlicher Gesellschaften einzudringen und sie umzugestalten beginnt, in denen Tocqueville gerade deswegen die Bestandssicherheit der liberalen Demokratie garantiert sah, weil sie das Gegenteil der individuellen Nutzenmaximierung verkörperten. Tatsächlich ging mit der Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaft, die die klassischen Nationalökonomien „auf untergeordnete Komplexe transnationaler Aktivitäten" 22 reduzierte, eine Auflösung der alten Sozial- und Beziehungsstrukturen einher, die vom Zerbersten der Bindeglieder zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart begleitet wurde. „Besonders deutlich", so Hobsbawm, „trat dies in den fortgeschrittenen Staaten des westlichen Kapitalismus zutage, wo staatliche wie private Ideologien zunehmend von den Werten eines absolut asozialen Individualismus dominiert wurden". 23 Noch nie seien die Worte „Gemeinschaft", „Gemeinde" und „Gruppe" derart wahllos und sinnlos gebraucht worden wie in den Jahrzehnten, „in denen Gemeinschaften im soziologischen Sinn im realen Leben kaum noch zu finden waren". 24 Führende Diagnostiker sowohl des liberalen als auch des sozialistischen und des konservativen Lagers stimmen in der Tat darin überein, daß der herrschende Sozialcharakter des Westens im ausgehenden 20. Jahrhundert der seinen individuellen Nutzen optimierende „homo oeconomicus" zu sein scheint.
m. Welche Chancen bestehen für die Zukunftsfähigkeit der liberalen Demokratie, wenn die traditionellen Quellen ihres inneren Zusammenhalts jenseits der Marktlogik erschöpft sind?25 Wie ist in der liberalen Demokratie die politische Partizipation der Bürger zu sichern, wenn es immer schwerer wird, sich in einer Gemeinschaft zu verankern und dauerhafte Bindungen zu Mitarbeitern und Nachbarn zu knüpfen? Was ist von der Zukunft einer liberalen Bürgergesellschaft zu erwarten, wenn selbst in zunehmendem Maße die Familie als eine Art Aktiengesellschaft betrachtet wird, die zu existieren aufhört, wenn ein Vertragspartner der Meinung ist, die familiären Belastungen seien für ihn größer als er bei Unterzeichnung des Ehekontraktes erwartet hatte? Wie sollen die für das Funktionieren der liberalen Demokratie konstitutiven zwischenmenschlichen Bindungen, die Tocqueville einst 22 Hobsbawm 1995, S. 30. 23 A. a. O., S. 31. 24 A. a. O., S. 523. 25 Vgl. zum folgenden Fukuyama 1992, S. 427 f.
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als Gegenmittel gegen den besitzindividualistischen Egoismus empfahl, zustande kommen, wenn die kapitalistische Dynamik zu ständigem Standortwechsel und zur Veränderung der Produktionsweise und damit auch der Arbeit zwingt? Es stimmt nachdenklich, wenn einer der entschiedensten Anwälte der liberalen Demokratie, Francis Fukuyama, die These vertrat, daß die Auszehrung des Bürgersinns in den großen liberalen Demokratien des Westens nicht etwa trotz, sondern wegen der Geltung liberaler Prinzipien stattgefunden hat. Zwar ist er davon überzeugt, daß nach dem Fall der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa die Menschheit nunmehr - nach einigen Irrwegen und Rückschlägen - in der liberalen Demokratie die politische Form der Integration der gesellschaftlichen Verhältnisse gefunden habe, zu der es keine historische Alternative mehr gebe, weil sie im Einklang mit der Grundbefindlichkeit der menschlichen Natur stehe, nämlich dem Streben nach materieller Selbsterhaltung und nach öffentlicher Anerkennung. Doch diese geschichtsphilosophische Überhöhung der liberalen Demokratie hält ihn nicht davon ab, ihre angeblich selbstdestruktiven Tendenzen mit Maßnahmen zu bekämpfen, die das nachgeschichtliche Zeitalter der liberalen Hegemonie längst überwunden haben sollte. Er ist nämlich davon überzeugt, „daß eine fundamentale Wiederbelebung des Gemeinschaftslebens nur möglich sein wird, wenn die Individuen bestimmte Rechte an die Gemeinschaft abtreten und die Rückkehr bestimmter historischer Formen der Intoleranz dulden". 26 Den liberalen Demokratien des Westens empfiehlt er das Vorbild „starker" Gemeinschaften in Asien auf Kosten individueller Rechte und der Toleranz. „Starke familiäre Bindungen", so Fukuyama, „werden durch eine gewisse Ächtung kinderloser Menschen gestützt, Konformismus auf Gebieten wie Kleidung, Bildung, sexueller Vorlieben, Berufe usw. wird eher positiv als negativ bewertet". 27 Alles spricht indes dafür, daß die Versuche, jene traditionalen Werte, von denen die liberale Demokratie lange gelebt hat, auf mehr oder weniger autoritärem Wege wiederherstellen zu wollen, scheitern müssen.28 Abgesehen davon, daß traditionale Sinnorientierungen nicht künstlich herstellbar sind und administrativ durchgesetzt werden können, haben sie gegen die Dynamik des Globalisierungsprozesses, der vor unseren Augen abläuft, keine Chance. Ein anderes Hindernis kommt hinzu. Wenn die Vertreter der liberalen Demokratie glauben, sie könnten diese nur dadurch stabilisieren, daß sie selber zu den Mitteln ihrer Feinde greifen, dann haben sie schon verloren. Denn welche Instanz vermag zu bestimmen, wann der Einsatz autoritärer Maßnahmen die liberale Demokratie schützt und wann der „point of no return" ihrer Zerstörung erreicht ist? Das Lehrstück der Kooperation der deutschen und der italienischen Liberalen mit den Verfechtern des totalen Staates faschistischer Provenienz in den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts sollte allen eine Warnung sein. Vor allem aber sind die Annahmen, auf denen Fukuyama seine Ar26 Fukuyama 1992, S. 428. Hervorhebung von mir, R.S. 27 Ebd. 28 Vgl. hierzu Dubiel 1995, S. 730 f.
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gumentation stützt, anfechtbar. Immer wieder betont er, der Kontraktualismus zerstöre die höchsten Formen des Patriotismus: Niemand möchte für einen Staat sterben, der auf dem Prinzip der aufgeklärten Selbsterhaltung beruht. 29 Diese Auslegung des Kontraktualismus ist zumindest einseitig. Zwar wird niemand bestreiten, daß das subjektive Naturrecht sein Vorbild in den Vertragsmustern des bürgerlichen Warenverkehrs hatte. Doch es geht in dieser Strukturbeziehung nicht auf. Wie gerade die bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts zeigen, haben im Namen der unveräußerlichen Rechte ursprünglich Gleicher und Freier die frühbürgerlichen Freiheitsbewegungen einen schichten- und klassenübergreifenden Verfassungspatriotismus hervorgebracht, dem das Ancien Régime nicht standzuhalten vermochte. 30 Nun wird man einwenden, der Individualismus des subjektiven Naturrechts habe nur deswegen solidarisieren können, weil er über ein konsistentes Feindbild in Gestalt des Feudalismus einerseits und der absolutistischen Staatsmaschinerie andererseits verfügte. Doch ist die Situation für die liberale Demokratie heute so fundamental anders als im 17. und 18. Jahrhundert? Auch heute ist sie mit einem Feindbild konfrontiert, dessen universelle Ausmaße die seines Vorgängers sogar um einiges übertreffen. Es ist durch die Begriffe „Umweltverschmutzung", „Wasserknappheit", „Hunger", „Unterernährung" und „Arbeitslosigkeit" gekennzeichnet. Diese Gefahren konstituieren in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenwirken eine gemeinsame Bedrohung, die die Solidarität aller Volker herausfordert. 31 Niemand weiß, ob sie auch tatsächlich zustande kommen wird. Aber sicher ist, daß sie eine umfassende Aufklärung über die prekäre Lage der Menschheit und ihrer Gefahren ebenso voraussetzt wie das Anknüpfen an einen Individualismus, der sich durch die Anerkennung universaler Verfassungsprinzipien selbst beschränkt. Die Solidargemeinschaft der Zukunft wird eine Chance nur dann haben, wenn sie das wohlverstandene Eigeninteresse der einzelnen und die damit gegebene Konfliktbereitschaft nicht auslöscht, sondern von ihnen ausgeht. Daß Solidarität im so verstandenen Egoismus einen mächtigen Verbündeten finden könnte, muß nicht von vornherein eine illusorische Hoffnung sein. Ihr Realismus besteht vielmehr darin, daß es nicht nur um unsere eigene Lebensqualität, sondern auch um die unserer Kinder und Enkel geht. Für die liberale Demokratie, so scheint es, könnte diese Herausforderung normative Ressourcen erschließen, die nicht in den traditionalen Lebenswelten, sondern in den Herzen und Köpfen mündiger Bürger als Ausfluß ihrer eigenen Autonomie verankert sind.
29 Fukuyama 1992, S. 429. 30 Vgl. hierzu Saage 1981. 31 Vgl. hierzu King/Schneider 1991, S. 68.
Zwischen Triumph und Krise Zum Zustand des westlichen Verfassungstyps nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint eines festzustehen: Mit dem Zusammenbruch der diktatorischen Regime des sowjetischen Typs und der schon Jahre zuvor gescheiterten faschistischen und rechtsorientierten Diktaturen in Mittel- und Südeuropa ist entschieden, was in der Zwischenkriegszeit und selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg eine offene Frage war: Auch wenn die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa, Asien und Südamerika keineswegs gesichert sind und sich die Indizien eines Glaubwürdigkeitsverlustes von „Realpolitik" in den politischen Systemen des Westens mehren, hat der Verfassungstyp „westliche Demokratie" stabilere Strukturen hervorgebracht als die Diktaturen rechter und linker Provenienz. Daß die liberale Demokratie deren Herausforderung standhalten konnte, ist sicherlich einer Fülle von innen- und außenpolitischen Faktoren zuzuschreiben, die in jedem einzelnen Land gesondert zu untersuchen wären. Doch zu vermuten sind auch Gründe, die die Überlegenheit der westlichen Demokratie zumindest zum Teil aus den Legitimationsmustern diktatorischer Herrschaft selbst zu erklären vermögen, deren Defizite sie gerade vermieden hat. Doch was ist unter „Legitimationsmustern" zu verstehen? Ich meine damit einen Komplex von normativen sowie politik- und sozialstrukturellen Aussagen, mit denen die Exponenten eines diktatorischen Herrschaftssystems im 20. Jahrhundert ihre politischen Ziele kennzeichneten. Zugleich hielten sie sie für geeignet, dem von ihnen propagierten System und seiner Machtausübung in der in- und ausländischen Öffentlichkeit Anerkennung und Unterstützung zu verschaffen. Von „Mustern" ist in diesem Zusammenhang die Rede, weil von der Annahme ausgegangen wird, daß in diesen Herrschaftsideologien regelmäßig wiederkehrende Aussagen auftauchen, die das Verhältnis von Führung und Masse, die angebliche Überlegenheit des „Ganzen" eines Volkes oder einer Klasse gegenüber den einzelnen, den absoluten Führungsanspruch eines Diktators oder einer einzelnen Partei, aber auch die Notwendigkeit eines „neuen Menschen", der gleichsam das Ziel der Geschichte vorwegnimmt, und die neue Werteordnung betreffen, auf deren Folie die Unterscheidung zwischen Freund und Feind vorgenommen wird. Diese Aussagen gerinnen zu gedanklichen Konfigurationen, die den autoritären wie totalitären Diktaturen erst ihr spezifisches Profil verleihen. Das entscheidende Problem spitzt sich also auf drei Fragen zu: Erstens: Worin liegt die Übereinstimmung und der Unterschied in den legitimatorischen Grundlagen linker und rechter Diktaturen? Zweitens: Warum vermochten es die Herr-
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schaftsordnungen des sowjetischen Typs in Europa nicht, sich dauerhaft im Bewußtsein der breiten Masse der Bevölkerung zu verankern? Drittens: Läuft der Zusammenbruch dieser diktatorischen Systeme auf eine automatische Bestandssicherung der westlichen Demokratie hinaus?
I. Zu welchen Resultaten kommt eine vergleichende Analyse der Legitimationsmuster linker und rechter Diktaturen? Das, was sie verbindet, ist oft genannt worden: Ihre gegenseitigen Feinderklärungen in Gestalt des „Antimarxismus" auf der einen und des „Antifaschismus" auf der anderen Seite vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, daß sie sich in der Ablehnung und Bekämpfung des freiheitlichen Liberalismus und seiner Institutionen in Gestalt der parlamentarischen bzw. der präsidentiellen Demokratie, des Rechtsstaates, der pluralistischen Interessendurchsetzung sowie des grundrechtlich geschützten Individualismus einig sind. Vor allem ist die antiindividualistische Stoßrichtung beider Diktatur-Typen evident: So sah Lenin seine Vision der „neuen Gesellschaft" verwirklicht, wenn „die Verwandlung des Menschen in Rädchen und Schräubchen" in einer „materiellen Organisation, die Millionen Werktätige in der Armee der Arbeiterklasse zusammenfaßt" 1, vollendet ist. Und der Nationalsozialismus machte das Recht des einzelnen auf Leben und Unversehrtheit von seinem Wert für die „Volksgemeinschaft" 2 abhängig. Zugleich trat an die Stelle diskursiver Kompromißbildung die Gewalt als das entscheidende Mittel der gesellschaftlichen Integration. Sie wurde begleitet von einer Ästhetisierung der Politik durch die kontrollierte Mobilisierung und Formierung der Massen und durch die Verdinglichung von Legitimationsmustern in Gestalt von Symbolen: Diese Ritualisierung der Politik ist am intensivsten im totalitären Spektrum linker und rechter Diktaturen festzustellen; sie nimmt ab, je mehr sie autoritäre Formen annimmt. Aber diese Gemeinsamkeiten können wichtige Unterschiede nicht verdecken. Zwar vollziehen beide Diktaturtypen die Abkehr vom „bürgerlichen Menschen" mit seinem vermeintlichen Eigennutz. Doch in ihren konsequenten Ausformungen verharren linke Diktaturen nicht - wie ihre Antipoden - in einer „antibürgerlichen Bürgerlichkeit". Vielmehr streben sie einen „neuen Menschen" als Voraussetzung einer „neuen Gesellschaft" an, die ohne historisches Beispiel ist. Als Ausfluß eines utopischen Rationalismus3 wird er von Grund auf durch Erziehung neu geschaffen, und zwar nach Kriterien, die das Funktionieren der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft garantieren sollen: Erst wenn dieser Prozeß abgeschlossen ist, entfallen die Voraussetzungen einer von der kommunistischen Partei ausgeübten „Diktatur des Proletariats" und staatlicher Herrschaft überhaupt. Dieser Transformations1 Zit. Schäfer 1994, S 57. 2 Marten 1994, S. 138. 3 Vgl. Grebing 1994, S 44 f.
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prozeß wird als „historische Notwendigkeit" gerechtfertigt: Es ist gerade die angeblich wissenschaftliche Einsicht in den Verlauf der Geschichte und das „absolute" Wissen um jene historischen Augenblicke, in denen der „Fortschritt" in der Befreiung der Menschheit durch die systematische Anwendung von Gewalt gegen innere und äußere „Feinde" beschleunigt werden kann4, die die linke Diktatur rechtfertigen. Selbst die perversesten Formen der stalinistischen Despotie können die Tatsache nicht auslöschen, daß sie in ihren Ursprüngen der kollektiven Emanzipationsvariante der Aufklärung verpflichtet war. Demgegenüber lehnten zwar die rechten Diktaturen gleichfalls das „bourgeoise", auf seinen Eigennutz bedachte Individuum ab. Doch sahen sie - je mehr sie sich dem totalitären Extrem näherten - die Alternativen nicht in einem utopischen, sondern in einem historisch verortbaren und zugleich mythologisierten Menschentyp, den es in seiner ursprünglichen Authentizität wieder herzustellen oder sogar zu überbieten gelte. Die Nazis reklamierten das rassistische Paradigma für sich, in dessen Rahmen sie durch Züchtung den am Germanentum modellierten arischen „Herrenmenschen" hervorzubringen hofften. 5 Der italienische Faschismus rechtfertigte sein ideologisches Programm durch den Rückgriff auf den Mythos der Romanität.6 Beide Legitimationsmuster vereinte eine radikale Abkehr von den Ideen der Französischen Revolution von 1789: Sie rekurrierten mit dem Mythos des Germanentums und der Romanität auf vormoderne Ordnungsmuster, um den seit der frühen Neuzeit zu beobachtenden Emanzipationsprozeß mit den modernsten sozialtechnischen Repressions- und Manipulationsmitteln im Rahmen einer charismatischen Herrschaft ein für allemal zu unterbinden. Wie ist die prinzipielle Differenz beider Diktaturen in ihrer legitimatorischen Ausrichtung zu erklären? Der entscheidende Grund könnte darin liegen, daß offenbar die Linksdiktaturen einem intensiveren Begründungszwang unterliegen als die rechten Varianten, auch wenn ihre Herrschaftsmethoden vor allem in ihrer totalitären Ausprägung weitgehend austauschbar sind. Linke Diktaturen nehmen ihren Ausgang von dem Anspruch, den Entrechteten und Ausgebeuteten dieser Erde zu ihrer kollektiven Befreiung zu verhelfen. Im Gegenzug legitimierten sich rechte Diktaturen stets mit dem Willen, die Emanzipationsprozesse der Gesellschaft zu sistieren oder rückgängig zu machen.7 Unter legitimatorischen Gesichtspunkten hat dieser Unterschied weitreichende Konsequenzen. Er bedeutet, daß im ersten Fall nicht nur ein neues politisches System, sondern die gesellschaftliche Totalität einschließlich der Eigentumsverhältnisse, der Wirtschaftsordnung sowie der gesamten Formen des menschlichen Zusammenlebens im Zentrum des Legitimationszusammenhangs stehen.8 4 5 6 7
Vgl. Schäfer 1994, S. 52 f. Vgl. Marten 1994, S. 136. Vgl. Rigotti/Ornaghi 1994, S. 141 -157. Vgl. Grebing 1994, S. 45.
8 Vgl. Prpic 1994, S. 82 f.
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Im zweiten Fall dagegen beschränkt sich der Legitimationszwang auf die Repressionsmechanismen des politischen Systems: Es muß den Herrschaftsunterworfenen verständlich gemacht werden, warum die Diktatur die Emanzipation unterdrückter Teile der Gesellschaft gewaltsam unterbindet, um die Machtverteilung des gegebenen Status quo zu verteidigen oder durch den Rekurs auf vormoderne Ordnungsmuster qualitativ zu überholen. Daher greifen rechte Diktaturen auf mythische Vorbilder zurück, denen das Strukturmerkmal emanzipatorischer Selbstbestimmung fehlt: Totalitäre und autoritäre Herrschaft wird als Ausfluß mythologisch überhöhter Gegebenheiten und Traditionen, die verschüttet waren, gerechtfertigt. Demgegenüber wollen linke Diktaturen - vor allem in ihrer totalitären Ausprägung - eine Sozialutopie verwirklichen, die allen bisherigen sozio-politischen Systemen vorhergeht. Erst wenn der „neue Mensch" in einer voll emanzipierten Gesellschaft existiert, wird den diktatorischen Mitteln zu ihrer Hervorbringung der Boden entzogen sein. II. Die zweite Frage kann in ihrer ganzen Komplexität im Rahmen dieses Aufsatzes nicht umfassend beantwortet werden. Der Nationalsozialismus hat sich durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges selbst in einem Maße diskreditiert, daß keine ernst zu nehmende soziale Bewegung nach 1945 unmodifiziert an ihn anknüpfen konnte. Der planmäßige exekutierte Genozid am europäischen Judentum und der Überfall und die Versklavung der osteuropäischen Völker, die keineswegs als ein bloßer „Betriebsunfall der Geschichte", sondern als Ausfluß der selbstdestruktiven Tendenzen des „Radikalfaschismus" selbst zu bewerten sind, hat das sogenannten „Dritte Reich" definitiv als „Zivilisationsbruch" (Dan Diner) für alle Zeiten stigmatisiert. Komplizierter stellt sich uns heute die Legitimationsproblematik des „real existierenden" Sozialismus in Europa dar. Doch fest steht, daß sich die antiindividualistischen Rechtfertigungsmuster der Herrschaftsordnungen des sowjetischen Typs ebenfalls als selbstdestruktiv erwiesen haben, wenn auch in anderer Weise als es beim Nationalsozialismus der Fall war. Um diese These zu stützen, weise ich auf drei gravierende Defizite der ideologischen Orientierung hin, die zugleich die entscheidende Trennlinie zur westlichen Demokratie aufzeigen. 1. Die kommunistischen Diktaturen in Osteuropa neigten zur Stagnation, weil sie einer kleinen selbsternannten Elite das Wahrheits- und Politikmonopol zugeordnet haben. Diese Konzeption, der der Primat der Geschlossenheit nach innen und der Abkapselung nach außen zugrundelag, ist von einem monistischen Vernunftbegriff ausgegangen, dem die westlichen Gesellschaften schon in ihrer Frühzeit eine eindeutige Absage erteilten. Bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich in den Niederlanden und in England die Auffassung durchgesetzt, daß die Vernunft pluralisiert ist, weil sie aus der individuellen Urteilskraft ursprünglich Gleicher und Freier folgt. Diese Prämisse wird sehr deutlich in der Kontroverse über religiöse Toleranz während der Großen Englischen Revolution von 1642 bis 1649. Die religiöse Wahrheitsfindung, so müssen wir John Milton und viele andere
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Pamphletisten des parlamentarischen Lagers interpretieren, ist ein durch Irrtümer gebrochener Prozeß. Er lebt zwar von der vernünftigen Urteilskraft der einzelnen. Aber sie bleibt sich ihrer Grenzen bewußt und dadurch auf die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen angewiesen. Ein solcher Diskurs, der den Irrtum zum notwendigen Element der Wahrheitsfindung erhebt, bedarf einer Institution jenseits kirchlicher und staatlicher Interpretationsmonopole: einer kritischen Öffentlichkeit, in der nur eine Autorität gilt, nämlich die des besseren Arguments. 9 Der westliche Verfassungstyp ist also genau durch das gekennzeichnet, was die Diktaturen des 20. Jahrhunderts vehement ablehnten: die institutionelle Garantie permanenter Offenheit. 10 2. In dem Maße, wie die Herrschaftsordnungen des sowjetischen Typs die Abschaffung der individuellen Grund- und Menschenrechte zur unverzichtbaren Voraussetzung ihrer Regime erhoben, haben sie sich einer der wichtigsten Quellen gesellschaftlicher, kultureller, wissenschaftlich-technischer und ökonomischer Innovation begeben. Die Folgen waren weitreichend: Die staatlich verordnete Gesinnungskontrolle blockierte das schöpferische Potential von Millionen. Dem Druck der Zensur ausgesetzt, wurde der kritische Geist mündiger Bürger gelähmt und der Konformismus zur entscheidenden gesellschaftlichen Norm erhoben. Neuerungen gehen, wie man weiß, in der Regel von Minoritäten aus, die nicht selten in Opposition zu herrschenden Paradigmen stehen. Wer sie im Namen der angeblich übergeordneten Interessen der Arbeiterklasse, deren alleiniger Interpret die allmächtige Staatspartei war, unterdrückt, verspielt die Chance, die Reproduktionsbedingungen des Gesamtsystems von den kreativen Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger her zu sichern und zu verbessern. Demgegenüber beruht der westliche Verfassungstyp seit dem 17. Jahrhundert auf der Einsicht, daß ein gesellschaftlicher Konsens nur dann zu erreichen ist, wenn das autonome Individuum und seine vernünftige Urteilskraft der primäre Ursprung des Staates sind. Die Kodifizierung unantastbarer individueller Menschenrechte, die selbst den Institutionen und dem politischen Willensbildungsprozeß der Demokratie vorgeordnet sind, ist gleichsam das Signum des westlichen Verfassungstyps und der Garant seiner bisherigen Lernfähigkeit geworden. 11 3. Die linken Diktaturen, so wurde gezeigt, stehen und fallen in ihren Legitimationsmustern mit der Vision eines „neuen Menschen". Ihr hat Trotzkij emphatisch Ausdruck verliehen, als er 1924 in seiner Schrift „Literatur und Revolution" die Prognose wagte, im vollendeten Sozialismus werde „der Mensch ( . . . ) unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer, und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe 9 Vgl. Saage 1981, S. 170-188. 10 Vgl. hierzu Saage 1995, S. 101 -116. 11 A.a.O.,S. 117-130.
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und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen". 12 Die Folgen dieser Konzeption erwiesen sich als katastrophal für den Systembestand der kommunistischen Regime. Einerseits mußte die emphatische Vision des „neuen Menschen" die einzelnen in ihrem Alltag hoffnungslos überfordern: Resignation und Apathie werden die voraussehbaren Folgen. Andererseits trat an die Stelle der Eigeninitiative der Bürger die obrigkeitsstaatliche Bevormundung. Sie wurde in dem Maße zu einer der wichtigsten Ursachen der Delegitimation des Gesamtsystems, wie das diktatorische Regime den freiwilligen Konsens durch staatliche Repressionsapparate und umfassende Informationskontrollen ersetzte. Sind deren Wirksamkeit durch aufbegehrende Massenbewegungen auch nur vorübergehend eingeschränkt, so ist die Diktatur in ihrem Bestand gefährdet. Demgegenüber ging der westliche Verfassungstyp von Anfang an von einem ambivalenten Menschenbild aus: Dessen Defizite sollten nicht wegrationalisiert, sondern durch institutionelle Vorkehrungen wie der Gewaltenteilung, der Einführung rechtsstaatlicher Strukturen, der von der Verfassung garantierten freien Meinungsäußerung etc. nach Möglichkeit im Sinne einer Schadensbegrenzung neutralisiert werden. Niemand hat diesen Tatbestand genauer auf einen prägnanten Begriff gebracht als John Locke. ,3ei der Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen", heißt es in seiner klassischen Schrift „Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung", „würde es ( . . . ) eine zu große Versuchung sein, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekämen, die Gesetze zu vollstrecken". 13 Daher sei die Teilung und gegenseitige Kontrolle der Gewalten unverzichtbar. Vor allem aber nutzte der westliche Verfassungstyp die Möglichkeit, das politische System dadurch dauerhaft in der Loyalität großer Teile der Bevölkerung zu verankern, daß er ihnen institutionell abgesicherte Rechte auf individuelle Selbstentfaltung garantierte, ohne sie durch das totalitäre Leitbild eines „neuen" perfekten Menschen zu überfordern.
HI. Angesichts dieses Versagens der kommunistischen Legitimationsmuster ist nun die These vertreten worden, daß die liberale Demokratie, die seit den bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts zahlreiche Metamorphosen durchlaufen hat, nun endlich zu der politischen Form der Integration der gesellschaftlichen Verhältnisse gefunden habe, zu der es keine historischen Alternativen mehr gebe. Der dieser Feststellung zugrunde liegende Triumphalismus schlug sich in den bekannten Formeln vom „Ende der Geschichte"14 oder vom „Ende der Utopie" 15 , nieder. 12 Trotzkij 1968, S. 215. 13 Locke 1977, S. 291. 14 Vgl. Fukuyama 1992. 15 Vgl. Fest 1991; vgl. dazu auch Saage 1992.
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Doch demgegenüber bleibt zu fragen, ob tatsächlich der Niedergang des Realsozialismus in Europa automatisch zu einem Legitimationsgewinn des westlichen Verfassungstypus führt, der ihn gleichsam gegenüber allen Gefährdungen immunisiert. Wer sich einen Überblick über die Zeitdiagnosen der westlichen Demokratie nach der großen Zäsur von 1989 und 1991 verschafft hat, könnte zu dem Schluß kommen, das Gegenteil sei der Fall. Mit dem Wegfall des Feindbildes „Totalitarismus", so scheint es, treten die Schwächen des Verfassungstyps „westliche Demokratie" um so schärfer hervor. Genannt werden vor allem die folgenden Problemlagen, mit denen der westliche Verfassungstyp konfrontiert ist, ohne bisher überzeugende Lösungen anbieten zu können: 1. Seit der frühen Neuzeit hätten sich in den westlichen Ländern Marktgesellschaften in einem langwierigen und komplexen Prozeß durchgesetzt. Aber der individualistische Nutzenkalkül und das egoistische Konkurrenzverhalten als notwendige Voraussetzung und Folge der Marktökonomie seien, wie Tocqueville in seiner Analyse der amerikanischen Demokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkte, durch „Gewohnheiten des Herzens" korrigiert worden. Er habe damit einen Tatbestand gemeint, der eigentlich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Demokratien außer Frage stand: daß nämlich das Prinzip egoistischer Nutzenmaximierung auf die Sphäre der Ökonomie im engeren Sinne weitgehend beschränkt blieb und die anderen Lebensbereiche der ständisch-handwerklichen sowie bäuerlichen Traditionen, des Familienlebens und der generellen sozialen Orientierung der einzelnen unberührt ließ. Der Triumph der Marktwirtschaft im weltweiten Kontext nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaften des Ostens könnte nach dieser Diagnose für die innere Verfassung der westlichen Staaten einen hohen Preis haben16: Marktkonformes Verhalten, das durch solidarische Werte nicht mehr korrigiert werde, treibe eine gesellschaftliche Praxis aus sich hervor, die der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde jüngst auf die Formel brachte: Es komme für viele darauf an, „möglichst viel (für sich, R. S.) herauszuholen, sich teuer zu verkaufen". 17 Doch setze sich diese Maxime durch, so sei der liberalen Demokratie ihre wichtigste normative Ressource entzogen: die Bereitschaft der Bürger, sich für die liberale Demokratie zu engagieren. 2. Mit dem drohenden Zerfall der normativen Ressourcen des Bürgersinns gehe ein Modernisierungsschub in den westlichen Staaten einher, der ausschließlich seiner eigenen Logik folge, ohne auf die anderen Teilbereiche der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Eine konjunkturunabhängige, auf Dauer gestellte Massenarbeitslosigkeit, aber auch der Verlust humaner sinnstiftender Leitbilder sei die notwendige Folge: Sie produzieren dadurch massenhaft anomische Bewußtseinslagen, die sich in Gewalt- und Ideologiebereitschaft sowie in der Sehnsucht nach einfachen Lösungen und „starken" Männern äußere.18 Die immer wiederkehrenden Wellen 16 Vgl. Dubiel 1995, S. 727-733. 17 Böckenförde 1995, S. 723. is Fijalkowski 1994, S. 285.
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des Fremdenhasses und rechtsextremistischer Gewalttaten seien zwar nicht mit den Entstehungsbedingungen des Faschismus in der Weimarer Republik zu vergleichen. Doch stellten sie dann eine ernsthafte Herausforderung für die liberale Demokratie dar, 19 wenn sie begleitet würden von massiven sozio-kulturellen Fragmentierungen, in deren Gefolge sich innerhalb fundamentalistischer Gruppierungen totalitäre Ideologien durchsetzen können. Der ehemalige Ost-West-Gegensatz sei längst durch einen „Zusammenprall der Zivilisationen" (Huntington) ersetzt worden, der nicht nur an den Grenzen des Geltungsbereichs der westlichen Demokratien, sondern in ihren Metropolen selbst stattfinde. 20 Diese Diagnose ist im übrigen durch die Ereignisse des 11. September 2001 voll bestätigt worden. 3. Technologische Entscheidungen mit irreversiblen Konsequenzen drohten das Mehrheitsprinzip außer Kraft zu setzen. Die westliche Demokratie sei aber nur dann wirklich funktionsfähig, wenn die Minderheit zur Mehrheit werden und einmal getroffene Entscheidungen wieder revidieren könne. 21 Noch schwerer aber wiege, daß die liberale Demokratie in ihrer jetzigen Form den Nachweis noch schuldig bleibe, daß sie die Lebensbedingungen der Menschheit im 21. Jahrhundert zu sichern vermag. Dem Druck der nächsten Wahlen ausgesetzt, konzentrierten sich die Politiker auf unmittelbar anstehende Problemlagen; die längst falligen ökologischen Strukturentscheidungen blieben aus, weil sie langfristigen Menschheitsinteressen dienten, die im System der Konkurrenzdemokratie nicht mehrheitsfähig und damit auch nicht durchsetzbar seien. Nicht im Parlament, sondern im Radio und im Fernsehen fänden im allgemeinen die sachkundigen Diskussionen über die wichtigsten ökologischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme statt. Das Interesse der Parteien an ihrem Machterhalt entwickle zudem eine solche Eigendynamik, daß der Abstand zwischen der öffentlichen Meinung und den gewählten Volksvertretern ständig wachse. Wir müßten uns bewußt sein, so lautet die Diagnose des Berichts an den Club of Rome von 1992 („Die globale Revolution"), „daß die Demokratie heute ausgehöhlt und gefährdet ist und daß sie Grenzen" habe. Die Antwort auf die Frage, ob die Welt, in der wir uns vorfinden, überhaupt regierbar sei, laute: „Wahrscheinlich nicht mit den derzeitig vorhandenen Strukturen und Einstellungen".22 4. In dem Maße, wie sich die Individualisierungstendenzen in den westlichen Ländern verstärkten, werde immer unklarer, worin der unverzichtbare gesellschaftliche Basis-Konsens als Voraussetzung eines pluralistisch verfaßten Regierungssystems zu sehen sei: Alle normativen Ressourcen traditionaler Art, aus denen sich jenseits marktkonformen Verhaltens so etwas wie eine kollektive Identität ergeben könnte, schienen erschöpft zu sein. 23 Aus dieser Entwicklung resultierten zwei 19 Gess 1994, S. 340. 20 Tibi 1994, S. 305 ff. 21 Bermbach 1994, S. 302. 22 King/Schneider 1991, S. 69. 23 Bermbach 1994, S. 293.
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Konsequenzen, die sich für die liberale Demokratie gleichermaßen fatal auswirkten. Einerseits komme es bei vielen Bürgern zur Herausbildung einer Doppelmoral: Im Namen individueller Grundrechte würden staatliche Maßnahmen zur Schaffung von Infrastrukturen, die solidarischen Zwecken dienten, blockiert, um den politischen Akteuren gleichzeitig Versagen angesichts dringend zu lösender Strukturprobleme vorzuwerfen. 24 Andererseits habe die zunehmende Individualisierung des Lebens schon längst die Frage nach der Integrationsfähigkeit der westlichen Demokratien aufgrund des Wegfalls des kommunistischen Feindbildes auf die politische Tagesordnung gesetzt: Es sei keineswegs ausgemacht, so lauten düstere Prognosen, ob nicht die Bürgerkriegsszenarien im ehemaligen Herrschaftsbereich des Realsozialismus die Zukunft der westlichen Demokratie vorwegnehmen. 25 5. Als zwischen 1989 und 1991 die realsozialistischen Staaten in Europa zusammenbrachen, beherrschte eine optimistische, wenn nicht sogar euphorische Europa-Vision die öffentliche Auseinandersetzung. Man sprach vom „Modell Europa", in dem es vielfältige und richtungsweisende Sozialexperimente geben werde, denen nicht länger mehr dogmatisierte Utopien und Ideologien, sondern empiriegesättigte und erprobungsfähige Handlungsentwürfe zugrundeliegen. Europa, so schien es, avancierte zum Hoffnungsträger überhaupt, der auf der Basis einer florierenden Marktwirtschaft wachsenden Wohlstand mit Demokratie, Rechtsstaat, sozialer Sicherheit sowie einer zivilen politischen Kultur verbindet und so zu einer Erneuerung bzw. Revitalisierung des westlichen Verfassungstyps führt. 26 Heute, so scheint es, ist nicht mehr viel von dieser Aufbruchstimmung übrig geblieben. Vor allem werden Zweifel an der ökonomischen Leistungsfähigkeit Europas laut. Die Prognose geht von der Annahme aus, daß die Wachstumsraten der vergangenen Jahre nicht mehr erreichbar sind, die die Voraussetzung für das Funktionieren unserer Sozialsysteme waren und die zugleich die Löhne in Europa unbezahlbar gemacht hätten. Einerseits seien die Löhne brutto zu hoch; sie raubten den Produzenten die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Andererseits seien sie jedoch netto zu niedrig, weil sich ein alleinverdienender Angestellter mit zwei Kindern zunehmend der Armutsgrenze nähere. 27 Aus diesem Szenario werden einige beunruhigende Fragen abgeleitet: Stehen wir vor dem Ende unserer bisherigen Lebensweise? Wenn Europa tatsächlich verarmt: Verliert dann der Verfassungstyp „westliche Demokratie" nicht eine entscheidende Sinnquelle? Kann es sein, daß der Zusammenbruch des Ostens nicht den Sieg des Westens bedeutet, sondern umgekehrt: das Vorbeben zu einem noch viel größeren Zusammenbruch? Befinden wir uns heute in Europa in einer Situation wie die DDR des Jahres 1985, ohne zu ahnen, wie wenig Zeit uns noch bleibt? 24 Fijalkowski 1994, S. 286 f. 25 Vgl. Eisfeld 1994, S. 352. 26 Vgl. Senghaas 1990, S. 184 ff. 27 Vgl. Afheldt 1995: vgl. dazu auch Martenstein 1993, S. 15.
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IV. Wie soll der westliche Verfassungstyp auf diese Herausforderungen reagieren? Niemand wird von mir an dieser Stelle detaillierte Reformvorschläge der Institutionen unseres politischen Systems erwarten können; dazu mögen sich Experten äußern, die auf diesem Gebiet kompetenter sind als ich. Doch möchte ich wenigstens zwei Bedingungen nennen, die für die Zukunft der westlichen Demokratie entscheidend sein können. Zunächst wird ihre zukünftige Entwicklung davon abhängen, ob es gelingt, dem Denken in Kategorien der individuellen Nutzenmaximierung neue Formen der Bürgersolidarität gegenüberzustellen. Offen kontraproduktiv wäre der Versuch, sie durch innen- und außenpolitische Feindbestimmungen zu erzwingen: Eine solche ausgrenzende Homogenisierung würde die Demokratie unter sich begraben. Aber auch den neokonservativen Ansatz, Solidarität durch den Rekurs auf traditionale Werte im Bereich der Familien, Sozial- und Kulturpolitik notfalls durch administrative Verordnung zu ermöglichen, halte ich für einen Irrweg. Längst sind die traditionalen Polster, auf die sich - bis vor wenigen Jahrzehnten - der Respekt vor der Autorität des Staates, der Gehorsam gegenüber den Gesetzen und eine Ethik der Arbeit stützen konnten" 28 , in dem Maße verschlissen, wie in den westlichen Ländern die zweckrationale, am Markt orientierte Nutzenmaximierung nicht mehr an einer bestimmten Schicht festmachbar, sondern tendenziell zur Handlungsmaxime aller Individuen geworden ist. Die von der Moderne ausgelösten Individualisierungstendenzen sind nur von ihr selbst durch neue Formen der Solidarität in ihrer Dynamik zu bremsen und auf ihr humanes Maß zurückzuführen. Und sie kann dabei auf keine andere Quelle zurückgreifen als auf die säkularisierte Vernunft der Bürger selbst, die freilich zu ihrer Entfaltung einer auf den autonomen Kräften der Gesellschaft beruhenden „Civil society" bedarf: Erst in ihr können die Bürger wieder lernen, freiwillig solidarische Bindungen einzugehen. Ferner scheint mir klar zu sein, daß die aufgezeigten Strukturprobleme nur dann zu bewältigen sind, wenn der westliche Verfassungstyp entschlossen an den - freilich zu reformierenden - Strukturen des Parteiensystems festhält: Sie sind keine Fremdkörper, sondern müssen zu einem Zentrum der anzustrebenden Zivilgesellschaft erhoben werden. Für alle Versuche, das tatsächliche oder vermeintliche Versagen der politischen Parteien dadurch zu kompensieren, daß man die Richtlinienkompetenz bei der Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts neu zu schaffenden Institutionen zuordnet, die in einem, angeblich vom pluralistischen Interessenkampf entlasteten Raum agieren, trifft noch immer zu, was Hans Kelsen über die Parteienfeindschaft in den konstitutionellen Monarchien in Deutschland und Österreich sagte: Sie sei - bewußt oder unbewußt - ein ideologisch maskierter Stoß gegen die Realisierung der Demokratie". 29 Tatsächlich benötigen wir nicht 28 Dubiel 1995, S. 729. 29 Kelsen 1981, S. 20.
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weniger, sondern mehr Pluralismus. „In der gegenwärtig entstehenden Welt", so heißt es im Bericht des Club of Rome von 1991, „kann die Entscheidungsgewalt nicht länger das Monopol von Regierungen und ihren Ministerien sein, die obendrein in einem Vakuum arbeiten". Viele Partner müßten in diesen Prozeß einbezogen werden: Handel und Industrie, Forschungsinstitute, Wissenschaftler, nichtstaatliche Einrichtungen und private Organisationen". 30 Allerdings wird der pluralistische Parteienstaat der Problemlage des 21. Jahrhunderts nur unter der Voraussetzung gewachsen sein, daß er sich in zweierlei Hinsicht reformiert. Auf der einen Seite muß er durch ein direktdemokratisches Korrektiv wirkungsvoll ergänzt werden. Von einer solchen Konstellation könnten das Parlament, die Parteien und die Abgeordneten nur gewinnen, weil sie in einer im Umbruch begriffenen Welt auf einen sensiblen Seismographen an der Basis angewiesen sind: nicht nur um eine Politik zu vermeiden, die sich von den Interessen, Hoffnungen und Ängsten der Bürger löst. Ebenso wichtig ist, daß nur so deren Identifikation mit dem politischen System der parlamentarischen Demokratie möglich erscheint. Auf der anderen Seite wird der pluralistische Parteienstaat des 21. Jahrhunderts um die Erarbeitung der Vision einer zukünftigen Welt, in der wir gerne leben wollen" (Schneider/King), 31 nicht herumkommen. Wer ein solches sinnlich konkretes fiktives Szenario, das über den bestehenden Status quo hinaus weist, von vornherein als Totalitarismus abtut, hat nicht begriffen, daß die Institutionen des westlichen Verfassungstyps zu leeren Hülsen werden, wenn sie sich auf ihre Funktion der Elitenrekrutierung und der Erzeugung der staatlichen Ordnung beschränken. Das Politische verschwindet dann aus der Politik: Sie droht zu einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung von Scheinlösungen zu verkommen, ohne auf die Strukturprobleme des 21. Jahrhunderts wirkliche Antworten zu finden. Die westliche Demokratie, so kann abschließend festgestellt werden, hat den Herausforderungen linker und rechter Diktaturen im 20. Jahrhundert standgehalten. Ob sie die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen wird, für die sie selbst verantwortlich ist, muß die Zukunft zeigen.
30 King/Schneider 1991, S. 105. 31 „Wir brauchen eine Vision". Der Club of Rome fordert in seinem Bericht einen radikalen Wandel des Denkens, in: Der Spiegel 37/1991, S. 138-145.
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Literaturverzeichnis
Frankfurter Rundschau, 13. 8. 90 Frankfurter Rundschau, 16. 8. 90 Die Welt, 18. 7. 90 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 8. 90 Das Parlament, 13. 6. 70 Das Parlament, 12. 12. 70 Der Tagesspiegel, 18. 3. 90 Süddeutsche Zeitung,14./15. 7. 90
Drucknachweise Widerstandsrecht und Toleranzprinzip im Aufstand der Niederlande, in: NPL, XXIV. Jg (1979), S. 318-344. Zur politischen Theorie der großen Englischen Revolution, in: NPL, XXV. Jg. (1980), S. 170-188. Probleme der Sozialgeschichte der amerikanischen Revolution, in: NPL, XIX. Jg (1974), S. 310-339. Zum 200. Todestag Immanuel Kants (gemeinsam mit Susann Held), in: Danilo Basta (Hrsg.): Aktualität und Zukunft der Kantschen Philosophie. Ergebnis einer internationalen philosophischen Umfrage anläßlich des 200. Todestages von Immanuel Kant, Belgrad 2004, S. 61-70. Kants Rechtsphilosophie und der Besitzitidividualismus, in: Leviathan, 26. Jg. (1998), S. 243-252. Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres (gemeinsam mit Zwi Batscha), in: Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres. Herausgegeben und eingeleitet von Richard Saage und Zwi Batscha. Frankfurt am Main 1979, S. 7-37. Zur neueren Rezeption der politischen Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, in: Johann Gottlieb Fichte: Ausgewählte Politische Schriften. Herausgegeben von Zwi Batscha und Richard Saage. Mit einem Nachwort von Richard Saage. Frankfurt am Main 1977, S. 357414. Hegel und die Demokratie, in: Rainer Schmalz-Bruns/Hubertus Buchstein (Hrsg.): Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Göhler, Baden-Baden 2006, S. 97-110. Politische Ideengeschichte in demokratietheoretischer Absicht. Das Beispiel Hans Kelsens und Max Adlers in der Zwischenkriegszeit, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Stuttgart/Leipzig 2003, S. 1-22. Otto Bauer (1881-1938): Ein Lebensbild, in: Otfried Danckelmann (Hrsg.): Lebensbilder europäischer Sozialdemokraten des 20. Jahrhunderts, unter Mitarbeit von Hartmut Peter, Wien 1995, S. 29-44. Zwanzig Jahre danach: „Faschismustheorien und ihre Kritiker", in: Richard Saage, Faschismustheorien. Eine Einführung. 4. Aufl. Mit einem Vorwort „Zwanzig Jahre danach: »Faschismustheorien' und ihre Kritiker". Baden-Baden 1997, S. 7 - 1 8 . Die SPD und die Furcht unserer Nachbarn vor einem „Vierten Reich", in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 42. Jg. (1991), S. 38-50. Liberale Demokratie. Zur aktuellen Bedeutung eines politischen Begriffes, in: Richard Saage/Gunnar Berg (Hrsg.), Zwischen Triumpf und Krise. Zum Zustand der liberalen Demokratie nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa. Opladen 1998, S. 21 -29.
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Drucknachweise
Zwischen Triumph und Krise. Zum Zustand des westlichen Verfassungstyps nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 47. Jg. (1996), S. 65-76.