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German Pages 324 Year 1980
KLAUS GRIMMER
Demokratie und Grundrechte
S c h r i f t e n zum ö f f e n t l i c h e n R e c h t Band 382
Demokratie und Grundrechte
Elemente zu einer Theorie des Grandgesetzes
Von
Klaus Grimmer
DUNCKER
& HUMBLOT
/
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 © 1980 Duncker & Humblot, Berlin 41 Printed in Germany ISBN 3 428 04712 5
Vorwort Demokratie und Grundrechte kennzeichnen ein Spannungsverhältnis i m Grundgesetz, i n i h m kristallisiert sich die „neue Ordnung", welche sich das deutsche Volk nach der Präambel des Grundgesetzes für das staatliche Leben i n der Bundesrepublik Deutschland geben w i l l . Diese Ordnung baut auf dem Prinzip der Volkssouveränität, dem Mehrheitsprinzip und dem Grundrechtsprinzip. Die Funktion dieser Grundelemente der Verfassung sowie der Gehalt der Einzelnormen sind nur i n ihrem theoretischen Zusammenhang erklärbar (Teil III), diesen theoretischen Zusammenhang herauszuarbeiten, ist das Anliegen der hiermit vorgelegten Untersuchung. U m die Eigenart des Grundgesetzes erfassen zu können, ist es notwendig, den historischen Kontext zu diskutieren (Teil I), neue Forschungsergebnisse werden hierzu nicht vorgelegt. Die Diskussion von Funktion und Gehalt des Grundgesetzes und seiner Einzelnormen bedarf auch der Vorklärung des erkenntnistheoretischen Zuganges und der gesellschaftstheoretischen Zusammenhänge i m Verstehen einer Verfassung (Teil II). Die Skizzierung der Elemente einer Grundgesetztheorie ist notwendigerweise abstrakt, sie bedarf weiterer konkreter Ausarbeitungen. Die Aufarbeitung der Literatur und Rechtsprechung wurde deshalb nur bruchstückhaft vorgenommen, der Nachweis von Literatur und Rechtsprechung hat vor allem die didaktische Funktion, Problemzusammenhänge zu verdeutlichen und ergänzende Hinweise auf das gängige Schrifttum zu geben. Anregungen zu dieser Arbeit erwuchsen aus der Zusammenarbeit m i t Prof. Dr. M a r t i n Drath, ehedem Bundesverfassungsrichter (t). M a r t i n Drath hat es i n hervorragender Weise verstanden, eingefahrene Gleise der Staatslehre zu verlassen, und er hat wesentliche Beiträge für das Verständnis der neuen freiheitlich-sozialen und demokratischen Ordnung des Grundgesetzes und für die Funktion des Staates geleistet. Die Arbeit ist auch i n besonderer Weise Prof. Dr. Gerhard Weisser, Staatssekretär a. D., Gründer und wissenschaftlicher Direktor des Forschungsinstitutes für Gesellschaftspolitik und beratende Sozialwissenschaft e. V. verpflichtet. Gerhard Weisser hat sehr früh die Grundlagen für erkenntnistheoretische Klarheit und Ehrlichkeit i n der sozialwis-
6
Vorwort
senschaftlichen Diskussion gelegt und engagiert gesellschaftspolitisch gehandelt. Die Arbeit entstand unter schwierigen Bedingungen, sie war mehrfach unterbrochen durch die Verpflichtungen, welche sich aus der M i t arbeit beim Aufbau einer neuen Universität ergeben und sie l i t t unter den sächlichen und personellen Mängeln einer Hochschule i m Aufbau. Besonders zu danken ist deshalb Brigitte Holzfuß für die Betreuung und technische Erstellung des Manuskriptes unter diesen schwierigen Umständen. Gerhard Schaumann und Wolfgang Schürer waren bei der Beschaffung von Materialien behilflich und haben durch ihre K r i t i k die Diskussion der hier vorgelegten Untersuchung angereichert. Ahnatal/Lauchheim i m Herbst 1979 Klaus Grimmer
Inhaltsverzeichnis
Teil
I
Verfassungsgeschichtliche Voraussetzungen des Grundgesetzes
1.
Problemauf riß — Grundrechte u n d Volkssouveränität als Grundlagen einer Verfassungstheorie des Grundgesetzes
13
2.
Verfassungsentwicklung i n England, Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a u n d Frankreich als Ausformung allgemeiner verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien 20
2.1
England: Freiheit als Souveränität zur Gesetzgebung
20
2.2
Vereinigte Staaten von A m e r i k a : Freiheitsrechte als Grundlage der Volkssouveränität
26
2.3
Frankreich: Freiheitsrechte u n d Gesetzgebungsrechte
31
2.4
Allgemeine Bürgerrechte u n d parlamentarische Mitbestimmungsrechte als Grundlagen des bürgerlichen Staates
36
3.
Verfassungsentwicklung i n Deutschland
38
3.1
Beiträge der philosophisch-politischen Theorie zur Entfaltung des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates —
38
3.2
Staatssouveränität u n d ständische Mitwirkungsrechte i m Vormärz
45
3.3
Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates — Bürgerlich-liberaler Rechtsstaat versus soziale Demokratie
51
3.3.1
Trennung von Staat u n d Gesellschaft — Gesetzmäßigkeitsprinzip u n d Allgemeines Gewaltverhältnis — Freiheitsrechte u n d subjektiv öffentliche Rechte — Souveränität des Staates als juristischer Person
61
8
Inhaltsverzeichnis
3.3.2
Bürgerliche Freiheit u n d demokratisch soziale Ungleichheit — Z u sammenfassung
71
3.4
Weimarer Verfassung: Demokratie als formalrechtliche sation
75
3.4.1
Grundrechte als Gewährleistungen des gesellschaftlichen status quo
79
3.4.2
L e g i t i m i t ä t durch Legalität
86
3.4.3
Legitimationsverlust der Weimarer Republik — Scheitern einer sozialstaatlichen freiheitlich-demokratischen V e r fassungsordnung — Zusammenfassung
98
Teil
Organi-
II
Grundgesetzauslegung als offener und allgemeiner Prozeß
4.
Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
105
4.1
Die Bestimmbarkeit der staatlichen Ordnung durch die G r u n d rechte: ein methodologisches u n d verfassungsrechtliches P r o b l e m . . 106
4.2
Die Unmöglichkeit einer intersubjektiv gültigen u n d verfassungsrechtlich verbindlichen Methodik der Verfassungsinterpretation . . 111
4.2.1
Die klassisch-hermeneutische Interpretationsmethode des verfassungsrechtlichen Positivismus 113
4.2.2
Werte u n d Wertung i n der Grundrechtsinterpretation
128
4.2.3
Institutionelles Grundrechtsverständnis
136
4.2.4
Topik — Argumentation — Dogmatik. Interpretationskompetenz
4.3
Verfassungsauslegung als offener u n d allgemeiner Diskurs
160
4.3.1
Z u r praktischen Wahrheitsfähigkeit gung
161
Sprachkompetenz
inter subjektiver
und
Verständi-
145
Inhaltsverzeichnis 4.3.2
Die Legitimationsfunktion der Verfassung u n d die Interessenbindung der Verfassungsauslegung 166
4.3.3
Gültigkeit u n d Zulässigkeit einer Normkonkretion — Normsatz, Normprogramm, Normbereich
Teil
172
III
Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip und Grundrechte sowie die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichtes
5.
Grundelemente einer Grundgesetztheorie: Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip, Verbindlichkeit der Grundrechte 179
5.1
Volkssouveränität
5.1.1
Die Begründung individueller Rechtsstellungen durch das V e r fassungsprinzip der Volkssouveränität 186
5.1.2
Organisation u n d Repräsentation i n der politischen Mitbestimmung 188
5.1.3
Volkssouveränität u n d Staatssouveränität
191
5.2
Mehrheitsprinzip
194
5.2.1
Rechtsetzungsbefugnis, Organisations- und Informationsgewalt als Ausdruck des Mehrheitsprinzips 197
5.2.2
Begrenzungen der Mehrheitsgewalt durch formale Organisationsu n d Verfahrensregelungen 201
5.2.2.1 Befristung u n d Rückbindung
180
201
5.2.2.2 Organisation der Herrschaftsgewalt i n unterschiedlichen Kompetenzträgern 202 5.2.2.3 Überprüfbarkeit von Herrschaftsakten 5.2.3
205
Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität u n d dem Mehrheitsprinzip 208
10
Inhaltsverzeichnis
5.2.3.1 Eingeschränkte Legitimationskraft Verfahrensregeln
formaler
Organisations-
und
212
5.3
Grundrechte
215
5.3.1
Dogmatisierte Geschichte: Grundrechte als subjektive Freiheitsrechte u n d als Elemente objektiver Ordnung 215
5.3.2
Die S t r u k t u r sozialer Beziehungen als Gegenstandsbereich der Grundrechte 225
5.3.2.1 Normprogramm u n d Normbereich der Grundrechte
240
5.4
Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
244
5.4.1
Das Normprogramm des Grundgesetzes: Gewährleistungen der allgemein freiheitlichen S t r u k t u r sozialer Beziehungen u n d der Chancengleichheit i n der Ausgestaltung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung 245
5.4.2
Bindung der Grundrechte
5.4.2.1 Grundrechte ansprüche"
Mehrheitsgewalt
beinhalten
durch
Volkssouveränität
„ A b wehransprüche"
und
und
„Leistungs-
246
248
5.4.2.2 A r t . 3 GG: Gleichheit vor dem Gesetz u n d Chancengleichheit i n der politischen Mitbestimmung 250 5.4.2.3 Grundrechte sind „Freiheitsrechte" u n d „Sozialrechte"
253
5.4.3
Gestaltungskompetenz der Mehrheit u n d Hechtsstaatsgebot
260
5.4.4
Die D i a l e k t i k der Grundgesetzelemente
266
5.4.4.1 Legitimations- und Integrationsfunktion der Grundrechte
269
5.5
Exkurs
272
5.5.1
Öffentlichkeit u n d Informationsfreiheit
272
5.5.2
B i l d u n g u n d Weiterbildung
284
5.5.3
Eigentum — Mitbestimmung — Wirtschaftsordnung
291
Inhaltsverzeichnis 6.
Demokratie u n d Legitimation
298
6.1
Materiale Demokratie
298
6.2
Identität u n d Nichtidentität zwischen gesellschaftlich herrschenden Interessen u n d der P o l i t i k der Staatsorgane — Die L e g i t i mationsfähigkeit des Staates nach dem Grundgesetz 305
6.3
Demokratie als Bedingung u n d Form der Verfassungsauslegung.. 310
7.
F u n k t i o n der Verfassung u n d Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichtes 313
7.1
Die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichtes
7.2
K r i t e r i e n f ü r die B i l d u n g der Entscheidungsnorm: die analytischfinale Methode 316
313
TEIL I
Verfassungsgeschichtliche Voraussetzungen des Grundgesetzes 1. Problem auf riß — Grundrechte und Volkssouveränität als Grundlagen einer Verfassungstheorie des Grundgesetzes Das Grundgesetz kennzeichnet die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland als eine freiheitlich demokratische, eine soziale und bundesstaatliche, eine republikanische und rechtsstaatliche (Art. 18, 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG). A u f der Grundlage der Volkssouveränität w i l l es dem staatlichen Leben eine „neue Ordnung" vermitteln (Präambel des GG). Grundlage dieser neuen Ordnung sind die Volkssouveränität und „unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit i n der Welt". Die „Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht" (Art. 20 Abs. 2, A r t . 1 Abs. 2 u. 3 GG). Die Normativität der Grundrechtssätze als verbindlicher Gebotsoder Verbotsaussagen ergibt sich dabei weniger aus der Form ihrer sprachlichen Darstellung, deskriptive und präskriptive Aussageformen wechseln, sondern aus A r t . 1 Abs. 3 GG. Dieser besondere rechtliche Geltungsanspruch der Grundrechte w i r d verstärkt durch die sog. „Wesensgehaltsgarantie" des A r t . 19 Abs. 2 GG und die axiomatische „Ewigkeitsentscheidung" des A r t . 79 Abs. 3 GG. Der besondere Geltungsanspruch der Grundrechte gem. A r t . 1 Abs. 3 GG und seine justizielle Absicherung haben bewirkt, daß das Grundgesetz eine zentrale Position i m gesamten Rechtsleben eingenommen hat, wie es bei keiner der deutschen Verfassungen, die i n einzelnen Ländern oder i m nationalen Staat seit Anfang des letzten Jahrhunderts erlassen wurden, der Fall war 1 . 1 Vgl. U. Scheuner, Das Grundgesetz i n der Entwicklung zweier J a h r zehnte, i n : AöR 95, S. 353 ff. (S. 362 ff.); ähnlich Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl., München 1977, S. 34, K. Hesse, Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, i n : Festgabe f ü r R. Smend, Tübingen 1962, S. 71 ff. (S. 76). (Fortsetzung der Fußnote nächste Seite)
14
1. Problemauf riß
Bei der Normierung des unmittelbaren Geltungsanspruchs der Grundrechte wurde auf korrespondierende Rechtsvorschriften i n manchen deutschen L ä n derverfassungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg erlassen worden waren, zurückgegriffen. — I m Bereich der Amerikanischen Besatzungszone ist zunächst die Verfassung des Landes Hessen, angenommen durch Volksabstimm u n g am 1. Dezember 1946 u n d am gleichen Tage verkündet u n d i n K r a f t getreten, zu erwähnen. Der Erste H a u p t t e i l der hessischen Verfassung trägt den T i t e l „Die Rechte des Menschen" u n d gliedert sich i n die Abschnitte „Gleichheit u n d Freiheit", „Grenzen u n d Sicherung der Menschenrechte", „Soziale u n d wirtschaftliche Rechte u n d Pflichten", „Staat, Kirchen, Religionsu n d Weltanschauungsgemeinschaften", „Erziehung u n d Schule", „Gemeinsame Bestimmung f ü r alle Grundrechte". — A r t i k e l 26 normiert: „Diese G r u n d rechte sind unabänderlich; sie binden den Gesetzgeber, den Richter u n d die V e r w a l t u n g unmittelbar". V o n Interesse ist auch die Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen, a m 12. Oktober 1947 durch Volksabstimmung angenommen u n d am 21. Oktober 1947 verkündet. Der Erste H a u p t t e i l der bremischen Verfassung trägt den T i t e l „Grundrechte u n d Grundpflichten" u n d enthält eine entsprechende Bindungsklausel (Art. 20 Abs. 2). Hingegen enthalten die Verfassung f ü r Württemberg-Baden, angenommen durch Volksabstimmung am 24. November 1946, u n d die Verfassung des Freistaates Bayern, angenommen durch Volksabstimmung am 1. Dezember 1946, keine A r t i k e l 1 Abs. 3 des GG korrespondierenden Vorschriften. Innerhalb der Französischen Besatzungszone enthalten die Verfassung des Landes Baden, die Verfassung f ü r Württemberg-Hohenzollern u n d die Verfassung f ü r Rheinland-Pfalz, alle angenommen durch Volksabstimmungen a m 18. M a i 1947, keinen unmittelbaren Verbindlichkeitsanspruch der Grundrechte. — Die L ä n der der Britischen Besatzungszone erhielten ihre Verfassungen erst nach I n krafttreten des Grundgesetzes. — Die Verfassung des Saarlandes v o m 15. Dezember 1947 hat einen unmittelbaren Verbindlichkeitsanspruch der G r u n d rechte. — Die saarländische Verfassung umfaßt i m I. H a u p t t e i l „Grundrechte u n d Grundpflichten" die Abschnitte „ D i e Einzelperson", „Ehe u n d Familie", „Erziehung, Unterricht, Volksbildung, Kulturpflege", „ K i r c h e n u n d Religionsgemeinschaften", „Wirtschafts- u n d Sozialordnung". — A r t . 21 normiert: „Die Grundrechte sind i n i h r e m Wesen unabänderlich. Sie binden Gesetzgeber, Richter u n d V e r w a l t u n g unmittelbar." Gemeinsam ist den Verfassungen Hessens, Bremens u n d des Saarlandes also, daß durch die Grundrechte der Gesetzgeber u n d der Richter u n m i t t e l b a r gebunden werden, i n Hessen u n d i m Saarland werden die Verwaltung, i n Bremen der Verwaltungsbeamte „gebunden". Die unmittelbare Anspruchsgarantie der grundrechtlichen Normen w a r eine rechtslogische Weiterentwicklung ähnlicher Vorschriften, die i n manchen, Ländern bereits nach dem Ersten Weltkrieg Bestandteil des objektiven V e r fassungsrechtes geworden waren. So sagt die Verfassung des Freistaates Mecklenburg-Schwerin v o m 17. M a i 1920 i n der Präambel zum Abschnitt Die Grundrechte: „ D e m mecklenburgischen Volke werden durch die Verfassung die nachstehenden Grundrechte gewährleistet. Sie bilden Richtschnur u n d Schranke f ü r Verfassung, Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g " . Z u r Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 G G gibt es entsprechende Bestimmungen i n der Verfassung des Landes Hessen i n A r t . 63 Abs. 1 („Sow e i t diese Verfassung die Beschränkung eines der vorstehenden Grundrechte durch Gesetz zuläßt oder die nähere Ausgestaltung einem Gesetz vorbehält, muß das Grundrecht als solches unangetastet bleiben"), i n der Verfassung des Saarlandes i m A r t . 21, S. 1 („Die Grundrechte sind i n ihrem Wesen u n abänderlich"). Z u A r t . 79 Abs. 3 des GG gibt es vergleichbare Bestimmungen i n den V e r fassungen des Landes Hessen (Art. 26) u n d der Freien Hansestadt Bremen (Art. 3).
1. Problemauf riß
M i t dem Verbindlichkeitsanspruch des A r t . 1 Abs. 3 GG wurde für die Grundrechte nicht nur eine proklamatorische, sondern eine j u d i zielle Form gewählt. Die Grundrechte sind ihrem Ansprüche nach nicht nur ein Manifest, haben nicht nur programmatischen Charakter. Das Wirkungsziel eines Manifestes ist vor allem, dem „Volke, insbes. dem an seine Pflichten zu bindenden Verwaltungsmann und Richter, den Geist, den Stil, i n dem das Leben des deutschen Volkes gestaltet werden soll, nicht nur i n der Sprache der Rechtsnormen, sondern anschaulich vor Augen" 2 zu stellen. I n den Diskussionen u m ein GG für das Gebiet der ehemaligen amerikanischen, englischen und französischen Besatzungszonen als Folgeeinheiten des Deutschen Reiches stand das Problem Manifest oder Grundgesetz zur Diskussion an. I m Verhältnis zum Manifest wurde es als Aufgabe eines oder einer Gruppe von Grundgesetzen angesehen, „auf der Grundlage des Manifestes, jedoch i n der begrifflichen Sprache des Rechts, präzise die Grundnormen zu formulieren, die für die verschiedenen Gebiete des öffentlichen Lebens gelten sollen" 8 ; so etwa ein Grundgesetz der Staatsorganisation, ein Grundgesetz der Wirtschaftsverfassung, ein Grundgesetz der Rechtspflege, der Kulturpflege usw. Manifest und Grundgesetz, i n fruchtbarer Zusammenfassung der modernen Ergebnisse der Philosophie und Soziologie wie auch spezieller Sozialwissenschaften, m i t überzeugendem positiven Inhalt erfüllt, sollten als gemeinsames Bekenntnis zum sozialen Stil einer neuen Ordnung wirken. Die strenge Trennung von Manifest und GG i m gekennzeichneten Sinne wurde i n der Sprache des Bonner GG nicht durchgeführt. Vor allem i n der Präambel des GG und beispielsweise i m Postulat, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen i n A r t . 1 Abs. 1 GG, ist das Pathos eines Manifestes erhalten. Die Verbindlichkeit der Grundrechte, ihre Positivierung konkreter sachlicher Grundprinzipien, welche die Grundlage und Aufgabe der Verfassungsordnung bestimmen, wie Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit 4 , ist auszeichnendes Merkmal eines materialen Rechtsstaates5. Sie bedeutet die Ergänzung des formalen Rechtsstaates durch die normative Konstitution einer werthaften Staatsordnung. Während es Kennzeichen des formalen Rechtsstaates ist, daß jeder Staatsakt zurück2
G. Weisser, Manifest oder Grundgesetz, Göttingen 1947, S. 14. Vgl. G. Weisser, S. 14. — Der parlamentarische Rat w o l l t e s t r u k t u r e l l eine Verfassung erarbeiten — u n d tat dies auch, vgl. V. Otto, Das Staatsverständnis des parlamentarischen Rats, B a d Godesberg 1971, S. 51 m. w . N. 4 Vgl. K . Hesse, Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, S. 78. 5 Maunz / Dürig / Herzog ί Scholz, Grundgesetz, München 1976, A n m . 56 zu A r t . 20 GG m. w . N. 8
16
1. Problemauf riß
zuführen ist auf eine staatlich legal gesetzte Norm, also auf ein einfaches Gesetz oder die Verfassung unmittelbar, beruht i m materialen Rechtsstaat die rechtsnormativ geprägte Ordnung nicht nur auf einem formal korrekt geäußerten Geltungswillen, sondern auch auf einer materialen, wertmäßigen Begründetheit i n der Verfassung 6 . Erst i n der Vereinbarkeit parlamentarischer Rechtssetzung m i t den Grundrechten und m i t den Verfahrensregeln des Grundgesetzes ist Legitimität und Legalität staatlichen Handelns begründet 7 . Die materiale Verfassungsmäßigkeit gesetzgeberischer Tätigkeit ist danach abhängig von der Kompatibilität gesetzlicher Regelungen m i t den Grundrechten. Ziele und Möglichkeiten parlamentarischer Gesetzgebung als Ausübung der gesetzgebenden Gewalt des Volkes sind gebunden an Gehalt und Funktion der Grundrechte und an die formalen Bestimmungen der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung. Historisch w i r k t e n Grundrechte nur i m Rahmen der Gesetze, heute gelten Gesetze nur i m Rahmen der Grundrechte und auch nur i n diesem Rahmen ist verfassungsmäßiges Handeln der Verwaltung und der Rechtsprechung möglich 8 . Die Grundrechte sind nach herrschender Lehre vor allem als Freiheitsrechte zu verstehen, sie beinhalten vorrangig einen negativen A n spruch auf Freiheit i m und gegenüber dem Staat, sie sind subjektivöffentliche Rechte. Nach h. L. kann aus A r t . 1 Abs. 3 GG nicht gefolgert werden, daß alle nachfolgenden Grundrechtsnormen bereits von Verfassungs wegen vollziehbar sind. A r t . 1 Abs. 3 GG begründet danach nur den Rechtswert einer Vermutung für die Vollziehbarkeit der Grundrechtsnormen unmittelbar von Verfassungs wegen, dies gelte insbes. für die klassischen Freiheitsrechte 0 . Die Vermutung der sofortigen Vollziehbarkeit könne β Vgl. hierzu Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 58 f. zu A r t . 20 GG; M. Kriele, Legitimationserschütterung des Verfassungsstaates, i n : Festschrift f ü r H. J. Wolff, München 1973, S. 89 ff.; K . Grimmer, Z u r formalen u n d m a terialen Legitimationsbedürftigkeit des bürgerlich-kapitalistischen Staates, i n : Bürgerlicher Staat u n d politische Legitimation, F r a n k f u r t 1976, S. 43 ff., jeweils m. w . N. 7 Vgl. K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. A u f l . 1977, S. 15 ff., S. 81; ders., Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, S. 77; Maunz ! Dürig ! Herzog ! Scholz, A n m . 72 zu A r t . 20 GG. 8 Ergänzend hierzu Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 104 ff. zu A r t . 1 Abs. 3 GG; H. Krüger, Grundgesetz u n d Kartellgesetzgebung, Tübingen 1950, S. 12. 9 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 92 u. 93 zu A r t . 1 Abs. 3 GG; U. Scheuner, Die F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinie u n d Rahmen der Staatstätigkeit, i n : D Ö V 1971, S. 505 ff. (S. 507). — E. Forsthoff spricht i n diesem Zusammenhang v o n „ A b grenzungen", E. Forsthoff, Begriff u n d Wandel des sozialen Rechtsstaates, i n : W d S t R L , H e f t 12, S. 18 ff. (Ls 7).
1. Problemaufriß
nur durch den Nachweis widerlegt werden, daß der Aussageinhalt zu unmeßbar, unberechenbar und unvoraussehbar normiert sei, so daß ihm die „Justitiabilität" fehle 10 . Die Grundrechte, welche auf ein positives T u n des Staates oder auf Teilhabe am Staat gerichtet sind, seien „ohne nähere Gesetzgebung nicht vollziehbar" 1 1 (etwa A r t . 6 Abs. 4, 5 GG). Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich denn auch darauf, den Gesetzgeber allenfalls zu einer gesetzlichen Regelung anzumahnen und anerkennt nur i n Ausnahmefällen unmittelbare Leistungsansprüche des Bürgers aus den Grundrechten. Selbst i m Falle eines ausdrücklichen, allerdings nicht befristeten Auftrages des Grundgesetzes wie i n A r t . 6 Abs. 5 GG für die Gleichstellung nichtehelicher Kinder, zögerte das Gericht lange, den Gesetzgeber zu einer gesetzlichen Regelung „zu verurteilen" 1 2 . Allgemein formulierte das Bundesverfassungsgericht, daß — soweit nicht besondere Anhaltspunkte gegeben sind — kein Grund vorliegt, daß der Gesetzgeber sofort nach Inkrafttreten des Grundgesetzes eine gesetzliche Regelung entsprechend der grundgesetzlichen Wertordnung erlassen müsse. „Vielmehr stellt die durch das GG geschaffene Wertordnung nur den Gesetzgeber vor die Aufgabe . . . i n angemessener Zeit gesetzlich zu regeln 1 3 ." Die Beurteilung der Angemessenheit ist nach Ansicht des Gerichtes auf die allgemeine gesellschaftlich-politische und insbesondere die rechtswissenschaftliche Anschauung über die Regelungsbedürftigkeit eines Gegenstandsbereiches abzustellen 14 . Der objektive Ordnungsgehalt, die positive Funktion der Grundrechte als Verpflichtung auf eine verfassungsrechtlich bestimmte staatlich-gesellschaftliche Ordnung trat gegenüber der Funktion der Grundrechte als Freiheitsrechte zunächst i n den Hintergrund und w i r d erst i n jüngerer Zeit stärker betont 1 5 . Der Geltungsanspruch der Grundrechte verbindet sich also m i t der für ihre Funktion grundlegenden Frage nach ihrem konkreten Regelungsgehalt, m i t der Frage, i n welcher Weise ihre Bedeutung gültig und verbindlich bestimmbar ist. 10
Vgl. allgemein Maunz / Dürig l Herzog / Scholz, A n m . 94 zu A r t . 1 Abs. 3 GG m. w . N. 11 Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 95 zu A r t . 1 Abs. 3 GG. 12
Vgl. BVerfGE 25, 167 ff. (179 ff.). BVerfGE i n JZ 1972, S. 357 ff. (358); vgl. auch BVerfGE 3, 226; 26, 61 f. 14 Vgl. BVerfGE i n J Z 1972, S. 357 ff.; BVerfGE 15, 337 (352); 25, 167; 39, 169 ff. 15 Vgl. hierzu insgesamt E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, i n : Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages, München 1974, Bd. I I , G 1 ff. m. w . N. 18
2 Grimmer
18
1. Problemaufriß
Das Grundgesetz stellt den Versuch dar, zwei, zumindest i n Deutschland unterschiedlich verlaufene Verfassungsentwicklungen, jene der Ausbildung und rechtlichen Sicherung von Grundrechten und jene der Parlamentarisierung der Staatsgewalt und der Begründung des Staates i n der Volkssouveränität zusammenzuführen. Beide Verfassungsprinzipien stehen i n ihrer Entfaltung i n einem spezifischen politisch-gesellschaftlichen Kontext, sind i n sozioökonomischen und soziokulturellen Faktoren mitbegründet. Die Dogmatisierung grundrechtlicher Freiheiten als subjektiver öffentlicher Rechte stellt den einzelnen Bürger oder gesellschaftliche Gruppierungen dem Staate gegenüber m i t einem eigenen Anspruch auf Gewährleistung der verfassungsrechtlich postulierten Ordnung, ohne daß die konkrete Bedeutung der Grundrechtssätze schon immer unmittelbar ersichtlich ist. Die Ergänzung des formalen, historisch geprägten bürgerlich-liberalen Rechtsstaates durch den materialen Rechtsstaat w i r f t damit die Frage auf nach dem Zusammenhang oder Widerspruch zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zwischen Freiheit des Gesetzgebers — und das ist i m Hinblick auf A r t . 20 Abs. 1 GG die Freiheit des Trägers der Staatsgewalt, des Volkes, i n freier Selbstbestimmung seine Ordnung stets neu rechtsförmig zu bestimmen — und den vom historischen Verfassungsgeber auferlegten, werthaften Bindungen, deren Einhaltung durch die Rechtsfigur der subjektiven öffentlichen Rechte und die Rechtsweggarantien gewährleistet sein soll. Das Verhältnis zwischen Grundrechten und Demokratiepostulat des Grundgesetzes ist i n der neueren deutschen Staatsrechtslehre wenig problematisiert. Aspekte des Problèmes werden angesprochen i n der Diskussion u m das Sozialstaatspostulat 16 und i n Arbeiten zum Gesetzmäßigkeitsprinzip sowie zum Verhältnis von Gesetz und Verwaltung und der rechtlichen Bindung der Verwaltung 1 7 . Die neuere deutsche Staatsrechtslehre zeichnet sich teilweise durch das Bemühen aus, eine Kontinuität i n der Verfassungsdogmatik zu bewahren, nicht nur hinsichtlich des formalen Rechtsstaatsprinzipes, sondern auch hinsichtlich der Tradition des bürgerlich liberalen Rechtsstaates. Der grundlegende Anspruch der Präambel des Grundgesetzes, dem staatlichen Leben eine neue Ordnung zu geben, die fundamentale Andersartigkeit des Grundgesetzes gegenüber früheren Verfassungen i m Reich und i n den Ländern begründet i n den Prinzipien des materialen Rechtsstaats und der 16 Vgl. die Beiträge i n E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968; ergänzend hierzu K . Grimmer, S. 55. 17 Vgl. hierzu die Nachweise bei K . Vogel, Gesetzgeber u n d Verwaltung, i n : W d S t R L , Heft 24, S. 125 ff.; P. Selmer, Der Vorbehalt des Gesetzes, i n : JuS 1968, S. 489 ff.
1. Problemaufriß
19
egalitären Demokratie, sind nicht ihr zentrales Thema. Es fehlt denn auch eine umfassende Verfassungstheorie, welche die Grundstrukturen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, Grundrechte, das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip i n ihrer Dialektik begreifbar macht und so den Rahmen kennzeichnet, i n welchem die freiheitlich demokratische, soziale und rechtsstaatliche Verfassungsordnung erklärbar ist. „Ohne eine am materialen Zusammenhang der Grundordnung des politischen Gemeinwesens ausgerichtete Verfassungstheorie besteht nicht nur die Gefahr der Fehlkonstruktion von Teilverfassungen und der Fehlinterpretation isolierter Verfassungsbestimmungen, sondern auch die Gefahr, daß das subjektive Wertbekenntnis an die Stelle der theoretischen Erkenntnis der i n der Verfassung gegebenen Wertordnung t r i t t 1 8 . " U m die Eigenartigkeit des Grundgesetzes und die „neue Ordnung", welche es vermitteln w i l l , zu verstehen, sind die historischen Ausbildungen der Grundrechte und des Prinzips der Volkssouveränität nachzuzeichnen, sind ihre jeweilige politisch-gesellschaftliche Funktion zu verdeutlichen. Eine Erörterung des Spannungsverhältnisses von Grundrechten und Demokratie hat so bei dem historischen Kontext anzusetzen, i n welchem Grundrechte als Menschenrechte entfaltet wurden, i n welchem sich das Prinzip des Gesetzesvorbehalts und damit verbunden das parlamentarische Regierungssystem entwickelt haben, i n welchem Staatssouveränität als Volkssouveränität zur Entfaltung kamen. (Teil I) Der Verbindlichkeitsanspruch des Grundgesetzes für die Grundrechte beinhaltet für eine Verfassungstheorie des Grundgesetzes die Vorfrage, i n welchem Umfange die Grundrechte unmittelbar anwendbares Recht sind, welche gesellschaftlichen Faktoren den Bedeutungs- und A n spruchsgehalt der Grundrechte bestimmen, ob Aussagen über die konkrete Bedeutung der Grundrechte i n spezifischen sozialen Situationen m i t verfassungsrechtlicher Gültigkeit und Verbindlichkeit möglich sind. (Teil II) A u f der Grundlage dieser Vorarbeiten ist schließlich der Versuch zu unternehmen, i m Blick auf die Gesamtheit der rechtlichen Regelungen des Grundgesetzes und insbesondere i m Blick auf die Grundelemente der Verfassungsordnung: Grundrechte und Prinzip der Volkssouveränität, die Verfassungstheorie des Grundgesetzes zu entfalten, den Anspruchsgehalt der freiheitlich demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Grundordnung des Grundgesetzes zu entwickeln. (Teil I I I ) 18 H. Ehmke, Wirtschaft Forsthoff, Z u r Problematik Erg. Fr. Müller, Die Einheit gungen zu einer komplexen
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u n d Verfassung, Karlsruhe 1961, S. 51, a. Α. E. der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961, S. 17. der Verfassung, B e r l i n 1979; N. Zimmer, ÜberleVerfassungstheorie, i n : Der Staat, 1979, S. 183 ff.
2. Verfassungsentwicklung in England, Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich als Ausformung allgemeiner verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien Diskussion und Entfaltung von Volkssouveränität und „Menschenrechten" sind nicht selbständig i n der deutschen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung angelegt, sondern sind vor allem i n der Auseinandersetzung m i t der Verfassungsentwicklung, und das heißt auch m i t der Gesellschaftsentwicklung i n England, i n den Vereinigten Staaten von Nordamerika und i n Frankreich zu sehen. 2.1 England: Freiheit als Souveränität zur Gesetzgebung Die konstitutionelle Entwicklung i n England ist weniger geprägt durch die Statuierung isolierter materieller Grundrechte, sondern durch die rechtssatzmäßige Festlegung von Verfahrens- und Kompetenzregeln. Menschenwürde, Freiheit, Eigentum werden, naturrechtlich begründet, als der staatlichen und das heißt zunächst der königlichen Herrschermacht vorgegeben betrachtet. Aufgabe von Verfahrens- und Kompetenzregeln ist es, die Ausübung der Herrschermacht zu reglementieren, Form und Umfang von Eingriffen i n Freiheit und Eigentum zu regeln. Die konkrete Verfassungsordnung ist ein Ausgleichsversuch zwischen dem Erfordernis einer allmächtigen Staatsgewalt zur Zähmung widerstreitender, sich bekämpfender individueller und gesellschaftlicher Interessen nach Th. Hobbes (1588-1679) und dem naturrechtlich begründeten „Besitzindividualismus" m i t seinem Anspruch auf gesellschaftliche Entscheidung über die Übertragung und Ausübung von Herrschaftsgewalt nach J. Locke (1632 - 1704)1. Diese Problemlage hat auch i n der englischen Verfassungslehre ihren Niederschlag gefunden, für sie sind weniger Fragen des materiellen Rechts als solche der Verfahrensordnung wichtig 2 . 1
Vgl. C . B . Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, F r a n k f u r t / M . 1967 (engl. Orig. Oxford 1962), S. 111 ff., 251 ff.; Th. Hobbes, Leviathan, dt. Ausgabe, Neuwied 1966; J. Locke, Z w e i Abhandlungen über die Regierung, dt. Ausgabe, F r a n k f u r t 1967; vgl. auch K . Grimmer, Die F u n k t i o n der Staatsidee u n d die Bedingungen ihrer Wirklichkeit, i n : ARSP 1978, S. 63 ff. (S. 65). 2 Vgl. W. J. M. Mackenzie / H. Street, Grundfreiheiten i m Vereinigten K ö n i g reich von Großbritannien u n d Nordirland, i n : K . A . Bettermann / F. L . Neum a n n / H . C. Nipperdey (Hrsg.): Die Grundrechte, Band 1/2, B e r l i n 1967, S.
2.1 England: Freiheit als Souveränität zur Gesetzgebung
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Für die politisch-rechtlichen Auseinandersetzungen i n England i m 17. und 18. Jahrhundert haben die Magna Charta Libertatum vom 15. 6. 1215 und ihre achtunddreißig Bestätigungen bis zum Ausgang des Mittelalters symbolische Bedeutung. Sie erhielten die Funktion eines Grundgesetzes des Königreiches i n Form eines Vertrages, als Aufzeichnung bestehender Rechte, welche allen „Freien" zustanden und vom König vertraglich anerkannt waren, obwohl sie ursprünglich i n erster Linie eine Bewahrung der Privilegien der (weltlichen und geistlichen) Feudalaristokratie i n der Zeit des Hochfeudalismus gegenüber einer zentralisierenden Gewalt des Monarchen bedeuteten. Fundamentale Wichtigkeit hatte der Anspruch auf ein „ordnungsmäßiges Rechtsverfahren" („due process of law") i n A r t . 39: „ K e i n freier Mann soll ergriffen, gefangengenommen, aus seinem Besitz vertrieben, verbannt oder i n irgendeiner Weise zugrunde gerichtet werden, noch wollen w i r gegen ihn vorgehen oder i h m nachstellen lassen, es sei denn aufgrund eines gesetzlichen Urteils seiner Standesgenossen und gemäß dem Gesetz des Landes" („per legale judicium parium suorum vel per legem terrae"). Die Besteuerung war an die Bewilligung der Repräsentanten gebunden. Auffallend ist an den Statuten, beispielsweise auch der Declaration of Rights von 1689, „daß am Ende eines Kampfes, der i m Namen der bürgerlichen und der religiösen Freiheit ausgefochten wurde, so wenig über die Freiheiten des einzelnen gesagt wurde" 3 . „ I n der Spannung des Uberganges vom personalen Lehensstaat des hohen Mittelalters zum territorialen Ständestaat des Spätmittelalters" galt es, „die bestehenden Rechte und Gewohnheiten, Bräuche und Privilegien zu sichern, die bisherigen Freiheiten und Rechte der englischen Stände i n dem allgemeinen, aber vom Fürsten zu seinen Gunsten geführten politischen, rechtlichen und sozialen Umschichtungsprozeß zu wahren" 4 . I m Hintergrund aller Auseinandersetzungen, auch jener u m die Magna Charta, steht immer die Sicherung von Eigentum und Freiheit, beide werden als Attribute eines „freien" Mannes angesehen und der Schutz des Lebens beinhaltete sowohl den Schutz des Eigentums als auch der Freiheit des „freien Mannes". Wenngleich die möglichen Eingriffe i n Leben, Eigent u m und Freiheit noch ständisch gebunden sind („gesetzliches U r t e i l seiner Standesgenossen"), so ist doch bereits i n der Magna Charta ein allgemeiner Gesetzesvorbehalt für solche Eingriffe („nach dem Gesetz 801 ff. (Nachfolgende zitiert: Die Grundrechte). Der vorliegende Überblick über die englische Verfassungsentwicklung folgt i m wesentlichen dieser D a r stellung von Mackenzie u n d Street. Ergänzend vgl. G. Ο estreich, Die E n t w i c k l u n g der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten, i n : Die Grundrechte, B a n d 1/1, S. 1 ff. (S. 18 ff.). 8 W. J. M. Mackenzie / Η . Street, S. 807. 4 G. Oestreich, S. 20.
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
des Landes") angelegt, — ohne daß die Kompetenz zur Gesetzgebung damit bereits abschließend geklärt war. Vor diesem Hintergrund sind die Entwicklungen der Souveränitätslage zu sehen. Der Ursprung „parlamentarischer Mitwirkungsrechte" i n der neueren Verfassungsgeschichte 5 liegt i n der Bindung der englischen Könige an die Zustimmung der Repräsentanten bei der Erhebung von Steuern. Der Gesetzesvorbehalt für steuerrechtliche und strafrechtliche Maßnahmen ist so der Vorläufer des allgemeinen Gesetzmäßigkeitsprinzipes 6 , seine soziale Funktion ist es, Freiheit und Eigentum zu sichern, indem Eingriffe i n Freiheit und Eigentum an die Zustimmung der maßgeblichen Besitzer von Freiheit und Eigentum gebunden werden, i n dieser Funktion erstarrt der Gesetzesvorbehalt zunächst und w i r d zur Grundbedingung bürgerlich-kapitalistischer Staatsordnung. Der englische König konnte zwar ursprünglich das Parlament einberufen und auflösen wann er wollte, aber die Abhängigkeit von den zunächst nur persönlich zustimmenden „Parlamentsmitgliedern" wurde immer größer. 1295 bildet sich ein alle freien Stände umfassendes Parlament aus, welches seit 1344 endgültig i n ein Oberhaus (House of Lords und ein Unterhaus (House of Commons) geteilt ist. I n der „Glorious Revolution" von 1688 wurde die Suprematie des Parlaments gefestigt — allerdings nicht als Realisierung eines demokratischen Prinzipes. 1834/35 versuchte der englische König zum letzten M a l gegenüber der Mehrheit des Parlamentes „zu herrschen". Demokratisch-egalitäre Gedanken setzten sich i n England erst i m 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der Französischen Revolution i m Kampfe um eine Vereinheitlichung des Wahlrechtes durch. (1832 Representation of the People Act, Änderungen 1867,1884, 1917, 1928). Die verfassungsrechtliche Lösung der Revolutionsepoche tendierte dahin, die gesamte gesetzgebende Gewalt und die Besteuerungshoheit i n den Händen des Parlaments zu vereinigen, i m Parlament erlassene Gesetze bedurften aber immer auch der Zustimmung des Königs, welche zunächst nicht nur Formsache war, seit 1707 wurde das Vetorecht vom König nicht mehr ausgeübt. Verfassungsrechtlich fand diese Bindung der Gesetzgebungshoheit des Königs ihren Ausdruck i n der Formel „ K i n g i n Parliament", wobei zunächst umstritten war, ob Existenz und Mitwirkungsbefugnisse des Parlaments nur durch den König verliehen 5
Vgl. den i m wesentlichen auch heute noch zutreffenden historischen Überblick zur E n t w i c k l u n g des Gesetzesbegriffs i n der europäischen Verfassungsgeschichte bei G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung, Tübingen 1919 (Neudruck), S. 3 ff. u n d R. Thoma, Der Vorbehalt des Gesetzes i m preußischen Verfassungsrecht, i n : Festgabe f ü r O. Mayer, Tübingen 1916, S. 167 ff. (S. 169 ff.). β Vgl. hierzu D. Jesch, Gesetz u n d Verordnung, Tübingen 1961, S. 102 ff.
2.1 England: Freiheit als Souveränität zur Gesetzgebung
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sind und der König deshalb vom Parlament unabhängige Kompetenzen habe oder ob „ K i n g i n Parliament" (König, Lords and Commons) die höchste und institutionell allzuständige Rechtsetzungsinstanz i n England ist 7 . Jedenfalls hatte die i n der Zusammenarbeit von König und Parlament ausgeübte souveräne Herrschaft alleinige Legitimität 8 . Die — zunächst nur fiktive — Anerkennung des Parlaments als Vertretung aller Untertanen 9 und die Einbeziehung des Königs „ i n das Parlament" bewirkte, daß „ K i n g i n Parliament" seit dem 16. Jahrhundert als „Repräsentation" des gesamten „body politic", als Inbegriff von Herrscher und Untertanen, also des gesamten Königreiches galten 1 0 . Die faktische Verlagerung der Souveränität auf die Institution Parlament hat vorzüglich zwei Folgen, welche das britische vom kontinentalen und nordamerikanischen Verfassungsrecht trennen. „Äußert sich i n jedem vom Parlament beschlossenen Gesetz der Souverän selbst, kann zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht nur materiell, nach dem Gegenstand der Regel unterschieden werden, nicht aber bedeutet das Verfassungsrecht für den parlamentarischen Gesetzgeber ein grundsätzlich zu respektierendes Normensystem, das allein unter den besonderen Bedingungen des Verfahrens der Verfassungsgesetzgebung abänderbar wäre 1 1 ." I n Nordamerika und i m kontinentalen Europa wurde demgegenüber Verfassungsrecht, wurden vor allem Grundrechte als rechtliche Sicherung des Volkes gegenüber dem „Souverän" oder der „Staatsgewalt" ausgebildet, an welche auch die Parlamente gebunden blieben, als die gesetzgebende Gewalt ausschließlich auf diese übergegangen war. Philosophische Grundlegung und Widerspiegelung findet der englische Konstitutionalismus bei John Locke, welcher die These vertrat, daß der Ursprung der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt i n der Übertragung individueller Befugnisse auf die Gesellschaft liege, damit diese sich eine Staatsverfassung gebe und durch Gesetze, die von der Gesellschaft bzw. dem dafür eingesetzten „Staatsorgan" erlassen werden, regiert werde, soweit es die Erhaltung des Individuums und des Restes der Gesellschaft erfordert 1 2 . Locke konzipierte keinen logisch oder juristisch formalen Gesetzesbegriff, sondern einen inhaltlich insti7 Vgl. hierzu H. Quaritsch, Staat u n d Souveränität, B a n d 1, Tübingen 1970, S. 429 ff. m. w . N. 8 Vgl. H. Quaritsch, S. 436. 9 Vgl. hierzu die Nachweise bei H. Quaritsch, S. 436, Fn. 165, insbes. auch Chr. Müller, Das imperative u n d freie Mandat, Leiden 1966, S. 125 ff. 10 Vgl. G. L. Elton, The Tudor Constitution, Cambridge 1960, S. 400; H. Quaritsch, S. 440 m. w . N. 11 Vgl. H. Quantsch, S. 441. 12 Vgl. J. Locke, T e i l 2, Kap. 9, § 129 (Kap. 7, § 87).
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
tutionell bestimmten 1 3 . Die gesetzgebende Gewalt liegt bei einer „Volksvertretung", dieses darf aber nicht „any part office proberty without his own consent" nehmen, denn sie ist zum Schutz der „Naturrechte", zum Schutz von Life, Liberty, Estates geschaffen worden 1 4 . Locke versteht dabei Eigentum, i n dem Leben und Freiheit zusammengedacht sind, als vorstaatliches Urrecht, nicht aber als ein klar bestimmbares Grundrecht 1 5 . Solche Grundrechte stehen Lohnempfängern (Arbeitern u n d Bediensteten) nicht zu, sie haben auch nicht das Recht zur Revolution als entscheidendes K r i t e r i u m des Bürgerrechtes, nämlich als Recht auf Beseitigung einer unerwünschten Regierung 16 . Erst W. Blackstone begründet, ausgehend von der Lehre Locke's und der B i l l of Rights absolute Rechte der Person, subjektive Rechte des englischen Individuums 1 7 . Das „Gesetzesdenken" John Locke's w i r d auf dem Kontinent aufgenommen, aber modifiziert von J. J. Rousseau (1712 - 1778), nach i h m hat das Gesetz Ausdruck des Allgemeinen Willens zu sein, Gesetzgebung erfordert deshalb aber auch die Beteiligung aller an der staatlichen Willensbildung 1 8 . Bei J. Locke und J. J. Rousseau ereignet sich der — verfassungspolitisch nachwirkende — Durchbruch einer Auffassung von Freiheit, die auf der Teilung von Rechten und Gewalt beruht, wie sie Ch. Montesquieu (1689 - 1755) letztlich verallgemeinernd als formale Grundlagen der englischen Freiheit darstellt, indem er von einer Teilung der Gewalten 1 9 spricht, ohne aber näher den Umfang der gesetzgebenden Gewalt und des Vorbehaltes des Gesetzes zu kennzeichnen. Auszeichnendes Merkmal der englischen Verfassungsentwicklung ist also, daß nicht „Menschenrechte" einer absoluten Staatsgewalt gegenübergestellt werden, sondern Freiheit Konsens der und materielle Bedingung für die an der Gesetzgebung Beteiligten ist, zunächst der Lords, später auch der Commons. Aktualisiert w i r d die Freiheit i m Recht der Gesetzgebung, insbesondere i m Recht über die Besteuerung zu befinden, indem das Prinzip des strikten Vorranges des Gesetzes und 19
Vgl. E.-W. Böckenförde,
Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, B e r l i n 1958,
S. 25. 14
So John Locke, T e i l 2, Kap. 11, §§ 135 u n d 138, Kap. 12, § 143; hier liegt auch eine der Wurzeln der Freiheits- u n d Eigentumsklausel f ü r die f r ü h konstitutionellen Verfassungen i n Deutschland. 15 V g l J. Locke, T e i l 2, Kap. 11. 16 C . B . Macpherson, S.251 ff.; vgl. insges. auch W. Euchner, Naturrecht u n d P o l i t i k bei John Locke, F r a n k f u r t / M . 1969, (insbes. S. 84). 17 Vgl. W. Blackstone , A n Analysis of the Laws of England (1754), Neuaufl. Oxford 1757, Chapt. I V . 18 J. J. Rousseau, D u Contrat Social ou Principe du D r o i t Politique (1762), dt. Ausgabe Stuttgart 1971. 19 Ch. de Secondât , Baron de la Brede et de Montesquieu , De L , E s p r i t des Lois, Paris 1748.
2.1 England: Freiheit als Souveränität zur Gesetzgebung
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damit der absoluten parlamentarischen Souveränität ausgebildet werden. Erst i n einer späteren Phase werden individuelle Rechte i n der Verfassungslehre Englands anerkannt, ohne daß die „Verfügung über Eigentum i m englischen Recht jemals einen besonderen Status geschaffen" hat 2 0 . Aber dies war auch nicht erforderlich, denn gerade i n der rechtlichen Sicherung der Möglichkeit zur Gesetzgebung realisierten sich jene Herrschaftschancen, welche an die Ausstattung m i t individuellen Vermögenswerten gebunden sind. Gerade i n einer Gesellschaft, i n welcher sehr früh das Gesetzmäßigkeitsprinzip seine überragende Bedeutung erhält und der Vorrang der Parlamentsbeschlüsse 21 absolut ist, bedarf es keiner formalen, grundrechtlichen Sicherungen individueller Rechte 22 , solange die Zuerkennung des Rechtes zur Gesetzgebung identisch ist m i t der Verfügung über Eigentum, einschließlich Leben und Freiheit 2 3 . Der bürgerlichen Freiheitsbewegung, welche in England nie eine isolierte war, sondern immer i n vielfältiger Verbindung m i t der Gentry stattfand, war so ein Rahmen zur rechtlichen Realisierung ihrer Ansprüche vorgegeben, welchen sie als kapitalbildende, besitzende Klasse entsprechend ausfüllen konnte, welcher aber zunächst auch die Unterdrückung der Arbeiterschaft beinhaltete. Die Bindung der politischen Rechte an den Umfang des Besitzes wurde erst m i t der Representation of the People Act von 1918 und 1948 i n England abgeschafft. (Allgemeines Wahlrecht seit 1928, gleiches Wahlrecht seit 1948)24. Erst i n dieser Zeit wurden als Ausgleich zu der faktischen 20
W. J. M. Mackenzie / ff. Street, S. 809. Vgl. W. J. M. Mackenzie / ff. Street, S. 813 ff. 22 Teilweise a. A . G. Stour zh, Die Konstitutionalisierung der I n d i v i d u a l rechte, i n : JZ 1976, S. 397 ff. unter Hinweis auf die Aufzählung einzelner I n d i vidualrechte i n der Petition of Right v o n 1628, dem Habeas-Corpus-Gesetz v o n 1679 u n d der B i l l of Rights von 1689 sowie i n Rechtskommentaren u n d Schriften der politischen Publizistik — aber diese Individualrechte sind hier stets T e i l von Verfahrens- u n d Kompetenzregeln. 23 Es wurde davon ausgegangen, i n der rechtlichen Sicherung der Möglichkeiten zur Gesetzgebung jene Herrschaftschancen zu realisieren, welche an die Ausstattung m i t individuellen Vermögenswerten gebunden sind. Wie restrikt i v allerdings dieses Wahlrecht (freeholder franchise) w i r k t e , zeigen die Dokumente der Putney-Debatte. (Vgl. C. B. Macpherson, S. 126 ff. (S. 131), S. 311 ff.) 24 Die U m w a n d l u n g Englands i n eine parlamentarische Demokratie w a r i m 19. u n d 20. Jahrhundert ein langer Prozeß, welcher sich teilweise unter dem Druck der Arbeiterbewegung (oder auch einer Bewegung — i m 19. J a h r h u n dert — unter den bürgerlichen Mittelschichten) vollzog, teilweise von der 1906 gegründeten Labour Party vorangetrieben wurde. Verfahrensrechtlich wichtig war, daß die Legislaturperiode 1694 auf 3 Jahre, 1716 auf 7 Jahre festgesetzt, 1911 auf 5 Jahre verkürzt wurde. Hatte das Oberhaus schon seit 1678 nicht mehr das Recht, Finanzgesetze abzuändern, so bestimmte die Parliament A c t von 1911, daß Finanzgesetze überhaupt nicht mehr der Z u s t i m m u n g des Oberhauses bedurften, u n d daß das Oberhaus gegen sonstige Gesetze des Unterhauses n u r ein aufschiebendes Veto besaß. 1948 setzte die Labour Party eine Verkürzung des Aufschubs auf 2 Sitzungsperioden (gegen21
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
Privilegierung durch Eigentum „soziale Freiheiten" — aber nicht als Verfassungsgrundsätze — begründet, wie ein „Recht auf Bildung", „Recht auf Schutz vor Mangel", „Recht auf angemessene ärztliche Betreuung" 2 5 . I n der Verbindung von Besitzindividualismus und liberaler Demokratie ist die politische Gesellschaft „eine menschliche Erfindung zum Schutz des Eigentums des Individuums an seiner Person und seinen Gütern und (folglich) zur Aufrechterhaltung geordneter Tauschbeziehungen zwischen Individuen als Eigentümer ihrer selbst" 26 . 2.2 Vereinigte Staaten von Amerika: Freiheitsrechte als Grundlage der Volkssouveränität Grundrechte als allgemeine Bürgerrechte erhielten ihre verfassungsmäßige Ausprägung erstmals i n den Bills of Rights der nordamerikanischen Staaten, insbesondere i n der Virginia B i l l of Rights von 1776, i n der Constitution von Pennsylvania 1776, i n den Bills of Rights von Maryland 1776, North-Carolina 1776 und Massachusetts 1780 während des amerikanischen Revolutionskrieges (1775 - 1783) i n der Auseinandersetzung m i t der Staatsgewalt der britischen Krone 2 7 . I n A r t . 1 der Virginia B i l l of Rights heißt es — i n Aufnahme der Postulate der Declaration of Rights der Kolonien von 1774: alle Menschen seien „von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse innewohnende (inherent) Rechte, deren sie, wenn sie i n den Staat einer Gesellschaft (state of society) eintreten, ihre Nachkomüber 3) u n d 1 Jahr (gegenüber 2) durch. — Die Demokratisierung des W a h l rechts w u r d e m i t den Representation of the People Acts v o n 1832, 1867, 1884, 1917, 1928 abgeschlossen, die Parliament A c t von 1948 beseitigte die 12 Parlamentssitze der Universitäten u n d die Vertretung der City of London, dazu w u r d e die Größe der Wahlkreise einigermaßen gleichförmig gemacht. 25 Vgl. hierzu W. J. M. Mackenzie / H. Street, S. 809 ff. 28 C. Β . Macpherson, S. 294 ff. 27 Vorläufer dieser Verfassungsgesetze als Inventarisierung u n d Kodifizier u n g von Grundrechten sind die Common L a w or Fundamental Rights der Provinz West N e w Jersey v o n 1676 u n d die Body of Liberties von Massachusetts u n d die Laws u n d Liberties of Massachusetts v o n 1648; vgl. G. S tour zh, Die Konstitutionalisierung der Individualrechte, S. 398 m. w . N. I m Oktober 1774 hat schließlich der Kontinentalkongreß i n Philadelphia eine „Declaration of Rights" beschlossen, welche sich an das englische V o r b i l d von 1689 anlehnte. Vgl. insges. J. Hashagen, Z u r Entstehungsgeschichte der nordamerikanischen Erklärungen der Menschenrechte, abgedr. i n R. Schnur (Hrsg.), Z u r Geschichte der E r k l ä r u n g der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S. 129 ff.; Otto Vossler, Studien zur E r k l ä r u n g der Menschenrechte, ebd., S. 166 ff.; G. Stourzh, Die Konstitutionalisierung der Individualrechte, S. 398 ff. m. w . H. Einen zusammenfassenden Überblick zur E n t w i c k l u n g der Theorien von den Menschenrechten gibt H. Coing , Der Rechtsbegriff der menschlichen Person u n d die Theorie der Menschenrechte, i n : H. Coing, Z u r Geschichte des P r i v a t rechtssystems, F r a n k f u r t / M . 1962, S. 56 ff. (S. 59 ff.).
2.2 U S A : Freiheitsrechte als Grundlage der Volkssouveränität
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menschaft durch keinen Vertrag berauben oder entkleiden können, nämlich den Genuß von Leben und Freiheit, m i t den M i t t e l n zum Erwerb und Besitz von Eigentum und zum Streben und der Erlangung von Glück und Sicherheit". A r t . 2 enthält eine klassische Definition der Volkssouveränität: „ A l l e Macht kommt dem Volke zu und w i r d folglich von i h m abgeleitet; öffentliche Amtsträger sind seine Treuhänder und Diener und i h m jederzeit verantwortlich." Nach A r t . 6 sollen Wahlen frei sein, das Wahlrecht steht jenen zu, die „hinreichenden Beweis ihres ständigen gemeinsamen Interesses an der Gemeinschaft und ihrer Bindung an diese" liefern. Das bedeutet entsprechend der englischen Tradition die Bindung des Wahlrechts an den Nachweis von Eigentum. A r t . 3, 4 und 7 behandeln die Form und die Ausübung öffentlicher Herrschaft, A r t . 8 bis 11 — wieder entsprechend der englischen Tradition — verfassungsrechtliche Normen zum Schutz der Angeklagten i n Straf- und Zivilprozessen, A r t . 12, 13, 15 und 16 enthalten Grundprinzipien öffentlicher Ordnung und individuelle Rechte. Hier und i n allem neben der heit, Prinzipien gend, Schutz vor
anderen einzelstaatlichen Verfassungen werden vor Religionsfreiheit genannt die Pressefreiheit, Redefreiwie Gerechtigkeit, Mäßigung, Genügsamkeit und TuTruppeneinquartierung, Rechtsweggarantien 28 .
Die Verfassungsordnungen hatten zwar von Anfang an auch die Gewährleistung gegenseitiger Toleranz (Gewissens- und Glaubensfreiheit) zum Inhalt 2 9 , ihre ursprüngliche Richtung war jedoch entsprechend und i n Aufnahme der englischen Constitutions (Magna Charta 1215, Petition of Right 1628, Habeas-Corpus-Gesetz von 1679, B i l l of Rights 1689) auf die Abgrenzung der eigenen und der eigenstaatlichen Freiheit — zunächst gegenüber der monarchischen Staatsgewalt Englands — gerichtet 30 . Während das Widerstandsrecht der Glorious Revolution 28
G. Stourzh, S. 398. Z u m T e x t der V i r g i n i a B i l l of Rights siehe G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, 3. Aufl., Darmstadt 1975, S. 6 ff. 29 Vgl. beispielsweise A r t . 16 der V i r g i n i a B i l l of Rights. — G. Jellinek sieht i n der Religionsfreiheit den Ursprung der Idee, i n den angloamerikanischen Kolonien ein allgemeines Menschenrecht durch Gesetz festzustellen (G. Jellinek, Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, abgedr. i n R. Schnur (Hrsg.), S. 1 ff. (S. 39). Diese These ist nicht mehr haltbar. Das Problem der Religionsfreiheit — vielfach Anlaß zur Emigration — k a n n n u r als ein Kristallisationspunkt des Verlangens nach Sicherung der eigenen Person u n d ihrer Freiheit betrachtet werden. Einschränkend zur These Jellineks G. Ritter, Ursprung u n d Wesen der Menschenrechte, abgedr. i n R. Schnur (Hrsg.), S. 202 ff. (S. 209); kritisch bereits E. Boutmy, Die E r k l ä r u n g der Menschenu n d Bürgerrechte u n d Georg Jellinek, abgedr. i n R. Schnur (Hrsg.), S. 78 ff. u n d Otto Vossler, S. 166 ff. (S. 185 ff.); neuerdings G. Stourzh, S. 397 ff. m. w . H . 80 Vgl. hierzu auch G. Oestreich, S. 47 ff., S. 59 ff.; G. Jellinek, Erklärung
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
noch ganz i n der ständischen Tradition Englands stand, war die Funktion der amerikanischen Rechtsdeklarationen eine natur- und vernunftrechtlich begründete — und damit i m Grunde nicht widerlegbare Rechtfertigung der kriegerischen Loslösung von England, sie waren damit gleichzeitig aber auch Ausdruck der sittlichen Zielsetzungen der neuen Staatsgründungen. Wesentliche Motivation war dabei auch das Verlangen nach wirtschaftlicher und Handelsfreiheit 31 . So ist denn auch die Declaration of Rights i n Virginia weniger vom christlichen Naturrechtsdenken, sondern mehr von der Utilitätsphilosophie des 18. Jahrhunderts bestimmt. „Die Gesellschaft fährt nach dieser Lehre am besten, wenn jedes Individuum dem wohlverstandenen eigenen Interesse folgt, da eine prästabilierte Harmonie zwischen Eigen- und Gemeininteresse besteht 32 ." Lag die Bedeutung der genannten Statuten für England weniger in der Sicherung von Individualrechten, sondern i n der Ordnung der Verfahren der Rechtsfindung, Rechtsetzung und -durchsetzung, so hatte für Amerika gerade der weitgehende Ausschluß von einer Beteiligung an der auch für Amerika geltenden Rechtsetzung i n England zur Folge, daß die individuelle Rechtsgarantie der englischen Verfassungsdokumente ebenso wie die Vernunft- und naturrechtliche Begründung der Menschenrechte betont wurde. Dies w i r d gerade i n der Allgemeinheit des zweiten Abschnittes der Unabhängigkeitserklärung deutlich: „ W i r halten diese Wahrheiten für evident, daß alle Menschen gleich erschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer m i t gewissen unveränderlichen Rechten ausgestattet wurden, daß Leben, Freiheit und das Streben nach Glück dazu gehören. U m diese Rechte zu sichern, besteht die Regierungsgewalt unter den Menschen, deren rechtmäßige Befugnisse sich aber von der Zustimmung der Regierten herleiten. Wo immer eine Regierungsform sich für diese Ziele zerstörend auswirkt, hat das V o l k ein Recht, sie zu ändern oder zu beseitigen und eine neue Regierung aufzurichten. Deren Grundlagen soll sie auf solche Prinzipien gründen und deren Macht so organisieren, daß sie i m weitesten Maße Sicherheit und Glück der Menschen sichert." Es steht diesem Verständnis nicht entgegen, daß die konstituierende Versammlung der Einzelstaaten i n Philadelphia keine B i l l of Rights in ihre Verfassung aufgenommen hatte, — i m Vordergrund stand die Organisation des neuen Staates und die Bestimmung der Rechte der Zentralgewalt gegenüber jenen der einzelnen Staaten. Freiheit war der Menschen- u n d Bürgerrechte, S. 11 unter Bezugnahme auf Lafayette; G. Ritter, Ursprung u n d Wesen der Menschenrechte, S. 215 ff. 91 Hierauf stellt vor allem J. Hashagen, S. 146 ff., ab. 32 G. Ritter, S. 219.
2.2 U S A : Freiheitsrechte als Grundlage der Volkssouveränität
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Konsens, problematisch war die verfassungsrechtliche Ordnung der Ausübung von Staatsgewalt, die Realisierung des Demokratieprinzipes als Effizienzform individueller Freiheit 3 3 . Erst der erste Kongreß der Vereinigten Staaten hat am 25. 9.1789 eine B i l l of Rights i n Form von 10 Amendments zur Verfassung vorgelegt, welche am 15.12.1791 i n K r a f t traten, Teil der Verfassung wurden und — i m Blick auf die historische Erfahrung — auch eine Begrenzung der Gewalt der Zentralregierung beinhalteten 34 . Es w i r d kein allgemeines Freiheitsrecht statuiert, vielmehr werden nur die Verfahren der Freiheits- und Eigentumsbeschränkung geregelt, gleicher Rechtsschutz garantiert, die Religions- und Gewissensfreiheit geschützt, und vor allem die Grundformen öffentlicher Willensbildung: Meinungs- und Informationsfreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit gewährleistet 35 . Anders die einzelstaatlichen Verfassungen, welche vielfach Grundrechtskataloge enthalten. Geschriebene Verfassung, Bindung des Gesetzgebers an die geschriebene Verfassung, gerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers i n Anwendung und Auslegung der geschriebenen Verfassung 36 waren die drei Hauptmerkmale einer „Abweichung" von der englischen konstitutionellen Ordnung, weniger die Rechtsstellung des einzelnen und die verfassungsrechtliche Garantie seiner Mitwirkungsrechte, sondern die Grundprinzipien der Organisation und Begrenzung staatlicher Gewalt waren Gegenstand der nordamerikanischen Verfassung 37 . I m Vordergrund steht also nicht eine durch die Verbindlichkeit der Verfassung vermittelte Kategorie von subjektiven öffentlichen Rechten, eine Verrechtlichung der Individualität 3 8 . Georg Jellinek hat darauf hingewiesen, wie neben den Lehren von Locke, Pufendorf und Montesquieu, vor allem die Schrift von James Otis ,Über die Rechte der englischen Kolonien* bedeutenden Einfluß auf die Verfassungsinhalte hatte. Hier wurde bereits i n einer Vorformung der späteren Bills of Rights eine absolute Grenze der gesetzgebenden Gewalt aufgezeigt, die „durch Gott 38 Vgl. R. K . Carr, Die Grundrechte i n den Vereinigten Staaten, i n : Die Grundrechte, B a n d 1/2, S. 873 ff. (S. 889 ff.); G. Ritter, S. 213 ff. 34 Näheres hierzu bei jR. K . Carr, S. 891 ff. u n d bei H. Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung, Karlsruhe 1961, S. 199 ff. 35 I m einzelnen hierzu die Nachweise bei R. K. Carr, S. 909 ff. Z u m Verfassungstext siehe G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 11 ff., S. 36 ff. 36 Ergänzend hierzu G. Stourzh, S. 401 m. w . H. 37 Vgl. hierzu H. Ehmke, S. 201 m. w. N.; zum Verhältnis zur englischen B i l l of Rights vgl. auch G. Jellinek, E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, S. 32 ff. 88 Es w a r e n dann auch überwiegend verfahrensrechtliche Garantien, w e l che das Oberste Bundesgericht bzw. die obersten Gerichte der Einzelstaaten neben dem Prinzip der Freiheit u n d Gleichheit zu verdeutlichen hatten; hierzu näher G. Stourzh, S. 401 m. w. H.
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
und Natur" festgestellt sei. Nach Jellinek vollzieht sich damit jedoch der Umschlag von einer objektiven Rechtsordnung, wie sie John Locke beschreibt, zu subjektiven Rechten. „Während Locke ähnlich wie später Rousseau die Individuen dem Majoritätswillen der Gesellschaft unterw i r f t , dem aber durch den Zweck des Staates Schranken gezogen sind, stellt nun das Individuum die Bedingungen fest, unter denen es i n die Gesellschaft t r i t t , und behält diese Bedingungen i m Staate als Rechte bei 3 0 ." Die Anerkennung individueller Rechte, vor allem i m Bereich der Religions- und Gewissensfreiheit, überbewertet Jellinek. Diese Freiheit ist Konsens, ist Grund der Auswanderung nach Amerika, Gegenstand der verfassungsrechtlichen Ordnung sind vor allem die Begründung und Durchführung öffentlicher Gewalt, die Form demokratischer Willensbildung und die Rechtsabgrenzung und -durchdringung zwischen Einzelstaaten und Zentralregierung. Die Postulierung von Menschenrechten verändert sich i n ihrer Funktion von einer Legitimation des Widerstandes gegenüber der britisch-monarchischen Obrigkeit zur objektiven Konstitutionsgrundlage des Staatenbundes, sie werden zur Konsensformel für die neue Ordnung und damit auch zu subjektiven Rechten 40 . Ihre Tendenz ist es, sowohl dem Einzelnen als auch den i n Einzelstaaten als frei i n Assoziationen Kooperierten ihre Freiheit zu gewährleisten. Sie sind Ausdruck eines Selbstverständnisses der Träger und Bürger dieses Staates, weniger „juristisches" als „moralisches" Kampfmittel des zum Selbstbewußtsein erwachten Bürgertumes, Ausdruck der Praxis ihrer Konstitution 4 1 . Staatliche Obrigkeit w i r d anerkannt nicht aufgrund i h r zugestandener eigener Rechte, sondern als Bedingung der Freiheit und der Möglichkeit, sie zu genießen, i n dem Gedanken, „daß Freiheit für die demokratische Gesellschaft als Ganzes ebenso wichtig ist wie für den einzelnen" 42 . Das Postulat der Gleichheit vor dem Gesetz, welches i n der französischen Erklärung der Menschenrechte stark betont wird, ist zwar bedeutsam i m amerikanischen Bürgerkrieg (1861 - 1865), aber nicht i n den verfassungsrechtlichen Normierungen, da Amerika aufgrund der gegebenen sozialen Verhältnisse und demokratischen Institutionen die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz selbstverständlich war. 89
G. Jellinek, S. 62 ff. So auch N. Duverger / L . Sfez, Die staatsbürgerlichen Freiheitsrechte i n Frankreich u n d die U n i o n Française, i n : Die Grundrechte, Bd. 1/2, S. 543 (S. 548); vgl. auch R. K . Carr, S. 883. 41 G. Jellinek sieht i n der Tatsache, daß die amerikanischen Deklarationen v o n den alten englischen Freiheitsrechten abstammen, den Gedanken der Anerkennung des Untertanenrechts durch den Herrscher begründet (G. Jellinek, S. 14). Jellinek unterscheidet hier aber nicht genügend zwischen der Außenfunktion der Deklaration: Mahnung f ü r den Monarchen i n England u n d schließlich Rechtfertigung des Abfalles u n d der F u n k t i o n i n der Staatsbegründung. « R. K . Carr, S. 886 ff. 40
2.3 Frankreich: Freiheitsrechte u n d Gesetzgebungsrechte
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Die Freiheitsbewegung i n den USA als bürgerliche Freiheitsbewegung realisiert zum ersten M a l einen bürgerlich-demokratischen Verfassungsstaat. Aufgrund der eigengearteten Sozialstruktur der USA — einerseits Fehlen einer feudalen Vergangenheit, andererseits Rassendiskriminierung und Sklaverei, starke ökonomische Expansion m i t vertikaler Mobilität — ist die Entwicklung des Verfassungsstaates keine Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden Klasseninteressen, sondern Realisierung der Volkssouveränität der privilegierten weißen Klasse auf der Grundlage des „Besitzindividualismus". U m deutlich zu machen, daß Sklaven nicht „Mitglieder der auf der Konstruktion des Gesellschaftsvertrages basierenden politisch organisierten Gesellschaft sind" 4 3 , wurde beispielsweise der Virginia B i l l of Rights für Träger der Bürgerrechte die Bedingung „when they enter into a state of society" eingefügt. Die Sklaverei wurde erst 1865 verboten, 1868 erhielten Schwarze und Mulatten Bürgerrechte, erst 1870 wurde die Gleichberechtigung aller Bürger ohne Rücksicht auf ihre Hautfarbe postuliert, und schließlich erst 1924 erhielten die Indianer Bürgerrecht. Zwei Traditionen gehen auf die nordamerikanischen Rechte-Erklärungen von 1776 zurück: „die eine symbolisiert durch die französische Erklärung von 1789 und ihre Ausstrahlung, sieht i n den Rechte-Erklärungen programmatische Leitsätze, den Ansporn für den Gesetzgeber, i m Sinne dieser Leitsätze zu handeln; die zweite Tradition ist jene der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundrechtsgarantien i m Sinne der Justitiabilität. Diese zweite Tradition ist es, die zunächst i n den Einzelstaaten der amerikanischen Union zur Geltung kam und sich als Folge der Verankerung von Grundrechten i n der Bundesverfassung ab 1791 und zumal ab 1868 i n der Rechtsprechung der amerikanischen Bundesgerichtsbarkeit durchsetzte 44 ." 2.3 Frankreich: Freiheitsrechte und Gesetzgebungsrechte A m 26. August 1789 verabschiedet die verfassungsgebende Versammlung i n Frankreich die „Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte". Sie proklamiert die Freiheit der Person, die Freiheit der Religion, die Freiheit zu sprechen, zu schreiben und zu denken. Die Idee der Menschenrechte war zum Inhalt der Weltanschauung des gebildeten Bürgertums jener Zeit geworden, vorbereitet und vermittelt durch die natur- und vernunftrechtlichen Philosophien des 17. und 18. Jahrhunderts, beeinflußt auch durch die calvinistische Religionsphilosophie: die menschliche Vernunft, ihre sittliche Autonomie und das Wohl des isolierten Individuums haben die Grundlage staatlicher Ord48 44
G. Stourzh, S. 399. G. Stourzh, S. 402 m. w . H.
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
nung zu bilden. Die Sicherung seiner politischen Rechte und der persönlichen Freiheit erfordert gesicherte Mitbestimmung i n der staatlichen Willensbildung und Herrschaftsausübung. Naturgesetz, Vernunft und — ergänzend — die „göttliche Ordnung" bilden die moralphilosophische Basis, welche Inhalte diese Begriffe i m einzelnen auch haben mögen. U m 1770 w i r d i n Frankreich erstmals der Begriff des droit' fundamentale verwendet. G. R. Mirabeau (1749 -1791) und die Physiokraten postulieren das Recht der freien Entfaltung der ganzen Person, das Recht auf bewegliches und Grundeigentum, wirtschaftliche Sicherheit, formale Gleichheit vor dem Gesetz, freie Berufswahl, Freizügigkeit. Diese Forderungen zeigen, daß es nicht nur u m die Realisierung eines allgemeinen moralphilosophischen Anspruches ging, sondern daß diese Rechtspostulate vor allem auch die sozialen und politischen A n sprüche des sich als soziale K r a f t und wirtschaftliche Macht entfaltenden Bürgertums bezeichnen. Diese Postulate bildeten die naturrechtliche Legitimation der neuen bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft. Unmittelbaren Einfluß auf die Formulierung der Menschen- und Bürgerrechte haben die Bills of Rights der Einzelstaaten i n der nordamerikanischen Union, welche selbst i n ihrer rechtlichen Ausprägung Ergebnis einer bürgerlichen Revolution sind — ebenfalls i n Naturrecht und Utilitaritätsphilosophie begründet 45 . Grundrechte als Menschenrechte wurden i n der französischen Revolution sozial effektiv, Ausdruck des erwachten Selbstbewußtseins des Dritten Standes und der schließlich durch i h n bestimmten und von i h m getragenen Nationalversammlung. I m Aufbruch der französischen Revolution war es die Idee der Freiheit, vor allem der Gewissens- und Glaubensfreiheit, war es die Solidarität Gleicher, gleich i n ihrer Unterprivilegierung, welche Bewußtsein und Selbstbewußtsein des Dritten Standes bestimmten und die Forderung begründeten, über Beschränkungen der Freiheit und Belastungen des Eigentums selbst mitentscheiden zu dürfen. Das Gesetz hat Ausdruck der volonté générale zu sein und, wie Rousseau es lehrte, kann die volonté générale nicht irren. Die politische Gesellschaft w i r d zur Wahrung der Menschenrechte gegründet, bevor die Rechte der Gesellschaft festgesetzt werden, sind die Rechte des Menschen sicherzustellen 46 . 45 Vgl. allgemein F. Furet / G. Richet, Die Französische Revolution, F r a n k f u r t / M . 1968, insbes. S. 131 ff., S. 400 ff., S. 600 ff.; M. Duverger / L . Sfez, Die Staatsbürgerlichen Freiheitsrechte i n Frankreich u n d die U n i o n française, i n : Die Grundrechte, Bd. 1/2, S. 543 ff. Ergänzend hierzu auch G. Jellinek, Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, S. 7. 46 Vgl. A r t . 12 u n d A r t . 16 der Déclaration des droits de l'homme et d u citoyen: A r t . 12: L a garantie des droits de l'homme et d u citoyen nécessite une force publique; cette force est donc instituée pour l'avantage de tous, et non pour l ' u t i l i t é particulière de ceux, auxquels elle est confiée. A r t . 16: Toute société, dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, n i la
2.3 Frankreich: Freiheitsrechte u n d Gesetzgebungsrechte
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Der Einfluß von J. J. Rousseau's „ D u Contrat Social ou Principes du Droit Politique" (1762) und Ch. Montesquieu's „De L'Esprit des Lois" (1748) ist erkennbar i n der Bestimmung des Gesetzes i n A r t . 6 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789: „Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. A l l e Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Formung m i t zuwirken. Es soll für alle gleich sein, mag es beschützen, mag es bestrafen . . . " Die Verfassung überträgt nach Tit. I I I , Chap. I I I , Sec. I der gesetzgebenden Körperschaft ausschließlich die Vollmachten und A u f gaben, Gesetze vorzuschlagen und zu beschließen, öffentliche Ausgaben festzusetzen, öffentliche Steuern anzusetzen (Art. 1 Ziff. 1 - 3 ) sowie über die Verwaltung zu entscheiden (Ziff. 9) u. a. Freiheit w i r d so konkretisiert durch das Gesetz als Ausdruck des allgemeinen Willens und also — nach Rousseau — des richtigen Willens. Der Gesetzesvorbehalt ist sehr weit, z. B. i n A r t . 4 und 5 hinsichtlich der Freiheit der Person und ihrer gesetzlichen Beschränkung durch das Verbot von Handlungen, welche für die Gesellschaft schädlich sind 4 7 . Kapitel 1 Satz 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte stellt fest, daß die Menschen frei und gleich an Rechten geboren sind und bleiben 4 8 . „Damit w i r d die für die feudale Staats- und Gesellschaftsordnung konstitutive Ungleichheit — nämlich die unterschiedlichen an die Geburt geknüpften Rechte — und m i t diesem konstitutiven Merkmal diese Gesellschaft selbst und ihre politische Organisationsform beseitigt. Das bürgerliche Grundrecht der Gleichheit der séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution. I m übrigen vgl. auch G. Ritter, S. 224, der auf die mögliche U m k e h r des A l l g e m e i n w i l lens i n die Despotie eines sogenannten Volks willens hinweist. 47 Vgl. auch A r t . 7, 8, 9 (Strafe u n d Strafgewalt), A r t . 10, 11 (Meinungs- u n d Mitteilungsfreiheit), A r t . 17 („da das Eigentum ein unverletzliches u n d h e i l i ges Recht ist, k a n n es niemandem genommen werden, w e n n es nicht die gesetzlich festgelegte, öffentliche Notwendigkeit augenscheinlich erfordert", E n t eignung ist n u r unter der Bedingung einer gerechten u n d vorherigen E n t schädigung möglich). 48 Vgl. A r t . 1 : Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l ' u t i l i t é commune. Palmer geht davon aus, daß die Assemblée constituante a m 27. M a i 1791 ca. 4,3 Mio. „ a k t i v e Staatsbürger" ergab. N u r die aktiven Bürger — solche die nicht unter 25 Jahre, männlich, seit einem Jahr ihren Wohnsitz i n Frankreich hatten, nicht als Diener i n einem Haushalt angestellt waren u n d eine jährliche direkte Steuer zahlten, die dem Verdienst von drei Tagen eines ungelernten Arbeiters entsprach — hatten Wahlrecht. Die Gesamteinwohnerzahl F r a n k reichs betrug zwischen 25 u n d 26 Mio. Allerdings konnten die A k t i v b ü r g e r n u r „Wahlmänner" (Deputierte) wählen. U m W a h l m a n n werden zu können, mußte m a n A k t i v b ü r g e r sein u n d Steuern zahlen, die dem Verdienst von 10 Tagen L o h n eines gewöhnlichen Arbeiters entsprachen. Die möglichen Wahlmänner werden auf ca. 3 Mio. geschätzt. E t w a Dreiviertel der A k t i v bürger u n d etwa drei Siebtel aller Männer über 21 Jahren w a r e n qualifiziert als Wahlmänner zu dienen (R. R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 599 f.). 3 Grimmer
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
Geburt ist also gegen die Herrschaftschance einer privilegierten Minorität gerichtet. Dieses Grundrecht erweist sich also als Schutz einer Majorität vor einer herrschenden Minorität; und indem es deren herrschaftsbegründende Privilegien beseitigt, erweist sich das Gleichheitsrecht für die Unterprivilegierten und Beherrschten als Freiheitsrecht 40 ." Der moderne Staat war i n Frankreich zunächst absolutistischer Staat 50 , er unterwarf weite Teile des sozialen Lebens seiner Rechtsetzung und Verwaltung. Industrielle Entwicklung, Handelsentfaltung und Staatsform verbündeten sich. A l t e Feudalrechte und ständische Privilegien wurden durch das Verlangen nach Staatsräson abgestützt 51 . Zunächst ideologische Rechtfertigung des Widerstandes gegen die alte Ordnung, gegen den monarchischen Absolutismus und die Privilegienordnung des Ständestaates, begründeten die Menschenrechte die Ablösung dieser Ordnung. Der Glaube an die naturmäßig oder göttlich begründeten Menschenrechte, vermittelt und gestärkt i n der revolutionären Auseinandersetzung, wurde jedoch nicht zum Inhalt einer neuen, w i r k l i c h freiheitlich egalitären Ordnung. Die Menschenrechte behielten die Funktion, eine staatlich obrigkeitliche Herrschaftsgewalt zu begrenzen, auch nachdem die Machtverteilung i m Staate nach der alten Stände- und Privilegienordnung beseitigt war. Die Berufung auf die Menschenrechte hatte nunmehr aber auch die neue bürgerliche Ordnung zu legitimieren, welche die Ungleichheit nach den Privilegien der Geburt ersetzte durch die Ungleichheit nach den Privilegien, welche sich aus der Verfügungsmöglichkeit über Eigentum ergaben 52 , und das heißt der Fähigkeit und Möglichkeit zur Freiheit und zur freien Mitbestimmung der Staatsordnung. „ A n die Stelle der für die feudale Gesellschaft konstitutiven Ungleichheit der Geburt traten die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive soziale Ungleichheit, nämlich die Ungleichheit gemäß der Verteilung des Eigentums. Diesbezüglich wurde die i n A r t . 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 53 genannte Eigentumsgarantie als grundrechtliche Gewährleistung einer durch Eigentum vermittelten 49 A. Azzola, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung" u n d ihre V e r teidigung, i n : B l ä t t e r f ü r deutsche u n d internationale P o l i t i k , Heft 6/1972, S. 3 ff. (S. 6 ff.) ; grundlegend hierfür F. Furet / G. Richet, a.a.O., vgl. auch G. Oestreich, Die E n t w i c k l u n g der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten, i n : Die Grundrechte, Bd. 1/1, S. 1 ff., S. 59. 50 Vgl. M. Duverger / L . Sfez, S. 551; G. Oestreich, S. 25. 51 Vgl. M . Duverger / L . Sfez, S. 553. 52 Das Eigentum n a h m i n allen Deklarationen einen hervorragenden Platz ein, i n jener von 1793 steht es sogar an erster Stelle. 58 Vgl. A r t . 2: L e b u t de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescritibles de l'homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l'oppression.
2.3 Frankreich: Freiheitsrechte u n d Gesetzgebungsrechte
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Herrschaftschance aufgefaßt, und insoweit kam es schon früh i n der bürgerlichen Verfassungsgeschichte zu einer neuen Identifikation von Freiheits- und Herrschaftschance . . . Die Garantie des Eigentums für den einen w i r d zur Garantie des Ausschlusses von Eigentum für den anderen. M i t dem Verlust ihrer ursprünglich negatorischen Funktion verwandeln sich die bürgerlichen Grundrechte i n ein die sozialen Gefälle der bürgerlichen Gesellschaft garantierendes Rechtsinstitut 54 ." Die Konstitution vom 3. Sept. 1791 realisiert sich deshalb auch aus einer Verbindung des besitzenden und gebildeten Bürgertums m i t einem Teil des Adels. Der überwiegende Teil der Bevölkerung war an der M i t w i r k u n g der Konstitution durch die Bindung des Wahlrechts an eine Mindeststeuer 55 ausgeschlossen. Die Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte blieb orientiert an einer streng individualistischen Vorstellung von Freiheitsrechten5®, erst die Revolution von 1848 fügt das Wort „fraternité" der 1789 proklamierten Devise „liberté — égalité" bei und zeigt damit A n sätze zur Überwindung der individualistischen, liberal-bürgerlichen Tradition von 1789. I n der französischen Revolution erhielten die Menschenrechte — zunächst nur allgemeines Manifest — ihre Ausprägung als individuelle Freiheitsrechte. Die Freiheit i m Sinne Rousseaus ist Freiheit zur Teilnahme an der staatlichen Willensbildung. „Sie ist liberté i n civile, die unentziehbare Macht gewährt, aber kein unentziehbares natürliches Recht zusichert. Sie ist Freiheit i m demokratischen, nicht i m liberalen Sinne. Die Erklärung der Rechte w i l l aber die ewige Scheidelinie zwischen Staat und Individuen ziehen", wie es Georg Jellinek interpretiert 5 7 . Die Erklärung der Menschenrechte durch die französische Nationalversammlung ist keine unmittelbare Setzung subjektiver öffentlicher Rechte. Aber diese Menschenrechte erhalten i n der weiteren Entwicklung die Funktion subjektiv öffentlicher Rechte, subjektiver Abwehrrechte gegenüber jeder möglichen Staatsgewalt, welche die bürgerlichen Ansprüche auf Freiheit und Eigentum einzuschränken trachtete, aber auch als A b wehrrechte gegen jene sozialen Schichten und Gruppen, welche an den m i t Freiheit und Eigentum verbundenen Chancen der Herrschaft partizipieren wollten. Die verfassungsmäßige Statuierung individueller Freiheitsrechte ist deshalb auch eng verbunden m i t dem Postulat der Gesetzmäßigkeit 64 Vgl. A. Azzola, S. 6 (S. 7); vgl. auch E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme u n d Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, i n : JuS 1971, S. 560 ff. (S. 565 m. w . N.). 55 Vgl. T i t . I I I , Chap. I , Sect. I I A r t . 1 der Constitution Française 1791. 56 Vgl. M. Duverger / L . Sfez, S. 553. 57 Vgl. G. Jellinek, Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, S. 7.
3*
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2. Ausformung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien
staatlichen Handelns. Erst das Gesetzmäßigkeitsprinzip i n Verbindung m i t Menschenrechten als subjektiven öffentlichen Rechten gewährleistet Einfluß und Kontrolle der politischen Macht i n ihren legislativen und exekutiven Formen für jene, welche Träger dieser Rechte sind 5 8 . I n diesem Rahmen sind politische Auseinandersetzungen u m die verfassungsmäßige Konstitution einer Gesellschaft immer auch Kampf u m das Wahlrecht und seine Ausgestaltung. Die französische Revolution stellt, mehr noch als die nordamerikanische Bundesverfassung von 1787 die politisch-soziale Gesamtverfassung auf eine neue, von der Sozialtheorie des Vernunftrechts her konzipierte Grundlage 5 9 . Aus vorstaatlichen Rechten der Menschen, begründet i n einem allgemeinen Vernunftrecht oder i n einem göttlich vorgegebenen Naturrecht, werden verfassungsmäßig garantierte Rechte von Staatsbürgern. Maßgebend für die weitere kontinentaleuropäische Entwicklung hierbei ist die Charte Constitutionelle Française vom 4. J u n i 1814, die i n A r t . 1 - 1 2 öffentliche Rechte der Franzosen statuiert und die Constitution de la Belgique von 1831, welche i n A r t . 4 - 2 4 einen Grundrechtskatalog enthält. Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit — allerdings beschränkbar zum Schutze der Freiheit —, Eigentumsgarantie u. a. werden zur Grundlage der neuen Verfassungsordnungen 60 . 2.4 Allgemeine Bürgerrechte und parlamentarische Mitbestimmungsrechte als Grundlagen des bürgerlichen Staates Die verfassungspolitische Bewegung i m 17. und 18. Jahrhundert, ausgehend von England und über die Staaten der nordamerikanischen Union und Frankreich auf ganz Kontinentaleuropa wirkend, ist durch zwei unterschiedliche Entwicklungen gekennzeichnet: Ausbildung der Volkssouveränität oder zumindest parlamentarische bzw. ständische Mitbestimmungsrechte als Selbstbestimmungsrecht insbesondere des besitzenden Bürgertums und Anerkennung allgemeiner Bürgerrechte, Verrechtlichung des Verhältnisses Staat zu Bürger bis h i n zur gerichtlichen Überprüfbarkeit staatlichen Handelns. Die Bills of Rights der Staaten i n Nordamerika waren getragen vom Grundsatz der Volkssouveränität, gegründet i n der Vorstellung, die ganze Verfassung ist eine gemeinsame Übereinkunft aller. Die Berufung auf die Volkssouveränität und auf Naturrecht legitimiert eine Veränderung der alten staatlichen Herrschaftsordnung. Während i n 58
Vgl. M. Duverger / L. Sfez, S. 549. Vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme u n d Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, S. 560 ff. (S. 561). 80 Vgl. G. Oestreich, S. 69 ff. 59
2.4 Grundlagen des bürgerlichen Staates
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England Souveränität als Staatssouveränität von König und Parlament getragen wurde und die Institution „ K i n g i n Parliament" die souveräne Nation repräsentiert, w i r d die Souveränitätsfrage i n Deutschland Gegenstand langwieriger Verfassungsauseinandersetzungen 61 m i t der Herausbildung eines dualistischen Herrschaftsprinzipes. I n den konstitutionellen Monarchien des 18. und 19. Jahrhunderts gab es zwar evolutionäre Veränderungen zugunsten jener Stände und Klassen, welche nicht durch Geburtsrechte bevorrechtigt sind, Volkssouveränität aber wurde i n Frankreich erst i n der revolutionären Epoche seit 1789 und i n Deutschland 1918/19 revolutionär begründet. Der Verfassungskampf hat hier zunächst die stärkere Ausbildung rechtsstaatlicher Strukturen zur Folge. Waren i n den ersten Verfassungen des 18. Jahrhunderts Bürger- und Menschenrechte als vorstaatliche Hechte des Menschen begründet, so erscheinen solche Rechte i n den späteren Verfassungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem i n Deutschland als staatlich gesetzte und begründete Grundrechte 62 . Verständlich ist dieser Prozeß nur, wenn man die Veränderungen i n der Gesellschaft und i m Verhältnis von Staat und Gesellschaft i n den Blick nimmt. Die Entwicklung i n den einzelnen Ländern verlief unterschiedlich. I m Ergebnis schafft das Bürgertum aber eine staatliche Ordnung, welche die Realisierung seiner ökonomischen und kulturellen Interessen ermöglicht, dies ist anhand der deutschen Entwicklung näher aufzuzeigen.
61 Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1963, S. 298 ff.; H. Quaritsch, S. 482; zur E n t w i c k l u n g auch bei H. Kurz, V o l k s souveränität u n d Volksrepräsentation, K ö l n 1968, 2. Aufl., S. 116 ff., S. 121 ff. m. w. N. 62 Vgl. W. Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat, B e r l i n 1957, S. 10; A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, Stuttgart 1948, S. 115.
3. Verfassungsentwicklung in Deutschland 3.1 Beiträge der philosophisch-politischen Theorie zur Entfaltung des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates Die verfassungsrechtliche Entwicklung i n den deutschen Ländern i m 18. und 19. Jahrhundert ist nicht durch eine revolutionäre Durchsetzung von Grundrechten und Volkssouveränität gekennzeichnet. I n einem langwierigen Prozeß verändert sich die rechtliche Verfassung entsprechend den Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur und der sozio-kulturellen und ökonomischen Emanzipation des Bürgertums. Die Entwicklung i n den einzelnen deutschen Ländern ist nicht einheitlich. Etappen der Entwicklung sind die Ausbildung der süddeutschen Verfassungen nach den Befreiungskriegen, ist die Paulskirchenverfassung von 1848/49, ist die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches, ist der verfassungsrechtliche Durchbruch zu einer parlamentarisch-demokratischen Staatsorganisation i m 1. Weltkrieg 1 . Gegenstand philosophischer Reflexion, fundiert i n den naturrechtlichen Philosophien und i n der Aufklärungsphilosophie, hatte das liberal-bürgerliche Menschenbild vom freien, sich selbst verpflichteten B ü r ger, der zu seiner Entfaltung eine rechtlich gesicherte Glaubens- und Gewissensfreiheit und des Eigentumsschutzes und der Gewerbefreiheit bedarf, i n Grundrechtsforderungen als Menschen- und Bürgerrechten Ausdruck gefunden. Menschen- und Bürgerrechte erscheinen i n Deutschland nicht als fundamentales Selbstverständnis und als Konsens i m Streben nach nationaler Einigung, nicht als Grundlage einer neuen, demokratischen Ordnung, sie bildeten vielmehr nur den Hintergrund i n der Auseinandersetzung um „Freiheit vom Staat" und „Freiheit i m Staat" und waren Teil des Strebens nach M i t w i r k u n g bei der staatlichen Gesetzgebung und der Bindung des Staates an die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit und des Gesetzesvorbehaltes, ohne daß der Staat i n seiner überlieferten Struktur dabei prinzipiell zur Diskussion gestellt wurde. Die neuzeitliche Souveränitätsdiskussion hat ihren Ursprung i n der Schrift „Le six libres de la Republique" (1576) von Jean Bodin. J. Bodin definiert die Souveränität als eine Eigenschaft des Gemeinwesens, als 1 I m nachfolgenden Überblick werden n u r einige Grundprinzipien der E n t w i c k l u n g aufgezeigt, auf umfassende Nachweise w i r d deshalb verzichtet, zur Ergänzung vgl. bei der angegebenen Literatur.
3.1 Beiträge der philosophisch-politischen Theorie
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ursprünglichem Träger von Herrschaft und Macht, sie realisiert sich i n der Ausübung der Staatsgewalt, welche durch den Fürsten (Monarchen) erfolgt. Gemeinwesen und Herrschaft sind i n der Theorie von J. Bodin identisch, Herrschaftsgewalt w i r d zu einer abstrakten Eigenschaft des Gemeinwesens, Staates 2 . Souveränität konstituiert und trägt den Staat 3 . Die Ausübung der Souveränität durch den Monarchen ist an das Recht — i m Sinne eines ursprünglichen Naturrechtes — und an das Gesetz gebunden 4 . I n einer langwierigen, zunächst philosophisch-theoretischen und dann politisch-praktischen Entwicklung vollzieht sich eine Ablösung der Souveränität als ursprünglicher personaler Herrschaftsmacht zu einem konstitutiven Merkmal von Staat und Staatsgewalt, schließlich zu einer Eigenschaft des Staatsvolkes, welches Souveränitätsträger und - m i t t l e r ist. J. Althusius (1557 - 1638) nahm zunächst den Souveränitätsbegriff von Bodin auf, das vereinte Volk ist für i h n Träger der Souveränität. Der Herrscher ist durch „Vertrag" eingesetzt, alle i h m dadurch nicht übertragenen Rechte bleiben dem Volk, die Grenzen der Regierungsgewalt werden durch eine A r t „Grundgesetz" festgelegt, die „Volkssouveränität" ist selbst gebunden an das Naturrecht. Faktisch reduziert sich die Stellung des Volkes aber auf eine theoretische Legitimation staatlich-monarchischer Herrschaft i m Sinne einer ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt 5 . Die deutsche naturrechtliche Theorie, von großem Einfluß auf die weitere Entwicklung, w i r d vor allem getragen von Samuel Pufendorf (1632 - 1694)e, Christian Thomasius (1655 - 1728)7 und Christian Wolff (1679 - 1754)8. Pufendorf, ebenso Thomasius und Wolff postulieren die sittliche Autonomie und Individualität des Menschen, u m so mögliche 8 Vgl. hierzu H. Quaritsch, Staat u n d Souveränität, Bd. 1, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 39; J. Dennert, Ursprung u n d Begriff der Souveränität, Stuttgart 1964, S. 56. 8 Vgl. hierzu H. Quaritsch, S. 41. 4 Vgl. hierzu H. Heller, Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S. 34 ff. 5 J. Althusius, Politica methodice digesta et etemplis sacris et profanis illustrata, 1603. — Vgl. hierzu C. J. Friedrich, Johannes Althusius u n d sein Werk i m Rahmen der E n t w i c k l u n g der Theorien von der Politik, B e r l i n 1975, S. 123. — Ä h n l i c h Althusius auch von Rotteck / Weicker, Staatslexikon, Bd. 12, B e r l i n 1848, S. 375, zur normativ bindenden u n d konstitutiven W i r k u n g des Verfassungsgesetzes. β S. Pufendorf, v o r allem De jure naturae et gentium, 1672 u. De officio hominis et civis, 1673. 7 Chr. Thomasius, vor allem Institutiones jurisprudentiae divinae, 1688 u. Fundamenta juris naturae et gentium, 1705. 8 Chr. Wolff, vor allem lus naturae methodo scientifica pertractatum, 1740 - 1748, Institutiones juris naturae et gentium, i n quibus et ipsa hominis natura continuo nexu omnes obligationes et iura omnia deducuntur, 1752.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
und zulässige Eingriffe des Staates i n die Freiheit des Einzelmenschen zu erklären und zu begründen. Die Möglichkeit zur Freiheitsbegrenzung durch den Staat w i r d i n einem naturphilosophisch begründeten Menschenbild eingeschränkt gesehen. Bei Christian Wolff ist beispielsweise das naturrechtlich-teleologische Grundprinzip die „perfectio hominis". Die allgemeine Rechtsfähigkeit des Menschen ist begründet i n seiner Eigenschaft als „persona moralis". Aus diesem naturrechtlichen Bezug ergeben sich für Wolff die angeborenen Rechte wie Gleichheit, Freiheit und Selbstverantwortlichkeit, Recht auf Erziehung und B i l dung, Eigentum und die Fähigkeit, Rechtsstellungen zu erwerben. Während bei Thomasius verbindliche Rechtsstellungen erst durch einen Staatsvertrag begründet werden, fungiert bei Wolff ein Vertrag zwischen den Bürgern nur als Begründung und Legitimation für den Staat selbst, indem sich die Bürger mittels des Vertrages verpflichten, das gemeinsame Wohl zu fördern. S. Pufendorf n i m m t Vorstellungen von Th. Hobbes und Hugo Grotius auf, nach i h m haben die „Familienväter" den Staat durch gegenseitiges Übereinkommen geschaffen, u m sich gegen die Übel, die den Menschen von den Menschen drohen, zu schützen. Der Unionsvertrag vereinigt die einzelnen zum Volk, i m Dekretum setzt das Volk die Staatsform fest, ein Subjektionsvertrag begründet die Regierungsgewalt des Herrschers. Als Mitglieder des Staates sind die Menschen allein an das politische Recht gebunden. Pufendorf sieht vor allem drei A r t e n von staatlichen Eingriffen i n individuelle Freiheit und i n Eigentum als begründbar an: Steuern, wobei aber die leges fundamentales der Zustimmung eines Rates oder einer Ständeversammlung bedürfen und wobei Steuern nur zum Wohle des Staates, nicht zur Deckung des persönlichen Finanzbedarfes des Fürsten erhoben werden dürfen; Enteignung i n dringenden Fällen und bei angemessener Entschädigung; schließlich Nutzungsbestimmungen für das Eigentum. Politisch wirksam wurde i m weiteren vor allem die Begründung der Staatssouveränität i n der Volkssouveränität durch Th. Hobbes und J. Locke. Beide erklären — wenn auch i n höchst unterschiedlicher Weise, wie dargelegt wurde — die Staatsgewalt aus den Anforderungen eines i n sich konkurrierenden Volkes. Bei Locke verbleibt dem Volk ein Widerstandsrecht, ist es „Richter" gegenüber dem Monarchen, soweit er die i h m eingeräumte Rechtsstellung mißbraucht 9 . Die Lehre von der Volkssouveränität erfuhr ihre theoretische Ausformung — wie bei der Erörterung der Verfassungsentwicklung i n Frankreich bereits dargelegt — durch Jean Jacques Rousseau. Rousseau bestimmt zum Oberhaupt des Staates das Volk, die Gesamtheit der Mitglieder der Gesell• Vgl. hierzu erg. H. Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation, K ö l n usw. 1965, S. 80 ff.
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schaft, welche sich i n einem Gesellschaftsvertrag als Staat zusammengeschlossen haben. Die Gesamtheit der Mitglieder der Gesellschaft übt die politisch-rechtliche oberste Gewalt aus. Die Freiheit des I n d i v i duums manifestiert sich i m Recht des Volkes auf die souveräne Macht i m Staat 1 0 . Staatssouveränität und Volkssouveränität sind bei Rousseau keine Gegensätze, sondern i n der Volkssouveränität w i r d die Staatssouveränität begründet 11 . Der Begriff des Volkes, die Bezeichnung jener, welche letztlich Träger der Volkssouveränität sind, gerade auch als Bezeichnung für die bürgerliche Gesellschaft, wurde von E. J. Sieyés (1748 - 1836) i n seiner politischen Kampfschrift „Was ist der Dritte Stand" entfaltet. Der Dritte Stand, also vor allem das Bürgertum, sei die Nation i n ihrer Totalität. Die beiden anderen Stände, Aristokratie und Klerus seien privilegierte Teile des Dritten Standes, jedoch nicht eigenständige Teile der Nation, nicht selbständige Träger von Souveränitätsrechten. Der theoretische Anspruch nach Volkssouveränität ist politisch-praktisch konfrontiert m i t der Lehre von einer ursprünglichen, durch Gott verliehenen und nur durch Verträge und Rechte beschränkten Herrschaftsmacht des Fürsten, welche i m Absolutismus zunehmend als umfassende, über dem positiven Recht stehende unveräußerliche und unverjährbare Herrschaftsgewalt etabliert und akzeptiert w a r 1 2 . A u f die weiteren verfassungspolitischen Anschauungen und Auseinandersetzungen i n den deutschen Ländern hat der deutsche Idealismus erheblichen Einfluß, insbesondere I. Kant (1724 - 1804)18, G. W. F. Hegel (1770 - 1831)14 und J. G. Fichte (1762 - 1814)15. Verfassungspoli10 Vgl. hierzu B. Baczko, Rousseau — Einsamkeit u n d Gemeinsamkeit, W i e n usw. 1970, S. 402 f.; P. Dagtoglou, Souveränität, i n : Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1975, Sp. 23231; vgl. auch U. Steiner, Verfassungsgebung u n d verfassungsgebende Gewalt des Volkes, B e r l i n 1966, S. 66. 11 s. auch H. Heller, S. 96; vgl. auch E. v. Reibstein, Volkssouveränität u n d Freiheitsrechte, Bd. 2, München 1972. 12 Hierzu H. Kurz, S. 75. Z u r Souveränitätsdiskussion vgl. allgemein die Einleitung u n d die Beiträge i n H. K u r z (Hrsg.), Volkssouveränität u n d Staatssouveränität, Darmstadt 1970. Z u Einzelheiten der Entfaltung neuzeitlicher Lehren der Volkssouveränität H. Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation, S. 71 ff. m. w . N.; zur politischen B e w i r k u n g der Lehre von V o l k s souveränität u n d ihrer Rechtfertigungsfunktion, ebd. S. 112 ff. Z u r Geschichte des Begriffes vgl. W. Simson, Die Souveränität i m rechtlichen Verständnis der Gegenwart, B e r l i n 1965, S. 25 ff. m. w. N.; O. v. Gierke , Deutsches Genossenschaftsrecht, B e r l i n u n d Leipzig 1881, Bd. 3, S. 628 ff., Bd. 4, S. 369 ff.; G. Jellinek, Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, S. 11, S. 34 ff., H. Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation, S. 114 ff.; H. Quaritsch, S. 475 ff. 18 I. Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, 1788. Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 1786; Metaphysik der Sitten, 1797. 14 G . W . F. Hegel, s. i. Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821; V e r handlungen i n der Versammlung der Landstände des Königreichs W ü r t t e m berg i m Jahre 1815 u n d 1816, 1817.
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tische Diskussionen sind noch nicht so sehr ökonomische als geistigkulturelle Auseinandersetzungen. Kant definiert zunächst das Recht als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die W i l l k ü r des einen m i t der W i l l k ü r des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann". Da aber jede Beeinträchtigung der Freiheit eines anderen ein Unrecht bildet, „ist m i t dem Recht zugleich eine Befugnis, den, der i h m Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft". Die natürliche Freiheit beinhaltet ein subjektives Recht, die Beschränkung dieser Freiheit ergibt sich so bei Kant aus dem „Vernunftgesetz". Konkrete Inhalte des Rechtes sind nicht i n der Natur vorgegeben, sondern Ausdruck einer Willenssetzung, Sein und Sollen sind logisch getrennt. Die Staatslehre von Kant steht i n einem Zusammenhang m i t der Philosophie von Rousseau, der Staat ist bei Kant eine „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen". Der A k t , wodurch sich „das Volk selbst zu einem Staat konstituiert", drückt sich aus i n der Idee eines ursprünglichen Kontraktes, nach welchem alle i m Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, u m sie als Glieder eines Gemeinwesens sofort wieder zu erhalten und aufzunehmen. Die gesetzgebende Gewalt kommt dem vereinigten Willen des Volkes zu, von dem alles Recht ausgeht. Die Zuständigkeit des Gesetzgebers ist unbeschränkt. A k t i v e Staatsbürger können aber nur jene Personen sein, welche eine selbständige wirtschaftliche Existenz haben. Staatliche Herrschaftsgewalt ist so letztlich nicht Ausdruck allgemeiner Volkssouveränität, sondern i n ihr manifestiert sich — ähnlich wie bei J. Locke — der Besitzindividualismus. Die Gewährleistung der Freiheitsgesetze erfordert bei Kant, daß der Staat i n seiner Organisation differenziert ist i n gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt, Kant folgt insoweit der politischen Theorie von Montesquieu. Stärker als bei Kant verbinden sich bei Fichte naturrechtliche und vernunftrechtliche Elemente. Recht hat für i h n die Funktion, das U r recht aller Menschen auf individuelle Freiheit zu sichern. Eine solche Sicherung von Freiheit erfordert den Zusammenschluß i m Staat, der Staat w i r d zum Ausdruck des realisierten Naturrechtes, sein Ziel ist, das Wohl des einzelnen zu fördern, den gemeinsamen Willen zu finden und zu realisieren. I n seinen späteren Arbeiten stellt Fichte stärker die Gemeinschaftsbezogenheit und Gebundenheit des Individuums heraus, Grundlage seiner staatsphilosophischen Überlegungen w i r d die Einbindung des Individuums i n der konkreten Gemeinschaft, seine Teilhaftigkeit i n einem organisierten Ganzen, dieses ist als Staat Träger der 15 J. G. Fichte, s. i. Grundlagen des Naturrechts, 1796; Der geschlossene H a n delsstaat, 1800; Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche 1813.
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Herrschaftsgewalt. Das Hechtsgesetz sichert die anderen Bedingungen der sittlichen Freiheit. Hegel hebt i n seiner dialektischen Philosophie die Trennung von Sein und Sollen, die Gegenüberstellung von Willensgesetz und Vernunftgesetz auf, gleichzeitig treten bei i h m Staat und Gesellschaft auseinander. Die staatsphilosophischen Auseinandersetzungen i m 19. und 20. Jahrhundert sind maßgeblich von der Philosophie Hegels beeinflußt. Hegel geht über Rousseau und Kant hinaus, für ihn gilt nicht die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit der Menschen. Versucht man einen geisteswissenschaftlichen Zusammenhang herzustellen, so treffen sich bei Hegel einerseits Vorstellungen über Staatssouveränität und Autorität, wie sie Machiavelli und Hobbes, aber auch Bodin entwickelt haben, andererseits n i m m t er auch auf die Idealisierung des Allgemeinen, jedoch nicht mehr i m Sinne Rousseaus als Allgemeinheit des Willens, sondern als Allgemeinheit des Staates. Grundlage der Hegelschen Staatsphilosophie ist seine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft als ein System der Bedürfnisse, aber auch der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit. Der Staat ist nicht das konkret Allgemeine dieser bürgerlichen Gesellschaft, vielmehr entwickeln sich i n ihr als Industriegesellschaft unauflösbare Antinomien: indem die Klasse der Bourgeoisie ihren Wohlstand produziert, produziert sie zugleich auch ihren Untergang, den Vierten Stand, der zum Bewußtsein seiner selbst gelangen muß, um das System der Bedürfnisse über sich hinauszutreiben und damit die bürgerliche Gesellschaft i n Anarchie und Despotie aufzulösen. Die arbeitsteilige Spezialisierung und Differenzierung des Menschen i n der bürgerlichen Gesellschaft bewirken, daß Freiheit und Gleichheit zerfallen. Bei Hegel „wurde die Unauflösbarkeit der Klassenantagonismen auf ihren Begriff gebracht" 16 . Indem Hegel den Staat nicht von der Gesellschaft her zu Ende denkt, verbleibt i h m nur die Möglichkeit, den Staat schlechthin als das andere, i n der Idee und i m Begriff seiner selbst und des „Weltgeistes" zu denken, auf welches das konkret Allgemeine hin i n seinem Sinnbezug angelegt ist. „Der Gedanke vom absolut gesellschafts-, d. h. störungsfrei funktionierenden Machtstaat, konnte erst i n einer politischen Situation auftauchen, i n der keine Garantie mehr dafür bestand, daß besondere Interessen und gesamtgesellschaftliches Interesse sich aufeinander zubewegten, sondern sich beide vielmehr ausschließen mußten 1 7 ." 16
K. Lenk, V o l k u n d Staat. S t r u k t u r w a n d e l politischer Ideologien i m 19. u n d 20. Jahrhundert, Stuttgart usw. 1971, S. 55; s. G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie § 289, § 182 sowie §§ 243 ff. 17 K. Lenk, S. 57/58.
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Hegel stellt so den Abschluß einer Entwicklung dar, indem der Staat nicht mehr nur i n seiner Existenz legitimiert, seine Rechte erklärt werden. Aufgrund der Erkenntnis, daß die Gesellschaft i n ihren Bedürfnissen und Interessen widersprüchlich ist, der Staat also nicht mehr die Allgemeinheit der Gesellschaft sein kann, w i r d der gesellschaftliche Zusammenhang i n der Idee des Staates konstruiert, w i r d der Staat zum Ausdruck der Sittlichkeit und w i r d als Ziel gesellschaftlicher und völkischer Wirksamkeit postuliert: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, — der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille . . ," 1 8 . Die Sittlichkeit ist aber die Idee der Freiheit 1 9 und der konkrete Staat hat deshalb die Wirklichkeit der Freiheit zu sein 20 . Der objektive Geist als der übergreifende Lebenszusammenhang der Individuen und als Recht sowie die Unterordnung der subjektiven Gesinnung unter die Gebote des Gesamtbewußtseins, die Moral vollenden sich i n der „Sittlichkeit" als Verwirklichung jenes Gesamtbewußtseins i m Staate. Der Staat ist so nicht nur Verwirklichung der sittlichen Idee, sondern auch der sichtbar gewordene Volksgeist. Die Geschichtlichkeit des Volksgeistes bedingt unterschiedliche konkrete Formen der Staatlichkeit, der Verfassung eines Volkes 2 1 . Die Staatsgewalt selbst ist auch keine absolute, „der Staatsgewalt sind die Bürger als einzelne unterworfen und gehorchen derselben. Der Inhalt und der Zweck derselben aber ist die Verwirklichung der natürlichen, d. h. absoluten Rechte der Bürger, welche i m Staat darauf nicht Verzicht tun, vielmehr zum Genuß und zur Ausbildung derselben allein i n i h m gelangen" 22 . Der Dualismus von Staat und Gesellschaft ist damit bei Hegel begründet, aber nicht als endgültiger. Hegel selbst stellt den Versuch dar einer A r t Rekonstruktion einer geistig ideellen Wirklichkeit als Grundlage einer letzten Identität des Selbstbewußtseins der Staatsbürger, den Versuch, die Dialektik des historischen und sozialen Prozesses auf den Begriff zu bringen, i n dem die unaufhebbaren Antagonismen nicht näher bezeichnet und weitergedacht werden. Gleichzeitig w i r d aber die Realisierung allgemeiner Freiheit zum Ziel und Zweck des Staates und zur allgemeinen Konstitutionsaufgabe staatlich verfaßter Gesellschaft 23 . 18
G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie § 257. G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie § 142. 20 G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie § 258. 21 G. W. F. Hegel, Nürnberger Schriften, Rechts-, Pflichten- und Religionslehre f ü r die Unterklasse: Rechtslehre § 28, zitiert nach Ausgabe F r a n k f u r t 1970, S. 250; vgl. auch ders., Rechtsphilosophie § 274 u. Verhandlungen i n der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg i m Jahre 1815 u n d 1816, S. 462 ff. Hierzu insbes. auch W. R. Beyer, Z u m Streit u m die „ U r fassung" der Hegeischen Staatsformenlehre, i n : Staat u n d Recht 1976, S. 515 ff. 22 G. W. F. Hegel, Rechtslehre § 29, cit. op S. 250. 19
3.2 Staatssouveränität u n d ständische Mitwirkungsrechte
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Seine letzte Überhöhung und Rechtfertigung hat der Staatsbegriff vor allem i m Rechtshegelianismus und i n all seinen Nachfolgern gefunden 2 4 . Die Funktion dieser A r t von Staatsbegriff ist, i n der Abstraktion von der konkreten Staatlichkeit, den Staat selbst zu rechtfertigen, ihn als eine scheinbar gesellschaftsfreie Instanz zu begreifen, i n welcher sich die Klassenantagonismen zumindest neutralisieren 2 5 ' 2 6 . Dieses philosophische Verständnis spiegelt sich bis i n die Gegenwart wider i n der verfassungsrechtlichen Entwicklung, vor allem aber auch i n der staatswissenschaftlichen Auffassung von Staat, Staatsgewalt und Souveränität. 3.2 Staatssouveränität und ständische Mitwirkungsrechte im Vormärz Verfassungsrechtlich bedeutsam werden zunächst i n den einzelnen Ländern die Auseinandersetzungen u m die Mitwirkungsrechte der Stände, um die Festschreibung der Gesetzgebungskompetenz, welche allgemein umschrieben w i r d m i t der Erforderlichkeit gesetzlicher Regelung bei Eingriffen i n Freiheit und Eigentum 2 7 . „Die Freiheits- und Eigentumsklausel als solche ist so alt wie das neuzeitliche liberale Denken selbst. Sicherheit und Freiheit der Person und des Eigentums, d. h. die Sicherung des individuellen Lebensbereiches, war das, was man vom Staat der absoluten Monarchie forderte, und w o r i n man, von John Locke angefangen, den eigentlichen Rechtfertigungsgrund des Staates sah. Demgemäß ist die Gewährleistung der Sicherheit von Freiheit und Eigentum i m Rahmen von Gesetz und Recht ein Kernstück jedes konstitutionellen Grundrechtskataloges geworden 2 8 ." 23 Erg. K . Grimmer, Identität u n d Widerspruch des Staates, X I I I . I n t . Hegelkongreß, Belgrad 1979. 24 Vgl. hierzu H. Kiesewetter, V o n Hegel zu Hitler, H a m b u r g 1974; dazu die Rez. von K . Grimmer, i n : ARSP 1976, H. 1. 25 Vgl. hierzu G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie § 258, Zusatz. 28 Hingewiesen sei n u r auf die unterschiedlichen Fortführungen, welche die Staatsphilosophie durch Friedrich Julius Stahl, Fichte u n d Schopenhauer erfahren hatte, letztlich m i t dem Ziel jeweils, den Staat als eigenständigen darzustellen, — Z u m Stand der Diskussion D. Suhr, Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung, B e r l i n 1975, S. 29 ff., 86 ff.; W. Schmidt, Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen zwischen staatlicher Herrschaft u n d gesellschaftlicher Macht, i n : AöR, Bd. 101, 1976, S. 24 ff. 27 Insgesamt zur E n t w i c k l u n g Ch. Starck, Der Gesetzesbegriff des G r u n d gesetzes, Baden-Baden 1970, S. 77 ff. 28 E.-W. Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, S. 75 ff. Vgl. etwa Verfassungsurkunde f ü r das Königreich Bayern v o m 26. 5.1818, T e i l I V , § 8, Verfassungsurkunde f ü r das Großherzogtum Baden v o m 22. 8.1818, § 13, V e r fassungsurkunde für das Königreich Württemberg v o m 25. 9.1819, § 24, V e r fassungsurkunde f ü r das K u r f ü r s t e n t u m Hessen v o m 5.1.1831, § 31, Verfassungsurkunde f ü r das Königreich Sachsen v o m 4. 9.1831, § 27. Während die Verfassungen der Jahre 1818/19 den Staat als Garanten f ü r persönliche Freiheit u n d Eigentum besonders nennen, statuieren die Verfassungen von 1831 schlicht die Freiheit der Person u n d des Eigentums i m Rahmen der Gesetze.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
Die verfassungspolitische Entwicklung i n den deutschen Ländern ist aber weniger durch den bürgerlichen Aufbruch i n der Französischen Revolution als durch das Erstarken der monarchischen Gewalt nach den napoleonischen Kriegen i n der Restaurationsphase des Wiener Kongresses bestimmt. Souveränität und Herrschaft des Staates waren gebunden an den Monarchen, der Monarch stellte die „Staatsperson" dar. Die letzte Grundlage und notfalls genügende Begründung bildete das historisch oder auf rechtlichem Wege erworbene und durch Herkommen bekräftigte Anrecht auf Herrschaft sowie der Grundsatz der Unverjährbarkeit der kraft Geburt zugefallenen Herrschaftsrechte. Staatsrechtlich und verfassungspolitisch wurde diese Legitimationsbegründung i n der Schlußakte der Wiener Ministerkonferenz vom 15. M a i 1820 i n A r t . 55 festgestellt: „Da der deutsche Bund, m i t Ausnahme der freien Städte, aus souveränen Fürsten besteht, so muß dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesamte Staatsgewalt i n dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben, und der Souverän kann durch eine landständische Verfassung nur i n der Ausübung bestimmter Rechte an die M i t w i r k u n g der Stände gebunden werden." Das Allgemeine Landrecht von Preußen von 1794 bezeichnet noch i n Teil I I , 13. Titel, § 6 „das Recht, Gesetze und allgemeine Polizeyverordnungen zu geben, dieselben wieder aufzuheben, und Erklärungen darüber m i t gesetzlicher K r a f t zu ertheilen", als ein „Majestätsrecht". Gesetzgebung und gesetzgebende Gewalt sind nicht spezifische Staatsfunktionen, sondern Ausdruck der staatlich-monarchischen Hoheitsmacht 29 . Das Gesetzgebungsrecht ist zwar als ein Majestätsrecht ausgestaltet, unter Umständen gebunden an die Einschaltung einer Gesetzeskommission als Vorprüfungsinstanz. Eine gewisse rechtsstaatliche Sicherung findet aber ihren Ausdruck i m Gesetzesbegriff selbst i n der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht i n § 85: „Rechte und Pflichten, welche aus Handlungen oder Begebenheiten entspringen, werden allein durch die Gesetze bestimmt." Dies gilt gemäß Teil I, 8. Titel, § 25 auch für die Einschränkungen des Eigentums. Eine M i t w i r k u n g der Stände bei der Gesetzgebung w i r d i n Preußen m i t der Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes 29 Vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, S. 63 m. w. N. — J. J. Moser stellt entsprechend fest „Gesetze seynd landesherrliche Befehle, f ü r Ordnungen, Gebote u n d Verbote" f ü r alle Untertanen oder f ü r gewisse Gattungen v o n U n tertanen. Die Gesetzgebungshoheit ist f ü r i h n das höchstwichtigste Stück der Standeshoheit, welche an u n d f ü r sich allein beim Landesherren liegt, aber auch durch Verträge u n d Herkommen i n der Ausübung an ständische M i t w i r k u n g gebunden u n d auch gegenständlich geteilt sein k a n n (J. J. Moser, V o n der Landeshoheit i n Regierungssachen, F r a n k f u r t u n d Leipzig 1772, Cap. 4, §§ 29, 35).
3.2 Staatssouveränität u n d ständische Mitwirkungsrechte
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vom 22. M a i 1815 vorgesehen. Die Provinzialstände sollen reaktiviert und aus den Provinzialständen die Versammlung des Landesrepräsentanten gewählt werden, welche ihren Sitz i n Berlin haben soll (§ 3). „Die Wirksamkeit der Landes-Repräsentanten erstreckt sich auf die Beratung über alle Gegenstände der Gesetzgebung, welche die persönlichen und Eigenthumsrechte der Staatsbürger, m i t Einschluß der Besteuerung, betreffen." (§ 4) Die Provinzialstände wurden endgültig 1825 errichtet, sie erhielten schließlich nur beratende Funktion, und zwar für die Gesetzesentwürfe, welche allein die Provinzen angingen, und für allgemeine Gesetze, „welche Veränderungen i n Personen- und Eigentumsrechten und i n den Steuern zum Gegenstande haben" (Allgemeines Gesetz wegen der Anordnung der Provinzialstände vom 5. 6. 1823, Teil III). Verfassungsrechtlich wurde das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes für Eingriffe i n Freiheit und Eigentum erstmals i n der bayerischen Verfassung vom 26. M a i 1818 festgestellt: „Ohne den Beyrath und die Zustimmung der Stände des Königreiches kann kein allgemeines neues Gesetz, welches die Freyheit der Personen oder das Eigenthum des Staatsangehörigen betrifft, erlassen, noch ein schon bestehendes abgeändert, authentisch erläutert oder aufgehoben werden" (VII., § 2). Der König hat nach VII., § 3 auch die Zustimmung der Stände zur Erhebung aller direkten Steuern, sowie zur Erhebung neuer indirekter Auflagen oder zu der Erhöhung oder Verwendung der bestehenden einzuholen. Den Ständen ist eine genaue Übersicht des Staatsbedürfnisses wie der gesamten Staatseinnahmen (Budget) vorzulegen, „welche dieselben durch einen Ausschuß prüfen und sodann über die zu erhebenden Steuern i n Berathung treten" (VII., § 4). Damit w i r d die einheitliche Rechtsetzungskompetenz als Ausdruck der i m Monarchen liegenden Staatssouveränität aufgelöst und es treten Rechte des Monarchen und Rechte der Stände einander gegenüber. Der König bleibt aber zunächst nicht nur Oberhaupt des Staates, sondern vereinigt auch „ i n sich alle Rechte der staatlichen Gewalt". Die Ausübung dieser Rechte ist nur gebunden an die „von i h m gegebenen, i n der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde festgesetzten Bestimmungen" (II., § 1). Die gesetzgeberische Mitbestimmungskompetenz ist keine allgemeine, nicht Ausdruck von „Volkssouveränität", sondern sie w i r d gemeinschaftlich ausgeübt durch zwei Kammern der Ständeversammlung (VI., § 19), die Kammer der Reichs-Räthe und die Kammer der Abgeordneten. Die Zugehörigkeit zur Kammer der Reichs-Räthe bestimmt sich nach ererbten Standesvorrechten oder solchen Vorrechten kraft Amtes (VI., § 2). Die Mitglieder der Abgeordneten-Kammer werden
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
z w a r g e w ä h l t , w a h l b e r e c h t i g t s i n d aber n u r a u f g r u n d v o n E i g e n t u m oder A m t b e v o r r e c h t i g t e G r u p p e n 3 0 . I n e i n e m besonderen A b s c h n i t t d e r V e r f a s s u n g w u r d e n g r u n d r e c h t s ä h n l i c h e Rechte s t a t u i e r t , n e b e n d e r e r w ä h n t e n S i c h e r h e i t d e r Person, des E i g e n t u m s u n d der Rechte, insbesondere e i n gleicher A m t s z u g a n g (VI., § 5), G e w i s s e n s f r e i h e i t (IV., § 9) u n d F r e i h e i t d e r Presse u n d des B u c h h a n d e l s — a l l e r d i n g s n u r i m R a h m e n eines besonderen, einschränk e n d e n E d i k t e s (IV., § 11). F ü r die G r u n d r e c h t s d i s k u s s i o n i s t d e r philosophische S t a n d p u n k t ebenso entscheidend w i e d e r p o l i t i s c h e O r d n u n g s w i l l e . N a t u r r e c h t l i c h e Postulate, R e k u r s a u f e i n a n g e b l i c h vorgegebenes M e n s c h e n b i l d , das Wesen u n d d i e Z w e c k s t e l l u n g des Menschen, auch i m S i n n e d e r U t i l i t ä t s p h i l o s o p h i e b e s t i m m e n d i e D i s k u s s i o n i m deutschen V o r m ä r z . M i t d e r T h e o r i e v o m S t a a t s v e r t r a g w i r d d e r A n s p r u c h s g e h a l t solcher M e n schenrechte g e g e n ü b e r d e r S t a a t s g e w a l t b e g r ü n d e t , sie u n d d i e G r u n d rechte b i l d e n d i e G r u n d l a g e d e r l i b e r a l e n Rechtsstaatstheorie 3 1 . 80
Vgl. Verfassungsurkunde f ü r das Königreich Bayern V I , § 8 „Die Zahl der Mitglieder richtet sich i m ganzen nach der Z a h l der Familien i m K ö n i g reich, i n dem Verhältnis, daß auf 7000 Familien ein Abgeordneter gerechnet w i r d . " § 9 „ V o n der auf solche A r t bestimmten Z a h l stellt: a) die Klasse der adeligen Grundbesitzer ein Achtteil; b) die Klasse der Geistlichen der katholischen u n d protestantischen Kirche ein Achtteil; c) die Klasse der Städte u n d M ä r k t e ein V i e r t t e i l ; u n d d) die Klasse der übrigen Landeigentümer, welche keine gutsherrliche Gerichtsbarkeit ausüben, zwei Viertteile der Abgeordneten; e) jede der drei Universitäten 1 Mitglied." Wählbarkeit als Abgeordneter setzte Vermögen u n d eine festgesetzte Größe der jährlichen Versteuerung voraus (VI, § 12). Prinzipiell ähnlich ausgestaltet sind die Verfassungen anderer deutscher Länder i m Vormärz, vgl. Verfassungsurkunde des Großherzogtums Baden v o m 22. August 1818 II., § 7 ff. Staatsbürgerliche u n d p o l i t i sche Rechte der Badener u n d besondere Zusicherungen; I I I . , § 26 ff. Ständeversammlung. Rechte u n d Pflichten der Ständeglieder; Verfassungsurkunde f ü r das Königreich Württemberg v o m 25. September 1818 I I I . , § 19 ff. Von den allgemeinen Rechtsverhältnissen der Staats-Bürger; I X . , § 124 ff. Von den Landständen, vgl. hierzu auch B. Wunder, Die Landtagswahlen 1815 u n d 1819 i n Württemberg — Landständische Repräsentation u n d Interessenvertretung — i n : Festschrift f ü r G. Wunder, Schwäbisch-Hall 1974, S. 264 - 293. Die Verfassungsurkunde f ü r das K u r f ü r s t e n t u m Hessen v o m 5. Januar 1831 enthält i n i h r e m Abschnitt I I I , §§ 19 ff. „ V o n den allgemeinen Rechten u n d Pflichten der Untertanen" bereits einen umfassenderen Katalog grundrechtsähnlicher Rechte w i e Berufs- u n d Gewerbefreiheit (§ 27) u. ein allgemeines Beschwerderecht (§ 35). Die Ständeversammlung ist nicht i n 2 K a m m e r n geteilt, sondern besteht aus einer gemeinsamen Versammlung, Abschnitt V I I . , §§ 63 ff. „ V o n den Landständen". Vgl. auch Verfassungsurkunde f ü r das K ö nigreich Sachsen v o m 4. September 1831, I I I . , §§ 24 ff. „ V o n den allgemeinen Rechten und Pflichten der Untertanen"; V I I , §§ 61 ff. „ V o n den Ständen", gegliedert i n 2 Kammern. 81 Vgl. etwa R. ν. M ohi, Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, Bd. 1, Tübingen 1829, S. 6 ff.; J. Chr. Freiherr von Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, Bd. 1, A l l e n b u r g 1824, S. 163 ff.; C. Th. Welcher, Die letzten Gründe v o n Recht, Staat u n d Strafe, Gießen 1813, 1. Buch, Kap. 6, S. 25; i m übrigen vgl. die weiteren Nachweise bei E.-W. Böckenförde, Gesetz
3.2 Staatssouveränität u n d ständische Mitwirkungsrechte
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Nicht freiheitlich parlamentarische Staatsverfassung, sondern Ausgleich zwischen absoluter Monarchie und bevorrechtigten Ständen und Klassen ist Ziel verfassungsrechtlicher Statuierungen. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung politischer Grundrechte wie Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit ist begrenzt. Die Postulierung von Menschenrechten dient sowohl dem Selbstschutz eines politisch ruheseligen, philosophisch aufgeklärten Bürgertums als sie auch „Ausdruck seiner höchstgesteigerten politischen und wirtschaftlichen A k t i v i t ä t " 3 2 ist. Der Ausgestaltung des gesetzlich geregelten Umkreises staatlicher Herrschaftsgewalt durch die Beteiligung der Stände an der Gesetzgebung läuft parallel ein Prozeß der Institutionalisierung staatlicher Herrschaftsgewalt. Einmal ist dieser Prozeß veranlaßt durch die weitere Verrechtlichung gesellschaftlicher Verhältnisse, zum anderen durch die stärkere Ausbildung und Kompetenzstellung des Beamtentums. P r i vilegierung und Disziplinierung sind kennzeichnend für die Entwicklung des Berufsbeamtentums Ende des 18. Jahrhunderts i m Übergang zum 19. Jahrhundert 3 3 . „Das schon i n den 30er Jahren feststehende Ergebnis war, daß für alle vormärzlichen Verfassungen ein gleicher, durch gegenseitiges Nachgeben und unter wesentlicher Mithilfe der Wissenschaft gewonnener Umkreis von Materien den Vorbehalt des Gesetzes ausmacht. Man kann i h n als den deutschen staatsrechtlichen Begriff des Gesetzes i m materiellen Sinne bezeichnen 34 ." Gesetzgebung bedeutet nach dem theoretischen Verständnis der konstitutionellen Bewegung i m deutschen Vormärz, beeinflußt von J. J. Rousseau, daß „ein jeder über alle und alle über einen jeden ebenu n d gesetzgebende Gewalt, S. 112 ff. u. ders., Entstehung u n d Wandel des Rechtsstaatsbegriffes, i n : Festschrift für A . A r n d t , F r a n k f u r t 1969, S. 53 ff. (S. 54 ff.), wieder abgedr. i n : ders., Staat — Gesellschaft — Freiheit, F r a n k f u r t 1976, S. 65 ff. R. Wahl. Rechtliche W i r k u n g e n u n d Funktionen der G r u n d rechte i m deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, i n : Der Staat, 1979, S. 321 ff. (S. 333). 32 G. Ritter, Ursprung u n d Wesen der Menschenrechte, S. 203, Z u r ideologischen Rechtfertigungsfunktion der Menschenrechtsdoktrin vgl. E. Topitsch, Die Menschenrechte — E i n Beitrag zur Ideologiekritik, i n : J Z 1963, S. 1 ff.; J. Gaile, Menschenrecht u n d bürgerliche Freiheit: Ideologiebildung i m Zeichen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft 1789 - 1848, M a r b u r g 1978; siehe auch G. Oestreich, S. 74 u n d G. Picht, Z u m geistesgeschichtlichen H i n tergrund der Lehre von den Menschenrechten, i n : Festschrift f ü r E. Menzel, B e r l i n 1975, S. 289 ff. 38 Vgl. Β. Wunder, Privilegierung u n d Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums i n Bayern u n d Württemberg (1780 - 1825), Manuskr., (Habil.-Schrift), Konstanz 1975. 34 R. Thoma, Der Vorbehalt des Gesetzes i m preußischen Verfassungsrecht, i n : Festgabe für O. Mayer, Tübingen 1916, S. 165 ff., S. 176. 4 Grimmer
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
dasselbe beschließen" (Kant). Die gesetzliche Freiheit besteht darin, keinem anderen Gesetz zu gehorchen als zu welchem man seine Beistimmimg gegeben hat. M i t der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung ständestaatlicher Mitwirkungsrechte und der Durchsetzung des Prinzipes des Gesetzesvorbehaltes t r i t t neben die Souveränität des Monarchen aber nur eine beschränkte Gesetzgebungskompetenz der Stände. Die herrschende staatsrechtliche Anschauung versteht i m Staat ein Vertragsverhältnis zwischen Fürst und Volk. Den Inhalt dieses Vertrages bilden die Gesetze. Sie begründen daher ein Forderungsrecht für den Fürsten auf gesetzlichen Gehorsam, für das V o l k auf Einhaltung der Schranken der Gesetze. Das Volk hat ein Recht auf Erfüllung der Gesetze durch den Fürsten. Dieses Vertragsverhältnis ist aber nicht faktisch i n der Volkssouveränität konstituiert, sondern gesetzgeberische M i t w i r k u n g ist vom Fürsten „gewährt". Rechtliche Organisation der politischen Ordnung, Gewährleistung von Freiheit und Eigentum stehen i m Vordergrund, die naturrechtlichen Theorien der Menschenrechte werden nicht revolutionär umgesetzt i n positive Verfassungsrechte. Da die Ständeversammlungen nicht imstande waren, i n der konstitutionellen Monarchie einseitig über Gesetzgebung und Steuererhebung zu verfügen, geschah keine einheitliche Zuordnung der Souveränität, sie blieb gebunden an unterschiedlich legitimierte Kompetenzträger 35 . Der König repräsentierte den Staat gegenüber dem Volk, „Parlamente" repräsentierten Stände und K o m munen gegenüber dem König. Aufgrund der historischen Kontinuität hierarchischer Staatsstrukturen und konstitutionellen Denkens vollzog sich ein Anpassungsprozeß der absoluten Monarchie an die — auch sozioökonomisch begründeten — Ansprüche des Bürgertums. Es ging zunächst nicht u m die Ersetzung der Souveränität des Monarchen durch diejenige des Volkes, sondern u m eine Vermittlung zwischen monarchischer Souveränität und Volkssouveränität, gleichzeitig aber auch u m die Erhaltung der Kontinuität des Staates und des staatlichen Handelns. Strittig blieb die Abgrenzung des Gesetzesvorbehaltes, seine Begrenzung auf allgemeine Gesetze i n allgemeinen Gewaltverhältnissen, stritt i g blieb also die Frage, welchen Umfang die Dispositionsgewalt der Krone behält 3 6 . I n der Verfassungsdiskussion von 1848/49 w i r d die Er85 Vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, Der deutsche T y p der konstitutionellen Monarchie i m 19. Jahrhundert, i n : W. Conze (Hrsg.), Beiträge zur deutschen u n d belgischen Verfassungsgeschichte i m 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967, S. 70 ff.; ders., Verfassungsprobleme u n d Verfassungsbewegung des 19. J a h r hunderts, i n : JuS 1971, S. 566 ff. (S. 563 f.). Böckenförde harmonisiert die E n t wicklung, vernachlässigt Defizite, verarbeitet das Material dogmatisch-systematisch; erg. H. Quaritsch (Red.), Gesellschaftliche S t r u k t u r e n als Verfassungsproblem, B e r l i n 1978. 8e Vgl. R. Thoma, S. 180 ff. ( I n dieser Problematik wurzelt auch die Theorie
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
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Weiterung der parlamentarischen Kompetenzen gefordert: grundsätzliche Einschränkung des königlichen Verordnungsrechtes durch ein suspensives Veto, Einsetzung von Ministern, welche der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit anzugehören hätten, Verfassungseid der Truppen, Hecht zur Steuer- und Etatbewilligung für das Parlament. Bis 1848 wurden vielfach die alten landständischen Versammlungen u m abgesandte Bauern erweitert, sie sind aber nicht als einzelstaatliche Volksrepräsentation zu verstehen 87 . 3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates Bürgerlich-liberaler Rechtsstaat versus soziale Demokratie Die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen finden Ausdruck in der politischen Soziologie, welche, beginnend m i t K . M a r x (1818 - 1883), das Gemeinwesen und seine Herrschaftsorganisation nicht mehr als eine sittliche Instanz Staat versteht, sondern ausgeht von einer Totalität der sachlichen Beziehungen und menschlichen Aktivitäten, als welche man die Gesellschaft begreifen kann, einschließlich der Strukturen und Verhältnisse, die sich aus diesem Ineinander und Gegeneinander organisierter und individueller Prägungen ergeben. „Der Staat w i r d so i n der Soziologie der auf Hegels Rechtsphilosophie folgenden Reflexion selber zu einem spezifisch zu erklärenden Moment einer umfassenden gesellschaftlichen Totalität. Das Individuum aber verhält sich i n einem derartigen Modell nicht mehr wie Hegels Bürger zum Staat: als Teil zum Ganzen, sondern als Moment einer gesamtgesellschaftlichen Totalität, zu einem wenngleich umfassenden Moment derselben Totalität 8 8 ." Diese Konsequenz zieht zunächst der Hegelschüler Lorenz von Stein (1815 - 1890), nach i h m ist die bürgerliche Gesellschaft „der wahre Quell des Verwaltungsaktes v o n O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, B a n d I , 2. Aufl., München u n d Leipzig 1895, S. 75, 79, 91, 349.) 37 Unscharf insoweit W. Henke, A r t . Parlament, Parlamentarismus, i n : Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., Sp. 1760 ff. (Sp. 1760 f.). Beispielhaft f ü r das Verhältnis von N o r m u n d W i r k l i c h k e i t die belgische Verfassung v o m 7.2. 1831, A r t . 25 „ A l l e Gewalten gehen v o n der Nation aus". Diese A r t V o l k s souveränität w a r verfassungsrechtlich jedoch so geregelt, daß praktisch der w e i t überwiegende T e i l des Volkes v o m aktiven Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus ausgeschlossen war. I n den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte Belgien knapp 4 M i l l i o n e n Einwohner, davon besaßen aufgrund des Zensuswahlrechtes n u r r u n d 44 000 das aktive Wahlrecht. Erst aufgrund r a d i k a l demokratischer Forderungen u n d der E n t w i c k l u n g der Arbeiterbewegung w u r d e das belgische Wahlrecht schrittweise demokratisiert, 1893 erhielten alle Männer das aktive Wahlrecht, jedoch w u r d e n durch das System der Pluralstimmen überprivilegierte Schichten bevorzugt, das Prinzip der U n gleichheit w u r d e erst 1919 durch ein allgemeines u n d gleiches Wahlrecht abgelöst, Frauen w u r d e erst 1948 das volle allgemeine aktive u n d passive W a h l recht eingeräumt. — Erg. ΛΓ. Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus i n der Revolutionszeit 1848 - 1850, Düsseldorf 1977. 38
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K . Lenk, S. 62.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
aller Freiheit und Unfreiheit" und ist der wirkliche Staat unvermögend, „eine Stellung außerhalb der Gesellschaft einzunehmen", ist er nur „die Konsequenz oder die Erscheinung der Gesellschaftsordnung i m Organismus der Staatsgewalt" 39 . Ähnlich sagt später Marx, daß „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes", sondern vielmehr i n den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen „bürgerliche Gesellschaft" zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft i n der politischen Ökonomie zu suchen sei 40 . Engels formuliert, „der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungene Macht; ebensowenig ist er „die Wirklichkeit der sittlichen Idee", „das B i l d und die Wirklichkeit der Vernunft", wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich i n einen unlösbaren Widerspruch m i t sich selbst verwickelt, sich i n unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen m i t widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft i n fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den K o n f l i k t dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung" halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat" 4 1 . Der Staat ist damit aber auch immer „der Staat der herrschenden Klasse" und w i r d genutzt zur Niederhaltung der unterdrückten, ausgebeuteten Klasse 42 . θβ Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung i n Frankreich (Leipzig 1850), Ausg. Darmstadt 1959, Bd. 1, S. 51, 69. 40 Z i t i e r t nach H. Heller, Staatslehre, Leiden 1963, S. 122. 41 F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums u n d des Staats, cit. nach K . M a r x u. F. Engels, Ausgewählte Schriften i n 2 Bänden, B e r l i n 1953, Bd. 2, S. 296; vgl. auch den kurzen Uberblick bei K . Grimmer, Z u m Verhältnis v o n Staat u n d Bürger i m sozialistischen Staat, i n : Die M i t arbeit 1972, S. 108 ff. 42 F. Engels, Der Ursprung der Familie, S. 296 ff. Vgl. hierzu auch I n s t i t u t f ü r Theorie des Staates u n d des Rechts der Akademie der Wissenschaften der D D R (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Staats- u n d Rechtstheorie, B e r l i n 1975, S. 44, S. 73 f. Die Idee des Staates ist bei Hegel u n d i m m e r i n der Geschichte die Relativierung gesellschaftlicher K o n f l i k t e i n einer transzendierenden Begrifflichkeit, insofern ist sie politische Ideologie u n d Theologie. U n d n u r scheinbar ist M a r x die Umkehrung, Materialisierung v o n Hegel: Während sich f ü r Hegel die Unvollkommenheit des einzelnen u n d die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft i m Staat aufheben, von daher auch ihren Sinn erfahren, sieht M a r x i m Staat das Instrumentelle der Herrschaft, ist f ü r i h n die H e r stellung einer Gesellschaft, welche eines solchen Staates nicht bedarf, ist die
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
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Bei K. Marx und L. v. Stein steht nicht mehr die Rechtfertigung der Staatsgewalt oder der dem Staat vorausgesetzten individuellen Freiheit i m Vordergrund, sondern Inhalt ihrer Analysen sind — i n unterschiedlicher Weise — die Erklärung der gegebenen Staatsordnung, ihrer Funktion für die Durchsetzung divergierender gesellschaftlicher Interessen, die Frage nach den staatlichen Bedingungen für eine Allgemeinheit von Freiheit und politischer Mitbestimmung. Die weitere verfassungsrechtliche Entwicklung ist i n diesem Kontext zu sehen und die gesellschaftliche Funktion der Staatstheorie erweist sich an dem, was sie zu ihrem Gegenstand macht 43 . Prägend i m deutschen Vormärz und auch i n der Zeit nach der Reichsgründung von 1871 war der liberale Gedanke, die natürliche Freiheit des Individuums und sein Eigentum durch den Staat zu sichern. Er ist fundiert i m politischen und wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums, das sich i n Deutschland gegen den absoluten Polizeystaat zur Wehr setzt und die Beseitigung einer feudalen Herrschafts- und Wirtschaftsstruktur anstrebt. I m Absolutismus hatte sich der frühe Kapitalismus, zum Teil gestützt auf dirigistische staatliche Eingriffe und Lenkungsmaßnahmen, unter der ökonomischen Theorie des Merkantilismus entfalten und entwickeln können, der Absolutismus selbst blieb aber an seine sozioökonomische Basis, den Spätfeudalismus gebunden. Das absolutistische Staatssystem geriet so zunehmend i n Widersprüche m i t den Interessen des Bürgertums. Die liberale Idee fordert demgegenüber für jedes Individuum eine formalrechtliche Freiheit vom Staat, insbesondere i m wirtschaftlichen Bereich das Spiel der freien Kräfte (Ricardo, Smith). Die ökonomischen und sozialen Probleme, welche m i t einer liberalen Staatsordnung verbunden waren, verlangen eine andere Aufhebung des Staates die Realisierung menschlicher Freiheit u n d Gleichheit. Es handelt sich hier aber bei M a r x u m einen anderen Begriff von Staat, welchem die Hegeischen Begriffe Regierung u n d Verfassung entsprechen. 43 Hierzu die Staatslehre von Hermann Heller, 3. Aufl., Leiden 1963, S. 122. Einem solchen Anspruch genügen nicht Begriffsbildungen w i e jene von Georg Jellinek, welche bis heute nachwirken: „Der Staat ist die m i t ursprünglicher Herrschaftsmacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen", der Staat ist „die m i t ursprünglicher Herrschaftsmacht ausgerüstete Körperschaft eines seßhaften Volkes . . . die m i t ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft", der Staat ist der „durch planmäßige, zentralisierende, m i t äußeren M i t t e l n arbeitende Tätigkeit die individuellen, nationalen u n d menschheitlichen Solidarinteressen i n der Richtung fortschreitender Gesamtentwicklung befriedigende, herrschaftliche, Rechtspersönlichkeit besitzende Verband eines Volkes". Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudr., Darmstadt 1960, S. 181, 183, 264. Jellinek ist aber zuzustimmen, w e n n er sagt, daß der Staat i n seiner konkreten Ausgestaltung, i n der Fülle seines geschichtlichen Daseins n u r gerechtfertigt werden kann durch die Zwecke, die er vollbringt, S. 229. — Erg. hierzu K. Grimmer, Wider die v e r waltete Demokratie, i n : Die Mitarbeit, 1968, S. 51 ff.; ders., Die Rechtsfiguren einer „ N o r m a t i v i t ä t des Faktischen", B e r l i n 1971, S. 80 ff.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
Deutung der Funktion der Staatsgewalt. Lorenz von Stein postuliert deshalb, die Staatsgewalt als ein M i t t e l für die gesellschaftliche Förderung, als Bedingung der gesellschaftlichen Freiheit zu betrachten, u m i m Wege der Staatsgewalt Freiheit und Unabhängigkeit i n der Gesellschaft tatsächlich zu realisieren und alle am „Kapital der Nation" teilhaben zu lassen. Der formale Rechtsstaat soll zu einem demokratischsozialen Wohlfahrtsstaat umgewandelt werden, i n dem die Anarchie der Produktion durch eine gerechte Ordnung des Wirtschaftslebens beschränkt und die Macht des Privateigentums gebunden werden 4 4 . Lorenz von Stein geht es u m eine Versöhnung von Staat und Gesellschaft. Staat und Gesellschaft werden als notwendige und aufeinander bezogene Lebensordnungen der Gemeinschaft verstanden 45 . Gesetze bedeuten i n diesem Zusammenhang die Bestimmungsfaktoren für staatliches Handeln, welche von allen Faktoren des Staatslebens zu bilden sind und die Selbstbestimmung des einzelnen zu sichern haben. Hierin ist für Lorenz von Stein — und ähnlich später für Rudolf von Gneist — der Vorrang des Gesetzes begründet 46 . Der Unterschied von Gesetz und Verordnung ist dabei Ausdruck der Unterscheidung zwischen der politischen und bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Willensmacht einerseits und der Staatsgewalt und ihren Ordnungsmitteln andererseits. Menschenrechte sind i n diesem Zusammenhang nicht mehr nur individuelle, naturrechtlich erklärte Wesensmerkmale des Menschen, sondern Konstituentien einer neuen sozialen Gesellschaft, deren Aufgabe es wird, Freiheit zu verallgemeinern und das Proletariat als ein mitbestimmendes Element i n die Entfaltung der staatlichen Ordnung einzubeziehen i m Sinne einer sozialen Demokratie 4 7 . 44
Hierzu H. Heller, S. 109 ff., 125 ff. Vgl. Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung i n Frankreich, Bd. 1, S. X X X ff. 46 Vgl. R. v. Gneist, Der Rechtsstaat u n d die Verwaltungsgerichte i n Deutschland (1879), Neudr. Darmstadt 1966, S. 17 ff.; s. auch J. v. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Aufl., Leipzig 1856, § 101; ders., Das monarchische Prinzip, Heidelberg 1845; vgl. zur Entfaltung des Begriffs der A l l g e meinheit des Gesetzes R. Thoma, Die F u n k t i o n der Staatsgewalt, Grundbeg r i f f u n d Grundsätze, i n : Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, S. 138 ff.; Ch. Starck, S. 109 ff.; P. Badura i n W d S t R L , Heft 24, S. 212; erg. m . w . N . E.-W. Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, S. 192 ff. 47 So bei Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung i n F r a n k reich, a.a.O.; vgl. auch L. Gumplowicz, Rechtsstaat u n d Sozialismus (1881), Neudr. Aalen 1964, S. 134, S. 241, S. 252 ff. Erg. E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme u n d Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, S. 564; ders., Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat u n d Gesellschaft zum Sozialstaat, i n : Festschrift f ü r O. Brunner (1963), S. 259 ff., wieder abgedr. i n : ders., Staat — Gesellschaft — Freiheit, F r a n k f u r t / M . 1976, S. 146 ff. Z u r sozialen u n d wirtschaftlichen Situation vgl. den Überblick bei O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 346 ff.; F. Lüttge, D e u t sche Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte, 3. Aufl., B e r l i n usw. 1966, S. 487. 45
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
I n der Verfassungsrechtsetzung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spiegelt sich die Auseinandersetzung zwischen obrigkeitlichem Feudalsystem, bürgerlichem Liberalismus und der m i t der Entwicklung des Kapitalismus verbundenen Sozialproblematik wider. I n der Frankfurter Nationalversammlung stand die Frage des sozialen und politischen Rechtes des Bürgers m i t i m Mittelpunkt der Erörterungen 4 8 . 1848 hat die konstituierende Versammlung zu Frankfurt 4 9 die Grundrechte des deutschen Volkes beschlossen, am 27. Dezember 1848 wurden sie als Reichsgesetz zwar publiziert, aber nicht wirksam, durch Bundesbeschluß vom 23. August 1851 wurden sie für nichtig erklärt. Die verfassungsmäßige Festschreibung von Grundrechten durch die Frankfurter Nationalversammlung erlangte trotzdem nachhaltige Bedeutung, diese Grundrechte wurden teilweise i n das geltende Reichsoder Landesrecht aufgenommen, ihre umfassende Ausgestaltung und systematische Vollständigkeit bildete schließlich auch die Grundlage für die Grundrechtsformulierungen der Weimarer Verfassung und des Bonner Grundgesetzes. Die Verfassung vom 28. März 1849 verwendet erstmals den Begriff der Grundrechte. Ihre Ausgestaltung ist beeinflußt durch die belgische Verfassung von 1831. Abschnitt V I § 130 formuliert: „Dem deutschen Volke sollen die nachstehenden Grundrechte gewährleistet sein. Sie sollen den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten zur Norm dienen, und keine Verfassung oder Gesetzgebung eines deutschen Einzelstaates soll dieselben je aufheben oder beschränken können." I n einzelnen A r tikeln werden ausführlich geregelt die Niederlassungsfreiheit i m ganzen Reich (Art. I), die Abschaffung aller Standesvorrechte und die Gleichheit aller Deutschen vor dem Gesetz (Art. II), die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person (Art. III), das Recht jedes Deutschen, seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung frei zu äußern (Art. IV), die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. V), die Freiheit von Wissenschaft und Lehre, die Unterstellung des Unterrichtsund Erziehungswesens unter die Oberaufsicht des Staates und die Verpflichtung des Staates, durch öffentliche Schulen für eine Bildung der Jugend zu sorgen (Art. VI), die Versammlungsfreiheit und die Vereinsfreiheit (Art. V I I I ) und die Unverletzlichkeit des Eigentums (Art. IX). Kennzeichnend ist, daß die Grundrechte i m Prinzip allgemeine und unbeschränkte Geltungskraft haben sollen, der Umfang gesetzlicher 48
Hierzu H. Schöller (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion i n der Paulskirche, Darmstadt 1973; R. Wahl, S. 359 ff. m. w . N. 49 Z u m Problem der verfassungsgebenden Gewalt i n diesem Zusammenhang vgl. W. Henke, Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, B e r l i n 1957, S. 67 ff.; erg. M. Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus i n der Revolutionszeit 1848 - 1850, Düsseldorf 1977.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
Ausgestaltung oder Einschränkung ist i n den einzelnen Grundrechtsartikeln jeweils bezeichnet. Die Verfassung vermeidet eine Aussage darüber, ob sie Ausdruck von Volkssouveränität ist. Sie stellt lediglich die Gewährleistungspflicht des Staates für die Grundrechte fest. Die Verfassung ist ein Kompromiß zwischen dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität und der konstitutionellen Monarchie, ihre zentrale Kategorie ist jene der „Reichsgewalt" (vgl. Abschnitt I I und folgende). Der Begriff der Reichsgewalt kennzeichnet die Kompetenz des Reiches gegenüber den Einzelstaaten. Er erfaßt aber auch die Funktionen der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt. Souveränität ist nicht länger personal zugeordnet, sie ist dem Begriffe nach auch nicht geteilt zwischen Monarch und Ständen, sondern abstrakt erfaßt i m Begriff der Staatsgewalt. Faktisch ist sie geteilt zwischen dem Reichsoberhaupt, dem Kaiser, und dem Reichstag, welcher aus dem Staatenhaus und dem Volkshaus bestehen sollte (vgl. Abschn. I I I u. IV). Das Reichsoberhaupt erhielt bedeutende exekutive Funktionen, es hatte die Kompetenz zur Rechtsetzung soweit diese nicht beim Reichstag lag, es berief und Schloß den Reichstag und besaß das Recht, das Volkshaus aufzulösen. Gemäß Abschn. I I I A r t . I I hatte es die i h m übertragene Gewalt zwar durch verantwortliche, von i h m ernannte Minister ausüben zu lassen und bedurften alle Regierungshandlungen des Kaisers zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung von wenigstens einem der Reichsminister, die Minister bedurften aber nicht des Vertrauens des Reichstages zu ihrer Amtsführung. Die Kompetenzen des Reichstages selbst konnten n u r durch übereinstimmende Beschlüsse des Staatenhauses und des Volkshauses ausgeübt werden, das Staatenhaus setzte sich aus Vertretern der einzelnen deutschen Staaten zusammen, das Wahlrecht zum Volkshaus war beschränkt allgemein (beispielsweise hatten Personen, welche eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln beziehen oder i n dem Jahr vor der Wahl bezogen haben, kein Wahlrecht) und öffentlich (vgl. Reichsverfassung Abschnitt IV, insbes. A r t . V und A r t . V I sowie Reichswahlgesetz vom 12. A p r i l 1849). Die verfassungsmäßige Festsetzung von Grundrechten hat i n diesem Kontext zentrale Bedeutung. I n ihr manifestiert sich Freiheit und Sicherheit des Bürgertums i n und gegenüber dem Staat, gleichzeitig treten die staatliche Sphäre und die gesellschaftliche Sphäre auseinander. Die realen politischen Verhältnisse finden ihren Ausdruck i n der oktroyierten preußischen Verfassung vom 5. Dezember 1848 und i n ihrer revidierten Fassung vom 31. Januar 1850. Diese Verfassungsurkunde behielt ihre Geltung bis zur Revolution vom 9. November 1918. Sie ist beispielhaft für den Ausgleich zwischen monarchischem Prinzip und bürgerlichem Anspruch auf Freiheit der Person, Sicherheit
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
des Eigentums und gesetzliche Mitbestimmungsrechte. Auch hier hat der Gesetzesbegriff zentrale Bedeutung nicht nur wegen der an das Gesetz gebundenen Mitwirkungsrechte, sondern auch als Element rechtsstaatlicher Rationalität, als Funktionsbedingung der neuen W i r t schaftsordnung. Die Geltungskraft der Verfassung von 1850 ist begründet i n der übereinstimmenden Erklärung des Königs und der beiden Kammern, königliche Gewalt w i r d nicht durch die Verfassung konstituiert, sondern die ursprünglich beim König liegende Staatsgewalt w i r d durch die Verfassung i n ihrer Ausübung beschränkt. Gemäß A r t . 62 w i r d die gesetzgebende Gewalt gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. Staatshaushalt, Steuern und Abgaben sind durch Gesetze festzustellen (Art. 99, 100)50. Dem König allein steht die vollziehende Gewalt zu, er ernennt und entläßt Minister, die Minister des Königs sind verantwortlich, Regierungsakte des Königs bedürfen der Gegenzeichnung eines Ministers (Art. 44 f.). Der König beruft und schließt die Sitzungen der Kammern, er kann entweder beide oder auch nur eine Kammer auflösen (Art. 51). Der König verkündet die Gesetze und erläßt die zu deren Ausführungen nötigen Verordnungen (Art. 45, Satz 3). Die erste Kammer besteht gemäß A r t . 65 aus privilegierten Adeligen und aus Mitgliedern, welche der König auf Lebenszeit ernennt sowie aus gewählten Mitgliedern, gewählt von jenen, welche die höchsten direkten Staatssteuern bezahlen und aus Mitgliedern, welche von den Gemeinderäten der größeren Städte des Landes gewählt werden (Art. 65). Die Zusammensetzung der zweiten Kammer, welche aus 350 M i t gliedern besteht, erfolgt i n einem mittelbaren Wahlverfahren nach dem sogenannten „Dreiklassen-Wahlrecht". „Die Urwähler werden 50 Vgl. G. Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt u n d den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach Preußischem Staatsrecht, 2. A u f l . Tübingen/Leipzig 1901. I n diesem Z u sammenhang ist auch der Verfassungskonflikt zwischen Parlament u n d Krone i n Preußen 1862 - 1866 zu sehen. Konkreter Anlaß w a r der Streit u m das Budgetbewilligungsrecht, dem Grunde nach ging es darum, w e m nach der preußischen Verfassung letztlich die Entscheidungsgewalt i n einer konstitutionellen Monarchie zustand (vgl. E. R. Hub er, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 2. A u f l . Stuttgart 1963, S. 333; H. Schneider, A r t . K o n stitutionalismus, i n : Evangel. Staatslexikon, 2. Aufl., Sp. 1375 ff.). — I m ü b r i gen s. erg. G. Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde f ü r den Preußischen Staat, B e r l i n 1912, Bd. 1, S. 98, S. 134, S. 156 ff.; R. Thoma, Der Vorbehalt des Gesetzes i m Preußischen Verfassungsrecht, S. 215 ff. (S. 220). Problematisch blieben die Bedeutung der Grundrechte f ü r Legislative u n d Exekutive, der Umfang des Gesetzesvorbehalts, das Verhältnis von Rechtsverordnungen u n d Individualakten. Vgl. hierzu G. Anschütz, S. 134, 139 ff., 159 einerseits u n d andererseits R. Thoma, a.a.O., sowie O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., S. 73 u n d F. Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl., 1928, S. 125.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
nach Maßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern i n drei Abteilungen eingeteilt, und zwar i n der A r t , daß jede Abteilung ein D r i t t e i l der Gesamtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler erhält . . . Die erste Abteilung besteht aus denjenigen Urwählern, auf welche die höchsten Steuerbeträge bis zum Belauf eines Dritteiis der Gesamtsteuer fallen. Die zweite Abteilung besteht aus denjenigen Urwählern, auf welche die nächstniedrigen Steuerbeträge bis zur Grenze des zweiten Dritteiis fallen. Die dritte Abteilung besteht aus den am niedrigsten besteuerten Urwählern, auf welche das dritte D r i t t e i l fällt. Jede A b teilung wählt gesondert die Wahlmänner, die Abgeordneten werden durch die Wahlmänner gemeinsam gewählt." (Art. 71, 72) I n der Gesetzgebung war auf diese Weise — abgesehen davon, daß Frauen überhaupt kein Wahlrecht hatten — das eindeutige Übergewicht der kraft Geburt öder kraft Eigentums privilegierten Schichten gesichert, was durch die Wahlkreiseinteilung unterstützt wurde. Die Verallgemeinerung von Freiheit und ein sozialer Ausgleich waren nicht durch gleichberechtigte M i t w i r k u n g i n der Gesetzgebung herzustellen, sie waren auch nicht i n entsprechenden Grundrechten begründet. Die oktroyierte und die revidierte Verfassung enthalten beide i n ihrem zweiten Abschnitt einen umfassenden Katalog von Rechten der Preußen, i n der revidierten Verfassung i n ihrer unmittelbaren Verpflichtung für die Staatsgewalt und i n ihrem Geltungsgehalt eingeschränkt, gleichzeitig offener für die gesetzgeberische Ausgestaltung. Dies bedeutete insbesondere bei den politischen Freiheitsrechten — Méinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit — die Möglichkeit, den Anspruch auf politische Freiheit jener, welche diese Freiheit nicht als Ausdruck von Besitz und Bildung besaßen, zu unterdrücken. Deutlich w i r d dies i n der Restaurationsphase 51 nach Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung i n dem Bundesbeschluß über die Aufhebung der Grundrechte des deutschen Volkes vom 23. August 1851, i m Bundes-Presse-Gesetz vom 6. J u l i 1854 und i m Bundesvereinsgesetz vom 18. J u l i 1854. Politische Freiheit stirbt ab, Gewerbe- und W i r t schaftsfreiheit werden garantiert. Diese Entwicklung w i r d manifest i n der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. A p r i l 1867, den Gesetzen über die Freizügigkeit, über die Gewerbefreiheit und Koalitionsfreiheit des Norddeutschen Bundes 52 und schließlich in der Verfassung des deutschen Reiches vom 16. A p r i l 1871. Diese Verfassung ent51 Manifest werden die Veränderungen i m Kurhessischen K o n f l i k t von 1850; vgl. hierzu die Dokumente bei E. R. Hub er, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 474 ff. 52 Vgl. hierzu die Dokumente bei E. R. Hub er, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1964, S. 227 ff., S. 240 ff.
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
hält keine unmittelbaren Grundrechte — sieht man ab von den grundrechtsähnlichen Gewährleistungen i n A r t . 3 für Niederlassungs- und Gewerbefreiheit —, da die grundrechtlichen Positionen i n den einzelnen Landesverfassungen geregelt seien, sie bestimmt aber, daß Reichsrecht Landesrecht bricht. Ihrer Präambel nach war die Reichsverfassung von 1871 ein Bundesbeschluß des Königs von Preußen i m Namen des Norddeutschen Bundes, des Königs von Bayern, des Königs von Württemberg, der Königlichen Hoheit von Baden und der Königlichen Hoheit des Großherzogs von Hessen und bei Rhein. Die Reichsgesetzgebung w i r d nach A r t . 5 ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag. Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetz erforderlich und ausreichend. Der Bundesrat besteht aus Vertretern der Mitglieder des Bundes, der Reichstag w i r d gemäß A r t . 20 durch allgemeine und direkte Wahlen m i t geheimer Abstimmung gewählt. Die Auflösung des Reichstages kann nur durch Beschluß des Bundesrates unter Zustimmung des Kaisers erfolgen; dem Kaiser steht es zu, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen (Art. 24, A r t . 12). Kennzeichen der restaurativen Entwicklung sind auch das Sozialistengesetz (Gesetz über die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie) vom 21. Oktober 1878, das Jesuitengesetz (Gesetz betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu) vom 4. J u l i 1872 und das Reichs-Presse-Gesetz (Gesetz über die Presse) vom 7. M a i 1874. Das Sozialistengesetz galt bis 1890, das Reichs-Presse-Gesetz bis 1908, das Jesuitengesetz bis 1927. Die Realisierung allgemeiner politischer Freiheit und sozialer Demokratie wurde nicht zum Gegenstand der Rechtsetzung, der überkommene Obrigkeitsstaat fand seinen Ausgleich m i t dem Besitzbürgertum. Kennzeichen der Entwicklung sind nicht politische, freiheitliche Demokratie, sondern rechtliche Durchstrukturierung des Staates, sind nicht politische Freiheiten, sondern obrigkeitsstaatliche Reglementierung politischer Bewegungen. Das Bürgertum war nicht bereit, Grundrechte und politische Freiheitsrechte, für welche es i m Vormärz gestritten hatte, nach seinem Ausgleich m i t dem Obrigkeitsstaat auch den Unterprivilegierten, dem Arbeiterstand i n gleicher Weise zuzubilligen. Der politischen Unterdrückung der Sozialdemokratie auf der einen Seite entsprach der Versuch, durch soziale Leistungen die antagonistischen Widersprüche dieses Systems zu überdecken, die Loyalität der Arbeiterschaft zu erreichen. A m 31. Mai 1883 wurde das Krankenversicherungsgesetz verabschiedet, am 27. Juni 1884 das Unfallversicherungsgesetz, am 22. Juni 1889 das Invaliditäts- und Altersversiche-
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
rungsgesetz. Der Staat anerkannte die soziale Problematik, welche bereits Lorenz von Stein skizziert hatte, aber die politische Lösung war nicht die freiheitlich-egalitäre und soziale Demokratie, begründet i n der Volkssouveränität, sondern der autoritäre, bürgerlich-kapitalistisch orientierte Obrigkeits- und Wohlfahrtsstaat 53 . E i n solches Verfassungssystem konnte sich i n einer existentiellen Krise des Staates nicht bewähren. Das Besitz- und Bildungsbürgertum und die überkommenen privilegierten Adelsschichten konnten allein weder ihre ökonomischen Expansionsziele i m ersten Weltkrieg durchsetzen noch allein den Staat verteidigen. Erst i n der existentiellen Krise war das politische System zu einer strukturellen Reform bereit: Das Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes vom 26. J u n i 1916 bestimmte, daß Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen nicht politische Vereine i m Sinne des Reichsvereinsgesetzes von 1880 sind, damit wurde rechtlich die Betätigung der Gewerkschaften anerkannt. Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5. Dezember 1916 erweiterte die staatliche Anerkennung der Gewerkschaften und legte die Grundlagen für ein kollektives Arbeitsrecht. Die Änderung des preußischen Dreiklassen-Wahlrechtes war während des ersten Weltkrieges zunächst nicht möglich, erst als sich i m Herbst 1918 auch die oberste Heeresleitung für ein gleiches Wahlrecht ausgesprochen hatte, stimmte das preußische Herrenhaus am 24. Oktober 1918 für die Einführung des gleichen Wahlrechts. Zur endgültigen Verabschiedung des Reformgesetzes kam es bis zum Ausbruch der Novemberrevolution nicht mehr. A u f der Reichsebene wurde durch das Gesetz vom 24. August 1918 eine Wahlrechtsreform m i t dem Ziele durchgeführt, den Bevölkerungsverschiebungen zu den großstädtisch-industriellen Wahlkreisen gerecht zu werden, u m damit der Sozialdemokratischen Partei eine gleiche Chance einzuräumen. A m 28. Oktober 1918 wurde schließlich ein Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung verabschiedet, wonach der Reichskanzler zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages bedarf, gleichzeitig ist der Reichskanzler auch verantwortlich für alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser i n Ausübung der i h m nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt, — damit wurde der Versuch unternommen, die Reichsleitung zu parlamentarisieren. I n der Novemberrevolution von 1918 zerbrach das feudal-ständisch-bürgerliche System, die antagonistischen Widersprüche 53 Hierzu die erste kaiserliche Botschaft zur sozialen Frage an den Reichstag v o m 17. November 1881 u n d die Reichstagsrede des Reichskanzlers Fürst Bismarck zur Frage des Arbeiterschutzes v o m 9. Januar 1882 sowie v o m 12. J u n i 1882 (abgedr. i n E. R. Huber, S. 398 ff.). — Z u r E n t w i c k l u n g P. Flora / J. Alb er / J. Kohl, Z u r E n t w i c k l u n g der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, i n : PVS 1977, S. 707 ff.; H. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 3. A u f l . St. A u g u s t i n 1978.
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
waren zu stark geworden, die sozialen Unterschiede zu tief, zwischen den politischen Parteien, welche sich seit 1832 entwickelt hatten m i t den Hauptrichtungen des Konservativismus, des politischen Katholizismus, des Liberalismus, des demokratischen Radikalismus und des Sozialismus, gab es keine gemeinsame Konsensbasis mehr 5 4 . 3.3.1 Trennung von Staat und Gesellschaft Gesetzmäßigkeitsprinzip und Allgemeines Gewaltverhältnis Freiheitsrechte und subjektiv öffentliche Rechte Souveränität des Staates als juristischer Person
Die Analyse verfassungsrechtlicher Bestimmungen und ihrer Entwicklung verdeutlichen drei Grundtendenzen: Erhaltung und Anerkennung einer ursprünglichen Staatsgewalt, manifestiert i n der Erhaltung monarchisch-obrigkeitsstaatlicher Strukturen, welche weder i n einem demokratischen Prozeß konstituiert noch i n einen solchen eingebunden sind; Ausgleich zwischen ursprünglicher monarchischer Gewalt und gesetzgeberischen Mitwirkungskompetenzen für alte und neue, durch Geburt oder Besitz privilegierte Klassen; verfassungsrechtliche Festschreibung unterschiedlicher politischer Rechte durch Gewährleistung formaler Freiheitsrechte, welche i n ihrer Formalität materiale Freiheits- und Eigentumssicherung für jene Schichten und Gruppen bedeuteten, welche über solche freiheitsstiftenden M i t t e l verfügen, Zuerkennung unterschiedlicher Wahlrechte (in Preußen durch das DreiklassenWahlrecht), Unterdrückung proletarischer Solidarisierung und Freiheitsbewegung. I n dem Umfang, i n dem individuelle Gewährleistung von Freiheit und Eigentum wirtschaftliche und politische Rechtsstellungen für privilegierte Gruppen begründet, bedingen das Recht zur Solidarisierung, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit für Gewerkschaften und politische Parteien die wirtschaftliche und politische Rechtsstellung für unterprivilegierte Gruppen, besitzlose Klassen, begründen diese Rechte die Freiheit der Unterprivilegierten; diese politische Freiheit wurde nicht gewährt. Die rechtliche Formalisierung und Durchgestaltung des politischen Systems hatte aber einen Rationalitätseffekt: Positionen werden festgeschrieben, Verhaltenserwartungen normativ begründet und gesichert, Interaktions- und Koordinationsprozesse gerade auch i m sozio-ökono54 Vgl. hierzu i m einzelnen die Dokumente bei E. R. Huber, S. 461 ff., S. 463 ff., S. 465 ff., S. 472 ff., S. 479 ff., S. 484. — Krise u n d Widersprüche werden deutlich einerseits i m A u f r u f der Reichsregierung an das deutsche V o l k v o m 4. November 1918 u n d an die Matrosen u n d Werftarbeiter i m Zusammenhang m i t dem Flottenaufstand i n K i e l u n d der B i l d u n g der ersten A r b e i t e r - u n d Soldatenräte, andererseits i n der Kundgebung des Kieler Soldatenrates v o m 5. November 1918, abgedr. bei E. R. Huber, S. 497 ff.; M. Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
mischen Bereich formalisiert und stabilisiert, was wiederum zur Stabilisierung des politischen Systems insgesamt beitrug. Normative Hegelungen bilden jedoch das politische System nur teilweise ab, i n der theoretischen Ausdeutung normativer Hegelungen geschieht erst die Verbindung zu seinen sozioökonomischen und - k u l t u rellen Strukturen, Institutionen und Prozessen 55 . Deutlich w i r d dies i n der Theorie des damaligen staatsrechtlichen Positivismus. Gerade seine Beschränkung auf Positivität bedeutet Ausgrenzung realer gesellschaftlicher Problemlagen, deren Einbeziehung Anliegen der politischen Soziologie von K a r l Marx oder Lorenz von Stein war. Anknüpfungspunkte für die theoretischen Produkte des staatsrechtlichen Positivismus 56 waren die Änderungen i n der Organisation der Rechtsetzung und der Staatsgewalt. Waren Rechtsetzungskompetenz und Staatsgewalt nach dem „monarchischen Prinzip" ursprünglich verkörpert i n der Person des Fürsten, so wurde diese monistische Theorie der Staatsgewalt obsolet m i t der Ausbildung ständischer und parlamentarischer Mitwirkungsrechte, der verfassungsrechtlichen Fixierung von Grundrechten und dem Prinzip des Gesetzesvorbehaltes. I n der konstitutionellen Monarchie bleibt der Monarch zunächst höchstes Organ aus eigenen Rechten m i t höchster Organsouveränität. Die bürgerliche Gesellschaft bildet sich aus als wirtschaftliche Erwerbsgesellschaft, als solche findet sie Freiheit vom Staat und A n t e i l am Staat 5 7 i n der Ausbildung des Gesetzesbegriffes und i m Prinzip des Gesetzesvorbehaltes 58 . Diese Entwicklung fand ihren Ausdruck i n der Theorie von der dualistisch strukturierten Gesetzgebungskompetenz, begründet i n der gemeinsamen Gesetzgebungskompetenz von König und Ständen bzw. Parlament 5 9 , nachdem Versuche einer theoretischen Einordnung der 55 Dies hat Georg Jellinek ausdrücklich festgestellt, w e n n er darlegt, daß die dogmatische Aufarbeitung der Problematik durch die Staatsrechtslehre wesentlich von der Wesens Vorstellung v o m Staate abhängt, „da oft bis i n die kleinsten Einzelheiten herab die richtige Lösung staatsrechtlicher Fragen abhängt v o n der Erkenntnis, die m a n v o m Wesen des Staates besitzt". M Vgl. hierzu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 273. K r i t i s c h bereits O. v. Gierke , Laband, Staatsrecht u n d die Deutsche Rechtswissenschaft, Schmollers Jahrbuch, B a n d 7 (1883), S. 1017 ff. (S. 1102 ff., 1118). 57 E.-W. Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, S. 130. 58 Allgemein zur E n t w i c k l u n g des Gesetzesbegriffs u n d Gesetzesrechts vgl. R. Gr avert, Historische Entwicklungslinien des neuzeitlichen Gesetzesrechts, i n : Der Staat 1972, S. 1 ff. m. w . N. 59 G. Jellinek deutet staatliche Willenserklärungen als zusammengesetzte A k t e von K a m m e r n u n d Monarchem, vgl. G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung, S. 317 ff., vgl. auch früher O. Bähr, Der Rechtsstaat (1864), Neudr., 2. Aufl., Darmstadt 1963, S. 16.
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
parlamentarischen Rechtsetzungskompetenzen i n die monistische Theorie der Staatsgewalt 60 an der Realität scheiterten. Verdichtung der Grundrechte, Erweiterung parlamentarischer Kompetenzen hätten es angezeigt sein lassen, Staatsgewalt letztlich i n der Volkssouveränität begründet zu sehen, die Verfassungsordnung i n einer demokratischen Staatstheorie zu erklären. Theoretisches Konstrukt der herrschenden Lehre wurde aber die Theorie vom Staat als juristischer Person 61 . Indem die Theorie von den tatsächlichen Trägern von Herrschaftsmacht abstrahierte, nahm sie dem Grunde nach Überlegungen von J. Bodin und Formulierungen der Paulskirchenverfassung auf und deklarierte den Staat zur juristischen Person und zum Träger der Staatsgewalt, ausgestattet m i t ursprünglichen Herrschaftsrechten und ursprünglicher Herrschaftsgewalt 62 . Der Staat hat die Funktion, die durch das gesellige Zusammenleben der Menschen gebotenen Schranken und Grenzen der natürlichen Handlungsfreiheit des einzelnen zu bestimmen 63 , öffentliches Recht und Privatrecht treten auseinander 64 . Der Formalisierung gesellschaftlicher Beziehungen durch Recht entsprach eine formalisierte, abstrakte Betrachtung des Staates, zugrunde lag ihr die Deutung des Staates als eines Organismus 65 , zusammengesetzt aus unterschiedlichen Klassen m i t unterschiedlichen Rechtsstellungen. Die Vieldeutigkeit und Mißverständlichkeit des Organismusbegriffes ist offensichtlich. Das Organ-Bild von „Haupt und Gliedern" bietet die Möglichkeit, jedes Über- oder Unter Ordnungsverhältnis i m Interesse eines fiktiven Ganzen zu rechtfertigen. Die konsequente Herauslösung der reinen Willensbeziehungen aus dem Komplex der sozialen Verhältnisse und die begriffliche Verselbständigung ihres Zusammenhanges i m streng wissenschaftlichen System haben bestimmte notwen€0 Nach P. Laband erteilte das Parlament durch Annahme eines Gesetzesentwurfs dem Monarchen die Genehmigung, daß dieser den Gesetzesbefehl erkläre, P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1 u. 2, T ü b i n gen 1876 - 78, 5. A u f l . 1911, Neudr. Darmstadt 1964, Bd. 2, S. 9. 61 Siehe hierzu G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 162 ff. Vgl. auch C. F. ν . Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts (1865), 3. A u f l . Leipzig 1880, Neudr. Aalen 1969. Gerber kennzeichnet die Souveränität der Staatsgew a l t als Willensmacht, als sittlichen Gesamtwillen des Volkes (S. 21 ff.), entsprechend sagt er, „der Monarch ist das oberste Willensorgan des Staates. Sein W i l l e soll als allgemeiner Wille, als W i l l e des Staates gelten. I n der Monarchie w i r d die abstrakte Persönlichkeit der Staatsgewalt verkörpert" (S. 77 ff.). Aufgabe der Landstände ist es, nicht zu herrschen, beschränkend treten sie zu dem herrschenden W i l l e n des Monarchen hinzu. Dieser hat je nach der Verfassung den W i l l e n der Landstände i n seinen aufzunehmen (S. 126). 62 Vgl. P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 57. M Vgl. P. Laband, Bd. 2, S. 73. 64 Vgl. P. Laband, Bd. 1, S. 68; auch G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung, S. 190 ff. βδ Vgl. C. F. v. Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts. S. 1 ff.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
dige Folgen. Es ergibt sich der Ausschluß aller materiellen Bestimmungen aus dem rechtlichen Begriff und eine individualistische „Ausformung der juristischen Person, da das handelnde Subjekt auf den abstrakten Zurechnungspunkt von Willensmöglichkeiten reduziert wird"66. Für eine solche Staatsauffassung stellte sich letztlich auch nicht mehr die Frage nach Fürstensouveränität oder Volkssouveränität. Souverän war der Staat an sich, da er die umfassende Herrschaftsmacht nach innen und die Vertretung nach außen besaß 67 . H. Heller sieht i n dieser Entwicklung einen Degenerationsprozeß des Souveränitätsbegriffes, der Begriff ist Subjekt- und heimatlos geworden. „Die Geschichte dieses Prozesses ist die m i t dem immanenten Gesetzesdenken der Renaissance anhebende Geschichte der Entpersönlichung des gesamten Weltbildes, ihr rechtshistorischer Zweig die Geschichte des entpersönlichten Rechtsstaates 68 ." Der Souveränitätsbegriff w i r d dabei reduziert auf die Frage nach der Macht, indem die Macht dem Staate selbst zugeordnet wird, w i r d Souveränität dem Staate zugeordnet, damit w i r d der Begriff selbst letztlich substanzlos 69 . Souveränität war ihrem historischen U r sprung nach eine politische Idee, „die sich später verwandelte, u m eine juristische Stütze der politischen Macht des Staates zu verschaffen" 70 . „Die Vorstellungen des konstitutionellen M i l i t ä r - und Beamtenstaates, siegreich hervorgegangen aus den politischen Kämpfen der Jahrhundertmitte wurden zum Ausgangspunkt der positivistischen Staatstheorie, m i t der Tendenz, Volk und Gesellschaft i m Staat als einen i n sich ruhenden gebietenden Herrschaftsbereich gegenüberzustellen, indem das Volk nur mehr ein Objekt (Gerber), eine Grundlage oder ein Element des Staatsbegriffs darstellt 7 1 ." ββ P. v. Oertzen, Die soziale F u n k t i o n des staatsrechtlichen Positivismus, F r a n k f u r t / M . 1974, S. 191. 67 Vgl. zur Rechtsstellung des deutschen Kaisers nach der Verfassung von 1871 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 211 ff.; vgl. auch F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. II/2, 5. A u f l . (Tübingen 1878), Neudr. Darmstadt 1965, S. 143; J . K . Bluntschli, Lehre v o m modernen Staat (1852), 6. Aufl. (1886), Neudr. A a l e n 1965, Bd. 1, S. 565; G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung, S. 194 ff.; kritisch hierzu O. v. Gierke , S. 1125 ff. Vgl. insges. auch H. Quaritsch, S. 39, 498. 68 H. Heller, Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S. 38. 69 Ä h n l i c h H. Kurz, S. 102; s. erg. C. Schmitt, Politische Theologie, 2. Ausg. München usw. 1934, S. 11; R. Thoma, Der Staat, i n : Handwörterbuch der Staatswissenschaft, 4. Aufl., Bd. 7, Jena 1926, S. 730 f.; H. Preuss, V o m Obrigkeitsstaat zum Volksstaat, i n : Handbuch der Politik, 3. Aufl., Bd. 3, B e r l i n u. Leipzig 1921, S. 19. — Z u m historischen Verständnis selbst vgl. bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 442 ff.; ders., Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 37 f.; P. Laband, S. 17. 70 J. Martain, Der Begriff der Souveränität, i n : H. K u r z (Hrsg.), V o l k s souveränität u n d Staatssouveränität, S. 245. 71 U. Scheuner, Das Wesen des Staates u n d der Begriff des Politischen i n
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Dieses Staatsverständnis, welches sich i m 19. Jahrhundert entwickelte, w i r k t heute noch, es beinhaltet die formale Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. I n der Konsequenz solcher theoretischen Produkte lag es, Hechtsstellungen des Bürgers beispielsweise i n Grundrechten nur als Reflexrechte zu betrachten, da jedes Recht seiner Objektivität nach nur eine Konstituante der staatlichen Ordnung ist 7 2 . Freiheits- und Grundrechte wurden so nur als Normen für die Staatsgewalt verstanden. Die Ausbildung der Rechtsfigur der subjektiv-öffentlichen Rechte änderte an dieser Lage prinzipiell nichts. Nach Georg Jellinek hat sich unter dem Einfluß der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 die Vorstellung von den subjektiven öffentlichen Rechten des Individuums entwickelt. Vorher hatte die staatsrechtliche Literatur nur „Rechte der Staatshäupter, Privilegien der Stände, Vorrechte einzelner oder bestimmter Korporationen" gekannt. Die allgemeinen Untertanenrechte erschienen aber wesentlich nur „ i n der Form von Pflichten des Staates, nicht von ausgeprägten rechtlichen Ansprüchen Einzelner" 7 3 . Die Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts hat lange die Anerkennung subjektiver Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat negiert entsprechend der Zuordnung der Souveränität und Staatsgewalt an den Monarchen oder eine juristische Person Staat. Rechtssetzungen wurden nur als objektive Normen anerkannt. „Die Freiheitsrechte oder Grundrechte sind Normen für die Staatsgewalt, welche dieselbe sich selbst gibt; sie bilden Schranken für die Machtbefugnisse der Behörden, sie sichern dem Einzelnen seine natürliche Handlungsfreiheit i n bestimmtem Umfange, aber sie begründen nicht subjektive Rechte der Staatsder neueren Staatslehre, i n : Festgabe f ü r R. Smend, Tübingen 1962, S. 234. — R. v. Gneist begründet den Prozeß der Etablierung der A u t o r i t ä t von Staat u n d Kirche durch die „Exzesse der Volkssouveränität" (R. v. Gneist, Der Rechtsstaat u n d die Verwaltungsgerichte i n Deutschland, S. 32 f.). 72 F ü r die preußische Verfassung von 1850 erklärte noch G. Anschütz, daß Grundrechte n u r Sätze sind, die weder den Preußen noch sonst jemand einen Anspruch verleihen, daß sie n u r Rechte i m objektiven, nicht i m subjektiven Sinne sind, j a nicht einmal i m objektiven Sinne, w e n n m a n nicht bloße V e r heißungen objektives Recht nennen w i l l (G. Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde f ü r den preußischen Staat, S. 93; ähnlich P. Laband, op. cit.). — A l s subjektive Rechte werden zunächst noch nach C. F. v. Gerber solche Rechte bezeichnet, welche zu den organischen Bestandteilen eines konkreten Staates gehören, also vor allem die hergebrachten Befugnisse, Rechte der angestammten fürstlichen Dynastie, Rechte von Standesherren etc.; nach Gerber k ö n nen solche Rechte aber auch von Verfassungs wegen begründet werden (vgl. C. F. v. Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts, S. 50 ff., S. 207). 78 G. Jellinek, Die E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, S. 2; ders., Das System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg 1892 (Neuaufl. 1905), S. 2 ff. 5 Grimmer
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bürger. Sie sind keine Rechte, denn sie haben kein Objekt 7 4 ." Die j u ristische Auffassung kann deshalb nur sein, daß diese Negationen i n eine positive Bestimmung der Rechte der Staatsgewalt verwandelt werden. Es sind objektive, abstrakte Rechtssätze über die Ausübung der Staatsgewalt 75 . Die Rechtsfigur der subjektiven öffentlichen Rechte steht i m Problemzusammenhang m i t dem Begriff der Rechtsperson und der Menschenrechte, beide Rechtsinstitute sind i n der Naturrechtslehre des 19. Jahrhunderts weitgehend unverbunden, teilweise i m Gegensatz zueinander. I m deutschen Idealismus wurden der Begriff der Rechtsperson und die Lehre von den Menschenrechten miteinander verbunden, denn „ w e i l der Mensch berufen ist, sittliche Person zu sein, muß er Rechtsperson sein und Rechte haben, u m seine sittliche Freiheit i n freiem Tun zu verwirklichen. Die sittliche Personenwürde ist es, auf der die Notwendigkeit beider Rechtsbegriffe beruht, i n ihr haben sie ihren Zusammenhang und ihre Begründimg" 7 6 . A u f dieser Grundlage vollzieht sich die Entwicklung der Lehre von der Rechtsperson und damit verbunden von der Möglichkeit, einen Träger subjektiver Rechte zu haben. Erst i n der rechtlichen Durchstrukturierung des Staat-Gesellschaft-Bürgerverhältnisses sind auch die subjektiven öffentlichen Rechte neu begründet 77 . Vor diesem Hintergrund und i n Aufnahme der Lehre vom Staat als juristischer Person entwickelt G. Jellinek die Lehre von den Grundrechten auch als subjektiven Rechten des Bürgers gegen den Staat 7 8 . 74 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 151 m. w . N. L a b a n d lehnt konsequenterweise auch ab, i n A r t . 3 Reichsverfassung v o n 1871 reichsbürgerliche Grundrechte zu sehen, sondern versteht sie n u r als einen einfachen objektiven Rechtssatz (S. 182 ff.). 75 C. F. v. Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 79; vgl. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Bd. 1, S. 108. 76 H. Coing, Z u r Geschichte des Privatrechtssystems, F r a n k f u r t / M . 1962, S. 70; vgl. dort auch die Hinweise zu F. v. Savigny, F. Windscheid, R. v. I h e r i n g u n d die K r i t i k durch O. v. Gierke. 77 Vgl. kritisch insges. A. Haenel, Das Gesetz i m formellen u n d materiellen Sinn, Leipzig 1888, S. 116 ff., S. 207 ff. — Z u r weiteren E n t w i c k l u n g der Lehre v o n den subjektiven öffentlichen Rechten vgl. bei O. Mayer, Deutsches V e r waltungsrecht, Bd. 1, S. 104; R. Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte u n d Pflichten, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrecht, S. 616; O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte u n d i h r Schutz i n der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, Leipzig 1914, S. 224. — Z u r E n t w i c k l u n g des Begriffes subjektives Recht (im Privatrecht) u n d zu seiner Bedeutung i n der Sozialordnung als freiheitsstiftendes Moment vgl. H. Coing, Z u r Geschichte des Begriffes „subjektives Recht", abgedr. i n ders., Z u r Geschichte des Privatrechtssystems, S. 29 ff.; erg. U.K. Preuss, Die Internalisierung des Subjekts, F r a n k f u r t / M . 1979. 78 Vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 86 ff., S. 94 ff.; ders ξ, Allgemeine Staatslehre, S. 419 ff.
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„Durch die Zugehörigkeit zum Staate, durch die Gliedstellung, welche der Mensch von i h m empfängt, w i r d er also nach verschiedenen Richtungen qualifiziert. Die möglichen Beziehungen, i n denen er zum Staate stehen kann, versetzen i h n i n eine Reihe rechtlich relevanter Zustände. Die Ansprüche, die sich aus diesen Zuständen ergeben, sind das, was man als subjektive öffentliche Rechte bezeichnet 79 ." Jellinek unterscheidet mehrere Rechtsstellungen des Staatsbürgers. Soweit er zur Ausübung staatlicher Tätigkeit zugelassen, als Träger einer Organstellung anerkannt ist 8 0 , hat er den status activus (tätigen Stand), welcher die Bürgerrechte i m Sinne demokratisch-politischer Rechte des Staatsbürgers umfaßt, wie etwa das Parteibildungsrecht oder die Wahlberechtigung. Die staatsbeschränkenden Freiheitsrechte i m Sinne von subjektiven Rechten gegenüber dem Staat werden begründet i m status negativus, einem status libertatis 8 1 . Für Georg Jellinek sind die sogenannten Freiheitsrechte nur besonders anerkannte Richtungen der individuellen Freiheit, „die aber i n sich einheitlich ist und den vom Staatsgebot freien Zustand des Individuums bezeichnet" 82 . „Diese Freiheit ist aber nicht nur tatsächlicher A r t , sondern vermöge der Begrenzung der Staatsgewalt und der Anerkennung der Persönlichkeit rechtlich anerkannt 8 3 ." Der status negativus w i r d begrenzt i m status subjectionis als Ausdruck der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsgewalt 84 , der status negativus ist als gewährte Freiheit bzw. Selbstbindung der staatlichen Gewalt zu verstehen, wobei der Staat selbst als omnipotentes Willenssubjekt bestehen bleibt. Leistungsansprüche des einzelnen gegenüber dem Staat werden schließlich von Jellinek als status positivus bezeichnet 86 . A u f i h m ruht nach Jellinek i n erster Linie der Rechtscharakter der Beziehungen zwischen Staat und Individuum, der A n spruch auf Rechtsschutz und auf Verwaltungstätigkeit 8 6 . Offen bleiben der Ursprung, die Legitimation dieser Statuszuweisungen. Als deskriptive Feststellungen mögen sie zutreffen, ihre Rechtfertigung kann sich idealtypisch nur aus der Konstruktion eines ursprünglichen Vertrages oder aus der Gewährung durch den Monarchen, aus dem Abtreten bzw. der Bindung von Teilen seiner Staatsgewalt ergeben, insoweit schließt 79
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 86. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Leipzig 1892, S. 82; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 421 ff. 81 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 81. 82 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 420. 88 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 419. 84 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 81. 85 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 82; zur F o r t f ü h r u n g der Statuslehre vgl. H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I , 7. A u f l . M ü n chen 1968, S. 183. 88 Hierzu G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 420 ff. 80
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diese Lehre an die Verfassungsdogmatik des Spätkonstitutionalismus an. Die Freiheitsrechte und die subjektiven öffentlichen Rechte, wie sie Georg Jellinek betrachtet, sind noch keine grundrechtlichen Individualfreiheiten gegenüber aller Staatsgewalt. Sie sind vor allem eine Bindung des Gesetzgebers und Bedingung des Gesetzesvorbehalts, lediglich Reflexe des Verfassungsrechts, aber keine ursprünglichen Freiheitsund Mitbestimmungsrechte 87 . Grundrechte sind so m i t ihrem Gesetzesvorbehalt Kompetenznormen und Gewährleistungen. „Die Verflechtung der Grundrechte m i t der Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenz ist jedoch stärker als der reine Textbefund vermuten läßt. Beide sind rechtliche Erscheinungen der erkämpften Freiheit vom Staat: Die Menschenrechte schaffen eine Individualsphäre; der Vorbehalt stellt diesen Bereich unter die Kontrolle der Repräsentanten der Gesellschaft 88 ." Repräsentanten der Gesellschaft waren i n Preußen aber die durch Geburt oder Besitz privilegierten Schichten. Grundrechte und Gesetzesvorbehalt — formal freiheitlich — wurden zu antidemokratischen und antifreiheitlichen Institutionen. Die Reichsverfassung von 1871 enthielt keine Grundrechte, für die Staatsrechtslehre wurden sie i m Zusammenhang m i t dem Reichsrecht und den staatsbürgerlichen Rechten i m Reiche bedeutungslos 89 . Der Vorrangstellung des Staates und der Allgemeinheit der Staatsgewalt entsprach die Lehre vom allgemeinen Gewaltverhältnis als Charakterisierung des Verhältnisses Staat — Bürger. Dieses allgemeine Gewaltverhältnis w i r d strukturiert durch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit und den Vorbehalt von Grundrechten. Grundrechte und Gesetzesvorbehalt bilden die — klassenmäßig differenzierte — bürgerliche Freiheit i m allgemeinen Gewaltverhältnis des Staates. I m Rahmen des allgemeinen Gewaltverhältnisses bedürfen Eingriffe i n Freiheit und Eigentum eines materiellen Gesetzes, welches der „parlamentarischen" Zustimmung unterliegt. I n dieser rechtlichen Konstruktion ist nach O. Mayer das Rechtsstaatsprinzip begründet 90 . Die Formalisierung des 87 Vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., S. 97; ders., Gesetz u n d Verordnung, S. 236 ff. 88 Vgl. D. Jesch, Gesetz u n d Verwaltung, Tübingen 1961, S. 125. 89 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 150 ff. 90 Vgl. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 2. A u f l . Tübingen 1914, S. 65, 71 (vgl. auch 3. A u f l . Tübingen 1924, S. 25); G. Jellinek, Gesetz u n d V e r ordnung, S. X . — Z u r Problematik unter der Weimarer Reichsverfassung vgl. R. Thoma, Der Vorbehalt der Legislative u n d das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von V e r w a l t u n g u n d Rechtsprechung, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 221 m. w . Ν . H. Ehmke stellt zutreffend fest, daß die absolutistische Staatslehre u n d die Rechtsstaatslehre zusammenwuchsen, Ausdruck der Stärke des Absolutismus u n d der Schwäche der Rechtsstaatsidee (H. Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft" als verfassungstheo-
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
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Staates als juristische Person und die Einordnung des Bürgers i n ein allgemeines Gewaltverhältnis wurde von O. v. Gierke kritisiert, da der Staat so als außer und über dem Volke stehend erscheint und sich das Verhältnis von Staat und Volk i n einer Summe von Gewaltverhältnissen fingierter Subjekte erschöpft. Demgegenüber sind nach O. v. Gierke allein die echten Grundrechte menschliche Rechte von staatsrechtlichem Inhalt. Denn sie stellen sich i n objektiver Hinsicht als Normen dar, welche die Sphäre des Staates ein für allemal von der Sphäre der Individuen (oder auch einzelner Verbände) abgrenzen 01 . Die Angehörigen der Staatsorganisation selbst und der unmittelbaren staatlichen Einrichtungen stehen zudem nach dieser Lehre i n einem besonderen Gewaltverhältnis, für sie gelten die bürgerlichen Freiheitsrechte und das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes nur sehr eingeschränkt. So stellt Thoma fest, daß Freiheitsverbürgungen i m Zweifel einschränkend sind, i m Zweifel nur die Freiheit des unabhängigen, lediglich i m allgemeinen Gewaltverhältnis stehenden Bürgers geschützt ist, vor allem gegen den Eingriff der Polizeigewalt 9 2 . Das besondere Gewaltverhältnis prägte sowohl die unterschiedlichen Formen der staatlichen Organisation wie Körperschaften und Anstalten als auch die staatlichen Verwaltungseinheiten selbst und die i n diesen Organisationen tätigen Personen, die Beamten. M i t der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis erhält sich die gesellschaftliche Aussonderung der Staatsorganisation und die überkommene obrigkeitlich-autoritäre Staatsform. Rechtliche Ausgestaltungen des besonderen Gewaltverhältnisses bedurften keines allgemeinen Gesetzes, da es sich hier nach der herrschenden Lehre nicht u m Eingriffe i n Freiheit und Eigentum i m Sinne der Verfassungsverbürgung handelt 9 3 . retisches Problem, i n : Festgabe f ü r R. Smend, Tübingen 1962, S. 23 ff. (S. 33). — Z u r E n t w i c k l u n g des Rechtsstaatsbegriffes u n d zum Verhältnis p o l i t i scher Formen u n d rechtsstaatlicher Prinzipien vgl. beispielhaft F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. 2, 3. A u f l . 1856, § 36, eine institutionelle A u f fassung findet sich bei R. v. Gneist, Der Rechtsstaat u n d die Verwaltüngsgerichte i n Deutschland, S. 33 f., demgegenüber w i r d stärker die Einheit von Staat u n d Recht i m Sinne einer unmittelbaren Rechtsstaatlichkeit gefordert von O. v. Gierke u n d O. Bähr, vgl. hierzu U. Scheuner, Die neuere E n t w i c k l u n g des Rechtsstaats i n Deutschland, i n : Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Bd. 2, S. 229 ff.; insges. auch ders., Begriff u n d E n t w i c k l u n g des Rechtsstaates, i n : H. Dombois / E. W i l k e n (Hrsg.), Macht u n d Recht, 1956, S. 76ff. sowie R. Bäumlin, A r t . Rechtsstaat, i n : Evang. Staatslexikon, 2. A u f l , Sp. 2041 ff. (2042) u. E.-W. Böckenförde, Entstehung u n d Wandel des Rechtsstaatsbegriffes, S. 93 ff. (wieder abgedr. i n : ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 65 ff.). 91 Vgl. O. v. Gierke, S. 1131, S. 1133 ff. 92 Vgl. R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung i m allgemeinen, i n : H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte u n d Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, B e r l i n 1929, S. 1 ff. (S. 24 ff.).
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
A u f der Grundlage eines doppelten Gesetzesbegriffes fallen so Beamten« und Disziplinarrecht, Haushalts- und Rechnungskontrolle, alle besonderen Gewaltverhältnisse aus dem allgemeinen Rechtssatzbegriff heraus und verbleiben i n der obrigkeitsstaatlichen Disposition 94 . Das Staatsverständnis, welches zur Konstruktion allgemeiner und besonderer Gewaltverhältnisse führte, bestimmte auch maßgeblich die staatlichen Organträger i m besonderen Gewaltverhältnis und reproduzierte sich durch diese. „Das schwerwiegendste Hemmnis einer klaren Erfassung des Rechtsverhältnisses Staat-Bürger liegt wohl darin, daß man sich beim Entstehen einer eigenen Verwaltungsrechtswissenschaft i n Deutschland den hoheitlich handelnden Staat nicht als gewaltunterworfenen seiner eigenen Rechtsordnung und als m i t dem Staatsbürger i n einem Rechtsverhältnis stehend vorzustellen vermochte" 95 , schon gar nicht durch den Staatsbürger konstituiert. Das besondere Gewaltverhältnis gehört i n eine vordemokratische Ära. Erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden Bedenken gegen den Ausschluß des Gesetzmäßigkeitsprinzips innerhalb der besonderen Gewaltenverhältnisse vorgetragen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Geltung des Gesetzmäßigkeitsprinzips i m besonderen Gewaltverhältnis m i t dem Wandel der Verfassungsstruktur begründet 9 6 .
98 Vgl. G. Anschütz, Die gegenwärtige Theorie über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt, S. 73 ff., S. 162 ff. 04 Vgl. P. Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der preußischen Verfassungsurkunde, B e r l i n 1971; ders., Das Reichsstaatsrecht, T ü b i n gen 1907; ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 28 ff., Bd. 2, S. 1 ff. Ä h n l i c h auch G. Jellinek, Gesetz u n d Verordnung, S. 226 ff. K r i t i s c h hierzu bereits O. v. Gierke, S. 1174 ff. Vgl. i m übrigen C. F. ν . Gerber, G r u n d züge des Deutschen Staatsrechts, 3. Aufl. 1880, S. 46; G. Anschütz, Die gegenw ä r t i g e n Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt, S. 75 ff. (S. 81, 91); G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 215 ff.; R. Thoma, Der Polizeibefehl i m badischen Recht, 1906, S. 18 ff.; O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Bd. 1, S. 101 ff., S. 284 ff.; R. Thoma, Der Vorbehalt der Legislative u n d das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der V e r w a l tung, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 223. 95 H . H . Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, T ü b i n gen 1965, S. 104, zur F u n k t i o n solcher Organverhältnisse, ders., S. 41 ff. sow i e D. Jesch, Gesetz u n d Verwaltung, S. 211 ff.; vgl. auch M. Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, 1954, S. 13 ff.; H. Krüger, Das besondere Gewaltverhältnis, i n : W d S t R L Heft 15, S. 109 (S. 112 ff. jew. m. w . N.). M Die Problematik des besonderen Gewaltverhältnisses u n d den Stellenw e r t der Grundrechte i n i h m hat das Bundesverfassungsgericht sehr kritisch i m Zusammenhang m i t dem Strafvollzugsrecht u n d der Strafvollzugsordnung erörtert, vgl. B V e r f G E i n J Z 1972, S. 357 ff. m i t A n m e r k . v o n Starck, erg. Ν. Kiepe, Entwicklungen beim besonderen Gewaltverhältnis u n d beim V o r behalt des Gesetzes, i n : D Ö V 1979, S. 399 ff.
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
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3.3.2 Bürgerliche Freiheit und demokratisch soziale Ungleichheit — Zusammenfassung
Der Frankfurter Nationalversammlung ging es noch u m die Konstitution des Staates auf der Grundlage allgemeiner Grundrechte des deutschen Volkes, garantiert durch seine Reichsverfassung 97 . Dieses Verfassungswerk war getragen von einem Anspruch nach Volkssouveränität, ohne diesen aber bereits verfassungsrechtlich festschreiben zu können und ohne einen Ausgleich i n den sozialen Unterschieden und i n den damit verbundenen Herrschaftsverhältnissen zu bewirken. I n der Verfassungsrechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts kommt zum Ausdruck die „Auflösung der ständischen herrschaftlich-politischen Lebensordnung der alten Gesellschaft, i n die die einzelnen statusmäßig eingebunden waren, zugunsten von deren rechtlicher Gleichstellung und sozialer Emanzipation, i n der Beseitigung der Stände als Rechtsklassen, das heißt der Ablösung des ständisch gebundenen Personen-, Berufs-, Gewerbe- und Bodenrechts durch ein allgemeines, Rechtsgleichheit verwirklichendes bürgerliches Recht, schließlich i n der Herstellung von Freizügigkeit, freiem Eigentum, Freiheit des Grund- und Kapitalverkehrs. Eben dadurch entsteht aus der alten ständisch-feudalen die neue, staatsbürgerliche Gesellschaft" 98 . Kennzeichnend für die Staatsordnung werden das formale Rechtsstaatsprinzip, die Rationalitäts-, Integrations- und Friedensfunktion des Rechtes für eine sozial- und weltanschaulich nicht mehr homogene Gesellschaft 99 . Der Rechtsstaatslehre fehlt aber das wesentliche Moment der „freien Staatsverfassung" 1 0 0 , die Konstitution der politisch-gesellschaftlichen Ordnung i n allgemeiner und gleicher Freiheit. Die staatsbürgerliche Gesellschaft ist entsprechend ihren Konstitutionsprinzipien nach Böckenförde nicht mehr Ständegesellschaft, son97 Vgl. G. Ritter, Ursprung u n d Wesen der Menschenrechte, S. 230. A l s weltanschauliche Grundlage sieht Ritter weniger die naturrechtlichen P h i l o sopheme oder die Staatsanschauung des Rationalismus u n d der U t i l i t ä t s phüosophie, sondern stärker die Pflichtenethik Kants, den Idealismus u n d den Historismus deutschen Gepräges. Eine solche einseitige Zuweisung erscheint uns aus der Position v o n Ritter erklärbar, i n der Sache aber nicht v o l l begründet. Eine eindeutige philosophische Zuordnung ist w o h l nicht möglich, es vermischen sich hier verschiedene Geistesbewegungen, ausschlaggebend ist der politische W i l l e u n d sind die ökonomischen Bedürfnisse, w i e sie i n Deutschland damals deutlich a r t i k u l i e r t werden. 98 Vgl. E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme u n d Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, S. 564 m. w . N.; W. Ν ätz, Staatsverfassung u n d Staatssystem, 1830/31, i n : E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, K ö l n 1972, S. 127 ff. (S. 130). 99 Vgl. E.-W. Böckenförde, Entstehung u n d Wandel des Rechtsstaatsbegriffes, S. 65 ff. m. w . H.; u n d modifizierend F. Darmstaedter, Die Grenzen der Wirksamkeit des Rechtsstaates, Heidelberg 1930, S. 173 ff. 100 U. Scheuner, Begriff u n d E n t w i c k l u n g des Rechtsstaates, S. 76, S. 85.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
dern undemokratische Klassengesellschaft. Anstelle ständischen Rechts bilde der erworbene Besitz das neue Gliederungsprinzip, sie produziere aus ihren Erwerbsunterschieden den sozialen Antagonismus, entfalte die Grundlagen einer neuen sozialen Ungleichheit als Folge der Rechte der Besitzklassen, die für eine stets wachsende Zahl von Menschen soziale Unfreiheit bedeuten „und die ihnen vom Staat gewährleistete rechtliche Gleichheit und Freiheit zunehmend leerlaufen l ä ß t " 1 0 1 . Z u m Ausgleich organisiert der Staat soziale Dienste und Leistungen, entwickelt sich zum Wohlfahrtsstaat. Insbesondere die Arbeiterschaft w i r d so abhängig vom Staate, welcher gleichzeitig ihre politischen Rechte beschränkt und unterdrückt. „Träger dieser Entwicklung ist i n Deutschland der monarchische Staat selbst; die soziale Emanzipation, die — stufenweise — Herstellung der staatsbürgerlichen Gesellschaft war, anders als i n Frankreich, nicht das Werk einer Revolution, sondern das Ergebnis monarchischer Reform 1 0 2 ." Der Versuch, einen politischen Ausgleich durch soziale Leistungen herzustellen, scheiterte m i t der ersten tiefgreifenden Belastung dieser Staatskonstruktion i n der Novemberrevolution von 1918. I m Ergebnis dieser Entwicklung treten nicht nur Staat und Gesellschaft auseinander, sondern stehen sich obrigkeitlicher Verwaltungsstaat und Ansätze einer parlamentarischen Demokratie weitgehend unverbunden gegenüber 108 . Der Dualismus Monarch und Volk entwickelte sich zum heute noch wirksamen Dualismus Staat und Gesellschaft 104 , der Ordnung der Staatsgewalt i n zwei Gewalten, jene der Exekutive (monarchisches Prinzip) und jene der Legislative. Zusammenfassend ist festzustellen: Die konstitutionelle Monarchie legitimierte sich nicht i m Volk, sondern der Monarch oktroyiert i h m eine Verfassung 105 oder die Verfassung w i r d „vereinbart" zwischen dem ιοί E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme, S. 565, ders., Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat u n d Gesellschaft zum Sozialstaat, S. 259 ff.; vgl. auch W. Conze, V o m „Pöbel" zum „Proletariat", i n : H. O. Wehler (Hrsg.), Moderne Deutsche Sozialgeschichte, 3. Aufl. K ö l n 1970, S. 111 ff. io« E.-W. Böckenförde, Verfassungsprobleme u n d Verfassungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, wieder abgedr. i n : E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 13 ff. (S. 20). 103 Vgl. hierzu K. Vogel, Gesetzgeber u n d Verwaltung, i n : W d S t R L Heft 24, S. 124 ff. (S. 131 ff.); W. Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, i n : Festschrift f ü r Carl Schmitt, B e r l i n 1959, S. 253 ff.; D. Jesch, S. 85 ff. Erg. M. Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977. 104 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft i m demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, i n : ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 185 ff.; K. Grimmer, Z u r D i a l e k t i k von Staatsverfassung u n d Gesellschaftsordnung, i n : ARSP 1976, S. 1 ff. los v g i # die Verfassung v o n Hessen-Nassau von 1814 oder die Verfassung
3.3 Gesellschaftliche Begründungsbedürftigkeit des Staates
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souveränen Fürsten und einem Vertretungsorgan 1 0 6 . Die Obrigkeit, ursprünglich gebunden an die Person des Herrschers, bleibt — verfassungsrechtlich und faktisch — nicht mehr nur „persönliches Regiment", sondern sie w i r d als „Institution" verstanden und w i r d rechtlich organisiert. Sie ist von Gott, i m historischen Recht und i n der natürlichen Gliederung der Gesellschaft begründet, hierin legitimiert sich Staatsgewalt 1 0 7 . Eine verfassungsgebende Gewalt des Volkes und damit eine Legitimität staatlicher Herrschaft kraft ihrer Begründung i n der verfassungsgebenden Gewalt des beherrschten Volkes selbst gab es i n Deutschland erst zur Zeit der Weimarer Republik und hier repräsentativ vermittelt durch die Weimarer Nationalversammlung 1 0 8 . Politische Herrschaftsgewalt erschien bis zur Weimarer Republik — und auch danach — als i m Staate gegenüber der Gesellschaft verselbständigt, Obrigkeit als m i t „naturgegebener", allenfalls konstitutionell eingefangener Autorität ausgestattet, der gegenüber ein Parlament „das V o l k " repräsentiert. Der Staat ist abgesetzt, er blieb immer etwas geradezu ontologisch anderes als die politische Organisation des Volkes. Der Staat war verselbständigt zunächst i n der Person des Monarchen, später i n der i h m eigenen „juristischen Person", die selbst nicht nur Begriff i m Sinne einer juristisch-dogmatischen Erfassung des Staates war, sondern Ausdruck einer kantisch verstandenen Kategorie Staat, i n welcher das Staatsvolk und seine Vertretung nur als Organ zu qualifizieren waren. Aufgabe der Verfassungen war nicht die Organisation von Demokratie, sondern die rechtliche Ordnung der Staatsgewalt 109 . Das Parlament des Königreiches Bayern von 1818, i n deren Präambel heißt es: „ M a x i m i l i a n Josef, v o n Gottes Gnaden K ö n i g von Bayern . . . Die gegenwärtige A k t e ist . . . das W e r k unseres ebenso freien als festen Willens. . . . W i r erklären hiernach folgende Bestimmungen als Verfassung des Königreiches Bayern." ιοβ v g l . etwa die Verfassung von Württemberg von 1819: „ . . . so ist endlich durch höchste Entschließung u n d alleruntertänigste Gegenerklärung eine vollkommene beiderseitige Vereinigung über folgende Punkte zustande gekommen . . . " . 107 Vgl. zur staatstheoretischen Grundlegung F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, 2. Bd., 2. A b t . Die Staatslehre u n d die Prinzipien des Staatsrechts, 5. Aufl. Tübingen 1878. Diese „Verrechtlichung" der monarchischen Person ist von fundamentaler Bedeutung, bei aller v o m V o l k losgelösten L e g i t i m i t ä t „ a n u n d f ü r sich"; es beginnt so die Herrschaftsgewalt des Königs jene eines Staatsorgans zu werden. Vgl. zu den staatstheoretischen G r u n d lagen auch J. Bodin, Six Livres de la République, a.a.O., u n d Β . Constant, Principles de Politique, 1815, wieder i n Oeuvres, hrsg. v. A . Roulin, Paris 1957. 108 Die Präambel der Weimarer Verfassung spricht trotzdem davon, daß sich das Deutsche V o l k diese Verfassung gegeben habe. 109 Die Ausbildung von Staat u n d Gesellschaft als einander entgegengestellter Begriffe geschah i n der Aufklärungsphilosophie. Vgl. H. Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft", S. 23 ff.; Th. Würtenberger jun., Die L e g i t i m i t ä t staatli-
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
besaß zwar schon früh ein Budgetrecht, die Verfassungen beinhalten das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes und der Gesetzmäßigkeit. Aber diese Prinzipien, auch i n der Verbindung m i t der Garantie einiger sogenannter Menschen- und Bürgerrechte wie Gewährleistung von Eigentum und bürgerlichen Freiheiten, bewirken nur eine rechtliche Durchstrukturierung der staatlichen Herrschaftsordnung und die rechtliche Sicherung des gesellschaftlichen status quo. Das Parlament war niemals allein entscheidendes Organ politischer Willensbildung, das Volk war nicht der Staat. Die Legitimität der so verstandenen staatlichen Herrschaft w i r d entgegen aller Beanspruchung der Volkssouveränität reduziert auf die verfassungsmäßige Legalität der staatlichen Herrschaftsakte 1 1 0 , welcher immer auch gesellschaftliche Interessen entsprechen und w o r i n diese partiell Anerkennung finden. Formale Legitimation i n der repräsentativ vermittelten Volkssouveränität beschränkt sich dem Grunde nach auf eine Legalisierung der Herrschaftsakte als Rechtsetzungsakte der Staatsautorität. M i t der Gegenüberstellung von monarchischem — oder i n der Weimarer Republik präsidialem — Prinzip als Träger sich selbst legitimierender Souveränität und repräsentativer Rechtssetzung treten Legitimität und Legalität auseinander 111 . Solche Staatsgewalt ist nicht i m Volke und durch das Volk legitimiert, sondern dieses selbst w i r d organisiert zum Zwecke der Legalisierung der staatlichen Rechtssetzung. Obrigkeitsstaat und Gesetzgebungsstaat bilden die nur i n abstracto — und für ein Denken i m Begriff des Rechtsstaates, der selbst die Antithese von Staat und Gesellschaft voraussetzt — antithetischen Prinzipien, i n welchen sich eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft entfalten kann. Gewerbe· und Wirtschaftsfreiheit erweisen sich als Interesse des „Staates" und des kapitalbildenden Bürgertums, bürgerliche Freiheit — verstanden als dem Staat vorgegeben, nicht als durch den Staat herzustellen — ermöglicht es, das umfassendere Interesse des vierten Standes nach sozialer Freiheit als illegal abzuwerten. Nationalstaatliches Denken macht einen solchen Staat annehmbar, verschleiert seine Strukturen. Legitimation erhält der konstitutionelle Staat, indem er die Freiheit des kapitalbildenden Bürgertums, die Vorrechte des Adels und die eher Herrschaft, B e r l i n 1973, S. 92 ff. m. w. N. Der geistesgeschichtliche V o r gang w a r „realgeschichtlich" eine frühere Geltendmachung späterer p o l i t i scher Ansprüche des Volkes an seine Herrscher. 110 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 4. A u f l . B e r l i n 1965, S. 212. Die postivistische Staatslehre verzichtete denn auch auf eine ethische oder sozioökonomische Begründung der L e g i t i m i t ä t ; L e g i t i m i t ä t ist für sie k e i n Wesensmerkm a l der Staatsgewalt. Vgl. G. Meyer / G. Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. A u f l . Leipzig 1919, S. 26; RGZ 99, 287; 100, 27; RGSt 53, 66. 111 Vgl. C. Schmitt, Das Problem der Legalität, i n : Verfassungsrechtliche Aufsätze, 2. A u f l . B e r l i n 1973, S. 440 f f , bes. S. 449.
3.4 Weimarer Verfassung
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Souveränität des Monarchen wahrt und einen so bestimmten (nationalstaatlichen) Ordnungszusammenhang herstellt. 3.4 Weimarer Verfassung: Demokratie als formalrechtliche Organisation Die verfassungspolitische Umbruchsituation der Novemberrevolution von 1918 ist gekennzeichnet zunächst durch die Übertragung des Reichskanzleramtes am 9. November 1918 durch Prinz Max von Baden auf den Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten Friedrich Ebert 1 1 2 , dadurch und durch die nachfolgende Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte durch den Rat der Volksbeauftragten 1 1 3 wurde die Staatsgewalt auf Repräsentanten der parteipolitischen Mehrheit verlagert. Veranlaßt durch die besonderen Probleme der Demobilmachung und der Wiedereingliederung zurückkehrender Soldaten wurde zwischen den großen Verbänden der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und den Gewerkschaften der Arbeitnehmer eine Zentralarbeitsgemeinschaft gegründet 1 1 4 , womit eine Entwicklung fortgesetzt wurde, welche bereits i n der letzten Kriegszeit des alten Deutschen Reiches begann und zu ihrem Ergebnis hatte, daß die Arbeits- und Sozialprobleme zu wesentlichen Teilen aus dem Bereich staatlicher Regulierung herausgenommen und den Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer übertragen wurden. Dies gilt prinzipiell auch für die Zeit nach dem Austritt des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes aus der Zentralarbeitsgemeinschaft i m Januar 1924, da nunmehr entsprechende Konfliktregelungen auf der Grundlage der A r t . 159, 165 W V erfolgen konnten. Damit wurden einerseits der Staat und seine Repräsentanten von der Zurechenbarkeit und der Verantwortlichkeit für einen Bereich ständiger, latenter sozialer und ökonomischer Konflikte entlastet, andererseits wurde die sozialpolitische Gestaltungskompetenz von i n Vereinigungen organisierten Interessengruppen anerkannt. Gleichzeitig t r i t t neben die historisch entwickelte Trennung von Staat und Gesellschaft eine partielle Trennung von politischer und sozialer bzw. ökonomischer Ordnung; ihre Ausgestaltung geht — partiell — i n die vom Staat anerkannte Kompetenz gesellschaftlicher Organisationen 115 . 112
Vgl. hierzu die Dokumente bei E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 511. E. R. Huber, Bd. 3, S. 5. 114 E. R. Huber, Bd. 3, S. 19. 115 Diese partielle Trennung zwischen politischem u n d ökonomischem Bereich erweist sich i m Ergebnis nicht als Verminderung staatlicher Konflikte, sondern als Schwächung der staatlichen Regulierungsfähigkeit bei der Durchsetzimg einer neuen sozio-ökonomischen Ordnung.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
Die Entwicklung nach der Novemberrevolution von 1918 ist schließlich auch durch die Auseinandersetzung zwischen parlamentarischer Demokratie und Rätesystem bestimmt 1 1 6 . Dieser, auch gewaltsame Streit, findet eine normative Entscheidung i n der Weimarer Verfassung als der Verfassung des Deutschen Reiches vom 12. August 1919, welche i n A r t . 1 Abs. 2 deklariert :„Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Das Prinzip der Volkssouveränität findet seinen Ausdruck i n der Bildung des Reichstags aus den „Abgeordneten des deutschen Volkes" (Art. 20 WV), der Wahl der Abgeordneten i n allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl (Art. 22 WV) und der Stellung des Reichstages als zentrales Gesetzgebungsorgan. Die Vertretung der Länder bei der Gesetzgebimg und Verwaltung des Reiches geschieht durch den Reichsrat (Art. 60 ff. WV). Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen jeder für sich des Vertrauens des Reichstages (Art. 54 WV). Der Reichspräsident w i r d ebenfalls „vom ganzen deutschen Volke gewählt" (Art. 41 WV). Schließlich ist auch eine unmittelbare M i t w i r k u n g des Volkes bei der Gesetzgebung verfassungsrechtlich i n der Form des Volksentscheides und des Volksbegehrens möglich (Art. 73 ff. W V ) 1 1 7 . Der Weimarer Verfassung liegt so die Vorstellung eines demokratisch organisierten Staates m i t einem parlamentarischen Regierungssystem und der Möglichkeit der plebiszitären Kontrolle der durch die Verfassung organisierten Entscheidungsprozesse und implizit des i m Reichstage repräsentierten Parteiensystems zugrunde 1 1 8 . Gleichzeitig enthält die Weimarer Verfassung aber auch Vorschriften, welche die Staatsgewalt an sich als politisch-rechtlichen Gestaltungsfaktor etablieren und insoweit die alten Strukturen des Obrigkeitsstaates wirksam bleiben lassen: Eine allgemeine Kompetenzstellung des Reichspräsidenten, wenn „die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet w i r d " (Art. 48 Abs. 2 W V ) 1 1 9 . Unabhän118 Vgl. hierzu die Dokumente bei E. R. Huber, Bd. 3, S. 3 ff., S. 16 f f , S. 21 f f , S. 32 ff. Z u r Entstehung der Weimarer Republik allg. A. Rosenberg, Entstehung der Weimarer Republik, 13. A u f l . F r a n k f u r t / M . 1971. 117 Z u den Fällen von Volksentscheiden u n d Volksbegehren vgl. bei E. R. Huber, Bd. 3, S. 189. 118 So W. Abendroth, Verfassungsrecht u n d Verfassungswirklichkeit i n der Weimarer Republik, i n : J. Mück (Hrsg.), Verfassungsrecht, Opladen 1975, S. 33 ff. 119 Z u Verordnungsmaßnahmen des Reichspräsidenten aufgrund der V o l l macht i n A r t . 48 Abs. 2 W V vgl. unten bei Fn. 123; zu Gehalt u n d F u n k t i o n von A r t . 48 Abs. 2 W V vgl. G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 14. Aufl. B e r l i n 1933, Neudr. Bad Homburg v. d. H. usw. 1968, A n m . 6 ff. zu A r t . 48 (S. 275 ff.).
3.4 Weimarer Verfassung
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gig von Gefährdungssituationen besaß der Reichspräsident das Recht zur Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers (Art. 53 WV) und das Recht zur Auflösung des Reichstages (Art. 25 W V ) 1 2 0 . Eine Tradierung alter, überkommener Staatsstruktur lag auch i n der Gewährleistung einer institutionell etablierten Verwaltung i n Form des Berufsbeamtentums und der Unverletzlichkeit seiner wohlerworbenen Rechte (Art. 129 W V ) 1 2 1 , sowie i n der Erhaltung des Rechtsapparates (Art. 104 WV), denn diese beiden Faktoren bedeuteten die Erhaltung überkommener Traditionen und Bewußtseinsinhalte über die Funktion des Staates und seiner Organe. Die Ausdifferenzierung der Staatsgewalt i n die Organstellungen des Reichstages und des Reichsrates, die Verwaltung durch institutionelle Sicherung der Beamtenschaft und den Rechtsapparat durch entsprechende Stellung der Richter sowie i n die gesonderte Stellung des Reichspräsidenten wurden ergänzt durch die Schaffung eines Staatsgerichtshofes, der aber nicht als unmittelbare Kontrollinstanz für den Bürger gegenüber den Staatsorganen auf Einhaltung der Verfassung fungierte 1 2 2 . Ihrer organisatorischen Konstruktion nach war die politische Ordnung der Weimarer Verfassung i n einem demokratischen Prozeß zu realisieren. Aufgrund der sozioökonomischen und politischen Schwierigkeiten und Widersprüche, sowie einer Auslegung von Demokratie allein als Organisationsform und nicht als Inhaltsform der Staatsordnung wurde die Ausübung der Staatsgewalt zunehmend i n Form von Ermächtigungsgesetzen und m i t dem M i t t e l der Notverordnung beim Reichspräsidenten und der Reichsregierung und also mangels parlamentarischer Einbindung und Durchdringung der politischen Willensbildungsprozesse bei der Exekutive zentriert 1 2 3 , bis schließlich die Verfassungsordnung der Weimarer Republik m i t dem Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933 ganz aufgegeben wurde 1 2 4 . Die Verlagerung wirtschafts-, sozial- und arbeitspolitischer Fragen und deren Konfliktlösung i n den gesellschaftlichen Bereich wurde 120 Allgemein zu den Fällen vorzeitiger Auflösung des Reichstages vgl. die Übersichten bei E. R. Huber, S. 160 ff. 121 Erg. hierzu die Dokumente bei E. R. Huber, Bd. 3, S. 168 ff. 122 Reichsgesetz über den Staatsgerichtshof v o m 9. J u l i 1922, abgedr. bei E. R. Huber, Bd. 3, S. 193. 128 Z u den I n h a l t e n der Ermächtigungsgesetze vgl. bei E. R. Hub er, Bd. 3, S. 185 ff.; zu Gesetzen zum Schutze der Republik vgl. ebd. S. 195 ff.; zu V e r ordnungen des Reichspräsidenten vgl. ebd. S. 205 ff., 218, 234 ff., 244 f., 249 f., 278 ff., 282 ff., 285 ff., 295, 330, 359 ff., 427, 443, 445 ff., 473 ff., 412 ff., 506, 519 f., 575 ff., 599, 602. 124 T e x t s. bei E. R. Huber, Bd. 3, S. 604.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
durch mehrere Arbeitsgesetze, das Betriebsrätegesetz und die Verordnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat vom 4. M a i 1920 fortgesetzt 125 . Die Trennung von Politik und Ökonomie ließ sich aber i n der Krise, und zwar i n der ökonomischen und politischen Krise der Weimarer Republik nicht durchhalten, ökonomische und arbeitspolitische Probleme bewirkten auch die Krise des politischen Systems 126 . Die Grundlagen einer demokratischen Ordnung sind i n der Weimarer Verfassung i n einem System von Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen statuiert (Art. 109 ff. WV). Die einzelnen Vorschriften weisen eine unterschiedliche Dichte auf, während die individuellen Rechte stärker statuarisch — positiv gefaßt sind, sind die Verfassungsbestimmungen, welche sich auf die soziale Gemeinschaft und auf den ökonomischen Bereich beziehen, i n der Sprachform mehr deklaratorisch. Insgesamt sind die Grundrechte überwiegend m i t der Möglichkeit oder dem Erfordernis gesetzlicher Ausgestaltung verbunden. Die Verfassung selbst ist i m Gesetzgebungsverfahren m i t qualifizierter Mehrheit abänderbar (Art. 76 WV), insoweit ist sie auch i n ihren Grundrechten nur ein besonders qualifiziertes Gesetz 127 . Ordnungspolitisches Ziel der organisationsrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung ist zunächst die Realisierung von Demokratie als formaler Grundkategorie der staatlich verfaßten Gesellschaft. Dies gilt auch i m Blick auf die starke Stellung des Reichspräsidenten und die Erhaltung des Beamtentums i n der überkommenen Form, denn das politische und Rechtsetzungsinstrumentarium des Reichspräsidenten war auf extreme Notsituationen bezogen, Verwaltung war einzubinden i n einen mehrfachen Prozeß demokratischer Willensbildung. U m als materielle Gestaltungsform effektiv werden zu können, bedarf Demokratie einer vergleichbaren Fähigkeit und Möglichkeit zur Teilnahme an so organisierten staatlichen Willensbildungsprozessen, das heißt, allgemein bedarf sie einer vergleichbaren Ausstattung m i t Besitz und Bildung oder einer Begrenzung der m i t Besitz und Bildung verbundenen Herrschaftschancen. Dies gilt zumindest dann, wenn Demokratie 125 I m einzelnen vgl. die Nachweise bei E. R. Huber, Bd. 3, S. 152 Fn. 86 u n d S. 164 ff. 126 A u f die politischen, ökonomischen u n d sozialen Entwicklungen der Weimarer Republik ist hier i m einzelnen nicht einzugehen, vgl. A. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, 12. A u f l . F r a n k f u r t / M . 1971. — Z u r staatlichen Sozialpolitik s. H. Mommsen, Staatliche Sozialpolitik u n d gewerkschaftliche Strategie i n der Weimarer Republik, i n : U. Borsdorf u. a. (Hrsg.), Gewerkschaftliche P o l i t i k — Reform aus Solidarität, K ö l n 1977, S. 61 ff. 127 Vgl. hierzu C. Schmitt, I n h a l t u n d Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung. Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 586 ff.; R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung i m allgemeinen, S. 1 ff. (S. 33) sowie die Kommentierungen v o n G. Anschütz, A n m . 3 zu A r t . 76 jew. m. w . N.
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nicht historisch gewachsene, statusungebundene Konsensform i n einer Gesellschaft ist 1 2 8 . I n Deutschland jedenfalls war Demokratie nicht als politische Ordnungsform einer Gesellschaft entfaltet und praktiziert oder i n einem revolutionären Prozeß organisiert und effektiviert. Das demokratische Prinzip der Weimarer Verfassung als politische Organisationsform des neuen Staates bedurfte somit der materiellen, grundrechtlichen Sicherung. Eine solche Absicherung war nicht gegeben, wenn Grundrechte nur als individuelle Hechtsstellungen und Gewährleistungen eines status quo fungierten, wenn Verfassungsnormen bezüglich der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung nur programmatische Funktion besaßen. Zentrale Bedeutung für die Verfassungsdiskussion der Weimarer Republik hatte deshalb die Frage nach der Qualifikation jener Verfassungsnormen, welche den sozialen und w i r t schaftlichen Bereich betrafen, und die Frage nach dem Bedeutungsgehalt des Gleichheitsprinzipes gemäß A r t . 109 W V : Gleichheit i n der Gesetzesanwendung oder Gleichheit vor und, i n jeder Gesetzgebung, „Rechtsanwendungsgleichheit oder Rechtsgleichheit" 129 . 3.4.1 Grundrechte als Gewährleistungen des gesellschaftlichen status quo
Die Interpretation des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassimg (Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen) wurde von der Staatsrechtswissenschaft unter spezifischen verfassungstheoretischen Annahmen geleistet. Allgemein läßt sich für Lehre und Rechtsprechung feststellen, daß vor allem den Verfassungssätzen, welche individuelle Freiheitspositionen zum Inhalt haben, eine unmittelbare Geltungskraft zugebilligt wurde. Als solche Freiheitsrechte des einzelnen Menschen oder der Verbindung von einzelnen Menschen werden angesehen A r t . 114 (Freiheit der Person), A r t . 115 (Schutz der Wohnung), A r t . 117 (Schutz des Brief- und Postgeheimnisses), A r t . 118 (Meinungsäußerungsfreiheit), A r t . 123 (Versammlungsfreiheit), A r t . 124 (Vereinsfreiheit) sowie A r t . 153 (Schutz des Eigentums) und — eingeschränkt i m Rahmen der Gesetze-Gewerbefreiheit (Art. 151 Abs. 3) und Vertragsfreiheit (Art. 152) 130 . Hinzu kommen grundrechtsähnliche politische Rechte des einzelnen Bürgers (die Rechte des sogenannten status aktivus) wie A r t . 22 (Wahlrecht für den Reichstag), A r t . 125 (Gewährleistung von Wahlfreiheit und Wahlge128 So auch H. Heller, Die politische Ideenkrise der Gegenwart, Breslau 1926, vgl. auch W. Bauer, Wertrelativismus u n d Wertbestimmtheit i m K a m p f u m die Weimarer Demokratie, i n : Vierteljahreshefte f ü r Zeitgeschichte 1968, H. 3, S. 209 ff. (S. 221). 129 G. Anschütz, A n m . 2, I I zu A r t . 109. 180 Vgl. hierzu i m einzelnen die Kommentierung der genannten G r u n d rechtsartikel bei G. Anschütz, a.a.O.; C. Schmitt, S. 590 ff.; R. Thoma, S.20ff.
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heimnis), A r t . 128 (gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern), A r t . 160 (Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und öffentlicher Ehrenämter auch bei Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses) 131 . Nach C. Schmitt sind diese Rechte Grundrechte, soweit sie zur Grundlage des Staates selbst gehören und i n der Verfassung als solche anerkannt sind. Der Staat hat die Aufgabe und den Zweck, die so gearteten Grundrechte nicht zu gewähren, sondern nur zu gewährleisten, zu sichern und zu wahren. Da der Staat als Hüter der freien Gesellschaft und der gesellschaftlichen Freiheit zu betrachten ist, deren einziges Ordnungsprinzip eben die Freiheit sei, erscheinen solche Grundrechte als „Generalpostulate der Gesellschaft" an den Staat, als „verfassungsrechtliche Gewährleistungen" 1 3 2 . Die Bestimmungen des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung, welche sich auf den sozio-kulturellen und den Wirtschaftsbereich bezogen, wurden i m allgemeinen nur als verfassungsmäßige Programmsätze ohne unmittelbare Geltungskraft verstanden, und zwar auf der Grundlage einer Verfassungstheorie, wonach es eben Funktion einer rechtsstaatlichen Verfassung sei, bürgerliche Freiheiten gegenüber dem Staat zu sichern. Die Verfassungstheorie übersah, daß einer Verallgemeinerung und Objektivierung bürgerlicher Freiheitsrechte unterschiedliche subjektive Rechte entsprechen müssen, welche i n ihrer formalen Qualität gleichwertig sind. Als Verfassungssätze ohne unmittelbare rechtliche Geltungskraft wurden insbesondere angesehen A r t . 151 Abs. 1 S. 1 („Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit m i t dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen"), A r t . 155 Abs. 1 (Verhütimg von Mißbrauch i n der Verteilung und Nutzung von Boden, Sicherstellung ausreichender Wohnmöglichkeit), A r t . 156 Abs. 2 (Überführung von w i r t schaftlichen Unternehmungen und Verbänden i n Gemeinwirtschaft m i t Selbstverwaltungseinrichtungen), A r t . 162 (Eintritt für ein internationales Arbeitsrecht m i t der Sicherung eines Mindestmaßes sozialer Rechte für die Arbeitnehmer), A r t . 163 („Recht" auf Arbeit und „Unterhaltssicherung") 133 . Unmittelbare Geltungskraft besaß das Recht der Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, (Art. 159). Als Grundrechte m i t einer sozialen Reflexwirkung wurden angesehen die bereits genannten Bestimmungen der A r t . 118 und 160 sowie die Festlegung der Reichstagswahl auf einen Sonntag 181 Vgl. hierzu C. Schmitt, Grundrechte u n d Grundpflichten des deutschen Volkes, i n : Handbuch des deutschen Staatsrechtes, S. 572 ff. (S. 580, 590). 132 C. Schmitt, S. 580, 590. 133 v g l . i m einzelnen hierzu die Kommentierung bei G. Anschütz, a.a.O., m. w . N.
3.4 Weimarer Verfassung
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oder öffentlichen Ruhetag (Art. 22 Abs. 1 S. 2) und A r t . 165 (Bildung von Arbeiter- und Wirtschaftsräten, deren Funktion nicht nur auf die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen begrenzt gedacht war, sondern welche auch als Beratungsorgan i m Vorfeld der Gesetzgebung bei sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen w i r k e n sollten). Der Grundgedanke dieser sozialrechtlichen Bestimmungen sei die „Beseitigung der Ungleichheit der wirtschaftlich-sozialen Stellung der A r beitnehmerklasse wie ihrer einzelnen Angehörigen einerseits und der Stellung der Arbeitgeber andererseits. Es handelt sich also um Rechtsgleichheit i m persönlichen Sinne" 1 3 4 . Die sozialen Grundrechte wurden — soweit ihnen überhaupt eine Geltungskraft zugemessen wurde — individualisiert, sie wurden nicht zum integralen Bestandteil der neuen objektiven Verfassungsordnung. Theorie und Praxis der Weimarer Zeit haben m i t diesen Grundrechtsbestimmungen „nicht viel anzufangen gewußt" 1 3 5 . Verfassungsbestimmungen des sozio-kulturellen Bereichs betreffen das „Familienleben", insbesondere die Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 1191 S. 1) und die Schaffung gleicher Entwicklungsbedingungen für uneheliche und eheliche Kinder. Obwohl als „Programmsätze" eingestuft, sind sie ihrem Inhalt nach „ebenfalls auf persönliche Rechtsgleichheit gerichtet". Weitere „Gesichtspunkte sozialer Natur" finden sich ζ. B. i n den Vorschriften der A r t . 113 (fremdsprachige Volksteile zu berücksichtigen), A r t . 136 I u. I I (Religionsfreiheit und keine daraus folgenden Benachteiligungen), A r t . 124 I I (Vereinigungsfreiheit), A r t . 137, A r t . 143 I I u. I I I (rechtliche Stellung der Lehrer), A r t . 147 (Aufhebung privater Vorschulen, Einschränkung privater Volksschulen, keine Sonderung der Schule nach Besitzverhältnissen der Eltern), A r t . 145 (Schulpflicht und Lehrmittelfreiheit), A r t . 146 (Aufbau des öffentlichen Schulwesens, Förderung nach Neigung, nicht Besitz der Eltern und Förderung für M i n derbemittelte durch öffentliche Mittel). „ A l l e diese Sätze, die teilweise unmittelbar geltendes Recht schaffen, teils mittelbar geltendes Recht schaffen, teils Grundsatzbestimmungen, teils Programmsätze aufstellen, sind von dem Gedanken der Beseitigung oder Abmilderung der Klassenunterschiede getragen 136 . " 134 So beispielsweise H. Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz i m Sinne des A r t . 109 der Reichsverfassung, i n : W d S t R L Heft 3, B e r l i n u. Leipzig 1927, S. 32. 185 So H. Nawiasky, S. 33; vgl. auch entsprechend W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. A u f l . München u. B e r l i n 1964, S. 351 ff. (S. 351); E. Kaufmann, Die Gleichheit v o r dem Gesetz i m Sinne des A r t . 109 der Reichsverfassung, i n : W d S t R L Heft 3, S. 2 ff. (S. 17); E. R. Huber, Z u r V e r fassungstheorie der Weimarer Zeit, i n : ders., Bewahrung u n d Wandlung, B e r l i n 1975, S. 30 f. 18e H. Nawiasky, S. 34, 35.
6 Grimmer
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Dem Wortlaut der Verfassungsbestimmungen für den sozio-kulturellen und Wirtschaftsbereich nach hat sich der Verfassungsgeber der Weimarer Verfassung nicht mehr beschränkt auf die Statuierung individualer Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, sondern er ist zur Erteilung von Aufträgen für die positive Gestaltung der Sozialordnung übergegangen 137 und hat ihre Grundstruktur normativ festgeschrieben. Dieser Verfassungsauftrag war i n einem demokratisch organisierten Willensbildungsprozeß zu erfüllen, er war als Verfassungsbestimmung verbindlich. Lehre und Rechtsprechung haben aber diese Verfassungssätze zu bloßen Programmsätzen denaturiert, denen keine unmittelbare Geltungskraft zukommt, welche keinen rechtlichen Anspruch begründen. Der soziale Ausgleich war damit nicht mehr unmittelbare rechtliche Verpflichtung für den Gesetzgeber. Der Rahmen möglicher gesetzlicher Ausgestaltung und Konkretisierung von Grundrechten und politischen Einrichtungen wurde i m übrigen auch begrenzt gesehen durch die Rechtsfigur der Institutsgarantien und der institutionellen Garantien. Nach Carl Schmitt wurde durch verfassungsgesetzliche Regelung bestimmten Einrichtungen ein besonderer Schutz gewährt. „Die verfassungsgesetzliche Regelung hat dann den Zweck, eine Beseitigung i m Wege der einfachen Gesetzgebung unmöglich zu machen. Auch dann, wenn m i t der institutionellen Garantie subjektive Rechte von Einzelnen oder von Korporationen verbunden sind, was nicht notwendigerweise der Fall ist, liegen keine Grundrechte vor. Die institutionelle Garantie ist ihrem Wesen nach begrenzt. Sie besteht nur innerhalb des Staates und beruht nicht auf der Vorstellung einer prinzipiell unbegrenzten Freiheitssphäre, sondern betrifft eine rechtlich anerkannte Institution, die als solche immer etwas Umschriebenes und Umgrenztes, bestimmten Aufgaben und bestimmten Zwecken Dienendes ist, mögen auch die Aufgaben i m einzelnen nicht spezialisiert sein und eine gewisse Universalität des Wirkungskreises zulassen 138 ." Carl Schmitt unterscheidet folgende institutionelle Garantien: Institutionelle Garantien i n Verbindung m i t subjektiven öffentlichen Rechten wie Recht der Gemeinden und Gemeindeverbände auf Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze, ohne daß damit die Existenz der bestehenden Gemeinden oder Gemeindeverbände rechtlich abgesichert ist (Art. 127 WV); rechtliche Existenz des Berufsbeamtentums (Art. 128 bis 131 WV). A r t . 129 Abs. 1 S. 2 begründet die Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte des Beamten, doch dienten i«7 v g l . näher hierzu H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, S. 38. 188 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 170 f.
3.4 Weimarer Verfassung
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diese und alle anderen Vorschriften nicht dem Privatinteresse des Einzelbeamten, sondern dem Berufsbeamtentum als solchem. Rechtliche Existenz von freier Kunst, Wissenschaft und Lehre (Art. 142 WV). Smend bezeichnet diese Bestimmung auch als das „Grundrecht der deutschen Universität", womit dieser als Korporation und dem Wissenschaftler i m einzelnen ein Recht auf freie Forschung und Lehre zugestanden, die Anerkennung der institutionellen Einrichtung und Ausformung der Universitäten ein Ergebnis der Verfassungsinterpretation wurden 1 8 9 . Als institutionelle Garantien ohne subjektives öffentliches Recht werden interpretiert A r t . 149 W V i m Sinne einer rechtlichen Gewährleistung des Religionsunterrichtes als ordentliches Lehrfach an den Schulen m i t Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen und der theologischen Fakultäten an den Hochschulen. Indirekt werden damit Privilegien einer (religiösen) Körperschaft des öffentlichen Rechts gewährleistet. Bestimmte Funktionswalter öffentlicher Aufgaben besaßen so einen speziellen institutionellen Grundrechtsschutz, welcher der Disponibilität parlamentarisch-demokratischer Verfahren entzogen war. Nach der vorherrschenden Interpretation der Weimarer Reichsverfassung kamen solche institutionelle Garantien aber auch typischen traditionell feststehenden Normkomplexen und Rechtsbeziehungen (Rechtsinstituten) zu 1 4 0 . Eine solche Garantie beinhalteten A r t . 119 W V (rechtliche Existenz von Ehe und Familie), A r t . 139 W V (rechtliche Existenz der Sonn- und Feiertagsruhe, indirekt w i r d damit der abhängig arbeitenden Bevölkerung ein positives Grundrecht verliehen), schließlich auch A r t . 102 WV, rechtliche Existenz der Unabhängigkeit der Richter. Nach Carl Schmitt liegt der entscheidende Unterschied zwischen einem echten Grundrecht und einer institutionellen Garantie darin, daß bei jenem der Inhalt vor dem Gesetz gegeben sei, bei diesem sich der Inhalt aus dem Gesetz ergebe 141 . Das Rechtsinstitut könne nicht durch Gesetz aufgelöst werden, i n seiner traditionellen normativen Komplexität sei es zu erhalten. I n dieser Weise werden als verfassungsrechtlich institutionelle Gewährleistungen auch angesehen A r t . 1531 W V (Eigentum), A r t . 154 (Erbrecht) 142 und A r t . 152 (Vertragsfreiheit) 1 4 3 . 189 140
C. Schmitt, S. 173. C. Schmitt, Grundrechte u n d Grundpflichten des deutschen Volkes, S.
590 ff. 141
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 172. C. Schmitt, S. 171 f.; grundlegend M. Wolff , Reichsverfassung u n d Eigentum, i n : Festgabe f ü r W. K a h l , 1923, S. 5 ff. 148 Vgl. insges. R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung i m allgemeinen, S. 590 ff.; G. Boehme 142
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
Die Anerkennung einer institutionellen Gewährleistung von Vertragsfreiheit, Eigentum und Erbrecht (Art. 152-154 WRV) sowie die grundrechtliche Gewährleistung der Gewerbefreiheit sicherten die — kapitalistische — Wirtschaftsordnung wirksam gegen Normsetzungen m i t sozialistischer oder protektionistischer Tendenz 144 , die Ineffektivität von Verfassungsbestimmungen m i t solcher Tendenz wurde dadurch verstärkt. Die Gewährleistung der Gewerbeausübungsfreiheit war dabei die wirksamste Sicherung und das Konstrukt „Freiheit von Handel und Gewerbe" (Art. 151 I I I WRV) wurde zugleich als Zulassungs- und Ausübungsfreiheit interpretiert. Der bürgerlich liberale Rechtsstaat beruht auf der Annahme der Freiheit und Gleichheit der Individuen, welche die Träger der staatlichen Willensbildung sind. Die Gundrechte enthielten das „fundamentale Verteilungsprinzip", die Freiheitssphäre des einzelnen war prinzipiell unbegrenzte Freiheit, bei prinzipiell begrenzter staatlicher Eingriffskompetenz 145 . Indem Verfassungslehre und Verfassungsrechtsprechung die Grundrechtsbestimmungen unterteilten i n solche m i t sofortiger aktueller Wirksamkeit und i n Grundrechtsbestimmungen programmatischer A r t , bloße Rechtsgrundsätze 146 , zerbrachen sie die Einheit der Verfassung. Gleichzeitig bewirkte eine solche Interpretation eine Gewährleistung des überkommenen status quo und eine fundamentale Verteilung der Freiheit innerhalb der Gesellschaft, da nur den überkommenen Freiheits- und Eigentumsrechten unmittelbare Wirksamkeit zugesprochen wurde, die gegebene Freiheit, die überkommene Verfügungsmacht über Eigentum wurden zum Inhalt von Grundrechten. Die Anerkennung eines richterlichen Prüfungsrechtes sicherte die Durchsetzung eines solchen Verfassungsverständnisses 147 gegenüber dem Gesetzgeber ab. Es sei „mißverständlich, das Freiheitsrecht als Recht i m Sinne eines Anspruches auf Leistung aufzufassen; aus der Freiheit können nur negatorische, d. h. Abwehransprüche entstehen, i n H. C. Nipperdey (Hrsg.), Bd. 3, S. 257 ff. sowie die Kommentierung zu den angeführten Bestimmungen bei G. Anschütz, a.a.O. 144 I n diesem Sinne R. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928), wieder abgedr. i n ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A u f l . B e r l i n 1968, S. 265 f. 145 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 158. 146 G. ATischütz, S. 514. 147 U m s t r i t t e n ist, welche Bedeutung die Eröffnung gerichtlichen Rechtsschutzes f ü r das Vorliegen eines subjektiven öffentlichen Rechts hat. F ü r G. Jellinek w a r das subjektive Recht wesentlich i n der Befähigung durch den Staat begründet, seinen Rechtsschutz w i r k s a m anzurufen (S. 82). Vgl. auch R. Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte u n d Pflichten, S. 607 ff.; O. Bühler, Altes u n d Neues über Begriff u n d Bedeutung der subj e k t i v e n öffentlichen Rechte, i n : Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, 1955, S. 269 ff. (S. 274 ff.) u. O. Bachof, R e f l e x w i r k u n g u n d subjektive Rechte i m öffentlichen Recht, ebd. S. 192 ff. (S. 300 ff.) m. w . N.
3.4 Weimarer Verfassung
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wenn sie verletzt wird. Das Freiheitsrecht ist prinzipiell unbegrenzt, die gesetzliche Normierung muß prinzipiell begrenzt, meßbar normiert sein. Ein Staatswesen, das statt auf negativen Freiheitsrechten auf positiven, m i t Grundrechtsgarantien ausgestalteten Ansprüchen der Staatsangehörigen aufgebaut ist, wäre kein bürgerlicher, sondern ein sozialistischer Rechtsstaat und setzte eine andere staatliche Organisation und andere als prinzipiell unbegrenzte Freiheitsrechte voraus. Die geltende Reichsverfassung ergibt solche Ansprüche des Einzelnen erst aus einem Gesetz" 148 . Neue Verfassungsrechtssätze, welche potentiell positiv, für den Gesetzgeber beachtlich und richtunggebend sind, geben nach der damals vorherrschenden Lehre dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum. Es besteht eine Vermutung für die Beachtlichkeit des ihnen innewohnenden Rechtsgehaltes, sie beinhalten aber keinen klagbaren Rechtsanspruch 149 . Jene Grundrechte der Weimarer Verfassung, welchen eine unmittelbare Geltungskraft zuerkannt war, wurden deshalb auch nur als subjektive öffentliche Rechte und als objektives Recht verstanden 150 . Rechtsprechung und Lehre haben so die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung i n großem Umfang auf „negatorische A b wehrrechte" reduziert und damit „die Verhinderung des sozialstaatlichen Programms des zweiten Hauptteils der Reichs Verfassung" bewirkt151. Zugrunde lag der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit weiter die Annahme, „daß das staatliche Gemeinwesen, wenn es überhaupt als innerhalb einer Rechtsordnung stehend soll gedacht werden können, begriffen werden muß als eine m i t Rechtspersönlichkeit ausgestattete Körperschaft, die anderen Rechtssubjekten m i t subjektiven Rechten entgegentreten oder ihr gegenüber rechtliche Pflichten haben k a n n " 1 5 2 . Gegenüber dem souveränen Staat als ganzem anerkennt Thoma keine subjektiven Rechte der Staatsuntertanen, solche können nur begründet sein gegenüber dem Staat als organisierter und normierter Körperschaft. Hier w i r d deutlich, i n welchem Maße die Rechtsperson des Staates an die Stelle des absoluten Monarchen getreten ist, ohne die Grundverhältnisse wesentlich zu verändern. 148
C. Schmitt, Grundrechte u n d Grundpflichten, S. 590 ff. (S. 594). Vgl. C. Schmitt, S. 598 ff.; S. 602 f.; insbes. auch R. Thoma, Die j u r i s t i sche Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung i m allgemeinen, S. 5 ff. m. w. N., S. 31 ff.; ders., Das System der subjektiven öffentlichen Rechte u n d Pflichten, i n : Handbuch des deutschen Staatsrechts, S. 607 ff. (S. 616 f.). 1δβ Vgl. hierzu C. Schmitt, I n h a l t u n d Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, S. 572 Fn. 1. 151 H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 23. 162 R. Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte u n d Pflichten, S. 607 ff. 149
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3. V e r f a s s u n g s e n t w i u n g i n Deutschland
Die Ausprägung der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht durch Georg Jellinek war eine großartige Leistung, sie steht i m Zusammenhang m i t der Souveränitätsdiskussion und m i t der Veränderung des Staatsbegriffes. Sie festigte die Freiheit des Bürgertums gegenüber der Obrigkeit und strukturierte den Rechtsstaat. I n ihrer Konsequenz liegt eine einseitige Ausrichtung des öffentlichen Lebens auf ein antagonistisches Verhältnis Staat — Bürger. Sie beinhaltet ein Abwehrrecht des einzelnen gegenüber dem Staat, aber keine allgemeine Rechtsverpflichtung der isolierten Individuen untereinander und des Staates gegenüber den Individuen für die Herstellung allgemeiner, sozial gebundener Freiheit. Der Inhalt der subjektiven Rechte ist abhängig von der Möglichkeit, die gewährleisteten Inhalte faktisch zu besitzen. I m Begriff des subjektiven öffentlichen Rechtes w i r d die Verfügungsmöglichkeit des Bürgertums über sich selbst und über seine Freiheit i m Staat vollendet, gleichzeitig seine Möglichkeit zur Interessendurchsetzung mittels des Gesetzmäßigkeitsprinzipes gewährleistet. Was nicht i m Rahmen des Gesetzmäßigkeitsprinzipes erstritten werden kann, w i r d i n individueller Privatsphäre erledigt. Diese „Privatsphäre" determiniert die Sozialstrukturen und sozioökonomischen Machtstrukturen. Nicht die Freiheit einer sittlichen Person i n Anerkennung ihrer Personenwürde ist Gegenstand verfassungsrechtlicher Bindungen, sondern die faktische Ausstattung m i t Besitz und Bildung w i r d als Rechtsbesitz gewährleistet. 3.4.2 Legitimität durch Legalität
Die Ausrichtung der Verfassungsinterpretation -— und diese ist auch Ausdruck vorherrschender gesellschaftlicher Interessen — am überkommenen bürgerlichen Rechtsstaat hatte zur Folge, daß die Einheit der Verfassung aufgegeben, daß den einzelnen Verfassungsbestimmungen eine unterschiedliche Bedeutung und Wirksamkeit zuerkannt wurde. Die demokratischen und sozialstaatlichen Elemente der Verfassung wurden vernachlässigt. Nicht Freiheitlichkeit des Staates, sondern partielle Freiheit und partielle Unterdrückung i m Staat und durch den Staat waren das Ergebnis. Die politische Ordnung wurde nicht aus der allgemeinen Volkssouveränität i m demokratischen Verfahren entfaltet, sondern nur politische Mitbestimmung i m Rahmen einer vorgegeben gedachten Staats- und Gesellschaftsstruktur — jener des bürgerlichen Rechtsstaates — wurde als zulässig anerkannt. Dies w i r d auch deutlich an der Funktion des Gesetzmäßigkeitsprinzipes unter der Weimarer Verfassung. Der Vorbehalt des Gesetzes diente i n der konstitutionellen Monarchie — wie Jesch es bezeichnet — der Rationalisierung der naturrechtlichen Idee von den Menschenrechten und dem Schutze der Individual-
3.4 Weimarer Verfassung
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Sphäre von Freiheit und Eigentum 1 5 3 . I n diesem Rahmen wurde auch der Funktionszusammenhang von Grundrechten und Gesetzesvorbehalt i n der Weimarer Verfassung gesehen. Funktion der Grundrechte war es, neben der subjektiv öffentlich-rechtlichen Rechtssicherung den Gesetzesvorbehalt zu verdichten 1 5 4 . „Es gibt eigentlich nur ein einziges, allgemeines Grundrecht, nämlich das auf Gesetzmäßigkeit aller staatlichen Willensäußerung . . . Die Freiheit dieses Freiheitsrechtes ist eine Freiheit, wie sie dem Gesetz entspringt 1 5 5 ." Aufgrund des Gesetzesvorbehalts hat die gesetzliche Regelung 1 5 6 prinzipiell berechenbar und nachprüfbar zu sein 1 5 7 . Nach H. Heller ist aber der konstitutionelle Gesetzesbegriff 158 „ohne Gesamtanerkennung des materiellen Rechtsstaatsgedankens gar nicht zu fassen. Von seinen beiden Bestandstücken, der Freiheit als der Selbstbestimmung des Volkes durch das Gesetz und der Gleichheit als der gleichmäßigen, nicht willkürlichen Interessenwertung aller, hat die heutige Staatslehre nichts übrig behalten als die formelle Gleichheit vor dem Gesetze, die sie ohne Rücksicht auf den Gesetzesinhalt nur für die Anwendung des Gesetzes gelten lassen w i l l " 1 5 9 . „Innerhalb dieser formalistischen Rechtsstaatsauffassimg, für die ein das Ganze zusammenhaltender, die materiellen Entscheidungen treffender Volkswille nur eine Fiktion ist, stellt die Legislative nichts anderes dar, als eine vom positiven Recht angeordnete Technik der Gesetzgebung, die institutionell und funktionell jeder materiellen Wertung überhoben ist, deren Beschlüsse ohne jede Rücksicht auf ihren Inhalt nur deshalb als Gesetze bezeichnet werden, weil sie die angeordnete technische Form besitzen 160 ." I n diesem Zusammenhang w i r k t e Carl Schmitt nachhaltig, welcher das Prinzip des bürgerlichen Rechtsstaats m i t den eigentlichen politischen Bestandteilen der Weimarer Verfassung, den machtbildenden Faktoren, kontrastiert und den Rechtsstaat i n den Raum unpoli158
Vgl. D. Jesch, Gesetz u n d Verwaltung, S. 129. Vgl. G. Anschütz, S. 505 ff. u. Anm. 1 zu A r t . 114; teilweise anderer A n sicht Mannheim, i n : H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte u n d G r u n d pflichten der Reichsverfassung, Bd. 1 B e r l i n 1929, S. 255. 155 C. Schmitt, I n h a l t u n d Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, S. 585; vgl. auch R. Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte u n d Pflichten, S. 619. 156 Vgl. R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze, S. 16. 157 C. Schmitt, Die Grundrechte u n d Grundpflichten des deutschen Volkes, S. 592. 158 Z u den Grundlagen der Lehren von Anschütz, Laband u n d G. Jellinek u n d ihren zeitgenössischen Ausprägungen s. die eben zit. L i t e r a t u r u. bes. H. Heller, Der Begriff des Gesetzes i n der Reichsverfassung, i n : W d S t R L Heft 4 B e r l i n u. Leipzig 1928, S. 98 ff. (S. 101 ff.). 159 H. Heller, S. 115. 180 H. Heller, S. 116. 154
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tischer, bürgerlicher Sicherheit und Kontrolle staatlicher Macht verweist 1 6 1 . H. Heller stellte dem gegenüber, daß unter Gesetz zwar grundsätzlich der oberste von der Volkslegislative gesetzte Rechtssatz zu verstehen sei, was aber zum Vorbehalt des Gesetzes gehöre, welche Gegenstände die Gesetzgebung ergreife, das bestimme nicht die Logik oder eine theoretische Formel, sondern „Tradition, Zweckmäßigkeit, Machtlage und Rechtsbewußtsein" 162 . Dieses Gesetzesverständnis von H. Heller entspricht nicht dem Denkhorizont eines formal positivistischen Rechtsbewußtseins, sondern reflektiert auf die konkreten und real gegebenen sozialen Lagen. I n der Entwicklung und Praktizierung der Weimarer Reichsverfassung trat bald der formelle Gesetzesbegriff i n den Vordergrund. Als verfassungsmäßig galt jeder Rechtssatz, der den formellen Anforderungen der Verfassung entsprach. Die Reduzierung der Grundrechte auf ein Recht auf Gesetzmäßigkeit aller staatlichen Willensäußerung, zunächst durchaus auch inhaltlich durch die Grundrechte mitbestimmt gedacht, schlug u m i n eine Omnipotenz und Beliebigkeit staatlicher Gewaltausübung i n Rechtssatzformen, unterstützt durch die Möglichkeit der Verfassungsänderung i m Wege der Gesetzgebung m i t qualifizierter Mehrheit (Art. 76) und durch das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten gemäß A r t . 48 Abs. 2 m i t der Befugnis, auch Grundrechte außer K r a f t setzen zu können. Ergebnis dieser Entwicklung war die erwähnte Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 und das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, das sogenannte Ermächtigungsgesetz, womit die Weimarer Verfassung der Diktatur des Nationalsozialismus übergeben wurde. I n dem Spannungsverhältnis von Grundrechten und Gesetzmäßigkeitsprinzip steht auch die Diskussion u m Funktion und Gehalt von A r t . 109 Abs. 1 W V „ A l l e Deutschen sind vor dem Gesetz gleich 1 6 8 ." Herrschende Interpretation war zunächst i n Aufnahme des Rechtsstaatsgedankens aus der Vorweimarzeit, daß Gleichheit vor dem Gesetz die Verpflichtung von Verwaltung und Rechtsprechung beinhalte, die Gesetze für alle Deutschen gleich anzuwenden. I n dieser Interpretation bezeichnete A r t . 109 Abs. 1 einen Anspruch auf Rechtsanwendungsgleichheit. Der Wortlaut allein läßt eine solche beschränkte Interpretation nicht zu. U m sowohl dem Wortlaut als auch den Prinzipien der Positivität von Rechtssätzen zu entsprechen, interpretierte Thoma diese Bestimmung als eine Verhaltensnorm für die Rechtsanwendung, ergänzt durch eine „ethische Grundnorm" für den Gesetzgeber. I n diesem Sinne lel
Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 125 ff., S. 200 ff. H. Heller, S. 121. 168 Z u r L i t e r a t u r vgl. bei G. Anschütz, S. 521.
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deutete Thoma diese Bestimmung nicht als ein Gleichheitsgebot, sondern als ein Prinzip der Gerechtigkeit. Nach Erwägungen des Gerechten und Zweckmäßigen habe der Gesetzgeber zu differenzieren, Gleiches ungleich und Gleiches gleich zu behandeln sei Ausdruck von W i l l k ü r , und willkürlich seine Macht zu mißbrauchen, sei keinem Staatsorgan gestattet, auch nicht dem Gesetzgeber, dieses verfassungsrechtliche Grundprinzip gelte allgemein und auch unabhängig von A r t . 109 Abs. 1 W V 1 6 4 . Es ist das Verdienst von G. Leibholz, die Theorie der Gleichheit vor dem Gesetz weitergeführt zu haben. Seiner Ansicht nach ist bei einer Beschränkung von A r t . 109 Abs. 2 auf Rechtsanwendungsgleichheit nicht klar, welcher Sinn und Zweck m i t dem Gleichheitssatz eigentlich verbunden werden soll. Denn von einer „gleichen" Rechtsanwendung könnte doch nur dann gesprochen werden, wenn generell auf die gleichgelagerten Tatbestände die gleiche Rechtsnorm zur Anwendung gelange und auch dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung Genüge getan werde. I n diesem Sinne würde das Prinzip der Gleichheit der Rechtsanwendung auf nichts anderes hinauslaufen als auf die verfassungsmäßige Garantie, daß die Rechtsanwendung i n inhaltlicher Übereinstimmung m i t den Gesetzen gehalten werde oder kürzer auf die Gewährleistung der „Rechtsrichtigkeit" der Rechtsanwendung. So ist aber nach Leibholz der Satz des A r t . 109 offenbar nicht zu verstehen. Für die Fälle, i n denen der Richter oder Verwaltungsbeamte bewußt von der Rechtsnorm abweicht oder sie überhaupt nicht anwendet oder das zu seiner Disposition stehende freie Ermessen mißbraucht, bestünden bereits eine Anzahl von Kautelen, u m ein solches, die Geltung der Rechtsordnung sabotierendes Verhalten der Behörden zu verhüten. Diese liegen auf disziplinärem, straf- und zivilrechtlichem Gebiet und sind ein ausreichendes Korrektiv gegen jene i n Wirklichkeit überhaupt nicht sehr akute Gefahr 1 6 5 . Rekurrierend auf die Entstehungsgeschichte des A r t . 109 166 entwickelte G. Leibholz seine Interpretation des A r t . 109 Abs. 1: Nicht nur gleiche Anwendung des Gesetzes durch Verwaltung und Rechtsprechung, sondern auch gleiche Behandlung aller durch den Gesetzgeber. Diese Bestimmung sei i n der ausgesprochenen Tendenz geschaffen, das Individuum nicht nur gegen Willkürakte der Verwaltung, sondern 184 R. Thoma, Die F u n k t i o n der Staatsgewalt, Grundbegriff u n d G r u n d sätze, S. 11; vgl. auch ders., Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze i m allgemeinen, S. 22 ff. m. w . N. 185 G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), 2. A u f l . München u. B e r l i n 1959, S. 30 f. ΐ6β ygi # A. Verdross, Z u m Problem der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers, i n : Juristische Blätter 1916, S. 471 f., S. 483 f.
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auch des Gesetzgebers zu schützen. Diese Auffassung werde durch die Existenz einer Reihe von Verfassungsbestimmungen bestätigt, die zweifelsohne aktuelles, und zwar auch den Gesetzgeber bindendes Recht enthalten. G. Leibholz untermauerte seine Theorie m i t einer hermeneutischen Analyse des semantischen Gehaltes des Satzes „ A l l e Deutschen sind vor dem Gesetz gleich". Lege man das Schwergewicht auf das Wörtchen „vor", „so bedeutet das eine Bindung des Gesetzgebers durch die Normesnorm, die Verfassung. Insoweit w i r d die Gleichheit als eine jedem Gesetz immanente Voraussetzung gedacht. Ist diese „ i n " dem Gesetz gewahrt, so ist auch die Gleichheit „vor" dem Gesetz v e r w i r k licht. Der Satz bedeutet somit auch Gleichheit vor dem i m Gesetz zum Ausdruck kommenden Recht und bezieht sich, da Gesetz hier nicht i m formellen, sondern materiellen Sinne zu verstehen ist, mangels einer entgegenstehenden Bestimmung schlechthin auf die Ausübung jeder rechtsetzenden Gewalt, sowohl des Reiches wie des einzelnen Landes. Kurzum, Gesetz i m Sinne des Art. 109 Abs. 1 RV ist jede Rechtsnorm. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet somit gleiche Bewertung durch das Recht i n allen seinen Erscheinungsformen" 167 . Eine Verbindung zwischen Gesetzesprinzip, Gleichheitssatz und Freiheitsrechten konstruierte C. Schmitt. Das Gleichheitsrecht stehe i n systematischem Zusammenhang neben dem Freiheitsrecht des einzelnen Individuums und bedeute das Recht auf freie Gleichheit und gleiche Freiheit, d. h. das Verbot jeder Privilegierung. Seine praktische Bedeutung liege darin, daß es den rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff umschreibt und Ausnahmegesetze durch A r t . 109 ebenso ausgeschlossen seien wie Ausnahmegerichte durch A r t . 105 168 , insoweit ist diese Interpretation einschränkender als jene von Leibholz. I n der Folgewirkung blieb die Interpretation des Gleichheitssatzes formal, deutlich w i r d dies beispielsweise bei E. Kaufmann, der diese Bestimmung nur als Ausdruck der liberalen Forderung der Gleichheit der Chancen für alle, nicht aber der sozialistischen Forderung, daß für alle die gleichen materiellen Voraussetzungen zu schaffen sind, ansieht 1 6 9 . Der sozialstaatliche Ansatz der Weimarer Verfassung wurde damit endgültig unterdrückt. Die Gewährleistung „freier Gleichheit und gleicher Freiheit" beinhaltet zwar das Verbot willkürlicher Privilegierung i n Gesetz, Verwaltung und Rechtsprechung, sie begrenzt aber das Programm der Weimarer Verfassung, einen sozialen Ausgleich 167
G. Leibholz, S. 35. C. Schmitt, I n h a l t u n d Bedeutung des Zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, S. 593; vgl. auch ders., Verfassungslehre, S. 154. 169 E. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz i m Sinne des A r t . 109, S. 2 ff. (S. 17). 168
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herzustellen, Demokratie als eine inhaltliche, i n den materiellen Verhältnissen abgesicherte Staats- und Gesellschaftsform zu entwickeln. Die Schwierigkeiten, welche die herrschende Verfassungslehre m i t der W V hatte, werden verständlich i n der Diskussion u m die Souveränitätslage. Da i n der Verfassungsinterpretation der überkommene bürgerliche Hechtsstaat zum Grundprinzip erklärt wurde, konnte sich kein Verfassungsverständnis auf der Grundlage der i n der Verfassung selbst verankerten Grundnormen allgemeiner und gleicher Volkssouveränität durchsetzen. Häufig w i r d der Begriff der Souveränität synonym m i t dem Begriff der Staatsgewalt gebraucht, obwohl Souveränität und Staatsgewalt nicht dasselbe sind 1 7 0 . Souveränität w i r d unterschieden i n äußere Souveränität und innere Souveränität. Äußere Souveränität bezeichnet die „Völkerrechtsunmittelbarkeit" des Souveräns (Staates, Verbandes) i n dem Sinne, daß der Staat keiner Herrschaft oder Rechtsordnung unterworfen ist; innere Souveränität kennzeichnet die Personal- und Territorialhoheit, also das Recht zur Setzung von Hoheitsakten und deren Durchsetzung 171 . Eine solche formal-schematische Erklärung von Souveränität ohne nach der Trägereigenschaft, der Legitimation und den Folgewirkungen zu fragen, ist Ausdruck unreflektierten, staatsrechtlichen Positivismus 1 7 2 . I n der Problemerörterung stehen unterschiedliche Aspekte i m Vordergrund: die äußere Souveränität, diese war für die Weimarer Repub l i k i n ihren Anfangszeiten eingeschränkt durch die Verpflichtungen aus dem Versailler Friedensvertrag. Zustand und Ordnung eines Gemeinwesens spiegeln sich aber weniger i n der äußeren Souveränität, sondern i n der inneren Souveränität, als Ausdruck der Konstitutionsbedingungen eines Staates. Die Weimarer Reichsverfassung ist zunächst gekennzeichnet durch das Prinzip der Volkssouveränität. Nach A r t . 1 ist das Deutsche Reich eine Republik. „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Noch i m Entw u r f 1 lautete diese Aussage: „ A l l e Staatsgewalt liegt beim deutschen 170
Vgl. H. Krüger, A r t . Souveränität, i n : HdSW, Bd. 9 Göttingen 1956, S. 309 f.; C. J. Friedrich, Johannes Althusius u n d sein W e r k i m Rahmen der E n t w i c k l u n g der Theorie von der Politik, S. 123. Vgl. hierzu u n d zum Folgenden auch unten 5.1 A n m . 5 ff. 171 F. A. v. d. Heydte, A r t Souveränität, i n : Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 7, Freiburg 1962, S. 136 ff.; ders., V o m Heiligen Reich zur geheiligten V o l k s souveränität, S. 350; zur historischen E n t w i c k l u n g vgl. auch P. v. Oertzen, Die soziale F u n k t i o n des staatsrechtlichen Positivismus, S. 114; zum gegenwärtigen Verständnis des Souveränitätsbegriffes vgl. W. v. Simson, Dte Souveränität i m rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 17 f. 172 Hierzu C. Schmitt, Politische Theologie, S. 13.
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Volke." Diese Formulierung wurde schließlich nicht verwendet, u m — wie Anschütz ausführt — den Eindruck zu vermeiden, daß die Staatsgewalt insgesamt beim ganzen Volke liege und somit die Staatsgewalt der Länder nur eine von der gesamten Nation delegierte Gewalt sei. Die Änderung hat nach Anschütz keine sachliche Bedeutung 1 7 3 , Souveränität bezeichnet nach i h m schlicht die „Unabhängigkeit von einer höheren Gewalt, rechtliche Fähigkeit zur Eigenmacht" 1 7 4 . Die Frage nach der Souveränitätslage ist so eine Frage nach der Konstitution des Gesamtverbandes und nach der Stellung der einzelnen Organe, ihrer Legitimation und ihrer Macht. Nach Thoma kennzeichnet Souveränität die Eigenschaft einer politischen Körperschaft von Hechts wegen der höchste Herrschaftsverband eines Territoriums zu sein, sie ist also Ausdruck einer Verbandseigenschaft und Ausdruck der Rechtsgeltung der Verbandsakte 175 . Insoweit ist die Souveränität nicht nur eine Eigenschaft des Gesamtverbandes, sondern auch eine der Gestaltungskraft der einzelnen Staatsorgane, da es das eigentliche Wesen eines modernen Staates ausmacht, freigestaltend das ordnende Recht zu setzen. Solange, als sich das vorherrschende Staats- und Rechtsbewußtsein nicht völlig ändert, könne „kein anderer Grundsatz gelehrt werden, als der, daß die gesamte i m Staat geltende Rechtsordnung von Rechts wegen zur Disposition des Staatsorganes oder der Staatsorgane gestellt ist, denen die Verfassungsurkunde die gesetzgebende Gewalt überträgt" 1 7 6 . Allgemein gilt nach der WRV der Reichstag als das oberste rechtsetzende und die Rechtsanwendung kontrollierende Organ, i h m steht auch die Möglichkeit der Anklage des Reichspräsidenten zu 1 7 7 . Faktisch hatte der Reichspräsident aufgrund seiner unmittelbaren Wahl eine eigenständige Funktion gegenüber dem Reichstag, verfügte er über das Recht, den Reichstag aufzulösen und über den Ausnahmezustand zu entscheiden. Versteht man Souveränität als konkrete politische Macht, so lag diese zumindest i m Ausnahmefall, i n der Krise beim Reichspräsidenten. Er konnte auch entscheiden, ob eine Krise vorliegt. C. Schmitt kennzeichnet die Situation: „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet 178 ." Die Souveränität i m Weimarer Staat lag 178 G. Anschütz, S. 39; zum Verhältnis Gesamtstaat u n d Länder u n d damit zur Stellung des Bundesrates vgl. O. Meissner, Das neue Staatsrecht des Reichs u n d seiner Länder, B e r l i n 1921, S. 5, 7. 174 G. Anschütz, S. 41. 175 Vgl. R. Thoma, Das Reich als Bundesstaat, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 174 ff. 176 R. Thoma, Die F u n k t i o n der Staatsgewalt, Grundbegriff u n d G r u n d sätze, S. 140. 177 Vgl. F. Stier-Somlo, Übersicht über die Zuständigkeit des Deutschen Reichstages, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 407. 178 C. Schmitt, Politische Theologie, S. 11.
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— folgt man einer solchen Begriffsbestimmung, und nur diese wurde politisch wirksam — insoweit nicht beim Träger der Staatsgewalt, dem Volke, sondern beim Staate, personifiziert i m Reichspräsidenten. Diese verfassungsrechtlich mögliche Lage galt, da die sozialen Voraussetzungen der Volkssouveränität nicht gegeben waren. Einen Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und A r t . 109 Abs. 1 WV, Gleichheit vor dem Gesetz, stellte H. Jahrreiß her. A r t . 109 bezeichnet nach i h m ein Grundprinzip der politischen Ordnung, das deutsche Volk w i r d i n Gleichheit beherrscht. „Dazu gehört: Das deutsche Volk ist i n gleicher Weise zu den i h m zugewiesenen Herrschaftsakten zugelassen und zu respektieren: Das deutsche Volk herrscht i n Gleichheit." Gemäß A r t . 109 W V ist das deutsche Volk Subjekt und Objekt der gleichen Herrschaft. I n der subjektiven gleichen Herrschaft drücken sich die Prinzipien des demokratischen Wahlrechts (Art. 17 u. 22 WV), der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 109 Abs. 2 WV) und der politischen Grundrechte (Art. 118, Meinungsfreiheit; A r t . 123, Versammlungsfreiheit; A r t . 124, Vereinigungsfreiheit) aus 1 7 9 . Gleichzeitig w i r d aber m i t einer solchen Interpretation dem Gleichheitspostulat sein materialer Bezug genommen, es w i r d realisiert gesehen i n der Gesamtverfassung als Ausdruck eines Gerechtigkeitsprinzipes wie es sich gewohnheitsrechtlich entfaltet hat 1 8 0 . Es w i r d nicht verstanden als Verpflichtung, die sozialen Bedingungen für Volkssouveränität, d. h. für Herrschaft aller i n gleicher Freiheit herzustellen. Theorie und Praxis waren so bestimmt durch die Reduktion der Souveränität auf eine Staatssouveränität. Grenzen der Staatssouveränität bildeten die subjektiven öffentlichen Rechte, bildete das Gesetz selbst. Es liegt i n der Konsequenz dieser Entwicklung, wenn H. Kelsen den Souveränitätsbegriff i n seiner „reinen Rechtslehre" eliminiert 1 8 1 . „Es ist eine Eigentümlichkeit der auf die Gesellschaft gerichteten Erkenntnis, daß sie stetig Gefahr läuft, das von ihr zu erfassende Wesen der Dinge m i t einem von dem Erkennenden gewollten Wert zu vermengen. Solch eine Maske, hinter der sich Herrschaftsansprüche verschiedenster A r t verbergen, ist die Lehre von der Souveränität. Was hat aber die Wissenschaft von Staat und Recht nicht alles schon für souverän erklärt? Daß anstelle der Lehre von der Fürsten oder Volkssouveränität — 179 H. Jahrreiss, Die staatsbürgerliche Gleichheit, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 624 ff. (S. 633 ff.). 180 H. Jahrreiss, S. 628; ähnlich auch i n der Erörterung des A r t . 109 R. Thoma, Die Funktionen der Staatsgewalt, Grundbegriffe u n d Grundsätze, S. 151. 181 Vgl. etwa H. Kelsen, Der Wandel des Souveränitätsbegriffes (1931), i n : H. K u r z (Hrsg.), Volkssouveränität u n d Staatssouveränität, S. 164 ff.; ders., Das Problem der Souveränität u n d die Theorie des Völkerrechts, 2. A u f l . Tübingen 1928.
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die Lehre von der Staatssouveränität tritt, w i r d als wissenschaftlicher Gewinn gebucht. Und doch bedeutet dieser Fortschritt der Theorie nur eine Wendung der Front, gegen die sich, i n ein wissenschaftliches Gewand verkleidet, politische Kräfte richten. Ist es bisher der Kampf u m die Macht i m Staate, so w i r d es nunmehr der Kampf des Staates gegen überstaatliche Mächte, i n dem die Souveränitätstheorie die Ideologie liefern soll. Bis schließlich die Lehre von der Souveränität des I n d i v i duums die Fahne des Liberalismus und Anarchismus i m Kampf gegen den Staat w i r d 1 8 2 . " Nach H. Heller war überall dort, wo an einem i n seiner logischen Geltung von menschlichem und göttlichem Willen unabhängigen ordre naturel, sei es i n grotianischer, marxistischer oder liberal-rechtsrationalistischer Form, als Ersatz des positiven Rechts geglaubt wird, ein Verständnis des Souveränitätsproblems grundsätzlich ausgeschlossen. Die gleiche Unmöglichkeit des Verständnisses liege auch dort vor, wo m i t dem heute herrschenden Positivismus das Recht als bloßes Willenserzeugnis, ohne jede überpositive Geltungsgrundlage, ohne Beziehung dieses Willens auf Rechtsgrundsätze vorgestellt werde. Das Wesen der Souveränität bestehe vielmehr i n der Positivierung von Rechtsgrundsätzen zu obersten, die Gemeinschaft determinierenden Rechtssätzen 183 . Die Positivität des Rechts gründe einerseits i n der Idealität von Rechtsgrundsätzen, andererseits i n der gesellschaftlichen Faktizität einer letztlich entscheidenden Willenseinheit, welche den Rechtssatz positiviere 1 8 4 . Die inhaltliche Ausgestaltung des Souveränitätsbegriffes wurde i n der Staatstheorie weniger vom Verfassungsrecht her geleistet, sondern war eine Beschreibung dessen, was zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Verhältnissen unter Souveränität verstanden wurde 1 8 5 . I n der dogmengeschichtlichen Entwicklung erscheint Souveränität zunehmend als Bestimmung des Ausmaßes, i n dem der einmal existierende Staat zur Autorität und Herrschaft berufen ist. Souveränität wurde vom Staate her gedacht, m i t dem Staatsbegriff selbst verbunden, nicht 182
H. Kelsen, Der Wandel des Souveränitätsbegriffes, S. 164 f. Vgl. H. Heller, Die Souveränität, abgedr. i n : H. Heller, Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S.31ff. (S. 73 ff.); ders., Die Krisis der Staatslehre, i n : ders., Gesammelte Schriften, S. 27. 184 H. Heller, Die Souveränität, S. 72. 185 Vgl. P. Häberle, Z u r gegenwärtigen Diskussion u m das Problem der Souveränität, i n : AöR, Bd. 92, S. 259 ff. (S. 265); vgl. auch W. Henke, Die v e r fassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, a.a.O., H. spricht von einer ideologischen Verfehlung der verfassungsgebenden Gewalt i n der Lehre von der Volkssouveränität (S. 43 ff.); 17. Steiner, Verfassungsgebung u n d verfassungsgebende Gewalt des Volkes, S. 31 ff. m. w. N.; vgl. auch W. v. Simson, S. 29. 188
3.4 Weimarer Verfassung
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als konstituierendes Element der Staatsordnung verstanden, die Kontinuität des historischen Staatsverständnisses wurde so gewahrt. Eine einheitliche Theorie der Weimarer Verfassung, welche die grundrechtlichen, demokratischen und die sozialen Elemente zu einer Einheit bringt, wurde i n Ansätzen nur von H. Heller entwickelt. I m allgemeinen wurde die Weimarer Reichsverfassung als ein kompromißartiger Querschnitt durch die Auffassungen der damaligen Zeit über die angemessene Verteilung der Gewalten und eine gerechte Ordnung menschlichen Gemeinschaftslebens betrachtet. Den Ideen des Sozialismus wurde i n der Aufnahme von sozialen Grundsätzen eine gewisse Anerkennung gezollt, es w i r d der weiteren Entwicklung überlassen, „ob und wie zwischen der Gedankenwelt des Sozialismus und der des Individualismus ein Ausgleich gefunden werden k a n n " 1 8 6 . C. Schmitt bezeichnete die Weimarer Reichsverfassung als einen dilatorischen Formelkompromiß 1 8 7 . Die Grundrechte selbst wurden i n ihrer Gesamtheit unterschiedlich gedeutet, sowohl als eine Entscheidung für den bürgerlich-liberalen Rechtsstaat und gegen einen sozialistischen oder kommunistischen Staat, ebenso aber auch als Entscheidung für einen sozialistischen Rechtsstaat und gegen den überkommenen bürgerlich-liberalen Staat, eine solche Erklärung erlangte aber keine praktische Bedeutung. Herrschend war die Annahme, daß die Grundrechte Ausdruck des demokratischen Liberalismus sind, ihre Funktion es sei, Schutz für Minderheiten zu gewähren gegenüber der Regierung der Mehrheit, vor allem aber den Schutz bürgerlicher und politischer Freiheit i m Dienst der rechtsstaatlichen Idee zu sichern 188 . R. Smend bezeichnete die Grundrechte als Faktoren sachlicher Integration und als inhaltliches „Sinnsystem" der vom ganzen deutschen Volke anerkannten K u l t u r , dem alle staatliche Betätigung i n Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Justiz unterworfen sei 1 8 9 . H. Heller und R. Smend haben jeder für sich i n ganz unterschiedlicher Weise die einheitsbildende Funktion der Verfassung für den Staat herausgestellt. Während H. Heller diese Funktion i m Begriff des 188 H. Lehmann, A r t . 151 Abs. 1, Ordnung des Wirtschaftslebens, i n : H. C. Nipperdey (Hrsg.), Bd. 3, S. 135, 138; vgl. auch O. Kirchheimer, Weimar — u n d was dann? B e r l i n 1930, S. 44. 187 Vgl. C. Schmitt, I n h a l t u n d Bedeutung des Zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, S. 582. 188 vgl R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze, S. 8 ff., i m übrigen siehe die Nachweise bei C. Schmitt, S. 583 ff. 189 R. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 164. — Vgl. hierzu P. Badura, Staat, Recht u n d Verfassung i n der Integrationslehre, i n : Der Staat 1977, S. 305 ff.
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
sozialen (und demokratischen) Rechtsstaates zusammenfaßte und damit rechtsstaatliche Sicherung individueller Freiheit und sozialen Ausgleich m i t demokratisch organisierten Entscheidungsprozessen verband, dachte R. Smend die Einheit i n einer ideellen Integration, i n der objektivierten und tradierten Geisteswelt des Bürgertums. Dieser Ansatz von R. Smend konnte keine „reale Integration" (M. Drath) vermitteln. Die Verfassung zerfiel i n ihrer Realisierung i n unterschiedliche Teilaspekte, positive Geltungskraft behielten nur formale Anforderungen an die Legalität und behielten individuelle Freiheitsrechte und Eigentumssicherung, bis auch diese der legalen Entscheidung der Ausnahmegewalt anheimfielen. Die staatlich verfaßte Gesellschaft erhielt durch die Weimarer Reichsverfassung keine einheitliche politische Gesamtordnung. Die politisch-gesellschaftliche Ordnung realisierte sich kontrovers und w i dersprüchlich i n verschiedenen Teilsystemen von Staat, Gesellschaft, Ökonomie, Partei- und Verbandsinteressen, Bildung. Der „Staat" wurde i n der vorherrschenden Interpretation zur Neutralität verpflichtet. Funktion des Staates sollte es sein, das gesellschaftliche Dasein zu garantieren, seine Interventionen i n das gesellschaftliche Leben hatten sich auf die Wiederherstellung der gestörten Bedingungen der freien Konkurrenz zu beschränken 190 . A u f diese Weise war keine Lösung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme und keine Realisierung von Demokratie gegen die Kräfte, welche das überkommene politische System bestimmt hatten, möglich 1 9 1 . Der Trennung von Staat und Gesellschaft lag ursprünglich die A n nahme zugrunde, daß nicht mehr bestimmte einzelne über andere einzelne Herrschaftsgewalt ausüben sollten, nicht ein Stand (Adel) über einen anderen (Bauern), sondern nur der Träger der umfassenden staatlichen Gewalt einheitlich gegenüber allen; i m übrigen ist der einzelne „frei", d. h. frei von anderer staatlicher Herrschaftsgewalt. „ A u f diese Weise entsteht die neue, dem Staat als die Organisation der einheitlichen politischen Herrschafts- und Entscheidungsgewalt gegenüberstehende Gesellschaft der „freien" und rechtlich gleichen einzelnen und ihrer Gruppierungen 1 9 2 ." Die Verrechtlichung der Verwaltungsfunktionen und die Ausbildung des Amtsgedankens unterstütze eine „Verselbständigung" des Staates und der Staatsorgane und 190
So E. R. Hub er, Z u r Verfassungstheorie der Weimarer Zeit, S. 30 f. Siehe hierzu K . D. Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, i n : Vierteljahreshef te f ü r Zeitgeschehen 1955, S. 7 f. 192 E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung v o n Staat u n d Gesellschaft i m demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, i n : Festschrift f ü r W. Hafermehl, 1972, S. 11 ff. (S. 13). 191
3.4 Weimarer Verfassung
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bewirke den Ausschluß von personalem Eigentum an öffentlicher Herrschaft 198 . Staat und Gesellschaft sollen so — nach E. W. Böckenförde — nicht zwei je geschlossene, voneinander isolierte Verbände oder Gemeinwesen sein, der Staat sei vielmehr die politische Entscheidungs- und Herrschaftsorganisation für eine Gesellschaft. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft bedeute eine institutionelle Freiheitssicherung 194 . I n ihren Leistungsbedürfnissen und -anforderungen sind Staat und Gesellschaft aufeinander bezogen 195 . Es hängt damit wesentlich von dem Verständnis der Grundrechte und des Demokratieprinzipes ab, i n welcher Weise das Verhältnis von Staat und Gesellschaft gedeutet wird. Die Geschichte der Weimarer Verfassung zeigte, daß die Formalisierung der Grundrechte und ihre Positivierung als individuelle Freiheitsrechte ihre gesetzliche Konkretion ausliefert an die durch die Grundrechte als subjektive Rechte begünstigten sozialen Gruppen. Das Gleichheitspostulat beinhaltete am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Abschaffung der Standes Vorrechte, „also die Rechtsgleichheit i n subjektiver, persönlicher Bezeichnung", seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch Rechtsgleichheit i n objektiver, sachlicher Bezeichnung 196 . Bestimmt wurde das Postulat i n der Verfassungspraxis nur als formale Gleichheit. Die „dem Prinzip nach freieste, auf der Gleichheit des Rechts beruhende Gesellschaft" entläßt so aus sich „die materielle Unfreiheit" 1 9 7 . „Das Prinzip der rechtlich freien, gleichen, kapitalbildenden Persönlichkeit war zum Prinzip des gesamten bürgerlichen Rechts erklärt. Die damit i n Gang gesetzte geschichtliche Bewegung führte notwendigerweise nicht nur die besitzbestimmte soziale Ungleichheit, sondern i n deren Stabilisierung und Verschärfung auch den klassenmäßigen Antagonismus der Gesellschaft und damit die neue soziale Unfreiheit auf dem Boden der Rechtsgleichheit herauf 1 9 8 ." Der Gedanke individueller Freiheit vom Staate w i r d vielfach immer noch vorangestellt, der K e r n der Grundrechte und des Gesetzmäßigkeitsprinzips w i r d i n der Abgrenzung zwischen Bürger und Staat gesehen, ohne daß — wie U. Scheuner kritisiert — deutlich gemacht werde, daß nicht das Gesetz an sich, sondern allein die von einer frei gewählten Volksvertretung beschlossene oder er198
Vgl. H. Heller, Staatslehre, Leiden 1963, S. 132. Vgl. E.-W. Böckenförde, S. 16 ff. 195 Vgl. hierzu H. Heller, S. 237, 238 ff. 196 Vgl. hierzu H. Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz, i n : W d S t R L H e f t 3, S. 26. 197 E.-W. Böckenförde, S. 25 unter Hinweis auf L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung, Bd. 1, S. 123 ff., S. 131 ff. 198 E.-W. Böckenförde, Entstehung u n d Wandel des Rechtsstaatsbegriffes, S. 67; vgl. auch K . Marx, Z u r Judenfrage. 194
7 Grimmer
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
mächtigte Norm die nötige Garantie gewähre, daß nicht ein Höchstmaß an individueller Staatsferne, sondern eine i n Einklang m i t der politischen Verantwortung und Pflicht des Bürgers eines freien Staates bemessene und zugleich i n den politischen Einrichtungen gesicherte Freiheit den Kern des Rechtsstaates bilde 1 9 9 . Die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft w i r d deshalb auch unter dem Gesichtspunkt der Einheit des politischen Verbandes, der dialektischen Verbindung zwischen politischem Bereich und den Teilbereichen der Ökonomie, Arbeit und Bildung abgelehnt 200 . 3.4.3 Legitimationsverlust der Weimarer Republik Scheitern einer sozialstaatlichen freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung — Zusammenfassung
Der Kampf des liberalen Bürgertums war u m die Freiheit vom Staate, um eine staatsfreie Individual- und Wirtschaftssphäre gegangen. Dieses Staatsverständnis wurde m i t der Entfaltung der modernen Industriegesellschaft anachronistisch. Politische Aufgabe war die A u f hebung der sozialen Widersprüche. Die Weimarer Verfassung enthielt einen Katalog sozialer Grundrechte und stellte auf einen demokratischen Prozeß staatlich-gesellschaftlicher Entwicklung ab. I n dem Maße, i n dem die W V zur Rechtfertigung überkommener staatlichgesellschaftlicher Strukturen denaturiert wurde, konnte sie nicht mehr als Grundkonsens staatlicher Ordnung fungieren, vermittelte sie zwar Legalität, aber nicht; Legitimität. Die überlieferte politisch-gesellschaftliche Struktur und die darin begründete und sie zugleich bestätigende Legitimität waren zunächst m i t der Novemberrevolution von 1918 doppelt gebrochen: Sturz der Monarchie, Aufhebung einer bürgerlichen Klasse als allein staatsbestimmend — soweit das „ V o l k " i n Betracht kam. Die Weiterentwicklung das Kapitalismus bedingte, daß sich das Verhältnis einer „bürgerlichen" Regierung zur Wirtschaft verschob. Das Proletariat, der vierte Stand, war seiner selbst und seiner Umwelt bewußt geworden, es ist nicht mehr nur Objekt des bürgerlichen Kapitalismus und des Staates. Gesellschaft und bürgerlicher Staat werden i n sich real pluralistischer, der Staat seiner Verfassungsordnung nach potentiell demokratisch, die Staatspolitik kann nicht mehr als gegenüber der Gesellschaft ohne weiteres verselbständigt und durch bloße historisch-politische Vorgegebenheiten auch schon legitimiert gedacht werden 2 0 1 . 199 U. Scheuner, Die neuere E n t w i c k l u n g des Rechtsstaates i n Deutschland, S. 231; vgl. auch H. Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft", S.40 ff. (S.42); H. Hattenhauer, Zwischen Hierarchie u n d Demokratie, F r a n k f u r t / M . 1971, S. 105 ff. 200 Vgl. H. Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft", S. 24 ff.
3.4 Weimarer Verfassung
99
Nach dem Zerfall des alten Regimes war der Staat der Weimarer Republik i n seiner Legitimationsbedürftigkeit offen. Die Legitimität dieses Staates und seiner Herrschaftsordnung w i r d i n der Weimarer Verfassung ihrer Präambel nach i n der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, konkretisiert i n repräsentativen Entscheidungsverfahren (vgl. A r t . 181 WV) begründet gesehen. Legitimität ist hier nicht mehr vorgegeben, die Erhaltung und Vermittlung von Legitimation w i r d zur ständigen Aufgabe. Was als verfassungsgebende Gewalt des „Volkes" ein abstraktes Legitimationsprinzip zu sein beansprucht, w i r d bei den gegenläufigen sozialen Interessen selbst dem Prozeß der konkreten Konfliktentscheidungen ausgesetzt, muß sich legitimieren i n seiner „Brauchbarkeit" für akzeptable politische und sozioökonomische Entscheidungen und Gestaltungen. Konkrete Verfassungsnormen sollen den Bestand des politischen Systems fördern: Formale Legitimation durch freie, gleiche und unmittelbare Wahlen des Reichstages — demokratisches Prinzip, Reichstag als Repräsentant der Volkssouveränität; daneben Autorität des Staates i n letzten Konfliktlagen, dargestellt i n der Autorität des Reichspräsidenten, welcher zwar auch durch allgemeine und freie Wahlen berufen wird. Aber die Ausstattung seines Amtes m i t vielfältigen Rechten, insbesondere m i t dem Recht, über den „Ausnahmezustand zu verfügen", verselbständigt i h n und verkörpert so i n i h m die Kontinuität der sich selbst rechtfertigenden Staatsautorität. Das Parlament w i r d weiterhin nur als Staatsorgan verstanden, eine prinzipiell neue Auffassung des Parlaments als organisatorische Zusammenfassung der politischen Willensbildung des Volkes insgesamt bricht nicht durch. Sie kann auch nicht durchbrechen, weil weder das politische noch das theoretische Bewußtsein der neuen Lage mächtig sind und die zugespitzten sozialen und ökonomischen Konflikte die Volksvertretung als mögliche Handlungseinheit unmöglich machen. Das verfassungsrechtlich prätendierte Prinzip der Souveränität des ganzen Volkes w i r d real widerlegt. Die ökonomische, soziale und politische Entwicklung, die antagonistischen Widersprüche waren zu weit gediehen, als daß — jetzt noch — das Prinzip der Volkssouveränität und formale Legitimation per se Legitimität des auf ihnen organisatorisch aufgebauten Staates hätten bewirken können. Der Staat war dem nunmehr voll i n der politischen Organisation durchgebrochenen bürgerlichen Kapitalismus i n der Gesellschaft und ihren Widersprüchen ausgeliefert oder er war Diktatur. Die formalen Legitimationsmittel zielten auf eine Aktivierung der möglichen Zustimmungsbereitschaft zur neuen verfassungsmäßigen staatlichen Ordnung. „Eine Garantie der Rechtmäßigkeit der von der Volkslegislative beschlossenen Gesetze «οι zu verschiedenen Versuchen der Legitimitätsbegründung vgl. bei Th. Würtenb erger jun., Die L e g i t i m i t ä t staatlicher Herrschaft, S. 253 ff. 7·
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3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
konnte man nur für gegeben achten, sofern man i n der demokratischen Gesetzgebung einen A k t der sich selbst bestimmenden Vernunft sah 2 0 2 ." Eine solche idealistische Rechtfertigung oder eine Rechtfertigung des Staates als Institution i n sittlichen Rechtsgrundsätzen fand bei den gegebenen sozioökonomischen Interessengegensätzen und Machtansprüchen keine faktische Bestätigung mehr. Formale rechtsstaatlich-demokratische Legalität allein konnte Legitimität nicht vermitteln. Nach der Konzeption der Weimarer Verfassung war die formale Legitimation einer sich zunächst formal-demokratisch fundierenden Staatsgewalt „Instrument" zur Gestaltung einer freien, gleichen und sozialen Gesellschaft. Die Gewährung und Gewährleistung von Grundrechten ist Ausdruck dieser Konzeption: Eine freie Gesellschaft, Freiheit und Besitz des Individuums und seine soziale Sicherung sollen die gesellschaftliche Basis und ihre Entfaltung sichern. Der verpflichtende programmatische Anspruch der Grundrechte bot eine Chance, daß materiale und formale Legitimation zur Einheit werden, daß die Grundrechte nicht nur einen „dilatorischen Formelkompromiß" darstellen, sondern gleichzeitig eine Konsensbasis bilden, welche i n Demokratie zu konkretisieren und fortzubilden war. Die Ausgangslagen waren aber für die verschiedenen sozialen Klassen zu unterschiedlich, die gesellschaftlichen Widersprüche zu stark, eine allein idealistische Rechtfertigung des Staates i m demokratischen Prinzip und den Grundrechten reichte als allgemeine Legitimation nicht aus. Es blieb allein bei der formalen Legitimation. Es fehlte die Umsetzung i n gesellschaftspolitisch-emanzipatorische Maßnahmen, es fehlte so die materielle Basis. Garantiert und realisiert waren nicht allgemeine, gleiche Freiheit und Sozialität als Bedingungen dafür, daß formale Legitimation i n materiale „umschlägt" 2 0 3 . Die Staatslehre der Weimarer Zeit hat wesentlichen A n t e i l daran, daß eine allgemeine Legitimation für diesen Staat nicht gefunden werden konnte: I n der Sicherung des status quo durch sogen, institutionelle Garantien, als „Wesensgehalt" der Grundrechte der Weimarer Verfassung, i n der Deklaration der Grundrechte zu idealistischen Wertgebilden 2 0 4 , i n welchen sich eine philosophisch gebildete bürger202
H. Heller, Staatslehre, 3. A u f l . Leiden 1963, S. 221 ff., vgl. auch S. 278. Grundlage bildete eben nicht „die demokratische L e g i t i m i t ä t eines Wahlrechts der proletarischen Revolution", w i e es Smend m i t A r t . 22 W V gegeben sah, vgl. R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 266. 204 Vgl. R. Smend, S. 166: „Legitimitätsbegründend sind die konkreten Werte, die die Geltung einer bestimmten staatlichen Rechtsordnung einerseits fordern u n d andererseits t r a g e n . . . " , S. 216/217: „Ohne Legitimität, d . h . ohne Geltungsbegründung geschichtlich geltender, dem Staat u n d seinem Recht transzendenter Werte gibt es keine Geltung der positiven Verfassungs208
101
3.4 Weimarer Verfassung
liehe Gesellschaft w i e d e r f i n d e n k a n n . T h e o r e t i s c h i n t e n d i e r t das I n t e g r a t i o n i n diese klassenbezogene V e r f a ß t h e i t , p o l i t i s c h - p r a k t i s c h
und
i m S i n n e a l l g e m e i n e r Rechtstheorie b e d e u t e t das L e g i t i m i e r u n g
der
p o s i t i v e n Staats- u n d R e c h t s o r d n u n g : I m N a m e n dieses W e r t s y s t e m s s o l l diese p o s i t i v e O r d n u n g gelten, l e g i t i m s e i n 2 0 5 . Ebenso w e r d e n
in
d e r Staatslehre aber auch d e r V e r z i c h t a u f eine i d e e l l e R e c h t f e r t i g u n g u n d die u n m i t t e l b a r e P o s i t i v i e r u n g u n d V e r r e c h t l i c h u n g
der
Legiti-
m i t ä t als L e g a l i t ä t v e r t r e t e n 2 0 6 u n d w e r d e n p o l i t i s c h - p r a k t i s c h w i r k s a m . L e g a l i t ä t a l l e i n i s t f ü r eine D e m o k r a t i e als L e g i t i m a t i o n u n z u r e i chend, L e g a l i t ä t u n d L e g i t i m t i ä t s i n d z w e i selbständige, n o t w e n d i g e Bedingungen demokratischer Ordnung. I h r Zusammenhang w i r d i m g e w a l t e n t e i l e n d e n m a t e r i e l l e n Rechtsstaat h e r g e s t e l l t 2 0 7 . L e g a l i t ä t u n d sie stützende f o r m a l e L e g i t i m a t i o n b e w i r k e n n u r d i e S t a b i l i s i e r u n g des status quo, b e w i r k e n d i e i n s t i t u t i o n e l l e F u n k t i o n a l i s i e r u n g des Staates f ü r u n d d u r c h j e n e Klassen, w e l c h e m i t Besitz u n d B i l d u n g ü b e r f r e i h e i t s s t i f t e n d e , i n der D e m o k r a t i e w i r k s a m e H e r r s c h a f t s m i t t e l v e r fügen. D i e b ü r g e r l i c h e Gesellschaft u n d d i e v o n i h r i n A n s p r u c h g e n o m m e n e p o l i t i s c h e O r d n u n g s i n d nach i h r e r n o r m a t i v e n u n d ideologischen L e g i t i m a t i o n s g r u n d l a g e i n d e r W e i m a r e r V e r f a s s u n g aber das „ h e r r schaftsfreie S p i e l " gleicher K r ä f t e . Sie k a n n deshalb i m G r u n d e k e i n e r u n d Rechtsordnung s e l b s t . . . " , S. 265: „Grundrechte proklamieren ein bestimmtes K u l t u r - , ein Wertsystem, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein soll." — Diese Integrationslehre ist vor allem eine Legitimationslehre, sie zeigt n u r nachträglich auf, was vorher l e g i t i m i tätsbegründend war, w o r i n der bürgerlich-liberale Staat die Entfaltung b ü r gerlich-kapitalistischer Interessen rechtfertigte. 205 R. Smend, S. 266: Die Grundrechte haben „der Weimarer Verfassung die L e g i t i m i t ä t eines Kultursystems gegeben, das die bisherige bürgerliche Rechtsordnung i n ihren Kerninstituten (Vertragsfreiheit, Eigentum, Ehe, E r b recht) festhält u n d dadurch die f ü r das bürgerliche Zeitalter bezeichnendste u n d wichtigste Legitimitätsquelle enthält." 206 Vgl. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Bad H o m b u r g usw. 1966, S. 278; ders., Reine Rechtslehre, 2. A u f l . Wien 1960, S. 213; v o r allem aber C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 87 „Eine Verfassung ist l e g i t i m . . . , w e n n die Macht u n d A u t o r i t ä t der verfasungsgebenden Gewalt, auf deren Entscheidung sie beruht, anerkannt ist . . . , sie bedarf keiner ethischen oder juristischen Norm, sondern hat ihren Sinn i n der politischen Existenz." 207 Vgl. H. Heller, Staatslehre, S. 222. Heller idealisiert allerdings noch die Legitimationsbedingungen, w e n n er sagt: „ D i e L e g i t i m i t ä t einer gesellschaftlichen Ordnung ist entscheidend f ü r den Macht- u n d Geltungsanspruch derjenigen gesellschaftlich-politischen Herrschaft, welche die betreffende Ordnung setzt u n d i n Wirksamkeit erhält . . . Z u r Sicherung ihrer Macht u n d Ordnung k a n n sich keine Herrschaftsorganisation bloß auf ihre Zwangsapparatur verlassen. I m m e r muß sie nach Legitimierung, d. h. danach streben, die Beherrschten i n eine Willens- u n d Wertgemeinschaft einzubeziehen, die ihren Machtanspruch honoriert; sie muß also versuchen, ihren H e r r schaftsanspruch durch ideelle Gehalte zu rechtfertigen u n d als normative Pflicht bei den Beherrschten zu innerer Anerkennung zu bringen." (S. 87 f.). „Der Staat ist gerechtfertigt, sofern er die zur Sicherung des Rechts auf einer bestimmten Entwicklungsstufe nötige Organisation darstellt." (S. 222).
102
3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
lei (politische) Herrschaft, am allerwenigsten eine Klassenherrschaft rechtfertigen — deshalb ist auch eine undemokratische Wirtschaftsstruktur, wie Heller dargelegt hat, objektiv unvereinbar m i t politischer Demokratie 2 0 8 . „Herrschaftsfreies Spiel" gleicher Kräfte hat sich auch i n der öffentlichen Meinung zu ereignen, denn dieser kommt eine besondere Legitimationsfunktion bei der Sicherung staatlicher Einheit zu 2 0 9 . Die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft auf der Gewährleistung des Eigentums und dessen verfassungsrechtliche Sicherstellung bedeutet jedoch, daß die Verfügungsmöglichkeit über Produktionsmittel das politische Spiel der gesellschaftlichen Kräfte mitbestimmt. Der Staat, wie i h n die Weimarer Verfassung konzipiert, ist als „Klassenkompromiß" offen, sowohl sozial-emanzipatorisch als auch konservativ-reaktionär i n politische Praxis umsetzbar. Er hat als seine Legitimationsbedingung, i n welcher er sich allgemein rechtfertigen kann, i n welcher sich auch öffentliche Meinung als Legitimationsform ereignen kann, die Herstellung eines herrschaftsfreien Spiels der gleichen Kräfte, die Herstellung des sozialen „Ausgleichs" 2 1 0 . Die i n der Weimarer Verfassung postulierte Legitimation durch Bewährung i n der Aufgabe insgesamt akzeptabler sozioökonomischer und politischer Gestaltung wurde sowenig wie von den Verfassungsjuristen dieser Zeit von den politisch entscheidend bestimmenden gesellschaftlichen Gruppen erkannt und verwirklicht. Die Verfassung wurde einseitig i n Praxis umgesetzt, der Staat wurde wieder autoritärbürgerlicher Staat, er scheiterte an einem bürgerlich-faschistischen Bewußtsein und bürgerlich-kapitalistischen Interessen. Der juristische Positivismus rechtfertigte den Staat i n seiner je konkreten Existenz. Die zwei Seiten einer Rechtfertigung staatlicher Gewalt: materiale Legitimität und formale Legalität fallen m i t der Entfernung der Weimarer Republik von ihrem revolutionären Ausgang, i n welchem Legitimität und Legalität identisch waren, immer mehr auseinander. Das tradierte positivistische Legalitätsprinzip behält allein noch Gewicht: staatliche Herrschaft hat vor allem „legal" zu sein und die Legalitätsdiskussion u m die Einsetzung A. Hitlers ist kennzeichnend. I n der Praxis wurde dies eine Legalität, die nicht einmal mehr i n dem beanspruchten formalen Legitimationsprinzip, i n der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, i m demokratischen Prinzip fundiert war, sondern i m A k t einer Selbstlegitimation staatlicher Gewalt durch die Organträger dieser Staatsgewalt, fundiert auch i n einer sozialen Umwelt, 208
H. Heller, S. 116, 136. Vgl. H. Heller, S. 191. 210 Vgl. auch O. Kirchheimer, 9. Jhg. 1932, S. 8 ff. 209
Legalität u n d Legitimität, i n : Die Gesellschaft,
3.4 Weimarer Verfassung
103
welche gewähren ließ oder ihre Interessen gewährleistet sah. Der parlamentarischen Gesetzgebungsmacht gegenüber stand die unmittelbar formal legitimierte Herrschaftsmacht des Reichspräsidenten und i n i h m und i n der Tradition war auch das — zivile und militärische — Regierungs- und Verwaltungssystem legalisiert, die Befugnisse des A r t . 48 W V bedeuteten die Kompetenzsetzung der Verwaltung. So geriet die Legalität letztlich i n Gegensatz zum demokratischen Legitimationsprinzip, i n Gegensatz zur Verfassung selbst. Entgegen allen Normen und vorausgesetzten Prinzipien der Weimarer Verfassung wurden i m Widerstreit gegenläufiger gesellschaftlicher Interessen die Ansprüche dieser Verfassung nach einer Legitimation des Staates i n Demokratie und i n der Herstellung ihrer materiellen sozioökonomischen Bedingungen verfehlt, die so verfaßte staatliche Herrschaft i n bloßer Staatsautorität begründet, zum Schluß nicht einmal mehr ummantelt von parlamentarisch-demokratischer Partizipation und grundrechtlichen Gewährleistungen. Die „soziale Funktionalisierung" des Staates als ein notwendiger materialer Legitimationsgrund wurde von jenen bürgerlich-kapitalistischen Gruppen, welche als gesellschaftlich bestimmend staatsbestimmend waren, i n seiner Notwendigkeit nicht erkannt, nicht gewollt. Legitimation konnte aber nicht allein i n Verfassungsprmzipien, welche Idee und Programm blieben, i n einer abstrakten Eignung des so verfaßten Staates, welcher die politische Praxis fehlte, begründet werden. Die Weimarer Verfassung hat ihrem eigenen normativen Anspruch nach unterschiedliche Formen der Legitimationsvermittlung für diesen Staat: Staatliche Herrschaft w i r d legitimiert durch Autorität, durch beschränkte parlamentarisch-demokratische Partizipation und durch grundrechtliche Rechtsgewährleistungen, die Legitimation ist funktionalisiert. Der Zerfall der staatlichen Einheit i n unterschiedlich legitimierte Organisationsformen machte diese für die gesellschaftlich fundierten Interessen besetzbar. Der Staat der Weimarer Republik ist am Ende wieder der Staat einer bürgerlich-kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Zur Verdeckung der Widersprüche dienen Formen einer „Als-Ob-Legitimation": als ob jeder über das allgemeine und gleiche Wahlrecht gleiche politische Mitwirkungsmöglichkeiten habe, als ob jeder gleiche Grundrechte als deren Bedingung habe, als ob sich staatlich-administratives Handeln an einem „Allgemeinwohl" ausrichte 211 . Legalität als formale Legitimation ist offensichtlich i n einer ideologisch und ökonomisch differenzierten Gesellschaft unzureichend, u m eine freiheitliche und soziale Ordnung zu errichten und zu sichern. Die 111 Vgl. auch G. Lukaés, Geschichte u n d Klassenbewußtsein, Ausg. Neuwied 1970, S. 410.
104
3. Verfassungsentwicklung i n Deutschland
Weimarer Verfassung entstand i n revolutionärer Zeit, die künftige soziale Ordnung war offen, also Aufgabe, sie war als freiheitlichsoziale und egalitäre intendiert, sie wollte gleichzeitig die historischgesellschaftliche Kontinuität wahren, es gelang nicht.
TEIL I I
Grundgesetzauslegung als offener und allgemeiner Prozeß 4. Bonner Grundgesetz : Grundrechte und Demokratie Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland steht i n der dargelegten Verfassungstradition und statuiert gleichzeitig eine „neue Ordnung" für das staatliche Leben. Es versteht sich seiner Präambel nach als Ausdruck von Volkssouveränität, wenn festgestellt wird, daß das deutsche V o l k kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz beschlossen hat und Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG stellt lapidar fest: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das Grundgesetz n i m m t die Menschenrechte und Grundrechte — i n der Verfassungsgeschichte zwar unterschiedlich ausgeformt, i n ihren Kernbereichen einer Sicherung von Freiheit und Eigentum aber allgemeiner Ausdruck für das Verhältnis von bürgerlichem Staat und Gesellschaft — auf und erklärt die Grundrechte zu unmittelbar geltendem Recht, an welches Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung gebunden sind. Die soziale und politische Struktur der staatlich verfaßten Gesellschaft w i r d damit verfassungsrechtlich festgelegt. Gleichzeitig bestimmt das Grundgesetz, daß die Staatsgewalt, welche vom Volke ausgeht, von diesem i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Die Ausübung der Staatsgewalt und das heißt die politische Gestaltung staatlichen Lebens ist wiederum an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Die Gestalt der verfassungsmäßigen Ordnung und die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse ist so wesentlich abhängig von Gehalt und Funktion der Grundrechte. Eine Beschreibung des Spannungsverhältnisses von Demokratieprinzip und Grundrechten hat deshalb zunächst zu klären, was der unmittelbare Geltungsgehalt der Grundrechte ist und hat anschließend den Zusammenhang zwischen Grundrechten und Verfassungsordnung (Teil I I I ) insgesamt darzulegen.
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
4.1 Die Bestimmbarkeit der staatlichen Ordnung durch die Grundrechte: ein methodologisches und verfassungsrechtliches Problem Ein Rechtssatz, welcher unmittelbare Rechtswirksamkeit beansprucht und damit als Handlungsanweisung und Entscheidungskriterium für menschliches Verhalten dienen soll, wie dies für das GG insgesamt und durch A r t . 1 Abs. 3 GG für die Grundrechte i m besonderen beansprucht wird, muß gewisse Bedingungen erfüllen, welche unter dem Begriff seiner Operationalität zusammengefaßt werden können. Diese Bedingungen sind: Feststellbarkeit des Normadressaten, also Klarheit über die pragmatische Funktion einer Norm, Bestimmtheit der syntaktischen Struktur und Eindeutigkeit seines semantischen Gehaltes, d. h. seines Geltungsinhaltes, Gebots- bzw. Verbotsgehaltes, seines Bedeutungsgehaltes. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, der Gebots- oder Verbotsgehalt also unmittelbar und eindeutig erkennbar ist, und das heißt, wenn sowohl der soziale Sachverhalt, welcher Regelungsgegenstand einer Norm ist, als auch die A r t und Weise der Regelung, der Wertungsinhalt eindeutig sind, ist ein Normsatz als solcher anwendbar, vollziehbar, hat er eine konkrete Entscheidung i n bezug auf mögliche menschliche Verhaltensweisen zum Inhalt, nicht nur zu seinem Gegenstand. Operationalität bezeichnet so die Bedingung unmittelbarer Geltung; ist diese Operationalität nicht gegeben, so sind zusätzliche Leistungen zu erbringen, u m die Geltungsbedeutung einer Norm für eine konkrete Situation, die „Entscheidungsnorm" zu ermitteln. Die pragmatische Funktion des Grundgesetzes insgesamt ergibt sich aus seiner Präambel und aus einzelnen Grundgesetzbestimmungen, für die Grundrechte i m besonderen auch aus A r t . 1 Abs. 3 GG. Das deutsche Volk i n den Ländern ist fiktiver Normgeber und Normadressat. Es hat m i t A r t . 1 Abs. 3 GG insbesondere den Organen, welche nach Art. 20 Abs. 2 GG die Staatsgewalt ausüben, also den Organen der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht aufgegeben. Die E r m i t t lung der syntaktischen Struktur der Grundrechtssätze ergibt insofern besondere Probleme, als diese Sätze teilweise grammatikalisch nicht vollständig und i n deskriptiver Sprache abgefaßt sind. Diese Probleme können hier vernachlässigt werden, da der präskriptive Charakter der Grundrechtssätze aus A r t . 1 Abs. 3 GG, der präskriptive Sinn des Grundgesetzes insgesamt aus der Präambel folgt. Schwierigkeiten bereitet bekanntermaßen die Ermittlung des semantischen Gehaltes der Grundgesetzsätze, insbesondere der Grundrechtssätze. U m die Frage nach der semantischen Bedeutung oder nach einer
4.1 Bestimmbarkeit der staatlichen Ordnung durch die Grundrechte
107
semantischen Eindeutigkeit eines Normsatzes beantworten zu können, ist zunächst zu klären, für wen ein solcher Normsatz „eindeutig", operational zu sein hat. Die Semantik eines Normsatzes ist abhängig von seiner pragmatischen Funktion, wenn eine Norm über die Bestimmung ihrer Semantik nicht selbst eine Regel enthält. Normadressat der Grundrechte ist nach der Präambel das deutsche Volk, sind nach den einzelnen Grundrechtsbestimmungen „jeder", „alle Deutschen", „alle Menschen", soweit sie vom Geltungsbereich des Grundgesetzes umfaßt werden. Normadressat sind nicht nur jene Menschen, welche die Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung bilden, für welche A r t . 1 Abs. 3 GG eine unmittelbare Geltungskraft der Grundrechte statuiert. Das deutsche Volk i n den Ländern insgesamt hat sich das Grundgesetz gegeben, es wendet sich m i t dem Grundgesetz an sich selbst, normiert darin die neue Ordnung für sein staatliches Leben. Dem V o l k kommt als Träger der Staatsgewalt die Aufgabe zu, A r t und Weise der Grundrechtsrealisierung i n seine politische Meinungsbildung einzubeziehen und zu diskutieren, darüber zumindest i n Wahlen zu beschließen und die politisch-öffentliche Kontrolle über die Realisierung der grundgesetzlich zulässigen Ordnungsformen auszuüben. Die grundlegende Frage jeder Verfassungstheorie ist damit, welche Konkretisierungen allgemeiner Verfassungsrechtssätze sind gültig, haben einen Anspruch auf Verbindlichkeit. Eindeutigkeit oder fehlende Eindeutigkeit ist so ein logisches und ein empirisches Problem. Als nicht eindeutig können jene Wörter, Sätze oder Texte angesehen werden, welche i n der juristischen Literatur oder i n der Rechtsprechung, aber auch i n der öffentlich-politischen Diskussion eine unterschiedliche Interpretation und Inanspruchnahme erfahren, vor allem aber jene, welche Anlaß zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes geben, da hier davon ausgegangen werden kann, daß dieses Gericht regelmäßig nur dann angerufen wird, wenn über die Bedeutung einer Verfassungsnorm nicht allgemeiner Konsens besteht, die Norm also nicht eindeutig verstanden wird. Der ganze Umfang tatsächlicher oder möglicher unterschiedlicher Bedeutungszuerkennungen für Grundrechtssätze könnte nur i n einer umfassenden empirischen Analyse ermittelt werden, welche vorrangig die Spruchpraxis der Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts und das verfassungsrechtliche Schrifttum zu berücksichtigen, aber auch Bedeutungsformen der Grundrechte in der öffentlich-politischen Diskussion i n das Analysefeld einzubeziehen hätte. Die Abgabe eines Minderheitenvotums bei einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, also das Bestehen einer „dissenting opinion" ist ein besonderer Hinweis auf mehrere mögliche Bedeutungsformen, offene Bedeutungsinhalte. Der Umfang der Recht-
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
sprechung zu einzelnen Grundrechten und der Umfang an kommentierender Literatur können als Hinweis auf die nicht gegebene Eindeutigkeit der situationsspezifischen Bedeutung, das unterschiedliche Verstehen einer Grundgesetznorm angesehen werden. Eine solche Analyse könnte andererseits auch zur Feststellung des möglichen Bedeutungsumfanges einer Norm und des Konsenses über ihre Konkretisierung i n einem bestimmten Raum-Zeit-System führen. Dies ergibt selbstverständlich nichts für die Frage, ob es sich bei den ermittelten Bedeutungsgehalten u m ein „richtiges" Verstehen oder u m einen wie auch immer begründeten „ I r r t u m " handelt. Unterschiedliche Zuerkennung von Bedeutungen ist vor allem bei solchen Normen festzustellen, i n welchen abstrakt generalisierende Aussagen verwendet werden oder i n welchen der Text Begriffe enthält, welche selbst eine Zusammenfassung mehrerer Bedeutungselemente darstellen, ohne daß diese Begriffe definiert sind 1 . Dies gilt insbesondere, wenn solche Begriffe gleichzeitig eine Zusammenfassung mehrerer, selbst nicht eindeutiger Grundrechtssätze meinen wie der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung". Die Verwendung solcher Begriffe ist m i t darin begründet, daß m i t der Formulierung von Grundrechtssätzen i n ihrer Abstraktion der Versuch unternommen wurde, die ungeheuren geistigen und sozialen Spannungen, welche dieses Jahrhundert auszeichnen, durch Verwendung vielfach akzeptierter oder akzeptabler Sprechweisen zu überbrücken, wobei die Konsensmöglichkeit eben i n der hohen Abstraktion begründet ist. Die „Offenheit" von Verfassungssätzen, insbesondere Grundrechtssätzen, erscheint ihrerseits als Funktionsbedingung einer zeitlich unbefristeten Verfassung i n einer pluralistischen oder antagonistischen Gesellschaft, als Bedingung ihrer einheitsstiftenden und legitimatorischen Funktion — hierüber w i r d noch zu handeln sein. Unterschiedliche Bedeutungsformen und Bedeutungszusammenhänge für die Grundrechte ergeben sich i n Literatur und Rechtsprechung vielfach dadurch, daß die Erklärung des Bedeutungsgehaltes i m Zusammenhang m i t einer Verfassungstheorie, also i n einem Vorverständnis über die Funktion von Staat und Grundrechten geschieht 2 . Bei solchen theoretischen Ansätzen ist zu unterscheiden, ob diese konstruiert wer1 Z u r Offenheit der Verfassungsrechtssätze vgl. P. Kirchhof, Rechtsquellen u n d Grundgesetz, i n : M . D r a t h u.a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. 1, S. 63 m. w. N.; H.-J. Koch (Hrsg.), Die juristische Methode i m Staatsrecht, F r a n k f u r t / M . 1977, S. 23 ff. * Solche Theoriebezüge sind auch i n der Rechtsprechung des B V e r f G feststellbar, w e n n dort auch nicht systematisch ausgeformt, vgl. P. Badura, V e r fassung, Staat u n d Gesellschaft i n der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, i n : M . D r a t h u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Bd. 2, S. 1 ff.
4.1 Bestimmbarkeit der staatlichen Ordnung durch die Grundrechte
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den, u m Grundrechte i n einem staatstheoretischen Zusammenhang zu konkretisieren oder ob eine solche Theorie Ergebnis einer analytischen Aufarbeitung der Grundrechte und der übrigen Grundelemente des Grundgesetzes ist — nur i n diesem Fall kann eine solche Theorie einen Interpretationsrahmen bilden. Schwierigkeiten der Bedeutungsermittlung ergeben sich schließlich auch aus einer jeweils situationsspezifischen Kontextbindung des I n terpreten, aus dem Praxiszusammenhang. Damit ist gemeint, daß ein genereller Normsatz konkrete Bedeutung immer erst i n bezug auf eine spezifische soziale Situation erfährt, i n welcher er wirksam zu sein hat, solche Situationen haben selbst wiederum einen unterschiedlichen Sinn für die Grundrechtsträger und -adressaten und also auch für den Verfassungsinterpreten. Die Frage nach dem Bedeutungsgehalt der Grundrechtssätze i m p l i ziert damit die allgemeine Frage, was heißt es oder w o r i n ist begründet, daß ein Zeichen, ein Satz, ein Text Bedeutung haben. Hiervon zu unterscheiden ist das Problem, welche Zeichen welche Bedeutung haben, welche Tatsachen dafür verantwortlich sind, daß Zeichen Bedeutungen, auch unterschiedliche Bedeutungen haben. Wörter, Sätze, Texte können auch ihre Bedeutung ändern, ohne daß die verwendeten Sprachzeichen und ihre Zusammenordnung geändert werden. Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft ist es, Kriterien für ein formal und material „richtiges" Verfassungsverständnis zu ermitteln, und das heißt auch, die Möglichkeit und Relevanz wissenschaftlicher Methoden zur Ermittlung des konkreten Bedeutungsgehaltes einer Norm als Entscheidungsnorm i n unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen zu diskutieren. Für die wissenschaftliche Methodik werden hier zwei Postulate aufgestellt: die Methoden und ihre Ergebnisse müssen intersubjektiv nachprüfbar sein, damit ein allgemeiner Diskurs über die A r t und Weise der Bedeutungsermittlung möglich und ihre Ergebnisse schlüssig und akzeptabel sind (wissenschaftspolitisches Kriterium); die Ergebnisse, welche eine wissenschaftlich-methodische Texterschließung produziert, müssen — zumindest i m Blick auf die konkrete Anwendungssituation — eineindeutig und vollständig sein und ihnen muß der gleiche Verbindlichkeitsanspruch zukommen wie den einzelnen Verfassungssätzen selbst (verfassungsrechtliches Kriterium). Die Ergebnisse der Verfassungsinterpretation dürfen nicht nur begründet und gültig i n einer Methode sein, sondern sie müssen den gleichen Geltungsanspruch wie die zu interpretierenden Verfassungssätze selbst besitzen, andernfalls sind sie „ w i l l k ü r l i c h " .
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Der Geltungsanspruch wissenschaftlicher interpretation kann seinerseits wiederum sens über die anzuwendenden Methoden rechtlichen Bestimmung zulässiger oder methoden begründet sein.
Methoden der Verfassungsi n einem allgemeinen Konoder i n einer verfassungsgebotener Interpretations-
Das Grundgesetz selbst enthält keine Aussagen über Interpretationsmethoden. Die Annahme von Forsthoff, daß m i t A r t . 1 Abs. 3 GG eine bestimmte Theorie der Interpretation, nämlich die gesetzespositivistische, festgelegt ist, kann nicht geteilt werden. Sie ist aus dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht begründet, mag sie auch eine Rechtfertigung i n der Tradition finden. Die Übernahme traditioneller Ergebnisse der Verfassungslehre bedarf aber einer eigenen Rechtfertigung und normativen Explikation entsprechend dem Geltungsanspruch der Verfassung selbst. Nach Ansicht von Forsthoff sind „die möglichen Methoden der Gesetzesauslegung" „durch den Gesetzesbegriff selbst, genauer: durch die logische Struktur des Gesetzes festgelegt" . . . Und da es zu „den rechtsstaatlichen Errungenschaften gehört", „daß die Verfassung i n die Form des Gesetzes übergeführt" wurde, ist sie „damit den logischen Prozeduren der juristischen Hermeneutik unterstellt worden". „Jeder Wunsch, für die Auslegung der Verfassung als Gesetz andere Methoden anzuführen, als sie für die Gesetzesauslegung i m allgemeinen gelten, wende sich gegen diese rechtsstaatliche Errungenschaft. Die klassische Darstellung der Gesetzesinterpretation findet sich immer noch i m ersten Band des „System des heutigen römischen Rechts" (1840) von Savigny. Savigny unterscheidet bekanntlich vier Elemente der juristischen Interpretation: das grammatische, das logische, das historische und das systematische, die i n dieser Reihenfolge angewandt werden sollen 3 ." Nach Ansicht von Forsthoff ist m i t A r t . 1 Abs. 3 GG festgestellt, daß die Grundrechte nach den Modalitäten des rechtsstaatlichen Gesetzesvollzugs verstanden und praktiziert werden sollen 4 . Der Interpretationsanspruch, welcher von Forsthoff an die Grundrechte herangetragen wird, beruht zum einen auf der rechtspositivistischen Tradition, zum anderen auf der Annahme einer Einheitlichkeit des Rechts und der Rechtswissenschaft und der daraus folgenden Forderung nach Allgemeinheit der anzuwendenden Methoden 5 und ist Ausdruck eines bestimmten historischen Zustandes der hermeneutischen und juristischen Wissenschaftlichkeit. I m Grunde handelt es sich dabei 8 E. Forsthoff, Z u r Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961, S. 39. Z u r Würdigung von E. Forsthoff s. P. Haberle, Lebende V e r w a l t u n g trotz überlebter Verfassung, i n : J Z 1975, S. 685 ff. (zu den hier angesprochenen Problemen, S. 686 f.). 4 E. Forsthoff, S. 14. δ E. Forsthoff, S. 39.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
111
um die Übertragung von Auslegungsmethoden, wie sie insbesondere i m Zivilrecht entwickelt worden sind, auf das Verfassungsrecht. E i n solches Verfahren ist bedenklich, w e i l solche Vorstellungen auf der Annahme der Einheitlichkeit des Rechts und der juristischen Dogmatik beruhen, welche nicht bewiesen sind. Ein Verfassungstext und insbesondere Grundrechtssätze sind zunächst etwas wesentlich Eigenes. Als Grundentscheidungen, welche für eine staatliche Ordnung getroffen oder nicht getroffen sind, können diese nicht ohne weiteres nach der A r t und Weise von Gesetzen betrachtet werden®, obwohl die Ausbildung des Gesetzesbegriffes Voraussetzung dafür war, daß Menschenrechten, Grundrechten sogar hervorragende Gesetzesqualität zuerkannt wurde. Jedenfalls kann die Interpretation von Grundrechten nicht aus der Zivilistik beantwortet werden, sondern ist aus dem Verfassungsrecht selbst zu beantworten 7 . Allgemein anerkannte Lehren der Gesetzesauslegung, insbesondere der Auslegung des Verfassungsrechtes gibt es nicht 8 . Vielmehr stehen unterschiedliche verfassungstheoretische und methodologische Konzeptionen nebeneinander und auch die Gewichtung verschiedener methodischer Elemente ist nicht einheitlich. 4.2 Die Unmöglichkeit einer intersubjektiv gültigen und verfassungsrechtlich verbindlichen Methodik der Verfassungsinterpretation Der enge Zusammenhang zwischen Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation wurde von Böckenförde i m Versuch ihrer Systematisierung verdeutlicht 9 . Er unterscheidet die liberale oder bürgerlichrechtsstaatliche Grundrechtstheorie, die institutionelle Grundrechtstheorie, die Werttheorie der Grundrechte, die dogmatisch-funktionale und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie 10 . Hinsichtlich der Methoden 8 Vgl. hierzu F. Ossenbühl, Probleme u n d Wege der Verfassungsauslegung, i n : D Ö V 1965, S. 650 ff.; Th. Ramm, Der Wandel der Grundrechte u n d der freiheitliche soziale Rechtsstaat, i n : JZ 1972, S. 137 ff. (S. 140). 7 Vgl. hierzu H . Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, i n : W d S t R L H. 20, B e r l i n 1963, S.53ff. (S.53 m . w . N . ) ; BVerfGE 28, 260 f.; zur Diskussion unter der Weimarer Verfassung vgl. H. Triepel, Staatsrecht u n d Politik, B e r l i n 1927, S. 39 u n d H. Thoma, i n : H d b D S t r Bd. 2, S. 235. Z u r Diskussion i n der Z i v i l i s t i k vgl. R. Dubischar u.a., Dogmatik u n d Methodik, Kronberg 1978. 8 Vgl. bereits Ph. Heck, Gesetzesauslegung u n d Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914, S. 3 u n d Κ Zweigert, Juristische Interpretation, i n : S t u d i u m generale, 1954, S. 380 ff. (S. 380); W. Leisner, Betrachtungen zur Verfassungsauslegung, i n : D Ö V 1961, S. 641 ff. 9 E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie u n d Grundrechtsinterpretation, i n : N J W 1974, S. 1529 ff.; vgl. auch H. Klein, Die Grundrechte i m demokratischen Staat, Stuttgart usw. 1972, S. 13 ff.; K. Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, Baden-Baden 1978, S. 13 ff.
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
der Verfassungsinterpretation, welche nur teilweise je einer bestimmten Grundrechtstheorie zuzuordnen sind, mißt Böckenförde einen funktionalen Eigenwert zu der klassisch-hermeneutischen Methode (hier vorwiegend als gesetzespositivistische Methode bezeichnet), der topischproblemorientierten Methode, der wirklichkeitswissenschaftlich orientierten Verfassungsinterpretation i m Sinne Smends und der hermeneutisch-konkretisierenden Auslegungsmethode 11 . Das methodische Instrumentarium ist nicht für jeden dieser Ansätze streng spezialisiert, es ist auch unterschiedlich konkretisiert. Die von Böckenförde als Methoden der Verfassungsinterpretation dargestellten Lehrmeinungen stehen i n einem theoretischen Kontext, woraus sich ihre Begründetheit ergibt. Sie sind i n Verbindung m i t Grundrechtsund Staatstheorien sowie i m Zusammenhang m i t — vielfach nicht explizit ausgewiesenen — Normtheorien zu sehen. Es ist nicht Anliegen dieser Untersuchung, die verschiedenen Grundrechtstheorien und Methoden der Verfassungsinterpretation systematisch-kritisch aufzuzeigen 12 ; n i m m t man vor dem Hintergrund der Böckenförde'schen Analysen den Erkenntnis- und Erklärungswert der verschiedenen Ansätze i n den Blick, und zwar für die Bestimmung des semantischen Gehaltes der Verfassungsnormen, insbesondere der Grundrechtsnormen und für ihre Konkretisierung, so kann unterschieden werden zwischen den klassisch-hermeneutischen Methoden des verfassungsrechtlichen Positivismus als methodisches Instrumentarium der Verfassungsinterpretation i m engeren Sinne, dem werttheoretischen Ansatz, einem institutionellen Aspekt der Grundrechtsinterpretation und topisch-problemorientierten Argumentationsweisen der Grundrechtskonkretisierung. 10 Z u r Begründung u n d F u n k t i o n unterschiedlicher Grundrechtstheorien vgl. auch E. Grabitz, Freiheit u n d Verfassungsrecht, Tübingen 1976, S. 139 ff. m. w . N. 11 E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation — Bestandsaufnahme u n d K r i t i k , i n : N J W 1976, S. 2089 ff. m. w. N. Vgl. auch F. Ossenbühl, Probleme u n d Wege der Verfassungsauslegung, S. 649 ff.; Ch. Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden u n d Prinzipien der G r u n d rechtsauslegung, i n : Der Staat 1963, S. 425 ff. m. w. N.; Frd. Lachmayer, Grundzüge einer Normtheorie, B e r l i n 1977, S. 24 ff., S. 36 ff.; Frd. Müller, Rechtsstaatliche Methodik u n d politische Rechtstheorie, i n : Rechtstheorie 1977, S. 73 ff. m. w . N. 12 A u f umfassende Literaturnachweise w i r d deshalb auch verzichtet, vgl. dazu die genannten systematischen Darstellungen, neuerdings auch H.-J. Koch (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode i m Staatsrecht, F r a n k f u r t 1977; F. Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : N J W 1976, S. 2100 ff. m. w. N.; R. Dreier, Z u r Problematik u n d Situation der Verfassungsinterpretation, i n : R. D r e i e r / F . Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, Baden-Baden 1976, S. 13 ff. m. w . N.; F. Müller, Rechtsstaatliche F o r m — Demokratische Politik, B e r l i n 1977, S. 145 ff. m . w . N.; R. Schlothauer, Neuere Ansätze zur Methodik der Verfassungsinterpretation, K ö l n 1979.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
113
Diese Erklärungsweisen 13 zur Begründung der einzelnen Grundrechten zuzuordnenden Entscheidungsnormen sind hinsichtlich des Gültigkeits- und des Verbindlichkeitsanspruches des Grundgesetzes und hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Wahrheitswertes zu prüfen. Die Entfaltung und Anwendung wissenschaftlicher Methoden steht dabei selbst i n einer engen Verbindung m i t den sozialen Problemlagen und politischen Anschauungen i n der Gesellschaft; auf diese wissenssoziologischen Zusammenhänge kann hier nur verwiesen werden. 4.2.1 Die klassisch-hermeneutische Interpretationsmethode des verfassungsrechtlichen Positivismus
Die klassisch-hermeneutischen Methoden des verfassungsrechtlichen Positivismus orientieren sich an den Interpretationsverfahren, wie sie i n der Zivilistik entwickelt wurden. Die Verfassungsnorm w i r d als „Gesetz" verstanden, Grundlage für die Interpretation ist der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff und seine Normtheorie. Nach Forsthoff kann — wie gesagt — erst die Unterstellung der Staatsordnung unter den rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff „die Gewähr der gesetzesmäßigen Freiheit bieten, auf die es dem Rechtsstaat ankommt. Diese Funktion der i n die Form des Gesetzes überführten Verfassimg konnte und kann natürlich nur wirksam werden, wenn die Gesetzesform der Verfassung ernst genommen w i r d " 1 4 . Einem solchen Verständnis liegt die Annahme zugrunde, daß die Verfassung als politische Entscheidung eine bestimmte und aus ihrem Text bestimmbare staatliche Ordnung feststellt und rechtsstaatlich gewährleistet. Die Interpretationsmittel sind die grammatische, die logische, die historische und die systematische Methode — auch i n dieser Reihenfolge — und die teleologische Methode, welche teilweise m i t der systematischen Methode zusammenfällt 15 . Der mögliche Gehalt der Gesetzes18 Vgl. ergänzend bei E.-W. Böckenförde, Fn. 9, 11; F. Müller, Juristische Methodik, 2. A u f l . B e r l i n 1976; W. Kilian, Juristische Entscheidung u n d elektronische Datenverarbeitung, F r a n k f u r t 1974. — Eine Erörterung der I n t e r pretationstheorie anhand der Rechtsprechung des B V e r f G ist nicht ergiebig, da die Rechtsprechung n u r i n wenigen Fällen methodisch begründet ist, vgl. den Uberblick bei G. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : M . D r a t h u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Bd. 2, Tübingen 1976, S. 22 ff. 14 E. Forsthoff, Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, i n : Festschrift f ü r C. Schmitt, B e r l i n 1959, S. 35 ff. (S. 37/38); vgl. auch K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. A u f l . München 1969, S. 148; zu den Auslegungsmethoden allgemein K . Larenz, S. 301 ff., H. Hattenhauer, Die K r i t i k des Zivilurteils, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 81 ff. 15 Ä h n l i c h K . Larenz, welcher unterscheidet zwischen Wortsinn, Bedeutungszusammenhang des Gesetzes, Regelungsabsicht, den objektiv-teleologischen K r i t e r i e n sowie dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung (K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 307 ff.); H. J. W o l f f gliedert i n philologische, genetische u n d teleologische Interpretation (H. J. Wolff /
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
norm w i r d i m Positivismus bestimmt durch die Leistungsfähigkeit der kanonisierten und dogmatisierten Interpretationsmethoden. 4.2.1.1 Jede Auslegung und insbesondere die gesetzes-positivistische geht vom Wortlaut der auszulegenden Norm aus. Leistung der philologisch-grammatischen Auslegung soll es sein, die Bedeutung eines Wortes oder Satzes anzugeben 16 , indem vorfindliche Bedeutungen eines Wortes i n der gegebenen Sprache verzeichnet werden und eine Eingrenzung möglicher Bedeutungsformen aus der Grammatik eines Textes vorgenommen wird. Eine präzise Bedeutungsermittlung ist damit nicht erreichbar. Die Subjektivität der Bedeutungserschließung w i r d nicht eliminiert, da die Feststellung möglicher Bedeutungsformen eines Wortes immer nur unter Bezug auf andere als den zu interpretierenden Text möglich ist. Ein komparativistisches Verfahren ermöglicht zwar die Reduktion des subjektiven Vorverständnisses hinsichtlich der Bedeutung des einzelnen Wortes, aber eben dieses Vorverständnis ist anleitend für Auswahl und Auffinden anderer Bedeutungsinhalte eines Wortes i n anderen Texten 1 7 . I n der Semantik ist zu unterscheiden zwischen der extensionalen Semantik als Untersuchung der verwendeten sprachlichen Ausdrücke der Dinge, Klassen, Relationen usw., auf die sich der Sprecher m i t den von i h m geordneten Ausdrücken bezieht und der intensionalen Semant i k oder Semantik i m engeren Sinne als Untersuchimg der verwendeten sprachlichen Ausdrücke, der Bedeutung der vorkommenden Wörter und des Sinnes der i n der Sprache zu bildenden Sätze 18 . Dieses SinnO. Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. München 1974, § 28 I I I c). K . Stern spricht von grammatischer, logischer, systematischer, historischer, genetischer, komperativer u n d teleologischer Interpretation. „Die Auslegungsmittel sind zu kombinieren. K e i n Auslegungsmittel darf verabsolutiert werden. Richtig ist das Ergebnis, das unter sukzessiver Auswertung aller Auslegungsmittel den Sinn des Gesetzes ermittelt h a t " (S. 35). K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, vgl. dort auch speziell zur Verfassungsinterpretation S. 107 ff. 16 Vgl. K . Larenz, S. 301 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, B e r l i n 1971, S. 148 ff.; J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenauswahl i n der Rechtsfindung, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 121. 17 Vgl. H. G. Hinderling, Rechtsnorm u n d Verstehen, Bern 1971, S. 255; J. Esser, S. 123, S. 133 ff.; vgl. auch ders., Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. A u f l . Tübingen 1964, S. 112 ff., 123 ff., 176 ff., 257 ff. 18 So W. Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, B e r l i n 1969, S. 33 f.; zur juristischen Semantik i m besonderen vgl. H.Wagner / K. Haag, Die moderne L o g i k i n der Rechtswissenschaft, B a d H o m b u r g v. d. H. 1970, S. 18 f.; E.-J. Lampe, Juristische Semantik, Bad H o m b u r g v. d. H. 1970, S. 15, allerdings w i r d hier das Problem der verfassungsrechtlichen Gültigkeit vernachlässigt. I n diesem Zusammenhang s. auch K. L. Kunz, Die analytische Rechtstheorie, B e r l i n 1977, S. 64 ff.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
115
problem stellt sich nicht i n einer definierten Wissenschaftssprache 10. Eine solche Präzision fehlt aber der Rechtssprache und insbesondere der sprachlichen Darstellung der Grundrechte. Die Grundrechte stehen und ereignen sich i n der natürlichen Lebenswelt. Die Semantik der Grundrechte hat sich — wie ihre Pragmatik ergibt — an der Semantik der natürlichen Sprachen zu orientieren. Z u prüfen ist, ob es eine der Struktur natürlicher Sprachen angemessene Theorie der Verwendungsregeln geben kann, die ein methodisch gesichertes Sinnverstehen begründen 20 . Erst auf einer solchen Grundlage wäre eine Aussage darüber zulässig, ob die Herstellung eines Konsenses über die Vernünftigkeit einer Interpretationslösung nur dem Überzeugungsvorgang des Interpreten entspricht oder auch dem Bedeutungsgehalt des Gesetzes. Dabei sind die Schwierigkeiten vernachlässigt, welche sich daraus ergeben, daß der Erlebnisvorgang der Überzeugungsbildung weit die kognitive Sphäre überschreitet 21 . Es gibt nicht nur eine „Alltagssprache", Sprachformen und Sprachweisen sind i n einer Gesellschaft verschieden, das Bedeutungsverstehen für sprachliche Zeichen ist unterschiedlich. Sprachform und Bedeutungsverstehen differieren entsprechend gesellschaftlichen Strukturen und Schichten, hierauf w i r d noch einzugehen sein, gemeinsam sind nur wenige Basissemanteme. Anliegen der juristischen Textlinguistik ist es, ein Regelsystem für ein methodisch gesichertes Sinnverstehen zu erstellen 22 . Dabei sind verschiedene Verfahrensstufen zu unterscheiden. I n einem ersten Schritt ist die Tabelle aller Zeichen anzuführen, aus denen die Ausdrücke der Objektsprache gebildet werden. I n einem zweiten Schritt sind die Formregeln anzugeben, i n denen festgelegt wird, welche Zusammenstellungen von Zeichen zulässige Ausdrücke der Objektsprache bilden. I n einem dritten Schritt werden mittels eigener intentionaler Interpretationsregeln den deskriptiven Ausdrücken Bedeutungen i m 19 Hierzu H. Brinckmann, Juristische Fachsprache u n d Umgangssprache, i n : D. R a v e / H . B r i n c k m a n n / K . Grimmer (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, Darmstadt 1971, S. 61 f.; ders., Juristische Fachsprache u n d Umgangssprache. Vorüberlegungen zu einer Formalisierung der Rechtssprache, i n : ÖVD 1972, S. 60 ff. 20 Vgl. hierzu G. Ungeheuer, Paraphrase u n d syntaktische Tiefenstruktur, i n : Folia Linguistica Τ III/1969, S. 178 ff. (S. 186 f., S. 190). 21 G. Bohne, Z u r Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung, D a r m stadt 1967, S. 52. 22 Vgl. hierzu P. Hartmann / H. Rieser, Paraphrasenbeziehungen i n j u r i s t i schen Texten, i n : D. R a v e / H . B r i n c k m a n n / K . Grimmer (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, S. 87 ff.; allgemein J. Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft u n d Linguistik, Bd. 1 Grundlagen u n d Voraussetzungen, F r a n k f u r t / M . 1971; J. Lyons, Introduction to theoretical linguistics, 2. A u f l . Cambridge 1969 (deutsch München 1971).
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Sinne von Intentionen zugeordnet 23 . Es gibt ihrer so viele, als es voneinander verschiedene durch objektsprachliche Sätze ausdrückbare Propositionen gibt, d. h. so viele, als Sätze m i t verschiedenem Satzsinn existieren 24 . Z u entwickeln wäre so eine konsistente und (idealiter) vollständige Textgrammatik für die Rechtsprache oder — eingeschränkt — für die Sprache eines Gesetzes. Diese Textgrammatik „ist ein Kalkül, der analog den Ersetzungssystemen aufgebaut wird. Er erlaubt die formale Ableitung (idealiter) aller Texte einer Gesetzessprache auf Regelbasis und ermöglicht damit auch die grammatikimmanente Definition der Paraphrasenrelationen. Eine Textgrammatik ist so ein Aufzählungsoder Definitionsverfahren für die Texte der Rechtssprache oder für einen Gesetzestext. Für die Erstellung einer vollständigen Textgrammatik sind notwendig binäre und unitäre Textformationsregeln, komplexe binäre und unitäre syntaktische Regeln, unitäre semantische Substitutionsregeln, die komplexen syntaktischen Kategorien genau eine semantische Interpretation zuordnen, Lexikonregeln, die komplexen syntaktisch-semantischen Kategorien semantisch interpretierte Graphenketten zuordnen und Transformationsregeln, die Sätze untereinander verknüpfen und damit den syntaktisch-semantischen Zusammenhang zwischen den Sätzen des Textes darstellen" 2 5 . A u f diese Weise ist es möglich, die bestehenden semantischen Beziehungen innerhalb eines Textes und zwischen Texten darzustellen und die i n einem Text verwandten Worte und Sätze auf Basissemanteme zu reduzieren. Eine Sinnfeststellung kann aber nur über die Einführung von Bedeutungspostulaten, über die Definition der Basissemanteme durch einen „autorisierten" Sprecher erfolgen 26 . Eine solche Textgrammatik und ihre Regeln, welche erst eine sinnvolle philologisch-grammatische Interpretation von Gesetzestexten erlauben würden, ist bis heute über Ansätze noch nicht weitergekommen. Aber selbst wenn man unterstellt, daß die methodischen Verfahren darstellbar sind, bleibt gerade i m Blick auf Grundgesetztexte und insbesondere auf Grundrechtstexte die Frage offen, wer ist der „autorisierte Sprecher", der Bedeutung zu definieren hat, dessen Bedeu28
Vgl. W. Stegmüller, S. 34. Vgl. W. Stegmüller, S. 47. 25 P. Hartmann / H. Rieser, S. 87 f.; zu dieser Problematik insges. vgl. die Berichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Analyse der juristischen Sprache", hrsg. v. D. Rave / H. Brinckmann / Κ . Grimmer, Paraphrasen juristischer Texte, Darmstadt 1971 u. Syntax u n d Semantik juristischer Texte, Darmstadt 1972. 28 Vgl. auch A. Podlech, Logische u n d hermeneutische Probleme einer neueren Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichtes, i n : D Ö V 1974, S. 339 m. w . N. 24
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
117
tungen maßgeblich zu sein haben. Das Bundesverfassungsgericht besitzt zwar eine institutionelle Entscheidungskompetenz und i n dieser Entscheidungskompetenz ist eine Sprachkompetenz eingeschlossen, diese Entscheidungskompetenz besagt aber nichts darüber, an welche Bedeutungen einer Norm das Bundesverfassungsgericht i n seiner Entscheidung gebunden ist. Philologisch-grammatische Interpretation kann nach ihrer bisherigen wissenschaftlichen Ausformung mögliche Bedeutungen, mögliche Paraphrasen eines Normtextes erschließen — mehr nicht. 4.2.1.2 Logische und systematische Auslegung w i r d herkömmlicherweise als notwendige Ergänzung der philologisch-grammatischen Interpretation verstanden, ihre Leistung soll es sein, das Verhältnis einzelner Worte, Sätze oder Texte zueinander zu klären 2 7 und ihre Bedeutung entsprechend den Regeln der Logik und unter dem A x i o m eines systematischen Zusammenhanges aller Rechtssätze zu bestimmen. Solche Auslegung ergibt Ergebnisse, welche i m Sinne der Logik m i t wahr oder falsch zu beantworten sind, nur unter zwei, jeweils für sich ausreichenden Bedingungen: Das Normensystem ist vollständig 2 8 und eindeutig, oder zwischen gegebenen Normen bestehen bei fehlender Vollständigkeit jeweils eindeutige Korrelationen. Der ältere Positivismus insbesondere ging von der Annahme einer Vollständigkeit des Normensystems aus und von der Gegebenheit aller Rechtsnormen, welche zur Entscheidung des konkreten Einzelfalles erforderlich sind, i h m war eigen eine Verdinglichung von Rechtsvorschriften und juristischen Begriffen als schlichter Vorgegebenheiten 29 . Der ältere Positivismus ist damit Ausdruck einer bestimmten sozialen und politischen Lage, i h m ist immanent die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft. Gesellschaftliches Handeln geschieht unter den und i m Rahmen der gegebenen Rechtsnormen, welche der Staat gesetzt hat. Anders als der ältere Positivismus Gerberscher und Labandscher Prägung 3 0 geht der wissenschaftliche Positivismus Kelsen'scher A r t davon aus, daß jede Normenordnung, w i l l sie logisch gültig sein, auf 27 Vgl. K. Larenz, S. 305 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, S. 162 ff. m. w . N.; J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung, S. 24; K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. A u f l . Karlsruhe 1977, S. 21 f. 28 Vgl. L. Reisinger, Z u r Vollständigkeit normativer Systeme, i n : O. W e i n berger (Hrsg.), Rechtsphilosophie u. Gesetzgebung, Wien 1976, S. 97 ff. 29 Vgl. F. Müller, N o r m s t r u k t u r u n d Normativität. Z u m Verhältnis von Recht u n d W i r k l i c h k e i t i n der juristischen Hermeneutik, entwickelt an F r a gen der Verfassungsinterpretation, B e r l i n 1966, S. 19 u. ders., Juristische M e thodik, B e r l i n 1971, S. 51. 80 Vgl. P. Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, 5. Aufl. Tübingen 1911 (insbes. S. V f f . ) u. C. F. v. Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts,
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
eine Grundnorm zurückzuführen ist und insoweit logisch vollständig sein muß. Es handelt sich hier nur u m eine Gültigkeitsfrage i n einem formalen System, nicht u m die Frage der Vollständigkeit eines Normensystems. I m System Kelsens gibt es zwar keine Lücken i m Recht, denn eine Lücke bestimmt sich nur aufgrund der vorausgesetzten A n nahme einer Vollständigkeit des Rechtssystems, sondern es gibt nur rechtlich geregelte und nicht geregelte Handlungen, für letztere sind auch durch Auslegung keine rechtlichen Entscheidungsnormen zu gewinnen 8 1 . Logisch-systematische Auslegung, welche zu gültigen Ergebnissen gelangen w i l l , kann dies also nur aufgrund einer vorausgesetzten Rechtstheorie. Eine solche Rechtstheorie kann zwar allgemein von Juristen anerkannt sein, ihr kommt aber verfassungsrechtliche Gültigkeit nur zu, wenn sie grundgesetzimmanent ist. Die Leistungsfähigkeit der logisch-systematischen Auslegung ist deshalb ausschließlich aus den zugrunde gelegten Regeln der Logik zu entscheiden. Die Annahme einer Systemhaftigkeit der Grundrechtsordnung 82 ist logisch nicht beweisbar. Es wäre der Nachweis erforderlich, daß das Grundgesetz ein vollständiges Normensystem darstellt. Dieser Nachweis ist nicht zu erbringen, da er voraussetzen würde die Kenntnis aller möglichen Handlungen, ihre grundrechtliche Entschiedenheit und die explizite oder implizite Definition der Einzelnormen als Elemente eines Systems und des Systembegriffes selbst. Die Probleme der Grundrechtsinterpretation beispielsweise i m Zusammenhang m i t der Frage nach einem Demonstrationsrecht machen aber gerade deutlich, daß es Sachverhalte gibt, für welche das Grundgesetz nicht unmittelbar eine Regelung enthält. Entscheidungsnormen, welche aber aus einer Interpretation der Grundrechte aufgrund eines zuvor eingeführten Sinn-System-Zusammenhanges gewonnen werden, sind nicht Ergebnis einer logisch-systematischen Auslegung. Das Grundgesetz selbst enthält auch keine Aussage über eine Rangordnung zwischen den einzelnen Grundrechtsnormen. Hierarchische 3. A u f l . Leipzig 1887; ders., Über öffentliche Rechte, Tübingen 1852 sowie insges. zum staatsrechtlichen Positivismus P. v. Oertzen, Die soziale F u n k t i o n des staatsrechtlichen Positivismus, F r a n k f u r t / M . 1974 u. E.-W. Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, S. 217 f. 31 Vgl. etwa H. Kelsen, Was ist juristischer Positivismus: i n : J Z 1965, S. 465 ff. Insges. E. Fechner, Ideologische Elemente i n positivistischen Rechtsanschauungen, dargestellt an H. Kelsens „Reiner Rechtslehre", i n : ARSP Beiheft N F Nr. 6/1970, S. 199 ff. sowie ders., Ideologie u n d Rechtspositivismus, i n : Ideologie u n d Recht, F r a n k f u r t / M . 1969, S. 97 ff.; E. Franssen, Positivismus als juristische Strategie, i n : J Z 1969, S. 766 ff.; H.G. Hinderling, S. 196 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. A u f l . Göttingen 1967, S. 460. 82 I n dieser Richtung BVerfGE 19, 220 u n d früher (BVerfGE 1, 32, 7, 205); vgl. auch BVerfGE 33, 27.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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Bezüge zwischen verschiedenen Grundrechtsnormen, welche beispielsweise unter Voranstellung von A r t . 1 und A r t . 20 GG oder von A r t . 2 GG als generellen Normen i m Unterschied zu anderen Normen als spezielle Vorschriften gewonnen werden, sind Ergebnisse einer wertenden, nicht einer logisch-systematischen Auslegung. Schließlich ist Bedingung einer systematischen Auslegung, daß jede Einzelnorm selbst eindeutig ist. Eine solche Eindeutigkeit ist aber gerade vielen Grundrechtssätzen — wie dargelegt — nicht eigen. „Eine Rechtsordnung läßt sich, wenn man nur Normen des positiven Rechts und die Regeln der formalen Logik verwendet, als widerspruchsfreies, vollständiges und entscheidungsdefinites Kodifikat nicht bilden." „Überpositive Sätze sind hiernach nicht nur möglicher Bestandteil dieser oder jener Rechtsordnung, sondern notwendiger Bestandteil jeder Rechtsordnung 33 ." Die Unmöglichkeit eindeutiger logisch-systematischer Interpretation der Grundrechte schließt nicht aus, daß ihr Regelungsgegenstand, die gesellschaftliche Ordnung systemhaftig ist, einzelne Sachverhalte interdependent sind, daß die staatliche Ordnung als eine Totalität zu betrachten ist und das Grundgesetz sich selbst nach seinem Geltungsanspruch i n A r t . 1 Abs. 3 GG und i n der Präambel auf eine solche Totalität staatlich-gesellschaftlichen Lebens bezieht. Die Interdependenz und faktische Systemhaftigkeit einer staatlich verfaßten Gesellschaft stellt ihrerseits Ansprüche und Anforderungen an eine Systemhaftigkeit der Verfassung. Ein solcher Zusammenhang ist i m Grundgesetz m i t dem Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung hergestellt, die verfassungsmäßige Ordnung ist aber nicht i m Sinne der logischen Vollständigkeit eines Grundrechtssystems definiert. E i n solcher Systembegriff ist ein verfassungspolitisches Postulat oder ein theoretisches Konstrukt, er ergibt nichts für die Bestimmung der konkreten Bedeutungen einer Norm. Aufgrund der theoretischen und praktischen Interdependenzbezüge kann die verfassungsrechtliche Beurteilung einer sozialen Situation aber auch nicht isoliert i m Blick auf eine Einzelnorm erfolgen — oder anders gewendet —, der praktische Sinn einer Grundrechtsnorm ist nicht allein aus der Einzelnorm zu erschließen. 4.2.1.3 Teleologische Interpretation fragt nach dem Sinn und Zweck eines Rechtssatzes, u m so die konkrete Bedeutung, Funktion einer generellen Norm i n einer bestimmten Situation zu bestimmen. Der teleologischen Interpretation liegt die Annahme zugrunde, daß jede Rechtssetzung ziel- und zweckgerichtet ist, u m eine bestimmte Ordnung 58 F. Ophüls, Ist der Rechtspositivismus logisch möglich? i n : N J W 1968, S. 1745 ff. (S. 1751); vgl. auch A. Podlech, Recht u n d Moral, i n : Rechtstheorie, 1972, S. 129 ff. (S. 134).
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menschlichen Handelns zu realisieren. Das Bundesverfassungsgericht faßt so auch die Verfassung als logisch-teleologisches Sinngebilde auf, dessen Einheit durch allgemeine Grundsätze und Leitideen wie etwa des Sozialstaates oder des Rechtsstaates und durch ein bestimmtes Menschenbild, jenes des gemeinschaftsbezogenen Individuums, gewährleistet sei, von denen aus die Einzelvorschrift auszulegen ist 8 4 . Zweifelsohne liegt jeder Rechtssetzimg, auch dem Grundgesetz eine Zwecksetzung zugrunde, das Grundgesetz selbst beschreibt seinen Zweck i n der Präambel m i t den Worten „ u m dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben" ist das Grundgesetz beschlossen worden. Eine Zwecksetzung enthält auch A r t . 1 Abs. 3 GG: die staatliche Gewalt ist an die Grundrechte gebunden. Die genannten Zwecksetzungen sind aber nicht ausreichend für die Bestimmung von Sinn und Bedeutung der Einzelnormen — da sie selbst nicht hinreichend konkret sind — und dies gilt für die teleologische Interpretation insgesamt: Kenntnis des Zwecks eines Normensystems ergibt unmittelbar nichts an konkreter Kenntnis über den Sinn und die Bedeutung der Einzelnorm 3 5 , erschließt nicht unmittelbar mögliche und zulässige Bedeutungen einer Einzelnorm, sie kann aber ein theoretisches Bezugssystem i n der Bewertung möglicher Konkretionen darstellen. I n der Praxis w i r d vielfach aus den Einzelnormen auf den Zweck des Gesetzessystems, auf den Zwecke des Grundgesetzes geschlossen, aus den Einzelnormen w i r d die Präambel konkretisiert, u m anschließend aus dem so gewonnenen Zweck den Gehalt der Einzelnorm wiederzugewinnen: ein logischer Zirkelschluß. Unbestreitbar ist auch den Einzelnormen des Grundgesetzes ein erkennbarer Zweck eigen, etwa i n Art. 14 Eigentum zu schützen und zu begrenzen, i n A r t . 4 Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu gewährleisten, aber diese Zwecksetzungen i n den Einzelnormen selbst definieren nicht die möglichen konkreten Bedeutungen der Einzelnorm und auch der Zweck, der aus den Einzelnormen für das Ganze erschlossen wird, gewinnt Gestalt erst i n einer Theorie der Grundrechte. Eine solche Theorie muß i m Grundgesetz begründet sein, muß Kriterien benennen können, welche den Stellenwert der Einzelnorm ausweisen. 34
Vgl. etwa BVerfGE 1, 14 (32); 3, 225 (231 f.); 15, 167 (194f.); 19, 206 (220); 28, 243 (261); Beispiel f ü r eine zielgerichtete Verfassungsinterpretation ist P. Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, i n : W d S t R L H. 20, B e r l i n 1963, S. 1 ff. (dort auch weitere Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfG); allgemein zu teleologischer Interpretation K . Larenz, S. 311 ff., F. Müller, S. 163. Z u r Problematik des Zweckverständnisses i m Recht vgl. N. Luhmann, Zweckbegriff u n d Systemrationalität, Tübingen 1968. 85 So auch K . Hesse, S. 24.
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Eine Grundgesetztheorie ist damit notwendige Grundlage der Verfassungsinterpretation, die Legitimation der Inhalte dieser Verfassungstheorie muß aber durch die Verfassung selbst vermittelt sein. Die i n den Einzelnormen enthaltenen Zwecksetzungen bilden dabei i n ihrem Zusammenhang das Normprogramm des Grundgesetzes, welches den möglichen Bedeutungsgehalt der Einzelnorm begrenzt, ihren Anwendungsbereich strukturiert. I n einem theoretischen Überbau w i r d teleologische Interpretation auch verstanden als objektive Methode, als objektiv-teleologische Gesetzesauslegung, welche den objektiven Sinn, den sogenannten Willen des Gesetzes ermittelt. Die Objektivität, welche hier angenommen wird, gilt es aber erst zu gewinnen. Erkenntnis geschieht nicht losgelöst vom erkennenden Subjekt, Sinn und Zweckverstehen ist nur möglich i n einem Sicheinlassen auf den Text, i n einem Vorverständnis des möglichen Sinnes und Zweckes eines Normensystems aus der Erfahrung von Sinn- und Zwecksetzungen i n der umgebenden Gesellschaft 36 . Ein objektives Erkennen der Bedeutung einer Verfassungsnorm ist — soweit sie nicht eineindeutig ist — nicht möglich. Objektiviert w i r d i n der teleologischen Auslegung der Wille des Gesetzgebers, wie er i m Gesetz und i n seinen Materialien zum Ausdruck kommt oder der Wille des erkennenden Subjektes und der ihn bestimmenden Sozialisationsfaktoren. I m einen Falle geht es u m die Relevanz der historischen Interpretation, i m anderen Falle ist objektiv teleologische Interpretation Dezision des rechtsanwendenden Juristen 3 7 . 4.2.1.4 Für die zu leistende Bedeutungsermittlung offener Grundrechtssätze w i r d auch auf den historischen Zusammenhang, i n welchem das Grundgesetz entstanden ist, wozu auch die Tradition des liberalen bürgerlichen Rechtsstaates gehört 3 8 , und auf den Willen des Grundgesetzgebers, also die vom Gesetzgeber gemeinte Bedeutung abgestellt 3 9 . Bedingung der genetischen Interpretation ist, daß der Sinn eines Normsatzes aus den „Materialien der Verfassungsgebung" eindeutig ermittelbar ist. Diese Bedingung ist jedenfalls für das Grundgesetz nicht erfüllt. Die Protokolle über die Beratungen des Parlamentarischen Rates ebenso wie die zusammengefaßte Berichterstattung über Beratungen und Abstimmungen i m Parlamentarischen Rat 4 0 maE. Schmidt, Normzweck u n d Zweckprogramm, i n : Dogmatik u n d Methodik, S. 139 ff. 87 Vgl. hierzu M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, B e r l i n 1967, S. 73, S. 221 f. (m. w. N.). 88 Hierzu T e i l I, vgl. auch die kurze Zusammenfassung bei E. Denninger, Freiheitsordnung — Wertordnung — Pflichtordnung, i n : JZ 1975, S. 545 ff. (S. 545). 89 Vgl. hierzu F. Müller, S. 160 ff.; K . Larenz, S. 308 ff.
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chen zur Genüge deutlich, daß verschiedene Vorstellungen und Intentionen i n einem Normtext zum Ausdruck gebracht sind, daß abstrakte, allgemeine Formulierungen gerade deswegen gewählt wurden, u m die Vielfalt unterschiedlicher konkreter Ordnungsvorstellungen zu erfassen, daß die sprachliche Form einzelner Normen Ausdruck unterschiedlicher Mehrheiten ist. Es ist zwar nicht angebracht, i n diesem Zusammenhang von einem dilatorischen Formelkompromiß zu sprechen, da m i t einer solchen Formulierung das Bemühen und Hingen u m eine neue staatliche und gesellschaftliche Ordnung für die Bundesrepublik Deutschland leichtfertig diskreditiert wird. Aber historische und genetische Auslegung i m strengen Sinne wäre nur dann formal gültig, wenn ein einheitlicher Wille und eine einheitliche Bedeutungsbildung und Bedeutungszuerkennung zumindest der jeweiligen Mehrheit — bei Zugrundelegung eines Mehrheitsprinzipes — Grundlage der gewählten sprachlichen Formulierungen wären. Historische Auslegung kann gerechtfertigt sein i n einem absolutistisch organisierten Staat m i t einem individualisierten obersten Gesetzgeber, dessen Willensmanifestation maßgeblich für die Rechtssetzung ist 4 1 . I n einer Demokratie bedeutet dies: Bindung der Auslegung an die Vorstellungen der parlamentarischen Mehrheit. Lückinger spricht deshalb von der subjektiv-historischen Auslegung als Folgerung aus dem demokratischen Rechtssetzungsprinzip 42 . Eine solche Bindung von Bedeutung an die Willensmanifestation einer Mehrheit bedarf selbst verfassungsrechtlicher Rechtfertigung wie sie zwar i n der Organisation des Gesetzgebungsverfahrens vorliegt, dieses verfassungsrechtliche Organisationsprinzip legitimiert aber nicht eine entsprechende Bindung der Verfassungsinterpretation an die Meinung einer historischen Mehrheit, da die Verfassung ihrem fingierten Anspruch nach Verfassung des ganzen Volkes ist. Die Rekurierung auf ein Mehrheitsprinzip i n der Verfassungsauslegung impliziert entsprechend der i n der Zivilistik ausgeprägten Interessenjurisprudenz, daß das Gesetz „menschliche, soziale, konkrete oder grundsätzliche Interessenkollisionen" regele und abschließend be40 Vgl. K. P. v. Doemming / R. W. Füsslein / W. Matz, Entstehungsgeschichte der A r t i k e l des Grundgesetzes, i n : JÖR, N F Bd. 1, 1951; vgl. auch die Beispiele mißbrauchter historischer Auslegung bei J. Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, i n : JZ 1975, S. 955 ff. 41 Dies gilt für die absolute Monarchie u n d das i h r entsprechende „ m o n a r chische Prinzip", es g i l t aber auch für eine enge Rechtsstaatsauffassung entsprechend einem absolutistischen Verbot richterlicher Gesetzesauslegung w i e i m Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794, Einleitung § 47. 42 H. G. Lückinger, Die Auslegung der schweizerischen Bundesverfassung, Zürich 1954, S. 41 ff. (S. 50) ; vgl. auch Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl. München 1977, S. 44.
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scheide 43 . Es ist aber gerade erst i m Wege der Bedeutungsermittlung des Grundgesetzes zu ermitteln, ob und i n welcher Weise es eine abschließende Interessenregelung vornimmt, etwa zwischen „Staat" und Gesellschaft, „Staat" und Einzelbürger, Gesellschaft und Einzelbürger oder zwischen verschiedenen einzelnen Bürgern, ob und i n welchem Umfang es etwa eine abschließende Statuszuweisung, Freiheitsgewährung und Verteilung von Handlungs- und Mitwirkungskompetenzen enthält oder i n welchem Umfang das Grundgesetz Daten für den Prozeß der Entfaltung und Konkretisierung staatlich-gesellschaftlicher Ordnung festsetzt. Grundrechte und Menschenrechte sind natürlich Ausdruck realer sozialer Situationen, können i n ihrer Entstehung und rechtsgesetzlichen Manifestation nicht von ihrem historischen Kontext losgelöst werden — dies wurde oben bereits erklärt 4 4 . Es ist deshalb auch nützlich, Grundrechte, Menschenrechte nicht nur i m Blick auf die Materialien der Verfassungsgebung, sondern i m Zusammenhang der Geschichte zu betrachten 45 . Die Entstehung einer Verfassung ist bedingt durch die zu ihrer Zeit gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu ihrer Zeit gegebenen Macht- und Herrschaftsstrukturen und handlungsleitenden Anliegen und Interessen, welche selbst wieder Ausdruck sozioökonomischer und soziokultureller Entwicklungen sind. Die B i n dung der Interpretation an diesen Kontext hat aber entweder eine Stabilisierung des Status quo oder die Funktionsunfähigkeit einer Verfassimg i n einer veränderten sozialen Umwelt zur Folge, wenn es nicht gelingt, den Bedeutungsgehalt einer Norm für eine historische Situation konkret zu definieren und die Gleichartigkeit von Situationen, Handlungen i n der Zeit zu beweisen. Die logischen Schwierigkeiten eines solchen Verfahrens sind offensichtlich, sowohl hinsichtlich der Bestimmung der konkreten Bedeutungen einer Norm aus ihrer Entstehung als auch hinsichtlich der Definition gleicher Situationen i n der Zeit. Selbst wenn i n historischer Interpretation die Ordnungsziele und Ordnungsmittel eindeutig bestimmbar wären und ihre Übertragung auf eine veränderte Struktur der sozialen Situationen zu ebenso logisch gültigen Einzelnormableitungen, Konkretionen allgemeiner Normen führen würde, wäre damit der Ordnungsgehalt einer Verfassung stets 48 Grundlegend hierzu Ph. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, Nachdr. B a d H o m b u r g v. d. H. 1968; vgl. aber auch J ê Esser, E i n f ü h r u n g i n die Grundbegriffe des Rechts u n d des Staates, Innsbruck 1949, S. 178 u. K . Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 131; G. Struck, Interessenabwägung als Methode, i n : Dogmatik u n d Methode, S. 171 ff. 44 A m Beispiel der Menschenrechte vgl. E. Topitsch, Die Menschenrechte — E i n Beitrag zur Ideologiegeschichte, i n : J Z 1963, S. 1 ff. 45 Vgl. H. Peters, Auslegung der Grundrechte aus der Geschichte, i n : Historisches Jahrbuch Bd. 72/1953, S. 457 ff.
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historisch gebunden. Historische Auslegung berücksichtigt so i n der Regel mehr die „intentio legis als die ratio der Gegenwart" 4 6 . Sie vermittelt eine Vorstellung über einen beabsichtigten Ordnungsstil, ergibt aber keine konkrete Entscheidungsnorm. Historische Auslegung ist ebenso wie objektiv-teleologische Auslegung verstehbar und erklärbar nur i n einer Interpretationstheorie, d. h. i n einem theoretischen Vorverständnis von dem, was Interpretation zu sein und zu leisten hat. Historische und genetische Verfassungsinterpretation kann den möglichen Bedeutungsgehalt einzelner Normen und des Grundgesetzes insgesamt erschließen helfen. Ihre Ergebnisse können i m Blick auf die eingangs zugrunde gelegten Kriterien gültiger Interpretation intersubjektiv nachvollziehbar sein, sie vermitteln aber keine verfassungsrechtlich gültigen Ergebnisse: Die Entwürfe und Materialien zum Grundgesetz sind durch das Grundgesetz nicht m i t irgend einem A n spruch auf Beachtlichkeit ausgestattet. 4.2.1.5 Die hier skizzierten, i n der Rechtswissenschaft üblichen Interpretationsmethoden beinhalten als methodische Kriterien für die Bedeutungserschließung und die Bildung konkreter Entscheidungsnormen den Wortsinn, den Bedeutungszusammenhang, die Systematik eines Gesetzes, die Vorstellung der an der Gesetzgebung beteiligten Personen, den Gesetzeszweck und das „Ganze der Zwecke". Die Entfaltung der Auslegungsmethoden — darauf wurde bereits hingewiesen — ist selbst Ausdruck einer Emanzipation der Rechtswissenschaft von absolutistischen Staatsbindungen 47 . Beschränkte sich zulässige Auslegung zunächst auf die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers 48, so vollzog sich m i t der Positivierung des Rechts und der Emanzipation der Rechtswissenschaft i m 19. Jahrhundert i n Auseinandersetzung m i t dem deutschen Idealismus auch eine Kanonisierung dieser Methoden und eine unterschiedliche theoretische Rechtfertigung 49 . Das Prinzip des Argumentierens und Interpretierens stellte i n den vergangenen Jahrhunderten ein politisches Prinzip dar, das sich gegenüber Tradition und Gottesgnadentum durchsetzen mußte 5 0 . Solche In46
J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 121. Vgl. etwa das Verbot richterlicher Auslegung i m josephinischen Gesetzbuch von 1786, 1. T e i l § 26 u n d i m Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794, Einleitung § 47. 48 Vgl. etwa § 22 Sächsisches DGB, § 6 österreichisches A B G B , A r t . 3 Code Civile, § 2 der Novelle zum Allgemeinen Landrecht v o m 11. 4.1803. 49 Vgl. i m einzelnen A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, Bad H o m b u r g v. d. H. 1970, S. 19 ff., S. 24 ff., S. 29 ff.; insges. C. Schott, „Rechtsgrundsätze" u n d Gesetzeskorrektur. E i n Beitrag zur Geschichte gesetzlicher Rechtsfindungsregeln, B e r l i n 1975. 50 Vgl. hierzu die Nachweise bei M. Kriele, S. 84. 47
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terpretation zielte nach dem Verständnis ihres dogmatischen Begründers, von Savigny, auf zweierlei ab: Rückführung des Gesetzestextes auf den „Volksgeist", d.h. Übersetzung eines fachsprachlichen Textes i n die Alltagssprache und Systematisierung sowie Dogmatisierung der Rechtsinhalte 51 . Systematisierung und Dogmatisierung als Gegenstände der Rechtswissenschaft haben für den Juristen eine eigenständige Bedeutung erlangt. Die offenbare Unmöglichkeit, neu hervortretende Interessen- und Wertungskonflikte durch schlichte Subsumtion zu entscheiden, rief das Bedürfnis nach selbständigen, nachprüfbaren und einsehbaren Begründungsformen hervor. Leistung der Dogmatik und der Methodenlehre sollen es deshalb nach Wieacker sein, intellektuell überprüfbare und öffentlich einsehbare Kriterien für die Handhabung des Bewertungsspielraumes des Richters zu geben 52 . Aufarbeitung der Rechtsinhalte i n der juristischen Dogmatik vermittelt zusätzliche, angeblich objektive Interpretationskriterien, objektive Rechtswerte, „deren Verwirklichung das Gesetz neben dem Schutz der von i h m gewerteten Interessen anstrebe" 53 . Objektiv teleologische Auslegung insbesondere versteht das Gesetz anders als die subjektive Theorie 5 4 nicht mehr nur als konkreten Willen der Staatsmacht, des Monarchen, sondern als ein eigenständiges geistiges Gebilde, das unabhängig von dem Willen der rechtssetzenden Person Wirkung hat. Diese Auslegungstheorie entspricht dem Selbstverständnis des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates. Sie ist Zeichen der zu eigenständigem Selbstbewußtsein erwachten Jurisprudenz, der zu einer Herrschaftsfunktion erstarkten rechtsprechenden Gewalt. Objektive Auslegungstheorien gehen so von dem Anspruch aus, „den objektiven, von allen individuellen Ansichten gelösten und über diesen 51
C. F. v. Savigny, V o m Beruf unserer Zeit f ü r Gesetzgebung u n d Rechtswissenschaft, 3. A u f l . Heidelberg 1840, S. 48. 52 So F. Wieacker, Z u r praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, i n : H e r meneutik u n d D i a l e k t i k , hrsg. v. R. Bogner u.a., Tübingen 1970, Bd. 2, S. 311 ff. (S. 316); vgl. auch K . Hesse, S. 27; H. G. Hinderling, Rechtsnorm u n d Verstehen, Bern 1971, S. 255; F. Müller, Juristische Methodik u n d politisches System, B e r l i n 1976, S. 48. w J. Esser, Einführung i n die Grundbegriffe des Rechtes u n d des Staates, S. 178; vgl. auch ders., Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 95 f.; K . Larenz, S. 131 u. insges. M . Drath, Rechtsdogmatik als Selbstzweck — oder fließende Anpassung des Rechts an die gesellschaftliche Wirklichkeit, i n : Das Rechtswesen, München 1971, S. 189 ff.; O. de Lazzer, Rechtsdogmatik als K o m p r o mißformel, i n : Dogmatik u n d Methodik, S. 85 ff. 54 Vgl. hierzu die Nachweise bei A. Mennicken, S. 19 ff.; zu erwähnen sind i n diesem Zusammenhang v. Savigny, Jhering, Windscheid / K i p p , Regelsberger, Cerny, Stammler, Heck, Enneccerus / Nipperdey, Nawiasky, Bierling, Behling, vgl. hierzu i m einzelnen die Nachweise bei K . Stern, Gesetzesauslegung u n d Auslegungsgrundsätze des Bundesverfassungsgerichts, Diss. M ü n chen 1957, S. 131 ff.
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stehenden Gehalt zu ergründen und zu entfalten, also das Vorgedachte m i t eigener K r a f t zu Ende zu denken" 5 5 . „Der Wille des Gesetzes und demgemäß auch der formellen Verfassung ist . . . nicht mehr ein M i t t e l der Auslegung, sondern das Ziel und Ergebnis der Auslegung. Der Gesetzgeber i n diesem Sinne ist keine individuelle oder historische Person, sondern ein von der Logik erzeugtes Gebilde, eine A r t Personifikation des Systems der rechtlichen Grundsätze der betreffenden Verfassung. Sie hat den Zweck, die Richtigkeit und Einheit des Rechts gegenüber zweifelhaften Sätzen zu gewährleisten und Widersprüche aufzulösen 56 ." Eine strenge historisch-genetische Interpretation, Gesetzesauslegung und -anwendung nach dem Willen des Gesetzgebers bedeutet i n einer parlamentarischen Demokratie Umsetzung parlamentarisch-demokratischer Entscheidungen i n die Praxis und damit Diskutierbarkeit parlamentarischer Entscheidungen an ihren praktischen Folgen. Objektive Auslegung heißt demgegenüber, den „Willen des Gesetzes" i n die Sprache der Rechtswissenschaft aufnehmen und entsprechend Vorverständnis und Einsicht des Juristen i n Recht und gerechte Ordnung, i n Praxis umzusetzen. Objektive Auslegung eröffnet so die Anpassung des Gesetzes an eine veränderte Wirklichkeit, aber Anpassimg durch den Juristen, durch die rechtsprechende Gewalt i m Einzelfall. Konflikte werden nicht generalisiert, werden nicht zur parlamentarisch-demokratischen Entscheidung gestellt. Für die Interpretation einfacher Gesetze hat deshalb i m Blick auf A r t . 20 GG die historische Interpretation Bedeutung, für die Verfassungsinterpretation sind beide Verfahren ungenügend. Es genügt nicht, daß der Prozeß der Entscheidungsfindung einsehbar, nachvollziehbar und diskutierbar wird. Gerade i n der Verfassungsinterpretation müssen die Interpretationsergebnisse die gleiche Gültigkeit und den gleichen Verbindlichkeitsanspruch besitzen wie die zu interpretierende Norm selbst. Philologisch-grammatische, logische, systematische, historische und genetische sowie teleologische Interpretation liefern je für sich nur mögliche Paraphrasen oder zulässige Aspekte der Normbedeutung, liefern auch Elemente für eine Verfassungstheorie, genügen aber i n ihrer Methodik nicht dem K r i t e r i u m allgemeiner Gültigkeit und ergeben nichts für die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Verbindlichkeit ihrer Ergebnisse. δδ Vgl. hierzu die Nachweise bei A. Mennicken, S. 24 ff.; i n diesem Zusammenhang stehen K . Binding, Α. Wach, J. Kohler, Schlossman, Staudinger/ Riezler, Engisch, Germann, Radbruch / Wolf, Meier-Hayoz; s. auch Th. Maunz, S. 43 f. 56 Th. Maunz, S. 43 f.; kritisch hierzu M. Kriele, S. 73.
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I n der Rechtspraxis, vor allem auch i n jener des Bundesverfassungsgerichts, herrscht ein Methodenpluralismus. Dies kann als Bestätigung dafür angesehen werden, daß keine der Methoden der Funktion einer Verfassung genügt. Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich zwar grundsätzlich zur objektiven Methode und billigt der historischen Methode subsidiäre Bedeutung zu. Aber nur i n wenigen Fällen sind seine Entscheidungen methodisch stringent begründet 57 , sondern dem durch die Entscheidungen vermittelten Eindruck nach am praktischen Ergebnis orientiert. Bereits für die Weimarer Reichsverfassung hat Richard Thoma dargelegt, daß von mehreren m i t Wortlaut, Dogmengeschichte und Entstehungsgeschichte vereinbaren Auslegungen einer Grundrechtsnorm derjenigen der Vorzug zu geben ist, welche die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet 5 8 . Hier w i r d deutlich, daß die Auslegungsmethoden nur den Begründungsrahmen dafür abzugeben haben, was als Sinn und Funktion der Verfassung, als juristischer Wirkungsgehalt einer Norm vorgedacht wurde. Das Plädoyer von Forsthoff und anderen für die Reduktion der Verfassungsinterpretation auf die genannten Verfahren ist nicht wissenschaftlich, sondern nur rechtspolitisch begründbar. Die positivistischen Interpretationsmethoden sind erklärbar i n ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Die vermeintliche Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, welche sie vermitteln, sind Folge des Vorverständnisses und der Sozialisation des sie anwendenden Juristen. Darin ist es auch erklärbar, daß 57 Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich selbst grundsätzlich zur objektiven Methode u n d b i l l i g t der historischen Methode n u r subsidiäre Bedeutung zu, die Praxis des Gerichts selbst ist aber Ausdruck eines Methodenpluralismus. Z u r methodischen Grundauffassung vgl. BVerfGE 1, 312; 8, 307; 10, 244; 11, 130 u n d öfters. Vgl. i m einzelnen Nachweise bei G. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 24 ff. m. N. d. Rechtsprechung; F. Ossenbühl, Die Interpretation von Grundrechten i n der Rechtsprechung des BVerfG, i n : N J W 1976, S. 2100 ff.; K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der B u n desrepublik Deutschland, S. 22 ff.; P. Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. I f f . , S. 133ff. (S. 2ff., ebenso H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 53 ff., 130 ff.). Allgemeine Auslegungskriterien gewinnt das Bundesverfassungsgericht daraus, daß es die Verfassung als logisch-teleologisches Sinngebilde auffaßt, dessen Einheit allgemeine G r u n d sätze u n d Leitideen, w i e etwa der Sozialstaat oder der Rechtsstaat u n d ein bestimmtes Menschenbild, die gemeinschaftsbezogene Person, gewährleisten. Diese Grundsätze bilden für das Gericht den Rahmen, i n dem die einzelnen Vorschriften auszulegen sind (hierzu P. Schneider, S. 13). 58 R. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichs Verfassung i m allgemeinen, i n : H. C. Nipper dey (Hrsg.), Die Grundrechte u n d Grundpflichten der Reichsverfassung, B e r l i n 1929, Bd. 1, S. 1 ff. (S. 9). Vgl. auch U. Scheuner, Grundrechtsinterpretation u n d W i r t schaftsordnung, i n : D Ö V 1956, S. 65 ff.; K. Hesse, S. 21. — Das methodisch richtige Ergebnis braucht nicht das verfassungsmäßig richtige Ergebnis zu sein, w e n n die Methode nicht selbst verfassungsrechtlich begründet ist.
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die interpretativ gewonnenen Anwendungsnormen für Juristen vielfach konsensfähig sind. Rechtspositivistische Interpretationsverfahren können eine Verfassung zu einer Summe rechtstechnischer Regeln denaturieren. „ I n einem technisch-formalistischen Verfassungsverständnis hat das Phänomen des Politischen keine echte Heimstatt, vielmehr w i r d dadurch die eigengesetzlich vorhandene Tendenz des Politischen zur völligen Emanzipation von der Normativität und zur Instrumentalisierung normativer Ordnungen für bestimmte Zwecke nur noch verstärkt 5 9 ." N i m m t man die rechtspositivistischen Interpretationsmethoden ernst, so wäre es vordringliche Aufgabe, zu jedem Normtext seine vollständigen Paraphrasen zu bilden, alle möglichen semantischen Bedeutungen darzustellen und zu erklären, w o r i n diese Bedeutungen und ihre verfassungsrechtliche Verbindlichkeit begründet sind. Interpretation wäre dann nicht mehr Reduktion von Komplexität, sondern ihre Erweiterung, der Jurist könnte dann nicht mehr die ins gesellschaftliche Gesamtsystem verweisenden Interdependenzzusammenhänge vernachlässigen, Interpretationsmethoden nicht mehr zur Reduzierung der Fragestellung benutzen, u m Gewißheit zu behalten. Hierin liegt die politische Bedeutung des Positivismus begründet 60 , welcher auf eine Denaturierung der demokratischen Funktion einer Verfassung hinausläuft, ohne „objektive Wahrheit" vermitteln zu können. 4.2.2 Werte und Wertung in der Grundrechtsinterpretation
I m Positivismus bestimmt der Normbegriff den Verfassungsbegriff, die Wertung des Interpreten geschieht i n der Auswahl und i n der A r t und Weise der Anwendung der Interpretationsmethoden, unter Umständen auch i n der Korrektur des methodisch erzielten Ergebnisses. I n der Werttheorie der Grundrechte konstituiert demgegenüber ein bestimmter Verfassungs- und Grundrechtsbegriff den Normbegriff und die Auslegung der Norm. Grundrechte werden als Wertobjektivationen verstanden, ihr Wertgehalt ist i n der staatlichen Ordnung zu realisieren. Aufgabe der Verfassungsauslegung ist es diesem Ansatz nach, den einzelnen Grundrechten und den Grundrechten insgesamt entsprechenden Wertgehalt i m staatlichen Leben zu bestimmen. Der Kanon der dogmatisierten Methoden findet dabei zwar Beachtung, das Interpretationsergebnis w i r d aber nicht allein i n i h m gerechtfertigt. I n der Auseinandersetzung u m den Geltungsanspruch des zweiten Teiles der Weimarer Verfassung, ihres Grundrechtsteiles, hat Smend 59 A. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung, i n : AöR, Bd. 85, Tübingen 1960, S. 241 ff. (S. 249). 60 Vgl. E. Fechner, Ideologische Elemente i n positivistischen Rechtsanschauungen, dargestellt an Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre", i n : ARSP, Beiheft N F 6 1970, S. 199 ff.; E. Franssen, Positivismus als juristische Strategie, i n : J Z 1969, S. 766 ff. (S. 770 ff.).
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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dargelegt, daß der Charakter der Grundrechte „eine neue Auslegung ihres stofflichen Inhaltes und eine neue Charakterisierung ihres formalen Geltungssinns" 61 erfordert. Nach Smend w i l l der Grundrechtskatalog „ein sachliches Reich von einer gewissen Geschlossenheit, d. h. ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem normieren, und er normiert es als nationales, als das System gerade der Deutschen, das allgemeine Werte national positiviert, eben dadurch aber den Angehörigen dieser Staatsnation etwas gibt, einen materialen Status, durch den sie sachlich ein Volk, untereinander und i m Gegensatz gegen andere sein sollen" 6 2 . Smend spricht i n diesem Zusammenhang auch von „Sachgehalt", „Prinzip", „Rechtsgut", „politisches Gut" und entsprechend von „Wertsystem" und „Sinnsystem" 6 8 . Das Verfassungsverständnis von Smend ist erklärbar aus der verfassungspolitischen Aufgabe, welche sich m i t der Neukonstituierung des deutschen Reiches i n der Weimarer Republik ergab: einer geschlagenen und zerspaltenen Nation ihre politisch-gesellschaftliche Grundordnung i n Aufnahme überkommener Wertvorstellungen zu erklären; es ist gebunden an philosophische Problemstellungen, wie sie insbesondere von E. Husserls Phänomenologie und Dilthey's Arbeiten zum Problem des geschichtlichen und geisteswissenschaftlichen Erkennens ausgingen. Anliegen ist, die psychisch-geistigen Zusammenhänge zu erklären, Lebenswirklichkeit als „Wertgemeinschaft der K u l t u r " i n der „Sozialität des Sinnerlebens" zu deuten. Smend wurzelt i n dieser philosophischen Schule, insbesondere ist er geprägt von den Arbeiten Litt's 6 4 . Das wertethische Verständnis der Grundrechte hat maßgebliche Bedeutung i n der gegenwärtigen Verfassungslehre. I n Aufnahme der Smendschen Überlegungen und der Arbeiten von K ä g i 6 5 ist diese Lehre für das Grundgesetz vor allem von Dürig geprägt worden 6 6 . Philoso61 R. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, (1928), wieder abgedr. i n : Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. B e r l i n 1968, S. 119 ff. (S. 263); vgl. hierzu u n d zum Folgenden auch oben unter 3.4.2 u. 3.4.3. 62 R. Smend, S. 264, S. 264 f. 63 R. Smend, S. 260 ff. 64 R. Smend, S. 125, dort auch Diskussion von Th. Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 2. A u f l . Leipzig 1924, S. 54 ff., 3. A u f l . 1926, S. 46 ff., 142 ff., 174 ff., 187 ff. 65 W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945. ββ Vgl. etwa G. Dürig, i n : Maunz / D ü r i g / Herzog, Grundgesetz, München 1958, A n m . I f f . zu A r t . 1 GG, A n m . I f f . zu A r t . 2 G G jeweils m. w . N.; F. Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 2101 ff., S. 2106; hierzu auch H. G. Hinderling, S. 213 ff., S. 220 ff. m. w. N. u n d bereits J. M. Wintrich, Z u r Problematik der Grundrechte, K ö l n u. Opladen 1957; insges. vgl. auch bei Η. Ρ. Bull, W e r t bezug u n d N o r m a t i v i t ä t i n der Politikwissenschaft, i n : JZ 1974, S. 160 ff. (S. 161); zur Begründung i m einzelnen vgl. bei H. Wilke, Stand u n d K r i t i k der neueren Grundrechtstheorie, B e r l i n 1975, S. 24 ff.
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phische Grundlage bildet hier auch die materiale Wertethik von Nikolai Hartmann und Max Scheler, welche Werten objektive Seinsformen zubilligen, die i n ontologischen und phänomenologischen Verfahren zu erschließen sind 6 7 . Die Grundrechte sind so verstanden Ausdruck objektiver Werte, die an und für sich vorgegeben sind und i n den Grundrechten zum Begriff, zur Sprache und i n verfassungsrechtliche Gültigkeit gebracht sind. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Vorstellungen weitgehend übernommen, es bezeichnet die Grundrechte als „Werte", ihre Gesamtheit als „System" oder „Wertsystem" 6 8 . Nach Ansicht dieses Gerichtes liegt die objektiv-verfassungsrechtliche Bedeutung der Normierung von Grundrechten i n der Errichtung einer „objektiven Wertordnung" oder eines „Wertsystems", das „seinen Mittelpunkt i n der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde findet" 6 9 . Maunz stellt zutreffend fest, daß damit ein tiefgreifender Wandel gegenüber der Methodik der Verfassungsauslegung i n der Weimarer Zeit vollzogen wurde. Die Lehre von der Verfassung als Wertsystem und Wertordnung ist etwas typisch Neues i n der deutschen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, „eine bedeutsame Bereicherung unseres Verfassungsrechts und Verfassungslebens" 70 . Aus dieser Postulierung und Stilisierung von Grundrechten zu Werten und der Grundrechte insgesamt zu einem Wertsystem und einer Wertordnung ergibt sich, daß das „Finden verfassungsgerichtlicher Urteile nicht so sehr ein bloßer Erkenntnisvorgang sein kann, sondern Elemente werterfüllter Würdigung der Verfassungswirklichkeit und willensmäßiger Entscheidung enthält" 7 1 . 67 N. Hartmann, Ethik, 3. A u f l . B e r l i n 1949; M. Scheler, Der Formalismus i n der E t h i k u n d die materiale Wertethik, 4. A u f l . Bern 1954. — Vgl. insges. A. Podlech, Wertentscheidung u n d Konsens, i n : G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung u n d Konsens, B e r l i n 1976, S. 9 ff. 68 Z u r Argumentationsfigur der Wertordnung u n d ihrer A n w e n d u n g i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vgl. i m einzelnen H. Goerlich, Wertordnung u n d Grundgesetz, Baden-Baden 1973. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings bislang keine generalisierbaren Aussagen über das Wertsystem als Wertrangordnung gemacht, vgl. dazu auch E. Denninger, Freiheitsordnung — Wertordnung — Pflichtordnung, i n : J Z 1975, S. 545 ff. (S. 546), H. Goerlich, Wertordnung u n d Grundgesetz, Baden-Baden 1973, S. 135 ff. m. w . N. 69
BVerfGE 2, 1, 12; 5, 85, 134 ff., 197 ff.; 6, 32, 40 f.; 7, 198; 35,114; vgl. hierzu insges. auch m. w . N.; F. Müller Juristische Methodik, B e r l i n 1971, S. 40; P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl. Karlsruhe 1972, S. 6 ff.; E. Denninger, Staatsrecht, Reinbek 1973 Bd. 1, S. 12, 16; H. G. Hinderling, S. 213 ff.; K. Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, S. 20. 70 Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 46. 71 Th. Maunz, S. 46.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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Die Manifestation von Grundrechten als Werte und des Grundrechtskatalogs als Wertsystem impliziert einerseits eine spezifische „Legitimation von Herrschaftsakten — ohne Rückgriff auf eine Analyse von Freiheitsbedingungen" 72 , beinhaltet andererseits aber auch die mögliche Ausweitung des Geltungsanspruches der Grundrechte, da es nun nicht mehr u m die Gewährleistung von verfassungsrechtlich statuierten, konkreten Rechten allein geht, sondern u m die Realisierung einer Wertordnung 7 3 . Das überkommene Verständnis von Grundrechten als Individualrechten, als subjektiv öffentlichen Rechten des B ü r gers gegenüber dem Staat oder als Gewährleistungen des Staates an den Bürger und als Selbstbindung des Staates an diese Gewährleistung freiheitlicher Handlungsspielräume w i r d so ergänzt durch die Konstitution staatlicher Ordnung i n einer und als eine allgemeine Wertordnung. Forsthoff stellt zutreffend fest, „indem Smend die Grundrechte, die man bisher als Individualrechte verstanden hatte, zu Werten erklärte, fügte er nicht der bisherigen Grundrechtsauffassung einen neuen Aspekt hinzu, sondern er versetzte die Grundrechte . . . i n eine andere logische Dimension. Denn wenn man schon die Grundrechte zu Werten erklärte, dann lag die Frage nahe, warum diese Werte (Gleichheit, Meinungsfreiheit usw.) nur i m Verhältnis des einzelnen zum Staate bestehen sollten; dann muß te die Ausdehnung des Wertes auf alle Rechtsbeziehungen, also auch der Rechtsgenossen untereinander als konsequente Wertverwirklichung erscheinen . . ." 7 4 . Nach Forsthoff bedeutet das Verständnis der Verfassungsnorm als Ausdruck eines Wertsystems die Entwertimg des Wortlauts und der begrifflichen Struktur der Verfassung 75 . Der politische Entscheidungsgehalt einer Verfassung und die Verwurzelung i m Politischen werde aufgegeben, die Stabilisierung der Verfassung i m juristischen Sinne werde durch ein Wertsystem beeinträchtigt, „ i n einer Zeit, i n der die Vertauschbarkeit der Werte so oft demonstriert worden ist" 7 6 . Es mag zutreffend sein, daß die j u 72 E. Denninger, Freiheitsordnung - Wertordnung - Pflichtordnung, i n : JZ 175, S. 545 ff. 73 Das Bundesverfassungsgericht hat i n ständiger Rechtsprechung k l a r gestellt, daß die Grundrechte nicht n u r Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind, sondern auch als objektive Normen ein Wertsystem statuieren, das als verfassungsrechtliche Grundentscheidung f ü r alle Bereiche des Rechts Geltung beansprucht (BVerfGE 21, 372 unter Hinweis auf BVerfGE 5, 204 ff.; 6, 40, 72; 7, 204 f.; 10, 81; vgl. ferner BVerfGE 6, 388; 12, 259; 20, 175; 24, 389; 25, 263; 30, 188; 33, 330; 34, 280; 35, 114, 219); i m übrigen vgl. E. Denninger, S. 547. 74 E. Forsthoff, Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, i n : Festschrift für C. Schmitt, B e r l i n 1959, S. 35 ff. (S. 45f.; Forsthoff geht i n diesem Zusammenhang auch auf die A u s w i r k u n g eines solchen Verfassungsverständnisses auf die D r i t t w i r k u n g von Grundrechten ein). 75 E. Forsthoff, Z u r Problematik der Verfassungsauslegung, S. 28. 76 E. Forsthoff, S. 27.
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ristische Stabilität einer Verfassung leidet, wenn diese als Wertordnung verstanden wird, für die Funktion einer Verfassung i n einer Gesellschaft ist es aber gleichgültig, ob ein Status quo fixiert w i r d durch die Gesetzesqualität und entsprechende Interpretationen von Grundrechten oder durch die Annahme einer allgemeinen verbindlichen Wertordnung. Verfassungstheoretisch und methodologisch ist die Problemlage aber verändert. Die Begründung des Geltungsanspruchs einer Entscheidungsnorm als Konkretisierung einer allgemeinen Grundrechtsnorm ist damit nicht mehr nur ein logisch-methodologisches Problem, sondern auch ein Erfahrungsproblem. I n der Realisierung der Verfassung ist nun zu begründen, daß die erlaubte oder verbotene Handlung den gleichen Wert darstellt und realisiert wie ihn die anzuwendende Norm beinhaltet. Auch i m wertethisch begründeten Grundrechtsverständnis werden die überkommenen Methoden benutzt, zulässige Konkretionen können aber auch schlicht begründet sein i n der verfassungsmäßigen Werthaftigkeit. Der Verfassung w i r d ein bestimmtes Wertverständnis, eine Bewertung zugrundegelegt, staatlich-gesellschaftliches Handeln w i r d an diesem zugedachten Wertverständnis gemessen. Nach Zippelius hat die herrschende Rechtsmoral Richtmaß für das Wertverständnis zu sein. Das geltende Rechtsethos sei nicht nur eine Summe von Bewußtseinsvorgängen, sondern gleichbleibender Gegenstand des Bewußtseins, „objektiver Geist" nicht i m Sinne Hegels, aber Nikolai Hartmanns. Ihren wichtigsten Niederschlag finden die geltenden rechtsethischen Auffassungen i m Recht. Das Recht selbst habe also, ohne daß hier ein unzulässiger Zirkel vorliege, einen „Indizwert" 7 7 . Die Wertungen, die i n diesen Indizien zum Ausdruck kommen, „schließen sich nicht zu einer lückenlosen Wertordnung zusammen, aus der alle Wertungsfragen, die das Leben bringt, bereits eine Entscheidung fänden". Aber es gäbe i n jeder Gemeinschaft zahlreiche Situationen, die sich häufig wiederholen, „erfahrbare Typen von allgemein anerkannten ethischen Entscheidungen" 78 . Eine solche Annahme ist nur zu rechtfertigen, wenn als Entscheidungsgrundlage allein das herrschende Wertethos zugelassen wird. „Die Wertkonsense, welche das positive Recht rezipiert und kontrolliert, sind grundsätzlich nicht soziale oder politische Ideologien, sondern — wenngleich hiervon mitbestimmte — als herrschende Wertvorstellungen anerkannte Entscheidungsgesichtspunkte 7 0 ." „Der Wertkonsens und die Rücksicht auf seine Festigung oder doch auf die notwendige Entsprechung seiner Erwartungen bilden den Impetus für die Richtigkeitskontrolle der Entscheidung 80 ." 77 R. Zippelius, Wertungsprobleme i m System der Grundrechte, München, B e r l i n 1962, S. 148, 151. 78 R. Zippelius, S. 157, 180. 79 J.Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung, S. 162.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
133
Es t r i f f t zu, daß vielfältig auf herrschende Wertvorstellungen als Entscheidungsgrundlagen abzustellen ist, beispielsweise bei Verkehrssitte oder Handelsgebrauch. Ein solcher Interpretationsrahmen kann aber nicht unkritisch für die Grundrechte übernommen werden, denn er würde i n gewisser Weise zu einer Gleichsetzung von normativem Gehalt der Grundrechte m i t herrschenden Anliegen und Interessen führen 8 1 und würde insbesondere die Interpretation der Verfassung an die Realisierung solcher Anliegen und Interessen i n Gesetzen binden, die normativ-programmatische Zielfunktion der Verfassung für die politisch-gesellschaftliche Grundordnung könnte umgekehrt werden i n eine Rechtfertigung des Faktischen. Toleranz oder Schutz von Minderheiten hat i n einem solchen Verfassungsverständnis keinen besonderen Stellenwert. Die K r i t i k von Forsthoff richtet sich auch gegen die geisteswissenschaftliche Interpretationsmethode einer wertphilosophisch verstandenen Grundrechtsordnung, da diese die Entscheidung, die man i n der Verfassung sucht, dem Interpreten zuspiele. Nach Forsthoff bezeichnet das Wertsystem „eine geistige Dimension, aber keine solche, die i m Bereich juristischer Norminterpretation ihre Stelle haben könnte . . . Dafür, daß die Grundrechtsnormierung irgendwelchen auf sachbezogene Systematik angelegten Vorstellungen jemals gefolgt wäre, fehlt jeder historische und sonstige Anhalt . . . Die Jurisprudenz vernichtet sich selbst, wenn sie nicht unbedingt daran festhält, daß die Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion i m Sinne des syllogistischen Schlusses ist" 8 2 . Forsthoff w i r f t einer Verfassungsinterpretation, welche eine an materialen Gehalten ausgerichtete, sinndeutende Auslegung des Verfassungsgesetzes vornimmt, vor, daß damit i n relativ kurzer Zeit i n hohem Maße das Verfassungsgesetz an Rationalität und also Evidenz verloren habe. Seiner Ansicht nach schließen sich die geisteswissenschaftlich-werthierarchische Methode und die sonstigen herkömmlichen Methoden gegeneinander aus. Die erstere löse das Gesetz i m herkömmlichen Sinne auf, die letzteren erkennen seine Verbindlichkeit auch und gerade i n seinen rationalen und formalen Qualitäten an 8 3 . Die m i t der Annahme eines Wertsystems verbun80 J. Esser, S. 167. — Konsens i n der Werterfahrung vermittelt keine juristische Gültigkeit. Das ganze Problem der Konsens Vermittlung i m Rahmen einer Sozialisation u n d durch die Formen der Darstellung des p o l i tischen Systems bleibt dabei ausgespart. Vgl. zu der angesprochenen Problematik insges. E. Topitsch, K r i t i k der phänomenologischen Wertlehre, i n : H. A l b e r t / E . Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1971, S. 16 ff.; W. Weichschedel, Recht u n d E t h i k , Karlsruhe 1956. 81 Vgl. insges. A. Podlech, Wertentscheidung u n d Konsens, S. 16 ff. m. w. N. 82 E. Forsthoff, Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, S. 39, 40 f. 83 E. Forsthoff, S. 51 f.
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dene Rangstufung ergebe sich nur aus der wertphilosophischen Interpretation, womit aber der unbedingte Geltungsanspruch der Rechtsordnung und ihrer Normen aufgehoben werde 8 4 . Eine explizite Darstellung hat die geisteswissenschaftliche Methode bislang nicht gefunden, soweit es u m ihre Verwertbarkeit i n der Rechtswissenschaft und insbesondere i m Verfassungsrecht geht. Zippelius n i m m t an, daß sich aus dem Feld bloß subjektiver, punktueller Werterfahrung Inseln des „intersubjektiv Nachvollziehbaren und Nachprüfbaren" herausheben, so vor allem die elementaren Werterfahrungen, daß etwa Vertragstreue, Ehrlichkeit, M u t usw. je für sich allein genommen wertvoll sind, ferner logische und sachliche Strukturen, die unter der Voraussetzung bestimmter Wertungen allgemeingültig zu bestimmten Folgerungen führen, außerdem gebe es noch einen Bereich partieller Intersubjektivität bestimmter Werterfahrung, also solche Einsichten, die eine mehr oder minder breite Basis möglicher gemeinsamer Werterfahrung besitzen 85 . Die empirische Feststellbarkeit bestimmter Werthaltungen besagt aber nichts für ihre Verbindlichkeit, auch nicht wenn sie bei Verfassungsjuristen oder Gerichten vorherrschen. Empfindungen, Gefühle mögen zwar subjektive Eindrücke vermitteln, subjektiv motivierend wirken, i n ihnen mag sich ein „Wert" oder „ U n w e r t " niederschlagen, sie bilden aber keine Grundlage intersubj e k t i v zugängiger Werterfahrung. Werterfahrung ist historisch, soziokulturell, persönlich-subjektiv, sozialisationsmäßig bedingt 8 6 . Die Zubilligung eines Wert- oder Unwertgehaltes ist nicht die Erkenntnis einer vorgegebenen Objektivität, sondern ist Folge individueller oder sozial vermittelter, internalisierter Anliegen und Interessen, sie können nicht aus Erkenntnissen von Tatbeständen abgeleitet werden. Die Begründung eines Wertes, eines Grundanliegens ist nur dadurch möglich, daß diese wertende Aussage etwas ausdrückt, das vom Wertenden u n m i t telbar, u m seiner selbst w i l l e n erstrebt oder verworfen wird. Allgemeinverbindlichkeit w i r d abgelöst durch das „Selbstvertrauen der 84 E. Forsthoff, S. 38; zur K r i t i k A. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung, i n : AÖR, Bd. 85, Tübingen 1960, S. 241 ff. u n d Fr. Müller, S. 54 ff. 85 R. Zippelius, Uber die Wahrheit von Werturteilen, i n : Festschrift f ü r Th. Maunz, München 1971, S. 507 ff. (S. 520 m . w . N.); kritisch hierzu A. Pod lech , Wertungen u n d Werte i m Recht, i n : AÖR, Bd. 95, Tübingen 1970, S. 201 f.; zur empirischen Seite des allgemeinen Werturteils vgl. K . Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, F r a n k f u r t / M . 1972, S. 68 ff. 88 Vgl. E. Topitsch, K r i t i k der phänomenologischen Wertlehre, S. 135; K. Grimmer, Die Rechtsfiguren einer „ N o r m a t i v i t ä t des Faktischen", B e r l i n 1971, S. 39 ff., S. 62 ff. jeweils m. w. N. — Der Versuch H. Hubmanns einer Systematisierung der Werterkenntnis (H. Hubmann, Wertung u n d Abwägung i m Recht, München 1977, S. 7 f., S. 10 ff.) überzeugt aus den dargelegten Gründen nicht.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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Vernunft" 8 7 . Die Geltung eines Werturteils heißt nur, die „Zuschreibung eines Wertcharakters an einen Gegenstand soll allgemein anerkannt werden" 8 8 . Es ist wohl möglich, Werte zu messen, aber Aussagen über Werte können nicht durch intersubjektive Meßaussagen ersetzt werden wie i n den Naturwissenschaften Wahrnehmungsaussagen durch Meßaussagen. Es gibt für jedes Individuum optimale Entscheidungen, diese lassen sich auch als Funktion wirksamster Werte ausdrücken, aber es ist nicht möglich, darauf eine allgemeine Nutzen- oder Wohlfahrtsfunktion zu gründen 8 9 oder den Bedeutungsgehalt der Grundrechte daraus zu bestimmen. Jeder Rechtssatz stellt für sich oder i n Verbindung m i t anderen Rechtssätzen eine Bewertung menschlicher Handlungsziele und Handlungsmittel dar 9 0 und insoweit positiviert das Recht Werte als Ausdruck bestimmter soziokultureller und ökonomischer Bedingungen. Die A l l gemeinheit der Wertaussage i n den Grundrechtssätzen erfordert aber ihre Transformation i n konkrete Wertbezeichnungen i n spezifischen sozialen Situationen. I n der Erfahrung eines entsprechenden Wertoder Unwertgehaltes i n der Vielfalt sozialer Situationen können sich entsprechende Wertbezeichnungen ergeben. Diese Erfahrung ist aber selbst eine je individuelle und sozial vermittelte Bewertung und hat keine intersubjektive Gültigkeit, ihr kommt keine verfassungsrechtliche Verbindlichkeit zu. Ähnlich wie naturrechtlichen Anschauungen gelingt es dem werttheoretischen Grundrechtsverständnis nicht, die möglichen Konkretionen der allgemeinen verfassungsrechtlichen Wertaussagen anzugeben. Dies zeigt nicht nur, daß ein allgemeiner Wertkonsens und eine allgemeine und gleiche Werterfahrung fehlen, sondern auch, daß es kein methodisch gesichertes Verfahren der Konkretion und Spezifikation allgemeiner Wertaussagen gibt 9 1 . 87 Vgl. hierzu beispielhaft G. Weisser, Z u r E r k e n n t n i s k r i t i k der Urteile über den Wert sozialer Gebilde u n d Prozesse, i n : H. A l b e r t / E . Topitsch, Werturteilsstreit, S. 125 ff.; W. Dubislav, Z u r Unbegründbarkeit der Forderungssätze, i n : H. A l b e r t / E. Topitsch, S. 439 ff. 88 V. Kraft, Wertbegriff u n d Werturteile, i n : H. A l b e r t / E . Topitsch, S. 44 ff. (S. 63). 89 Vgl. W. Leinfellner, E i n f ü h r u n g i n die Erkenntnis- u n d Wissenschaftstheorie, Mannheim usw. 1967, S. 205; A. Podlech, Recht u n d Moral, S. 140; K. J. Arrow, Social Choice and I n d i v i d u a l Values, 2. Aufl., New Y o r k 1963; E. Streissler, Z u r Anwendbarkeit v o n Gemeinwohlvorstellungen i n richterlichen Entscheidungen, i n : Z u r Einheit der Rechts- u n d Staatswissenschaften, Karlsruhe 1967, S. 11; H. H. v. Arnim, Gemeinwohl u n d Gruppeninteressen, F r a n k f u r t / M a i n 1977, S. 54 ff. m. w . N. 90 Allgemein hierzu K. Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, S. 23 ff., S. 50 ff. 91 Es erübrigt sich i n diesem Zusammenhang die gesamte neuere w e r t philosophische Diskussion nachzuvollziehen, vgl. K . Grimmer, S. 39 ff., 62 ff., 72 ff.; A. Podlech, Wertungen u n d Werte i m Recht, S. 185 ff. (S. 206)
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Es lassen sich zwar — wie es Hubmann unternimmt — Quellen sogenannter ursprünglicher Werterkenntnis benennen wie Kulturauffassung, Werterfahrung, Rechtsgefühl, Natur des Menschen. Aber dabei handelt es sich nur u m wertvermittelnde Sozialfaktoren. Formale Präferenzregeln, Hubmann nennt Ranghöhe, Größe des Wertgehaltes, Grad der Bedürfnisbefriedigung, sind nur ein theoretisches Schema zur Bewertung von „Werten", die Anerkennung ihrer Ergebnisse ist gebunden an die Anerkennung der Präferenzregeln und eine gleiche Werterfahrung 9 2 . Das i m Mantel des Verfassungsrechtes als Wertordnung praktizierte Verfassungsverständnis ist denn auch mehr Ausdruck individueller Wertgefühle oder herrschender Wertanschauungen als Realisierung der verfassungsrechtlichen Ordnung, die verfassungsrechtliche Beurteilung politisch-gesellschaftlicher Praxis ist abhängig von der Sensibilität und ethischen Schulung des Juristen 9 3 . Der Wertordnungsaspekt mag eine besondere verfassungspolitische Funktion haben, wenn Grundrechte nicht als unmittelbar gültiges Recht, sondern nur als Programmsätze statuiert werden. I n einem solchen Falle ist es wesentlich, die Werthaltung deutlich zu machen, deren Ausdruck Grundrechte sind, weil damit der soziale Stil für eine Zeit revolutionärer Veränderungen gekennzeichnet wird, welcher i n Rechtssetzung und Rechtsprechung zum Ausdruck zu bringen ist. I n dieser Bedeutung rechtfertigt sich Rudolf Smends Behandlung der Grundrechte der Weimarer Verfassung als Wertordnung. Es erscheint aber gewillkürt, einer philosophischen und verfassungstheoretischen Interpretation von Grundrechten als Wertordnung — und d. h. einem bestimmten wertphilosophischen Verständnis den Verbindlichkeits- und Gültigkeitsanspruch zuzumessen, wie dies durch A r t . 1 Abs. 3 GG geschieht. Das Grundgesetz selbst bietet aus sich keinen Anlaß, als Wertordnung oder als Wertsystem verstanden zu werden — entsprechende Nachweise sind denn auch bislang nicht geführt. 4.2.3 Institutionelles Grundrechtsverständnis
Das positivistische Grundrechtsverständnis sieht i n den Grundrechten verfassungsverbindliche Statuszuweisungen und Verhaltensbestimmungen, der normative Gehalt der Grundrechte ist durch philologischgrammatikalische, logisch-systematische, historische und teleologische Auslegung zu bestimmen. Es handelt sich u m ein methodisch restrikjeweils m. w. Ν . ; H . - M . Pawlowski, Wert, Erkenntnis u n d Entscheidung, i n : Festschrift f. K . Duden, München 1977. 92 s. H. Hubmann, S. 20 ff. 93 Z u metajuristischen Entscheidungsgrundlagen vgl. E. Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung, B e r l i n 1977, S. 12, S. 58 ff.
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tives Grundrechtsverständnis. Die wertphilosophische Ausdeutung der Grundrechte überschreitet diese restriktiven Grenzen i n zweifacher Hinsicht: Grundrechte werden nicht nur als substantielle Rechte, als Rechtsgewährleistungen und Handlungsbegrenzungen verstanden, sondern über ihre Eigenschaft als subjektiv-öffentliche Rechte hinaus w i r d ihnen eine Wertordnung, ein Wertsystem zuerkannt, das verfassungsrechtlichen Verbindlichkeitsanspruch erhebt. I n der Gewinnung des normativen Gehaltes dieser Wertordnung w i r d der Kanon dogmatisierter Interpretationsmethoden überschritten, w i r d auf der Grundlage wertphilosophischer Deutungsmuster und geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Verfahren die Frage nach dem Sinn einer Norm und dem Wertgehalt einer Handlung, Situation gestellt und aus der erfahrenen Wertintension beantwortet. Das institutionelle Verständnis der Grundrechte überschreitet ebenfalls die i m Positivismus begründete restriktive Funktion der Grundrechte, indem es davon ausgeht, daß beispielsweise gesellschaftlich ausgeprägte Handlungskomplexe wie Vertrag, Eigentum, Ehe und Familie, Rundfunk, Presse u. a. als soziale Komplexe gesehen werden müssen. Diese sozialen Beziehungen haben zweifelsfrei institutionellen Charakter, sie sind durchgegliedert nach Funktionen, Rollen und normativen Bezügen. „Je wichtiger eine soziale Gruppe für das Ganze der betreffenden Gesellschaft ist, desto fester sind die entsprechenden Institutionen ausgebildet. . . . So begegnet also der Mensch von der ersten Minute seines Lebens ab gesellschaftlichen Institutionen, ohne die seine Person sich gar nicht ausbilden kann 9 4 ." Institutionelle Ausprägungen gesellschaftlicher Wirklichkeit werden aber nicht nur als Bestandteil der Verfassungswirklichkeit gesehen, sondern die entsprechenden Grundrechte werden selbst als institutionelle Gewährleistungen verstanden. 4.2.3.1 Eine Verbindung zwischen positivistischem Rechtsdenken und einer institutionellen Rechtsauffassung unternimmt Ernst Forsthoff. „Seit der Überwindung des Positivismus wissen w i r , daß sich das Recht nicht i n dem positiven Ausdruck erschöpft, den das Gesetz i h m gibt. Das Recht ist eine Kulturerscheinung und als solche Teil der objekiven Kulturgüter, innerhalb deren die Erscheinungen des Rechts nach Rang und Sinnzusammenhang ihren festen Ort haben." Nach Forsthoff kommt es darauf an, „zu einer A r t der Rechtsanwendung zu gelangen, die das positive Recht i n seiner Strenge bestehen läßt, es jedoch i m Zusammenhang m i t den tragenden allgemeinen Rechtsgedanken versteht und handhabt". Das aber sei das Anliegen der institutio94 Vgl. H. Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen, i n : R. Schnur (Hrsg.), I n s t i t u t i o n u n d Recht, Darmstadt 1968, S. 265 ff.
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nellen Rechtsauffassung und ihrer Methode. I h r stellt sich die Rechtsordnung als ein sinnvolles Gefüge von Institutionen, d. h. von gestalthaften Rechtsgebilden dar. Staat, Verfassung, Selbstverwaltung, Eigentum, Enteignung, Polizei, Gesetz, Verordnung, Verwaltungsakt, Vertrag, Ehe und Familie stellen sich als solche Gebilde dar, die je ein Sinnganzes sind, zu denen sich die Vorschriften des positiven Rechts und die sie tragenden allgemeinen Rechtsgedanken zusammenfügen. Einen Rechtssatz auslegen, heißt also, i h n wörtlich interpretieren und aus dem immanenten Sinnzusammenhang der Institution und der Stellung der Institution i m ganzen der Rechtsordnung verstehen." Die Überlegenheit eines Denkens i n Rechtsinstituten liegt danach i n der Öffnung gegenüber den tragenden Grundgedanken des Rechts und der Öffnung gegenüber der Wirklichkeit als der Realität der gegebenen Zustände, zu welcher ein Denken, welches sich am Gebilde orientiert, zwangsläufig gedrängt wird, „ w e i l auch das Gebilde nicht nur die Verdichtung bestimmter geistiger Gehalte des Rechts, sondern ebenso sehr auch ein Stück der Wirklichkeit ist" 9 5 . Die Grundrechte, vorrangig zunächst verstanden als subjektiv-öffentliche Rechte erscheinen so gleichzeitig als Grundelemente objektiver Ordnung des Gemeinwesens. Institutionelle Garantien sind Aussprüche i n Verfassungsvorschriften, die auf eine Gewährleistung bestimmter Einrichtungen, nicht aber allein auf eine Gewährung individueller Rechte abzielen. Sie garantieren die Einrichtung i n der Weise, daß sie als solche i n der Verfassung verankert ist, ohne sie i n allen Einzelheiten des konkreten Inhaltes festzulegen 96 . Allerdings soll damit — nach Forsthoff — keine Entwertung des positiven Rechtes vorgenommen werden, keine Auslieferung an „subjektiv verfälschte" allgemeine Rechtsgedanken und „außerrechtliche Zwecke" 9 7 . Es ist deutlich, daß ein solches institutionelles Rechtsverständnis, indem es den Interpretationsrahmen für positive Rechtsnormen liefern w i l l , das positive Recht einbindet und interpretiert i n den bestimmenden sozialen Strukturen und herrschenden Auffassungen über Sinn und Zweck von Rechtsgebilden. Ein solches eingeschränktes Verfassungsverständnis findet i m Grundgesetz selbst keine Legitimation, das institutionelle Grundrechts95 E. Forsthoff, Verwaltungsrecht, A l l g . Teil, 10. A u f l . München u. B e r l i n 1973, S. 164/165, welcher Bezug n i m m t auf die anthropologische I n s t i t u tionenlehre von A. Gehlen. 96 Vgl. C. Schmitt, Freiheitsrechte u n d institutionelle Garantien der Reichsverfassung, i n : ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, B e r l i n 1958, S. 140 ff. (S. 140 f.); ders., Verfassungslehre, 4. Aufl., B e r l i n 1965, S. 170 ff.; G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs v o m 11. August 1919, Nachdr. d. 14. A u f l . Bad H o m b u r g v. d. H. usw. 1968, S. 520. F ü r die Grundrechtsdogmatik vgl. Th. Maunz, S. 106, K. Hesse, S. 118, BVerfGE 6, 55 (72), 6, 309 (355), 10, 59 (66), 10, 118 (121), 12, 205 (260). 97 E. Forsthoff, S. 164.
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Verständnis von C. Schmitt und E. Forsthoff beinhaltet keine Lösung der Probleme der Verfassungsinterpretation. 4.2.3.2 Erweitert w i r d das institutionelle Verfassungsverständnis von P. Häberle 9 8 i m Anschluß an Hauriou 9 9 und Erich Kaufmann 1 0 0 . Es ist das historische Verdienst des französischen Juristen Maurice Hauriou, eine rechtswissenschaftliche Theorie der Institution begründet zu haben. Ansätze institutionellen Rechtsdenkens finden sich bereits bei Friedrich Julius Stahl 1 0 1 und Friedrich Carl von Savigny 1 0 2 . „Die Institutionen bilden" — nach Hauriou — „ i m Recht wie i n der Geschichte die Kategorie der Dauer, der Beständigkeit und des Wirklichen; der Vorgang ihrer Gründung bildet die rechtliche Grundlage für die Gesellschaft und den Staat" 1 0 3 . Haurious Institutionenlehre ist eine Auseinandersetzung zwischen einem allzu einseitigen Subjektivismus, der das Individuum als zentrale Rechtspersönlichkeit sah, unvermittelt dem Staat gegenübergestellt und andererseits einem Objektivismus, der aus der Erkenntnis sozialer Phänomene, losgelöst von jeder A r t Subjektivismus eine allgemeine Theorie begründete. Für die Grundrechte, welche angeblich „durchweg einer institutionellen Wertung zugänglich und bedürftig" 1 0 4 sind, bedeutet dies nach Häberle die Überwindung der Lehre von C. Schmitt 1 0 5 , wonach institutionelle Garantien von den Grundrechten zu unterscheiden sind, weil Grundrechte i m eigentlichen Sinne nur die liberalen Menschenrechte der Einzelperson sind 1 0 8 und zum Wesen der institutio98 P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, 2. A u f l . Karlsruhe 1972, S. 73 ff. 99 Vgl. M. Hauriou, Die Theorie der I n s t i t u t i o n u n d zwei andere Aufsätze. M i t Einl. u. Bibl., hrsg. v. R. Schnur, B e r l i n 1965. 100 A. Kaufmann, Diskussionsbeitrag, i n : W d S t R L 4, B e r l i n / Leipzig 1928, S. 77 f. (81, 82): I n den Rechtsinstituten als solchen liegen gewisse letzte Normen eingeschlossen, deren A u f f i n d u n g u n d Darlegung die eigentlich wesentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft ist, die allseits anzuwenden sind. Eine Besinnung auf die letzte Bedeutung u n d den Sinngehalt der Institute w i r d erforderlich. ιοί v g l . jr. j . stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, T e i l 2, 5. Aufl. 1878, S. 176 ff. 102 Vgl. C. F. Savigny, Das System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 9 ff. 103 M. Hauriou, Die Theorie der Institution, S. 27; ders., Macht, Ordnung, Freiheit, S. 101. 104 P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19, Abs. 2 GG, S. 70. P. Häberle scheint einem Mißverständnis zu unterliegen, vor dem Schnur bereits i n der Einleitung zu Haurious Werk warnte, w e n n er von „Doppelcharakter der Grundrechte" spricht, denn die „institutionelle Seite" v e r m i t telt bereits subjektives öffentliches Recht u n d „objektive Ordnung". 105 C. Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl., unveränd. Nachdr. d. Aufl. 1928, B e r l i n 1970, S. 170. 106 C. Schmitt. S. 164.
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nellen Garantie weder ein subjektives Recht noch die Offenhaltung eines Rechtsweges gehört 1 0 7 . Diese Institutionenlehre wendet sich auch gegen den Positivismus der älteren deutschen Staatsrechtslehre um Gerber, Laband und Jellinek, die den Realismus von Recht und Grundrecht ignorieren und die „Rechtsnorm auf subjektive Willensvorstellungen des als Person verstandenen Staates zurückführen, nur um die ,Rechtsordnung' gewaltsam i n das subjektive Rechtssystem zu pressen" 1 0 8 . Die Institutionen werden nicht durch Rechtsnormen konstituiert, doch schaffen die Institutionen selbst Recht, und dieses Recht ist dann wiederum an der Entwicklung neuer Institutionen — allerdings nicht monokausal — beteiligt: „Das wirklich objektive Element des Rechtssystems ist . . . die Institution. Die Institutionen schaffen die Rechtsnormen — nicht die Rechtsnormen die Institutionen 1 0 9 ." Aus der Sicht heutiger Soziologie kann allgemein gesagt werden, „die Institutionen vereinfachen und normieren das i m Interesse der Stabilität eines sozialen Systems und der Koordination der sozialen Interaktionen erforderliche soziale Verhalten durch die Vorgabe obligatorischer Verhaltensmuster, deren Ausführungen sie kontrollieren. Die Folge ist, daß die Institutionen die komplexen gesellschaftlichen Prozesse ordnen, strukturieren, stabilisieren und zugleich koordinieren" 1 1 0 . W i r d dieser Prozeß besonders nachdrücklich verrechtlicht und dadurch eine Disziplinierung des sozialen Lebens erreicht, spricht man von einer Institutionalisierung 1 1 1 . 107
C. Schmitt, S. 172. P. Häberle, S. 70 f. 109 M. Hauriou, Die Theorie der Institution, S. 31 f., S. 65 f.; vgl. auch M. Hauriou, Précis de Droit administratif et de D r o i t public, 6. Aufl., Paris 1907, S. 13. 110 A. Burghardt, Einführung i n die allgemeine Soziologie, München 1972, S. 133 ff. (135). 111 N. Luhmann, Institutionalisierung, i n : H. Schelsky (Hrsg.), Z u r Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 30; vgl. i m übrigen A. Gehlen, Über die Entstehung von Institutionen, i n : H. P. Dreitzel, Sozialer Wandel, Zivilisation u n d Fortschritt als Kategorien der soziologischen Theorie, Neuwied / B e r l i n 1967, S. 207 ff. (S. 208); G. Eisermann, Die sozialen Institutionen als Stützpfeiler des menschlichen Zusammenlebens, i n : Der Staat 1976, H. 2 (Bd. 15), S. 153 ff., 168; R. König, Soziologische Orientierungen, K ö l n 1973, S. 32 ff. (35); W. E. Mühlmann, A r t . Institution, i n : W. Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969, S. 466 ff. (468). F ü r die staatsrechtliche Diskussion R. Smend, Das Problem der Institutionen u n d der Staat, i n : ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., B e r l i n 1968, S. 500 ff. (501); J. Stone, Die Abhängigkeit des Rechts: Die Institutionenlehre, i n : R. Schnur (Hrsg.), I n s t i t u t i o n u n d Recht, S. 312 ff. (312); H. Dombois, A r t . „ I n s t i t u t i o n " I I , i n : Evangel. Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1975, Sp. 1018 ff. (1021); H. Quaritsch, A r t . „Institutionelle Garantie", i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 1022 ff. (1022); K . Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien i m modernen Staat, i n : W d S t R L 17, B e r l i n 1959, S. 11; A. Röttgen, Die Organisationsgewalt, i n : W d S t R L 16, B e r l i n 1958, S. 154 ff. (161). 108
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
141
Häberle geht davon aus, daß eine Theorie, die die Grundrechte „ausschließlich oder doch vorwiegend unter dem Blickwinkel subjektiver Rechte wertet, die Objektivstruktur des Rechts und die objektive Seite der Freiheit" vernachlässigt 112 . Er wendet sich m i t seinem institutionellen Grundrechtsverständnis sowohl gegen Voluntarismus 1 1 3 , Formen rationalistischen Naturrechts 1 1 4 , als auch gegen subjektivistische und formalistisch positivistische Grundrechtsausdeutungen 115 . Häberle versteht demgegenüber die institutionelle Seite der Grundrechte, Grundrechte als Institute oder als institutionelle Garantien, nicht als spezifische Einrichtungsgarantien neben oder i n Ergänzung zu Individualrechten und Freiheitsrechten, sondern — ausgehend von der Grundannahme, daß Freiheit nur als soziale möglich ist —, versucht er die Verbindimg zwischen individuellen, subjektiv-öffentlichen Berechtigungen und Freiheitsgewährungen und ihrer institutionellen Darstellung und Form als Freiheit vieler i n der sozialen Praxis darzulegen. Nach seiner Ansicht kommt den Grundrechten ein Doppelcharakter zu, eine individualrechtliche, subjektiv-öffentlich-rechtliche Seite und eine institutionelle Seite als verfassungsrechtliche Gewährleistung freiheitlich geordneter und ausgestalteter Lebensbereiche. Aus dieser Wechselw i r k u n g ergibt sich für Häberle, „daß gegebenenfalls Begrenzungen der Grundrechte als subjektive Individualrechte zulässig sind i m Interesse der Grundrechte als Institute, wie ihnen umgekehrt, um einer Stärkung der objektiven Lebens Verhältnisse und ihrer institutionellen Bedeutung w i l l e n subjektive öffentliche Rechte Einzelner oder Gruppen entspringen müssen" 1 1 6 . Der institutionellen Seite der Grundrechte ist so die individualrechtliche, personale verbunden, denn objektive Ordnungen gewinnen erst dadurch ihren freiheitlichen Charakter, daß die Rechtsordnung subjektive Individualrechte freien Persönlichkeiten zuordnet. „Die objektiven Ordnungen erstarrten, wenn sie nicht durch die individuellen Schöpferkräfte bereichert würden. Wirkliches Leben gewinnen diese Lebensbereiche erst durch die A k t i v i t ä t freier Individuen und Gruppen 1 1 7 ." Es sind aber die Vielen, „die die objektiven Lebensverhältnisse immer von neuem zu freiheitlichen machen. Wie jedes Recht so lebt gerade das Grundrecht i n und durch die Aktualisierung infolge Inanspruchnahme. Die Grundrechte werden durch die Gesamtheit der Grundrechtsberechtigten immer von neuem i n Vollzug 112
P. Häberle, S. 73; zum Stand der Diskussion zu Verfassungsinstituten u n d institutionellen Garantien bei P. Häberle, S. 80 ff. sowie bei H. Wilke, S. 111 ff. 113 P. Häberle, S. 86 m. w . N. 114 P. Häberle, S. 89 m. w . N. 115 P. Häberle, S. 90 f. 116 P. Häberle, S. 118. 117 P. Häberle, S. 98.
142
4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
gesetzt und das tatsächliche Wirken Vieler . . . macht das Grundrecht zum I n s t i t u t " 1 1 8 . Häberle meint so mittels der Institutionentheorie auch die Wirklichkeit der Grundrechte, ihre Geltung und Effizienz sichern zu können. Die Grundrechte als subjektive öffentliche Rechte umschreiben nicht nur den Status, den der Einzelne i m Staat innehat, sie meinen vielmehr auch den Status, den der Einzelne i n den verschiedenen Lebensverhältnisse besitzt. Nach Häberle ist der Begriff des Status die adäquate juristische Kategorie für die Kennzeichnung der Rechtstellung, die der Einzelne i n Institutionen innehat 1 1 9 . Der institutionellen Bedeutung der Grundrechte kommt nach Häberle Vorrang gegenüber der individualrechtlichen zu. Die individualrechtliche Seite der Grundrechte ist stärker der gesetzgeberischen Ausgestaltung überlassen, da sich Grundrechte als Grundrechte Vieler i n den Institutionen realisieren, diese sind deshalb als grundrechtskonforme zu gewährleisten 1 2 0 . Häberle versucht so, die Grundrechte aus ihrer engen Bindung an den bürgerlich-liberalen Rechts- und Obrigkeitsstaat zu lösen und der ihr entsprechenden positivistischen Deutung. Indem er auf die Realisierung von Rechtspositionen i n der sozialen Wirklichkeit abstellt, werden für ihn die Strukturen und Gebilde der sozialen Wirklichkeit zu dem Bereich, i n denen sich der Sinn von Freiheitsrechten und Sozialrechten zu ereignen hat 1 2 1 . Anders als Forsthoff, für den die Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte entsprechend dem herrschenden „Kulturgeist" zur Geltung zu bringen sind, gewinnt für Häberle die soziale Ordnung insgesamt Vorrang, sind es die gesellschaftlichen Institutionen, welche eine Ausgestaltung zu erfahren haben, daß Grundrechte Wirklichkeit werden. Häberle gibt damit i m Grunde aber nur die Bedingungen an, welche für eine Effizienz von Grundrechten erfüllt sein müssen. Diese Bedingungen sind für i h n auch Maßstab für den Gestaltungsauftrag und die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, der an die Grundrechte gebunden ist. Sein institutionelles Grundrechtsverständnis eröffnet keinen methodischen Weg, um zu bestimmen, was Freiheit der Person, was Menschenwürde, was Meinungsfreiheit i m Sinne des Grundgesetzes ist, wann solche Freiheiten verfassungskonform auch i n der Ausgestaltung sozialer Institutionen verwirklicht sind. Von einem ganz anderen Ansatzpunkt her, der Soziologie und Systemtheorie sind für Luhmann Grundrechte Institutionen. „Dieser Begriff bezeichnet i n der Soziologie nicht einfach einen Normenkomplex, 118
P. Häberle, S. 108. P. Häberle, S. 114. 120 P. Häberle, S. 117 ff. (S. 122 f.). 121 Wie E. Denninger, Freiheitsordnung, S. 547 feststellt, konvergieren dieser institutionalistische u n d der werttheoretische Ansatz, u n d zwar i n der Entsubjektivierung u n d Pflichtakzentuierung der Freiheitsrechte. 119
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
143
sondern einen Komplex faktischer Verhaltenserwartungen, die i m Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können. Die Grundrechtsschlagworte Eigentum, Meinungsfreiheit, Gleichheit usw. und die entsprechenden Verfassungsartikel symoblisieren instituionalisierte Verhaltenserwartungen und vermitteln ihre Aktualisierung i n konkreten Situationen. Die Institutionalisierung der Grundrechte ist mithin, darüber darf auch die Aufnahme der Grundrechte i n das Verfassungsgesetz nicht hinwegtäuschen, zunächst ein faktisches Geschehen, „das auf seine Funktion i n der modernen Sozialordnung h i n zu untersuchen ist". Institutionen sind zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen und bilden als solche die Struktur sozialer Systeme. Insofern — und nur insofern — sind sie möglicher Gegenstand rechtlicher Positivierung. Zugleich sind sie als „Strukturkomponenten der Frage nach ihrer Funktion i n der Sozialordnung ausgesetzt, die ihrerseits eine gedankliche Kontrolle des Vorgangs der Rechtspositivierung ermöglicht" 1 2 2 . Institutionalisierung weitet nach Luhmann die Chancen zu aktuellem Konsens aus, sie leistet einen Beitrag zur Generalisierung von Konsens und ist gleichzeitig auch eine Möglichkeit zur Veränderung positiven Rechtes 123 . 4.2.3.3 Das institutionelle Grundrechtsverständnis hat für die Verfassungsrechtslehre und insbesondere auch i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes große Bedeutung 1 2 4 , da Freiheit der Person nicht mehr nur individualistisch, sondern i n ihrer institutionellen Einbindung auch gemeinschaftsbezogen gesehen wird. Den Grundrechten wächst so eine integrative und strukturelle Funktion zu. Diese institutionelle Grundrechtsauffassung kann aber gleichzeitig den Zugang zur politisch-sozialen Wirklichkeit erschweren, vor allem i n der Dichotomie öffentlicher und privater Bereiche und ihrer institutionellen A b sicherung 125 . Insgesamt bleibt das Verhältnis zwischen institutionellen 122 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, B e r l i n 1965, S. 12/13; vgl. allgemein auch H. Schelsky, Über die Stabilität v o n Institutionen, besonders Verfassungen, i n : H. Schelsky, A u f der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf/ K ö l n 1965, S. 33 ff.; ders. (Hrsg.), Z u r soziologischen Theorie der Institution, S. 9 ff. Vgl. insgesamt auch den Überblick bei H. Wilke, S. 157 ff. 123 N. Luhmann, Institutionalisierung, S. 27 ff. (S. 30, 38). 124 Beispielsweise BVerfGE 10, 61; 10, 121; 10, 231; 12, 228 f., 260 ff.; 15, 261; 15, 301 f. 15, 332; 20, 175, 177; 20, 355; 24, 135; 24, 389; 27, 200; 36, 204; 36, 370 f.; 38, 304. Vgl. i m übrigen auch die Nachweise bei H. Steiger, I n s t i t u t i o n a l i sierung der Freiheit? Z u r Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts i m Bereich der Grundrechte, i n : H. Schelsky (Hrsg.), S. 92 ff. u n d bei P. Häberle, S. 83; F. Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 2103 f.; hinsichtlich der institutionellen Garantie des Eigentums vgl. R.-P. Collies, Eigentum als Institution, i n : H. Schelsky (Hrsg.), S. 119 ff. 125 Vgl. E. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 166 u n d — teilweise — H. Stei-
144
4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Gewährleistungen
und
individuellen
Rechtsstellungen
ungeklärt,
da
diese A u s d e u t u n g e n auch k o n t r a d i k t o r i s c h sein k ö n n e n 1 2 6 . U b e r d i e A n n a h m e i n s t i t u t i o n e l l e r G a r a n t i e n i m S i n n e v o n C. S c h m i t t u n d E. F o r s t h o f f e r e i g n e t sich l e i c h t eine sogenannte N o r m a t i v i t ä t des F a k t i s c h e n , herrschende soziale u n d p o l i t i s c h e W i r k s a m k e i t w i r d z u m I n h a l t d e r V e r f a s s u n g 1 2 7 , außerrechtliche W e r t u n g e n w e r d e n zur Grundlage der Verfassungsinterpretation i m Sinne einer „ n o r m a t i v e n K r a f t des I d e o l o g i s c h e n " 1 2 8 , z u m a l d i e B e g r i f f e R e c h t s i n s t i t u t , ges t a l t h a f t e Rechtsgebilde, das Sinnganze, das Gefüge, S i n n z u s a m m e n hänge — w i e sie F o r s t h o f f e r w ä h n t — w e n i g p r ä z i s i e r t s i n d 1 2 9 . Diese i n s t i t u t i o n e l l e Rechtsauffassung i s t so, w i e E. W o l f d a r l e g t , eine V a r i a t i o n d e r h i s t o r i s c h e n Rechtsauffassung S a v i g n y s v o m u n b e w u ß t e n o r g a n i schen Wachsen des Rechts i m B e w u ß t s e i n des V o l k e s , b e i steigender ger, S. 105 ff.; K . Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, S. 24 ff. sowie B. Rüthers, Institutionelles Rechtsdenken i m Wandel der Verfassungsepochen, Bad Homburg v. d. H. 1970, S. 63; vgl. i n diesem Zusammenhang auch BVerfGE 28, 260. 126 Vgl. etwa H. Quaritsch, A r t . Institutionelle Garantie, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 1022 ff. (1022). Die Verfassungen, insbesondere die deutschen Verfassungen gehen nicht nur von Formen u n d Zuständigkeiten der Staatsorganisation aus, sondern erheben zugleich Einrichtungen des staatlichen, öffentlichen, religiösen u n d privaten Lebens durch unmittelbare oder mittelbare Schutzgewährung i n den Rang verfassungsrechtlicher Institute, jedoch nicht so umfassend, daß eine Ausgestaltung des Gesetzgebers — unter Wahrung des Wesensgehaltes der Grundrechte — nicht möglich wäre. Sie ist geradezu notwendig, denn eine „umfassende Konservierung des juristischen Status quo . . . widerspräche der Aufgabe des Gesetzgebers, das I n s t i t u t m i t den wechselnden Forderungen der staatlichen Ordnung u n d dem Wandel der Rechtsanschauungen i n Übereinstimmung zu halten; allein die Möglichkeit der gesetzgeberischen Anpassung u n d Fortentwicklung bewahrt das I n stitut vor der Erstarrung i n überlebten Formen". — „ I n jüngster Zeit wächst die Neigung, allen Grundrechten eine institutionelle Seite abzugewinnen. Dieses Verfahren ist möglich, w e i l das Verfassungs verbot des A r t . 19 I I GG die E r m i t t l u n g des „Wesensgehalts" jedes Grundrechts verlangt, u n d dieser Schutz sich unmittelbar n u r auf die allgemeine, d . h . institutionelle Geltung des Grundrechts „ f ü r das soziale Leben i m ganzen" (BVerfG) erstreckt. Ungek l ä r t ist bisher, ob diese Handlungsschranke dem Gesetzgeber die einzige oder n u r die letzte Grenze zieht, ob also jedes grundrechtsgestaltende Gesetz zulässig ist, das den Wesensgehalt als institutionellen K e r n respektiert, oder ob die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes schon aus der Verletzung v o r gelagerter Prinzipien folgen kann. Während die herrschende Meinung die zweite Auffassung v e r t r i t t u n d damit dem ursprünglichen Sinn der i n s t i t u tionellen Garantie — Sicherung der individuellen Rechte — so auch Hauriou, treu bleibt, läuft die heute m i t u n t e r zu beobachtende „Institutionalisierungsinflation" (G. Dürig) wenigstens auf eine Abschwächung dieses Verständnisses hinaus." (H. Quaritsch, Sp. 1024). 127 Vgl. K . Grimmer, Die Rechtsfiguren einer „ N o r m a t i v i t ä t des F a k tischen", B e r l i n 1971. 128 B. Rüthers, S. 63. 129 Vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 173. Kritisch hierzu E. Wolf, K r i t i k der institutionellen Rechtsauffassung, i n : H. Schelsky (Hrsg.), S. 77 ff. (S. 85); vgl. auch F. Müller, S. 78 f.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
145
K u l t u r i m Bewußtsein des Juristenstandes. Savigny stellte damit dem staatlichen Gesetzesrecht, das er als W i l l k ü r des Gesetzgebers ablehnte, „eine herrschaftlich ständische Rechtsauffassung entgegen. Diese auf das absolute Werden der Idee i m Sinne der Philosophie Schellings und Hegels zu gründen, lag für i h n u m so näher, als diese Philosophie ebenfalls konservativ-romantische Auffassungen v e r t r a t " 1 8 0 . Die faktische Ordnung, welche vermittels der institutionellen Grundrechtsauffassung zu einer normativ gebotenen werden kann, kann damit die Freiheitlichkeit einer Ordnung selbst aufheben, sie zu einer gewaltsamen, repressiven machen, wenn die jeweils herrschenden Ordnungsstrukturen und Ziele zum Inhalt grundrechtlich gebotener Ordnung werden 1 8 1 . Institutionelles Grundrechtsverständnis i m Sinne Häberles verdeutlicht aber, daß Grundrechte i n der Praxis immer i n einem strukturierten gesellschaftlichen Zusammenhang stehen. Diese Strukturen können aber nicht selbst zum Inhalt der Verfassungsinterpretation gemacht werden, sondern sind i n ihrer Komplexität aufzulösen, u m sie einer verfassungsrechtlichen Beurteilung zugängig zu machen, andernfalls kann die grundrechtliche Absicherung gesellschaftlich-institutioneller Ausprägungen die soziale Effizzienz einzelner Grundrechte unterdrükken. Institutionelle Ausprägungen wie Eigentum oder Familie sind gleichzeitig auch ein Komplex unterschiedlicher individueller Handlungsweisen, sie stehen so nicht nur i m Zusammenhang m i t Einzelgrundrechten wie A r t . 14 oder des A r t . 6 GG, sondern auch i n Verbindung m i t A r t . 1, A r t . 2 und A r t . 3 GG. Es ist Aufgabe einer sozialanalytischen Methode der Grundrechtskonkretisierung, institutionelle Ausprägungen nicht als vorgegebene gesellschaftliche Strukturen hinzunehmen, sondern analytisch aufzubrechen, daraufhin zu überprüfen, ob ihre Struktur jeweils den Grundrechten insgesamt entspricht. Das institutionelle Grundrechtsverständnis überwindet insoweit die Dichotomie von Norm und Wirklichkeit. Es n i m m t die Geltungsbedingungen der Grundrechte i n den Blick, ergibt aber keine A n t w o r t auf die Frage nach der zulässigen und gebotenen Realisierungsform der Grundrechte. 4.2.4 Topik — Argumentation — Dogmatik Sprachkompetenz und Interpretationskompetenz
Die methodischen Schwierigkeiten bei der Gewinnung situationsspezifischer Entscheidungsnormen aus allgemeinen Grundrechtssätzen, welche als Konkretion der Verfassungssätze eineindeutig und m i t dem 130
E. Wolf, S. 89. Vgl. i n diesem Zusammenhang R. Geulen / G. Stuby, Repression, i n : K J 1969, S. 125 ff. (S. 139 ff.). 131
10 Grimmer
Ordnung
als
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
gleichen Verbindlichkeitsanspruch wie die Verfassungssätze selbst ausgestattet sind, werden bewußt anerkannt i m topischen Interpretationsverfahren, „einer sich an ungebundene Rechtsfindung annähernden Technik der Problemerörterung" i m Sinne der Herstellung immanenter Problemzusammenhänge 132 und rational einsehbarer Problemlösungen. 4.2.4.1 I m topischen Interpretationsverfahren w i r d davon ausgegangen, daß ein Rechtsfall ein Handlungskonflikt, ein Problem darstellt, dessen Lösung i n Anwendung eines Gesetzes durch Gesichtspunkte von allgemein anerkannter Probabilität und Überzeugungskraft gefunden wird. Gesichtspunkte sind konventionelle Gemeinwahrheiten, Regeln und Maximen der praktischen Vernunft und Moral, gegebene Standards einer Gesellschaft, anerkannte Präzedenz und Lehrsätze der fachjuristischen communis opinio. Alle Topoi haben die Funktion von Diskussionsargumenten. Nach Ansicht von Esser ist ein solcher Argumentationsstil, „der auf dogmatisierte Gesichtspunkte der Systemlogik zugunsten plausibler Zweckbegründungen verzichtet, rational", er stellt „die klassische Form rationaler Richtigkeitskontrolle" dar, „nämlich die Probe der Konsensfähigkeit mittels Durchgriffs auf die „Vernünftigkeit" oder die „Unhaltbarkeit" von Erwartungshorizonten und der hier versuchten dogmatischen Lösung" 1 3 3 . Die Topik als Argumentationsstil entspricht einer Topik als Forschungsstil, nämlich der Einsicht i n die Unmöglichkeit eines letztgültigen Wahrheitsbeweises und dem Rückzug auf eine relative Wahrheit, die Anerkennung eines wissenschaftlichen Ergebnisses als „wahr", solange es nicht widerlegt ist; der Erkenntnisfortschritt besteht i m Versuch und I r r t u m und Wiederversuch. Eine Typisierung der Argumente n i m m t Hattenhauer vor: Eine erste Klasse bilden juristische oder dogmatische Argumente, wobei es sich u m eine normen- und systemimmanente Argumentation i m Vorfeld der Subsumtion m i t dem Ziel, die einschlägige auszulegende Norm zu umschreiben, handelt. M i t t e l der Argumentation sind hier herkömmliche Interpretationsmethoden. Ein Vorrat an vorgesetzlichen Rechtselementen i m Begriffs-, Denk- und Interpretationsapparat des Juristen ist 132 F. Müller, Juristische Methodik, B e r l i n 1971, S. 68. Vgl. Th. Viehweg, Topik u n d Jurisprudenz, 4. Aufl., München 1969; zum Stand der Diskussion G. Otte, 20 Jahre T o p i k — Diskussion: Ertrag u n d Aufgabe, i n : Rechtstheorie 1970, S. 183 ff.; G. Struck, Topische Jurisprudenz, F r a n k f u r t / M . 1971; ders., Z u r Theorie juristischer Argumentation, B e r l i n 1977, S. 58 ff.; H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 53 ff. (S. 99 f.) ; J. Esser, V o r v e r ständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung, F r a n k f u r t / M . 1970, S. 151; ders., Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen Fortbildung des P r i v a t rechts, 2. Aufl., Tübingen 1964, S. 44 ff., 218 ff.; H. Coing , Die juristischen Auslegungsmethoden u n d die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, K ö l n u. Opladen 1959. 133 J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 152.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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dabei bedeutsam für die Auswahl der passenden Norm, den Verständnisvorgang und die Kontrolle des Ergebnisses. Die zweite Klasse der Argumente bilden logische Argumente 1 3 4 , eine dritte Klasse sind A r g u mente wirtschaftlicher und sozialpolitischer A r t sowie Argumente aus Philosophie und Theologie, also sogenannte metajuristische Argumente. Eine vierte Klasse von Argumenten bilden die sogenannten Billigkeitsargumente, welche regelmäßig auf eine Korrektur des Rechtsanwendungsergebnisses abzielen und i n dieser Korrektur deutlich machen, daß methodisch korrektes Argumentieren auch zu „ungerechten" Ergebnissen führen kann. Eine besondere Bedeutung haben schließlich sog. Kryptoargumente, d. h. Argumente, welche i n einer Argumentation nicht offen zum Ausdruck kommen, aber wesentlich das Entscheidungsergebnis bestimmen 1 3 5 . Methodisch kann unterschieden werden zwischen einem Argumentieren als einem deduktiven Räsonieren, also einem deduktiv-axiomatischen Argumentieren und einem i n d u k t i v pragmatischen Argumentieren, wozu pragmatische Rechtslehren, die teleologische Rechtsfindung und die Interessenjurisprudenz, problematisierende Methoden der juristischen Topik, das angelsächsische Verfahren der Certainty einer Rechtsregel oder das angelsächsische Argumentationsverfahren des legal reasoning zu zählen sind. Die Typisierung von Argumenten hat nur kategoriale Bedeutung, sie verdeutlicht den Begründungszusammenhang 136 , i n welchem die einzelnen Aussagen stehen, und die Unmöglichkeit methodisch exakt begründeter Ergebnisse. Über die normtheoretische Relevanz der einzelnen Argumentationstypen ist damit nichts ausgesagt. Die Grenzen topischer Rechtsfindung i m Verfassungsrecht sind zum Teil methodischer und damit nicht-normativer, zum Teil verfassungsrechtlicher A r t . „Topische Rechtsfindung fragt notwendig über die Norm hinaus, sie w i l l damit die Struktur jeder herkömmlichen Interpretation aufdecken, die den formellen Quellen nicht entnehmbare Einsichten als Teile des positiven Rechts auszugeben gezwungen ist, weil sie angeblich den Rahmen des gegebenen Gesetzesinhalts nicht verläßt. . . . I m Verfassungsrecht jedenfalls kann topische Rechtsfindung über eine konkretisierbare Norm nicht hinweggehen; darf sie auch 134 Hierzu insbesondere K . Klug, Juristische Logik, 3. Aufl., Heidelberg usw. 1966; I . Tammelo / G. Moens, Logische Verfahren der juristischen Begründung, Wien usw. 1976. 135 H. Hattenhauer, Die K r i t i k des Zivilurteils, S. 93 ff. m. w . N.; vgl. auch G. Struck, S. 20 ff. u. insbes. Fr. Müller, Juristische Methodik u n d politisches System, S. 19 ff. zu „Dezision durch Rechtsverbiegung" u n d „Dezision durch Rechtsunterstellung". ΐ3β v g i # auch G. Struck, Z u r Theorie juristischer Argumentation, S. 31 ff., S. 69 ff.; Chr. Clemens, Strukturen juristischer Argumentation, B e r l i n 1977, S. 89 ff., S. 94 ff.
10·
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dann nicht gegen den klaren Wortlaut einer Vorschrift entscheiden, wenn dieser für eine ,sinnvolle* Problemlösung keinen Anhaltspunkt liefert 1 3 7 ." Nach Hesse zeigt die Verfassung „ i n ihrem jeweiligen" Normbereich die Richtung an, i n der eine Konkretisierung ermöglichende Topoi zu suchen sind, und sie gibt Maßstäbe der Relevanz dieser Gesichtspunkte für eine „richtige" (verfassungsmäßige) Problemlösung und Konkretisierung: Prinzipien der Verfassungsinterpretation 138 . Die rechtliche Zulässigkeit von Topois, von Argumenten bestimmt sich also von der Norm her, der konkrete Entscheidungsgehalt der Norm aber ist erst i m Argumentieren zu erschließen. Diesen Zirkel können topische Interpretationsverfahren nicht auflösen. Das Entscheidungsproblem w i r d nicht einfacher, wenn zur Begründung sogenannte Rechtsprinzipien oder Verfassungsprinzipien herangezogen werden, sei es, daß diese Prinzipien selbst Ergebnis topischen Argumentierens sind oder als Bedingungen juristisch-rationalen A r g u mentierens ausgewiesen werden. Esser hat i n Grundsatz und Norm den Vorgang dargelegt, wie neue Rechtsgedanken, Entscheidungsgrundsätze Eingang i n das Recht finden. „Es bleibt aber die Frage nach dem inneren Zusammenhang der Prinzipien und nach ihrem Inhalt offen. Die Rechtsprinzipien, so wie Esser sie versteht, sind keine „obersten Grundsätze"; sie sind weder, wenn auch vielleicht sehr weit gefaßte, „Rechtssätze" (Normen) noch „Sätze" i m Sinne der Logik. Das Rechtsprinzip i n seinem Sinn w i r d ursprünglich am konkreten Fall „entdeckt"; es ist alsdann „eine Formel für eine Reihe von typisch zutreffenden Gesichtspunkten" 139 . Letztlich sind es Bewertungsgrundlagen, Standards, welche sich i n diesen Grundsätzen ausdrücken 140 . Ähnlich verhält es sich m i t Verfassungsgrundsätzen, wobei hier differenziert werden kann nach der Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit der Begründung von Verfassungsgrundsätzen aus der Verfassung, wie Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit oder Grundsätzen wie Verhält137 jr Müller, S. 73; zu weitgehend R. Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte, Zürich 1961, S. 26 ff., 30 ff.; H. Ehmke, S. 60; Chr. Graf v. Pestulozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden u n d Prinzipien der Grundrechtsauslegung i n der BRD, i n : Der Staat, 1963, S. 425 ff. (S. 429). 138 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl., Karlsruhe 1973, S. 28. 139 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 138; hierzu J. Esser, Grundsatz u n d Norm, S. 267. 140 J. Esser, Grundsatz u n d Norm, S. 97; hierzu auch F. Wieacker, Gesetz u n d Richterkunst, Karlsruhe 1958; ders., Z u r praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, i n : Bubner / Cramer / W i e h l (Hrsg.), Hermeneutik u n d D i a l e k t i k , Bd. 2, S. 311 ff. Engisch spricht von der Konkretisierung als H i n w e n dung zum „Typus" i n Recht u n d Rechtswissenschaft, K . Engisch, Die Idee der Konkretisierung des Rechts i n Recht u n d Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl., Heidelberg 1968, S. 237 ff.
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nismäßigkeit und Zumutbarkeit 1 4 1 . Unzutreffend ist die Annahme, daß zwischen Verfassungsgrundsatz und Verfassungssatz nach Struktur und Inhalt keine Verschiedenheit besteht 142 , auch wenn Verfassungsgrundsätze — zumindest i n der Darstellung von H. Krüger — immer i m Bezug zu Verfassungssätzen stehen. Solche Verfassungsgrundsätze sind entweder Ergebnis einer Interpretation und Argumentation und ihre Gültigkeit hängt von der Begründbarkeit des Interpretations- und A r gumentationsverfahrens ab oder sie bedürfen selbst der Interpretation. Regelmäßig steht die Bedeutung solcher Verfassungsprinzipien i m engen historischen und sprachlichen Kontext, welcher das Vorverständnis des Interpreten — zumeist seine Sozialisation i n der rechtswissenschaftlichen Ausbildung — geprägt hat und sind „Lehrmeinungen". M i t ihnen w i r d ein theoretischer und gesellschaftspolitischer Zusammenhang für die Praxis des Verfassungsrechts gebildet, ohne daß die verfassungsrechtliche Gültigkeit ihrer konkreten Anwendungsformen bewiesen ist. Die Argumentation geschieht relativ außerhalb des dogmatischen Systems und seiner Methoden — insofern es um die Herstellung eines Konsenses über Alternativen und die Konstitution von Recht als Überzeugungsvorgang geht. A u f die Möglichkeit solchen Konsenses ist das Vorverständnis des nach „Gesetz und Recht" entscheidenden Juristen abgestellt — womit gleichzeitig die historische Bedingtheit dieses (wie jedes) Vorverständnisses anerkannt wird. Mittels der Argumentation sollen Sprachzeichen oder Laute, welche für die Anwender zunächst verschiedene Bedeutung haben können, zu einer Bedeutung gebracht werden. Es geht dabei um die Konstitution konkreten Rechtes i n einem Uberzeugungsvorgang, da der Mensch i n der Lage ist, neue, nie gehörte oder artikulierte Sätze zu bilden und zu verstehen. Die Menge der bildbaren Sätze einer Sprache ist unbegrenzt 143 . Die Sprache ist das Kommunikationswerkzeug, gemeinsame Sprachsignale bezeichnen das Feld gelungener moralischer Kommunikation. „Das Sprachgebilde teilt eine Überzeugung anderen mit, beeinflußt andere und w i r d schließlich zur Verhaltensvorschrift"; das Gedachte und Gesprochene w i r d auf diese Weise „performativ", d. h. zu einem sozialen Geschehen 144 . Der Richter 141 So ζ. Β. H. Krüger, Der Verfassungsgrundsatz, Festschrift f ü r E. Forsthoff, München 1972, S. 187 ff. (S. 197); kritisch hierzu ff. G. Hinderling, Rechtsnorm u n d Verstehen, S. 218 m. w. N. — vgl. auch H. J. Wolff , Rechtsgrundsätze u n d verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, i n : Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, München 1955. 142 H. Krüger, S. 203, 211 (unter Verweis auf J. Esser u. P. Lerche); insges. vgl. den Überblick bei F. Müller, Juristische Methodik, S. 153 ff. m. w. N. 143 E. Betti , Die Problematik der Auslegung i n der Rechtswissenschaft, i n : Festschrift für K . Engisch, F r a n k f u r t / M . 1969, S. 205 ff. (S. 209); hierzu auch G. Ungeheuer, Paraphrase u n d syntaktische Tiefenstruktur, i n : Folia L i n guistica T. III/1969, S. 178 ff. (S. 206). 144 So nunmehr Th. Viehweg i m Anschluß an C. Stevenson, vgl. Th. Vieh-
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fungiert nicht als Schiedsrichter, sondern Ziel der Argumentation ist, daß sich i n i h m unterschiedliche Deutungen zu einem Spruch verbinden, zu einer spezifischen Sinngebung sprachlicher Zeichen. Der sprachliche Zugriff verändert das „Objekt", i m sprachlichen Zugriff verändert sich der Sprecher. Die Bedeutung topischer Argumentationsweisen für die Richtigkeitskontrolle liegt nach Esser „nicht allein i n ihrer Funktion als Gegenspieler logischen Systemzwanges. Neben diesem antiaxiomatischen Faktor, der sich i n der Korrektur und Erweiterung der dogmatischen Vorstellungen und i n der Sachkontrolle der sog. juristischen Logik und ihrer Schlüsse auswirkt, darf der Inventionswert für die Gewinnung sachlicher Maßstäbe nicht unterschätzt werden" 1 4 5 . Die Offenheit einer Rechtsnorm für die Argumentation ermöglicht erst die Dynamisierung des Rechtes, die Berücksichtigung sozialer Veränderungen i n der Rechtsanwendung ohne Veränderung der Sprachform angewandter Rechtsnormen. Die Offenheit bindet das Recht damit aber auch an die Argumentationsfähigkeit und an verallgemeinerungsfähige Argumentationsformen. Topisches Denken ist Problemdenken, „ i n welchem dogmatisch scheinbar gesicherte Fragen anhand der neuen Konfliktkonfrontation wieder zurückgeholt werden aus dem dogmatischen System i n eine vordogmatische Einsichtigkeit. Es ist der notwendige Schritt zur Vorbereitung besserer Dogmatisierung und eines neuen Systemverständnisses" 146 . „Topische Denkhaltung ist zuletzt aber auch i m Hinblick auf die Zweckerfassung von Normierungen entscheidend, ohne die das „System" derselben nicht bestimmbar ist. I n allen Rechtsgebieten, i n denen die Konfliktlösung nicht ohne Kenntnis oder Unterstellung eines Zweckprogramms verständlich wird, muß nach den K r i terien der offenbar gemeinten Zweck- und Interessenabwägung geforscht werden 1 4 7 ." Topik vermittelt so Entscheidungsgesichtspunkte, sie trägt zur Problemlösung bei 1 4 8 , sie vermittelt mögliche Ordnungsaspekte, aber nicht Wahrheit, die rechtswissenschaftlichen Argumentationsregeln werden dabei als „Mindestanforderungen methodischer Redlichkeit" 1 4 9 verstanden. Topische Interpretationsverfahren erschlieweg, Ideologie u n d Rechtsdogmatik, i n : W. Maihof er (Hrsg.), Ideologie u n d Recht, Bielefeld 1969, S. 85 f. 145 J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung, S. 153. 146 J. Esser, S. 155. 147 J. Esser, S. 157. 148 So etwa F. Müller, S. 74, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., S. 27 m. w . N . ; vgl. auch G. Struck, S. 58 ff.; R. Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung, i n : JZ 1976, S. 150 ff. (S. 52). 149 So J. Esser, Bemerkungen, S. 557.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
ßen so mögliche Bedeutungsformen Norm.
einer
allgemeinen,
151
abstrakten
Es ist hier nicht zu prüfen, ob die Jurisprudenz gemeinsame topische Grundstrukturen zu eigen hat, wie es beispielsweise Ehmke ann i m m t 1 5 0 . Eine solche allgemeine topische Grundstruktur gibt es, wenn von der prinzipiellen Offenheit allen Rechts ausgegangen w i r d und es als Aufgabe der Jurisprudenz angesehen wird, Recht zu konkretisieren, soziale Konflikte nach rechtlichen Kriterien entscheidbar zu machen. Topisches Argumentieren darf aber nicht als abschließend mißverstanden werden und kann — wie Kriele feststellt — seine der Wahrheit dienende Funktion nur i n einem räsonierenden, das Für und Wider umfassenden Denkprozeß erfüllen 1 5 1 . „ N u r diese doppelte Einsicht, also einerseits i n der Rationalität der Argumente, andererseits i n die Vorläufigkeit derselben Argumente erschließt das Verständnis für den geschichtlichen Prozeß der Rechtsfortschritte und damit für die Methode juristischer Interpretation. Es ist ein Prozeß des immer fortdauernden Wechsels von kontroverser Reflexion und Dezision. Die Reflexion versucht die Konsequenz von (gesetzgeberischen und judiziellen) Normsetzungen unter Anwendung geschichtlicher Erfahrungen, ökonomischer, anthropologischer, kriminalsoziologischer und anderer Theorien abzuschätzen und unter den Gesichtspunkten der fundamentalen Interessen abzuwägen 152 ." 4.2.4.2 I m topisch-argumentativen Interpretationsverfahren w i r d die Bindung des Bedeutungsgehaltes einer Norm an die Struktur einer Gesellschaft, an unterschiedliche Interessen, Anliegen und Bedürfnisse offenkundig. Entsprechend der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen w i r d die Norm ihrer Statik entkleidet, ihr Bedeutungsgehalt und 150
H. Ehmke, S. 61. Nach K r i e l e hat der Satz „Juristisches Denken ist topisch" zweierlei Sinn, u n d zwar, daß juristische Argumente nicht deduktiv beweisbar sind, u n d daß sich juristische Argumente auf herrschende M e i nungen u n d bewährte Lehren stützen (M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 136). 151 M. Kriele, S. 147, 148. 152 M. Kriele, S. 192; vgl. insges. zu M. K r i e l e bei W. Kilian, Juristische Entscheidung u n d elektronische Datenverarbeitung, F r a n k f u r t / M . 1974, S. 33 ff. — I n diesem Zusammenhang zum Denken i n A l t e r n a t i v e n J. Rödig, Die Denkform der A l t e r n a t i v e i n der Jurisprudenz, B e r l i n usw. 1969, insbes. S. 22 ff. — Nach G. Struck, S. 152 ist die juristische Entscheidung nicht besser u n d nicht schlechter, auch nicht wesentlich anders als politisches Entscheiden. — Mehr ein unverbindliches meta juristisches Postulat ist es, w e n n empfohlen w i r d , auf Vernunftargumente abzustellen, welche auf die Sachansicht eines vernünftigen Partnerkreises abzielen, „deren Überzeugungsk r a f t nicht i n einer Systematik u n d Dogmatik liegt, welche die U m w e l t vorstellungen enttäuscht, sondern gerade i n der Möglichkeit des Konsenses m i t der schon bestehenden Einsicht der U m w e l t oder doch der Herstellung eines neuen Konsenses", so J. Esser, S. 152.
152
4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
sie selbst dynamisiert. Damit stellt sich aber auch die Frage nach der normlogischen und verfassungsrechtlichen Legitimierbarkeit topischargumentativer Verfassungsinterpretation, nach einem Entscheidungskriterium hinsichtlich der Zulässigkeit von Argumenten und der „Richtigkeit" von Bedeutungen. Argumentation geschieht immer i n einem sozialen Kontext, i n den das Argument hineingestellt w i r d und i n welchem der Sprecher sich selbst befindet. Die Vielfalt möglicher Argumente i m Zusammenhang m i t einem Normtext ist gerade darin begründet, daß die erkenntnisleitenden Anliegen und Interessen 153 unterschiedlich sind und die Argumentation i n der Norm dazu dienen soll, einen Anspruch als allgemein verbindlich, normativ festgelegt zu legitimieren. I n der Argumentation spiegelt sich die erfahrene Sozialisation und die gegenwärtige Lebensform w i d e r 1 5 4 , sie schlägt sich i n einem Vorverständnis der Norm und i n einem Interpretationsinteresse nieder. Es ist die Pragmatik der Sprache, i n welcher sich die Relation von Zeichen zu ihren Benutzern ausdrückt, i n welcher deutlich w i r d die Funktion von Sprache i m Kontext der menschlichen Lebenspraxis 155 . „Das hermeneutische Verstehen kann nicht vorurteilslos i n die Sache eindringen, sondern ist unvermeidlich vom Kontext, i n dem das verstehende Subjekt seine Bedeutungsschemata zunächst erworben hat, voreingenommen 1 5 6 ." So wie i n der Argumentation spiegelt sich auch i m zugrundeliegenden Verstehen und i n der Sprache die soziale Rolle und die erfahrene Sozialisation wider. „Die Intersubjektivität umgangssprachlicher Verständigung ist prinzipiell ebenso unbegrenzt wie gebrochen. Unbegrenzt: denn sie kann beliebig ausgedehnt, und gebrochen: denn sie kann niemals vollständig hergestellt werden. Das gilt für die zeitgenössische Kommunikation innerhalb einer soziokulturell homogenen Sprachgemeinschaft ebenso wie über die Distanz verschiedener Klassen, Kulturen und Zeiten hinweg 1 5 7 ." Das hermeneutische Verstehen, sei es formal-methodisch strukturiert wie i m Rechtspositivismus oder topischargumentativ, ist i n seinem Vorverständnis selbst zu thematisieren. 153
Grundlegend J. Habermas, Erkenntnis u n d Interesse, F r a n k f u r t / M . 1969, insbes. S. 242 ff., 260, 266. 154 Vgl. hierzu Ch. Perelman, The Idea of Justice and the Problem of A r g u ment, London 1963, S. 154 ff., S. 168 ff. iss Vgl. K . - o . Apel, Szientizismus oder transzendentale Hermeneutik, i n : Festschrift f. H. G. Gadamer, Tübingen 1970, S. 105 ff. (S. 106 ff.). 156 J. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, i n : Hermeneutik u n d Dialektik, Band 1, S. 73 ff. (S. 75); aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum hierzu bes. J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, a.a.O. u. A. Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts i m Lichte der Hermeneutik, i n : Festschrift f. K . Engisch, F r a n k f u r t / M . 1969, S. 243 ff. (S. 248 ff.). 157 J. Habermas, S. 74/75; vgl. hierzu auch H. G. Gadamer, Wahrheit u n d Methode, 2. Aufl., Tübingen 1965, S. 127.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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Die Soziolinguistik hat i n den letzten Jahren Zusammenhänge zwischen Sprachverhalten und Lebenslage deutlich gemacht und damit auch Abhängigkeiten zwischen Verstehen und sozialer Situation, i n welcher der Sprecher agiert und i n welcher seine Interessen mitbegründet sind, nachgewiesen. Wenn etwas für jemand eine Bedeutung hat, heißt dies, jemand versteht etwas so und so. Verstehen kann nicht i n irgendeiner unmittelbaren Weise etwa nur als geistiger A k t der Bedeutungserfassung 158 erklärt werden. Verstehen, Bedeutung haben setzt voraus, daß jemand bezüglich der zu verstehenden Sache, z.B. Menschenwürde, Freiheit der Person die und die Disposition hat. Dispositionswörter kann man nicht anderssprachlich erläutern als durch Angabe ihrer „Manifestationsgesetze". Solche „Manifestationsgesetze" kennzeichnen das individuelle Sprachverhalten und Verstehen, „Richtigkeit" w i r d i n kommunikativen Prozessen i n der Übereinstimmung m i t „Konventionen" erfahren. I n verschiedenen Sprechsituationen kann damit auch ein Wort Verschiedenes bedeuten, w e i l die Bedeutungsregeln, die Konventionen sich nach den Verhaltensregeln der an der Situation Beteiligten bestimmen 1 5 9 . Die Abhängigkeit der Bedeutung eines Wortes von Konventionen und also von jenen Fakten, welche Konventionen begründen und bedingen, w i r d deutlich, wenn man den Gebrauch der Umgangssprache und i h r Verhältnis zur Hochsprache (Verkehrssprache) analysiert. Die Umgangssprache variiert nach Landschaften, Stämmen und Ständen, zwischen Stadt und Land, insbesondere aber zwischen den sozialen Klassen und Schichten. Bedeutung von Sprachzeichen verstehen, Bedeutung i n Sprachzeichen auszudrücken ist bedingt durch die Sozialsituation, und zwar sowohl des Sprechers als auch des Adressaten 160 . Bedeutungsunterschiede und 158 Vgl. E. Husserl , Logische Untersuchungen, Halle 1901, S. 32 f., S. 99. Insgesamt sind diese Überlegungen hier unterstützt u n d weiter angeregt durch einen Vortrag von E. v. Savigny, auf welchen hier auch Bezug genommen w i r d . 159 Hier unter Bezugnahme auf E. v. Savigny, Unveröffentlichter Vortrag; vgl. auch W. Hassemer, Tatbestand u n d Typus, K ö l n usw. 1968, S. 68; J. Lyons, Einführung i n die moderne Linguistik, München 1971, S. 424 f., 426 f. 160 Vgl. hierzu allgemein U. Oevermann, Sprache u n d soziale Herkunft, F r a n k f u r t / M . 1972, S. 37 ff.; M. Hartig/U. Kurz, Sprache als soziale K o n trolle, F r a n k f u r t / M . 1971, insbes. S. 10ff.; B. Bernstein, Soziale Struktur, Sozialisation u n d Sprachverhalten, Amsterdam 1970, insbes. S. 36 ff. u. 84 ff.; ders., Studien zur sprachlichen Sozialisation, Düsseldorf 1972; G. Fischer, Sprache u n d Klassenbildung, H a m b u r g 1971; W. Klein/D. Wunderlich (Hrsg.), Aspekte der Soziolinguistik, F r a n k f u r t / M . 1971; N. Dittmar, Soziolinguistik — Exemplarische u n d kritische Darstellung ihrer Theorie, Empirie u n d Anwendung, F r a n k f u r t / M . 1973.
154
4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Verstehensprobleme verlaufen entsprechend der sozialen Schichtung und Strukturierung einer Gesellschaft. Die Umwelt- und Konventionsbezogenheit des Bedeutungsgehaltes eines sprachlichen Zeichens, Satzes oder Textes ist vielfach differenziert nach der Rollensituation und dem sozialen Status. Sie generalisiert sich nach verfestigten Strukturen einer Gesellschaft, ihren sozialen Schichtungen und Gruppenbildungen. Gesellschaftliche Strukturierung, insbesondere die Herausbildung unterschiedlicher Rollen, die Ausdifferenzierung von Institutionen und Organisationen bewirkt unterschiedliche Sprachkonventionen, rollenund statusspezifisches Sprachverhalten und Verstehen. Die konventionell-normative Ausprägung solchen Sprachverhaltens und Sinnverstehens trägt zur Stabilisierung spezifischer sozialer Gebilde und Strukturen bei. Innerhalb der Soziologie ist dieser Tatbestand i n der Theorie der sozialen Schichtung und der Sozialisation von großer Bedeutung: für die Theorie der sozialen Schichtung, w e i l die Analyse des schichtenspezifischen Sprachmilieus einen bedeutsamen Schlüssel für das Verständnis derjenigen Mechanismen abzugeben scheint, die an der Genese von Unterschieden i m individuellen Erwerb der Status-Zuweisungskriterien beteiligt sind; für die Theorie der Sozialisation, weil das Medium „Sprache" als ein zentraler Vermittlungsmechanismus zwischen Sozialstruktur und Persönlichkeitsstruktur gelten muß 1 6 1 . Ein besonderer Zusammenhang besteht dabei zwischen dem sozio-ökonomischen Status, der Einhaltung von Normen und dem Sprachverhalten 162 . Öffentlichkeit und ihre Medien als „Organisationsform der kollektiven gesellschaftlichen Erfahrung" 1 6 3 haben partiell eine nivellierende Funktion, bewirken ein Sich-Einlassen auf Konventionen und die Deutungsinteressen, welche i n „Öffentlichkeit" zum Ausdruck kommen. Vermittelt über die sprachliche Sozialisation besteht aber neben solcher hochsprachlicher Öffentlichkeit auch eine „proletarische Lebens- und Erfahrungswelt", welche sich vor allem i n Arbeits- und Freizeitgruppierungen darstellt 1 6 4 . 161 Vgl. U. Oevermann, Soziologische u n d sozialpsychologische Ansätze zur E r k l ä r u n g des schichtenspezifischen Sprachgebrauchs, i n : L i n g u i s t i k u n d D i d a k t i k 5/1971, S. 24 ff. (S. 26 f. m. w. N.); ders., Sprache u n d soziale H e r k u n f t , S. 65 m. w. Ν . ; B. Bernstein, Studien zur sprachlichen Sozialisation, S. 108 ff. 162 v g l . insges. U. Oevermann, Soziologische u n d sozialpsychologische A n sätze zur E r k l ä r u n g des schichtenspezifischen Sprachgebrauchs, S. 33; B. Bernstein, Studien zur sprachlichen Sozialisation, S. 87 ff.; J. Pearlin/N.L. Kohn, Social Class, Occupation and Parental Values: A Crossnational Study, i n : American Review, Bd. 31, 1966, S. 466 ff.; allgemein auch Funkkolleg Sprache, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 207 ff., S. 269 ff. u n d F. Hundsnuerscher, Neuere Methoden der Semantik, Tübingen 1970. 183 O. Negt/ A. Kluge, Öffentlichkeit u n d Erfahrung, F r a n k f u r t / M . 1972, S. 17 ff. 164 O. Negt / A. Kluge, S. 144 ff. u. S. 267 ff. Die Theorie der linguistischen
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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Sprachverhalten und Sprachverstehen sind also eingebettet i n soziale Prozesse, „die das Ausdrucksrepertoire des einzelnen und die Auswahl aus seinen Ausdrucksalternativen i n konkreten Kommunikationssituationen steuern" 1 6 5 , sie sind gebunden zu sehen an den sozialen Status. Der soziale Status w i r d wesentlich ausgewiesen durch die Kriterien, welche die Schichtung einer Gesellschaft kennzeichnen: „Besitz und Bildung". Entsprechend dem sozialen Status, entsprechend den je spezifischen individuellen und sozialen Anliegen, Interessen und Bedürfnissen kann das Verstehen der sprachlichen Zeichen eines offenen, nicht definierten Normsatzes differieren, kann die Möglichkeit, soziale Interessen i n einem Normsatz zu legitimieren, variieren. Konventionen, welche über die Richtigkeit eines Sprachverhaltens entscheiden, sind, auch wenn sie einen allgemein gesellschaftlichen Gültigkeitsanspruch aufstellen, entweder Ausdruck allgemeinen Konsenses oder eben Ergebnis spezifischer gesellschaftlicher Herrschaftsformen, welche es ermöglichen, daß bestimmte gesellschaftliche Schichten und Gruppen ihr Sprachverhalten und -Verständnis und die sich darin ausdrückenden Anliegen, Interessen oder Bedürfnisse allgemein verbindlich setzen können, sie sind damit selbst ein Herrschaftsmittel. M i t dem Idealtypus des „eingeborenen Sprechens" („native speaker") w i r d i n der Linguistik von individuellen Einflußfaktoren auf das Sprachverhalten und das Sprachverständnis abstrahiert, u m die generelle Regelhaftigkeit und die Bedeutung von Sprachzeichen festlegen zu können. E i n so konstruiertes idealtypisches Sprachverhalten und -verstehen ermöglicht eine lexikalische Fixierung der Bedeutungen von Sprachzeichen und ihrer Paraphrasen. I n gewisser Weise ist die standardisierte Hochsprache eine solche Festlegung von Sprachzeichen und der Regeln ihrer Verwendung. Dies ändert aber nichts daran, daß Kodes von Bernstein verdeutlicht Prinzipien, welche sprachliche Planungsfunktionen steuern (B. Bernstein, Soziale Struktur, Sozialisation u n d Sprachverhalten, S. 62 ff., S. 99 ff.; U. Oevermann, Sprache u n d soziale Herkunft, S. 331 ff.). Unterschieden w i r d dabei zwischen der grammatical compétents i m Sinne von Chomsky als Bedingung der Möglichkeit des Befolgens sprachlicher Regeln u n d der grammatical performance als der konkreten Sprachmöglichkeit. (Ν. Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, F r a n k f u r t / M . 1971, S. 14). Bernstein unterscheidet zwischen den restringierten Kodes u n d den elaborierten Kodes, w o m i t der Unterschied zwischen einer i m Sozialisationsprozeß angelegten u n d i n den Sozialbezügen sich ausdrückenden sprachlichen Festlegung bzw. Offenheit des Sprechens u n d Verstehens gekennzeichnet ist. Die empirischen Befunde bestätigen, daß Sprachverwendung, sprachliche Performanz, konkretes Sprachverhalten v o m sozialen Status, der sozioökonomischen Situation u n d den damit eingeschlossenen Sozialbeziehungen des Sprechens abhängig sind. (Vgl. etwa B. Bernstein, S. 99 ff.). lfl 5 B. Badura, K o m m u n i k a t i v e Kompetenz, i n : d e r s . / K . Gloy, Soziologie der Kommunikation, Stuttgart 1972, S. 247 ff. Vgl. hierzu auch G. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, Baden-Baden 1976, S. 35 ff. (S. 49 ff.).
156
4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Sprachzeichen können.
in
der
Praxis
unterschiedliche
Bedeutungen
haben
Für die Rechtssprache, insbesondere für die Grundrechte bleibt festzuhalten, daß sie i n unterschiedlichen Situationen und für verschiedene gesellschaftliche Gruppen eine je eigene Bedeutung haben können. Es gibt kein verfassungsrechtliches Kriterium, welches die Gültigkeit sprachlicher Kommunikation, welches unterschiedliches BedeutungsVerstehen allgemein entscheidbar macht. Selbst wenn es möglich wäre, einen solchen Idealtypus für die Rechtssprache i m Blick auf jene Personenmenge zu bilden, welche i n dieser Sprache entsprechend gesetzlicher Berufsregelungen ausgebildet ist, wäre nachzuweisen, daß dem Sprachverständnis eines solchen Standes eo ipso Gültigkeit und Verbindlichkeit für die Verfassungsinterpretation zukommt. Rechtssetzung, vor allem aber Rechtsanwendung geschehen zwar — zumindest i n ihrer institutionellen Ausgestaltung — i n juristischer Fachsprache 166 . Juristische Ausbildung als eine spezifische Form von Sozialisation und Rollenvermittlung beinhaltet wesentlich die Einübung der Fachsprache 167 . Diese Sozialisation i n eine Fachsprache ereignet sich selbst nicht wertneutral, die darin zur Geltung kommenden Inhalte: interpretatorische Übungen, fachsprachliche Texte, publizierte Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen sind selbst vom Rechtsbetrieb und den darin agierenden Interessen als Sozialisationsagenturen geprägt 1 6 8 . Die Feststellung einer juristischen Fachsprache beinhaltet gleichzeitig die Feststellung einer Divergenz zwischen allgemeiner Umgangssprache und Rechtssprache. Invarianzen zwischen Fachsprache und Umgangssprache bestehen auf der Wortebene, der Satzebene und der Textebene, d. h. i m Vorkommen bestimmter Worte, i n Satzkonstruktionen und Folgerungen 169 . Die juristische Verwendung von Sprache i n Gesetzen, Verordnungen, Urteilen und Schriftsätzen sowie wissenschaftlichen Arbeiten macht deutlich, daß dieser Sprache i m wesentlichen Merkmale einer 166 Vgl. hierzu H. Brinckmann, Juristische Fachsprache u n d Umgangssprache, i n : ÖVD 1972, S. 60 ff. sowie die Beiträge i n D. Rave ! H. Brinckmann / K. Grimmer (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, Darmstadt 1971 u n d dies., Syntax u n d Semantik juristischer Texte, Darmstadt 1972. 167 I n diesem Zusammenhang W. Kaupen, Die H ü t e r von Recht u n d Ordnung, Neuwied 1969, S. 145 ff.; J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 9 ff., 29 ff., 53 ff., S. 103; Th. M. Seibert, Z u r Fachsprache i n der Juristenausbildung, B e r l i n 1977; E. Döhring, Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung, S. 88 ff. lee v g l . Th. Gawron / R. Schäfer, Justiz u n d organisierte Interessen i n der BRD, i n : PVS 7/1976, S. 217 ff. m. w. N. 189 Erg. H. Brinckmann, Hechtshandlungen u n d Sprachhandlungen, i n : J. S. Petöfi u. a. (Hrsg.), Fachsprachliche Texte — Umfangssprachliche K o m munikation, Kronberg/Ts. 1975, S. 197 ff.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
157
exakten, eineindeutigen Wissenschaftssprache 170 fehlen. Es gibt zwar Nominaldefinitionen, i n welchen die Verwendung von Wörtern und ihr Bedeutungsgehalt festgelegt werden, aber diese sind vielfach selbst oft vage (vgl. die Definition von Fahrlässigkeit als Nichtbeachtung der i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt — § 276 Abs. 1, S. 2 BGB). Definitionen sind auch spezifisch kontextbeschränkt. Syntaktische Regeln, also normierte Verknüpfungen von Wörtern und Wortgruppen fehlen ebenso wie Regeln, welche die Zuweisung von realen Objekten, Zuständen oder Prozessen zu Wörtern angeben. Juristische Dogmatik und Urteilsbegründung leisten zwar Definitionen und Explikationen von Texten, ihnen fehlen aber allgemeine normative Zuordnungen und Gültigkeit. Der Kommunikationszusammenhang w i r d über die fachsprachliche Sozialisation erhalten. Kennzeichnendes Merkmal einer Fachsprache ist, daß sie zur Kommunikation i m Hinblick auf einen spezifischen Gegenstand dient und sich von daher zur Gewährleistung von Kommunikationsmöglichkeiten eines beschränkten oder zumindest spezialisierten Wortschatzes bedient, daß sie jeweils gewisse Merkmale enthält, welche invariant von spezifischen Eigenschaften des jeweiligen Sprechers i m übrigen benutzt werden. Die juristische Fachsprache ist gleichzeitig aber auch Standessprache, rollenspezifische Sprache. M i t der Kennzeichnung „Standessprache" soll deutlich gemacht sein, daß die Verwendung der juristischen Fachsprache an bestimmte soziale Gruppen und soziale Funktionen gebunden ist und dort als spezifische Form von Umgangssprache bezogen auf den Gegenstand Recht verwendet wird. Sie fördert gleichzeitig soziale Ausdifferenzierung und Gruppenbildung 1 7 1 . Juristische Fachsprache erfährt je nach den Kommunikationserfordernissen Präzisierungen, doch ist dies nicht ihr generelles Merkmal. Ebenso häufig w i r d auf die Technik der Präzisierung für Stringenz i n der Kommunikation verzichtet, da mehrdeutige generelle Aussagen aus dem Vorverständnis des Sprachbenutzers, aus seiner Standes- und Fachsprache heraus m i t einem beschreibbaren Bedeutungsgehalt belegbar sind. Generelle Aussagen erschweren die Kommunikationsmöglichkeiten, wenn die Homogenität des Standes und damit des Sprachverständnisses und der Sprachverwendimg nicht mehr gegeben ist. Die letzte Metasprache einer Fachsprache als Standessprache und als Wissenschaftssprache ist immer die Umgangssprache, nur i n ihr sind eine Fachsprache oder Wissenschaftssprache allgemein beschreibbar 170 v g l hierzu W. Leinfellner, Einführung i n die Erkenntnis- u n d Wissenschaftstheorie, S. 24 f.; H. Wagner / K. Haag, Die moderne L o g i k i n der Rechtswissenschaft, B a d H o m b u r g v. d. H. usw. 1970, S. I f f . ; W. K . Essler, Über die Interpretation von Wissenschaftssprache, i n : Phil. Jb. 77 (1970), S. 117 ff. 171
Hierzu W. Diekmann,
Sprache i n der Politik, Heidelberg 1969, S. 32 f.
158
4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
und erklärbar, auf sie h i n sind ihre Bedeutungen zu beziehen und von ihr aus werden Präzisionsbedürfnisse artikuliert. Aus der Vieldeutigkeit der Umgangssprache werden sprachliche Präzisionsbedürfnisse artikuliert und i n ihr müssen fachsprachliche oder wissenschaftssprachliche Deutungsbestimmungen erklärbar und verstehbar sein. I n der Alltagssprache bildet sich die Lebenspraxis ab, und gerade diese zu formieren, ist Sache des Rechts. Wenn juristische Fachsprache nicht normativ festgelegte, präzise Wissenschaftssprache ist, und wenn juristische Fachsprache für ein allgemeines Verständnis der Übersetzung i n die Umgangssprache bedarf, stellt sich die Frage nach der Sprachkompetenz des Juristen. Ist dieser „kompetent" als „native speaker" über die Sprachrichtigkeit eines Textes i n einem gegebenen Kontext zu entscheiden, die Adäquatheit einer Paraphrase zu beurteilen, das m i t dem Text Gemeinte anzugeben, Übersetzungen i n die und aus der Umgangssprache m i t allgemeinem Geltungsanspruch vorzunehmen? 172 . Zugegebenermaßen kann nur der „eingeborene Sprecher", der fachsprachlich-sozialisierte Sprecher einen fachsprachlichen Text verstehen, über die richtige fachsprachliche Verwendimg von Sprachzeichen befinden. Das Vorverständnis des juristischen Interpreten, i n welchem die geschichtliche Tradition, die Theorien und die Dogmatik der Rechtswissenschaft fachsprachlich vermittelt wirken, bildet die Grundlage und Möglichkeit konsensfähiger Kommunikation 1 7 3 . Die Einbindung des Juristen i n den Rechtsbetrieb und die darin agierenden Interessen beschränkt seine Wahrnehmungsfähigkeit 1 7 4 und stellt i h n i n einen eigenständigen Prozeß öffentlicher Meinungsbildung und wissenschaftlichwertender Diskussion 175 . Die Verbindlichkeit der Norm impliziert nach Esser die Einheitlichkeit dieses Sprachverständnisses für die Normanwendenden 1 7 6 . Diese Einheitlichkeit ist aber, wie Rechtsprechung und Schrifttum gerade zum Verfassungsrecht zeigen, nur sehr partiell gegeben. Die Sprachkompe172 Vgl. zu den hier angesprochenen sprachwissenschaftlichen Problemen G. Ungeheuer, S. 178 ff. sowie vor allem E. v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, F r a n k f u r t / M . 1969, insbes. S. 32 ff., 67 ff., 442 ff. sowie G. Roellecke, Juristische Methodenlehre u n d die Spätphilosophie L u d w i g Wittgensteins, i n : Festschrift f ü r Gebhard Müller, Tübingen 1970, S. 323 ff. 173 Vgl. hierzu H. G. Hinderling, S. 201 ff. m. w. N. u n d J. Esser, S. 10 f. 174 Vgl. zu den Auslegungsproblemen i m Verhältnis Gesetz u n d Verfassung W. Leisner, V o n der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, B e r l i n 1964, dazu auch P. Häberle, i n : AÖR, Bd. 90, S. 113 ff. 175 Vgl. hierzu P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, i n : J Z 1975, S. 297 ff. (S. 298, 300) m. w . N. 176 J. Esser, S. 31; vgl. auch F. Müller, N o r m s t r u k t u r u n d Normativität, B e r l i n 1966, S. 168 ff.
4.2 K r i t i k der Methodik der Verfassungsinterpretation
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tenz beinhaltet nicht, daß stets „der Sprachgebrauch des Juristen auch die Bedeutung juristischer Texte, also auch die von Gesetzen als von Juristen gemachten Texten" 1 7 7 zu bestimmen hat. I n dem Maße, i n dem der Umgang m i t Rechtstexten Umgang m i t Herrschaftsmittel ist, bedeutet das Innehaben einer spezifischen juristischen Sprachkompetenz Innehaben von Herrschaftskompetenz 178 . Die Kompetenz, fachsprachliche Richtigkeit festzustellen, ist nicht gleich der Kompetenz, den Bedeutungsgehalt sprachlicher Texte allgemein verbindlich festzustellen, eine solche Herrschaftsfunktion des Juristen müßte i n einem demokratischen Rechtsstaat selbst normativ legitimiert sein. Der Jurist kann zwar als Organträger eine Entscheidungskompetenz haben, aber diese ist dann nicht i n seiner sprachlichen Kompetenz, sondern in einer Legitimation der Organe begründet. Diese Entscheidungskompetenz sagt nichts über das zu beachtende und anzuwendende Sprachverhalten aus, jedenfalls nicht i m Verfassungsbereich. Gerade w e i l die juristische Fachsprache zuvorderst Standessprache ist, würde die Zuerkennung einer solchen Sprachkompetenz bedeuten, daß die Konkretion offener Grundrechtssätze standesspezifisch zu erfolgen hat. Sprachkompetenz als Interpretationskompetenz mag dann vereinbar sein, wenn es sich u m spezifisch „technische, rechtstechnische Regelungen" handelt, wenn der Adressat der Jurist ist wie bei vielen Prozeßregeln. Diese Kompetenz i m Gesetzesbereich würde aber — bezogen auf die Grundrechte — der konstitutionellen Begründung und dem Geltungsanspruch dieser Normen widersprechen. Der Geltungsanspruch des Grundgesetzes ist seiner Präambel nach begründet i m Willen des deutschen Volkes, sich eine neue Ordnung zu geben, alle Staatsgewalt geht gem. A r t . 20 I I GG vom Volke aus. Damit steht jedenfalls fest, daß der unterschiedliche Bedeutungsgehalt, welcher offenen Grundrechtsnormen aus unterschiedlichen sozialen Situationen und aus dem Pluralismus der Gewaltenträger zuwächst, nicht aufhebbar ist i n einer Standessprache, nicht entschieden werden kann durch das fachsprachlich geschulte Verständnis des Juristenstandes. Die Offenheit vieler Grundrechtssätze ist deshalb auch nicht aufhebbar i n einem Konsens der i n einer Fach- und Standessprache Geschulten, deren Bedeutungserkennung liefert nur Aspekte des möglichen Bedeutungsgehaltes. Einen A r t . 1 Abs. 3 GG entsprechenden Geltungsanspruch können solche Bedeutungszuerkennungen nicht beanspruchen. Gemäß A r t . 20 Abs. 2 GG w i r d die Staatsgewalt zwar durch besondere 177 H. Brinckmann, Juristische Fachsprache u n d Umgangssprache, S. 66. Brinckmann verliert den Unterschied zwischen Sprachkompetenz u n d Sachkompetenz, er vernachlässigt das Problem der Textadressaten. 178 Hierzu auch Fr. Müller, Juristische Methodik u n d politisches System, S. 87; erg. ders., Rechtsstaatliche Methodik u n d politische Rechtstheorie, i n : Rechtstheorie 1977, S. 73 ff.
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt, diese Organe sind auch gem. A r t . 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden, damit ist aber nicht gesagt, daß zur Bestimmung von Gehalt und Funktion der Grundrechtssätze allein das Sprachverständnis des Juristenstandes, auch nicht als Organmitglieder der rechtsprechenden Gewalt i n Praxis zu bringen ist — unbeschadet der Entscheidungsgewalt solcher Organe 1 7 9 . Die Gesellschaft billigt entsprechend ausgebildeten Gruppen wie den Juristen vielfach Erklärungs- und Auslegungskompetenzen zu, welche nicht in der Sache legitimiert sind, sondern diese Qualifikation ist i n der sprachlichen Sozialisation und i n der Trennung, welche Fachsprache zur allgemeinen Umgangssprache schafft, gegeben. Funktion einer so ausdifferenzierten Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft ist die argumentative Aufbereitung von Deutungsmodellen, hierin liegen ihre spezifischen Leistungen i m sozialen System und für die Konstitution der rechtsstaatlichen Ordnung. Sie ist i n dieser Tätigkeit auch gerechtfertigt durch A r t . 5 Abs. 3 GG, i n dem die Verfassung selbst als Gegenstand und zur Sache der Wissenschaft gemacht w i r d 1 8 0 . Das juristische Sprachverständnis ist aber nicht der Sprachrahmen, welcher allein den konkreten Inhalt und die konkrete Bedeutung offener Grundrechtsnormen umschreibt, ihren jeweils verbindlichen Bedeutungsgehalt gem. A r t . 1 Abs. 3 und A r t . 20 Abs. 2 GG definiert. 4.3 Verfassungsauslegung als offener und allgemeiner Diskurs
Das Grundgesetz, die Grundrechte sind vergangenheitsbezogen und zukunftsgerichtet: i n der Entfaltung einer Gesellschaft ist eine normat i v vorgegebene Wertigkeit i n den sozialen Strukturen und Prozessen zu erhalten. Die politisch-gesellschaftliche Funktion einer Verfassung ist es gerade, die Kontinuität staatlichen Lebens durch die Vermittlung von Gegenwart und Vergangenheit i n ihrer Konkretisierung herzustellen. Grundrechtskonkretion steht so vor der doppelten Aufgabe: die Wertung einer Norm zu ermitteln und zu entscheiden, i n welcher Weise soziale Strukturen und Prozesse zu gestalten sind, u m dem werthaften Sinn der Norm und also den konstitutionellen Bedingungen staatlich verfaßter Gesellschaft zu entsprechen. I m klassisch-hermeneutischen, 179 Einen systematisierenden Uberblick der formalrechtlich an der Verfassungsinterpretation Beteiligten gibt P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, S. 299. Kritisch zum offenen Interpretationsansatz von Häberle m i t dem V o r w u r f w i l l k ü r l i c h e n Dezissionismus, G. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsintperretation, S. 49. 180 Vgl. hierzu P. Häberle, S. 301 m. w. N. Z u m Problem der B i n d u n g u n d Offenheit des Rechts vgl. auch A. Gysin, B i n d u n g u n d Offenheit des Rechts v i rechtsphilosophischer Sicht, i n : Festschrift f. A . Troller, Basel 1976, S. I f f .
4.3 Verfassungsauslegung als offener u n d allgemeiner Diskurs
161
rechtspositivistischen V e r f a s s u n g s v e r s t ä n d n i s w i r d das A u s l e g u n g s e r gebnis b e s t i m m t d u r c h d i e W a h l u n d d i e A r t d e r A n w e n d u n g d e r Interpretationsmethoden. Wertphilosophische u n d institutionelle V e r fassungsbetrachtung ü b e r s t e i g e n d e n K a n o n d e r M e t h o d e n , b l e i b e n aber i n i h r e n I n t e r p r e t a t i o n s e r g e b n i s s e n l e t z t l i c h w i l l k ü r l i c h . D i e D i a l e k t i k v o n Verfassungsnorm u n d Verfassungswirklichkeit w i r d i n diesen m e t h o d i s c h e n A n s ä t z e n ebenso b e w u ß t w i e i n d e r t o p i s c h - a r g u m e n t a t i v e n Verfassungsauslegung. Ergebnisse, w e l c h e h i n s i c h t l i c h i h r e r i n t e r s u b j e k t i v e n G ü l t i g k e i t u n d verfassungsrechtlichen V e r b i n d l i c h k e i t m i t „ w a h r " oder „ f a l s c h " b e w e r t e t w e r d e n k ö n n e n , s i n d so n i c h t z u gewinnen181. 4.3.1 Zur praktischen Wahrheitsfähigkeit intersubjektiver Verständigung Die G ü l t i g k e i t u n d Verbindlichkeit einer K o n k r e t i o n ist weder beg r ü n d b a r i n e i n e r verfassungsrechtlich vorgeschriebenen M e t h o d e — d e n n diese g i b t es n i c h t — n o c h i n e i n e r a l l g e m e i n e n W a h r h e i t s f ä h i g k e i t p r a k t i s c h e r Aussagen, w i e diese auch i m m e r m e t h o d i s c h - t h e o r e tisch b e g r ü n d e t sein m ö g e n . D i e A n n a h m e d e r a l l g e m e i n e n R i c h t i g k e i t eines Ergebnisses „ k a n n i m B e r e i c h j u r i s t i s c h e r I n t e r p r e t a t i o n n i e m a l s m e h r als eine F i k t i o n u n d L e b e n s l ü g e d e r J u r i s t e n b l e i b e n , h i n t e r d e r sich unausgesprochen u n d u n k o n t r o l l i e r b a r d i e w a h r e n G r ü n d e d e r E n t s c h e i d u n g oder auch n u r schweigende D e z i s i o n v e r b e r g e n " 1 8 2 . 181 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt a m Problem der Verfassungsinterpretation, B e r l i n 1967: „Eine verfassungsrechtliche E n t scheidung ist methodisch richtig, w e n n sie erstens von („vernunftrechtlich" i m gekennzeichneten Sinn) vertretbaren Normhypothesen ausgeht, w e n n sie zweitens sämtliche einschlägigen Dezisionen des Verfassungsgebers beachtet, historisch richtig ermittelt u n d zugrundelegt, w e n n sie drittens alle einschlägigen Präjudizien beachtet, . . . w e n n sie viertens den i h r verbleibenden E n t scheidungsraum unter Berücksichtigung der mindestens präsumtiv p r ä j u diziellen Verbindlichkeit auch der zu fällenden Entscheidung i n einer „ v e r nunftrechtlich" möglichst plausibel zu rechtfertigenden Weise nutzt" (S. 314/ 315). Dieses „Richtigkeitskriterium" ist nicht präzis, sagt weder etwas über die anzuwendende Methode u n d deren V a l i d i t ä t aus, noch begründet es ausreichend die Vorrangstellung der Präjudizien. Methodisch richtig ist eine verfassungsrechtliche Entscheidung n u r i m Rahmen eines „ZirkelVerfahrens", i n dem eine Methode als anzuwendende, als „richtige" definiert w i r d u n d entsprechend verfahren w i r d . — Z u m Problem der Realisierung von Verfassungsrecht i n der D i a l e k t i k ihrer A n w e n d u n g vgl. K. Hesse, S. 17 f., S. 25, J. Esser, Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen F o r t b i l d u n g des Privatrechts, S. 150 ff.; K . Engisch, Die Idee der Konkretisierung i n Recht u n d Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 78, 92 ff. (S. 109, 116, 122); M. Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : W d S t R L , H. 9, B e r l i n 1952, S. 92; H. G. Hinderling, Rechtsnorm u n d Verstehen, Bern 1971, S. 182 ff. m. w . N.; zum allgemeinen erkenntnistheoretischen Problem auch G. Weisser, Die Unternehmensmorphologie — n u r Randgebiet? i n : Arch. f. ö. u. fr. U., Bd. 8, Göttingen 1966/67, S. 1 ff. (S. 38). 182 K . Hesse, Grundzüge, S. 30; vgl. auch M. Drath, Grundgesetz u n d p l u r a listische Gesellschaft, i n : W. Böhme (Hrsg.), Weltanschauliche Hintergründe
11 Grimmer
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
D i e U n m ö g l i c h k e i t e i n e r m i t „ w a h r " oder „ f a l s c h " z u b e w e r t e n d e n M e t h o d i k d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n , e i n e r m i t „ w a h r " oder „ f a l s c h " z u b e w e r t e n d e n V e r f a s s u n g s k o n k r e t i o n ist l e t z t l i c h b e g r ü n d e t i n d e r S u b j e k t i v i t ä t m e n s c h l i c h e n S p r a c h v e r h a l t e n s u n d Verstehens, auch w e n n dies sozial v e r m i t t e l t i s t u n d i n T r a d i t i o n s z u s a m m e n h ä n g e n steht, w e n n es schichten-, g r u p p e n - oder situationsspezifische G e m e i n samkeiten gibt. Die traditionelle H e r m e n e u t i k 1 8 3 — u n d die juristischen Interpretat i o n s m e t h o d e n s i n d i h r zuzurechnen — k a n n diese P r o b l e m a t i k n i c h t auflösen. Dies g i l t auch f ü r i h r e i n d e r sozialphilosophischen P r o b l e m a t i k t i e f e r g r e i f e n d e n u n d i n i h r e r M e t h o d i k umfassender a n g e l e g t e n Ausgestaltungen184. N a c h B e t t i h a t d e r I n t e r p r e t „ i n seiner I n n e r l i c h k e i t d e n Schaffensprozeß r ü c k l ä u f i g z u v e r f o l g e n , i h n v o n i n n e n h e r n a c h z u k o n s t r u i e r e n , einen fremden Gedanken, ein Stück Vergangenheit, ein erinnertes E r l e b n i s i n die eigene L e b e n s a k t u a l i t ä t v o n i n n e n h e r z u r ü c k z u ü b e r setzen, i h m i m R a h m e n d e r eigenen E r f a h r u n g v e r m ö g e e i n e r A r t U m s t e l l u n g seinem eigenen G e i s t e s h o r i z o n t k r a f t derselben Synthese a n zupassen u n d e i n z u f ü g e n , d u r c h d i e er i h n w i e d e r e r k e n n t " 1 8 5 . I m Rechtsbereich h a t er insbesondere auch d i e I n t e r e s s e n t y p e n z u e r m i t der Rechtsprechung, Karlsruhe 1968, S. 85 ff. (S. 94) u. H. Ryffel, G r u n d probleme der Rechts- u n d Staatsphilosophie, Neuwied u. B e r l i n 1969, S. 396 f. A. Kaufmann, Durch Naturrecht u n d Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, i n : JZ 1975, S. 337 ff. (S. 341). 183 A r t . Hermeneutik, i n : A. Diemel/ J. Frenzel (Hrsg.), Philosophie, F r a n k f u r t / M . 1971, S. 97. Vgl. auch H. G. Hinderling, S. 3 ff. m. w. N.; G. Gadamer , Wahrheit u n d Methode, S. 162 ff.; W. Dilthey , Die Entstehung der Hermeneutik, i n : Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig u. München 1924, S. 319, 331 ff. Dilthey definiert Hermeneutik als „Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen". Z u r Geschichte der Hermeneutik vgl. die Nachweise bei H. G. Hinderling, S. 4 ff. 184 Vgl. den Überblick bei H. J. Sandkühler, Praxis u n d Geschichtsbewußtsein, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 55 ff. Sandkühler k a n n i n der Unterscheidung v o n fünf Typen von Hermeneutik gefolgt werden, „nämlich der idealistischpsychologischen Theorie hermeneutischen Verstehens der Totalität sprachlicher Sinngehalte (Schleiermacher, Dilthey), der idealistischen geschichtsmetaphysischen Theorie der Hermeneutik als Analyse von Dasein u n d F a k tizität (Heidegger), der idealistischen philosophischen Universalhermeneutik auf der Grundlage der Apologie des Vorurteiles (Gadamer), der sozialwissenschaftlich-psychoanalytischen Theorie der Hermeneutik; eine ihren idealistischen Status leugnende Theorie der Interpretation von Symbolen auf der Basis sprachlichr K o m m u n i k a t i o n u n d I n t e r a k t i o n (Habermas, Lorenzer), der historisch- u n d dialektisch-materialistischen K r i t i k der ideologischen Existenzwesen des Bewußtseins". (S. 57). Diese notwendige Thematisierung läßt sich nicht durch H i n w e n d u n g zu dogmatisierten Methoden erledigen, unbefriedigend insoweit D. Suhr t Entfaltung der Menschen durch die Menschen, B e r l i n 1976, S. 19 ff., S. 71 ff. 185 E. Betti , Die Problematik der Auslegung i n der Rechtswissenschaft, i n : Festschrift f ü r K . Engisch, S. 209, 214 f.
4.3 Verfassungsauslegung als offener u n d allgemeiner Diskurs
163
teln, die Gegenstand der gesetzlichen Regelung wurden. „Derartige Interessen sind i m faktischen Bereich einer Gemeinschaft beheimatet und bilden zum größten Teil Sinnformen. Diese sind eigenen Gesetzen unterworfen, die noch vor der rechtlichen Regelung wirksam werden." Momente eines umfassenden hermeneutischen Verstehens sind zunächst die oben gekennzeichneten positivistischen Interpretationsverfahren. „Darüber hinaus gilt es, i n historischer und technischer Richtung sowohl die innere Seinsweise der betreffenden sozialen Verhältnisse als auch die Logik von deren rechtlicher Behandlung zu erforschen 186 ." Betti ist einem scheinbaren Objektivismus verpflichtet. Der AuslegungsVorgang hat die Subjekt-Objektspaltung zu überwinden, u m die objektive Realität i n kommunikativer Sprache zu setzen. Der Kanon der Auslegungsmethoden soll das richtige Resultat dadurch verbürgen, daß er sowohl die objektiven wie auch die subjektiven Elemente des auslegenden Nachkonstruierens sichert 187 . I n dem Moment, i n dem die Objektivität von Sinn- und Wertformen und die allgemeine Gültigkeit der Auslegungsmethoden nicht beweisbar ist, — und dieser Beweis w i r d von Betti nicht gebracht — reduziert sich auch solche Hermeneutik zu einer wissenschaftlich disziplinierten Technik 1 8 8 und bleibt zirkelhaft. Gadamer fragt — anders als Betti — i n seiner existentiellen Hermeneutik zunächst nach der Bedeutung der Lebenssituation des Subjekts für das Verstehen. Der Lebensbezug des Individuums zur fraglichen Sache, das Vorverständnis gibt nach Gadamer dem Verstehensvorgang eine bestimmte Richtung, das vorläufige Verstehen korrigiert sich aber laufend am Eindringen i n die Sache. Vorurteile als Ausdruck der Geschichtlichkeit des Menschen werden so aufgehoben, i m Verstehen vermittelt das Individuum den geschichtlichen Horizont m i t dem Gegenwartshorizont. „Die Applikation ist das Moment der Vermittlung, welche zeigt, daß Auslegung nicht unter Absehung von der aktuellen Lage geschehen kann. Als applikative Leistung ist das Verstehen aber produktiv." Richtige Interpretation, richtiges Verstehen setzt so In-der186 E. Betti, Die Problematik der Auslegung i n der Rechtswissenschaft, S. 206/207. 187 E. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967, insbes. S. 1, 7, S. 33, 35 f. „Die O b j e k t i v i t ä t der F o r m ist nicht nur Träger der Werte, sie trägt zugleich den Ansporn zur geistigen Spontanität des betrachtenden Subjekts. I n der Gleichheit dieser Spontanität m i t der i n der F o r m verkörpernden Idee liegt das Verständnis." (S. 139 ff.) B e t t i folgt bei der Frage nach der F o r m u n d dem Sprachbegriff E. Husserl (E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie u n d phänomenologischen Philosophie (Husserliana, Bd. 3 - 5 ) , Haag 1950/52). — Z u r Auslegung als Methode bei Betti vgl. ders., S. 211 ff., zur juristischen Auslegung, S. 601 ff.; kritisch H. G. Hinderling, S. 89 ff. m. w . N.; W. Kilian, S. 28. 188 H. J. Sandkühler, S. 69; vgl. auch H. G. Hinderling, S. 254; ähnlich B e t t i u n d an diesen anschließend H. Coing, Die Juristischen Auslegungsmethoden u n d die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, K ö l n u. Opladen 1969, S. 13 ff.
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Tradition-Stehen voraus, denn nur i m Aufnehmen der Tradition kann die Sinnbedeutung historischer Akte verstanden werden. Nach Gadamer hat eine philosophische Hermeneutik die Aufgabe, „die hermeneutische Dimension i n ihrer vollen Reichweite aufzuschließen und ihre grundlegende Bedeutung für unser gesamtes Feldverständnis zur Geltung zu bringen, i n allen seinen Formen, von der zwischenmenschlichen Kommunikation bis zur gesellschaftlichen Manipulation, von der Erfahrung des einzelnen i n der Gesellschaft wie von der Erfahrung, die er an der Gesellschaft macht, von der aus Religion und Recht, Kunst und Philosophie aufgebauten Tradition bis zu der emanzipatorischen Reflexionsenergie des revolutionären Bewußtseins" 1 8 9 . Die Zirkelaporie von Vorverständnis und Erkenntnisfähigkeit versucht Gadamer aufzulösen, indem er das Vorverständnis anerkennt, indem er die Erkenntnis i n die Tradition und damit i n das von der Tradition formierte Vorverständnis einbindet. Die Erkenntnis i n der Tradition ergibt aber noch nicht die Gültigkeit der Interpretation einer Norm und ihre Verbindlichkeit für die Gegenwart. Hermeneutisches Verstehen kann deshalb — wie K. O. Apel darlegt — zur kritischen Vergewisserung von Wahrheit nur dann führen, wenn es dem regulativen Prinzip untersteht: universale Verständigung i m Rahmen einer unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft herbeizuführen 1 9 0 . Habermas stellt dazu fest, „Wahrheit ist der eigentümliche Zwang zu zwangloser universaler Anerkennung: diese aber ist gebunden an eine ideale Sprechsituation, und d. h. Lebensform, i n der zwanglose universale Verständigung möglich i s t " 1 9 1 . „Die Wahrheit einer Interpretation ist abhängig von der Möglichkeit freier und gleicher Kommunikation. Nun haben w i r aber Veranlassung anzunehmen, daß der Hintergrundkonsensus ein gelebtes Traditions- und Sprachspiel . . . auch i n gesamtgesellschaftlichen Systemen ein zwangsintegriertes Bewußtsein, ein Ergebnis von Pseudokommunikation sein kann 1 9 2 ." Auf189 So zutreffend die Charakterisierung von H. G. Hinderling, S. 253; vgl. hierzu H. G. Gadamer , Wahrheit u n d Methode, S. 277 ff. (S. 316 ff.). Nach Gadamer gelangt derjenige Leser, der i n der T r a d i t i o n steht, zur richtigen Interpretation gegenüber demjenigen, der m i t der Tradition bricht. — Parallelen ergeben sich hier zum amerikanischen Gesetzespragmatismus, auch dort w i r d als Bedeutungsgehalt einer N o r m jener Sinn angesehen, welchen der Richter k r a f t seiner Stellung bestimmt, die Einheitlichkeit w i r d durch die Hierarchie garantiert. Nach Gadamer werden allerdings i m produktiven A k t der Interpretation i m m e r auch neue Bedeutungen u n d neuer Sinn des T e x tes gefunden, S. 280 f. 190 K . O. Apel, Szientizismus oder transzendentale Hermeneutik, i n : Festschrift f ü r H. G. Gadamer, Tübingen 1970, Bd. 1, S. 105 ff. 191 J. Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, i n : Festschrift f ü r H. G. Gadamer, S. 72 ff. (S. 99); v g l auch G. H. Mead, M i n d , Self, Society, Chicago 1939, S. 317. 192 J. Habermas, S. 101/102.
4.3 Verfassungsauslegung als offener u n d allgemeiner Diskurs
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gäbe hermeneutischer Forschung ist es aber gerade, die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der Erhaltung und der Erweiterung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierter Verständigung zu erschließen. Sinnverstehen richtet sich seiner Struktur nach dabei auf möglichen Konsens von Handelnden i m Rahmen eines tradierten Selbstverständnisses. „Erkennen ist i m gleichen Maße Instrument der Selbsterhaltung, wie es bloße Selbsterhaltung transzendiert. Die erkenntnisleitenden Interessen bilden sich i m Medium von Arbeit, Sprache und Herrschaft. Die Einheit von Erkenntnis und Interesse bewährt sich i n einer Dialektik, die aus den geschichtlichen Spuren des unterdrückten Dialogs das Unterdrückte rekonstruiert 1 9 3 ." Bedingungen von Bewußtsein und Erkenntnis sind auch die Prozesse, i n denen der Mensch sich durch die Erarbeitung seiner materiellen Existenz geschichtlich und gesellschaftlich selbst erzeugt 194 . I n der Dialektik von Sinnerfahrung und Sprache als Produkt der Menschen, seiner Individualität und seiner sozialen Vermitteltheit werden Sätze nicht nur rekonstruiert, sondern Sprache erschließt gleichzeitig eine neue Offenheit, repräsentiert die Dinge nicht, sondern konstituiert sie insoweit originär, als sie sich gegenüber dem ursprünglichen Verstehen, dem Vor-Verstehen als neue zeigen 195 , Sinnerfassung und Deutung stehen so immer i n einer dialektischen Einheit. Sinnverstehen und Deutung sind nicht als wahr oder falsch entscheidbar 196 , sondern sind als offener Erkenntnisprozeß zu konstituieren. Für die Richtigkeit des Verständnisses eines Normsatzes und seiner Konkretion, Bedeutungsbestimmung gibt es keine Evidenz. Daß das als evident angeblich Erkannte eine echte Evidenz ist, die ihren Anspruch auf Geltung zu Recht vertritt, dafür kann nur die Erfahrung, daß sie sich i n der allgemeinen Anerkennung durchsetzt, eine für die Zwecke des täglichen Lebens und der Wissenschaft ausreichende Gewähr bieten. Dadurch w i r d ihre appellative Funktion bei der alltäglichen und 193 J. Habermas, Erkenntnis u n d Interesse, F r a n k f u r t / M . 1968, S. 347, 348. 194 v g l hierzu erg. H. J. Sandkühler, S. 79 ff.; insbes. zum psychoanalytischen Ansatz A. Lorenzer, Symbol, I n t e r a k t i o n u n d Praxis, i n Psychoanalyse als Sozialwissenschaft, F r a n k f u r t / M . 1971, S. 9 ff.; ders., Szientizismus versus Dialektik, i n :Festschrift f ü r Gadamer, S. 57 ff.; vgl. auch O. Schwemmer, Philosophie der Praxis, F r a n k f u r t / M . 1971. 195 vgl. W. Hassemer, Tatbestand u n d Typus, S. 81; grundlegend hierzu R. Carnap, Der logische A u f b a u der Welt, 2. Aufl., H a m b u r g 1961, S. 5 f.; A. Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts i m Lichte der Hermeneutik, i n : A. K a u f m a n n (Hrsg.), Rechtstheorie, Karlsruhe 1971, S. 81 ff. m. w . N. ΐ9β vgl. W. Hassemer, S. 135; K . R. Popper, Die L o g i k der Sozialwissenschaft, i n : KZfSSP 1962, S. 233 ff. (S. 235); vgl. auch K . Engisch, Wahrheit u n d Richtigkeit i m juristischen Denken, München 1963, S. 14; A. Kaufmann, Durch Naturrecht u n d Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, S. 337 ff.
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
wissenschaftlichen Verständigung i n keiner Weise eingeschränkt. Das bedeutet aber auch, daß Evidenz, weil i n ihr der Anspruch auf allgemeine Anerkennung liegt, nur dort möglich ist, wo dem Erkennenden der Zugang anderer zu einer gemeinsamen Lebenspraxis gewährleistet scheint. „Evident richtig" i m Sinne einer allgemeinen Anerkennung kann eine Grundrechtskonkretion also nur sein, wo eine solche gemeinsame Lebenspraxis gegeben ist, wenn die gleichen Bedingungen für die Argumentation vorliegen. Dies erfordert, daß prinzipiell alle Betroffenen mindestens die Chance haben, an der praktischen Beratung über die Interpretation und Konkretion der Verfassungsordnung teilzunehmen. Die Vernünftigkeit des diskursiv gebildeten Willens besteht dann darin, „daß die zur Norm erhobenen reziproken Verhaltenserwartungen ein täuschungsfrei festgestelltes gemeinsames Interesse zur Geltung bringen: gemeinsam, w e i l der zwanglose Konsensus nur das zuläßt, was alle wollen können; und täuschungsfrei, w e i l auch die Bedürfnisinterpretationen, i n denen jeder einzelne das, was er wollen kann, muß wiedererkennen können, zum Gegenstand der diskursiven Willensbildung werden. Vernünftig darf der diskursiv gebildete Wille heißen, w e i l die formalen Eigenschaften des Diskurses und der Beratungssituation hinreichend garantieren, daß ein Konsensus nur über angemessen interpretierte verallgemeinerungsfähige Interessen, darunter verstehe ich: Bedürfnisse, die kommunikativ geteilt werden, zustande kommen kann. Die Schranke einer dezisionistischen Behandlung praktischer Fragen w i r d überwunden, sobald der Argumentation zugemutet wird, die Verallgemeinerungsfähigkeit von Interessen zu prüfen, statt vor einem undurchdringlichen Pluralismus scheinbar letzter Wertorientierungen (oder Glaubensakte oder Einstellungen) zu resignieren" 1 9 7 . Nur Normen, welche verallgemeinerungsfähige Interessen ausdrücken, beruhen auf einem vernünftigen Konsensus. Normen, welche eine Regelung nicht verallgemeinerungsfähiger Interessen beinhalten, beruhen letztlich auf Gewalt. 4.3.2 Die Legitimationsfunktion der Verfassung und die Interessenbindung der Verfassungsauslegung
Die Verfassungspraxis als Konkretion von Verfassungsrecht besitzt keine Evidenz ihrer Richtigkeit. Verfassungspraxis ist als kommunikativer Prozeß i m Thema der einzelnen Grundrechtsnormen stets neu zu konstituieren und dieser kommunikative Prozeß hat als „gewaltfreier Diskurs" stattzufinden, sollen seine Ergebnisse verallgemeinerungsfähig und insofern wahr sein können. Es ist dies eine „diskursive Wahr197 J. Habermas, 1973, S. 148 f.
Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus, F r a n k f u r t / M .
4.3 Verfassungsauslegung als offener u n d allgemeiner Diskurs
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heit" über die Auslegung eines Grundrechtssatzes, soweit seine Konkretion verallgemeinerungsfähig ist. Das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte sind i n ihrer Offenheit für die zu realisierende Praxis diskursfähig. I n ihrer abstrakten Allgemeinheit sind sie vielfach selbst Ausdruck verallgemeinerungsfähiger Interessen. Die Anerkennung des Grundgesetzes, speziell der Grundrechte und seiner politisch-gesellschaftlichen Funktion zur Konstituierung einer neuen Ordnung für das staatliche Leben ist nicht i n der Wahrheitsfähigkeit seiner Konkretionen, sondern i n seinen allgemeinen Normen und i n der Diskussionsfähigkeit ihrer Konkretion, der Verfassungspraxis begründet. 4.3.2.1 Praktische Interessen an einem bestimmten Typ gesellschaftlicher Ordnung, seien sie individuell begründet oder Inhalt einer politischen Programmatik sind für sich nicht wahrheitsfähig 1 9 8 , für sie gibt es keinen allgemeinen Verbindlichkeitsanspruch, politisches Handeln ist interessengeleitet und interessengebundenes Handeln 1 9 9 . Die Grundwertungen i n einer Gesellschaft sind zwar aufgrund ähnlicher historischer Situation bei den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern vielfach ähnlich oder gleich — zumindest bei „hinreichend tiefer Besinnung". Ansprüche an die konkrete Gestaltung der Verfassungspraxis sind aber abhängig von der erfahrenen Sozialisation und der jeweiligen sozialen Lage. Diese ist i n ihrer Ausstattung m i t persönlichen Freiheitsmitteln und materialen Freiheits- und Herrschaftsmitteln äußerst unterschiedlich. Die Gültigkeit der grundlegenden Anliegen und I n teressen ist auch immer nur eine persönliche. Letzte Entscheidungen, Grundanliegen sind nicht weiter begründbar, sie können erklärt werden, eine Gültigkeit i m Sinne einer Verifikation oder Falsifikation ist nicht gegeben. Eine Rationalisierung der erkenntnisleitenden Interessen ist nur i m Blick auf die zugrunde liegenden Anliegen und Interessen und hinsichtlich der empirischen Beschreibung der je gegebenen sozialen Lage und der bestehenden normlogischen Zusammenhänge möglich, i n denen die Normentscheidung zu treffen ist. Von Interessen der Allgemeinheit oder gesellschaftlichen Interessen kann nur bildhaft gesprochen werden. Es gibt kein Interesse, i n dem w i r k l i c h alle Menschen übereinstimmen. Die theoretisch zulässige Reduzierung der „Richtigkeitsfrage" auf die Frage nach einem allgemeinen Konsens 198 J. Habermas, Erkenntnis u n d Interesse, S. 145; vgl. insges. auch H. Albert, E t h i k u n d Meta-Ethik, i n : H. A l b e r t / E. Topitsch, S. 472 ff. 199 v g l j . Habermas, S. 157; dort auch zu den entsprechenden Problemen i n der soziologischen Theorie bei N. Luhmann, P. Parsons u. H. Schelsky.
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führt zu keinen praktischen Ergebnissen, da es den allgemeinen Konsens i m konkreten Einzelfall nicht gibt. Legitimation suchen deshalb praktische Interessen i n der normativen Konstitution der staatlich verfaßten Gesellschaft, i n der Verfassung selbst. Die Berufung auf die Verfassung dient dabei nicht nur der Rechtfertigung subjektiver Interessen, sondern zielt — zumindest i n einer allgemeineren politischen Programmatik — darauf ab, i n einer entsprechenden Interpretation der Verfassung politische Programme als verfassungsrechtlich geboten darzustellen, solche Programme m i t dem Verbindlichkeitsanspruch der Verfassung selbst auszustatten 200 , sie zielt bei individuellen Interessen darauf ab, diese letztlich i n der Verfassung als zulässig, geschützt und gewährleistet zu dokumentieren. Eine solche Legitimation i n der Verfassung ist faktisch i n dem Maße möglich, wie eine Verfassung selbst gesamtgesellschaftlich anerkannt ist. Solche Anerkennung erfährt das Grundgesetz zum einen aus der implizit angenommenen Notwendigkeit gesamtgesellschaftlich verbindlicher Regelung staatlicher Entscheidungsprozesse, zum anderen ist solche Anerkennung i n der Offenheit der Verfassung selbst begründet. Die Verfassung muß unvollkommen und unvollständig sein, w e i l sie selbst und ihr Gegenstand i n der Geschichtlichkeit stehen 201 . Die Verbindung solcher struktureller Offenheit m i t dem normativen Zweck der Begründung des Gemeinwesens und der Rechtsordnung insgesamt macht die Schwierigkeiten der Normkonkretisierung deutlich 2 0 2 , beinhaltet aber auch die legitimatorische K r a f t des Grundgesetzes. Die A b straktheit und Offenheit der Grundrechtsnormen bedingt — aufgrund der dargelegten sozialen Differenziertheit von Sprechen und Verstehen — und ermöglicht ihre unterschiedliche, je interessenspezifische Deutung. I n der Inanspruchnahme der Legitimationsmöglichkeit praktischer Interessen i n der Verfassung findet die Verfassung i n ihrer A l l gemeinheit selbst wieder Anerkennung, wächst ihr Legitimationskraft und Normativität 2 0 3 zu. Die Realisierung praktischer Interessen ist so auch ein „Kampf u m die Verfassungsinterpretation". 200 I n diesem Zusammenhang g i l t auch, daß „die einer hochentwickelten juristischen Interpretationskultur zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, Legitimitätserwägungen i n die konkrete Rechtsanwendung einzuführen", „nahezu unbegrenzt" sind. P. C. Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung, H a m b u r g 1976, S. 50; vgl. auch W. Krawietz, Welche Methode lehrt die juristische Methodenlehre, i n JuS, Jg. 9, S. 425 ff. 201 K. Hesse, Grundzüge, S. 11 f.; vgl. auch R. Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte, s. 27 ff.; H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 77 ff.; P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, i n : Festschrift f ü r Th. Maunz, München 1975, S. 285 ff.; P. Häberle, Zeit u n d Verfassung, i n : Zeitschrift f. P o l i t i k 1974, H. 2, S. 111 ff. m. w . N. 202 F. Müller, S. 129. 203 Näher hierzu K . Grimmer, Z u r formalen u n d materialen L é g i t i m a -
4.3 Verfassungsauslegung als offener u n d allgemeiner Diskurs
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Die Frage nach der konkreten Bedeutung beispielsweise von Menschenwürde, freier Entfaltung der Person, Glaubens- und Gewissensfreiheit stellt sich i n sozialen Konfliktsituationen, d. h. i n der Entscheidungssituation, ob eine i n Anspruch genommene Bedeutung beispielsweise von Menschenwürde oder von freier Entfaltung der Person verfassungsrechtlich gültig ist, ob eine bestimmte Form der Eigentumsordnung verfassungsmäßig ist oder nicht. I n solchen Situationen ist der Inhalt und Umfang sog. subjektiv-öffentlicher Hechte, der Umfang von Freiheitsrechten und die institutionelle Gewährleistung politisch-gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen zu entscheiden 204 . Der K o n f l i k t über den normativen Gehalt eines Grundrechtssatzes ist begründet i n einem philosophischen und politischen Pluralismus — welcher selbst i m Grundgesetz vorausgesetzt und i n i h m „gewährleistet" ist 2 0 5 , zu verweisen ist etwa auf A r t . 4 Abs. 1 GG und A r t . 2 GG — i n der Legitimationsmöglichkeit des Grundgesetzes für politische Interessen, i m Verbindlichkeitsanspruch des Grundgesetzes und eben i n der Faktizität unterschiedlichen Sprechens und Verstehens, unterschiedlicher Interessen, welche — wie dargelegt wurde — sozioökonomisch und soziokulturell mitbegründet sind. Solche Konflikte vermitteln der Verfassung selbst wieder praktische Legitimation, da sie i n den Konflikten prinzipiell anerkannt wird. Die Deutung von Menschenwürde, freie Entfaltung der Person, soziale Bindung von Eigentum ist von solchen Konfliktsituationen nicht loslösbar. Auch ein Kompromiß ist nur dann verallgemeinerungsfähig, wenn zwischen den Beteiligten ein „Machtgleichgewicht" besteht, wenn die Beteiligten die gleiche Möglichkeit besitzen, ihre Interessen einzubringen. Der Kampf u m die Legitimation individueller Interessen und politischer Herrschaftsansprüche i n der Verfassung kann zwar als rationaler Diskurs stattfinden, da sich die je spezifische Argumentation als allgemein mögliche Argumentation zu bewähren hat. Es ist aber kein offener, wahrheitsfähiger Diskurs. Dies würde erfordern — wie dargelegt wurde —, daß der Diskurs voraussetzungslos geführt w i r d und tionsbedürftigkeit des bürgerlich-kapitalistischen Staates, i n : R. Ebbighausen (Hrsg.), Bürgerlicher Staat u n d politische Legitimation, F r a n k f u r t 1976, S. 43 ff. u. ders., Z u r D i a l e k t i k von Staatsverfassung u n d Gesellschaftsordnung, i n : ARSP 1976, S. 1 ff. F. Müller, S. 98 sieht i n außersprachlichen Gegebenheiten staatlich-gesellschaftlicher A r t , einem tatsächlichen F u n k t i o nieren, Anerkanntsein, einer tatsächlichen A k t u a l i t ä t dieser Verfassungsordnung f ü r empirische Motivationen die N o r m a t i v i t ä t begründet. 204 So die herrschende Fragestellung i n der Verfassungsinterpretation, vgl. F. Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 2100 ff., S. 2107 m. w. Ν . ; E. Grabitz, Freiheit u n d Verfassungsrecht, Tübingen 1976, m. w . N. insbes. S. 113 f f y S. 208 ff. 205 v g l hierzu M. Drath, Grundgesetz u n d pluralistische Gesellschaft, S. 85 ff.; G. Püttner, Toleranz als Verfassungsprinzip, B e r l i n 1977, S. 21.
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der Zugang zu einer gemeinsamen Lebenspraxis besteht 206 . Die Diskussion der Verfassungsauslegung findet i n einem gewaltsamen Ordnungszusammenhang statt, da die Bedingungen des Diskurses aufgrund unterschiedlicher Verteilung von „Besitz und Bildimg", von Machtmitteln nicht gleich sind und diese Verteilung selbst rechtlich verfaßt ist. 4.3.2.2 Der Diskurs über Sinn und Bedeutung einer allgemeinen Grundrechtsnorm, über die zu realisierende Verfassungspraxis findet selbst i m Rahmen der konkreten Staatsordnung statt und das heißt, das, was i m Diskurs als praktische Wahrheit i m Rahmen einer Grundrechtsnorm zu ermitteln ist, ist immer bereits ein durch die Praxis Vermitteltes. Die verfassungsrechtliche Etablierung von Grund- und Menschenrechten ist m i t der Emanzipation des Bürgertums und m i t der Konstitution des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates verbunden. Verstehen und Kommunikation i m Thema der Menschen- und Grundrechte war deshalb zunächst an die Hochsprache als Bildungs- und Kommunikationssprache des Bürgertums gebunden, i n dieser Sprache sind sie abgefaßt. M i t der Anerkennung einer allgemeinen und gleichen Menschenwürde steht i m Thema der Menschen- und Grundrechte nicht mehr die Freiheit des Bürgertums gegenüber einem absolut vorgestellten Staat, sondern die Freiheit und Gleichheit aller Bürger, die Freiheitlichkeit des Staates zur Diskussion und Konkretion. Diese Diskussion und Konkretion geschieht aber i n der gegebenen Verfassungspraxis m i t ihren gesellschaftlichen Differenzierungen und unterschiedlichen Ausstattungen m i t „Besitz und Bildung". Aufgrund der realen sozialen Verhältnisse ist die Kommunikations- und Argumentationsfähigkeit i m Thema der Grundrechte nicht nur unterschiedlich, diese Kommunikations- und Argumentationsfähigkeit kann für einzelne, unterprivilegierte, Gruppen und Schichten beschränkt sein. Dieser Umstand verdient besondere Beachtung. Menschen, welche vom Geltungsbereich des Grundgesetzes erfaßt und Mitträger der Staatsgewalt sind, können i n der für diese Verfassungsordnung konstitutiven Fähigkeit, über die Konkretion der Verfassung sprechen zu können, durch die Praxis der Verfassungsordnung benachteiligt sein. Solche A r t von Sprachlosigkeit ist i m weiteren verfassungsrechtlich zu themati208 Auch das rechtswissenschaftliche Erkennen des Juristen unterliegt Einflußfaktoren, welche den Rechtsbetrieb u n d seine Lebenspraxis gestalten. — Vgl. hierzu auch Fr. Müller, Juristische Methodik u n d politisches System, S. 55 ff. Z u r Problemstrukturierung vgl. Fr. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, B e r l i n 1975, insbes. S. 32 ff.; J. Backhaus, Politikwissenschaftliche Analyse interpretatorischer Veränderungen von Verfassungsnormen, i n : PVS 1976, S. 520 ff. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die interessante Untersuchung von D. Suhr, Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung, B e r l i n 1975, insbes. S. 310 ff., S. 321 ff.
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sieren, da sie die Funktionsbedingungen dieser Verfassungsordnung selbst betrifft. Die jeweils realisierte Verfassungsordnung bedingt und begrenzt als Herrschaftsordnung m i t einer bestimmten Struktur der staatlich verfaßten Gesellschaft und der Zuweisung spezifischer sozialer Positionen und Rollen die Diskursfähigkeit. Diese materiale Verfassungspraxis ist gleichzeitig aber das, was hinsichtlich seiner verfassungsrechtlichen „Richtigkeit" i n einem allgemeinen Diskurs zu ermitteln ist: das Dilemma der Verfassungsauslegung. Dieses Dilemma ist nicht aufhebbar, auch wenn der Diskurs selbst bestimmten Regeln unterstellt w i r d 2 0 7 . Solche Regeln können die Rationalität des Diskurses, seine intersubjektive Nachprüf barkeit sichern, sie ändern aber nichts an seinen jeweils unterschiedlichen individuellen und sozialen Voraussetzungen. Verfassungspraxis und Verfassungsauslegung stehen i n einem dialektischen Prozeß. Dieser Prozeß ist nicht abschließbar 208 . Auch bei der Herstellung allgemeiner und gleicher materieller Bedingungen des Diskurses ist nicht gewährleistet, daß Verstehen und Be-Deuten, daß der Anspruch an die i m Rahmen einer Grundrechtsnorm zu realisierende Praxis gleich ist. Verfassungsauslegung, die konkrete Verfassungspraxis ist regelmäßig nicht wahrheitsfähig, unbeschadet der Konsensfähigkeit ihrer Ergebnisse i m Einzelfall. Verfassungsinterpretation ist i n einen Zusammenhang m i t der Bewegung der Aufklärung zu stellen, u m zunehmend als offener und allgemeiner Diskurs stattzufinden. „Als Intention auf Verwirklichung der Freiheit angesichts der praktisch überlieferten Freiheit; als Geist der K r i t i k angesichts der ebenfalls überlieferten Legitimationen der U n freiheit. Diese Bewegung der Aufklärung läßt sich nicht trennen von den politischen Emanzipationsbewegungen der Neuzeit." Der Interpretationszusammenhang ist als ein Arbeits- und Gewaltzusammenhang zu rekonstruieren, „marxistisch gesprochen: als Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen" 2 0 9 . So wie Sprache ist Argumentieren und ist Erkenntnistheorie und i h r kritisches Bewußtsein Resultat eines ganzen Bildungsprozesses. Diese Frage nach dem 207 R. Alexey, Theorie der juristischen Argumentation, F r a n k f u r t / M . 1978. Alexey e n t w i r f t eine Theorie des allgemeinen rationalen praktischen Diskurses durch Benennung von Diskursregeln, diese bleiben aber formal (S. 219 ff., S. 234 ff.). 208 So D. Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale Struktur, 3. Aufl., Zürich 1950, S. 12 m. w. N., S. 16; ähnlich K. Larenz, S. 227. — Sein u n d Sollen stehen sich i n dieser D i a l e k t i k zwar logisch unterschieden gegenüber, aber i n der D i a l e k t i k von Normsetzung u n d Normauslegung bilden sich stets neue Bedingungen konkreter gesellschaftlicher Ordnung u n d i n i h r wieder neue Elemente der Normauslegung. 209 ^ Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie u n d Positivismus, F r a n k f u r t / M . 1969, S. 48 f.
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Grund der Erkenntnis und seinen Bedingungen w i r d gerade vom Positivismus, aber auch einem werttheoretischen Grundrechtsverständnis nicht gestellt, indem er die transzendentallogische Frage nach den Bedingungen möglicher Erkenntnis abschneidet, verzichtet er auf die Explikation des Sinnes von Erkenntnis und seiner Konstitutionsbedingungen und beschränkt Erkenntnis auf Methodologie oder „Werterfahrung". Erkenntnisinteressen und Erkenntnisprozesse stehen i n einem Lebenszusammenhang, der auch ein Interessenzusammenhang ist. Die erkenntnisleitenden Interessen sind durch zwei Momente bestimmt: „Sie sind einerseits Zeugnis dafür, daß Erkenntnisprozesse aus Lebenszusammenhängen hervorgehen und i n ihnen fungieren; aber i n ihnen kommt andererseits auch zum Ausdruck, daß die Form des gesellschaftlich reproduzierten Lebens durch den spezifischen Zusammenhang von Erkennen und Handeln erst charakterisiert ist 2 1 0 ." Vor dieser erkenntnistheoretischen Lage hat sich jede Verfassungstheorie zu bewähren. 4.3.3 Gültigkeit und Zulässigkeit einer Normkonkretion Normsatz, Normprogramm, Normbereich
Verfassungsinterpretation als Verfassungskonkretion ist nicht leistbar i n dem Sinne, daß ihre Ergebnisse eineindeutig, intersubjektiv gült i g und verfassungsrechtlich verbindlich sind. 4.3.3.1 I n der Verfassungsauslegung offener Normen wie der Grundrechte sind deshalb alle umgangssprachlich gebildeten und kommunikationsfähigen Bedeutungsbildungen, Paraphrasen einer Norm normlogisch gleich gültig. Die Gültigkeit von Bedeutungen ist begrenzt durch den Sprachrahmen des einzelnen Normsatzes 211 . Der Sprachrahmen w i r d gebildet durch i n der Umgangssprache vorhandene oder i n ihr gebildete und zur Kommunikation fähige Paraphrasen zu einem Normsatz. I n der Diskussion hat sich die Auslegung der Norm, ihre Konkretion zu bewähren. Verfassungsauslegung ist auf einen offenen und allgemeinen Diskurs angelegt. Dieser Befund entspricht auch der Verfassungsrechtslage: das Grundgesetz ist i n der Volkssouveränität begründet, alle Staatsgewalt liegt beim Volke. Sinn und Bedeutung der einzelnen Verfassungsbestimmungen kann nur das Volk entfalten 2 1 2 . Dies unbeschadet der Bindung eines 210
J. Habermas, Erkenntnis u n d Interesse, S. 260 f. Z u m W o r t l a u t als Grenze des Auslegungsspielraumes vgl. auch F. Müller, Juristische Methodik u n d politisches System, S. 79 f. 212 Nach P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, a.a.O., haben formelle Kompetenz zur Verfassungsinterpretation n u r die Staatsorgane gem. A r t . 20 I I (S. 300). Dies ist — w i e sich aus dem Text ergibt — unzutreffend, bei diesen Organen liegt n u r eine Entscheidungskompetenz. I m Ergebnis k o m m t Häberle aufgrund seines institutionellen Verfassungsverständnisses zu ähnlichen Ergebnissen, berechtigt zur Interpretation sind 211
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verpflichtenden Geltungsanspruches von Grundrechtskonkretionen an die Einhaltung bestimmter Verfahrensvorschriften und der Entscheidungsgewalt von Organen i n bestimmten Situationen. Folge der Offenheit, Unbestimmtheit eines Normsatzes ist es, daß mehrere verschiedene (auch einander widersprechende) Konkretionen, Entscheidungen vor dem Recht gleich gültig sind 2 1 3 . Als Gehalt eines normativen Satzes kann dabei die Klasse der Fälle bezeichnet werden, auf die er nicht zutrifft. Der semantische Gehalt einer Rechtsnorm ist die Klasse möglicher Verhalten, die m i t der Rechtsnorm unvereinbar sind 2 1 4 , oder anders gewendet, die hermeneutische Dimension ist gleich der Summe der möglichen Anwendungen bzw. des „logischen Spielraumes" 2 1 5 . Die verschiedenen Konkretionen können so logisch i n Alternative zueinander stehen, auch wenn eine allgemeine Anerkennung des Grundgesetzes selbst und der i n den einzelnen Normen zum Ausdruck kommenden Grundentscheidungen, der Grundwertigkeit gegeben ist. 4.3.3.2 Die normlogische Gültigkeit einer Bedeutungsbezeichnung, Konkretion einer Einzelnorm beinhaltet noch keine Aussage darüber, welche von mehreren alternativ möglichen Konkretionen zu realisieren verfassungsrechtlich zulässig oder geboten ist. Diese Zulässigkeit einer Verfassungskonkretion bestimmt sich aus dem Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes 216 : dem Normprogramm. Begriffslogisch kann bei der Einzelnorm zwischen Normgegenstand, Normthema, Normprogramm und Normbereich unterschieden werden. auch die Kräfte, welche „ e i n Stück Öffentlichkeit u n d W i r k l i c h k e i t der V e r fassung selbst sind" (S 301), letztlich die Staatsbürger. Die Grundrechte sind so „ e i n Stück demokratischer Legitimationsbasis f ü r die nicht n u r i n ihren Ergebnissen, sondern auch i n i h r e m Beteiligtenkreis offene Verfassungsinterpretation". (S. 302). Vgl. auch H. Hofmann, L e g i t i m i t ä t u n d Rechtsgeltung, B e r l i n 1977, S. 53 ff., S. 84 ff. 213 K . Engisch, Die Idee der Konkretisierung i n Recht u n d Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 81. Z u m hier angesprochenen Kompatibilitätsproblem vgl. I. Pawlowska, K o n t r a d i k t i o n u n d I n k o m p a t i b i l i t ä t i n einem ethischen Sytem, i n : H. A l b e r t / E. Topitsch, Werturteilsstreit, S. 518 ff. 214 Vgl. A. Podlech, Gehalt u n d Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, B e r l i n 1971, S. 23, 27; M. Drath, S. 97 ff. 215 W. Hassemer, S. 15 unter Hinweis auf R. Carnap, Einführung i n die symbolische Logik, 2. Aufl., Wien 1960, S. 16 ff. (S. 17); vgl. am Problem der Menschenrechte E. Topitsch, Die Menschenrechte — E i n Beitrag zur Ideologiekritik, S. 3. — Das zugrundeliegende methodische Problem verdeutlichen Carnap / Stegmüller, vgl. R. Carnap / W. Stegmüller, Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit, Wien 1959, S. 144: „Eine Methode, u m f ü r einen vorgegebenen Satz eine Interpretation festzulegen, besteht darin, daß m a n sagt, i n welchen möglichen Fällen er g i l t u n d i n welchen nicht." 216 Vgl. K . Hesse, Grundzüge, S. 28; ebenso H. Ehmke, Prinzipien der V e r fassungsinterpretation, i n : W d S t R L , Heft 20, B e r l i n 1963, S. 53 ff. (S. 60).
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
D i e E i n z e l n o r m , der N o r m s a t z 2 1 7 h a t e i n e n spezifischen i n d i v i d u e l l e n oder sozialen „ G e g e n s t a n d " z u s e i n e m R e g e l u n g s i n h a l t ( N o r m g e g e n stand) w i e M e n s c h e n w ü r d e , E n t f a l t u n g d e r Person, G l a u b e n u n d G e wissen, B e r u f , W o h n u n g , E i g e n t u m u n d eine spezifische O r d n u n g des N o r m g e g e n s t a n d e s z u s e i n e m T h e m a ( N o r m t h e m a ) w i e achten u n d schützen d e r M e n s c h e n w ü r d e , g e w ä h r l e i s t e n d e r f r e i e n E n t f a l t u n g d e r P e r s ö n l i c h k e i t s o w e i t n i c h t Rechte a n d e r e r v e r l e t z t w e r d e n , U n v e r letzlichkeit v o n Glaubens- u n d Gewissensfreiheit, Freiheit der Berufsw a h l , Unverletzlichkeit der Wohnung, Gewährleistung v o n E i g e n t u m i m R a h m e n d e r Gesetze u n d soziale V e r p f l i c h t u n g f ü r d e n E i g e n t u m s gebrauch. D i e E i n z e l n o r m s t e h t i m K o n t e x t des Grundgesetzes insgesamt, d i e ser K o n t e x t b e z u g z u m V e r f a s s u n g s p r o g r a m m des Grundgesetzes b i l d e t das N o r m p r o g r a m m 2 1 8 . M i t N o r m b e r e i c h 2 1 0 w i r d schließlich d e r I n d i v i d u a l - oder S o z i a l bereich gekennzeichnet, i n w e l c h e m d i e E i n z e l n o r m f ü r sich oder m i t 217 Vgl. insoweit ähnlich F. Müller, Juristische Methodik, B e r l i n 1971, S. 105. „Der N o r m t e x t " enthält „nicht die N o r m a t i v i t ä t u n d ihre konkrete Sachstruktur. Er dirigiert u n d begrenzt die legitimen u n d legalen Möglichkeiten sachbestimmter Rechtskonkretisierung innerhalb seines Rahmens. Juristischen Begriffen i n Normtexten eignet nicht „Bedeutung", Sätzen nicht „ S i n n " nach der Konzeption eines abgeschlossenen Vorgegebenen. Vielmehr richtet sich der Blick auf die aktive Konkretisierung der Leistung des „ E m p fängers" u n d damit auf die funktionale Rollenverteilung, die k r a f t positivrechtlicher Anordnung der Verfassungs- u n d Rechtsordnung f ü r die Aufgabe der Verfassungs- u n d Rechtskonkretisierung angeordnet ist". F. M ü l l e r v e r kennt, daß die Rollenverteilung n u r die Entscheidungskompetenz, nicht aber die Deutungskompetenz bestimmt. 218 Anders die Verwendung des Begriffes „Normprogramm" bei F. Müller, S. 107 -109, 183 u n d passim. Der W o r t l a u t einer Rechtsnorm drückt das „Normprogramm" aus, den herkömmlich so verstandenen „Rechtsbefehl". Gleichrangig gehört zur N o r m der Normbereich, d. h. der Ausschnitt sozialer W i r k l i c h k e i t i n seiner Grundstruktur, den sich das Normprogramm als seinen Regelungsbereich „ausgesucht" oder zum T e i l erst geschaffen hat. . . . Das i m Wortlaut formulierte Normprogramm bestimmt i n seinem Umfang w i e i n seiner Abgrenzung denjenigen Ausschnitt sozialer Realität, der nicht n u r irgendwie i m Zusammenhang m i t dem Rechtsbefehl stehen, sondern der sachlich mitkonstituierend zur N o r m gehören soll. . . . „Die Grundstruktur der v o m Normprogramm zugeordneten Lebensverhältnisse, i n der Rechtsprechung immer wieder zum Bestandteil der Normkonkretisierung gemacht, prägt den normativen Gehalt der Vorschrift. . . . Der Normbereich ist also nicht m i t den sachlichen Einzelheiten des Sachverhalts identisch. Er ist ein Sachbestandteil der Rechtsvorschrift selbst. Aus der Gesamtheit der von einer Vorschrift betroffenen Gegebenheiten, dem „Sachbereich" hebt das Normprogramm den Normbereich als Bestandteil des Normativbestandes heraus. Der Normbereich ist ein die N o r m a t i v i t ä t mitbegründender Faktor." (S. 107 f.); so auch K . Hesse, Grundzüge, S. 27. — M ü l l e r bezieht den Begriff Normprogramm auf die Einzelnorm u n d verwendet i h n ähnlich w i e hier den Begriff Normthema. Er übersieht, daß auch das Normprogramm der Einzelnorm aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung gebildet ist. 219 Ä h n l i c h die Verwendung des Begriffes bei F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., B e r l i n 1976, S. 92 f.; K . Hesse, S. 28.
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anderen Normen ihrem Normthema und Normprogramm nach zur Geltung zu bringen ist. Bei der Diskussion der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Norminterpretation und -konkretion, bei der Frage nach dem Normprogramm ist immer von der Verfassung als einer Einheit auszugehen, der organisationsrechtliche Teil ist m i t einzubeziehen 220 . Jede Norm ist m i t einem eigenen und umfassenden Geltungsanspruch ausgestattet und hat mittelbar oder unmittelbar eine materiale Funktion. Unter materialer Funktion von Verfassungsnormen w i r d dabei verstanden, daß diese entweder unmittelbar den Status der Mitglieder der Gesellschaft oder die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse betrifft oder über die Regelung der Mitwirkungs- und Entscheidungsprozesse, die Möglichkeit zur Bestimmung der konkreten gesellschaftlichen Ordnung bestimmt. Eine solche materiale Inhaltsbestimmung nehmen auch die Organisationsnormen vor, indem sie festsetzen, unter welchen Bedingungen Verhaltensweisen, insbesondere Rechtsetzungsakten eine allgemein gesellschaftliche Zulässigkeit oder Verbindlichkeit zukommt oder indem sie die Möglichkeit für Organträger eröffnen, informative und kommunikative Prozesse zu initiieren oder zu steuern. Die Organisationsnormen sind dabei — wie bereits dargelegt wurde — aufgrund ihrer stärkeren Formalisierung i n ihrem Bedeutungsgehalt regelmäßig mehr konsensfähig als die Grundrechtsnormen. Das Postulat der Gesamtinterpretation der Verfassung ergibt sich nicht nur aus dem normativen Zusammenhang aller Verfassungsregelungen, sondern auch aus der faktischen Interdependenz der Regelungsbereiche der einzelnen Normen, vermittelt durch die faktische Interdependenz sozialer Positionen und Prozesse, welche letztlich i n einer Totalität gesamtstaatlicher Ordnung stehen. Verfassungsauslegung wiederum ist nicht lösbar von den Interdependenzen der sozialen W i r k lichkeit, auf welche sie hinzielt und i n welcher die Interpretationsargumente begründet sind. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit steht nicht nur i m Zusammenhang m i t den Rechten anderer, sie kann auch m i t dem Gleichheitsgebot oder der Bekenntnis- und Gewissensfreiheit konkurrieren, Eigentum und seine Nutzung können m i t der freien Entfaltung der Persönlichkeit i m Zusammenhang oder i n Konkurrenz stehen. 220 So auch H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 77 ff.; vgl. auch M. Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 17 ff. (S. 93). H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, S. 35 ff. Dieser Anspruch zeichnet auch das Lehrbuch des Staatsrechts von E. Stein (5. Aufl., Tübingen 1976) aus. Das Prinzip der Einheit der Verfassung w i r d a u d i v o m B V e r f G vertreten — vgl. Nachweise bei G. Roellecke, P r i n zipien der Verfassungsinterpretation, S. 32 ff. ohne daß das Gericht allerdings zu einer entsprechenden theoretischen Fundierung, einer demokratisch, rechtsstaatlichen Verfassungstheorie gelangt.
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4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
Aufgrund der gegebenen theoretischen und faktischen Interdependenz steht die Interpretation der Einzelnorm i n einem real-dialektischen Zusammenhang m i t anderen Normen und m i t der sozialen W i r k lichkeit. Die Umsetzung einer Norm i n soziale Ordnungsstrukturen bedingt auch die mögliche Konkretion anderer Normen i n der Gestaltung der entsprechenden Individual- und Sozialbereiche 221 . Dies bedeutet, daß jede Verfassungsinterpretation, Normkonkretion die praktischen Folgen ihrer Verbindlichsetzung i n die Diskussion m i t einzubeziehen hat 2 2 2 , um den gesellschaftlich vermittelten Zusammenhang zwischen den einzelnen Normen und dem Geltungsanspruch jeder Einzelnorm und der Verfassung insgesamt erfassen zu können. 4.3.3.3 Alternativen des Verstehens und Deutens bilden sich zunächst i n der Auslegung des Normthemas der Einzelnorm, i n der Frage: was ist Menschenwürde, wie ist sie zu achten und zu schützen, was ist freie Entfaltung der Persönlichkeit, was umfaßt das Hecht auf freie Entfaltung der Person, was ist Eigentum, i n welcher Weise, i n welchem Umfang ist es zu gewährleisten. Das Normprogramm regelt als Maßstab, als inhaltliche Direktive die Grenzen zulässiger Konkretionen, Deutungen des Normthemas. I m Normprogramm hat sich die Deutung der Einzelnorm als m i t der Verfassung insgesamt, dem Verfassungsprogramm vereinbar zu erweisen. Das Normprogramm bestimmt so aus der Menge der möglichen und normlogisch gültigen Auslegungen der Einzelnorm die verfassungsrechtlich zulässigen Interpretationen und Konkretionen der Einzelnorm. Aufgabe einer Grundgesetztheorie ist es, das Verfassungsprogramm und die Grundstrukturen des Normprogramms der einzelnen Grundrechte darzustellen. Die Konstruktion einer solchen Theorie hat auszugehen von den verfassungsrechtlichen Grundelementen wie Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip, Grundrechten. Sie muß verfassungsimmanent begründet sein und darf nicht auf einer gewillkürten Auslegung von Einzelnormen beruhen, soll eine solche Theorie zur allgemeinen Kennzeichnung des Verfassungsprogrammes und des Normprogrammes der Einzelnormen dienen und die zulässigen Deutungen der Einzelnormen und ihrer Normbereiche begrenzen. 221 I n diesem K o n t e x t ist auch das — Scheinproblem — angeblicher G r u n d Grundrechtsrechtskollisionen zu sehen, vgl. hierzu m. w . N. W. Rüfner, konflikte, i n : M . D r a t h u . a . (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht u n d G r u n d gesetz, S. 453 ff.; H. Bethge, Z u r Problematik von Grundrechtskollisionen, München 1977, S. 256 ff. 222 A. Podlech, Wertungen u n d Werte i m Recht, S. 209; vgl. auch E. Denninger, S. 127.
4.3 Verfassungsauslegung als offener u n d allgemeiner Diskurs
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Das Grundgesetz kennzeichnet selbst einen solchen Zusammenhang m i t dem Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung i n A r t . 18 und 21 Abs. 2 GG. Die Frage, woraufhin Auslegung inhaltlich-material zu geschehen hat 2 2 3 , zeigt an, daß jede Entscheidung zwischen logisch gleichermaßen gültigen Konkretionsaussagen der Reflexion auf den theoretischen Zusammenhang des Grundgesetzes und des Verhältnisses von Theorie und Praxis bedarf. Ausdruck einer philosophisch-theoretischen Fragestellung ist die These von Peter Schneider, „das, woraufhin Interpretation letztlich zu beziehen ist, stellt sich als die Norm des Sittengebotes bzw. des Grundgebotes materialer Gerechtigkeit dar, welches nicht als Produkt der Praxis i m Sinne des schaffenden Lebens, sondern als Theorie i n Gestalt einer Erkenntnis der praktischen Vernunft zu begreifen i s t " 2 2 4 . Schneider selbst sieht den Leitsatz der Interpretation i n Kants Autonomiegebot, dem Postulat der Freiheit und der Achtung vor der Freiheit des anderen 225 . Gesellschaftstheoretisch begründet ist das Postulat von Zippelius, daß die Auslegung i m Bedeutungsspielraum einer Norm zu suchen ist, welche „den überwiegend konsensfähigen GerechtigkeitsVorstellungen möglichst nahe kommt". „Schon die praktische Notwendigkeit, menschliches Verhalten friedlich zu koordinieren, erfordert Lösungen gesellschaftlich relevanter Gerechtigkeitsprobleme 2 2 6 ." Eine Verfassungstheorie, welche i n dieser Weise von philosophischen oder gesellschaftstheoretischen Axiomen ausgeht, verfehlt die Aufgabe, das Grundgesetz immanent zu erklären 2 2 7 . Formale Prinzipien einer Verfassungstheorie sind Einheit der Verfassung, praktische Konkordanz und Optimierung des Geltungsgehaltes 2 2 8 . Diese Prinzipien umschreiben nichts anderes als den allgemeinen 223
P. Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, i n : W d S t R L , Heft 20, B e r l i n 1963, S. 1 ff. m. w . N. 224 P. Schneider, S. 27. 225 P. Schneider, S. 1 ff. u n d ders., I n dubio pro libertate, i n : Recht u n d Macht, Mainz 1970, S. 61 ff. 226 R. Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung, S. 152; vgl. auch M . Kriele, Recht u n d praktische Vernunft, Göttingen 1979. 227 Ansätze einer solchen Grundgesetztheorie bei K . Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, Baden-Baden 1978 u n d bei D. Göldner, I n tegration u n d Pluralismus i m demokratischen Rechtsstaat, Tübingen 1977. I n einem solchen theoretischen Zusammenhang stehen vor allem auch die Lehrbücher von K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland u n d H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975; zur Problematik s.a. Fr. Müller, Rechtsstaatliche Methodik u n d politische Rechtstheorie, i n Rechtstheorie 1977, S. 73 ff.; N. Zimmer, Überlegungen zu einer komplexen Verfassungstheorie, i n : Der Staat, 1979, S. 161 ff. 228 Vgl. hierzu K . Hesse, S. 28 ff. sowie bereits R. Smend, Verfassung u n d 12 Grimmer
178
4. Bonner Grundgesetz: Grundrechte u n d Demokratie
und gleichen Geltungsanspruch jeder Einzelnorm und der Verfassung insgesamt. Die Anwendung von Grundsätzen wie jenem der Güterabwägung oder der Verhältnismäßigkeit zur Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Grundrechte kommt ohne eine theoretische Vorklärung der i n der Verfassung postulierten Güter, kommt ohne eine theoretische, und zwar nur i m Diskussionsrahmen der Verfassung bestimmten Rangordnung zwischen verschiedenen i n den Normbereichen angesprochenen Gütern nicht aus 2 2 9 . Grenzen einer Grundgesetztheorie sind dort gegeben, wo keine verbindliche Setzung der Verfassung vorhanden ist, wo die Möglichkeit eines sinnvollen Verständnisses des Normtextes endet oder wo eine Lösung i n eindeutigen Widerspruch zum Verfassungstext treten würde 2 3 0 . Die Verfassung legt — wie Hesse anführt — auch verbindlich fest, was nicht offen bleiben soll: Grundlagen der Ordnung des Gemeinwesens, staatlicher Aufbau und das Verfahren, i n dem offene Fragen zu entscheiden sind 2 3 1 . I n der Diskussion dieses Rahmens t r i t t die Normtextauslegung i n die Verfassungstheorie ein 2 3 2 . Aufgabe der Verfassungslehre ist es, Sinn- und Bedeutungsermittlung als einen offenen Prozeß zu initiieren, i n dem Erkenntnis und Interesse zur Geltung kommen, das Unterdrückte zur Sprache gebracht wird. Der historische Prozeß der Grundrechtsentfaltung — vgl. Teil I — ist so ein Prozeß ihrer Verallgemeinerung.
Verfassungsrecht, 2. Aufl., B e r l i n 1968, S. 190. Aus der Rechtsprechung vgl. BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 30, 1 (19). Ausführlich insgesamt H. Ehmke, S. 27 ff.; H. Goerlich, Optimierungsaufgaben der Verfassungsinterpretation, i n : Rechtstheorie 1977, S. 231 ff.; Fr. Müller, Die Einheit der Verfassung, B e r l i n 1979; unpräzis K.Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 107 ff. m. w . N. 229 Hierzu — insbes. zur A n w e n d u n g dieses Grundsatzes i n der Rechtsprechung des B V e r f G — vgl. F. Ossenbühl, Die Interpretation der G r u n d rechte i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, S. 2107, zur Anwendung dieser Grundsätze i n der Rechtsprechung des B V e r f G u n d zu den methodologischen Problemen B. Schlink, Abwägung i m Verfassungsrecht, B e r l i n 1976. 230 K . Hesse, Grundzüge, S. 30. 231 Vgl. hierzu K . Hesse, S. 13; M. Kriele, S. 35. 232 H. Ehmke, S. 71/72. E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie u n d G r u n d rechtsinterpretation, S. 1537 f., ders., Die Methoden der Verfassungsinterpretation — Bestandsaufnahme u n d K r i t i k , S. 2098.
TEIL I I I
Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip und Grundrechte sowie die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichtes 5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie: Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip, Verbindlichkeit der Grundrechte Grundelemente der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland sind das Prinzip der Volkssouveränität, das Mehrheitsprinzip und die Verbindlichkeit von Grundrechten. Dies ergibt sich aus der Präambel des Grundgesetzes 1 und aus A r t . 79 Abs. 3 i n Verbindung m i t A r t . 1 und 20 GG. Das Föderalismusprinzip, welches i n A r t . 79 Abs. 3 GG ebenfalls verbindlich gesetzt ist, hat demgegenüber nur eine mittelbare Bedeutung, es betrifft nur die A r t und Weise wie die Staatsgewalt durch das Volk ausgeübt w i r d 2 . Eine Theorie des Grundgesetzes ist von diesen Grundelementen her zu entwickeln, w i l l sie verfassungsimmanent bleiben. Sie hat den Zusammenhang zwischen diesen Elementen und den einzelnen Verfassungsrechtlich gebundenen — Ordnung begründet. I n der dialektischen der Verfassungsrechtssätze zu entsprechen und um als Rahmen für die Interpretation der einzelnen Verfassungsbestimmungen dienen zu können. Die drei Elemente: Souveränitätsprinzip, Mehrheitsprinzip und Grundrechtsprinzip stehen i n einer unaufhebbaren Spannung zueinander, i n ihnen ist Dynamik und Stabilität einer politischen — Verfassungsbestimmungen zu erklären, u m der Einheit und Allgemeinheit Einheit dieser drei Elemente ist die Offenheit der einzelnen Verfassungselemente selbst begrenzt. Das Normprogramm des Grundgesetzes 1 Z u m Rechtscharakter der Präambel des Grundgesetzes BVerfGE 5, 126 ff.; D. Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, B e r l i n 1978, S. 97. 2 Die Bundesstaatlichkeit w i r d nicht als Grundbestandteil der freiheitlichdemokratischen Grundordnung verstanden, vgl. BVerfGE 2, 1, 12 f.; 5, 140; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Karlsruhe 1977, S. 88 ff.; K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, S. 421 f.
12·
180
5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
und die einzelnen Grundrechtsbestimmungen werden von diesen Grundprinzipien der grundgesetzlichen Verfassungsordnung theoretisch fundiert. 5.1 Volkssouveränität
I n der Herausbildung des bürgerlichen Rechtsstaates waren es die Idee der Freiheit, Vernünftigkeit und der i n der Natur der Menschen begründeten Gleichheit der Person, welche die Idee der Volkssouveränität 3 und den Anspruch auf parlamentarische Mitbestimmung durch das „ V o l k " , das hieß durch das Bürgertum, begründeten und legitimierten 4 . Volkssouveränität wurde nicht i n einem revolutionären Prozeß durchgesetzt, vielmehr fanden monarchische Herrschaftsgewalt und Bürgertum ihren Ausgleich i n liberalen, rechtsstaatlichen Formen, welche gemeinsame politisch-ökonomische Interessen sicherten. Verfassungsrechtlich existent wurde das Prinzip der Volkssouveränität m i t der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 als Ergebnis umfassender sozialer und ökonomischer Veränderungen. Der Präambel dieser Verfassimg nach hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben und gemäß A r t . 1 S. 2 W V geht die Staatsgewalt vom Volke aus. I n der Verfassungslehre wurde Souveränität vielfach zunächst auf den Staat als Ganzes bezogen. Der Staat w i r d als Subjekt und Inhaber der Souveränität gedacht, während Menschen, das Volk, nur als Organe des Staates Träger von Souveränität sind 5 . Souveränität meint dann selbständige Handlungsfähigkeit des Staates 6 , nach außen einheitliche 3 Vgl. W. Henke, Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, Stuttgart 1957, S. 11 ff., S. 43 ff.; H. Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation, K ö l n usw. 1965, S. 23 ff. F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1970, 1. Tlbd., S. 122 ff., S. 350 ff. Z u r Begriffsdefinition vgl. W. v. Simson, Die Souveränität i m rechtlichen Verständnis der Gegenwart, B e r l i n 1965, S. 24 ff.; H. Kurz, S. 160 ff. 4 Vgl. H. Kurz, S. 23 ff.; W. Henke, Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, Stuttgart 1957, S. 43 ff.; P. Dagtoglou, A r t . Souveränität, i n : Evangel. Staatslexikon, 2. A u f l . Stuttgart 1975, Sp. 2313 ff.; erg. E.-W. Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, B e r l i n 1958. 5 Z u r E n t w i c k l u n g dieser Vorstellung bei D. Murswiek, S. 167 unter V e r weis insbes. auf E. Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts (1837), Darmstadt 1962 u. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A u f l . (7. Neudr.) Darmstadt 1960, S. 540 ff. Vgl. hierzu u n d zum folgenden auch oben unter 3.4.2 u n d dort A n m . 250 ff., welche A u s führungen hier noch einmal unter systematischen Gesichtspunkten aufgenommen werden. β Z u m Diskussionsstand vgl. bei P. Dagtoglou, Sp. 2321 ff.; H. Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation, S. 131 ff.; H. Quaritsch, Staatsbegriff u n d Souveränität, Bd. 1, Tübingen 1970, S. 471 ff.; W. v. Simson, Die Souverän i t ä t i m rechtlichen Verständnis der Gegenwart, B e r l i n 1965, S. 109 ff.;
5.1 Volkssouveränität
181
D a r s t e l l u n g u n d V e r t r e t u n g d e r s t a a t l i c h v e r f a ß t e n Gesellschaft, nach i n n e n D u r c h s e t z u n g s f ä h i g k e i t d e r Staatsorgane i n u n d gegenüber d e m S t a a t s v o l k 7 . D e r S o u v e r ä n i t ä t s b e g r i f f w u r d e auch r e d u z i e r t a u f e i n e n f o r m a l e n Hechtsbegriff, S o u v e r ä n i t ä t i s t G r u n d u n d I n h a l t e i n e r n o r m a t i v e n R e g e l u n g 8 . D i e P r o b l e m a t i k d e r S o u v e r ä n i t ä t des V o l k e s w u r d e v o n d e r deutschen Staatsrechtslehre vernachlässigt. D i s k u t i e r t w u r d e n z w a r die Fragen nach d e m Träger der Souveränität, die v e r fassungsrechtlichen u n d gesellschaftspolitischen I m p l i k a t i o n e n , w e l c h e sich aus e i n e r A n e r k e n n u n g des P r i n z i p e s d e r V o l k s s o u v e r ä n i t ä t e r geben, w u r d e n n u r w e n i g h e r a u s g e a r b e i t e t 9 . B e g r ü n d e t i s t dies m i t i n d e r T r e n n u n g v o n S t a a t u n d Gesellschaft i n d e r deutschen verfassungstheoretischen E n t w i c k l u n g u n d i n d e r d a m i t v e r b u n d e n e n b l o ß e n O r g a n s t e l l u n g s t a a t s b ü r g e r l i c h e r , gesellschaftlicher M i t w i r k u n g , ohne daß d e r S t a a t selbst i n e i n e m d e m o k r a t i s c h - g e s e l l s c h a f t l i c h e n W i l l e n s b i l dungsprozeß einbezogen, I n h a l t eines solchen W i l l e n s b i l d u n g s p r o z e s s e s F. Ermacora, Über die Souveränität, i n : österr. Zeitschr. f. öff. Recht, Bd. 6, 1955, S. 60 ff.; D. Murswiek, S. 36 ff., S. 164 ff., S. 206 ff.; Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, Stuttgart 1977. Z u r E n t w i c k l u n g des Souveränitätsverständnisses vgl. i m übrigen M. Kriele, E i n f ü h r u n g i n die Staatslehre, Reinbek 1975, S. 56 ff., S. 270 ff. — ohne daß diesen Ausführungen immer gefolgt werden k a n n —. G. Jellinek hat deutlich gemacht, daß der Begriff der Souveränität seinem geschichtlichen Ursprung nach eine p o l i tische Vorstellung ist, die sich erst später zu einer juristischen verdichtet hat. I n diesem Sinne u n d i m Verständnis der positiven Staatslehre von G. J e l l i nek w i r d die Souveränität als eine Eigenschaft des Staates gedeutet, G. Jellinek, S. 435 ff. (S. 457, S. 474 ff.). Ä h n l i c h R. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, i n : ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., B e r l i n 1968, S. 199 f., ohne allerdings den Staatsbegriff von Jellinek zu übernehmen u n d C. Schmitt, Verfassungslehre, 4. Aufl., B e r l i n 1965, S. 54 ff. 7 Vgl. etwa M. Kriele, S. 19 m. w . N. 8 So entsprechend der Grundkonzeption der Reinen Rechtslehre H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, Neudr. B a d H o m b u r g v. d. H. usw. 1966, S. 102 ff., S. 108 ff.; ders., Heine Rechtslehre, 2. Aufl., W i e n 1960, S. 334 ff. Das rechtliche Element w i r d auch betont von G. Jellinek, S. 476, S. 481 u n d i m Sinne einer Souveränität der Verfassung v o n C. Schmitt, S. 146, S. 201; kritisch R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 419 f. 9 Z u r — j u d i z i e l l — eingeschränkten A r t der Problemerörterung vgl. a l l gemein die Beiträge u n d Nachweise i n H. Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität u n d Staatssouveränität, Darmstadt 1970; U. Steiner, Verfassungsgebung u n d verfassungsgebende Gewalt des Volkes, B e r l i n 1966; W. v. Simson, Die Souveränität i m rechtlichen Verständnis der Gegenwart, B e r l i n 1965; K. v. Beyme, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, Tübingen 1968; W. Henke, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes i n Lehre u n d W i r k l i c h keit, i n : Der Staat 1968, S. 165 ff.; M. Kriele, E i n f ü h r u n g i n die Staatslehre, Reinbek 1975, S. 47 ff., S. 66 ff., S. 224 ff.; P. Häberle, Z u r gegenwärtigen Diskussion u m das Problem der Souveränität, i n : AöR, Bd. 92 (1967), S. 259 ff.; K. Stern, S. 118 ff.; Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl., München 1977, S. 40 ff., S. 52 ff. — Die Erörterungen der Volkssouveränität beschränken sich vielfach auf die Frage nach der verfassungsgebenden Gewalt u n d die darin enthaltene formale Legitimation der Verfassung. I n gewisser Weise zeigt sich gerade hier die vielfältige F u n k t i o n verfassungsrechtlichen A r g u mentierens, den jeweiligen politischen status quo zu erklären.
182
5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
w u r d e 1 0 . D i e gekennzeichnete E n t w i c k l u n g i s t auch b e g r ü n d e t i n d e r K o n t i n u i t ä t s t a a t l i c h e r F o r m e n als H e r r s c h a f t s - u n d H a n d l u n g s e i n h e i t , i n d e r A u s s ö h n u n g des B ü r g e r t u m s m i t e i n e m o b r i g k e i t l i c h e n Staat, w e l c h e r i h m d e n i n F r e i h e i t s r e c h t e n v e r b ü r g t e n sozialen S t a t u s gew ä h r l e i s t e t u n d diesen gegenüber d e m G l e i c h s t e l l u n g s a n s p r u c h sozial unterprivilegierter G r u p p e n absichert11. Ä h n l i c h d e r W e i m a r e r V e r f a s s u n g s t e l l t d i e P r ä a m b e l des G r u n d gesetzes fest, „das deutsche V o l k i n d e n L ä n d e r n " h a t , „ u m d e m s t a a t l i c h e n L e b e n f ü r eine Ü b e r g a n g s z e i t eine neue O r d n u n g z u geben, k r a f t seiner verfassungsgebenden G e w a l t " das G r u n d g e s e t z beschlossen. I n d e r V e r f a s s u n g s g e b u n g k o n s t i t u i e r t sich das V o l k r e c h t l i c h als Staat, b e g r ü n d e t es seine staatliche E i n h e i t u n d n o r m i e r t die A r t u n d Weise, i n w e l c h e r sich V o l k s s o u v e r ä n i t ä t als politisch-gesellschaftlicher Prozeß m a n i f e s t i e r e n u n d i n k o n k r e t e r O r d n u n g r e a l i s i e r e n k a n n . D i e V o l k s s o u v e r ä n i t ä t erschöpft sich n i c h t n o t w e n d i g e r w e i s e i n diesem A k t d e r Verfassungsgebung. D i e verfassungsrechtliche B e g r ü n d u n g d e r V o l k s s o u v e r ä n i t ä t d u r c h d i e V o l k s s o u v e r ä n i t ä t h e b t diese n i c h t i h r e m eigenen B e g r i f f e n a c h auf, sie s t r u k t u r i e r t s i e 1 2 . A u c h i n der m i t d e r Verfassung konstituierten politischen O r d n u n g bleibt die Staatsgewalt b e i m V o l k e , g e h t sie v o m V o l k e aus ( A r t . 20 A b s . 2 G G ) 1 3 . Das V o l k 10
Diese Einbindung staatlicher Gewalt macht K. Hesse, S. 55 f. deutlich. Die Thematik der Volkssouveränität ist damit nicht n u r Angelegenheit juristischer Begriffsbildung, sondern als ein Prinzip spezifischer Gesellschaftsorganisation auch Aufgabe sozialwissenschaftlicher E r k l ä r u n g der Strukturen dieser Gesellschaft. H. Heller insbesondere hat die sozioökonomischen Gründe, die hinter der Entstehung der modernen Staatssouveränität stehen, herausgearbeitet. Er k n ü p f t an die Arbeiten M a x Webers an, der ein vereinheitlichtes u n d berechenbares Rechtssystem m i t dem Interesse des Bürgers auf Sicherheit seiner wirtschaftlichen Unternehmen e r k l ä r t u n d sieht i n der I n s t i t u t i o n des Staates die Garantie des Zusammenwirkens aller gesellschaftlichen A k t e auf einem bestimmten Gebiet i n letzter Instanz. (H. Heller, Die Souveränität, 1927, i n : ders., Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S. 125). 12 Z u r verfassungsgebenden Gewalt i n der deutschen Verfassungsgeschichte vgl. W. Henke, Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen V o l kes, S. 66 ff.; zum Begriff der verfassungsgebenden Gewalt U. Steiner, S. 72 ff. — Z u r Theorie einer Beschränkung der Volkssouveränität auf die F u n k t i o n der verfassungsgebenden Gewalt u n d die Reduzierung des Volkes auf eine Organstellung durch die Verfassung Th. Maunz, Die verfassungsgebende Gewalt i m Grundgesetz, i n : H. K u r z (Hrsg.), S. 311 ff., ders., i n : Maunz / D ü r i g / Herzog, Grundgesetzkommentar, München 1973, A n m . 30 zu A r t . 20 GG; K . Stern, S. 121 f., S. 453; D. Murswiek, S. 213; BVerfGE 8, 104. Differenzierend Th. Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Opladen 1973, S. 105 m. w . N.; M. Kriele, S. 13, S. 227. 13 Wie i m Text u. a. K . Hesse, S. 55. Die f ü r die E n t w i c k l u n g des Verfassungsrechts u n d der Verfassungstheorie unheilvolle Differenzierung einer Auflösung der Volkssouveränität i n verfassungsgebende Gewalt u n d v e r fassungsgebundene Gewalt (Pouvoir Constituant u n d Pouvoir Constitué) geht auf Abbe Sieyés zurück (E. J. Sieyés, Politische Schriften 1788 -1790, D a r m stadt 1975). 11
5.1 Volkssouveränität
183
w i r d nicht reduziert auf eine Organstellung oder eine Organmittlerfunktion, Volkssouveränität w i r d nicht inhaltslos 14 , sondern bleibt verfassungsrechtliches Grundprinzip. Das souveräne Volk ist keine praktische Einheit, sondern ist i n seinen Anliegen, Interessen und Bedürfnissen differenziert. Zur Entscheidungsbildung über die konkrete politische Ordnung bedarf es der Organisation, insbesondere der organisierten Setzung von Recht 16 . I n einem absolutistischen Staat, der auf der Souveränität der Staatsgewalt des Monarchen begründet ist, kann von einer äußeren und einer inneren Souveränität des Staates i m Sinne seiner Fähigkeit, Entscheidungen zu setzen und durchzusetzen, gesprochen werden. Nach dem Grundgesetz ist aber diese Souveränität des Staates allein begründet i n der Volkssouveränität. Die Souveränität ist damit weniger eine Eigenschaft des Staates 16 , sondern Ausdruck des Willens des Volkes als staatlich verfaßte Gesellschaft selbständig seine Verfassungsordnung und i n ihrem Rahmen Ziele und Inhalte staatlicher Politik zu bestimmen 17 . Die Möglichkeit von Staatsorganen, Entscheidungen zu setzen und durchzusetzen, ist nur eine Kompetenz, welche der Träger der verfassungsgebenden Gewalt und der Staatsgewalt, das Volk, bestimmten Organen verliehen hat. Das Grundgesetz kennt keine davon unabhängige Souveränität des Staates oder einzelner Staatsorgane. Das Problem der Verfassungsgebung, das heißt die Frage nach der A r t und Weise, wie das Grundgesetz zustande gekommen ist, kann hier vernachlässigt werden. Es wurde nicht durch eine Volksabstimmung angenommen, unmittelbare Selbstbindung des Volkes durch das Grundgesetz ist insoweit teilweise Fiktion. Darauf kommt es aber hier nicht an. Wichtig ist, daß nach dem Grundgesetz die Grundlage staatlicher Wirklichkeit die Souveränität des Volkes ist, und daß hierin die staatliche Ordnung ihre tatsächliche und normative Legitimation hat. Das 14 So W. Thieme, „ A l l e Staatsgewalt geht v o m Volke aus", i n : H. Kurz, S. 390 ff. (S. 395). 15 I n dieser Weise besteht auch eine K o n t i n u i t ä t zur Souveränitätslehre von Jean Bodin, vgl. Ch. Müller, Das imperative u n d freie Mandat, Leiden 1966, S. 132 ff., S. 174. 16 Souveränität w i r d falsch verstanden, w e n n n u r die eine Seite i n den Blick fällt, nämlich die Möglichkeit von Staatsorganen, ihre Entscheidung durchzusetzen, was m i t der Reduzierung der Volkssouveränität i m wesentlichen auf die verfassungsgebende Gewalt häufig einhergeht, vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 ff., K . Stern, S. 118 ff. m. w . N.; D. Murswiek, S. 207 ff.; M. Kriele, S. 19. 17 I n dem Maße, i n dem der Begriff der Souveränität die Eigenständigkeit des Staates bezeichnet, ist er i n einer freiheitlich-demokratischen Ordnung nicht loslösbar von der Souveränität des Volkes zur Bestimmung der staatlichen Ordnung, der Handlungsziele u n d - i n h a l t e staatlicher Politik. — Erg. hierzu K. v. Beyme, S. 55 ff.; W. Henke, Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, S. 123 ff.
184
5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Verfassungsprinzip der Volkssouveränität meint so i n seiner nen grundgesetzlichen Bedeutung das Recht des Staatsvolkes, politisch-rechtliche Ordnung zu geben und die fortwirkende tenz zur Ausgestaltung dieser Ordnung, insbesondere mittels der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt Abs. 2 GG) 1 8 .
allgemeisich eine KompeOrganen (Art. 20
Die Begriffe Volkssouveränität und Demokratie sind nach dem Grundgesetz nicht identisch, sie ergänzen sich n u r 1 9 . Demokratie bezeichnet — i n einer ersten Annäherung — Formen und Prozesse der Ausgestaltung der politischen Ordnung, der „konkreten und differenzierten Zuordnung von Staat und Gesellschaft oder systemtheoretisch ausgedrückt: die Form der Legitimationsbeschaffung, der Rationalitätskontrolle und der Funktionalitätssicherung für die Entscheidungen des politisch-administrativen Systems" 20 . Demokratie kann je nach der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung und den i n dem Begriff zusammengefaßten Merkmalselementen plebiszitäre oder parlamentarische Demokratie, imperative oder repräsentative Demokratie oder auch „Volksdemokratie" sein. Der Begriff der Demokratie dient i m Kontext des Grundgesetzes insbesondere der Zusammenfassung jener Merkmale, welche sich auf die A r t und Weise der Ausübung der Staatsgewalt beziehen, auf die Form, i n welcher Volkssouveränität zum Tragen kommen kann und schließt ihre materialen Bedingungen m i t ein, wie sie die Grundrechte statuieren (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 18 GG). Die konkreten Strukturen und Formen der politischen Ordnung, welche das Volk i n seiner Entscheidung bestimmt, sind m i t dem Prinzip der Volkssouveränität selbst nicht unmittelbar festgelegt. Volkssouveränität ist aber die Grundlage und Rechtfertigung für Demokratie 2 1 . I n ihrer historischen Entfaltung sind Volkssouveränität und Demokratie vielfach miteinander verflochten 22 . Konkrete Darstellung findet ihr Zusammenhang jeweils i n der Entwicklung und Ausgestaltung des Wahlrechtes 23 und i n der Bezeichnung jener Gegenstände, welche der 18 Erg. K . Hesse, S. 197 ff.; E. Stein, Staatsrecht, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 91 ff.; D. Murswiek, S. 213. 19 Vgl. erg. E. Denninger, i n : Demokratisierung — Möglichkeiten u n d Grenzen. E i n Cappenberger Gespräch. K ö l n u. B e r l i n 1976, S. 52; W. Henke, S. 43 ff. 20 E. Denninger, S. 47. Vgl. auch K. Hesse, S. 52 ff. m. w . N.; unpräzis K. Doehring, Staatsrecht, F r a n k f u r t 1976, S. 119 ff. 21 Vgl. K . Stern, S. 451 f. m. w . H.; D. Murswiek, S. 194 ff. m. w . H. 22 F ü r die Weimarer Republik vgl. C. Schmitt, S. 147, S. 201; R. Smend, S. 222. 23 Vgl. erg. H. Kurz, S. 237 ff.; K . Stern, S. 231 f. m. w. N. — „ W a r das Parlament verfassungsgeschichtlich das Instrument, m i t dem zunächst ständische, dann zunehmend demokratische K r ä f t e gegenüber dem Monarchen
5.1 Volkssouveränität
185
u n m i t t e l b a r e n B e s t i m m u n g d u r c h das V o l k oder e i n e r v o n i h m u n m i t t e l b a r eingesetzten V e r t r e t u n g u n t e r l i e g e n 2 4 . V o l k s s o u v e r ä n i t ä t i s t n i c h t e x i s t e n t , w e n n das V o l k w i e i n d e r k o n s t i t u t i o n e l l e n M o n a r c h i e n u r als W i d e r p a r t des Staates f u n g i e r t , m a g es auch i n e i n e r spezifischen O r g a n s t e l l u n g d u r c h eine V o l k s v e r t r e t u n g gegenüber d e m S t a a t r e p r ä sentiert sein25. I n einer demokratischen Staatsordnung, welche auf dem P r i n z i p d e r V o l k s s o u v e r ä n i t ä t b e g r ü n d e t ist, i s t es n i c h t Sache des V o l kes oder seiner V e r t r e t u n g s o r g a n e , Interessen u n d A n s p r ü c h e gegenü b e r d e m „ S t a a t " , d e r d e m V o l k „ f r e m d i s t u n d gleichsam aus e i g e n e m Hecht l e b t " 2 6 , z u v e r t r e t e n u n d durchzusetzen, s o n d e r n das V o l k t r ä g t diesen Staat, diesen H e r r s c h a f t s o r g a n i s m u s u n d b e s t i m m t , „ i n w e l c h e r Weise u n d m i t w e l c h e n Z i e l e n H e r r s c h a f t ausgeübt w i r d . D e r S t a a t i s t i n s o f e r n n u r d i e O r g a n i s a t i o n s f o r m der Gesellschaft f ü r e i n e n u m f a s senden u n d dennoch i n h a l t l i c h v i e l f a c h b e g r e n z t e n B e r e i c h " 2 7 .
u n d seiner Exekutive Einfluß auf die Willensbildung i m Staat nahmen, so ist heute m i t dem Wegfall des monarchisch-demokratischen Gegensatzes das Parlament zumindest i n einem parlamentarischen Regierungssystem das demokratische Grundorgan des Staates u n d seine W a h l durch das V o l k n o t wendige Voraussetzung f ü r die Wertung eines Systems als demokratisch." (H. Meyer, Wahlsystem u n d Verfassungsordnung, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 13). — „Die Parlamentswahl ist i n einer Demokratie m i t parlamentarischem Regierungssystem der grundlegende Legitimationsakt f ü r die Träger der Staatsgewalt. Soll alle Staatsgewalt v o m V o l k ausgehen, w i e es A r t . 20 Abs. 2 S. 1 des GG festlegt, so ist damit zugleich das Prinzip der A b l e i t u n g u n d V e r m i t t l u n g der Staatsgewalt v o m V o l k zu den machtausübenden O r ganen, also das S t r u k t u r p r i n z i p der Demokratie, normiert, w i e die innere Rechtfertigung f ü r die Ausübung von Macht durch die so gewählten Staatsorgane umschrieben. Auch der Legitimationscharakter der Parlamentswahl verlangt gewisse institutionelle Ausgestaltungen der Wahl. Die W a h l legit i m i e r t nur, w e n n sie als Rechtfertigungsprinzip f ü r die Ausübung von Macht von den Machtunterworfenen anerkannt w i r d . M a g für diese Anerkennung die T r a d i t i o n von besonderem Gewicht sein, die legitimierende W i r k u n g ist auf die Dauer n u r zu erhalten, w e n n das Legitimationsprinzip einleuchtend, d. h. i n gewissem Sinne vernünftig ist; das bedeutet ζ. B., daß es nicht i n sich widersprüchlich sein, aber auch, daß es dem politischen Bewußtseinsstand des Volkes nicht widersprechen darf. So wäre heute ein Zensuswahlrecht oder ein Kapazitätenwahlrecht ohne legitimierende W i r k u n g , w e i l der Stand des politischen Bewußtseins eine entsprechende Differenzierung der Bürger nicht anerkennen würde. Dasselbe w ü r d e i n der Bundesrepublik für ein Wahlrecht gelten, daß die Frauen von der Stimmabgabe ausschlösse, während i n der Schweiz sich erst i n den letzten Jahren i n diesem P u n k t ein bedächtiger Wandel der Legitimationsvorstellungen vollzogen hat." (H. Meyer, S. 14). 24 Erg. H. Meyer, S. 14, S. 195. 25 Hierzu W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 2. Aufl., Stuttgart 1958, S. 48. 26 H. Meyer, S. 196. 27 H. Meyer, S. 196.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie 5.1.1 Die Begründung individueller Rechtsstellungen durch das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität
Historisch gesehen wurde das deutsche Volk i n seinen Stämmen durch den — monarchischen — Staat, durch die Staatsgewalt als Staatsvolk konstituiert und auch die Volkssouveränität ist mehr gewährt durch den Staat, als daß der Staat aus der Volkssouveränität begründet wurde. Verfassungsrechtlich hat aber dieser Staat sein Fundament i n der Volkssouveränität. Diese steht dem ganzen Volk ohne Einschränkung i n jedem seiner Aktivbürger zu und jedem seiner Mitglieder steht deshalb i n gleicher Weise das Recht zu, bei der Bestimmung der staatlichen Ordnung mitzuwirken. Das Prinzip der Volkssouveränität ist so ein Grundprinzip der Grundgesetzordnung und i h m entspricht es, wenn gemäß A r t . 20 Abs. 4 GG allen Deutschen ein Widerstandsrecht gegen jeden zusteht, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, soweit andere Abhilfe nicht möglich ist 2 8 . Die Festlegung des Wahlrechts i n A r t . 38 Abs. 1 GG als allgemeines, gleiches und freies ist Ausdruck dieser Volkssouveränität 29 . Gleichzeitig ist über diese Wahlrechtsstellung die formale Gleichheit jedes Staatsbürgers als Träger und i n der Ausübung der Volkssouveränität statuiert 3 0 und A r t . 3 Abs. 1 GG bestätigt dieses Prinzip i n anderem Zusammenhang, wenn normiert ist, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Das Grundgesetz spricht i m Zusammenhang m i t der Souveränität vom Volk (Art. 20 Abs. 2, A r t . 1 Abs. 2, Präambel, A r t . 21 Abs. 1, A r t . 38 Abs. 1, A r t . 146 GG) nicht von den Staatsbürgern oder Aktivbürgern. Träger der Souveränität ist damit zunächst das Volk als Ganzes. Eine solche Begriffsverwendung könnte Anlaß sein, von einem Gesamtwillen oder dem Volk als Gesamtheit, auch von einer Volksgemeinschaft zu sprechen, auf welche sich allein die Souveränitätseigenschaft bezieht. Eine Gesamtheit ist logisch nicht mehr als die Summe ihrer Teile und sie ist als solche nur handlungsfähig über die Ausbildung von Verfahren und Organstellungen. Bereits aus diesem logischen Grunde ist 28 Dieser Zusammenhang von A r t . 20 Abs. 4 GG m i t A r t . 20 Abs. 2 S. 1 GG i m Prinzip der Volkssouveränität — woraus sich auch die verfassungstheoretische Selbstverständlichkeit von A r t . 20 Abs. 4 GG ergibt — w i r d zuwenig beachtet, vgl. bspw. Maunz / Dürig / Herzog ! Scholz, Grundgesetz, München 1979, A n m . 211 ff. zu A r t . 20 GG, K. Stern, § 6 I I 9 c. 29 Vgl. hierzu näher H. Meyer, S. 83 ff. u. insbes. S. 124ff.; K. Stern, S. 238 ff.; Maunz I Dürig ! Herzog ! Scholz, A n m . 33 ff. zu A r t . 38 GG, jew. m. w . H. — Dieses Wahlprinzip gilt deshalb auch f ü r jede repräsentative F o r m unmittelbarer Ausübung von Staatsgewalt, sei es auf der Ebene der Länder oder der Gemeinden, (Art. 28 Abs. 1 GG) vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. 2.1978, i n : JZ 1978, S. 144+. 30 Maunz ! Dürig I Herzog ! Scholz, A n m . 49 zu A r t . 38 GG; erg. Th. Ellwein, S. 105; M. Kriele, Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, i n : W d S t R L , H. 29, B e r l i n 1971, S. 58 ff.; H. Scholler, Person u n d Öffentlichkeit, München 1967, S. 161 ff.
5.1 Volkssouveränität
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Souveränität nicht nur als abstrakte Eigenschaft des Volkes zu verstehen, sondern das Recht zur souveränen Mitbestimmung der politischgesellschaftlichen Staatsordnung ist konstitutive Eigenschaft jedes Volksmitgliedes als Staatsbürger 31 . Volkssouveränität und Staatssouveränität sind so nicht Ausdruck eines allgemeinen Willens, einer volonté générale i m Sinne Rousseaus, sondern existieren als gemeinsamer Wille des Volkes, sei dies eine bewußte Entscheidung oder sei es i n der Tradition und i n der sozialen Umwelt begründet. I n der Ausübung von Volkssouveränität als einem Prozeß individueller Willensmanifestationen konstituiert sich die Allgemeinheit und Öffentlichkeit 3 2 staatlichgesellschaftlicher Beziehungen. Der Satz, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, fingiert nicht eine Willenseinheit des Volkes; „sondern er setzt jene Vielfalt und Gegensätzlichkeit voraus, die stets erneut die Herstellung politischer Einheit als Bedingung der Entstehung und des Wirkens staatlicher Gewalt notwendig macht. Der politische Prozeß, i n dem dies geschieht, soll nach A r t . 20 Abs. 2 S. 1 GG als ein freier und offener Prozeß die Sache des ganzen Volkes sein, nicht einer staatstragenden Schicht, mag sie die Mehrheit oder nur eine Minderheit des Volkes umfassen: alle Angehörigen des Volkes sind so politisch gleichberechtigt; alle sollen die real gleiche Chance haben, sich i n organisiertem Zusammenwirken nach den Regeln der Verfassung durchzusetzen und, wenn ihnen dies gelingt, i n Parlament und Regierung staatliche Gewalt ausüben" 33 . Das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität hat so eine deklaratorische und eine normative Bedeutung: Es kennzeichnet die Volkssouveränität als legitimatorische Grundlage der Verfassungsordnung und der konkreten Staatsordnung, es bindet die Entscheidungs- und Gestaltungsbefugnisse staatlicher Organe an die Willensmanifestation des Volkes und es gewährleistet für den Aktivbürger ein gleiches Recht auf Mitbestimmung über die konkrete politisch-gesellschaftliche Staatsordnung. A r t und Weise der Mitbestimmung sind selbst verfassungsrechtlich geregelt. Dieses gleiche Recht auf Mitbestimmung beinhaltet für jeden einzelnen Staatsbürger die Berechtigung, seine Anliegen und Interessen i n die Realisierung einer politischen Gesamtordnung und also auch i n die Konkretion offener Grund31
I n der vorherrschenden Meinung w i r d „das V o l k " als Träger des Souveränitätsrechts angesehen, vgl. etwa H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart usw. 1966, S. 200, w o h l auch K . Stern, S. 121, D. Murswiek, S. 59 jew. m. w. H. 32 So R. Smend, S. 470; auf den Umstand, daß Volkssouveränität i n einem solchen Prozeß gleichzeitig auch ignoriert werden kann, weist C. Schmitt hin, S. 244. 33 K. Hesse, S. 55. — Das Prinzip der Volkssouveränität beinhaltet also mehr als eine formale Wahlgleichheit, es gewährleistet eine real gleiche Chance, das gleiche Recht zur politischen Mitbestimmung, vgl. auch K . Stern, S. 460 f.; Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 6 u. 11 zu A r t . 20 GG.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
rechte i n jeder Form gewaltfreier politischer Meinungs- und Willensbildung einzubringen, sei es i n öffentlicher politischer Diskussion, sei es mittels Assoziationen, Verbänden oder Parteien, sei es i n staatlichen Gesetzgebungsorganen, soweit dies keinen allgemeinen oder besonderen Verfassungsvorschriften zuwiderläuft. 5.1.2 Organisation und Repräsentation in der politischen Mitbestimmung
Das Recht zur politischen Mitbestimmung vermittelt eine individuelle Rechtsposition. Die Unterschiedlichkeit politischer Zielvorstellungen, seien diese sozioökonomisch oder soziokulturell bedingt, ist m i t dem Recht zur freien Bildung von Vereinigungen und von politischen Parteien (Art. 9, A r t . 21 GG) vorausgesetzt, die Organisation politischer Willensbildung i n und durch politische Parteien verfassungsrechtlich gewährleistet. Der selbständige Ausweis der politischen Parteien i m Grundgesetz als Institutionen, welche bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, und ihre Unterstellung unter das Prinzip der demokratischen Ordnung, macht diese weder zu Organen der Ausübung der Volkssouveränität noch zu Organen der Staatsgewalt 34 . Ihre Funktion liegt i n der Vermittlung von allgemeiner Volkssouveränität und organisierter Herrschaft 35 . Für die Geltungskraft des Verfassungsprinzipes der Volkssouveränität ist prinzipiell belanglos, ob das V o l k unmittelbar politische Willensbildung und -entscheidung vornimmt oder politische Willensbildung mittels Vereinen, Verbänden und Parteien formiert w i r d 3 6 , sofern das Volk selbst i n seiner Souveränität die Bildung solcher 34 Unzutreffend deshalb B V e r w G v. 10.11. 73 i n : JZ, 1975, S. 24 — Daniels U r t e i l —, wonach ein Einzelbewerber i m H i n b l i c k auf § 18 ParteienG keine Wahlkampfkostenerstattung erhalten kann; hier werden der Durchgriff des Prinzips der Volkssouveränität u n d der Gleichbehandlung verkannt, vgl. auch die K r i t i k v o n E.-H. Ritter, Pyrrhussieg f ü r den Parteienstaat, i n : JZ, 1975, S. 22 ff. — I n der Rspr. des B V e r f G werden die Parteien verstärkt als verfassungsrechtliche Institutionen u n d als Verfassungsorgane oder ähnlich Staatsorganen verstanden, lediglich i m Zusammenhang m i t der Parteifinanzierung betont das Gericht mehr ihren Status als gesellschaftliche Organisationen, zur Rspr. vgl. bei Leibholz / Rinck, Grundgesetz, 5. Aufl. K ö l n 1978, A n m . 5 u. 10 zu A r t . 21 GG; insbes. BVerfGE 8, 51 ff.; 20, 56 ff. (100, 115); 24, 300 ff. (357 ff.); 41, 399 ff.; 42, 53 ff.; B V e r f G i n JZ 1979, S. 564 ff. — Ä h n l i c h w i e hier E. Stein, S. 136; zur Problematik der politischen Parteien vgl. erg. K . - H . Seifert, Die politischen Parteien i m Recht der Bundesrepublik Deutschland, K ö l n usw. 1975, insbes. S. 61 ff. u n d die Beiträge i n G. Ziebura (Hrsg.), Beiträge zur allgemeinen Parteienlehre, Darmstadt 1969 sowie M. Th. Greven, Parteien u n d politische Herrschaft, Meisenheim a. Gl. 1977. 35 Ä h n l i c h H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften i m Sozialstaat nach dem Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deuschland, Stuttgart 1960, S. 22 f.; erg. Th. Ellwein, S. 105. 36 I m einzelnen hierzu Th. Ellwein, S. 112 ff. Es ist allerdings bedenklich, i n diesem Zusammenhang v o n „eingeschränkter Souveränität" des Volkes zu sprechen, w i e es Ellwein, S. 175 tut.
5.
Volkssouveränität
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Vereine, Verbände und Parteien frei bestimmen kann und ihre M i t w i r kung i m Prozeß politischer Willensbildung frei ist. A r t . 21 GG bedeutet insoweit keine Einschränkung der Volkssouveränität. Die Bindung politischer Parteien an die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (Art. 21 Abs. 2, A r t . 9 Abs. 2 GG) entspricht der allgemeinen Bindung, welche sich das Volk i n der Ausübung seiner Souveränität und zu ihrer Ausübung gegeben hat. A r t . 21 und A r t . 9 GG veranlassen individuelle Träger politischer Anliegen und Interessen zu einer Solidarisierung und Organisation. Die Entscheidungskompetenz des einzelnen Staatsbürgers mittels Wahlen, Anliegen und Interessen i n die Ausgestaltung der staatlichen Ordnung einzubringen, w i r d so strukturiert und die organisierte Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Volkes als Staat mittels Organen der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt vorgeformt und organisatorisch abgestützt. Politische Parteien haben i n den politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eine formierende und eine selektive Funktion. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung politischer Parteien vermittelt aber den von ihnen repräsentierten und dargestellten politischen Anliegen und Interessen keine besondere verfassungsrechtliche Relevanz. Das Prinzip der Volkssouveränität gewährleistet jedem A k t i v bürger das gleiche Recht, eine Ausgestaltung und Konkretion der Verfassungsordnung nach seinen Anliegen und Interessen zur Diskussion zu stellen 37 . Die rechtliche Aktualisierung der Volkssouveränität geschieht i n der Ausübung der Staatsgewalt mittels Wahlen, i n der Bestimmimg von Vertretern für die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt. Diese Repräsentanten sind i n ihrer Stellung als Abgeordnete des Deutschen Bundestages gemäß A r t . 38 Abs. 1 S. 2 GG „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Dieses „freie Mandat" hebt das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität nicht auf, sondern setzt es gemäß A r t . 20 Abs. 2 S. 1 GG voraus; andernfalls müßte diese Bestimmung lauten, daß die Staatsgewalt von Vertretern des Volkes ausgeübt wird, welche das V o l k wählt. Die Organisationsform des freien Mandates ist eine mögliche Bedingung, u m die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Volkes i n der 37 Politische Parteien haben kein Monopol auf die B i l d u n g des politischen Willens, so Th. Maunz, vgl. m. w. N. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Anm. 36 zu A r t . 21 GG. Das „Monopol" liegt b e i m Volk, die A k t i v b ü r g e r können sich zur politischen Meinungs- u n d Willensbildung solidarisieren u n d organisieren. Bürgerinitiativen sind beispielsweise eine F o r m politischer M e i nungs- u n d Willensbildung, hierzu näher W. Schmidt, Bürgerinitiativen — politische Willensbildung — Staatsgewalt, i n J Z 1978, S. 293 ff. m. w . N.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Form der Gesetzgebung zu sichern 38 . Die Freistellung des Abgeordneten von Weisungen und Aufträgen beinhaltet das Moment der persönlichen Verantwortung gegenüber den Wählern. Der Abgeordnete repräsentiert als Person das souveräne Volk und vertritt bestimmte politische Anliegen und Interessen, welche i h m eigen sind. Die Freiheit des Glaubens und des Gewissens ist i n A r t . 4 Abs. 1 GG allgemein gewährleistet, sie ist Bedingung der freien, sich selbst verantwortlichen Person und ist damit auch Voraussetzung von Volkssouveränität. I n der Gewährleistung dieser Freiheit für den Abgeordneten geschieht nichts anderes als ihre prinzipielle Anerkennung als konstitutive Bedingung einer staatlichen Ordnung, welche auf dem Prinzip der souveränen Mitbestimmung der politischen Ordnung durch den Aktivbürger gründet 3 9 . Das freie Abgeordnetenmandat steht regelmäßig auch i n einem Zusammenhang m i t den Parteien, welche bei der politischen Willensbildung des Volkes m i t w i r k e n 4 0 . Während i m freien Abgeordnetenmandat die Freiheit der Person und ihre Selbstverantwortung ihren Ausdruck finden, setzt das Recht zur freien Bildung von politischen Parteien die Organisationsfähigkeit unterschiedlicher politischer Zielvorstellungen voraus. Der Abgeordnete ist i n der Regel Repräsentant solcher organisierter politischer Anliegen und Interessen, wie sie i n der Programmatik der politischen Parteien niedergelegt sind. Die formierende Funktion und selektive Wirkung politischer Parteien hinsichtlich öffentlich dargestellter politischer Anliegen, Interessen und Bedürfnisse w i r d i n der politischen Praxis durch die Bindung der Abgeordneten an eine Partei verstärkt 4 1 . 38 Z u r Problematik erg. M. Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, Bad Homburg 1954, G. Leibholz, A r t . Repräsentation, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 2194 ff., Chr. Müller, Das imperative u n d freie Mandat, Leiden 1966, H. Säcker, Das politische Mandat i n der repräsentativen Demokratie, 2. Aufl., B e r l i n 1973, H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, B e r l i n 1973. U. Hartmann, Repräsentation i n der politischen Theorie u n d Staatslehre i n Deutschland, B e r l i n 1979. — Z u unmittelbaren Volksentscheiden nach dem Grundgesetz vgl. A. Bleckmann, Z u r Zulässigkeit des Volksentscheides nach dem Grundgesetz, i n : JZ 1978, S. 217 ff. 39 Die faktischen Bindungen eines Abgeordneten sind vielfältig, gerade deshalb hat das freie Mandat einen Sinn, solange nicht andere Formen politischer M i t w i r k u n g entwickelt sind, vgl. auch K. Hesse, A r t . Abgeordneter, i n : Evangl. Staatslexikon, Sp. 14, E. Stein, S. 149 ff.; E. Denninger, Staatsrecht 2, Reinbek 1979, S. 55 ff., S. 70 f. 40 Z u r Problematik vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 18 ff. zu A r t . 38 GG u n d zur L i t . dort vor A n m . 1. 41 Der Abgeordnete erhält i m allgemeinen über eine politische Partei sein Mandat u n d unterliegt dem „Fraktionszwang", dadurch ergibt sich stets eine Selektivität u n d Konzentration i n der parlamentarischen Darstellung p o l i tischer Interessen. — Vgl. erg. Ν. Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, B e r l i n 1975.
5.
Volkssouveränität
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5.1.3 Volkssouveränität und Staatssouveränität
Die Staatssouveränität ist verfassungsrechtlich nicht selbständig und unabhängig von der Volkssouveränität konstituiert 4 2 . A r t . 20 Abs. 2 GG statuiert keine ursprüngliche Herrschaftsgewalt des Staates, sondern geht von der einheitlichen Konstitution der Staatsgewalt i n der Volkssouveränität aus, die Ausübung dieser Gewalt w i r d differenziert und durch verschiedene Organe erledigt: Dies ergibt sich aus dem Wortlaut von A r t . 20 Abs. 2 GG immittelbar — die Staatsgewalt w i r d vom Volk i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe . . . ausgeübt. Spezielle Verfassungsnormen bestimmen Funktion und Verfahren dieser Organe und regeln ihre Rückbindung insbesondere über das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes und der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns an das Volk. Die Konstitution solcher Organe ist Bedingung für die politische Handlungsfähigkeit des Volkes als Staat und ist somit Bedingung für seine äußere Darstellung als Staat und für die Gewährleistung des inneren Ordnungszusammenhanges. Dieser Befund ändert sich nicht i m Blick darauf, daß die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auch unmittelbar an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden sind (Art. 20 Abs. 3, A r t . 1 Abs. 3 GG), denn die Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung insgesamt beinhaltet auch die Bindung an das Prinzip der Volkssouveränität. Verfassungsrechtliche Regelungen für die Ausübung der Staatsgewalt setzen also nicht die Staatsgewalt als eine ursprüngliche Herr42 Z u m Stand der Diskussion vgl. bei Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 33 ff. zu A r t . 20 GG; W. v. Simson, Die Souveränität i m rechtlichen Verständnis der Gegenwart, S. 24 ff., S. 115 ff.; M. Kriele, Einführung i n die Staatslehre, S. 47 ff.; D. Murswiek, S. 36 ff., S. 164 ff. — I n der Verfassungsrechtslehre w i r d entsprechend der deutschen Staatstradition u n d ihrer Staatslehre i n unterschiedlicher Weise eine verselbständigte Staatssouveränität angenommen, vgl. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 107 ff.; G. Jellinek, S. 484, 486; R. Smend, S. 521, 524; P. Dagtoglou, Sp. 2326 f.; M. Kriele, S. 225. H. Kelsen geht i m Unterschied zu der hier vorgetragenen Ansicht davon aus, daß die Organgewalt positiv rechtlich begründet, die Volkssouveränität nur eine F i k t i o n sei. Vgl. H. Kelsen, S. 313 ff., S. 326. C. Schmitt weist auf die Schwierigkeit hin, die darin liegt, daß der bürgerliche Rechtsstaat von der Vorstellung ausgeht, die gesamte Ausübung aller Staatsgewalt lasse sich restlos i n geschriebenen Gesetzen erfassen u n d u m grenzen, so daß kein politisches Handeln irgendeines Subjektes, keine Souveränität mehr möglich sei. Nach Schmitt sind es aber i n W i r k l i c h k e i t „gerade die wesentlich politischen Entscheidungen, welche der normativen Umschreibung entgehen. Die F i k t i o n der absoluten N o r m a t i v i t ä t hat dann kein anderes Ergebnis, als daß eine so fundamentale Frage w i e die nach der Souveränität i m u n k l a r e n gelassen w i r d " , C. Schmitt, S. 107/108. Souverän ist nach C. Schmitt letztlich, w e r über den „Ausnahmezustand" verfügt Vgl. demgegenüber auch H. Meyer, S. 80, S. 195. Z u r marxistischen Interpretation vgl. insb. Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Staats- u n d Rechtstheorie, B e r l i n 1975, S. 326 ff.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
schaftsgewalt eines gegebenen Staates voraus, sondern strukturieren nur die Ausübung der Volkssouveränität 43 . Das Grundgesetz konstituiert nicht den Staat als selbständige juristische Person und konstituiert auch keine einheitliche staatliche Organgewalt als Eigenschaft einer solchen juristischen Person Staat. Der Staat ist nur eine abstrakte Einheit, durch die Ausübung der Volkssouveränität i n der Verfassung begründet. Die Ausübung der Staatsgewalt geschieht unmittelbar i n Wahlen und Abstimmungen und m i t telbar durch besondere Organe durch das V o l k 4 4 . Legitimation haben diese Organe i m souveränen Volk als Träger der Staatsgewalt, welches diesen Organen i n der Verfassungsgebung oder i m Wege der Gesetzgebung spezifische Kompetenzen und Aufgaben zuweist. Verfassungsrechtlich — auch i m Blick auf die Aufgabenstellung einzelner Organeinheiten — besteht kein Anlaß, von einer einheitlichen Staatsgewalt als Einheit der Organgewalten zu sprechen, vielmehr handelt es sich u m eine Vielzahl von Organgewalten m i t jeweils spezifischen Kompetenzen 45 . Das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität bedeutet also i m Sinne des Grundgesetzes, daß es allein Sache des Staatsvolkes ist, seine politische Ordnung selbst zu bestimmen. Dieses Prinzip duldet keine Einschränkung, soweit das V o l k nicht i n der Form der Verfassungsrechtssetzung selbst solche Einschränkungen bestimmt wie i n A r t . 24 und 25 GG: Das souveräne Volk anerkennt allgemein die Regeln des Völkerrechtes als eigenes Recht und nur ein souveränes Volk kann per Gesetz der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen zustimmen. Volkssouveränität ist Ergebnis soziokultureller und sozioökonomischer Veränderungen i m politischen Bewußtsein und i n der politischen 43 So M. Kriele, S. 224. — A u f die Frage einer Gewaltenteilung u n d die Problematik einer Gewaltenteilungslehre ist hier nicht einzugehen. Z u r Problematik vgl. die Beiträge bei H. Rausch (Hrsg.), Z u r heutigen Problem a t i k der Gewaltenteilung, Darmstadt 1969. 44 Das V o l k ist also nicht n u r „Kreationsorgan", vgl. hierzu Chr. Müller, Das imperative u n d freie Mandat, Leiden 1966, S. 234. — F ü r die Ausübung der Staatsgewalt k o m m t den Staatsorganen i n der politischen Praxis eine hohe Realisationskompetenz zu. Mißverständlich k a n n es aber sein, w e n n der moderne Staat „ u . a . als ein System von Ä m t e r n u n d Organschaften" beschrieben w i r d (Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 18 zu A r t . 20 GG), da hier der Bereich des Politischen, welcher v o m V o l k nicht n u r durch gesetzgebende u n d andere Organe gestaltet w i r d , sondern auch i n unmittelbaren politisch-gesellschaftlichen A k t i v i t ä t e n , verkürzt w i r d . 45 R. Zippelius spricht zutreffend bei der Staatsgewalt von einem „ P r o d u k t eines Systems rechtlich koordinierten Zusammenwirkens". R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 5. A u f l . München 1975, S. 58; erg. K . Grimmer, Z u r D i a l e k t i k von Staatsverfassung u n d Gesellschaftsordnung, i n : ARSP, Bd. L X I I (1976), S. 1 ff. — Die Einheit der Staatsgewalt w i r d durch den Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Bestimmung u n d durch den Vorrang u n d Vorbehalt des Gesetzes (hierzu Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 84 zu A r t . 20 GG) hergestellt.
5.
Volkssouveränität
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Handlungsfähigkeit einer Gesellschaft und entwickelte sich i n der Auseinandersetzung m i t der Staatssouveränität und der Fürstensouveränität. M i t dem Begriff der Volkssouveränität wurde der Anspruch des Volkes auf politische Selbstbestimmung seiner staatlichen Ordnung und auf Legitimation aller Staatsgewalt i m Willen des Volkes gekennzeichnet. Das Grundgesetz enthält mehrere normative Aussagen, welche i m Begriff der Volkssouveränität zusammengefaßt sind: Begründung der Verfassungsordnung i m Willen des Volkes, Realisierung der Verfassungsordnung aufgrund von Entscheidungen des Volkes durch Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der richterlichen Gewalt, gleiches Recht aller Aktivbürger auf Mitbestimmung der politischgesellschaftlichen Ordnung, sei es unmittelbar, sei es über den Zusammenschluß zu Parteien und Verbänden, sei es i m Weg der Bestimmung von Vertretern für die Gesetzgebung, sei es durch die Teilnahme an öffentlichen Prozessen politischer Willensbildung. Entsprechend sind die Bindung der Organe der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der Organe der vollziehenden Gewalt und der richterlichen Gewalt an die Verfassungsordnung und an das Gesetz eine Folge aus dem Verfassungsprinzip der Volkssouveränität. Das Grundgesetz ist nicht nur selbst i n der Volkssouveränität begründet, sondern erklärt diese auch zur normativen Grundlage der politisch-gesellschaftlichen Ordnung. Auch wenn die Ausübung der allgemeinen Volkssouveränität vorrangig i n Wahlen geschieht, reduziert sich das m i t dem Prinzip der Volkssouveränität verbundene M i t wirkungsrecht nicht nur auf ein formal gleiches Wahlrecht, das formal gleiche Wahlrecht ist vielmehr selbst Ausdruck eines allgemeinen, gleichen Mitwirkungsrechtes, i n welchem das Recht zur freien Bildung von politischen Parteien und Verbänden und zur Teilnahme an der öffentlichen Diskussion über die Realisierung der Verfassungsordnung, zur Teilnahme an der Formierung der politischen Willensbildung mitbegründet ist, soweit sich aus dem Verfassungsrecht selbst keine Einschränkungen ergeben. Volkssouveränität als verfassungsrechtliches Prinzip ist i n ihrer verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Effizienz abhängig von der A r t und Weise, i n welcher das V o l k insgesamt und jeder seiner Aktivbürger befähigt sind, Selbstbestimmimg und Mitbestimmung wahrzunehmen. I n dem Maße, i n dem „Besitz und Bildung" die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Mitbestimmung begründen, ist auch die Wirksamkeit des Prinzipes der Volkssouveränität von der Ausgestaltung der individuellen sozialen Lagen und der sozialen Schichtung der Gesellschaft insgesamt abhängig 46 . Die Möglichkeit, Interessen zu arti46 Erg. hierzü> Th. Ellwein, S. 109 m. w . N. Dieses Spannungsverhältnis bildet den Ausgang jeder marxistisch-leninistischen Staats- u n d Rechts-
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kulieren und insbesondere zu organisieren und i m Prozeß der politischen Willensbildung zur Geltung zu bringen, ist unterschiedlich und abhängig vom sozialen Status 47 . Entsprechend statusgebunden ist die Fähigkeit, vermittels der Organe, welche Staatsgewalt auszuüben kompetent sind, i n Ausübung von Volkssouveränität Rechtssetzung und -durchsetzung zu praktizieren, als Mandatsträger tätig zu sein 48 . Die politische Organisation sozialer Interessen kann statusbedingte Privilegierungen verstärken oder ausgleichen, der unterschiedliche Grad der Organisierbarkeit von Interessen und die unterschiedliche Effektivität solcher Organisationen kann die Möglichkeit und Fähigkeit zu individueller Mitbestimmimg der politischen Gesamtordnung beschränken. Dieser Widerspruch zwischen der Freiheit und der Gleichheit i n der politischen M i t w i r k u n g verweist auf den Zusammenhang zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität, dem Mehrheitsprinzp und dem Grundrechtsprinzip i n der Verfassungsordnung. 5.2 Mehrheitsprinzip Der Staat ist begründet i n der Volkssouveränität, die Staatsgewalt geht vom Volke aus und w i r d durch Organe ausgeübt. Die Einheit des Staates ist die Einheit seiner Verfassungsordnung und der Zusammenhang seiner Rechtsordnung. Der „Staat" ist deshalb nicht nur als ein kategoriales Schema, als ein bloßer Begriff zu verstehen, der geeignet ist für eine Analyse gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und -funktionen, sondern als manifest realisiert und konkretisiert, als ein System politischer Institutionen und Verfahren m i t zugehörigen Organträgern i n festgelegten Rollen, die auf eine koordinierte Effektivität der Funktionen dieses Systems „ i n sich" und auch gegenüber und i n der Gesellschaft konstruiert sind. „Staat" hat abstrakt — formal — und bietet konkret den Organträgern, besonders denen i n seinen obersten Instanzen — die Möglichkeit, bezogen auf einen begrenzten Raum und eine bestimmbare und bestimmte Menschenmenge oder Gütermenge zu allgemein verbindlichen Verhaltensordnungen 49 . Begründet ist dies formal theorie. Vgl. Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, B e r l i n 1975, S. 44. 47 Näher hierzu Th. Ellwein, S. 117, S. 469 m. w . N . ; Κ . Stern, S. 467 f.; a l l gemein J.-H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, B e r l i n 1956; H. J. Schröder, Gesetzgebimg u n d Verbände, B e r l i n 1976; Chr. Starck, Freiheit u n d Organisation, Tübingen 1976. 48 I n diesem Zusammenhang steht auch das Problem der finanziellen Sicherstellung der Abgeordneten, vgl. hierzu BVerfGE 40, 296 u. P. Häberle, Freiheit, Gleichheit u n d Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, i n : N J W 1976, S. 537 ff. m. w . N. 49 Grundlegend f ü r die neuere Diskussion M. Drath, A r t . Staat, i n : Evangel.
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i n der Herrschaftsgewalt seiner Organe gemäß der gültigen Staatsverfassung, d. h. i n seiner eigenen normierten Konstituion und i n dem Anspruch nach potentiell umfassender normativer Konstitutivität für das gesamte soziale Leben. Staat ist also zu verstehen als die Möglichkeit und Wirklichkeit, bezogen auf einen begrenzten Raum und eine bestimmbare und bestimmte Menschenmenge, der allgemein verbindlichen — durch die Herrschaftsgewalt der Staatsorgane — und der formal gültigen — durch die normative Konstitutivität des Staates — Verhaltensordnung. Die Staatsorganisation ist über formale Verfahrensregeln und institutionelle Ausprägungen gegenüber der Gesellschaft spezifisch ausdifferenziert. A u f den Staat sind Ordnungs- und Herrschaftsfunktionen übertragen, dies nicht allein aus Gründen eines sozialen Interessenausgleichs und einer Koordinationsbedürftigkeit der gesellschaftlichen Interaktionsprozesse, sondern weil die Einzelinteressen zu einer „Selbstregulierung" i n den Lebens- und Produktionsprozessen nicht i n der Lage sind 6 0 . Die Staatsgewalt w i r d vom Volk i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Die Gesetzgebung 5 1 ist i m Grundgesetz als repräsentativ-parlamentarisches Verfahren ausgestaltet. Verbindliche Rechtsetzung als Gesetzgebung kommt als Beschluß einer parlamentarischen Mehrheit zustande, sei es allein des Bundestages oder des Bundestages und des Bundesrates. Parlamentarische Mehrheiten können sich unmittelbar aus übereinstimmenden Entscheidungen einer Mehrheit von Abgeordneten ergeben, regelmäßig werden sie aber vermittels Parteien, der Bildung von Fraktionen und häufig auch durch eine Koalition zwischen Fraktionen organisiert 5 2 . Das Grundgesetz verlangt für die Gesetzgebungsbeschlüsse i m Bundestag i n keinem Falle Einstimmigkeit, i m allgemeinen genügt die Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1975, m. w . N.; ders., Rechts- u n d Staatslehre als Sozialwissenschaft, B e r l i n 1977. 50 Z u r Diskussion vgl. K . Grimmer, Z u r formalen u n d materialen L e g i t i mationsbedürftigkeit des bürgerlich-kapitalistischen Staates, i n : R. Ebbighausen (Hrsg.), Bürgerlicher Staat u n d politische Legitimation, F r a n k f u r t 1976, vgl. dort auch die weiteren Beiträge u n d Nachweise sowie J. K . Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, Ausg. München 1970, S. 159 ff.; Η. Η. υ. Arnim, Gemeinwohl u n d Gruppeninteressen, F r a n k f u r t / M . 1977, S. 48 ff. 51 Vgl. zur staatstheoretischen Grundlegung E.-W. Böckenförde, Gesetz u n d gesetzgebende Gewalt, B e r l i n 1958; W. Schick, Gesetz, Gesetzgebung, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 842 ff.; K. Hesse, S. 205 f. 52 Vgl. Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages v o m 22.5.1970, §§ 10 ff.; BVerfGE, i n : J Z 1972, S. 49 ff. 1
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Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 42 Abs. 2 GG). Eine qualifizierte Mehrheit ist i m Bundestag erforderlich, u m einen Einspruch des Bundesrates zurückzuweisen (Art. 77 Abs. 4 GG); eine Va-Mehrheit ist nach A r t . 79 Abs. 2 GG für verfassungsändernde Gesetzgebung notwendig, also für Beschlüsse, welche die verfassungsrechtliche Festlegung von Form und Inhalt, von A r t und Weise einer Ausübung der Volkssouveränität betreffen. Das Mehrheitsprinzip bedeutet, daß eine Mehrheit von Repräsentanten der Souveränitätsträger die konkrete staatliche Ordnung i m Rahmen der Verfassung bestimmen kann. Ausübung von Volkssouveränität als individueller A k t kann eine konkrete politische Ordnung nur i n einem repräsentativ-kollektiven A k t verbindlich setzen. Die i n diesem Kollektivakt dargestellte Mehrheit braucht aufgrund spezieller Wahlrechtsregelungen nicht die Mehrheit der Aktivbürger zu sein 53 . Das Mehrheitsprinzip ist nicht Begriffselement von Demokratie 5 4 , demokratische Verfahren können auch die Einstimmigkeit zur Grundlage haben. Es ist aber allgemein Bestandteil demokratisch-parlamentarischer Verfahren 5 5 . I n der Verfassungsgeschichte unterschiedlich begründet 5 6 ist es heute Bedingimg der politischen Handlungsfähigkeit eines Volkes als Staat und seine allgemeine Anerkennung durch die Souveränitätsträger ist Bedingung für den Staat als Wirkungseinheit eines 53 Eine solche Regelung ist unbedenklich, soweit n u r die Mehrheit der „ W ä h l e r " berücksichtigt w i r d , anders verhält es sich, w e n n aus organisationstechnischen Gründen (Sperrklauseln u. ä.) ein T e i l der Wählerstimmen unberücksichtigt bleibt, da hier Souveränitätsrechte gekappt werden, vgl. i m einzelnen H. Meyer, Wahlsystem u n d Verfassungsordnung, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 25 ff., S. 152 ff., S. 225 ff. m. w . N. 64 So auch R. Herzog, A r t . Mehrheitsprinzip, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 1547 ff. m. w . N.; anders teilweise Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 62: Z u m Demokratiebegriff gehört, „daß bei den staatsgestaltenden A k t e n die Mehrheit der w ä h l - u n d stimmberechtigten Bürger u n d die Mehrheit der gewählten Volksvertreter entscheidet, darin besteht die sogenannte H e r r schaft der Mehrheit". Vgl. auch BVerfGE 129 154 (165); einschränkend demgegenüber 17. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 35; ergänzend W. Leisner, Demokratie, B e r l i n 1979, S. 21 ff. 55 Der Demokratiebegriff selbst ist i m Grundgesetz nicht u n m i t t e l b a r definiert. Als verfassungsrechtliche Elemente des Demokratiebegriffes werden hier u n d i m folgenden insbesondere angesehen A r t . 20 Abs. 2, A r t . 21 Abs. 1, A r t . 38 Abs. 1, A r t . 42 Abs. 1 u. 2, A r t . 63, 67, A r t . 80 Abs. 1, A r t . 110 Abs. 2 u. 3. I n einem Zusammenhang m i t dem Demokratieprinzip stehen auch einige der Grundrechtsbestimmungen w i e A r t . 5 Abs. 1, A r t . 8, A r t . 9 Abs. 1 GG. Erg. W. ν . Simson, Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, i n : W d S t R L , Heft 29, B e r l i n 1971, S. 3 ff. (S. 7 ff., S. 12 ff.) m. w . N. 56 Z u r E n t w i c k l u n g u n d Rechtfertigung des Mehrheitsprinzipes g r u n d legend U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973 m. w . H., hierzu P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, i n : JZ 1977, S. 241 ff. m. w . H . ; vgl. auch R. Herzog, Sp. 1548 ff.; M. Kriele, Einführung i n die Staatslehre, S. 188 f.; F. Ermacora, 2. Tlbd., S. 683 ff. (S. 691 ff.); H. Krüger, S. 283 ff.
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Volkes, welchem der politisch-gesellschaftliche Gestaltungswille dem Inhalte nach nicht einheitlich, allgemein und gemeinsam ist 5 7 . Zwar sind die Verfahren politischer Ordnung oder Grundwerte 5 8 wie Gerechtigkeit und Freiheit i n ihrer Allgemeinheit vielfach konsensfähig; sie unterscheiden sich aber i n ihrer Umsetzung i n konkrete Berechtigungen und Verpflichtungen, soweit solche Grundanliegen nicht i n einem System von Grundentscheidungen ihren Ausdruck finden 5 9 . Konkrete politisch-gesellschaftliche Ausformung solcher Grundwerte selbst ist immer abhängig von der spezifischen sozialen Situation der einzelnen. Unterschiede i n der sozialen Lage bedingen Unterschiede i m Anspruch auf die konkrete Ausgestaltung einer politischen Ordnung auch bei gleichen Grundanliegen, Grundwerten. Das verfassungsrechtliche Mehrheitsprinzip impliziert so den Verzicht auf einen konkreten inhaltlichen Konsens, es setzt aber den Grundkonsens über die Verfassungsordnung, insbesondere über die Verfahren der Entscheidungsbildung voraus 60 und es legitimiert sich i n einer formalen Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG) 6 1 . Die Anerkennung des Mehrheitsprinzips gewährleistet also, daß ein Volk als demokratisch-parlamentarischer Staat handlungsfähig ist 6 2 ; es ist dabei prinzipiell ohne Bedeutung, welcher Grad von Mehrheit jeweils verfassungsmäßig ist. 5.2.1 Rechtsetzungsbefugnis, Organisations- und Informationsgewalt als Ausdrude des Mehrheitsprinzips
Grundtatsache für die Rechtsetzung i m frühkonstitutionellen Deutschland war — wie i n Teil I skizziert — „das sogenannte monarchische Prinzip, d.h. die selbständige Verordnungs- und Verfügungsgewalt der Krone, die nur insoweit beschränkt ist oder wegfällt, als es 57 Erg. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 57 f. Nach dem Grundgesetz ist das Parlament das höchste Staatsorgan; i h m k o m m t die „Organsouveränität" zu. Diese Organsouveränität darf aber nicht unabhängig von dem Verhältnis Staat u n d Gesellschaft gesehen werden. Vorherrschend ist heute noch die Lehre, welche von einer Trennung von Staat u n d Gesellschaft ausgeht, i h r gegenüber w i r d betont, daß i m Zeichen der modernen Demokratie u n d E n t w i c k l u n g zum Sozialstaat eine solche Trennung praktisch überholt u n d theoretisch nicht mehr zu rechtfertigen ist. 58 O. Kimminich, Die Grundwerte i m demokratischen Rechtsstaat, i n : Zeitschrift für P o l i t i k 1977, S. I f f . (S. 13 ff.); J. Isensee, Verfassungsgarantie ethischer Grundwerte u n d gesellschaftlicher Konsens, i n : N J W 1977, S. 545 ff.; Η . Η . v. Arnim, Gemeinwohl u n d Gruppeninteressen, F r a n k f u r t / M . 1977, S. 59 Erg. G. Weisser, Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Göttingen 1978, S. 99 ff.; ff. ff. v. Arnim, S. 48 ff. 60 Erg. U. Scheuner, S. 54 f.; P. Häberle, S. 243. 61 Vgl. auch U. Scheuner, S. 50; E. Stein, Staatsrecht, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 81 ff. 62 Vgl. K . Hesse, S. 57 f.
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die Verfassung oder die m i t ihr beginnende Rechtsentwicklung m i t sich bringen" 6 3 . Die parlamentarische Rechtsetzungsbefugnis entwickelte sich i n England aus der Steuer- und Budgetbewilligung und m i t der damit verbundenen institutionellen Verselbständigung hoheitlicher Gewalt. I n der deutschen Verfassungsentwicklung blieb Gesetzgebung i m Sinne „parlamentarischer Zustimmung" zu staatlichen Hoheitsakten beschränkt auf Eingriffe i n Freiheit und Eigentum. Verfassungsrechtlich fand diese Entwicklung ihren Ausdruck i n der Ausbildung des Gesetzesvorbehaltes für bestimmte staatliche Maßnahmen 64 . Das Bürgertum erhielt ein Mitbestimmungsrecht bei solchen Hoheitsakten, welche es i n seinen unmittelbar m i t Freiheit und Eigentum verbundenen Interessen betraf. Der Umfang parlamentarischer Rechtsetzungsbefugnisse und der Umfang des Gesetzesvorbehaltes waren lange Zeit strittig, die Lehre vom materiellen und formellen Gesetzesbegriff 65 sowie vom allgemeinen und besonderen Gewaltverhältnis 6 6 sind Ausdruck dafür. Gleichlaufend m i t der Ausgestaltung „parlamentarischer M i t w i r kungsrechte" gewannen die Gewährung aktiver und passiver Wahlrechte und die Abstimmungsmodi ständischer oder parlamentarischer Vertretungen an Bedeutung. Über das Wahlrecht und über die Abstimmungsmodi wurde entschieden, welche Interessen i n ständischen oder parlamentarischen Vertretungen repräsentiert sind, welche Interessen i n der Ausnutzung der Gesetzgebung zum Inhalt konkreter staatlicher Ordnung werden. Das Grundgesetz gewährleistet einerseits das allgemeine und formal gleiche Wahlrecht, es bringt andererseits den verspäteten Prozeß der Konstitutionalisierung politischer Gewalten zum Abschluß, i n dem Verfassung und Gesetz Inhalt und Umfang staatlicher Herrschaftsmacht bestimmen und Rechtsetzungen durch die Exekutive nur i m Rahmen konkreter gesetzlicher Ermächtigung zulässig sind, soweit solche Rechtsetzungen den Bürger unmittelbar berechtigen oder verpflichten (Art. 63 R. Thoma, Vorbehalt des Gesetzes i m preußischen Verfassungsrecht, i n : Festgabe für Otto Mayer, Tübingen 1916, S. 215. 64 Vgl. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Leipzig 1924, Bd. I , S. 68 ff. m. w . N. 65 P. Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preußischen Verfassungsurkunde unter besonderer Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes, i n : Zeitschrift f ü r Gesetzgebung u n d Rechtspflege i n Preußen, 4, 1870, S. 637; zur heutigen Rechtslage Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, Baden-Baden 1970; R. Mussgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, Göttingen 1976. Z u r Theorie des Verfassungsstaates vgl. insbes. ff. Heller, Der Begriff des Gesetzes, i n : Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 209 f., 226, 235; vgl. i m übrigen T e i l I. ββ Dazu C. H. Ule, Gewaltverhältnis, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 862; zur Obsoletheit „besonderer Gewaltverhältnisse" BVerfGE 33, 711; erg. N. Kiepe, Entwicklungen beim besonderen Gewaltverhältnis u n d beim V o r behalt des Gesetzes, i n : D Ö V 1979, S. 399 ff.
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80, A r t . 19 Abs. 1 und 4, A r t . 20 Abs. 2 GG). Es genügt nicht, daß der Gesetzgeber bei der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Exekutive nur eine allgemeine Ermächtigung ausspricht. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung müssen i m Gesetz ausdrücklich bestimmt sein. Damit werden der politische Vorrang des Gesetzes und also die Vorherrschaft der gewählten Volkslegislative gesichert. Dies bedeutet aber nicht, daß die Verwaltung nur i n Ausführung konkreter gesetzlicher Ermächtigungen tätig werden kann. Eine ständige A u f gabenerweiterung bei der Verwaltung, neben Gesetzesausführung i m Ordnungs- und Leistungsbereich treten Planungs- und Steuerungsaufgaben und die Erarbeitung von Gesetzesentwürfen, machen es der Legislative, dem einzelnen Abgeordneten immer schwerer, i m und m i t dem Gesetzgebungsverfahren die überragende Rolle i n der Gestaltung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung zu spielen. Konkrete Rechtsetzung w i r d zunehmend aus dem Parlament i n die Verordnungstätigkeit von Regierung und Verwaltung verlagert. Der verfassungsrechtliche und politische Sinn der Volkssouveränität w i r d verfälscht, wenn nicht alle wichtigen politischen Regulationsakte, nicht nur i n der j u ristischen Form des Gesetzes, der Maßgabe und Kontrolle durch das Parlament unterliegen. Gestaltungsobjekte für die Gesetzgebung sind die politische Ordnung, soweit sie nach dem Grundgesetz zur Disposition des Parlaments steht und die Ressourcen, soweit sie durch das Parlament verteilbar sind. Bezogen auf den Bundestag werden der Gegenstandsbereich seiner Gestaltungsmöglichkeiten als Institution repräsentativ organisierter Volkssouveränität zur Ausübung der gesetzgebenden Gewalt durch die Kompetenzbestimmungen insbesondere der A r t . 70 ff. GG, hinsichtlich der finanziellen Ressourcen durch A r t . 104 a ff. GG bestimmt. Insgesamt ist die Gesetzgebimg an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) gebunden, die Bindungskraft der Grundrechte ist ausdrücklich i n A r t . 1 Abs. 3 GG deklariert 6 7 . Der allgemeine Inhalt von Gesetzen ist, Ziele und M i t t e l menschlichen Verhaltens zu normieren. Dies bedeutet aufgrund des Mehrheitsprinzipes, daß jene Staatsbürger und sie repäsentierende Organisationen und Vereinigungen, insbesondere jene politischen Parteien und die ihnen entsprechenden Fraktionen, welche jeweils eine parlamentarische Mehrheit haben, das Recht und die Möglichkeit besitzen zur „Verbindlichkeitssetzung" solcher Verhaltensweisen, welche ihren A n liegen, Interessen und Bedürfnissen i m Rahmen der verfassungsmäßi67 Vgl. erg. U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, insbes. S. 40 ff. m. w. H.; E. Stein, S. 81 ff.; E. Denninger, Staatsrecht 2, S. 13 ff., S. 19 ff. — Z u m Vorgang u n d zur Notwendigkeit parlamentarischer Rechtsetzung vgl. B V e r f G i n J Z 1979, S. 78 ff.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
gen Ordnung entsprechen. Daran ändert faktisch nichts, daß die A b geordneten des Bundestages nach A r t . 38 Abs. 1 GG Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind. Entsprechend den Verfahren ihrer Nominierung und Wahl sind sie auch immer Vertreter eines expliziten oder impliziten politischen Programms, welches einen Ausschnitt der möglichen politischen Interessen und Handlungserwartungen darstellt. Parlamentarische Mehrheit bedeutet i n einem parlamentarischen Regierungssystem mehr als nur die Möglichkeit zu verbindlicher Gesetzgebung 68 . Sie beinhaltet die Berechtigung zur Wahl des Bundeskanzlers und damit zur Stellung der Bundesregierung 69 . Sie umfaßt auch die Bestimmungs- und Verfügungsmacht über den Staatsapparat i m Rahmen der Verfassungs- und Rechtsordnung. Bedeutsam sind i n diesem Zusammenhang die Informationsgewalt und die Organisationsgewalt. Organisationsgewalt 70 meint die Kompetenz zur organisatorischen Ausgestaltung staatlicher Einrichtungen, insbesondere i m M i nisterial» und Exekutivbereich, soweit sie nicht aus haushaltsrechtlichen oder anderen Gründen dem Gesetzesvorbehalt unterliegt und soweit sie nicht verfassungsrechtlich selbständig gewährleistet ist. I n diesem Zusammenhang sind auch die Befehlsgewalt über die Streitkräfte und den Bundesgrenzschutz sowie Kompetenzen i m Notstandsfall zu nennen 71 . Informationsgewalt 7 2 meint die Verfügungsmöglichkeit 68 Z u m Überblick vgl. W. Schick, A r t . Gesetz, Gesetzgebung, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 482 f. m. w . Ν . ; K. Stern, S. 504 ff. m. w. N.; — Umfang u n d I n h a l t der Grundrechtsbindung sind i n Abschn. 5.3 zu untersuchen, auf die verfahrensmäßigen Bindungen ist i m folgenden einzugehen, soweit diese i m hier zu analysierenden Zusammenhang von Bedeutung sind. 69 Z u S t r u k t u r u n d Stellung der Regierung i n einem parlamentarischen Regierungssystem vgl. erg. die Beiträge i n Th. Stammen (Hrsg.), S t r u k t u r wandel der modernen Regierung, Darmstadt 1967; zur Rechtsprechung des B V e r f G vgl. R. Rauschnig, Das parlamentarische Regierungssystem i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. 2, S. 214 ff. — Z u erwähnen ist i n diesem Zusammenhang auch das Recht des Bundestages, sich eine Geschäftsordnung zu geben, eine Mehrheit des Bundestages k a n n so die Gestaltungs- u n d Mitwirkungsmöglichkeiten einer Minderheit beeinträchtigen (z.B. Fraktionsstatus), i. Ε. ff. Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, München 1977; BVerfGE 10, 13 ff.; 44, 314 ff.; vgl. auch W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl., B e r l i n 1970, S. 25. 70 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt i m Bereich der Regierung, B e r l i n 1964; H. J. Wolff / Ο. Bachof, Verwaltungsrecht I I , 4. Aufl., München 1976, S. 127 ff. m. w. N.; F. Mayer, A r t . Organisationsgewalt, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 1693 ff.; E. Stein, S. 26 f. 71 Hierzu K. Hesse, S. 284 ff.; E. Stein, S. 52 f., S. 74 ff. 72 Z u r Problematik der Informationsgewalt u n d der Informationssysteme vgl. K. Grimmer, Probleme der Institutionalisierung von Informationszentren i n der öffentlichen Verwaltung, i n : ÖDV 1974, S. 61 ff.; ders., Probleme des Informationsverbundes i m öffentlichen u n d privaten Bereich, i n : W.
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über institutionelle M i t t e l der Informationsbeschaffung (Informationen aus der Verwaltung, Polizei, von Geheimdiensten, Informationen der Auslandsvertretungen, systematische Auswertung von publizierten I n formationen und Meinungen, Einrichtung von Informationssystemen und die Möglichkeit der Informationsvergabe und -Vermittlung). Das Potential der Informationsgewinnung, -Verarbeitung und -Verbreitung kann zur Darstellung und Rechtfertigung eigenen Handelns dienen, Regierungsentscheidungen können als i m sogenannten allgemeinen oder öffentlichen Interesse gebotene oder allein mögliche, notwendige Entscheidungen „vermittelt" werden. Der Erfüllung dieser Aufgaben dienen besondere Presse- und Informationsämter 7 3 . A u f diese Weise hat eine Mehrheit als Regierungsmehrheit stets besondere Chancen zur Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung 7 4 . 5.2.2 Begrenzungen der Mehrheitsgewalt durch formale Organisations- und Verfahrensregelungen
Formale Strukturprinzipien und Verfahrensregelungen des Grundgesetzes beinhalten eine Beschränkung des Mehrheitsprinzipes und damit mittelbar oder unmittelbar eine Gewährleistung der Volkssouveränität. 5.2.2.1 Befristung
und Rückbindung
Die Kompetenzen zur Ausübung von Herrschaftsgewalt aufgrund des Mehrheitsprinzipes sind befristet. Der Bundestag beispielsweise w i r d gemäß A r t . 39 Abs. 1 GG für jeweils 4 Jahre gewählt. A l l e 4 Jahre b i l det das Volk das Gesetzgebungsorgan neu, es entscheidet neu darüber, welche Abgeordneten — und also welche politischen Parteien — die Kompetenz zur Gesetzgebung und zur Bildung der Bundesregierung ausüben können 7 5 . Auch ohne ein Votum des Souveränitätsträgers, des Volkes, kann der Bundestag einem Bundeskanzler das Mißtrauen aussprechen und einen neuen Bundeskanzler wählen. Der Zusammenhang Steinmüller (Hrsg.), Informationsrecht u n d Informationspolitik, München u. Allgemeine Wien 1976, S. 66 ff., dort auch w . H.; allgemein F. Ermacora, Staatslehre, 2. Tlbd., S. 602 ff. 73 Z u m Problem H. Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, Tübingen 1977; W. Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung i m Rechtsstaat, B e r l i n 1966; BVerfGE 20, 100. 74 Z u den Grenzen parteipolitisch-werbender Tätigkeit einer Bundesregierung vor allgemeinen Wahlen vgl. BVerfGE 44, 147 ff. u. P. Häberle, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- u n d Bürgerdemokratie, i n : J Z 1977, S. 361 ff. m. w . H. 75 Jeder Bundestag beginnt seine A r b e i t neu, es findet keine schlichte Fortsetzung der Parlamentsarbeit statt, hierzu J. Jekewitz, Der Grundsatz der Diskontinuität der Parlamentsarbeit i m Staatsrecht der Neuzeit u n d seine Bedeutung unter der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes, B e r l i n 1977.
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zwischen den Interessen der parlamentarischen Mehrheit und der Polit i k der Bundesregierung bleibt so gewahrt. Eine Befristung enthalten auch die Bestimmungen über das Haushaltsrecht. Die Haushaltsbewilligung erfolgt i m Gesetzgebungsverfahren. Der Haushalt w i r d für ein oder mehrere Jahre bewilligt, aber auch bei mehrjähriger Bewilligung erfolgt diese jeweils jahresbezogen (Art. 110 GG) 7 6 . Der Regelfall ist jedoch die jährliche Haushaltsbewilligung. Befristung i n der Verfügungsmöglichkeit über die finanziellen Ressourcen erfordert stets eine Abstimmung einnähme- oder ausgabebezogener Regierungsmaßnahmen m i t der parlamentarischen Mehrheit. 5.2.2.2 Organisation der Herrschaftsgewalt in unterschiedlichen Kompetenzträgern Eine Einschränkung des Mehrheitsprinzipes bedeuten auch die Gewährleistung der föderalen Staatsstruktur (Art. 79 Abs. 3 GG) und die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern (Art. 70 ff. GG) 7 7 sowie die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) 7 8 . Durch diese Partikularisierung der Staatsgewalt erreichen regional unterschiedliche politische Mehrheiten politisch und gesetzgeberisch Einfluß. Das Schwergewicht der Länderkompetenz liegt neben der Kompetenz zur Organisation ihres Eigenbereiches i m Kommunalwesen, i n der Polizei- und Ordnungsverwaltung und i m kulturellen Bereich, insbesondere i m Schulwesen 79 . Es sind dies Sozialbereiche, deren Ausgestaltung für den Status des Bürgers und die A r t und Weise seiner politischen M i t w i r k u n g von hoher Bedeutung sind. I n einigen Bereichen können die Länder auch ergänzend zum Bund (Art. 75 GG Rahmengesetzgebung des Bundes) oder anstelle des Bundes tätig werden, wenn 76 Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 7 ff. zu A r t . 110 GG; BVerfGE, i n : JZ 1977, S. 676 ff. 77 Erg. K . Stern, S. 572 ff., K. Hesse, A r t . Bundesrat, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 211 f. u. ders., A r t . Bundesstaat, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 214ff.; E. Stein, S. 268 ff. m i t bes. Betonung des Integrationseffektes; W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 57 ff. — Ausdruck überholter Strukturvorstellungen ist es, w e n n i m Zusammenhang m i t den Bundesländern v o n einer „Eigenstaatlichkeit" gesprochen w i r d , vgl. insges. F. Schäfer, Bundesstaatliche Ordnung als p o l i tisches Prinzip, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, B. 17/75, S. 3 ff. (S. 9 ff.); zur Rechtsprechung des B V e r f G vgl. W. Rudolf, Die Bundesstaatlichkeit i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. 2, S. 233 ff. 78 Näher hierzu K . Stern, S. 304 ff. ; J. Burmeister, Verfassungstheoretische Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, München 1977; P. Kevenhörster (Hrsg.), Lokale P o l i t i k u n d exekutive Führerschaft, Meisenheim/Glan 1977; BVerfGE, i n : JZ 1978, 144+. 79 Näher hierzu K . Stern, S. 505 ff.
5.2 Mehrheitsprinzip
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dieser von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht hat (Art. 74 GG konkurrierende Gesetzgebung). Das Schwergewicht der gesetzgeberischen Tätigkeiten liegt aber beim Bund 8 0 . Der Bund hat auch spezifische Einwirkungsmöglichkeiten auf die Länder wie die Bundesaufsicht (Art. 84 Abs. 3 u. 4, 85 Abs. 3, 108 Abs. 3 GG), den Bundeszwang (Art. 37 GG) und die Bundesintervention (Art. 35, 91, 87 a Abs. 4 GG). Insgesamt sind die Länder zu einem Mindestmaß an verfassungsrechtlicher Homogenität untereinander und m i t dem Bund verpflichtet (Art. 28 Abs. 1 GG). Die Selbständigkeit länderbezogener politischer Willensbildung und Handlungsfähigkeit w i r d auch durch die Verteilung des Steueraufkommens gewährleistet, indem den Ländern ein Teil des Steueraufkommens unmittelbar zufließt (Art. 106, 107 GG). Eine Beschränkung des Mehrheitsprinzips bezogen auf den Bund ergibt sich auch aus der Zustimmungsbedürftigkeit (Art 84 Abs. 1 u. 5, 85 Abs. 1, 87 Abs. 3, 106 Abs. 3 - 6 u. a. GG) von Gesetzgebungsvorhaben des Bundes durch den Bundesrat oder durch das regelmäßige Einspruchsrecht des Bundesrates gegenüber Gesetzgebungsbeschlüssen des Bundestages, soweit keine Zustimmungsbedürftigkeit gegeben ist (Art. 78 GG). Selbst wenn die durch die Länderregierungen und ihre Vertretungen i m Bundesrat repräsentierten parlamentarischen Mehrheiten i n ihrer parteipolitischen Ausrichtung der parteipolitischen Ausrichtung der Mehrheit des Bundestages entsprechen, bedeutet die verfassungsrechtliche Differenzierung zwischen Bundes- und Landesaufgaben, daß die i n den Gesetzgebungsgang eingebrachten Interessen unterschiedliche praktische Bezugszusammenhänge haben, ihnen eine unterschiedliche Aufmerksamkeit für die Folgen gesetzgeberischen Handelns eigen sind. Die Gesetzesausführung ist für den Bereich des Bundesrechtes — und dieses bestimmt wesentlich mittelbar oder unmittelbar die politischgesellschaftliche Wirklichkeit — dem Prinzip nach einer anderen Ebene, nämlich den Ländern und Gemeinden (Art. 83 ff. GG), zugeordnet 81 . I m Hegelfall führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, sie regeln selbständig die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren (Art. 83, 84 Abs. 1 GG). Der Bund hat i n diesen Fällen und wenn die Länder Bundesgesetze i m Auftrage des Bundes ausführen (Art. 85 Abs. 1 GG) nur ein beschränktes Eingriffsund Durchgriffsrecht. Ähnlich wie bei der M i t w i r k u n g des Bundesrates i m Gesetzgebungsverfahren ergibt sich so eine Beschränkung des Mehr80
Näher hierzu K . Stern, S. 509 ff. Z u r Rechtsprechung des B V e r f G zur A u f t e i l u n g der Verwaltungskompetenzen vgl. H. H. Klein, Verwaltungskompetenzen von B u n d u n d Ländern, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Bd. 2, S. 277 ff. 81
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
heitsprinzips: Die selbständige Konstitution der Länder bringt i n die gesetzlichen Ausführungen und i n die Verwaltungspraxis länderspezifische Elemente ein, die Durchgriffskompetenz des Bundes, der die Bundesgewalt bestimmenden Mehrheiten ist formalisiert und partikularisiert. Die Trennung zwischen der Ebene der Gesetzgebung und der Ebene der Gesetzesausführung liegt auf der Linie der Verrechtlichung, Differenzierung und Institutionalisierung gesellschaftsgestalterischer politischer Praxis. Sie birgt die Gefahr i n sich, daß das Prinzip der Volkssouveränität reduziert w i r d auf ein formalisiertes Gesetzgebungsverfahren, und daß i n die Gesetzesausführung das Selbstverständnis der Beamtenschaft (Art. 33 Abs. 4 u. 5 GG), ihr spezifisches Staatsverständnis sowie ihre Interessenorientierungen eingehen und damit die Selektivität rechtlich normierter politischer Prozesse verstärkt wird. Die Rückbindung von Exekutive und Legislative an das Volk kann nur erfolgen durch eine bewußte Anerkennung des Vorranges der Verfassungsordnung und der Anerkennung ihrer Legitimationskraft für unterschiedliche gesellschaftlich-politische Anliegen, Interessen und Bedürfnisse, durch die Gewährleistung der Öffentlichkeit von Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren. Volkssouveränität ist deshalb Offenheit und eine kritische Öffentlichkeit eigen, welche Exekutive und rechtsprechende Gewalt i n einen allgemeinen und öffentlichen Diskurs einbezieht. Die Allgemeinheit von Öffentlichkeit politischer Meinungsund Willensbildungsprozesse w i r d gerade auch durch das Grundrechtsprinzip gewährleistet. Die Organe der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung sind verfassungsmäßig selbständig konstituiert (Art. 20 Abs. 2 u. 3 GG). Sie sind an Gesetz und Recht gebunden. I n der Bindung an das Gesetz w i r d die praktische Wirksamkeit des Mehrheitsprinzips garantiert. I n ihrer verfassungsrechtlich selbständigen Konstitution und unmittelbaren Bindung an das Recht sind sie nicht nur ausführende Organe jeweiliger politischer Mehrheiten, sondern sie sind auch unmittelbar verfassungsrechtlich legitimierte Organe des souveränen Volkes, des Trägers der Staatsgewalt zur Ausübung der Staatsgewalt und zur Realisierung der Verfassungsordnung. Dies ergibt sich nicht nur aus A r t . 20 Abs. 3 GG, sondern auch aus A r t . 1 Abs. 3 GG, der Bindung jeglicher staatlicher Organe an die Grundrechte. Die Legitimation dieser Organe ist i n der Regel nicht personal, nicht durch Wahl oder Auftrag vom Volk u n m i t telbar vermittelt, sondern ist organ- und sachgebunden, vermittelt durch das Recht (hinsichtlich der andersartigen Regelung beim Bundesverfassungsgericht A r t . 94 Abs. 1 S. 2, für die Richter an den Bundesgerichten A r t . 95 Abs. 2 GG). Insoweit das V o l k selbst rechtsbildend — tatsächlich oder i n der verfassungsrechtlichen Fiktion — tätig wird, wie i n der ursprünglichen
5.2 Mehrheitsprinzip
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Verfassungsgebung, sind vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an diese Rechtsetzungsakte unmittelbar gebunden, insoweit Rechtsbildung durch das Organ der Gesetzgebung erfolgt, sind vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Rechtsetzung dieses Organs, also an die rechtlichen Gestaltungsakte der jeweiligen Mehrheit gebunden, den Gesetzgebungsorganen nachgeordnet. Vorrang hat die Bindung an die Verfassungsordnung, an die allgemeine Konstitutionsbasis staatlicher Organgewalt, welche auch für die Organe der Gesetzgebung gilt (Art. 20 Abs. 3, A r t . 1 Abs. 3 GG) 8 2 . Soweit die Verfassung für den Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum enthält — und das ist der Regelfall — ist es die Kompetenz der Gesetzgebungsorgane und also der parlamentarischen Mehrheiten, solche Gestaltungen allgemein und verbindlich vorzunehmen. 5.2.2.3 Überprüfbarkeit
von Herrschaftsakten
Die Herrschaftsgewalt, welche eine — parlamentarische — Mehrheit kraft Verfassungsrecht auszuüben berechtigt ist, ist nicht nur i n der Rechtsetzung und Rechtsanwendung organisatorisch differenziert und partikularisiert, sie unterliegt auch i n ihren Manifestationsprozessen der Kontrolle und der Nachprüfbarkeit. Der Bundestag verhandelt i n der Regel öffentlich (Art. 42 Abs. 1 GG). Auch wenn die eigentlichen Willensbildungsprozesse i n nichtöffentlichen Ausschußsitzungen und ihre Vorbereitung i n nichtöffentlichen Fraktionssitzungen stattfinden, gewährleistet die Öffentlichkeit der Bundestagssitzungen, daß gesetzgeberische und andere politische W i l lensbildungsprozesse ihrem Gegenstand und ihren Interessen nach I n halt einer allgemeinen und öffentlichen politischen Diskussion werden können. Die Verkündungspflicht für Gesetze und Rechtsverordnungen (Art. 82 GG) 8 3 sichert die Transparenz staatlicher Ordnungsmaßnahmen ab 8 4 .
82 Vgl. K. Hesse, S. 7 9 f f . m . w . N . ; E. Forsthoff, Rechtsstaat i m Wandel, Stuttgart 1964, S. 176 ff.; H.-J. Wolff / Ο. Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., München 1974, S. 67 ff., S. 96 ff. m. w. H. ; R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, F r a n k f u r t 1971, S. 238 ff. Z u m Beispiel des Bundessozialgerichts G. Wannagat, Das Grundgesetz u n d die Sozialgerichtsbarkeit, i n : Bundesarbeitsblatt 1974, S. 261 ff. m. w . N. Kritisch zur Richtermacht beispielsweise W. Weber, S. 84 ff., S. 143 ff. 83 M. Drath, Der Verfassungsrang der Bestimmung über die Gesetzesblätter, i n : Gedächtnisschrift f. W. Jellinek, München 1955, S. 237 ff. 84 Vgl. Leo Kißler, Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages, B e r l i n 1976; erg. bei H. Brinckmann / K . Grimmer, Rechtsfragen der Weiterbildung, der Information u n d der Bildungsstatistik, i n : Deutscher Bildungsrat, Gutachten u n d Studien der Bildungskommission, Bd. 33, Stuttgart 1974, S. 67 ff. (S. 91 ff.) m. w . H.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Parlamentarische Minderheiten, die Opposition haben eigene Kontrollrechte 8 5 . Dem Anliegen einer Verallgemeinerung der politischen Diskussion dienen verschiedene Formen von Anfragen und Auskunftspflichten, welche allerdings nur i n der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt sind (§§ 105 ff., 115, 116). Solche Antwortpflichten der Regierung werden ergänzt durch verschiedene — ebenfalls nur gesetzlich geregelte — Berichtspflichten der Regierung, beispielsweise zur Finanzplanung, zur wirtschaftlichen Entwicklung, zum Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten u. a. Verfassungsrechtlich statuiert ist nur die Pflicht des Bundesministers der Finanzen zur Rechnungslegung über Einnahmen und Ausgaben sowie über Vermögen und Schulden (Art. 114 Abs. 1 GG). Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages hat das Recht, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu verlangen (Art. 44 GG). Untersuchungsausschüsse sind ein Instrument zur Kontrolle, i n ihrer Arbeit sind sie aber i m wesentlichen dem politischen Willen der parlamentarischen Mehrheit ausgeliefert, da alle Entscheidungen der Untersuchungsausschüsse m i t einfacher Mehrheit gefällt werden, dies gilt auch für den Ausschluß der Öffentlichkeit oder für eine Beschränkung von Beweiserhebungen. Institutionell verselbständigt ist die Finanzkontrolle durch die Rechnungshöfe hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung durch die Bundesregierung. Die Berichte sind dem Bundestag und dem Bundesrat unmittelbar vorzulegen (Art. 114 Abs. 2 GG). Als Hilfsorgan des Bundestages bei der parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr fungiert schließlich der Wehrbeauftragte (Art. 45 b GG). A l l diese Informations- und Kontrollmöglichkeiten bewirken lediglich eine erhöhte Transparenz der politischen Aktivitäten der von der parlamentarischen Mehrheit getragenen Regierung, sie ermöglichen eine öffentliche Beteiligung an politischen Diskussionen. Für rechtlich verbindliche Maßnahmen liegt die Entscheidungsgewalt bei der Mehrheit des Bundestages, solche Informations- und Kontrollformen können also rechtlich folgenlos sein 86 . Rechtliche Folgen i m Sinne eines Votums über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit individueller staatlicher Maßnahmen besitzt nur die Kontrolle durch die Gerichte, sei es durch das Bundesverfassungsgericht 85
I. E. vgl. E. Stein, S. 22 ff. Vgl. auch N. Achterberg, Parlamentarische Kontrollrechte, i n : DÖV 1977, S. 548 ff. F. Rotter, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse u n d Öffentlichkeit, i n : PVS 1979, S. 111 ff. B. Lutterbeck, Parlament u n d I n f o r mation; Wien 1977. — Z u r beschränkten Wirksamkeit der K o n t r o l l e durch die Rechnungshöfe vgl. H. H. v. Arnim, S. 369 ff. 86
5.2 Mehrheitsprinzip
207
oder die ordentlichen Gerichte, insbesondere die Verwaltungs-, Finanzund Sozialgerichte. Die Garantie richterlicher Unabhängigkeit und ihre Gesetzesbindung (Art. 97 GG), was die Rechtsbindung i m erörterten Sinne einschließt, hat die Funktion, die Herrschaftsgewalt, welche das Mehrheitsprinzip verleiht, formal zu binden und zu kontrollieren, weshalb auch jedem, welcher durch die öffentliche Gewalt i n seinen Rechten verletzt ist, der Rechtsweg offensteht (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG) und das Recht der Verfassungsbeschwerde zusteht (Art. 93 Ziff. 4 a GG). Diese Garantie gerichtlicher Nachprüfbarkeit von Maßnahmen der Staatsorgane gilt auch — vereinfacht — bei Streitigkeiten zwischen verschiedenen Staatsorganen und ihren Mitgliedern über die jeweiligen Rechte und Pflichten (zur Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichtes A r t . 93 GG) 8 7 . Eine unmittelbare Rückbindung der Staatsorgane m i t legislativer, exekutiver und judizieller Kompetenz an den Träger der Staatsgewalt, das Volk ist nur für Gesetzgebungs- und Selbstverwaltungsorgane i n Wahlen gegeben. Dies beinhaltet die bereits angesprochene partielle institutionelle Verselbständigung staatlicher Organe. Die Einheit des Staates ergibt sich nicht aus der gemeinsamen Willensbekundung des Volkes i n der Bestimmung von Vertretern für die legislatorische, exekutive und judikative Gewalt, sondern die Einheit des Staates ist der normative Ordnungszusammenhang, vermittelt durch das Recht. Gesetzesrecht w i r d von Vertretern des Volkes gesetzt, es w i r d von Staatsorganen für das Volk und auch gegen das V o l k i n Praxis umgesetzt. Hierin und i n der Verrechtlichung sozialer Prozesse ist das Dilemma des Rechtsstaates begründet, seine rechtliche Stärke ist seine politische Schwäche. Die verfassungsrechtliche Konstitution verschiedener Staatsorgane und die formale Bindung der Mehrheitsgewalt durch Befristung und gerichtliche Überprüfbarkeit von Herrschaftsakten beinhaltet eine A b stützung der Volkssouveränität als allgemeinen und gleichen Anspruch auf Mitbestimmung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung. Diese formalen Strukturprinzipien garantieren aber nicht die Volkssouveränität als materiales Recht, sie erhöhen nur die Transparenz und Diskussionsfähigkeit von Herrschaftsakten und eröffnen unterschiedliche Formen der Beteiligung an der Praxisgestaltung 88 . 87 E. Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik Deutschland, i n : H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gegenwart, Tübingen 1962; J. Ipsen, Richterrecht u n d Verfassung, B e r l i n 1975; K. Doehring, Staatsrecht, F r a n k f u r t / M . 1976, S. 219 ff. — Der Rechtsprechung des B V e r f G k o m m t weniger eine „Richtigkeitskontrolle" (so H. H. v. Arnim, S. 212 ff.), sondern mehr eine Gültigkeitskontrolle zu, sie hat aber auch i n ihrem eigenen Gestaltungsbereich eine „Repräsentationsfunktion". 88 Es erscheint deshalb auch irreführend, von einer „Gewaltenteilung" zu sprechen. Die formalen Beschränkungen der Mehrheitsgewalt heben diese als
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie 5.2.3 Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität und dem Mehrheitsprinzip
Die Fähigkeit zur politischen Mitbestimmung — soweit politische Mitbestimmung mehr ist als nur formale Ausübung des Wahlrechtes — ist abhängig von der Befähigung, eigene Interessen zu erkennen und wahrzunehmen, die Interessen anderer und die Formen ihrer politischen Umsetzung zu verstehen, Informationen zu beschaffen, aufzunehmen und zu verarbeiten, i n Handlung umzusetzen, sei es für sich, sei es i n der Form einer Organisation. Fähigkeiten, welche i m gegebenen Gesellschaftssystem abhängig sind von der Ausstattung m i t „Bildung" und „Besitz", Fähigkeiten, welche ihren Ausdruck i m sozioökonomischen und soziokulturellen Status finden. Die ökonomische und kulturelle Lage des einzelnen Aktivbürgers oder von sozialen Gruppen, die Organisationsfähigkeit und Organisationsform von Interessen und Bedürfnissen bedingen m i t die Möglichkeit, Anliegen und Meinungen politisch-öffentlich darzustellen, Organisationen zur Informationsverarbeitung und -Verbreitung zu schaffen, für politische Meinungen zu werben, i n der Öffentlichkeit und bei Wahlen Meinungs- und Willensbildungsprozesse zu beeinflussen, mehrheitsbildend zu wirken 8 9 . Privilegierung i n der Ausstattung m i t ökonomischen und kulturellen Handlungsmitteln ist i m Prozeß politischer Meinungsbildung und Willensdurchsetzung teilweise substituierbar durch solidarische Organisation. Hierin liegt beispielsweise die Bedeutung der Gewerkschaften begründet 9 0 . jeweils maßgeblichen politischen W i l l e n nicht auf. Vgl. M. Drath, Die Gewaltenteilung i m heutigen deutschen Staatsrecht (1952), wieder abgedr. i n : H. Rausch (Hrsg.), Z u r heutigen Problematik der Gewaltentrennung, D a r m stadt 1969, S. 21 ff.; M. Imboden, Gewaltentrennung als Grundproblem u n serer Zeit (1965), wieder abgedr. i n : H. Rausch (Hrsg.), S. 487 ff.; vgl. auch die übrigen Beiträge i n dem Sammelband von H. Rausch u n d die dortigen w . N.; F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1970, 2. Tlbd., S. 610 ff.; R. Herzog, S. 228 ff.; zu einigen Aspekten der gegenwärtigen Diskussion vgl. K. Hesse, S. 194 ff.; W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, S. 24, S. 152 ff.; N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, B e r l i n 1970; H. D. Jarras, P o l i t i k u n d Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, München 1975; W.-R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue, B e r l i n 1977. 89 M i t t e l zur Meinungsbeeinflussung sind insbesondere die Presse oder besondere Institute zur Informationssammlung, -Verarbeitung u n d »Verteil u n g w i e sie beispielsweise von den Arbeitgeberverbänden u n d Gewerkschaften unterhalten werden m i t dem Auftrag, Interessen u n d Meinungen i n den Prozeß der Willensbildung bei der Regierung oder i n den Prozeß öffentlicher Meinungsbildung einzubringen. Vgl. insges. hierzu Th. Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 118 ff. m. w . N. 90 Die Ausstattung m i t „Besitz" u n d „ B i l d u n g " bedeutet keine schlichte Determination politischer Mitbestimmung, dies schon deshalb nicht, w e i l eine allgemeine Artikulationsmöglichkeit i n formal gleichen Wahlen gegeben ist. Vgl. auch P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, S. 242.
5.2 Mehrheitsprinzip
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Parlamentarische Mehrheit, welche durch Wahlen vermittelt wird, ist also i n der Hegel nicht Repräsentation der Vielfalt konkreter individueller Interessen und Anliegen 9 1 , wie sie der Mehrheit der einzelnen Souveränitätsträger bei umfassender Selbstbesinnung und Sachkenntnis eigen sein kann, sondern sie ist Ausdruck i n öffentlichen Meinungsbildungsprozessen formierter gesellschaftlich relevanter Interessenlagen und ihnen entsprechenden sozioökonomischen Situationen 9 2 . I n dem Maße, i n dem „Besitz" und „Bildung" für die politische Wirksamkeit förderlich sind, haben die gesellschaftlichen Klassen und Gruppen, welche vorrangig über „Besitz" und „Bildung" verfügen, überdurchschnittliche Chancen zur Manifestation ihres politischen Willens 9 3 . Es gibt keinen allgemeinen Konsens über Ausgestaltung der konkreten politischen Ordnung. Parlamentarische Mehrheiten sind deshalb regelmäßig bestrebt, sich selbst zu erhalten, sich nicht zu gefährden. Das Mehrheitsprinzip impliziert, daß jene, welche über staatliche Herrschaftsmittel verfügen, i m Rahmen der Verfassungsordnung solche politisch-staatlichen Entscheidungen treffen oder solche Darstellungen der Politik wählen können, welche vermuten lassen, daß Bevölkerungsgruppen m i t gegenläufigen Interessen und Bedürfnissen i n ihren Chancen zur Mitbestimmung und zur Gewinnung der politischen Mehrheit zumindest nicht gefördert werden 9 4 . 91 Erg. H. Kurz, Volkssouveränität u n d Volksrepräsentation, S. 237 ff.; U. Scheuner, Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie, i n : Festschrift f ü r H. Huber, Bern 1961, S. 222 ff.; W. Kägi, V o n der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, i n : Festschrift f ü r H. Huber, S. 151 ff. 92 Vgl. E. Forsthoff, Z u r heutigen Situation einer Verfassungslehre, i n : Festschrift für C. Schmitt, B e r l i n 1968, Bd. 1, S. 185 ff. (S. 203, „Das V e r schwinden des Begriffes der Repräsentation beraubt das politische V o l k seiner Darstellung als des tragenden politischen Faktors. Es verwandelt das V o l k i n eine Wählerschaft u n d Interessenschaft m i t jeweiligen Optionen f ü r bestimmte Parteien. D a m i t ist dem V o l k als einer geschichtlich politischen F o r m ein Ende gesetzt"); P. Schneider, Uber das Verhältnis von Recht u n d Macht, i n : K . D. Bracher u. a. (Hrsg.), Die moderne Demokratie u n d i h r Recht, Tübingen 1966, Bd. 1, S. 572 ff.; U. Preuss, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, Stuttgart 1969, S. 185. 93 Die ersten Wahlen zum Bundestag i n der Bundesrepublik Deutschland können als Bestätigung dieser These angesehen werden, auch hinsichtlich der Formen, m i t welchen eine erlangte Regierungsmehrheit konsilidiert wurde. Es bedurfte einer Veränderung der sozioökonomischen Situation u n d neuer Prozesse der Bewußtseinsbildung, u m f ü r die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten u n d Gruppen die Chancen der Machtgewinnung i m Wege von Wahlen offener erscheinen zu lassen. — Selbstverständlich k a n n einer größeren Dichte der Organisation u n d Solidarität der u n t e r p r i v i l e gierten Schichten u n d Gruppen eine zunehmende Organisation der überprivilegierten Gruppen u n d Schichten entsprechen. Die Frage, i n welchem Maße überprivilegierte Schichten i n ihren kapitalbezogenen Interessen auf Dauer organisationsfähig sind oder i n ihren Organisationen an konkurrierenden Interessen scheitern, ist hier nicht i m einzelnen zu prüfen. 94 Unter dem Aspekt der Interessensicherung ist es deshalb durchaus
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Gesetzgebungsgegenstände des Bundes 95 wie das Recht der W i r t schaft, das Arbeitsrecht, die Regelung von Ausbildungsbeihilfen (Art. 74 Abs. 1 Ziff. 11-13) sind beispielsweise solche Materien, von deren Ausgestaltung die soziale Lage der Staatsbürger mitbestimmt und ihre politischen Mitwirkungsmöglichkeiten mitbedingt werden. Ähnliche Materien sind das Recht der Enteignung, die Überführung von Grund und Boden, von Naturschätzen und Produktionsmitteln i n Gemeineigentum oder i n andere Formen der Gemeinwirtschaft, die Verhütung des Mißbrauchs von wirtschaftlicher Machtstellung oder der Grundstücksverkehr und das Bodenrecht (Art. 74 Abs. 1 Ziff. 14 -16, 18 GG), i m Bereich der Landesgesetzgebung ist dies vor allem der Bereich des schulischen Bildimgswesens. Sozioökonomische Vormachtstellung und hohe Organisationsfähigkeit erhöhen nicht nur die Chancen zur Erlangung und Sicherung politischer Herrschaft, sie beinhalten auch bessere Chancen der Einflußnahme i m Vorraum der Gesetzgebung bei der Gesetzesvorbereitung oder i m Bereich verselbständigter Verwaltungstätigkeiten 9 8 . Formale Wahlgleichheit, ein Staatsbürger eine Stimme, ist allein nicht ausreichend zur Sicherung des Verfassungsprinzipes der Volkssouveränität. Formale Verfahrensregelungen und Organisationsstrukturen allein beinhalten zwar normative Beschränkungen des Mehrheitsprinzipes zugunsten des Prinzipes der Volkssouveränität, sie schützen aber eine freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung nicht vor möglichen Deformationen aufgrund des Mehrheitsprinzipes. Dies aus folgenden Gründen: Jene gesellschaftlichen Gruppen und Schichten, welche vorrangig über Besitz und Bildung verfügen 97 , benötigen nicht der staatlichen Leistung, u m Besitz und Bildung zu haben, sie benötigen nur die staatliche Ordnungsmacht, u m ihren sozialen Status zu bewahren. einsehbar, daß Förderung von B i l d u n g einmal vorrangig nach den V e r wertungsansprüchen der Ökonomie, ein anderes M a l als Selbstwert, unter dem Anspruch der Entfaltung der Person u n d der politischen M ü n d i g k e i t geschieht. 95 I m einzelnen vgl. Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 236 ff.; zur Rechtsprechung des B V e r f G vgl. R. Scholz, Ausschließliche u n d konkurrierende Gesetzgebungskompetenz von B u n d u n d Ländern, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, S. 252 ff. 96 Vgl. erg. Th. Ellwein, S. 146 ff.; W. Schmidt, Organisierte E i n w i r k u n g e n auf die V e r w a l t u n g — Z u r Lage der zweiten Gewalt, i n : W d S t R L , H. 33, B e r l i n usw. 1975, S. 183 ff. m. w . N. 97 Es k a n n hier dahingestellt bleiben, i n welcher Weise u n d i n w i e v i e l Klassen u n d Schichten die Gesamtheit der Souveränitätsträger — die A k t i v bürger — eingeteilt werden kann. I n diesem Zusammenhang ist auch nicht i m einzelnen zu analysieren, i n welcher Weise insbesondere die Verfügungsmöglichkeit über Produktions- u n d Reproduktionsmittel den sozialen u n d den politischen Status bestimmt, vgl. hierzu Th. Ellwein, m. w . H.; D. Claes-
5.2 Mehrheitsprinzip
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Unterprivilegierte Klassen und Schichten bedürfen demgegenüber i n dem Maße, i n dem Besitz und Bildung den sozialen Status und die politischen Mitwirkungsmöglichkeiten bestimmen und i n dem Maße, i n dem Verteilung von „Besitz" und „Eigentum" und Vermittlung von „Bildung" staatliches Monopol sind oder der Beeinflussung durch staatliches Organhandeln unterliegen, der staatlichen Leistimg, u m eine soziale Chancengleichheit bei der Bestimmung und Mitbestimmung der politischen Ordnung zu erhalten. I n freiheitlich-kapitalistischen Gesellschaften ist zwar die Umverteilung von Eigentum und die Verteilung von Bildung an ein staatliches Rechtsetzungs- und Durchsetzungsmonopol gebunden, die Nutzung von Eigentum und Bildung stehen aber weitgehend i n der freien Verfügung der Gesellschaftsmitglieder. Das Wirtschaftssystem selbst ist i n der Form einer freien Marktwirtschaft m i t sozialen Ausgleichsleistungen organisiert. „ K a p i t a l " und „ A r b e i t " bedürfen aber zu ihrer Gewährleistung und zur Gewährleistung von Stabilität und Wachstum der Volkswirtschaft staatlicher Organhilfe 9 8 . Der „Staat" ist auf die Ressourcen seiner Ökonomie als seinem Leistungspotential angewiesen. Der „Staat" bzw. die jeweiligen gesellschaftlichen Mehrheiten, welche staatliches Organhandeln bestimmen, sind damit auf eine gewisse Konsensfähigkeit der ökonomischen Maßnahmen einschließlich von Verteilungsmaßnahmen angewiesen, u m wirtschaftliche Stabilität und wirtschaftliches Wachstum zu erhalten 9 9 . Ein solcher Konsens ist vermutlich dann nicht zu erreichen, wenn privilegierte Gruppen durch solche Maßnahmen i n einem Umfang eigene Ressourcen zur Verfügung zu stellen haben oder i n ihrer p r i v i legierten Stellung beschränkt werden, welche eine Aufgabe ihrer P r i vilegien und damit eine Aufgabe ihrer Einflußmöglichkeiten auf die Gestaltung der staatlichen Odnung implizieren. Anders ist es nur, wenn individuelles politisches Handeln nicht durch die soziale Lage und die ökonomischen Interessen bedingt und mitbestimmt wird, sondern sich an ethischen, philosophisch-normativen Postulaten wie jenen einer allgemeinen Freiheit und Gleichheit orientiert. sen / Α. Klönne / A. Tschoepe, Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., Düsseldorf 1978, insbes. S. 211 ff., S. 295 ff. m. w . H. 98 F ü r den Bereich der Arbeits- u n d Wirtschaftsbedingungen gibt es die verfassungsrechtlich gewährleistete Möglichkeit der freien Vereinbarung der Tarifparteien. Diese Gestaltungsfreiheit umfaßt aber n u r Formen u n d A n passungen i m Lohnbereich, sie beinhaltet sowohl nach der verfassungsrechtlichen Bewertung als auch nach i h r e r praktischen Inanspruchnahme nicht die Möglichkeit einer Umverteilung, eines Verzichtes auf staatliche Rechtsetzungs- u n d Durchsetzungsmöglichkeiten. Erg. Η . H. v. Arnim, Gem e i n w o h l u n d Gruppeninteressen, S. 81 ff. 99 Erg. u n d m. w . Η . K . Grimmer, Z u r D i a l e k t i k von Staatsverfassung u n d Gesellschaftsordnung, i n : ARSP 1976, S. I f f . ; ders., Z u r formalen u n d materialen Legitimationsbedürftigkeit des bürgerlich-kapitalistischen Staates, S. 65 ff. 14·
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Das verfassungsrechtliche Mehrheitsprinzip kann also zur Folge haben, daß die politischen Gestaltungsmöglichkeiten für parlamentarische Mehrheiten unterschiedlich sind, unterschiedlich entsprechend der Ausstattung m i t „Besitz und Bildung" bei den Gruppen und Schichten, welche sie repräsentieren und welche durch ihre Herrschaftsakte betroffen sind. Eine parlamentarische Mehrheit unterprivilegierter Gruppen und Schichten i m weitesten Sinne kann so i n ihren möglichen Maßnahmen zur Konkretion von Grundrechten, zur Veränderung ihres unterprivilegierten Status, zur Sicherung gleicher Chancen der Mehrheitsgewinnung stärker an allgemeine Konsensfähigkeit ihrer sozioökonomischen und soziokulturellen Maßnahmen gebunden sein. E i n solcher Ausgleich m i t den Interessen privilegierter Gruppen und Schichten ist teilweise ersetzbar durch einen größeren Einsatz staatlicher Herrschaftsmittel; der Einsatz staatlicher Zwangsmittel birgt aber die Gefahr i n sich, die Freiheitlichkeit i m Prinzip der Volkssouveränität zu tangieren. Aber auch für eine parlamentarische Mehrheit, welche vor allem Mehrheit der Privilegierten ist oder i n ihrem Interesse handelt, bestehen Grenzen der Mehrheitssicherung, wenn sie die formalen Strukturen einer freiheitlichen Demokratie erhalten w i l l . Sie kann weder i n der Verteilung des Volkseinkommens nur die Privilegierung weniger fördern, wenn damit potentielle Gegeninteressen zu solidarischem Handeln veranlaßt werden, welches zur Veränderung der Mehrheitsverhältnisse führen kann, noch kann sie Privilegien sichernde Maßnahmen i n einer Weise betreiben, daß der soziale Widerspruch i n revolutionären Maßnahmen durchbricht und damit der Konsens über Formen und Prozesse staatlicher Ordnung aufgehoben wird. 5.2.3.1 Eingeschränkte Legitimationskraft formaler Organisations - und Verfahrensregeln Die Verfassung hat so i n ihrer Verfahrensregelung für politisch verbindliche Entscheidungsprozesse eine selektive Funktion. Hier liegen bei Abstraktheit der Normen konkrete Präferenzeffekte. Ihre Selektivität verweist die gesellschaftlichen, u m die politische Herrschaft sowie u m Einfluß auf sie und ihre Entscheidungen streitenden Gruppierungen auf die Organisation ihrer Interessen zu deren Artikulation und Durchsetzung. Die so über die Verfassung i n die politische Entscheidung vermittelten organisierten und institutionellen Prägungen der Gesellschaft bedingen ihrerseits weitgehend Handlungsformen und vor allem die Handlungsspielräume der staatlichen Institutionen und Organisationen; der Staat reproduziert sich nicht selbst, sondern ist und handelt — auch i n seinen auf Dauer angelegten administrativen Institu-
5.2 Mehrheitsprinzip
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tionen — gesellschaftlich. „Kapitalistische Klasseninteressen" sind dabei nicht nur historisch mitkonstitutiv für die Formstrukturen bürgerlicher Demokratie gewesen, auch und gerade für ihre rechtsstaatliche Sicherung von Grundrechten. Diese Formstrukturen veranlassen auch weiterhin ein „kapitalistisches Klasseninteresse" zur spezifischen organisatorischen Ausprägung und Wirksamkeit. Die rechtsstaatlichen Gewährleistungen der Formelemente bürgerlicher Demokratie waren es bereits, welche eine bürgerlich-kapitalistisch bestimmte Gesellschaft m i t der Monarchie i m konstitutionellen deutschen Rechts- und Obrigkeitsstaat versöhnten, da sie die bürgerlich-kapitalistisch geprägte Gesellschaft als staatlich verfaßte m i t Mitbestimmungsrechten ausstattete. Politisch manifest wurde dies i n der Anerkennung des Staates als j u ristische Person, i n der Ablösung der „Absolutheit des Monarchen" durch die „Absolutheit der staatlichen Institutionen". Das „ K a p i t a l " bedarf auch heute dieser bürgerlich-demokratischen Formstrukturen, u m sich und seine Interessen organisieren, koordinieren und geltend machen zu können. Es bedarf dieser Strukturen bei den gegebenen Denk- und Wertungsweisen zur Legitimation von Herrschaft und u m Anerkennung für seine Herrschaftsakte zu erhalten. Die Konstitution eines Volkes als Staat i n diesen Organisationsformen beinhaltet gleichzeitig m i t der formalen, verfassungsrechtlichen Ablösung des Standesprinzipes durch das Mehrheitsprinzip eine Öffnung der Chancen zur Machtgewinnung, eine zumindest prinzipielle Gewährleistung von formaler Volkssouveränität, eine „Offenheit" der Verfassungsordnung 100 , welche es unterprivilegierten Gruppen und Schichten ermöglichen, i n Ausnutzung bürgerlich geprägter Formstrukturen ihren Mitbestimmungsanspruch einzubringen. Verfassungsrechtlich gleiche Volkssouveränität ist also nicht nur i n ihren Ausgangslagen ungleich. Das demokratisch-parlamentarische Verfahren m i t seinem Mehrheitsprinzip beinhaltet latent die Möglichkeit und Gefahr, daß die Souveränität sich nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich, nämlich i m Wege der Gesetzgebung zu einer Souveränität weniger, i n ihrem sozioökonomischen Status oder i n ihrer sozialen Macht Privilegierter, denaturiert — wenn das Mehrheitsprinzip verfassungsrechtlich nicht begrenzt ist. Souveränitätsprinzip und Mehrheitsprinzip stehen so i n der Gefahr des ständigen Widerspruches. Volkssouveränität als allgemeines und gleiches Recht des ganzen Volkes und als individueller Anspruch auf politische Mitbestimmung steht i n der Gefahr, partiell aufgehoben zu werden. Staat als Form und Inhalt der maßgeblichen politischen Ge100 Erg. V. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, S. 56 ff.; P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, S. 243, S. 245.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
samtordnung steht ständig i n der Gefahr, nur als „Klassenstaat" realisiert zu werden. Die Verfassung vermittelt m i t ihren Organisations- und Verfahrensregeln formale Legitimation für staatliche Gestaltungsprozesse und Gestaltungsakte. Diese Form der Legitimation ist gleichzeitig getrennt von der Festlegung inhaltlicher Handlungsprämissen des politischen Systems 101 . Die formale Legitimation allein bewirkt keine Anerkennung staatlicher Ordnung unter allen Umständen, also auf Dauer, sie verleiht nur Legalität staatlichen Organhandelns. N u r auf die formale Legitimation gegründete staatliche Sanktionsgewalt gegenüber „abweichendem Verhalten" kann staatliche Ordnung nicht auf Dauer sichern, jedenfalls pervertiert sie eine „freiheitlich-demokratische Grundordnung", die per definitionem solche inhaltlichen Handlungsprämissen hat, und hebt diese auf. Eine solche „Aufhebung" wäre nicht nur i m Widerspruch zu den inhaltlichen Festlegungen der Verfassung, sie kann auch an dem Bewußtsein und der — auch politischen — Technik aufgeklärter bürgerlich geprägter Industriegesellschaften scheitern. Legitimationseinholend sind formale Strukturen aber insofern, als i n dem Maße, i n dem sie notwendig oder zweckmäßig sind zur Formation „bürgerlich-kapitalistischer Interessen", sie gleichzeitig auch die Strukturierung gegen-kapitalistischer Interessen und deren Organisation und Festigung zumindest nicht schlechthin unterdrücken, i m Prinzip zulassen und bedingen 1 0 2 . Eine solche Möglichkeit je spezifischer Artikulation und Organisation von Interessen und Bedürfnissen, wie sie i n entwickelten Industriegesellschaften gegeben ist, vermittelt eine Bereitschaft, sich einzulassen auf diesen Staat und seine verfassungsmäßige Organisation und Wirksamkeit anzuerkennen, auch bei unterprivilegierten Gruppen und Schichten. Dies jedenfalls, solange die Formstrukturen die Artikulation der eigenen Interessen und Bedürfnisse zulassen und ihre Durchsetzung i n staatliche Herrschaftsakte nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. Insofern, und nur insofern muß das Mehrheitsprinzip nicht notwendigerweise eine Aufhebung des Prinzips allgemeiner und gleicher Volkssouveränität implizieren, sondern verweist selbst auf dieses Prinzip als seinen eigenen Grund und als allgemeinen Grund staatlicher Organisation und Wirksamkeit. 101
Vgl. N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 171; erg. auch C. Offe , Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 95. 102 Vgl. J. Varain (Hrsg.), Interessenverbände i n Deutschland, K ö l n 1973; O. Massing, Parteien u n d Verbände als Faktoren des politischen Prozesses, i n : G. K r e s s / D . Senghaas (Hrsg.), Politikwissenschaft, 2. Aufl., F r a n k f u r t / M . 1972, S. 324 ff.; H. H. v. Arnim, S. 130 ff.; J. Weber, Die Interessengruppen i m politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart usw. 1977, insbes. S. 83 ff., S. 245 ff.
5.3 Grundrechte
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I n diesem Spannungsverhältnis von Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip stehen die Grundrechte. Als inhaltliche Bestimmung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung materialisieren sie die individuelle Rechtsstellung, welche sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität ergibt und binden die Herrschaftsmacht, welche das Mehrheitsprinzip verleiht (Art. 1 Abs. 3 GG). Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip als gleichwertige Elemente staatlicher Ordnung konstitutiv wirksam werden zu lassen, ist eine Funktion der Grundrechte. 5.3 Grundrechte Verfassungsrechtlich ursprünglich konstituiert als Bindung der Staatssouveränität und Staatsgewalt, sind die Grundrechte nach dem Grundgesetz eine rechtliche Bindung der Volkssouveränität i m A k t der Verfassungsgebung, und das heißt eine Selbstbindung des souveränen Volkes auf ein Normprogramm, welches i n der Realisierung konkreter politischer Ordnung durchzuhalten ist (Präambel, A r t . 1 GG). Politisches, insbesondere rechtsgestaltendes Handeln ist vielfältige Disposition i m Normbereich der Grundrechte. Politisch-rechtliche Gestaltungsakte, welche i n Ausnutzung der Verfahrensordnung und des Mehrheitsprinzipes rechtliche Verbindlichkeit besitzen, sind insoweit Grundrechtskonkretionen. Solche Grundrechtsgestaltung unterliegt dam i t hinsichtlich ihrer Folgen für die Einzelperson, für die Gestaltung sozialer Beziehungen und das gesellschaftliche Gesamtsystem dem A n spruch auf Grundrechtskonformität gemäß A r t . 1 Abs. 3 und A r t . 20 Abs. 3 GG. 5.3.1 Dogmatisierte Geschichte: Grundrechte als subjektive Freiheitsrechte und als Elemente objektiver Ordnung
I n der Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht kommt ihre — historisch begründete — Funktion als subjektive öffentliche Rechte, als Rechte der Staatsbürger gegenüber dem „Staat" zum Ausdruck. Freie Entfaltung der Person, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, Eigentumsgarantie werden so verstanden als eigenständige Rechtsgarantien und als Ansprüche gegenüber der „Staatsgewalt" auf ihre prinzipielle Gewährleistung, ohne daß damit — wie i n Teil I I dargelegt — der konkrete Inhalt und Umfang der zu gewährleistenden Freiheiten, des zu garantierenden Eigentums bestimmt sind.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Das historisch überkommene Grundrechtsverständnis ist Ausdruck der politischen Schwäche des deutschen Bürgertums, welches zunächst nicht politische Freiheit erlangte, u m eine freiheitlich-demokratische Ordnung zu realisieren, sondern sich nur unter Berufung auf vernunftrechtlich oder naturrechtlich begründete Grundrechte einen individuellen Freiheitsraum gegenüber der Obrigkeit, der Staatsgewalt verschaffte und diesen rechtsförmig sicherte. Der Zusammenhang individueller und politischer Freiheit war nicht Gegenstand deutschen Rechtsstaatsdenkens. Rechtsstaat und politische Form traten auseinander 1 0 3 . Nicht der Staat insgesamt wurde — wie i n Teil I dargelegt — Gegenstand souveräner Ausübung von Staatsgewalt aufgrund originärer Volkssouveränität, sondern gegenüber dem Staat wurde partikulare Freiheit erstritten. M i t der rechtsstaatlichen Verfassung wurde die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft, Staat und Individuum manifest 1 0 4 . Die Funktion von Gesetz und Gesetzesvorbehalt war es, die staatlichen Belastungen der Freiheit der Person und des Eigentums durch Bindung an die eigene Zustimmung zu sichern und den Gestaltungsrahmen für die „Obrigkeit" festzuschreiben 105 . I n dem Maße aber, i n dem sich Staatsordnung i n der demokratischen Auseinandersetzung ereignet, sind Gesetz und Gesetzesvorbehalt nur noch Ordnungsmittel der Gesetzgebungsorgane i m ständigen Verweis auf den Träger der Staatsgewalt, das Volk, ist das Gesetz lediglich die rechtsstaatliche Form der konkreten Ordnungsgebote und -verböte. Gesetz und Gesetzgebung können deshalb nicht formal und isoliert betrachtet werden, sondern sind i m Zusammenhang der Entscheidungsverfahren und ihrer grundrechtlichen Voraussetzungen zu sehen. A r t . 20 GG statuiert die normative Einheit der Verfassung. Das Grundgesetz konstituiert zwar unterschiedliche Organe als M i t t e l zur Ausübung der Staatsgewalt, die Kompetenz und Organisationsform dieser Organe w i r d i n einzelnen Verfassungsbestimmungen näher normiert, zwischen diesen Normen und den Grundrechtsbestimmungen sowie zwischen den Grundrechtsbestimmungen selbst besteht — wie i n 103 Vgl. K. Hesse, Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des G r u n d gesetzes, i n : Festgabe f ü r R. Smend, Tübingen 1962, S. 71 ff.; E. Denninger, Staatsrecht 2, Reinbek 1979, S. 139 ff. 104 y g i hierzu E. Forsthoff, Z u r Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961, S. 17; zu einer damit auch i m Zusammenhang stehenden Begründung eines „demokratischen" Verständnisses der Grundrechte vgl. H. ff. Klein, Die Grundrechte i m demokratischen Staat, Stuttgart usw. 1972, S. 32 ff.; E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen 1973. los v g l . E.-W. Böckenförde, Entstehung u n d Wandel des Rechtsstaatsbegriffes, i n : Festschrift für A. A r n d t , F r a n k f u r t 1969, S. 53 ff. Vgl. hierzu i n Ergänzung E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, i n : Verh. des 50. Dt. Juristentages, Bd. 2, München 1974, S. G 1 ff. m. w. H.
5.3 Grundrechte
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Teil I I ausgeführt — ein unaufhebbarer verfassungsrechtlicher Zusammenhang. Dies bedeutet, kein Verfassungselement ist bei einer Interpretation des Grundgesetzes für sich allein i n den Blick zu nehmen, wenn der Gehalt des Grundgesetzes nicht unzulässigerweise differenziert und damit beschränkt werden soll 1 0 6 . Die Untersuchungen zu den Interpretationsmethoden und zum Deutungsrahmen für die Grundrechte i m Teil I I hatten ergeben, daß ihre i n verschiedenen sozialen Situationen mögliche Konkretion dem Text des Grundgesetzes nicht unmittelbar zu entnehmen und auch nicht mittels rechtswissenschaftlicher Methoden eineindeutig zu erschließen ist. Insbesondere eine Grundrechtsinterpretation, welche einzelne Grundrechte als formale Ausgrenzungen und Gewährleistungen gegenüber dem Staat versteht, gerät i n die Gefahr, die gegebene Freiheit, die je gegebene Verteilung des Eigentums zum Inhalt der Grundrechte zu machen 107 . Das Grundrechtsverständnis unterliegt selbst einer historischen Veränderung 1 0 8 i m Zusammenhang m i t der sozioökonomischen und soziokulturellen Entwicklung der Gesellschaft, insoweit ist es immer auch Ideologie. Die Grundrechte werden heute nach herrschender Auffassung als objektives Recht und als subjektive Rechte verstanden 109 , d. h. durch einen Satz des objektiven Rechts w i r d ein Rechtssubjekt begünstigt 1 1 0 , insgesamt bestimmen sie die gesellschaftliche Freiheitssphäre jenseits staatlicher Einschränkungsmöglichkeiten 111 . 106 Vgl. H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsauslegung, i n : VVdStRL, H. 20, B e r l i n 1963, S. 53 ff.; F. Müller, Juristische Methodik, B e r l i n 1971, S. 155 ff.; auch BVerfGE 1, 14 (32); 5, 85 (137), das B V e r f G spricht hier von einer „hierarchischen Einheit", andererseits aber auch BVerfGE 3, 225 (231 ff.), w o das B V e r f G davon ausgeht, daß es auf der Ebene der Verfassung keine höheren oder niederrangigen Normen geben kann; n u r dies ist zutreffend, denn die Verfassung selbst gibt keine hierarchische Ordnung an, es besteht lediglich eine logische Ordnung, indem der logischsemantische Gehalt der einzelnen Grundrechte unterschiedlich ist u n d sich i n den erfaßten Sozialbereichen überschneidet. 107 Vgl. hierzu die Analyse v o n H.-H. Hartwich, Sozialstaatspostulat u n d gesellschaftlicher status quo, K ö l n u. Opladen 1970, insbes. S. 314 ff., S. 324 ff. 108 Vgl. hierzu allgemein P. Saladin, Grundrechte i m Wandel, Bern 1970, S. 282 ff.; E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, S. G 1 ff.; P. Häberle, Zeit u n d Verfassung, i n : Zeitschrift f ü r Politik, Jg. 21, H. 2 1974, S. 111 ff.; H. H. Rupp, V o m Wandel der Grundrechte, i n : AöR, 101/1976, S. 161 ff. 109 Vgl. Maunz ! Dürig ! Herzog ! Scholz, Grundgesetz, A n m . 96 zu A r t . 1, Abs. 3 G G m. w. N. no v g L χ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Heidelberg 1977, S. 121 ff.; insges. auch Überblick bei E. Grabitz, Freiheit u n d Verfassungsrecht, Tübingen 1976 u. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m .34 zu A r t . 19 Abs. 4 GG. 111 Vgl. Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl., München 1977, S. 109 f.; Κ. A. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl., B e r l i n 1976 sowie den Überblick bei E. Grabitz, Freiheit als Verfassungsprinzip, i n : Rechtstheorie 1977, S. 1 ff.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
I n der Nachfolge zur Verfassungslehre der Weimarer Zeit ist auch i m vorherrschenden Grundrechtsverständnis allgemein anerkannt, daß das Grundgesetz i n den Grundrechten neben subjektiven Hechten auch objektive Gewährleistungen von Einrichtungen und Einrichtungsgarantien kennt: Institutsgarantien als Verbürgungen privatrechtlicher Einrichtungen und institutionelle Garantien als verfassungsrechtliche Verbürgungen öffentlich-rechtlicher Einrichtungen 1 1 2 . Maunz - Dürig - Herzog - Scholz machen deutlich, daß diese Kunstschöpfungen der Wissenschaft i n das Verfassungsrecht der damaligen Zeit eingegangen sind m i t dem eindeutigen Ziel, „das subjektive Recht vor der gesetzespositivistischen möglichen Denaturierung zu schützen" 113 , also einen bestimmten status quo zu erhalten. Sie sehen heute die Gefahr, daß i n der Ausweitung des institutionellen Denkens durch eine sozial verpflichtete und sozial organisierte Interpretation die Institutsgarantien benutzt werden, u m die subjektiven Rechte zu begrenzen. Demgegenüber stellt Scheuner fest, daß i m Rahmen der Wertentscheidungen der Verfassung diese Einrichtungen auch eine spezifische sozialstaatliche Bedeutung haben, indem sie über die ältere Lehre von den Grundrechten als bloßen Abwehrrechten hinausführt „und ihrem Grundgedanken eben dort, wo die negative Funktion nicht ausreicht, i m gesellschaftlichen Leben Geltung verleiht" 1 1 4 . Innerhalb der Grundrechtsvorschriften w i r d vom Bundesverfassungsgericht neben ihrer Eigenart als subjektiven öffentlichen Rechten und den durch sie vermittelten Einrichtungsgarantien noch eine dritte Funktion unterschieden: als Grundsatznorm zu wirken, d. h. als eine verbindliche Wertentscheidung. I n dieser Weise fungieren die Grundrechte entsprechend der Tradition der Menschen- und Bürgerrechtserklärungen auch als überpositive Rechtsgrundsätze 115 . Die Grundrechte verpflichten den Staat nicht nur, störende Eingriffe i n das subjektive Recht oder den „Normkern" der Einrichtung zu unterlassen, sondern verpflichten i h n auch, jeden wertstörenden Eingriff zu unterlassen 116 . So formuliert das Bundesverfassungsgericht etwa: „das Grundgesetz 112 Vgl. Maunz ί Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 97 zu A r t . 1, Abs. 3 GG, vgl. hierzu auch i m T e x t 4.2.3. 118 Maunz ! Dürig I Herzog ! Scholz, Grundgesetz, A n m . 98 zu A r t . 1 Abs. 3 GG; vgl. aber demgegenüber U. Scheuner, F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat, Die Grundrechte als Richtlinien u n d Rahmen der Staatstätigkeit, i n : D Ö V 1971, S. 508 m. w . N., S. 510 u. H. Peters, Geschichtliche Entwicklung u n d Grundfragen der Verfassung, Heidelberg 1969, S. 259 ff. m. w . N. 114 U. Scheuner, S. 508; vgl. auch R. Bernhardt, Wandlungen der G r u n d rechte, Tübingen 1971, S. 17. 115 Vgl. BVerfGE 1, 208, 233, 243; 6, 84, 91 — als Abwehrrechte gegen staatliche Gewalt — vgl. auch BVerfGE 7, 198 (204); 13, 318 (325) u n d passim. 118 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 99 zu A r t . 1 Abs. 3 GG m. w . H.
5.3 Grundrechte
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ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein Menschenbild ist allerdings nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der i n der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit . . . Eine Einschränkung kommt nur dann i n Betracht, wenn sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zwecks unerläßlich ist und i n den dafür verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen geschieht" 117 . Grundrechte bilden so angeblich ein Wertsystem, das einen lückenlosen Schutz der Freiheit verbürgt 1 1 8 . Diese Freiheit ist zwar nicht schrankenlos, aber doch als grundrechtliche Freiheit nur rechtlich beschränkbar, A r t . 2 GG w i r d zum Hauptfreiheitsrecht stilisiert 1 1 9 . Scheuner stellt zutreffend fest, daß die Praktizierung der Grundrechte ihnen „den Charakter eines Kataloges oder eines Systems von Grundfreiheiten gegenüber dem Staat aufgeprägt" hat, „wie es der liberalen Tradition entsprach" 120 . Die Grundrechte werden i n ein positiv rechtlich unbezweifelbares Abwehrsystem umgeprägt. „Sinn und Wesen der Grundrechte liegt vornehmlich i n der Absicherung und Erhaltung der Individualsphäre gegenüber dem Staat 1 2 1 ." A r t . 19 Abs. 4 GG erscheint dabei als verfahrensrechtliche Widerspiegelung des Verhältnisses B ü r ger zum Staat. Der Staatsbegriff selbst w i r d nicht problematisiert 1 2 2 . Die Problematik einer solchen Grundrechtsinterpretation liegt nicht nur i n ihrem Bezug auf eine, i n einer bestimmten historischen Situation 117 BVerfGE, i n : JZ 1972, S. 357 ff. (S. 358); vgl. auch BVerfGE 12, 45 (51); 28, 175 (189) u n d früher. — Einen Überblick über die Interpretation der Grundrechte i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt F. Ossenbühl, N J W 1976, S. 2100 ff. m. w. N. 118 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 5 zu A r t . 1 Abs. 1 GG sowie BVerfGE 7, 198 (205, 215); 21, 362 (371 ff. m. w. N.). 119 Vgl. Maunz ! Dürig ! Herzog ! Scholz, Grundgesetz, A n m . 5, 6, 11 u. 12 zu A r t . 1; A n m . 3 - 7 zu A r t . 2 Abs. 1 GG; hierzu auch Peter Schneider, I n dubio pro liberiate, i n : Recht u n d Macht, Mainz 1970, S. 238 ff. (S. 263 ff.). G r u n d legend auch zu den Grundrechten als einheitlichem Wertsystem, ausgehend von A r t . 1 Abs. 1 GG J. M. Wintrich, Z u r Problematik der Grundrechte, Karlsruhe 1957, S. 13 ff. 120 U. Scheuner, Die F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat, S. 505. — Wesentliche Elemente der Wertordnung sollen die Menschenwürde, die F r e i heitsgarantie i m Sinne des A r t . 2 Abs. 1 G G u n d der Gleichheitsgrundsatz des A r t . 3 Abs. 1 GG sein. Die Wertordnung der Grundrechte w i r d von D ü r i g u n d m i t i h m von der vorherrschenden Lehre als Wertrangordnung verstanden, speziellen Freiheitsrechten w i r d eine P r i o r i t ä t gegenüber den allgemeinen Wertentscheidungen eingeräumt. (Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 11 ff. zu A r t . 1 Abs. 1 GG m. w. N.). 121 Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 2 zu A r t . 19 Abs. 4 GG; vgl. auch R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, München 1975, S. 192. 122 Erg. K . Grimmer, Die F u n k t i o n der Staatsidee u n d die Bedingungen ihrer Wirklichkeit, i n : ARSP 1978, S. 63 ff.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
erfolgten Ausprägung verfassungsrechtlichen Denkens i n einer undemokratischen, klassenmäßig geschichteten Gesellschaft, sondern liegt auch i n ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen, i n ihrer Annahme einer „unpolitischen" Wesensschau von Werten und der Annahme einer möglichen Wertrangordnung und Konkretion allgemein abstrakter Werte. Gerade diese erkenntnistheoretischen Grundlagen bedurften einer K r i t i k , sie sind nicht haltbar. Hesse betont gegenüber einem Verständnis der Grundrechte als vorrangig subjektiven Rechten ihren objektiven Anspruchsgehalt: Grundrechte sind von der Verfassung gewährleistet i m Blick auf die i n ihnen garantierte und durch den Staat zu aktualisierende Freiheit 1 2 3 . „Als subjektive Rechte bestimmen und sichern sie den Rechtszustand des einzelnen i n seinen Fundamenten; als (objektive) Grundelemente der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung fügen sie i h n i n diese Ordnung ein, die ihrerseits erst durch die Aktualisierung jener subjektiven Rechte Wirklichkeit gewinnen kann 1 2 4 ." Als Grundelemente der objektiven Ordnung werden vor allem jene Bestimmungen verstanden, welche nicht nur unmittelbare Individualrechte gewährleisten. Als Elemente objektiver Ordnung konstituieren die Grundrechte die Grundlagen der Rechtsordnung des Gemeinwesens und enthalten damit eine negative Kompetenzbestimmung für die staatliche Gewalt 1 2 5 ; i m Wege dieser negativen Kompetenzbestimmung konkretisieren sie das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip 126 . Nach Scheuner ist für das Grundrechtsverständnis weniger von der Einzelperson an sich, sondern mehr von ihren sozialen Abhängigkeiten und den sozialen Verflechtungen i n heutiger Gesellschaft auszugehen, die soziale Breitenwirkung der Grundrechte ist zu gewährleisten 127 . Eine seiner Ansicht nach neuere Lehre erblickt „ i n den Grundrechten, ohne ihnen grundlegende Bedeutung für die Anerkennung menschlicher Würde und Freiheit zu verweigern, nicht ein grundsätzliches „System", eine nach dem Beispiel zivilrechtlicher Dogmatik aufgebaute „Ordnung", sondern aus einer Konzeption menschlicher Freiheit und Sicherung konzipierte, jeweils besondere und selbständige Verstärkung und Verbürgung bestimmter Rechtspositionen, Einrichtungen und Verfassungsprinzipien, die jeweils von der aktuellen geschichtlichen Lage 128
Vgl. K. Hesse, Grundzüge, S. 124 ff. K. Hesse, Grundzüge, S. 119. 125 Vgl. BVerfGE 7, 198 (208); H. Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung, K a r l s ruhe 1961, S. 29 ff.; E. Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 249 ff. 126 Vgl. K. Hesse, S. 122 ff., 124 ff., 127 f. Z u r Entgegensetzung von bürgerlicher Freiheit u n d politischer Ordnung; C. Schmitt, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, S. 579. 127 Vgl. 17. Scheuner, F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat, S. 506. 124
5.3 Grundrechte
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und dem Schutzbedürfnis gegen spezielle Gefährdungen der menschlichen Lage i n ihrer Ausformung geprägt werden" 1 2 8 . Grundrechte sind danach nicht nur als Freiheitsgewährleistungen, sondern auch als objektive Verbürgungen einer sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Ordnung zu verstehen, welche trotz wirtschaftlich-sozialer Abhängigkeiten soziale und personale Freiheit vermittelt 1 2 9 . A r t . 2 Abs. 1 GG läuft nach Ansicht von Scheuner i n seiner vorherrschenden Interpretation als Hauptfreiheitsrecht leer. Die Weite der allgemeinen Handlungsfreiheit i m Verständnis der herrschenden Lehre macht es erforderlich, diese durch ebenso weite Schranken zu begrenzen, indem als verfassungsmäßige Ordnung jedes verfassungsmäßig zustande gekommene, der Verfassung nicht widersprechende Gesetz angesehen w i r d 1 3 0 , und damit eine Konkretion aus dem Grundrecht selbst nicht möglich ist. Nach Scheuner muß der allgemeinen Handlungsfreiheit gegenüber Raum für Erwägungen des Vorrangs sozialer Anforderungen und des Gemeinwohls bestehen 181 . „ M i t dem Gedanken eines allgemeinen Freiheitsrechtes ist auch die Vorstellung eines Systems der Grundrechte, einer logisch-systematischen Ordnung aufzugeben. Sie sind nicht Ausfluß eines allgemeinen Prinzips, sondern entstehen geschichtlich aus jeweils besonderen Lagen des Verlangens nach Sicherung oder aus drängender Gefährdung 1 3 2 ." Sie sind i n sich selbständige Ausprägungen des Schutzes gesonderter Bereiche des individuellen und sozialen Lebens. I n der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit kann nach dieser Lehre der Abwehrcharakter der Grundrechte gegen den Staat nicht mehr ausreichen. Die Theorie vom bürgerlich-liberalen Rechtsstaat des Grundgesetzes w i r d insgesamt dem Spannungsverhältnis zwischen grundrechtlich gewährleisteter rechtlicher Ordnung und stets neu zu gewinnender und zu vollziehender politischer Form nicht mehr gerecht. Es ist nicht Sache des Grundgesetzes, das Bürgertum i n seinem ökonomischen und k u l t u rellen Status gegenüber einem „Obrigkeitsstaat" oder gegenüber dem Anspruch auf Freiheit und Gleichheit des vierten Standes abzusichern. Das Grundgesetz normiert vielmehr Freiheit und Gleichheit als allgemeine und als rechtliche und soziale Bedingungen einer demokratischen 128 U. Scheuner, F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat, S. 507; ders., i n : W d S t R L , H. 22, B e r l i n 1965, S. 35 ff.; erg. K. Hesse, S. 118 ff.; Fr. Müller, Die Positivität der Grundrechte, B e r l i n 1969, S. 41 ff.; E.-W. Böckenförde, i n : W d S t R L , H. 28, B e r l i n 1970, S. 36. 129 U. Scheuner, F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat, S. 507, 508 m. w . N. 130 Vgl. BVerfGE 5, 32, 37; 12, 341, 347; 25, 371, 407; vgl. hierzu auch U. Scheuner, S. 508. 131 U. Scheuner, S. 508 ff. Vgl. auch H. Peters, S. 205 ff.; W. Schmidt, i n : AöR 91 (1966), S. 42 ff., 79 ff.; BVerfGE 29, 221, 235. 132 U. Scheuner, S. 509.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Ordnung. Das Grundgesetz kennt keinen Dualismus zwischen der Organisation staatlicher Herrschaftsgewalt und der Gewährleistung einer vorgegebenen, dem Staat entgegengesetzten staatsfreien Sphäre 1 3 3 . Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip und Grundrechte sind i n einer Grundgesetztheorie als eine Einheit zusammenzufassen. I m Vordergrund einer Verfassungsrechtslehre des Grundgesetzes hat die politische Funktion der Verfassung, die Grundrechte i m Prozeß demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung zu konkretisieren, und hat nicht die Grundrechtsinterpretation und eine i n diese Interpretation bereits hineingenommene Vorentscheidung über die konkrete Verfassungsordnung zu stehen. Andernfalls w i r d Demokratie ersetzt durch Verfassungsauslegung und Verfassungsrechtsprechung. Das Grundgesetz gebietet, die Isolierung einzelner Verfassungselemente aufzuheben und den Zusammenhang zwischen Grundgesetzordnung und Gesellschaftsordnung zu rekonstruieren 1 3 4 , die einzelnen Elemente des Grundgesetzes gleichgewichtig i n Geltung zu setzen 135 . Die einseitige Betonung der individuellen Freiheitssphäre und des Charakters der Grundrechte als vorrangig subjektiv öffentlicher Rechte ist nur i m historischen Kontext erklärbar. Erfahrungshintergrund ist die Gefährdung durch eine totalitäre Staatsgewalt und sind die sozialen Gegensätze i n modernen kapitalistischen Industriegesellschaften. Freiheit soll nicht vom Staat zugeteilt — und damit ständig dem staatlichen Zugriff ausgesetzt — sein. Die Freiheit des Bürgers soll dem Staat bereits vorgegeben, gegenüber staatlicher Ordnungsgewalt abgesichert sein. Die Kontinuität der Verfassungsdogmatik, vor allem ihre rechtsstaatliche Ausprägung w i r d damit gehalten, der Eigenart des Grundgesetzes aber nicht entsprochen 136 ; die Konsequenzen dieser Dogmatik kommen vielfach nicht i n den Blick 1 3 7 . 133 Dies w a r auch Ergebnis der Beratungen i m parlamentarischen Rat, vgl. i n JöR, Bd. 1 zu A r t . 18 u. 21 GG; erg. K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 124 ff. Eine differenzierende Grundgesetzinterpretation u n t e r n i m m t ; H. H. Klein, Die Grundrechte i m demokratischen Staat, S. 53 ff. m. w . N. 134 Dies g i l t auch für das Verhältnis von Rechtsstaat u n d Sozialstaat, hierzu die Beiträge i n E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968; auf dieses Problem ist unten näher eingegangen. 135 Grundlegend für ein solches Grundgesetzverständnis auch H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975; W. Abendroth, Das Grundgesetz, 4. Aufl., Pfullingen 1976, jew. m. w . N.; die methodischen u n d erkenntnistheoretischen Grundlagen sind allerdings nicht hinreichend dargelegt; vgl. auch E. Denninger, Staatsrecht 2, S. 188 ff. 136 Erg. H. Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung, S. 58 f. Die These, daß die Vorschrift des A r t . 2 Abs. 1 G G nicht n u r eine „objektive Verfassungsnorm", sondern ein „subjektives öffentliches Recht" begründe, „schwebt solange i n der L u f t , als nicht der Verwurzelung des Begriffes des subjektiven öffentlichen Rechts i n der spätkonstitutionellen Begriffswelt nachgegangen u n d seine Gültigkeit f ü r unser demokratisches Verfassungsrecht nachgewiesen
5.3 Grundrechte
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D i e B e s c h r ä n k u n g des Geltungsanspruches d e r G r u n d r e c h t e a u f A b w e h r r e c h t e g e g e n ü b e r d e m S t a a t i s t solange v e r f e h l t , als d i e verschied e n e n gesellschaftlichen Schichten u n d G r u p p e n i n u n t e r s c h i e d l i c h e r Weise a u f s t a a t l i c h e n Schutz oder a u f staatliche L e i s t u n g a n g e w i e s e n sind, als d i e F r e i h e i t z u r p o l i t i s c h e n M i t b e s t i m m u n g u n d d i e C h a n c e n z u r H e r r s c h a f t s g e w i n n u n g n i c h t g l e i c h sind, d i e F r e i h e i t d e r G r u n d rechte n i c h t a l l g e m e i n ist. Es w i d e r s p r i c h t d e m Grundgesetz, w e n n d e r S t a t u s eines g r o ß e n Teiles d e r A k t i v b ü r g e r r e d u z i e r t w i r d a u f d e n A n s p r u c h e i n e r g e r i c h t l i c h e n K o n t r o l l e der V e r f a s s u n g s m ä ß i g k e i t s t a a t l i c h e n O r g a n h a n d e l n s u n d d e r G e s e t z m ä ß i g k e i t d e r V e r w a l t u n g , ohne daß d e r e n I n h a l t e i n e i n e m f ü r a l l e a l l g e m e i n e n u n d g l e i c h e n ö f f e n t lichen Verfahren entwickelt u n d entfaltet werden 138. D i e Verfassungsbewegung, welche m i t den bürgerlich-liberalen B e s t r e b u n g e n i m K o n s t i t u t i o n a l i s m u s des V o r m ä r z b e g o n n e n h a t , b e f i n d e t sich h e u t e i n e i n e r K r i s e . W a r es d a m a l s das B e s t r e b e n des B ü r g e r t u m s , worden ist." (S. 58) Vgl. auch K . Hesse, Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, S. 72. 137 Es bleibt dabei vielfach außer Ansatz, daß das Grundgesetz n u r i n seiner Gesamtheit, i n seinem Versuch, i n einer Verbindung von Rechtsstaatsgewährleistungen u n d Demokratieprinzip eine neue Ordnung zu konstituieren, zu verstehen ist. Das Verständnis der Grundrechte als mehr oder m i n der konkreter Ordnungsnormen, seine Reduzierung auf die F u n k t i o n n u r schwer oder nicht abänderbarer Gesetze, ihre Vorrangstellung als subjektive öffentliche Rechte gibt das Grundrechtsverständnis i m konkreten F a l l preis an die juristischen Auslegungsmethoden. 138 Es ist unzutreffend, daß der Begriff des Gesetzes, daß die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit u n d Grundrechte n u r aus der Perspektive der liberal-rechtsstaatlichen Elemente denkbar sind, andernfalls ihres Inhalts beraubt u n d jeder Spekulation offenstehen, w i e H. H. Rupp a n n i m m t (H. ff. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, Tübingen 1965, S. 140). I m Gegenteil, eine solche historische Festlegung des Grundrechtsverständnisses u n d des Verständnisses der Staatsorganisation u n d ihres Instrumentariums verbaut die Erkenntnis des realdialektischen Zusammenhanges zwischen Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip u n d G r u n d rechten. — „Die Entstehung des formalistischen Positivsmus bezeichnet — soziologisch gesehen — den P u n k t der gesellschaftlichen Entwicklung, an dem die zusammenfassenden, organisierenden alle gesellschaftlichen Bereiche miteinander i n Beziehung setzenden Tendenzen endgültig die Oberhand gewinnen, während zugleich i m Verlaufe dieser Durchorganisation die A u f splitterung der Gesellschaft i n isolierte Teilsphären erfolgt." Dieses zeigt sich „auf dem Gebiet des Verfassungslebens i n dem Sichdurchsetzen des rechtlich u n d politisch einheitlich organisierten Staates der Nationalsouveränität m i t der Tendenz zur Demokratie u n d Parlamentsherrschaft . . . " . Der A b b a u der Objektivität, der auch — „als Ü b e r w i n d u n g des Naturrechts" — i m staatsrechtlichen Positivismus eine bestimmte Rolle spielt, weist zurück auf eine soziale Verfassung, i n der die „bürgerliche Gesellschaft" allein zu herrschen beginnt . . . Zugleich aber bezeichnet die — idealtypisch reine — Herrschaft des staatsrechtlichen Positivismus keinen Zustand, sondern einen Durchgangspunkt der Entwicklung, der dem ökonomischen, sozialen, p o l i tischen, verfassungsmäßigen u n d ideellen Übergangscharakter (Schumpeter) dieser Epoche entspricht. (P. v. Oertzen, Die soziale F u n k t i o n des staatsrechtlichen Positivismus, F r a n k f u r t 1976, S. 41 ff.).
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
m i t der Berufung auf naturrechtliche Postulate, auf die Volkssouveräränität, die Menschenwürde und die sittlich autonome Person, die A u f nahme von Grundrechten i n Verfassungen zu begründen und m i t der damit direkt oder indirekt verbundenen Klausel des Gesetzesvorbehaltes bei Eingriffen i n Freiheit und Eigentum sich eine M i t w i r k u n g an der Staatsgewalt zu sichern und gleichzeitig Freiheit gegenüber dem Staat zu verschaffen, damit aber auch den Staat i n seiner eigenen Souveränität anzuerkennen und als Ordnungsfaktor gelten zu lassen, i n dessen Rahmen wirtschaftliche und kulturelle Interessen entfaltet w u r den 1 3 9 , so ist i n der Verfassungslehre nach 1919 und 1949 das bürgerliche Verständnis erstarrt. Individuelle Freiheitsgewährleistungen und Sicherung des Eigentums i m Sinne absoluter Rechtsstellungen dienen der Erhaltung des status quo. Der bürgerliche Liberalismus 1 4 0 forderte Freisetzung aller ökonomischen Energien, Handels- und Gewerbefreiheit, Zollfreiheit und Freihandel. Die alten, durch die Jahrhunderte entwickelten Verbände, die das wirtschaftliche, soziale und politische Leben durch Gesetz und Gewohnheitsrecht geordnet hatten, sollten zerstört, das Individuum ungehemmt und bindungsfrei werden. Von der freien Konkurrenz der ungebundenen individuellen Kräfte erhoffte man als Resultate einen allgemeinen harmonischen Friedens- und Rechtszustand. „Die liberale Idee wollte den Rechtsstaat i n dem Sinne, daß der Staat das Recht nur hütet; das Recht selbst aber sollte i n freien Verträgen zwischen den einzelnen entstehen, die öffentliche Gewalt weder irgend jemand zum Vertragsabschluß zwingen, noch sich um den Vertragsinhalt kümmern 1 4 1 ." Die Philosophie des Individualismus bildete nicht nur die realen Strukturen einer bürgerlichen Austauschgesellschaft ab. Sie ging darüber hinaus und rechtfertigte die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, indem sie den I n d i v i dualismus i n seiner spezifischen Ausprägung zur Basis der bürgerlichen Gesellschaft und der liberalen Demokratie erklärte 1 4 2 . 139 Z u r F u n k t i o n des Gesetzesvorbehalts i n der Weimarer Verfassung u n d zur Entfaltung dieses Prinzips, stellt R. Thoma zutreffend fest, daß es nicht an den Verfassungsartikeln der Rechtsverfassung von 1871 lag, w e n n der Reichstag nicht zu größerer Macht kam, sondern am mangelnden Machtstreben des Bürgertums (R. Thoma, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches i m Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Tübingen 1930, Bd. 1, S. 69 ff., S. 76). Die Sozialdemokratie, welche durchaus Interesse hatte, durch A k t i v i e rung des Reichstages staatsordnungsbestimmend zu w i r k e n , wurde durch die Sozialistengesetze u n d Wahlrechtsordnungen vielfach beschränkt. (Vgl. insges. A. Rosenberg, Die Entstehung der Weimarer Republik, 13. Aufl., F r a n k f u r t 1971). 140 Erg. F. Engels, L. Feuerbach u n d der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888), i n : M a r x / E n g e l s , Werke, B e r l i n 1972, Bd. 21, S. 304 f.; M. Weber, Die protestantische E t h i k u n d der Geist des Kapitalismus (1905), i n : M. Weber, Die protestantische Ethik, Tübingen 1961, Bd. 1, S. 122. 141 H. Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart (1926), i n : ders., Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 1, S. 340 f.
5.3 Grundrechte
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Die bürgerliche Gesellschaft hat i n ihrer individuellen Ausprägung ältere, historisch gewachsene kollektive Zusammenhänge wie Bindungen i n Genossenschaften, i n Berufskooperationen und Familienverbänden aufgelöst. Diese Auflösung erfaßte auch — teilweise religiös fundierte — Beziehungen i n der Gesellschaft und Statuszuweisungen. A n die Stelle von Ständen traten Klassen, die sich nur noch ökonomisch, nach ihrer Funktion i m Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion bestimmen lassen. Es entstand eine bisher unbekannte gesellschaftliche Mobilität, bei der die gesellschaftliche Stellung der einzelnen lediglich aus ihrer individuellen Leistung folgt. Die Beziehungen der einzelnen untereinander werden nach den Austauschprinzipien der modernen Gesellschaft vermittelt; zugleich wurden sie des Schutzes ihrer traditionellen Organisationsformen beraubt 1 4 3 . War es noch das Bestreben der Weimarer Reichsverfassung, durch eine programmatische Formulierung mancher Grundrechte diese i n einem demokratisch organisierten Prozeß zur Entfaltung zu bringen, so besteht heute tendenziell die Gefahr, durch eine interpretatorische Festschreibung einzelner Inhalte und Funktionen der Grundrechte m i t umfassendem Geltungsanspruch die Aktivbürger und den Gesetzgeber an einer demokratischen Ausgestaltung der Gesellschaftsordnung, an einer Effektivierung der Grundrechte für alle durch den Hinweis auf verfassungsrechtlich unbedingte Gewährleistungen zu hindern. Der A n spruch des Grundgesetzes, eine neue Ordnung zu vermitteln, deren Bestandteile Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip, Rechtsstaat und Demokratie sowie die Grundrechte sind, w i r d so nicht eingelöst. Die Theorie des „Besitzindividualismus" findet i m Grundgesetz keine Stütze. Das Grundprinzip der individuellen Entfaltungsfreiheit ist aber ein „Lernresultat der Grundrechtskämpfe der Vergangenheit", das auch nach dem Grundgesetz nicht wieder zur Disposition steht (Art. 2 GG). Die bürgerliche Forderung auf Achtung vor der menschlichen Würde, auf freie Ausbildung der schöpferischen Möglichkeiten der menschlichen Person kennzeichnen den Kulturzusammenhang, i n welchem das Grundgesetz steht. 5.3.2 Die Struktur sozialer Beziehungen als Gegenstandsbereich der Grundrechte
Die Funktion der Grundrechte, ihr Normprogramm kann nicht mehr nur i m Blick auf das isolierte Individuum, sondern ist i m Blick auf das Individuum i n seinen sozialen Zusammenhängen i n vergesellschaf142 Ch. Müller, Grundzüge des öffentlichen Rechts, Arbeitspapier, B e r l i n 1975, S. 74; vgl. erg. auch K . Marx, Z u r Judenfrage (1843), i n : M a r x / E n g e l s , Werke, Bd. 1, S. 369. 143 Ch. Müller, S. 76.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
teter Aktion, zu bestimmen, i n dieser realisieren sich auch Volkssouveränität und das Mehrheitsprinzip. Soweit die Individuen assoziiert auftreten, beschränkt sich der Wirkungskreis der Grundrechte nicht nur auf die Individualspähre, sie w i r k e n sich, wo die Individuen gemeinsam m i t anderen handeln, auch i n dieser vergesellschafteten Sphäre aus 144 . Der Mensch ist Einzelperson und i n seiner Lebenspraxis Teil von Gesellschaft. Individuelle Entfaltung der Person ist immer auch ein sozialer Prozeß, sie geschieht i n und durch Gesellschaft. Die Struktur einer Gesellschaft, i n ihr stattfindende Kommunikations- und Interaktionsprozesse bestimmen m i t das Individuum und die A r t seiner Assoziationen. Die Grundrechte können nicht aus einer Philosophie i n ihrem Sinn m i t dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit gedeutet und konkretisiert werden. Sie sind verbindliche Rechtsetzungen, Ausdruck und Bindung der Volkssouveränität und Beschränkung der Mehrheitsgewalt. Als verbindliche Rechtssätze sind sie bezogen auf die je spezifische gesellschaftliche Wirklichkeit, i n der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist ihr Ordnungsprogramm zu entfalten. Mögliche gesellschaftliche Strukturen und Prozesse als Ausdruck möglicher individueller oder assoziierter Handlungen werden i n der Selbstbindung der Volkssouveränität i n den Grundrechten reduziert auf solche Strukturen und Prozesse, welche dem Ordnungsprogramm der Grundrechte entsprechen. Gegenstand der Grundrechte sind so soziale Beziehungen und die soziale Beziehungen gestaltenden Verhaltensweisen. Durch die normative Prägung der sozialen Beziehungen w i r d sowohl das Individuum als solches und w i r d die staatlich verfaßte Gesellschaft insgesamt von den Grundrechten erfaßt, kann sich ein Ordnungszusammenhang realisieren. Normgegenstand der Grundrechte sind nicht unmittelbar nur die Individualität oder nur die Gesellschaft, sondern ist die Struktur sozialer Beziehungen. Die normative Festlegung bestimmter Ordnungselemente i n der Struktur sozialer Beziehungen bezweckt die Effektivierung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung, sie beinhaltet dam i t sowohl die Gewährleistung rechtlich normierbarer Bedingungen für den Schutz einer Privatsphäre des Individuums als Schutz seiner eigenständigen Entfaltung 1 4 5 wie auch die Gewährleistung freier Interaktions- und Kommunikationsprozesse. 144 Grundlegend hierzu H. Ridder, Meinungsfreiheit, i n : Neumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, B e r l i n 1954, S. 249 ff. 145 z u r Problematik unter Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Theorien G. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, Baden-Baden 1976.
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Nur die Struktur sozialer Beziehungen und sie bestimmende Verhaltensweisen kann Gegenstand normativer Regelung sein. Die Realisierung eines bestimmten Menschenbildes, einer bestimmten Form von Gesellschaft mag zwar die wertungsmäßige Grundlage für die Statuierung von Grundrechten bilden. Normen können aber nicht unmittelbar ein Menschenbild i n Praxis setzen, sondern nur über ihren Gebotsund Verbotsgehalt i n der Regelung sozialer Beziehungen die Bedingungen für freie Entfaltung der Person, die Bedingungen für eine durch freie und gleiche Personen konstituierte offene Gesellschaft, für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung gewährleisten. Soziale Beziehungen sind dabei nicht isoliert zu betrachten, entsprechend der normativen Interdependenz der Einzelgrundrechte und der faktischen Interdependenz sozialer Beziehungen bestimmt sich ihre aufgegebene Ordnungsstruktur nach dem Normthema des Einzelgrundrechts und dem Normprogramm des Grundgesetzes insgesamt. Die Grundrechte haben so i n ihrem Normbereich i n keinem Fall nur das isolierte Individuum als Bezugspunkt 1 4 6 , das i n seiner Existenz, seiner Freiheit und seinem Eigentum rechtlich zu sichern ist, sondern ihr Regelungsgegenstand sind zwischenmenschliche, frei gestaltete, organisierte oder vorgefundene soziale Beziehungen zwischen Menschen. Soziale Beziehungen werden bestimmt durch das Verhalten von Individuen, dies kann Verhalten von Einzelpersonen oder kann organisiertes Verhalten sein. Die Verhaltensweisen können Ausdruck bewußter personaler Entscheidung oder bewußter oder unbewußter Einhaltung von Verhaltensregeln sein. Individuelles oder organisiertes Handeln i n sozialen Beziehungen kann sich ausdrücken i n schlicht verbaler Kommunikation, i n der Verfügung und Verteilung von Informationen, i n der Aufstellung und Durchsetzung von Regeln, i n der Verfügung oder Verteilung von Sachmitteln, i m Ausschluß von der Verfügung über sächliche M i t t e l oder i n der Anwendung psychischer oder physischer Gewalt. Individuelles oder organisiertes Handeln formt so die Struktur sozialer Beziehungen, indem es Handlungsbedingungen für Individuen, Organisationen oder Assoziationen setzt oder beeinflußt und so die Struktur der sozialen Beziehungen selbst gestaltet als offene und freie oder als herrschafts- und gewaltunterworfene, sei es partiell etwa i m Informationsbereich oder i m Sachmittelbereich oder bezogen auf bestimmte Lebensverhältnisse wie Arbeitssituationen oder B i l dungsverhältnisse. Die Struktur sozialer Beziehungen w i r d durch das Zusammentreten verschiedener Verhaltenselemente, seien es informa146 Z u r Rechtsprechung des B V e r f G vgl. BVerfGE 4, 15 f.; 7, 323; 8, 329; vgl. auch BVerfGE 12, 51; 28, 189, 30, 20; 33, 10 f.
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torische oder sächliche bestimmt. Die Struktur sozialer Beziehungen bestimmt nicht nur das i n solchen Beziehungen mögliche Verhalten, sondern sie w i r k t auch zurück auf das Individuum, das individuelle Bewußtsein und die individuelle Entfaltung. Gegenstand grundrechtlicher Regelungen können nur — wie gesagt — Verhaltensweisen oder die durch Verhaltensweisen vermittelten Strukturen als ihre gesellschaftlichen Bedingungen sein. Der Geltungsanspruch der Grundrechte zielt damit auf die Struktur sozialer Beziehungen ab, denn diese gewähren freie Entfaltung der Person oder unterdrücken sie, gewähren Meinungsfreiheit oder unterdrücken sie, gewähren Gewissensfreiheit oder unterdrücken sie. Die Strukturen gesellschaftlicher Beziehungen sind also nicht nur ein analytisch gewonnenes Abstraktum, sondern sind Ausdruck formierter Verhaltensweisen. Die einzelnen Grundrechtsbestimmungen betreffen ihrem Normthema nach die Struktur sozialer Beziehungen unterschiedlich. Sie definieren kein Strukturnetz, soweit es nicht Verfahren verbindlicher Rechtsetzung oder Rechtsanwendung betrifft, sondern normieren nur das Strukturgefüge ohne eine konkretistische oder spezifizierte Verhaltensordnung festzuschreiben. Nicht der einzelne Status w i r d normativ festgeschrieben und auch keine verbindliche Verhaltensordnung w i r d deklariert, sondern das Normprogramm des Grundgesetzes bestimmt eine Offenheit und Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und begrenzt damit staatliche Herrschaft, u m die freie Entfaltung der Person und ihre Mitgestaltung der politischen Ordnung zu gewährleisten. I n der Verfassungsgebung hat das souveräne Volk m i t den Grundrechten sich als Staat auf eine bestimmte Struktur seiner staatlich-gesellschaftlichen Ordnung festgelegt. Diese Ordnung zu wahren ist Verpflichtung des „Staates" und ist Anspruch des „Aktivbürgers". Der Normgegenstand der Grundrechte ist so eine spezifische Strukturbestimmung sozialer Beziehungen entsprechend dem jeweiligen Normthema: Freiheitlichkeit als Bedingung freier Entfaltung der Person, Informations- und Meinungsfreiheit, Berufs- und Arbeitsfreiheit, Gewährleistung von personalem Eigentum. Der Normbereich bezeichnet den Ausschnitt sozialer Beziehungen, welche vom Geltungsanspruch eines Grundrechtes allein oder i n Verbindung m i t anderen Grundrechten betroffen werden. Das Normprogramm des Grundgesetzes bestimmt den Auslegungszusammenhang für das einzelne Grundrecht, seine spezifischen Effizienzansprüche i n unterschiedlichen sozialen Situationen und die allgemeine Struktur sozialer Beziehungen. A r t . 2 GG normiert die Grundstruktur sozialer Beziehungen: Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit — begrenzt durch die Rechte anderer, die Gebote der verfassungsmäßigen Ordnimg und das Sitten-
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gesetz. Leben und körperliche Unversehrtheit sind garantiert, die Freiheit der Person darf i n den sozialen Beziehungen und ihrer Struktur nicht an sich aufgehoben werden, Begrenzungen sind nur aufgrund gesetzlicher Regelungen möglich 1 4 7 . Solche gesetzlichen Regelungen — als Ausdruck parlamentarischer Mehrheiten — sind selbst begrenzt durch das Normprogramm des Grundgesetzes. Die Grundstruktur w i r d also gebildet durch zwei oder mehrere gleichartige Ansprüche auf freie Entfaltung der Person, welche sich durch und i n ihrer Gleichartigkeit und Gleichzeitigkeit gegenüberstehen, inhaltlich weiter bestimmt und begrenzt durch Rechtsnormen und das Sittengesetz. A r t . 2 GG ist seinem Inhalt nach ein individuelles und ein soziales Grundrecht 1 4 8 , gebunden an das „Sittengesetz" und die verfassungsmäßige Ordnung insgesamt. Diese Grundstruktur sozialer Beziehungen ist auch Thema von A r t . 3: „ A l l e Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Abs. 2 und 3 von A r t . 3 GG stellen dies für spezifische Sachverhalte besonders k l a r 1 4 9 . A r t . 2 GG statuiert so die prinzipielle Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen, u m die Selbstgestaltung und freie Entfaltung der Person und ihre Mitgestaltung von Gesellschaft zu gewährleisten, ohne daß ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil vorgegeben ist. Die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen w i r d näher spezifiziert i n der Gewährleistung von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, A r t . 4 GG 1 5 0 . I n seinem Gewissen und i n seinem Glauben ist das Individuum frei, es kann nur selbst sein Gewissen und seinen Glauben verantworten, sich i n Sinnbezügen verorten. Es gibt keine Staatsreligion, der Staat kann keinen Glauben oder kein Bekenntnis allgemein verbindlich erklären. Die Bekenntnisfreiheit weist über A r t . 4 GG hinaus, indem sie auch die kommunikativen und sozialen Bezüge, i n welchen sich 147 Vgl. W. Schmidt, Die Freiheit v o r dem Gesetz — Z u r Auslegung des A r t . 2 Abs. 1 GG — i n : AöR, Bd. 91 (1966), S. 42 ff. 148 Die Problematik der A r t . 2 GG ist hier nicht umfassend zu erörtern, i m M i t t e l p u n k t der Überlegungen steht n u r die Frage nach der F u n k t i o n dieser N o r m i m Normprogramm des Grundgesetzes, erg. m. w. H. D. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, B e r l i n 1976, insbes. S. 78 ff., S. 105 ff. Z u r herkömmlichen Interpretation des A r t . 2 vgl. bei Maunz / Dürig / Herzog I Scholz, A r t . 2 GG; zur Rechtsprechung des B V e r f G die Übersicht bei Leibholz/Rinck, Grundgesetz, K ö l n 1975, A r t . 2 GG; E. Hesse, Die Bindung des Gesetzgebers an das Grundrecht des A r t . 2 Abs. 1 GG bei der V e r w i r k lichung einer „verfassungsmäßigen Ordnung", B e r l i n 1968; F. Müller, N o r m bereiche von Einzelgrundrechten i n der Rechtsprechung des BVerfG, B e r l i n 1969, S. 9 ff., S. 20 ff. 149 Vgl. zu E n t w i c k l u n g u n d Gehalt des Gleichheitspostulates hier a l l gemein H. F. Zacher, Freiheitliche Demokratie, München u. Wien 1969, insbes. S. 97 ff. 150 vgi # E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, i n : W d S t R L , H. 28, B e r l i n 1970, S. 33 ff. Über A r t . 4 GG w i r d Toleranz zu einem M e r k m a l freiheitlicher sozialer Beziehungen, vgl. G. Püttner, Toleranz als Verfassungsproblem, B e r l i n 1977.
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Glauben und Bekenntnis darstellen, i n den Geltungsbereich der Norm einbezieht; insoweit ist A r t . 4 i n Verbindung m i t A r t . 5 Abs. 1 GG auch ein kommunikatives Recht. Soziale Beziehungen, i n welchen Religionsausübung geschieht, müssen die Freiheitlichkeit i n ihrer eigenen Struktur und i n den gesellschaftlichen Beziehungen i m übrigen wahren, sie dürfen die Freiheit des Glaubens und Bekenntnisses nicht unterdrücken. Die strukturelle Bedeutung der Grundrechte für soziale Beziehungen w i r d auch deutlich bei A r t . 6 GG (Ehe und Familie, Stellung der Kinder): Diese Norm hat einerseits soziale Beziehungen selbst zu ihrem Gegenstand und greift gleichzeitig darüber hinaus, indem die sozialen Beziehungen i m übrigen so angelegt sein müssen, daß uneheliche K i n der nicht benachteiligt werden, daß die Mutter i m besonderen Schutz und Förderung erfährt und daß die Eltern die Erziehung und Pflege der Kinder wahrnehmen können 1 5 1 . A r t . 5 Abs. 1 GG betrifft die Meinungs- und Pressefreiheit 152 , hat die freie Sammlung, Verarbeitung und den Austausch von Informationen 1 5 3 als seinen Normgegenstand und betrifft so die informatorische und kommunikative Funktion von sozialen Beziehungen: Geschützt ist, Mein u n g 1 5 4 zu haben und zu äußern, diese zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Meinungsfreiheit und Pressefreiheit können durch allgemeine Gesetze begrenzt und das heißt konkretisiert werden i n dem durch das Normprogramm des Grundgesetzes gesetzten Rahmen. Die Persönlichkeit w i r d geschützt vor Ehrverletzungen, zum Schutze der Jugend können besondere gesetzliche Regelungen ergehen.
151 Erg. hierzu E. Stein, Staatsrecht, S. 232 ff., S. 243 ff. 152 v g l . allgemein Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 49 ff. zu A r t . 5 GG (m. w . N.); R. Zippelius, Meinungsfreiheit, i n : Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1975, Sp. 1550 ff.; P. Lerche, Informationsfreiheit, i n : Evangl. Staatslexikon, Sp. 1004 ff.; ders., Presse, Pressefreiheit, Sp. 1601 ff.; zur Rechtsprechung des B V e r f G vgl. Leibholz ! Rinck, G r u n d gesetz, A r t . 5 insbes. A n m . I f f . , 4, U f f . ; Κ . Rothenbücher / R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, i n : W d S t R L , H. 4, B e r l i n 1928; H. Ridder, Meinungsfreiheit, i n : Neumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, B e r l i n 1954, S. 243 ff.
153 Erg. H. Windsheimer, Die „ I n f o r m a t i o n " als Interpretationsgrundlage f ü r die subjektiven öffentlichen Rechte des A r t . 5 Abs. 1 GG, B e r l i n 1968, S. 41, 119; zu Einzelheiten der Problematik vgl. H. Brinckmann / K. Grimmer, Rechtsfragen der Weiterbildung, der Information u n d der Bildungsstatistik, i n : Deutscher Bildungsrat, Gutachten u n d Studien der Bildungskommission, Bd. 33, Stuttgart 1974, S. 88 f. 154 Z u r theoretischen Problematik des Meinungsbegriffes vgl. P. Schneider, Pressefreiheit u n d Staatssicherheit, Mainz 1968, S. 35 ff.
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Der besondere Schutz der Informationsfreiheit ist auszeichnendes Merkmal des Grundgesetzes, diese Informationsfreiheit ist gleichzeitig Bedingung einer öffentlichen Meinungsfreiheit, welche durch die Informationsfreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung und -Verbreitung konstituiert w i r d 1 5 5 . A r t . 5 Abs. 1 GG steht i n engem theoretischen und praktischen Zusammenhang m i t A r t . 2 GG, beide Normen bestimmen maßgeblich das Normprogramm des Grundgesetzes. Informationsfreiheit und Meinungsäußerungsfreiheit sind die Bedingungen freier Meinungs- und Entscheidungsbildung 156 , sie sind damit eine Grundlage freier sozialer Beziehungen, ebenso wie der individuellen Persönlichkeitsentfaltung und der kommunikativen Interaktion i n Gesellschaft. Private Meinungsäußerungsfreiheit und öffentliche Meinungsfreiheit dienen dem Schutze der freien Bildung einer öffentlichen Meinung 1 5 7 , sie haben gleichzeitig auch eine strukturelle Bedeutung für soziale Beziehungen i m Sinne einer assoziativen F u n k t i o n 1 5 8 ; durch Informations- und Meinungsfreiheit werden soziale Beziehungen strukturiert, i n sich und gegenüber anderen. Informationsfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung sind nicht nur ihrer historisch-philosophischen Substanz nach Ausdruck des A n spruchs auf freie Entwicklung und Entfaltung der Person, sie sind auch fundamentale Bedingung der Vergesellschaftung und der Organisationswirkung, sie sind grundlegende Voraussetzung freien politischen Diskurses 159 über mögliche und anzustrebende Konkretionen von Grundrechten und sind damit konstitutiv für eine freiheitliche Demokratie. Insoweit steht diese Verfassungsbestimmung i m Zusammenhang m i t jenen Grundrechten, welche deren materielle und wirtschaftliche Substrate gewährleisten 1 6 0 und kann gemäß A r t . 18 GG v e r w i r k t werden, wenn sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und das heißt letztlich auch gegen die Volkssouveränität gewendet wird. Entsprechend der Gewährleistung von Meinungs- und Pressefreiheit ist auch die freie, unkontrollierte Informationsvermittlung garantiert (Art. 10 GG Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) 161 . N u r wenn der 155 Hierzu H. Ridder, S. 275, 278. ΐ5β Grundlegend hierzu W. Schmidt, Die bedrohte i n : JZ 1974, S. 241 ff.; erg. E. Stein, Staatsrecht, S. 99 ff. 157 158 159 160 161
GG.
Entscheidungsfreiheit,
Vgl. auch H. Ridder, S. 265, 268. Vgl. H. Ridder, S. 249; erg. insges. E. Stein, S. 192 ff., 198 ff. Hierzu näher P. Schneider, S. 23 ff.; H. Ridder, S. 244 f. So auch P. Schneider, S. 38 ff.; H. Ridder, S. 246 f. Erg. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 9 ff. zu A r t . 10
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Inhalt übermittelter Informationen geheim bleiben kann, ist eine freie Informationsvermittlung, ist die Freiheitlichkeit von Informationsbeziehungen gewährleistet 1 6 2 . Die Struktur sozialer Beziehungen betreffen auch die Gewährleistung der Freizügigkeit (Art. 11 GG) 1 6 3 einerseits und die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) 1 6 4 andererseits. Freizügigkeit ergänzt Entfaltungsfreiheit und Kommunikationsfreiheit i n ihren lokal-personalen Bezügen. Die Unverletztlichkeit der Wohnung gewährt die Eigensphäre und Privatheit der Behausung. Beide Bestimmungen haben die individuelle Freiheit i n ihren sozialen Zusammenhängen zu ihrem Gegenstand. Die Freiheit von K u n s t 1 6 5 und Wissenschaft, Forschung und Lehre ist umfassend, die Lehrfreiheit findet gemäß A r t . 5 Abs. 3 ihre Begrenzung i n der „Treue zur Verfassung" 1 6 6 . Kunst, Wissenschaft, Forschung sind damit aber nicht individueller Beliebigkeit überlassen. Als Produktion schöpferischer Individualität sind sie nicht normierbar, ihre Realisierung i n sozialen Beziehungen ist frei organisierbar, soweit ihre Produkte aber eine Gefährdung von Leben oder körperlicher Unversehrtheit beinhalten, werden sie vom Normbereich des A r t . 2 Abs. 2 GG erfaßt, soweit ihre Organisation eine Unterdrückung der freien Entfaltung mittelbar oder unmittelbar beteiligter Personen, eine Unterdrückung von Glaubens- und Gewissensfreiheit bewirkt, unterliegen sie der Bindung durch A r t . 2 Abs. 1 bzw. A r t . 4 Abs. 1 GG. Der Sozialbereich von Kunst, Wissenschaft und Forschung w i r d also nicht allein durch A r t . 5 Abs. 4 GG normiert, sondern insgesamt durch ein Normprogramm, welches am hier erörterten Beispiel ergänzt w i r d durch A r t . 2 und A r t . 4 GG. Art. 8 GG — Versammlungsfreiheit — 1 6 7 , A r t . 9 GG — Vereinigungsfreiheit — 1 6 8 und A r t . 21 GG — Politische Parteien — 1 6 9 haben zu ihrem 162 A r t . 10 Abs. 2 GG sieht Beschränkungen durch Gesetz, insbesondere zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor; die G r u n d gesetzkonformität dieser Bestimmung i m einzelnen ist umstritten, vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 32 ff. (insbes. A n m . 36 ff.) zu A r t . 10 GG. 183 Erg. E. Stein, Staatsrecht, S. 230 f.; Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl., München 1977, S. 174. 164 Erg. E. Stein, S. 236 f.; Th. Maunz, S. 136. 165 Zur Problematik des Kunstbegriffs u n d der Freiheit der K u n s t vgl. G. Knies, Die Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, B e r l i n 1967; G. Erbel, I n h a l t u n d A u s w i r k u n g e n der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966; U. Meyer-Cording, Das Literarische Porträt u n d die Freiheit der Kunst, i n : J Z 1976, S. 737 ff. jew. m. w . N. 166 I m einzelnen zur h. L . Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 81 ff. zu A r t . 5 Abs. 3 GG m . w . H . ; BVerfGE 35, 79 (112 ff.); erg. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 164 ff.; E. Stein, Staatsrecht, S. 198 ff.
5.3 Grundrechte
233
Gegenstandsbereich soziale Beziehungen und ihre Strukturierung an sich: Versammlungen, Vereine und Gesellschaften bilden, politische Parteien gründen als Zwecksetzung sozialer Beziehungen. Die Grundrechte der Vereins- und Versammlungsfreiheit stehen i m unmittelbaren Zusammenhang m i t dem Grundrecht der Freiheit der Person und der Meinungsäußerungsfreiheit als Grundrechte freien Kommunizierens und Handelns 1 7 0 . Soziale Beziehungen i n Form von Vereinigungen und politischen Parteien haben regelmäßig eine spezifische gesellschaftlichpolitische Funktion. Sie sind Ausdruck gesellschaftsbezogenen Handelns. Ihre Struktur bestimmt deshalb auch die Struktur politischgesellschaftlicher Aktionen und Interaktionen, sei es i n der Form „ p r i vater Vereinigungen" m i t eigenen Ziel- und Zwecksetzungen, sei es i n der Form von politischen Parteien und Verbänden m i t dem Anliegen, eigene, koordinierte Interessen gemeinsam zu artikulieren und i n politische Praxis umzusetzen 171 . Insgesamt unterliegen solche sozialen Beziehungen der Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung, sie sind unterschiedlich gesetzlich regelbar 1 7 2 . Bei einer Gefährdung der politischen, verfassungsmäßigen Gesamtordnung, wenn sich organisierte soziale Beziehungen i n ihren Aktionen unmittelbar gegen diese richten, sind solche Parteien und Vereinigungen verfassungswidrig oder verboten 1 7 3 . Die Durchsetzung 167 Z u r vorherrschenden Interpretation von A r t . 8 GG vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 39 ff. zu A r t . 8 GG. 188 Z u r E n t w i c k l u n g u n d zum Gewährleistungsgehalt von A r t . 9 vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 33 ff. zu A r t . 9 GG, speziell zum Grundrecht der Koalitionsfreiheit A n m . 154 ff. zu A r t . 9 GG; zur Rechtsprechung des B V e r f G Leibholz / Rinck, A n m . 1 ff., 7 ff. zu A r t . 9 GG. lee v g l . hierzu allgemein Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 7 ff. zu A r t . 21 GG; zur Rechtsprechung des B V e r f G vgl. bei Leibholz / Rinck, A n m . 5 ff. zu A r t . 21 GG; grundsätzlich zur geschichtlichen E n t w i c k l u n g u n d zur v e r fassungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien K . Hesse, Politische Parteien, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 1770 ff.; K . - H . Seifert, Die p o l i t i schen Parteien i m Recht der Bundesrepublik Deutschland, K ö l n usw. 1975, S. 61 ff., S. 179 ff.; K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München 1977, S. 323 ff. 170 So H. Ridder, S. 148; erg. ders., Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, S. 54 ff., S. 68 ff. m. w. H. 171 Erg. G. Leibholz IG. Winkler, Staat u n d Verbände, i n : W d S t R L , H. 24, B e r l i n 1966; J. Weber, Die Interessengruppen i m politischen System der B u n desrepublik Deutschland, Stuttgart usw. 1977, S. 83 ff., S. 343 ff. m . w . H.; G. Teubner, Organisationsdemokratie u n d Verbandsverfassung, Tübingen 1978, S. 221 ff. m. w. H. 172 Näher hierzu Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 69 ff. zu A r t . 8 GG, Anm. 112 ff. zu A r t . 9 GG; Leibholz / Rinck, A n m . 4 ff. zu A r t . 9 GG; G. Teubner, Organisationsdemokratie u n d Verbandsverfassung, Tübingen 1978, S. 178 ff. m. w. H.; Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 47 ff. zu A r t . 21 GG; Leibholz / Rinck, A n m . 5 ff. zu A r t . 21 GG. 173 Z u r Verbotsproblematik vgl. BVerfGE 2, I f f . ; 5, 85 ff.; M. Drath, Die
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
des Verbotes ist letztlich der Entscheidungsgewalt der parlamentarischen Mehrheit bzw. der durch diese bestimmten Staatsorgane überlassen, sie hängt damit i m Grunde ab von der jeweils angenommenen Gefährdung. Die Entscheidung der Regierungsorgane ist durch Verwaltungsgerichte überprüfbar bzw. unterliegt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes. N u r bei einer sehr restriktiven Anwendung dieser Vorschrift kann verhindert werden, daß sie von einer parlamentarischen Mehrheit zu einer Aushöhlung des Prinzips der Volkssouveränität verwendet wird. Als Formen von Gemeinschaftsbildung oder unmittelbarer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, um die individuellen und gruppenspezifischen ökonomischen Existenzbedingungen, sind sie unbeschränkbar 174 . Die Gewährleistung der Vereinigungsfreiheit und der politischen Parteien steht i m Kontext des rechtsstaatlichen Liberalismus. Auch die Koalitionsfreiheit des A r t . 9 GG stellt keinen Bruch m i t den Grundrechtsprinzipien des Liberalismus dar. Die Arbeiterbewegung, die der kombinierten A k t i o n des Kapitals ihrerseits kombinierte Aktionen entgegensetzt, nimmt damit die Freiheitsrechte i n Anspruch, die das liberale Bürgertum zu seiner eigenen verfassungsmäßigen Konstitution gegenüber und i n einem Obrigkeitsstaat postuliert hat 1 7 5 . Arbeitskämpfe dürfen deshalb auch nicht als Notstandssituationen durch die Staatsgewalt, also durch die jeweils herrschende Mehrheit definiert und durch entsprechenden Einsatz von staatlichen Herrschaftsmitteln unterbunden werden. I n den Grundrechten der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden die „Freiheit" des Individuums und werden Informations- und Meinungsfreiheit vorausgesetzt und gleichzeitig überschritten. Nicht nur eine Menge von Individuen i n irgendeinem Verbund ist geschützt, sondern der Verbund selbst, soziale Beziehung als Form der Kommunikation und Interaktion, als Ausdruck solidarischer Selbstentfaltung und Interessenartikulation und -organisation. Die Funktion dieser VerfasFortdauer von Parteiverboten als Verfassungsproblem, Gutachten, D a r m stadt 1972; E. Stein, Staatsrecht, S. 141 ff. 174 Grundlegend H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften i m Sozialstaat nach dem Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1960, S. 32; vgl. erg. K . Zweigert / D. Martiny, Gewerkschaften u n d Grundgesetz, i n : Festschrift f ü r H. O. Vetter, K ö l n 1977, S. 109 ff.; M. Gerhardt, Das Koalitionsgesetz, Verfassungsrechtliche Überlegungen zur Neuregelung des Rechts der Gewerkschaften u n d der A r b e i t geberverbände, B e r l i n 1977. Unter dem Gesichtspunkt grundrechtlichen E n t stehens- u n d Bestandschutzes vgl. M. Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung u n d Bestandsschutz, München 1970, S. 78, 81. 175 So Ch. Müller, S. 78 ff.; erg. G. Baier, Elemente einer Theorie der gewerkschaftlichen Entwicklung — Autonomie, Funktion, S t r u k t u r u n d A k t i o n , i n : Festschrift f ü r H. O. Vetter, K ö l n 1977, S. 191 ff.; G. Leminsky, Demokratisierung u n d Gewerkschaften, ebd. S. 219 ff.
5.3 Grundrechte
235
sungsnormen ist nicht isoliert bestimmbar, sie stehen i n engem Zusammenhang mit dem Souveränitäts- und Mehrheitsprinzip. „ I m Zusammenhang m i t A r t . 9 GG stellt sich das Problem der Kontinuität der Grundrechte i n einer neuen Perspektive. A r t . 9 GG stellt das Grundprinzip auf, daß i n einer Demokratie die Bürger am politischen Leben aktiv teilnehmen. Es erhebt das Recht auf Selbstorganisation und politische Autonomie zur Verfassungsnorm. A r t . 9 ist insofern eng verwandt m i t dem demokratischen Grundprinzip des A r t . 20 Abs. 2 G G 1 7 6 . " A r t . 9 GG hat m i t seiner Gewährleistung spezifischer, zweckbestimmter sozialer Beziehungen eine grundlegende Bedeutung für die Struktur der staatlich verfaßten Gesellschaft insgesamt: Die Realisierung und Konkretisierung der Verfassungsordnung ereignet sich nicht nur i n formalen Verfahren staatlicher Willens- und Entscheidungsbildung, sondern soziale Gruppen können i n Teilbereichen der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen autonom Ordnungsstrukturen gestalten, dies allerdings nur i m Rahmen des Normprogrammes des Grundgesetzes. Diese Bestimmung hat damit auch eine legitimationsvermittelnde Bedeutung für das politisch-gesellschaftliche System insgesamt. Ausübung von Volkssouveränität ist nicht individuelle Darstellung eines Gemeinwollens, sondern ist das Recht und die Möglichkeit der Mehrheitsgewinnung zur Bestimmung der politischen Gesamtordnung nach spezifischen Anliegen, Interessen und Bedürfnissen. Politische Parteien als Vermittlungsform zur Interessenkoordination und zur Mehrheitsgewinnung unterliegen ihrer Struktur nach deshalb den für diesen Staat konstitutiven demokratischen Grundsätzen. Als Form der M i t w i r k u n g in der demokratisch-parlamentarischen Meinung sowie Entscheidung sind sie nach A r t . 21 GG besonders geschützt und ist ihre freiheitliche Struktur Bedingung heutiger Demokratie 1 7 7 . Die Funktion der Grundrechte, spezifische für die Gesellschaft grundlegende soziale Beziehungen zu regeln, einen Ausgleich zwischen I n d i vidualismus und Sozietät herzustellen, w i r d auch deutlich an A r t . 12 GG. I n seiner Substanz betrifft A r t . 12 GG soziale Beziehungen m i t der Funktion von Ausbildung, Berufsausübung und Arbeit. I n der Arbeit realisiert sich die Person, und zwar zunächst i n der Vorform der Wahl 176
Ch. Müller, S. 82. Insoweit kann H. Ridder, Meinungsfreiheit, S. 257 zugestimmt werden, daß A r t . 21 GG die F u n k t i o n einer H a u p t - u n d Grundnorm der institutionellen öffentlichen Meinungsfreiheit des modernen Parteienstaates zukommen kann; dagegen P. Schneider, S. 31 ff., S. 58 f. m. w. N. Z u r F u n k t i o n der p o l i tischen Parteien i n der Sicht des Bundesverfassungsgerichts vgl. P. Badura, Verfassung, Staat u n d Gesellschaft i n der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. 2, S. I f f . ; erg. F. Stollberg, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Parteiverbots, B e r l i n 1976 m. w. H. 177
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
des Berufes und der Ausbildungsstätte, schließlich i n der Wahl des Arbeitsplatzes, insoweit ergänzen sich die Normthemata von A r t . 12 und A r t . 2 GG. Die Begründung solcher sozialer Beziehungen ist frei 1 7 8 . Arbeit ist i n einer arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft nicht nur Selbstdarstellung, sondern immer auch Grund für Interaktion und Kommunikation und ist vielfach materialisiert. Der Bereich der Berufsausübung als Arbeit unterliegt so neben A r t . 2 GG auch dem Normprogramm wie es über A r t . 4, A r t . 9, A r t . 14 GG für den Normbereich des A r t . 12 GG gebildet w i r d 1 7 0 . I n der Arbeitspraxis vergegenständlicht sich das Individuum und schafft das materiale Substrat für seine Entfaltung. A r t . 12 GG ist deshalb weder überformbar durch die private Verfügung über Arbeitsmittel und Arbeitsprodukte oder durch eine Begrenzung von Bildung und Ausbildung. Die Berufsausübung kann i n diesem Rahmen durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden 1 8 0 . Berufsausübung ist gesellschaftliches Handeln. I n einer differenzierten und fachlich spezialisierten Gesellschaft bedarf die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen der Gewährleistung qualitativer Anforderungen an die Berufsausübung, das Arbeitsprodukt ist fundamentales gesellschaftliches Tausch- und Gebrauchsobjekt, es dient der Befriedigung individueller und gesellschaftlicher Ansprüche und Erwartungen. Gegenstand sozialer Beziehungen und Substrat des individuellen Status ist das Eigentum. Eigentum und seine Nutzung beinhalten Bedingungen und Möglichkeiten für die Entfaltung der eigenen Person, für die Beschränkung anderer Personen i n ihrer Entfaltungsfreiheit und i n ihren sozialen Beziehungen und i n dem, was sie an persönlicher Handlungskompetenz i n solche Beziehungen einbringen. Das Eigentum und das Erbrecht werden gemäß A r t . 14 GG gewährleistet, Inhalt und Schranken können durch Gesetz bestimmt werden 1 8 1 . 178 Vgl. zur herrschenden Lehre Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 19 ff., 29 ff., 104 ff. zu A r t . 12 GG; R. Herzog, Berufsfreiheit, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 186 ff.; H. Hege, Das Grundrecht der Berufsfreiheit i m Sozialstaat, B e r l i n 1977, S. 31 ff. m. w . N.; N. Haider, Grundfragen eines gewandelten Grundrechtsverständnisses am Beispiel der Freiheit der Berufswahl, i n : Der Staat 1979, S. 31 ff.; zur Rechtsprechung des B V e r f G vgl. bei Leibholz / Rinck, A n m . 1 ff. zu A r t . 12 GG. 179 Z u den Problemen einer Arbeitsverfassung vgl. Th. Ramm, Die Arbeitsverfassung der Bundesrepublik Deutschland, i n : JZ 1977, S. I f f . m. w. H.; H. Hege, S. 55 ff. 180 Z u r Regelbarkeit der Berufsausübung vgl. i m einzelnen bei Maunz! Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 57 ff., 71 ff., 98 ff. zu A r t . 12 GG; H. Hege, S. 98 ff.; erg. M. Kloepfer, S. 86 f.; grundlegend BVerfGE 7, 377 ff.; i m ü b r i gen siehe zur Rspr. des B V e r f G bei Leibholz / Rinck, A n m . 5 ff., 13 ff. zu A r t . 12 GG; zum Zusammenhang von A r t . 12 GG m i t der Verfassungsordnung insgesamt BVerfG, i n : JZ 1977, S. 791 ff., allerdings w i r d hier auch deutlich, daß eine Interpretation aus dem Zusammenhang zu einer Denaturierung einzelner Grundrechte führen kann.
5.3 Grundrechte
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D e r G e b r a u c h des E i g e n t u m s s o l l z u g l e i c h d e m W o h l e d e r A l l g e m e i n h e i t dienen, A r t . 14 A b s . 2 G G . D e r B e g r i f f des E i g e n t u m s selbst ist i m Grundgesetz n i c h t d e f i n i e r t , er u n t e r l i e g t i n d e r Rechtsgeschichte e i n e r E n t w i c k l u n g u n d V e r ä n d e r u n g 1 8 2 . U r s p r ü n g l i c h d i e n t e d e r B e g r i f f z u r B e z e i c h n u n g ausschließlich i n d i v i d u e l l e r V e r f ü g u n g s g e w a l t u n d u m f a ß t e n u r das persönliche Sache i g e n t u m f ü r d i e eigene L e b e n s f ü h r u n g . E n t s p r e c h e n d d e n A n f o r d e r u n g e n des b ü r g e r l i c h - i n d u s t r i e l l e n K a p i t a l i s m u s u n d e i n e r m o d e r n e n V e r k e h r s w i r t s c h a f t e r f u h r d e r B e g r i f f eine A u s d e h n u n g b i s h i n z u v e r m ö g e n s g l e i c h e n R e c h t e n 1 8 3 . Das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t h a t d e n verfassungsrechtlichen B e g r i f f z u t r e f f e n d d i f f e r e n z i e r t i n e i n e n K e r n bereich: E i g e n t u m als S a c h m i t t e l i n d i v i d u e l l e r F r e i h e i t u n d L e b e n s f ü h r u n g u n d i n e i n e n U m f e l d b e r e i c h : E i g e n t u m als W i r t s c h a f t s f o r m , w o b e i sich m i t d e r E n t f e r n u n g v o m i n d i v i d u e l l e n B e d a r f d i e S o z i a l b i n d u n g v e r d i c h t e n s o l l u n d d i e gesetzliche R e g u l i e r b a r k e i t z u n e h m e n kann184. 181 Vgl. insges., insbes. zur herrschenden Lehre u n d Rechtsprechung, O. Kimminich, Das Grundrecht auf Eigentum, i n : JuS 1978, S. 217 ff.; Maunz! Dürig / Herzog / Scholz, A n m . 29 ff., 69 ff. zu A r t . 14 GG; Leibholz / Rinck, Grundgesetz, A n m . 1 ff. zu A r t . 14 GG; H. P. Ipsen, Das Bundesverfassungsgericht u n d das Privateigentum, i n : AÖR, Bd. 91/1966, S. 86 ff.; M. Kloepfer, S. 35 ff.; E. Forsthoff, Z u r Lage des verfassungsrechtlichen Eigentumschutzes, i n : Festgabe f ü r Th. Maunz, München 1971, S. 89 ff., S. 96 („Der Eigentumsschutz der rechtsstaatlichen Verfassung beruht, was eine Selbstverständlichkeit ist, auf einem konkreten, substantiell zu verstehenden Begriff von Eigentum. M i t den modernen Großprojekten konfrontiert, verliert er seine begriffliche K o n t u r . . . " ) ; J. Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht, B e r l i n 1975. Vgl. auch Β G H Z 6, 260 ff.; 41, 354 ff.; B G H , i n : JZ 1965, S. 649. — Kritisch, aber zutreffend H. Ridder, Der Grundrechtsschutz des Eigentums, seine Grenzen u n d Beschränkungen i m öffentlichen Interesse, i n : H. S p a n n e r / P . Pernthaler / H. Ridder, Grundrechtsschutz des Eigentums, Karlsruhe 1977, S. 39 ff. 182 Erg. m. w . N. Erwin Stein, Z u r Wandlung des Eigentumsbegriffes, i n : Festschrift f ü r Gebhard Müller, 1970, S. 503; H. Rittstieg, Eigentum als V e r fassungsproblem, Darmstadt 1975; W. Däubler/U. Sieling-Wendeling / H. Welkoborsky, Eigentum u n d Rechts, Darmstadt usw. 1976, S. 11 ff., S. 75 ff.; vgl. auch E. Stein, Staatsrecht, Tübingen 1968, S. 156; BVerfGE 14, 263; 21, 73, 82 f.; 24, 367; 25, 112; B V e r f G i n JZ 1979, S. 800 ff.; P. Badura, Wirtschaftsverfassung u n d Wirtschaftsverwaltung, F r a n k f u r t 1971, S. 102 ff. 183 v g l z u dieser E n t w i c k l u n g insbes. A. Podlech, Eigentum — Entscheidungsstruktur der Gesellschaft, i n : Der Staat 1976, S. 31 ff. (41 f.). Podlech weist auch darauf hin, daß n u r m i t Stimmengleichheit i m Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates eine Fassung des heutigen A r t . 14 Abs. 1 GG abgelehnt wurde, nach der die verfassungsrechtliche Garantie n u r Eigentum schützen sollte, „das der persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen A r beit" dient (vgl hierzu Κ. P. von Doemming / R. W. Füsslein / W. Matz, E n t stehungsgeschichte der A r t i k e l des Grundgesetzes, i n : JöR 1/1951, S. 146; H. Rittstieg, S. 313 ff.; O. Kimminich, S. 218 m. w . N. — Z u r Philosophie des Eigentums G. Dietze, Z u r Verteidigung des Eigentums, Tübingen 1978, S. 11 ff. 184 Vgl. BVerfGE 24, 367 ff.; H. Rittstieg, m. w. N.
S. 308 ff.; O. Kimminich,
S. 219
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
A n der verfassungsrechtlichen Interpretation des Eigentumsbegriffes w i r d deutlich, i n welcher Weise die Betonung einzelner normativer Elemente, beispielsweise der individuellen Zuordnung und Verfügungsmacht bei Eigentum, die Struktur sozialer Beziehungen betreffen und das Normprogramm des Grundgesetzes verfälschen kann, i n welcher Weise Verfassungsinterpretation zur sozialen Herrschaftslegitimation werden kann. Die Verfügungsmöglichkeit über Eigentum hat eine spezifische gesellschaftliche Funktion. Eigentum ist nicht nur M i t t e l individueller Lebensgestaltung, seine Verwertung und Nutzung gestaltet gesellschaftliche Interaktionsprozesse und kann unmittelbar durch die Bestimmung eines Sachkomplexes oder privaten Verfügungsbereiches oder durch die Ausnutzung seiner Kapitalform die Struktur sozialer Beziehungen ausrichten auf die Erhaltung und Durchsetzung solcher Interessen, welche sich m i t Eigentum verbinden. Die Verfügungsmöglichkeit über Eigentum hat so auch eine gesellschaftliche und politische Funktion, sie kann gesellschaftliche Herrschaftsformation stiften und die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen aufheben. Rechtliche Regelungen der Eigentumsordnung und faktische Eigentumsordnung stehen deshalb i n engem Zusammenhang 185 . Die Gewährleistung des Eigentums und der auf das Eigentum aufgebauten sozialen Strukturen ist deshalb begrenzt beispielsweise durch A r t . 2, A r t . 5 Abs. 1 und 3, A r t . 12 GG: Die Verfügungsmöglichkeit über Eigentum darf die prinzipielle Freiheitlichkeit sozialer Strukturen und die m i t ihnen gewährleistete freie Entfaltung der Person, auch i n ihren kommunikativen Formen oder i n ihren Bildungs- oder Arbeitssituationen nicht aufheben. Die „Sozialbindung" des Eigentums nach A r t . 14 Abs. 2 GG verdeutlicht den Zusammenhang dieser Bestimmung m i t anderen, soziale Beziehungen strukturierenden Normen. Der Gegenstandsbereich des A r t . 14 GG kann — wie Podlech darlegt — begrifflich i m Blick auf die gesellschaftliche Praxis differenziert werden i n Formen möglichen Eigentums, und zwar Eigentum an Produktionsmitteln, an Grund und Boden und an Konsumgütern, i n die Nutzung von Eigentum und i n die m i t der Verfügung über Eigentum verbundene Entscheidungskompetenz i m Wirtschaftskreislauf 186 . Beim Eigentumsbegriff ist zu differenzieren zwischen der Verfügungsmöglichkeit über das Eigentumsrecht, der allgemeinen Aneignungsbefugnis des m i t Hilfe von Eigentum geleisteten Anteils an 185
So auch A. Podlech, S. 31. Hierzu A. Podlech, S. 42; H. Rittstieg, S. 318 ff.; vgl. auch C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, F r a n k f u r t 1972, S. 87 ff.; W. Leisner, Der Eigentümer als Organ der Wirtschaftsverfassung, i n : DÖV 1975, S. 73 ff. 186
5.3 Grundrechte
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gesellschaftlicher Arbeit und der Entscheidungskompetenz über die Nutzung. Die Verfügungsgewalt über Menschen, die Herrschaftsmöglichkeit, welche eine individuelle Nutzung von Eigentum beinhalten kann, weist bei der Frage nach ihrer grundgesetzlichen Regelung jedenfalls über A r t . 14 GG hinaus 1 8 7 , da sie auch das Normthema beispielsweise von A r t . 2 und A r t . 12 GG betrifft. Verfügungsmöglichkeiten und N u t zungsrechte bei Eigentum sind nicht allein dem A r t . 14 GG zu entnehmen, sie sind i m Gesamtzusammenhang der Verfassungsordnung selbst zu sehen. I n der Verfügungsmöglichkeit über Eigentum werden beispielsweise die Entfaltung der Person und ihr Status material abgesichert, über die Verteilung und Nutzung von Eigentum werden soziale Beziehungen strukturiert. Insoweit ergänzen sich A r t . 14 und A r t . 2 GG, die Gleichartigkeit des Rechts auf freie Entfaltung der Person für jeden Grundrechtsträger beschränkt die Nutzung der m i t A r t . 14 gewährleisteten Sach- und Vermögensmittel, andererseits gewährleistet A r t . 14 GG auch die materiellen, vermögensmäßigen Bedingungen der freien Entfaltung der Person oder von gesellschaftlichen Vereinigungen. „Das Eigentum ist ein elementares Grundrecht, das i n einem inneren Zusammenhang m i t der Garantie der persönlichen Freiheit steht. I h m kommt . . . die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsbereich i m vermögensrechtlichen Raum sicherzustellen und i h m damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen 1 8 8 ." A r t . 14 GG stellt i n Abs. 2 bereits ausdrücklich fest, daß „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen" 1 8 9 . A r t . 15 GG bezeichnet dabei Form und Grenze möglicher Umgestaltung der Eigentumsordnung, und zwar durch eine Sozialisierung 1 9 0 . Die Ausgestaltung sozialer Beziehungen, soweit sie auf Eigentum gründen, ist also nicht allein dem individuellen Interesse, der indi187 So zutreffend U. Scheuner, Einführung. Wirtschaftslenkung i m Verfassungsrecht des modernen Staates, i n : ders. (Hrsg.), Die staatliche E i n w i r k u n g auf die Wirtschaft, 1971, S. 15 f. 188 Vgl. BVerfGE 24, 367 (389); 21, 73 (83). Diese Rechtsprechung, prinzipiell auch i m Schrifttum zustimmend aufgenommen, hat aber letztlich keine K o n k r e t i o n u n d Effizienz i n der Verfassungspraxis erfahren, vgl. den Überblick bei W. Däubler u. α., Eigentum u n d Recht, S. 208 ff. 189 Erg. hierzu Maunz ! Dürig I Herzog ! Scholz, A n m . 45 ff. zu A r t . 14 GG; O. Kimminich, S. 221 f. m. w. Ν . ; Η . P. Ipsen/H. Ridder, Enteignung u n d Sozialisierung, i n : W d S t R L , H. 10, B e r l i n 1952, S. 74 ff.; W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, B e r l i n 1972, insbes. S. 43 ff. 190 Vgl. W. Leisner, Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, i n : JZ 1975, S. 272ff. u . a . m . ; i m Ergebnis ist W. Leisner allerdings nicht zuzustimmen, da er die Eigentumsgarantie selbst w i l l k ü r l i c h vorwiegend i n d i vidualistisch auslegt. — Z u r E n t w i c k l u n g der Verfassungslehre vgl. bei Η . P. Ipsen / H. Ridder, Enteignung u n d Sozialisierung, S. 74 ff., 124 ff.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
viduellen Entscheidung überlassen. Die sozialen Beziehungen, welche Eigentum zum Gegenstand haben oder auf Eigentum gründen, unterliegen vielfältigen Verfassungsbestimmungen, der normative Gehalt des A r t . 14 ist nur konkretisierbar i m Rahmen des Normprogramms des Grundgesetzes. 5.3.2.1 Normprogramm und Normbereich der Grundrechte Gegenstand der Grundrechte sind soziale Beziehungen, diese werden grundrechtlich i n einer Weise strukturiert, daß die Einzelperson frei i n sozialen Beziehungen handeln, sie solche Beziehungen nach ihren individuellen Eigenarten mitgestalten kann; gleichzeitig sind soziale Beziehungen selbst als freiheitliche zu gestalten, und zwar i n ihrer Struktur und den i n ihnen ablaufenden Prozessen. Normgegenstand der Einzelgrundrechte sind dabei i n unterschiedlicher Weise der Schutz der Individualität i n sozialen Beziehungen oder soziale Beziehungen als solche, ihre Struktur und die i n ihnen sich ereignenden Handlungs- und Kommunikationsprozesse. Ihrem Normgegenstand nach zentrieren sich die Grundrechte zunächst u m die Gewährleistung der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) 1 9 1 , diese ist i m Grundgesetz selbst nicht unmittelbar konkretisiert. Als Verfassungselemente, welche Ausdruck der Würde des Menschen sind, können bezeichnet werden die Freiheit und die freie Entfaltung der Person, i n unmittelbarem Zusammenhang damit steht die Freizügigkeit gemäß A r t . 11 GG einerseits und die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) andererseits; zur Freiheit der Person gehört auch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG), die Äußerungsfreiheit (Art. 5 GG) und die Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Diese Elemente unmittelbarer Freiheit der Person als Ausdruck ihrer Würde, der Personwertung sind eingebunden i n Grundrechte, i n deren Mittelpunkt die Person als soziales Wesen, die Sozialität, die Gemeinschaftsbezogenheit der Person und die sozialen Organisationen selbst stehen. Hier ist zu verweisen wiederum auf A r t . 2 Abs. 1 GG, wonach die Freiheit der Entfaltung der Person begrenzt ist durch eine ebensolche Freiheit aller anderen Personen, A r t . 5 GG — Meinungsund Informationsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und Wissenschaft als Kommunikationsfreiheit und als Freiheit zur Reflexion und K r i t i k , zur Erkenntnis und zum theoretisch-programmatischen Gestaltungsentwurf für soziale Beziehungen — auch i n ihrem Natur191 So auch E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, S. G l i ; erg. W. Krawietz, Gewährt A r t . 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung u n d Schutz seiner Würde? I n : Gedächtnisschrift für Frd. Klein, München 1977, S. 245 ff. — dort auch w. N. zur Interpretation des A r t . 1 Abs. 1 GG.
5.3 Grundrechte
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bezug —, gesichert auch durch die Gewährleistung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG). Hinzu kommen als Sicherung materieller Formen der Kommunikationsfreiheit und als Formen organisierter Teilhabe an gesellschaftlichem Geschehen die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) sowie die Freiheit zur Bildung politischer Parteien (Art. 21 GG) als Formen organisierter und zielorientierter sozialer Beziehungen. Die Gestaltung gesellschaftlicher Praxis hat so als ein freiheitlich kommunikativer Prozeß zu geschehen. Als spezifische Formen der Sozialität und personeller Vereinigung sind nach A r t . 6 GG Ehe und Familie geschützt und als spezifische und vorrangige Form der „Sozialisierung" ist nach A r t . 7 GG das Schulwesen unter besonderen staatlichen Schutz gestellt. Aber auch diese Bereiche intensiver sozialer Beziehungen sind hinsichtlich ihrer Struktur und der Stellung des Individuums i n diesen nicht allein nach A r t . 6 oder A r t . 7 GG zu beurteilen, sondern als Komplex von sozialen Beziehungen ist i n ihrer Realisierung auch der Anspruchsgehalt von A r t . 2 und A r t . 5 GG zur Geltung zu bringen. Freiheit ist nicht nur als geistig individuelle oder als kommunikative, organisatorische geschützt, sie ist auch gewährleistet i n ihren materiellen Substraten, i n der Gewährleistung des Eigentums. Dieses ist aber gleichzeitig, u m die Freiheitlichkeit und Offenheit sozialer Beziehungen zu vermitteln nicht nur begrenzt i n der Bindung an das Wohl der A l l gemeinheit, sondern auch durch das i m Normbereich des A r t . 14 GG zu realisierende Normprogramm der übrigen Grundgesetzbestimmungen. Fundamental w i r d die Verflechtung zwischen den individuellen und sozialen Elementen der Grundrechte hergestellt durch das Gleichheitsgebot des A r t . 3 GG; damit ist nicht nur die Person als eine je gleiche substantiiert, i m Gleichheitsgebot werden individuelle und soziale Freiheitsrechte zu einem Ausgleich gebracht, dies ist noch näher darzulegen. Als Funktion der Grundrechte nach ihrem Normgegenstand und Normprogramm erweist sich die Strukturierung und Differenzierung sozialer Beziehungen als allgemein freiheitlicher und individuell gestaltbarer und damit gleichzeitig die Gewährleistung der Entfaltungsfreiheit der Person und der Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen selbst. Der je konkrete, normativ gültige und verbindliche Gehalt der Grundrechte i n bestimmten gesellschaftlichen Situationen ist damit seiner Funktion und Zielsetzung nach beschreibbar, aber nicht enumerativ definierbar. Die Regelungsgegenstände der einzelnen Grundrechte umfassen die „Staatsbürger" i n ihrer Individualität und i n ihrer sozialen Verbundenheit unterschiedlich. Die Ausschnitte individuellen und sozialen Lebens, 16 Grimmer
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
welche einem Normbereich entsprechen, sind nur abstrakt isoliert darstellbar, faktisch sind sie zusammengefaßt i n Formen des sozialen Status, des Lebensvollzuges, der sozialen Organisation und i n den diese Formen begründenden Bedingungsverhältnissen sozio-kultureller und sozio-ökonomischer A r t . Diese faktische Interdependenz der Grundrechte hat selbst — wie i n Teil I I dargelegt — normative Bedeutung. Indem die verfassungsrechtliche Deutung sozialer Situationen u m der Effektivität der Grundrechte wegen diese Interdependenz zu beachten hat, ergibt sich i n der Vermittlung über den Regelungsgegenstand auch eine normative Interdependenz 192 , wenn es Sinn der Grundrechte ist, einen freiheitlichen Lebensprozeß zu garantieren. Die offenen Grundrechte „erfassen" i n ihrem Normbereich die i n einer staatlich verfaßten Gesellschaft vereinigten Menschen i n ihrer Individualität und Sozialität über ihre Strukturbeschreibung für soziale Beziehungen nahezu umfassend. Die Situation dieser Gesellschaft, die Position ihrer Individuen und Gruppen, die A r t und Weise ihrer Zuordnungen, ihre Ausstattung m i t personellen und sachlichen Handlungsmitteln bedingt die je spezifische Relevanz der Grundrechte und sind Ausdruck der Effizienz offener Grundrechte, oder anders gewendet: die A r t und Weise der Realisierung der Grundrechte bestimmt wesentlich den Status und die Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder i n ihren sozialen Beziehungen und die Struktur der sozialen Beziehungen selbst. Einzelne Grundrechte können deshalb nicht isoliert betrachtet werden, sondern stehen i n einem realdialektischen Zusammenhang. Der normative Gehalt des einzelnen Grundrechtes ist jeweils i m Bezug auf die spezifische Situation der Einzelperson oder sozialer Gruppen sowie den Zustand des sozialen Systems insgesamt und die Formen seiner Differenzierung zu bestimmen 1 9 3 . Aus der je spezifischen Situation erwachsen Form und Inhalt des Geltungsanspruches der Grundrechte. Die hiermit geleistete Funktionsbeschreibung für die Grundrechte ermöglicht es, den verfassungsrechtlich-systematischen Standort sog. Verfassungsinstitute und institutioneller Garantien zu erklären. Das Grundgesetz selbst verwendet weder den Begriff des Verfassungsinstituts noch jenen der institutionellen Garantien. Ihrem Normgegen192 Vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, Karlsruhe 1962, S. 16; P. Saladin, Grundrechte i m Wandel, S. 326 ff. — I r r e führend ist es, von Grundrechtskonflikten zu sprechen, vgl. W. Riifner, Grundrechtskonflikte, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, S. 453 ff. (dort auch zur Rspr. des BVerfG) oder von Grundrechtskollisionen, so H. Bethge, Z u r Problematik von Grundrechtskollisionen, München 1977, S. 324 ff. m. w. H. — Normative Interdependenz u n d Normprogramm des Grundgesetzes sind Bestandteile der zu bildenden Entscheidungsnorm i n einem Normbereich eines Grundrechts. 193 v g l . a u c h w. Martens, Grundrechte i m Leistungsstaat, i n : W d S t R L , H. 30, B e r l i n 1972, S. 28 f.
5.3 Grundrechte
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stand nach beziehen sich die Verfassungssätze teilweise auf Einrichtungen, welche sich durch ein verdichtetes Netz sozialer Beziehungen, vielfach i n einem formal-organisatorischen Rahmen von ihrer Umwelt abheben. Solche gesellschaftliche Einrichtungen können durch die Verfassung selbst vermittelt, also verfassungsrechtlich konstituiert sein wie der Bund, die Länder, die Organe der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt. Sie können aber auch historisch entstanden oder gesellschaftlich ausgebildet und vom Grundgesetz als solche anerkannt sein wie Gemeinden, Kirchen, Privatschulen einerseits, Familien andererseits, wobei solche Einrichtungen selbst eine unterschiedliche rechtliche Durchformung erfahren haben. Kennzeichen solcher Einrichtungen ist, daß m i t der Aufnahme ihrer begrifflichen Darstellung i m Grundgesetz wie auch bei Presse, Rundfunk und Wohnung eine Kombination unterschiedlicher Merkmale, ziel- und zweckgerichteter sozialer Beziehungen oder eine zweckbestimmte Widmung sächlicher M i t t e l i m Begriff selbst zusammengefaßt sind. Institutionelle-organisatorische Einrichtungen, welche durch das Grundgesetz begründet oder welche als Rechtsgebilde i m Grundgesetz ihre Gewährleistung finden, wie die Gemeinden, unterstehen hinsichtlich ihrer Organisation und Kompetenz den Regelungen des Grundgesetzes, soweit dieses selbst keine unmittelbare Regelung vornimmt, unterliegen sie der gesetzgeberischen Gestaltungskompetenz i m Rahmen unmittelbar oder mittelbar sie betreffender Grundgesetznormen. Das gleiche gilt für solche Einrichtungen, welche das Produkt individueller oder gesellschaftlicher Aktivitäten sind wie Presse, Rundfunk, Wohnung, wobei es nur von sekundärer Bedeutung ist, ob solche gesellschaftlichen Aktivitäten i n ihrer Zulässigkeit der gesetzlichen Regelung bedürfen, hierfür also eine Gesetzgebungskompetenz beim Bund oder den Ländern gegeben ist wie etwa beim Rundfunk. Anders ist die Verfassungslage nur bei der grundgesetzlichen Anerkennung gesellschaftlicher Lebensformen wie Ehe und Familie i n A r t . 6 GG. I n diesem Falle ist eine bestimmte Struktur sozialer Beziehungen selbst verfassungsrechtlich gewährleistet. Ihre Unterstellung unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung bedeutet aber nicht, daß diese Lebensformen i m übrigen i n einem „rechtsfreien Raum" stehen, sondern i n ihnen sind die Wertungen des Normprogrammes des Grundgesetzes unmittelbar oder durch staatliche Rechtsetzungen und Leistungen zur Geltung zu bringen, beispielsweise die Gleichberechtigung von Mann und Frau nach A r t . 3 GG, die freie Entfaltung der Person nach A r t . 2 Abs. 1 GG, die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nach A r t . 4 GG. Das Grundgesetz bietet i m übrigen keinen Anlaß von Verfassungsinstituten oder institutionellen Garantien zu sprechen, insbesondere 16*
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
kann weder aus A r t . 5 Abs. 3 GG eine institutionelle Garantie für Universitäten m i t Anspruch auf eine bestimmte inhaltliche Gestaltung noch aus A r t . 14 GG eine institutionelle Garantie des Eigentums m i t bestimmten Verfügungs- und Nutzungsrechten abgeleitet werden. Dem Normthema des A r t . 5 Abs. 3 GG oder des A r t . 14 GG nach unterliegen gesetzliche Regelungen von Universitäten oder Eigentum lediglich bestimmten verfassungsrechtlichen Ansprüchen, wie sie sich aus diesen Bestimmungen und dem Normprogramm des Grundgesetzes i m übrigen ergeben. Der Begriff institutionelle Garantien ist überflüssig, i h m fehlt inhaltliche Präzision, i n der Regel dient er nur zur verfassungsrechtlichen Legitimation vorfindlicher gesellschaftlicher Praxis. Allenfalls beinhaltet er eine gewisse Anschaulichkeit. Der Begriff macht deutlich, daß Gewährleistungen, welche durch Grundrechte vermittelt werden, eine Verobjektivierung erfahren i n realen sachlich-ideellen Zusammenhängen und Ausprägungen i m Sozialgefüge einer Gesellschaft und eines Staates. Diese sind allerdings vielfach nicht Ausdruck unmittelbarer Wirksamkeit der Verfassungsgarantien, sondern Folge eines Bündels konkreter Verhaltensnormen, welche i n ihrem systematischen Zusammenhang zur realen Existenz eines solchen Institutes führen. Die Grundrechte wären fundamental verkannt, würde man sie als „Deckmantel" beispielsweise für die jeweils gegebene Form des Eigentums, wie es sich vielleicht freigesellschaftlich entwickelt hat, verstehen. I n ihrer konkret inhaltlichen Ausgestaltung unterliegen die Institutsgarantien den Bedingungen, Anforderungen und Grenzen, wie sie sich aus dem Einzelgrundrecht und den weiteren i n seinem Normbereich zu beachtenden Grundrechten, dem Normprogramm des Grundgesetzes ergeben. Die verfassungsrechtliche Bindung solcher Institute und Institutionen ist nicht vorrangig aus dem einzelnen Grundrechten impliziten subjektiven Recht zu bestimmen, sondern aus der Funktion des Grundgesetzes über die Strukturbestimmimg für soziale Beziehungen einen Ausgleich freier individueller Entfaltungsmöglichkeiten herzustellen. 5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
Als Grundelement einer Grundgesetztheorie wurden das Prinzip der Volkssouveränität, das Mehrheitsprinzip und die Grundrechte bezeichnet. Keines dieser Elemente kann für sich genommen werden, soll der Sinn des Grundgesetzes nicht verfehlt werden. Die Skizzierung und Strukturierung der Normgegenstände der Einzelgrundrechte und ihr Normprogramm genügt deshalb auch nicht, u m den je spezifischen Gehalt der Grundrechte i n einzelnen Situationen und ihre Funktion innerhalb der Verfassimg insgesamt zu benennen.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
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5.4.1 Das Normprogramm des Grundgesetzes: Gewährleistungen der allgemein freiheitlichen Struktur sozialer Beziehungen und der Chancengleichheit in der Ausgestaltung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung
Die Grundrechte sind zunächst selbst eine Form der rechtlichen Strukturierung und Befestigung des Prinzips der Volkssouveränität, indem sie die Freiheitlichkeit und Offenheit sozialer Beziehungen als Formen der Aktion, Interaktion und Kommunikation gewährleisten. Sie enthalten und gewährleisten das materiale Substrat der Volkssouveränität, ihre individuellen und sozialen Bedingungen 1 9 4 . Die Möglichkeit und Fähigkeit zur Ausübung von Volkssouveränität ist ebenso Resultante aus sozialen Prozessen und Beziehungen, aus individuellen Positionen i n sozialen Situationen und der darin mitgegebenen Ausstattung m i t Freiheitsmitteln und Machtelementen wie der Organisationsfähigkeit und -form von Interessen, welche i n sozialen Beziehungen und Positionen mitbegründet werden: Indem Grundrechte die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen zu ihrem Gegenstand haben und individuelle Positionen oder soziale Organisationsformen gewährleisten und begrenzen, nehmen sie gleichzeitig eine normative Sicherung jener sozialen Prozesse und Positionen vor, welche auch die Möglichkeit und Fähigkeit zur Ausübung von Volkssouveränität bestimmen 1 9 6 , w i r d durch die A r t und Weise ihrer Konkretion diese Möglichkeit und Fähigkeit spezifiziert. Rechtliche Konkretisierung offener Grundrechte geschieht vorrangig i n der Gesetzgebung aufgrund der verfassungsrechtlichen Kompetenzund Entscheidungsordnung, also i n parlamentarischen Verfahrensweisen. Konkretionskompetenz ist auch Kompetenz zur Effektivierung der Grundrechte nach gruppen- und schichtenspezifischen Anliegen, Interessen und Bedürfnissen. Sie ist Kompetenz zur Gestaltung von sozialen Beziehungen. Die Realisierung einer von mehreren logisch gleichwertigen Konkretionsformen der Grundrechte schließt i n der Regel die Realisierung anderer Konkretionsformen aus, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch politisch-faktisch. Dem Grundgesetz ist scheinbar — wie bereits kurz dargelegt — ein immanenter Widerspruch eigen. Logisch gleichwertige Grundrechtskonkretionen aufgrund unterschiedlicher so194 Vgl. hierzu auch P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, i n : W d S t R L , H. 30, B e r l i n 1972, S. 112 ff. 195 E. Forsthoff ist zuzustimmen, daß die großen Umwandlungen, an deren Anfängen w i r stehen, n u r schwierig m i t den M i t t e l n der Verfassung erfaßt u n d beschrieben werden können, unzutreffend erscheint aber die Annahme, daß die sozialen Bewegungen keine Verbindung m i t der rechtsstaatlichen Verfassung eingehen können. E. Forsthoff, Z u r Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961, S. 11 f.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
zialer Lagen können faktisch nicht gleichzeitig realisiert werden. I n der Konkretion selbst aber kann jene Offenheit der Verfassung gefährdet werden, welche Bedingung dafür ist, daß die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen gewahrt bleibt und i n ihr alternative Grundrechtskonkretionen, alternative Ordnungsstrukturen entwickelt und i n die Prozesse politischer Willens- und Entscheidungsbildung eingebracht werden. Die Beschaffenheit der sozialen Beziehungen und der sozialen Lage der Aktivbürger ist aber wiederum Bedingung dafür, i n welcher Weise Volkssouveränität, auf welcher Basis Demokratie, das Mehrheitsprinzip als M i t t e l zur Konkretion offener Grundrechte eingesetzt und wirksam werden können. I n dieser Weise bedingen die konkrete Ausgestaltung der Informationsfreiheit, der Eigentumsordnung, der Berufsausübung oder des Schulwesens maßgeblich die Fähigkeit und Möglichkeit zur individuellen Entfaltung und politischen Mitbestimmung. Unter Berufung auf die Grundrechte und auf die verfassungsrechtliche Konkretionskompetenz kann sich eine Entfaltung der konkreten Gesellschaftsordnung entsprechend dem status quo, der faktischen, überkommenen Verteilung von „Herrschaftschancen" ereignen, wenn allein die positivistische Gewährleistungsfunktion einzelner Grundrechte und das Mehrheitsprinzip i n den Blick genommen werden, die strukturelle Verbundenheit m i t dem Prinzip der Volkssouveränität aber vernachlässigt wird. Die Möglichkeit und Fähigkeit jener sozialen Gruppen, welche eine geringere Ausstattung m i t ideellen und sachlichen Freiheits- und Handlungsmitteln besitzen, die Ausgestaltung des politisch-gesellschaftlichen Systems nach ihren Anliegen, Interessen und Bedürfnissen gleichrangig zur Disposition zu stellen 1 9 6 — als Inhalt des Prinzips der Volkssouveränität —, kommt dann nicht zur Geltung. Die Offenheit des Grundrechtssystems und die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und der politisch-gesellschaftlichen Gesamtordnung sind verletzt. 5.4.2 Bindung der Mehrheitsgewalt durch Volkssouveränität und Grundrechte
Das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität beinhaltet demgegenüber — wie dargelegt — eine rechtliche Begrenzung der i m Mehrheitsprinzip enthaltenen Kompetenz zur Gestaltung der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung: Die Möglichkeit und Fähigkeit zur Mitbestimmung der politischen Gesamtordnung für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen darf nicht eingeschränkt oder aufgehoben werden, soweit Mitwirkungsformen und Ziele grundgesetzkon196 Dies gilt nur, w e n n die grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten nicht „ z u m K a m p f " gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung m i ß braucht werden.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
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form sind 1 9 7 . Das Prinzip der Volkssouveränität garantiert damit gegenüber dem Mehrheitsprinzip die Freiheitlichkeit einer demokratischen Ordnung und die Gleichheit der Chancen zur inhaltlichen Bestimmung dieser Ordnung. I n i h m kommt gewissermaßen der Grundkonsens für die Instituierung einer politischen Herrschaft zum Ausdruck. Das Prinzip der Volkssouveränität begrenzt so nicht nur die Gestaltungskompetenz i m Grundrechtsbereich, welche das Mehrheitsprinzip verleiht, es spezifiziert auch die grundrechtlich garantierte freiheitliche Struktur sozialer Beziehungen und definiert ihren verfassungspolitischen Standort: Die Gewährleistung einer solchen Freiheit der Person, einer solchen Informations- und Kommunikationsfreiheit, einer solchen Ausstattung m i t ideellen und sächlichen Handlungsmitteln, daß real gleiche Chancen zur Realisierung der offenen Grundrechte i n eine konkrete politisch-gesellschaftliche Ordnung bestehen. Gerade weil die Grundrechte kein abgeschlossenes, konkretistisch statuiertes Ordnungssystem enthalten, ist ihre Konkretisierung als politischer Prozeß zu initiieren. I n ihrer Gewährleistung der Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und ihrer Strukturierung normieren sie die individuellen und gesellschaftlichen Beziehungen, welche die Grundlage des Gemeinwesens bilden, und welche die Grundlage ihrer eigenen Konkretisierung sind. I n ihrer Strukturierung sozialer Beziehungen sind sie zugleich Bedingung, M i t t e l und Ziel der Ausübung von Volkssouveränität. M i t der Verfassungsgebung kennzeichnen die Grundrechte jenen Rahmen, welchen das souveräne Volk als Grundlage der individuellen und seiner gesellschaftlichen Entfaltung allgemein verbindlich gesetzt hat und welcher auch den Gestaltungsrahmen für die jeweilige parlamentarische Mehrheit bildet. Dieser normative Rahmen ist i n der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung durchzuhalten, da er die Grundlage einer allgemeinen freiheitlichen Gesellschaftsordnung bildet und verfassungsrechtlich die materialen Bedingungen, welche i n den sozialen Beziehungen effektiv sein müssen, normiert, damit staatliche Willensbildung als ein allgemein freiheitlicher Prozeß gewährleistet ist, damit gleiche Chancen zur politischen Mitbestimmung gegeben sind. Insoweit vermitteln die Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität auch subjektive Rechtsgarantien 198 , einen Anspruch auf 197 F ^ r die politischen Parteien w i r d dies i n A r t . 21 Abs. 2 GG, für sonstige Vereinigungen i n A r t . 9 Abs. 2 ausdrücklich festgestellt. 198 Z u r Problematik des Begriffes subjektives öffentliches Recht vgl. O. Bachof, R e f l e x w i r k u n g u n d subjektive Rechte i m öffentlichen Recht, S. 192. „Subjektives Recht ist seinem I n h a l t nach eine dem einzelnen durch das objektive Recht zuerkannte „Willensmacht" oder „Rechtsmacht"; seinem Zweck nach ein M i t t e l zur Befriedigung menschlicher Interessen, u n d zwar
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Einhaltung des verfassungsmäßig vorgeschriebenen Normprogramms, einen Anspruch auf gerichtliche Überprüfung staatlicher Gestaltungsakte auf ihre Gewährleistung dieser freiheitlichen Struktur sozialer Beziehungen. Diese Rechtsstellung ist aber nicht vom Staat gewährt, sondern ist selbst i n der Volkssouveränität und i n den Grundrechten unmittelbar begründet, es ist gewissermaßen ein „Vorbehaltsrecht" gegenüber der Staatsgewalt, die Staatsgewalt ist durch das Grundgesetz (Art. 1 I I I , A r t . 20 GG) auf die Gewährleistung dieser verfassungsrechtlichen Grundordnung festgelegt. 5.4.2.1 Grundrechte beinhalten „Abwehransprüche" und „Leistungsansprüche" Das Prinzip der Volkssouveränität und die i n den Grundrechten vorgenommene Strukturierung sozialer Beziehungen und Positionen, die Gewährleistung ihrer Freiheitlichkeit als „subjektive öffentliche Rechte" beinhalten nicht nur eine „negative Kompetenzbestimmung" für die gesetzgebende Gewalt und mittelbar oder unmittelbar für die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Als rechtliche Konstitutionsbedingungen für den Staat enthalten sie auch normativ verbindliche Zielsetzungen für die Organe, welche Staatsgewalt ausüben, sind sie verfassungsrechtlich verbindliche „Programmsätze" 1 9 9 . Als verfassungsrechtlich verbindliche Programmsätze und als „negative Kompetenznormen" beinhalten die Grundrechte i n der Form subjektiver öffentlicher Rechte einen „Abwehranspruch" 2 0 0 gegenüber solchen Maßnahmen staatlicher Organe, welche eine Verletzung grundrechtlicher Positionen und Ordnungsformen bedeuten. grundsätzlich der eigenen Interessen des Inhabers jener Rechtsmacht." Zentrale Frage ist dabei, unter welchen Voraussetzungen eine o b j e k t i v rechtliche Begünstigung des öffentlichen Rechts jene „Rechtsmacht" oder „Willensmacht" gewährt, die erst die Begünstigung zum subjektiven Recht werden läßt (S. 294). I n der neuen Staatslehre w u r d e der Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts erweitert, heute zählen dazu o b j e k t i v rechtlich gewährte u n d gewollte Begünstigungen des öffentlichen Rechts (O. Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, i n : W d S t R L , H. 12, S. 72 ff. (S. 84)); erg. ff. ff. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, Tübingen 1965, S. 108; D. Jesch, Gesetz u n d Verwaltung, Tübingen 1961, S. 124 ff.; K. Vogel, Gesetzgeber u n d Verwaltung, i n : W d S t R L , H. 24, S. 49, S. 150; 17. K. Preuss, Die Internalisierung des Subjekts — Z u r K r i t i k der F u n k tionsweise des subjektiven Rechts, F r a n k f u r t / M . 1979, S. 15 ff., S. 115 ff. 199 Die Diskussion u m Verfassungssätze als Programmsätze i m Rahmen der Weimarer Verfassung ist hier nicht nachzuzeichnen. Der Begriff „Programmsatz" hat hier eine andere Qualität als jene, welche i h m C. Schmitt gegeben hat. Eine Verdichtung der Programmsätze k a n n deshalb auch nicht i n der F o r m von institutionellen Garantien als Gewährleistung eines „status quo" erfolgen. Vgl. hierzu u n d zu C. Schmitt E. Forsthoff, S. 14. 200 Erg. W. Martens, Grundrechte i m Leistungsstaat, i n : W d S t R L , H. 30, B e r l i n 1972, S. 21.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
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I m Zusammenhang m i t dem Prinzip der Volkssouveränität vermitteln die Grundrechte aber auch positive Leistungsansprüche 201 : Ausübung von Staatsgewalt i n Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung als Konkretion von Grundrechten kann unmittelbar oder mittelbar durch das Gebot oder Verbot von Verhaltensweisen eine Veränderung von Strukturen und Positionen i n sozialen Beziehungen zur Folge haben, welche die i m Prinzip der Volkssouveränität und i n den Grundrechten allgemein gewährleistete Freiheitlichkeit und Gleichheit i n den Chancen der inhaltlichen Ordnungsbestimmung für die staatlich verfaßte Gesellschaft für einzelne oder gesellschaftliche Gruppen beschränken. Individuelles oder freigesellschaftlich organisiertes Handeln ist vielfach i n einer modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft nicht i n der Lage, die sozial erforderlichen Leistungen bereitzustellen oder die Leistungsbereitstellung zu koordinieren 2 0 2 , welche dem Ordnungsanspruch des Normprogramms der Grundrechte entsprechen. Als Folge der Ausübung von Staatsgewalt durch staatliches Handeln kann sich eine Strukturierung der gesellschaftlichen Beziehungen und eine Differenzierung individueller Positionen und individueller Entfaltungsmöglichkeiten, Kommunikations- und Informationsfähigkeiten, eine Differenzerung i n der Bildung und i n der Ausstattung m i t sächlichen Herrschaftsmitteln ergeben, welche die Möglichkeit und Fähigkeit zur Mitbestimmung von Staatsgewalt, zur Ausübung von Volkssouveränität für Individuen oder gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich effektiv werden lassen oder unterschiedlich begrenzen, welche die Freiheitlichkeit der Strukturen sozialer Beziehungen und der individuellen Positionen i n ihnen verletzen. Der i n den Grundrechten und i m Prinzip der Volkssouveränität beinhaltete Gewährleistungsgehalt auf Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und Chancengleichheit i n der Bestimmung der politischen Ordnung bewirkt, daß i n solchen Fällen der Abwehranspruch der Grundrechte i n einen Leistungsanspruch „umschlägt". I n beiden Fällen ist die verfassungsrechtliche Grundlage gleich: Verbürgung der Effektivität der Grundrechtsordnung (Art. 1 I I I , A r t . 20 GG). Dies folgt unmittelbar aus 201 Vgl. allgemein H. H. Hartwich, Sozialstaatspostulat u n d gesellschaftlicher status quo, K ö l n u. Opladen 1970, insbes. S. 281 ff. m. w . N.; W. Hantel, Die Bedeutung der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat, B e r l i n 1957; U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, i n : Festschrift f ü r E. Forsthoff, München 1972, S. 325 ff. (S. 328); H. Schambeck, Grundrechte u n d Sozialordnung, B e r l i n 1969, insbes. S. 24 f. (m. w . N.). 202 Vgl. hierzu auch H. Schambeck, S. 13; P. Häberle, S. 46 f.; O. Kimminich, A n m . zu BVerfGE v. 18. 7. 72, i n : J Z 1972, S. 696 ff. (S. 697); W. Martens, S. 25 speziell i m Hinblick auf A r t . 2 Abs. 1, A r t . 12 Abs. 1 GG als Ansprüche auf Zugang u n d Benutzung.
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dem Souveränitätsprinzip u n d dem N o r m p r o g r a m m der Grundrechte, d i e C h a n c e n g l e i c h h e i t i n d e r p o l i t i s c h e n E n t s c h e i d u n g s b i l d u n g u n d die F r e i h e i t l i c h k e i t sozialer B e z i e h u n g e n z u g e w ä h r l e i s t e n 2 0 3 . Dies g i l t n i c h t n u r i m R a h m e n staatlicher H a n d l u n g s - u n d G e s t a l t u n g s m o n o p o l e 2 0 4 , s o n d e r n p r i n z i p i e l l i m m e r d a n n , w e n n eine H a n d l u n g s k o m p e t e n z f ü r staatliche O r g a n e gegeben ist, a n d e r e n f a l l s k a n n die B i n d u n g s t a a t l i cher O r g a n e a n d i e V o l k s s o u v e r ä n i t ä t ( A r t . 20 G G ) u n d a n die G r u n d rechte ( A r t . 1 A b s . 3 G G ) folgenlos s e i n 2 0 5 . 5.4.2.2 Art 3 GG: Gleichheit vor dem Gesetz und Chancengleichheit in der politischen Mitbestimmung L e t z t l i c h h a n d e l t es sich h i e r b e i u m die G e w ä h r l e i s t u n g oder H e r s t e l l u n g verfassungsrechtlicher G l e i c h h e i t . A r t . 3 G G s t a t u i e r t i n d i e sem S i n n e : G l e i c h h e i t v o r d e m Gesetz als rechtliche G l e i c h h e i t a l l e r vor j e d e r Gesetzgebung, als G r u n d l a g e u n d B e d i n g u n g d e r A u s ü b u n g v o n V o l k s s o u v e r ä n i t ä t m i t t e l s G e s e t z g e b u n g 2 0 6 , u n d als r e c h t l i c h e r A n s p r u c h a u f gleiche A n w e n d u n g des Gesetzes, a u f G l e i c h b e h a n d l u n g i n der Gesetzesanwendung durch die vollziehende G e w a l t u n d die rechtsprechende G e w a l t 2 0 7 . 203 Vgl. hierzu U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, S. 329, 330 ff.; P. Häberle, S. 76 ff., S. 103 ff.; U. Scheuner, F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinien u n d Rahmen der Staatstätigkeit, i n : D Ö V 1971, S. 505 ff.; H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften i m Sozialstaat nach dem Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland, S. 8, 16. 204 Vgl. BVerfGE 33, 329 ff. 205 v g l hierzu auch E.-W. Böckenförde, Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, i n : Staat, Gesellschaft, Freiheit, F r a n k f u r t 1976, S. 336 ff.; H. Wilke, Stand u n d K r i t i k der neueren Grundrechtstheorie, B e r l i n 1977, S. 216 ff. (S. 222 ff. m. w. H.). Diesem Zusammenhang w i r d von einem vorherrschenden Grundrechtsverständnis nicht genügend Rechnung getragen, vgl. ζ. Β . H. H. Klein, Die Grundrechte i m demokratischen Staat, Stuttgart usw. 1972, S. 53 ff., S. 73 ff. m. w . N. 206 Erg. zur Problematik der umfassende Überblick bei Maunz! Dürig! Herzog ! Scholz, insbes. A n m . I f f . , 303 ff. zu A r t . 3 Abs. 1 GG; R. Herzog, Der Gleichheitssatz i m Grundgesetz, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 901 ff.; BVerfGE 1, 14 ff. (51) u n d später; B. Schaumann, Gleichheit u n d Gesetzmäßigkeitsprinzip, i n : J Z 1966, S. 721 ff., auf das Problem des allgemeinen Gesetzes i m Verhältnis zum Maßnahmegesetz i m Blick auf A r t . 3 Abs. 1 GG ist hier nicht näher einzugehen. — Z u r philosophischen Grundlegung vgl. J. F. Fries, Die Geschichte der Philosophie, 2. Bd., Halle 1840, S. 618 „ U n t e r allen Bedingungen der natürlich notwendigen physischen Ungleichheit der Mitglieder der Gesellschaft ist das Prinzip der Gerechtigkeit für einen jeden, daß die gesetzlichen Beschränkungen unter dem Gesetz der persönlichen Gleichheit aller gemacht werden." (S. 618) Vgl. hierzu auch L. Nelseon, Die kritische E t h i k bei K a n t , Schiller u n d Fries, Göttingen 1914, S. 113. 207 Insges. hierzu Maunz ! Dürig ! Herzog ! Scholz, A n m . 378 ff., 414 ff., 475 ff. zu A r t . 3 Abs. 1 GG. I n diesem Zusammenhang stehen auch die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit u n d der Erforderlichkeit; P. Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, K ö l n usw. 1961, S. 29, 30, 77 ff.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
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Die Interpretation des Gleichheitssatzes w i r d als ein besonderes methodisches und verfassungsrechtliches Problem angesehen 208 . Dies liegt aber nicht darin begründet, daß die theoretisch-methodischen Schwierigkeiten bei A r t . 3 Abs. 1 GG anders als bei anderen Grundrechtsnormen sind, sondern da methodisch-theoretische Umsetzung von Grundrechtssätzen immer theoretisch-politische Strukturierung von Wirklichkeit sein w i l l , schlagen gesellschaftliche Differenzierungen und die Versuche ihrer verfassungsrechtlichen Absicherung auf die Interpretationsproblematik bei A r t . 3 GG besonders durch. A u f der Grundlage der Weimarer Verfassung wurde der Gleichheitssatz als sogenanntes W i l l kürverbot i m Sinne einer verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Differenzierung und einer Bindung des Gesetzgebers an dieses Willkürverbot interpretiert 2 0 9 . War diese A r t materialer Bindung der Gesetzgebung seinerzeit noch umstritten, so ist sie heute Inhalt der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu A r t . 3 Abs. 1 GG geworden und auch i n der Lehre akzeptiert. Das Bundesverfassungsgericht prägte dabei den Satz, daß Gleiches gleich, Ungleiches aber seiner Eigenart gemäß zu behandeln sei 2 1 0 , die Feststellung der „Eigenart" und die verfassungsrechtlichen Folgerungen, i n welcher Weise aufgrund unterschiedlicher „Eigenarten" eine unterschiedliche Regelung vorzunehmen sei, wurde von dem Gericht weitgehend dem gesetzgeberischen Ermessen überlassen. Das Bundesverfassungsgericht stellt auch einen Zusammenhang zwischen dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip her 2 1 1 . Die Lehre vom Willkürverbot w i r d nicht aus dem Zusammenhang von Grundrechten und Demokratiegebot entwickelt, sondern isoliert aus A r t . 3 GG als Gestaltungsbeschränkung des Gesetzgebers und als subjektiv-öffentliches Recht auf Gleichbehandlung, als Abwehrrecht gegenüber „willkürlichen" legislatorischen Differenzierungen oder 208 Hierzu H. Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als W i l l k ü r verbot oder als Gebot der Chancengleichheit, B e r l i n 1969, S. 33 ff.; A. Podlech, Gehalt u n d F u n k t i o n des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, B e r l i n 1971, S. 23 ff.; Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 176 ff. m. w. H.; zur Problemerörterung des BVerfG vgl. H. H. Rupp, A r t . 3 GG als Maßstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Bd. 2, S. 366 ff. 209 Grundlegend G. Leibholz, Die Gleichheit v o r dem Gesetz, 2. Aufl., M ü n chen 1959, S. 72 ff., 162 ff.; vgl. auch E. Kaufmann / H. Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz i m Sinne des A r t . 109 der Reichsverfassung, i n : W d S t R L , H. 3, Leipzig, B e r l i n 1927; i m übrigen siehe bei T e i l I. 210 So bereits BVerfGE 1, 14 ff. (S. 52). Vgl. i m übrigen bei Leibholz l Rinck, Grundgesetz, A n m . 2 ff., 9 ff., 17 ff. zu A r t . 3 GG; H. H. Rupp, A r t . 3 GG als Maßstab verfassungsrechtlicher Gesetzeskontrolle, S. 375 ff., 379 ff. 211 Hierzu näher H. F. Zacher, Soziale Gleichheit — Z u r Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Gleichheitssatz u n d Sozialstaatsprinzip —, i n : AÖR, Bd. 93, 1968, S. 341 ff.; G. Leibholz, S. 201 ff.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
willkürlichen Differenzierungen i n Gesetzesanwendung und Rechtsprechung 212 . Die Ersetzung des Gleichheitssatzes durch ein W i l l k ü r verbot ist i m Grunde methodisch nicht sehr ergiebig 2 1 3 , das W i l l k ü r verbot kann selbst Möglichkeit für W i l l k ü r sein, W i l l k ü r i n der Definition dessen, was i n seiner „Eigenart" verschieden ist. Erst wenn der Zusammenhang von A r t . 3 GG m i t der Wirklichkeit des politisch-gesellschaftlichen Systems und i m Zusammenhang m i t den übrigen Grundrechtsnormen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen der Verfassung gesehen wird, werden die Funktion und der normative Gehalt von A r t . 3 Abs. 1 GG deutlicher: Gewährleistung gleicher Chancen zur Ordnungsbestimmung, zur Konkretion von Grundrechten i n der Gesetzgebung, Gewährleistung gleicher Freiheit i n den sozialen Beziehungen und damit auch Anspruch auf Ausgleich. Eine Trennung i n formale und materiale Rechtsstellungen ist durch nichts i m Grundgesetz zu rechtfertigen. Der Gewährleistungsgehalt des A r t . 3 GG impliziert so einen Gleichbehandlungsanspruch und einen Ausgleichsanspruch 214 i m Sinne eines Folgenbeseitigungsanspruches gegenüber vorgängigem staatlichen Handeln 2 1 5 oder Nichthandeln, Unterlassen, wenn eine Handlungskompetenz für staatliche Organe gegeben ist. Das politisch-gesellschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland ist gekennzeichnet durch tiefgreifende Unterschiede i n der Ausstattung m i t persönlichen Freiheits- und Handlungsmitteln, sowohl materialer als auch kommunikativer A r t . Die soziale Lage der Individuen ist i n diesem politisch-gesellschaftlichen System differenziert, dies liegt zum Teil i n ihrem persönlichen Verhalten begründet, ist aber zu einem wesentlichen Teil auch Rückwirkung der sozio-ökonomischen Strukturen und der i n ihnen begründeten Positionsverteilungen i n diesem System. Die „Widersprüche" i n dieser Gesellschaft und die existierenden Mangellagen haben zur Folge, daß die durch persönlichen Status oder soziale Vereinigungen performierten Einwirkungsmöglichkeiten und Bestimmungsfähigkeiten für die konkrete verfassungsrechtlich legalisierte Ordnung unterschiedlich sind. Diese Unterschiede waren bereits vor der Verabschiedung des Grundgesetzes existent, i n unterschiedlichen historischen Entwicklungen begründet. Der Anspruch des Grundgesetzes ist es deshalb, „dem staatlichen Leben eine neue Ordnung zu geben". 212
Hierzu auch H. Scholler, S. 36 ff. Vgl. hierzu auch M. Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung u n d Bestandsschutz, München 1970, S. 33 ff., 36. 214 I n der Problemstellung ähnlich H. Wilke, S. 224 ff. (235 ff. m. w . H.), u n k l a r allerdings i n der grundgesetztheoretischen Begründung. 215 Hierzu W. Martens, Grundrechte i m Leistungsstaat, S. 7 ff., 22 ff.; W. Schaumann, Der A u f t r a g des Gesetzgebers zur V e r w i r k l i c h u n g der Freiheitsrechte, i n : JZ 1970, S. 48 ff. 213
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Das Gleichheitsgebot, nur verstanden als formales Differenzierungsund Willkürverbot, stabilisiert diese Lage. A r t . 3 Abs. 1 GG hat i m Zusammenhang m i t dem Prinzip der Volkssouveränität und dem Mehrheitsprinzip eine selbständige, solcher formalen Interpretation gegenläufige Funktion: nicht nur Willkürverbot, sondern Gebot von Chancengleichheit 216 . Formale Gleichheit und Chancengleichheit werden so zu einem einheitlichen verfassungsrechtlich gebotenen Strukturmerkmal dieser pluralistischen Gesellschaft 217 . „Der Gleichheitssatz hat die Funktion, einen Zustand der Gesellschaft herbeizuführen oder zu erhalten, i n dem die Klasse der Beteiligten am formalen Prozeß der Staatswillensbildung ein Maximum darstellt 2 1 8 ." A r t . 3 Abs. 1 GG begrenzt so die Gewährleistung individueller Freiheit i n den Grundrechten, prägt maßgeblich das Normprogramm des Grundgesetzes und vermittelt einen Anspruch auf gleiche Effizienz der Verfassungsrechtssätze. 5.4.2.3 Grundrechte sind „Freiheitsrechte { ( und „Sozialrechte" Grundrechte nur als individuelle Freiheitsrechte interpretiert, laufen wahrscheinlich bei genauer Betrachtung für den überwiegenden Teil der Bevölkerung weitgehend leer, wenn sie allein als Freiheit gegenüber dem Staat, als „Abwehrrechte" verstanden werden, (denn die reale Bedeutung ergibt sich erst bei der Frage, wovon das reale Leben der meisten Menschen am stärksten bestimmt w i r d ; wirklich von den Grundrechten, wenn sie allein als Freiheit des Individuums gegenüber dem Staat gedeutet werden?). Es ist auch nicht erkennbar, daß das Grundgesetz grundrechtliche Positionen prinzipiell ungleich gewährt, sondern prinzipiell umgekehrt: Wenn jeder das gleiche Grundrecht hat, hat er auch die gleiche Freiheit zu haben. Die Freiheitsrechte aufgrund des Grundgesetzes als objektive Ordnung, als Recht des einzelnen oder sozialer Vereinigungen, als Bindung der Staatsgewalt sind dann aber kraft einer notwendigen Bedingung des Funktionierens dieser Verfassungsordnung auch „Teilhabeansprüche", sie verbürgen einen „Verfassungsanspruch", solange und soweit die Ausstattung m i t Freiheitsmitteln, d. h. m i t M i t t e l n zur eigenverantwortlichen, freien Selbstentfaltung der Person und zur Teilhabe an Gesellschaft sowie zur Mitbestimmung der konkreten Ordnung der staatlich verfaßten Gesellschaft unterschiedlich sind. Als konstitutive Normen für die staatliche Ordnung 216 Vgl. zum Begriff der Chancengleichheit M. Kloepfer, S. 14 ff.; zur E n t wicklung des Chancengleichheitsgedankens H. Scholler, S. 51 ff.; zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Gebots der Chancengleichheit ders., S. 100 ff.; vgl. auch A. Podlech, S. 219 f. 217 So ff. Scholler, S. 100 ff. 218 A. Podlech, S. 172. Vgl. auch insges. A. Arndt, Gedanken zum Gleichheitssatz, i n : Festschrift f ü r G. Leibholz, Tübingen 1966, Bd. 2, S. 179 ff.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
und die Stellung des Individuums und sozialer Gruppen in ihr verbürgen die Grundrechte einen Anspruch auf ihre Effizienz. Indem Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung gemäß A r t . 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als verbindliches Recht gebunden sind, sind sie auch veranlaßt, die Effizienz der verbürgten Freiheit herzustellen und jene sozialen Bedingungen zu schaffen, welche Voraussetzung für gleiche und freie Entfaltung der Person, für Teilhabe an Gesellschaft und an den gesellschaftlichen Produktionsprozessen und für Mitbestimmung bei der Entfaltung der staatlichen Ordnung sind 2 1 9 ' 2 2 °. Dieser Leistungsanspruch hat für seine inhaltliche Ausgestaltung zwei Bezüge: Zum einen sind entsprechend dem Prinzip der Volkssouveränität und dem Grundrechtsprinzip die Träger der Staatsgewalt verpflichtet, eine solche Struktur der sozialen Beziehungen zu schaffen und solche Verhaltensweisen zu ermöglichen, welche eine gleichberechtigte Chance zur Mitbestimmung der politischen Ordnung und zur Konkretion der Grundrechte beinhalten. Dies betrifft entsprechend dem Gegenstandsbereich der Grundrechte die Handlungsfreiheit der Person, Informations- und Kommunikationsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und kann sich ausdrücken i n der Bereitstellung von Bildungseinrichtungen, i n der Gewährleistung freier Information, i n der Beschränkung von Herrschaftsmacht, welche aus Eigentum folgt, i n der rechtlichen Sicherung von freigesellschaftlichen oder politischen Vereinigungen. Zum anderen beinhalten die Grundrechte i n Verbindung m i t dem Gleichheitsgebot selbst eine Ausrichtung möglicher Leistungsansprüche: Die Freiheitsgewährleistung der Grundrechte, die Entfaltung der Person, die Kommunikation ζ. B. dürfen nicht einseitig verteilt oder beschränkt sein m i t der Folge, daß die Effizienz der Grundrechte unterschiedlich ist. Die gleiche Freiheit zur Entfaltung der Person und zur gesellschaftlichen A k t i o n und Interaktion, zur Mitbestimmung der politischen Ordnung ist das Normprogramm der Grundrechte i n Verbindung m i t dem Prinzip der Volkssouveränität. Das Prinzip der Volkssouveränität und die Grundrechte beinhalten damit aber auch eine doppelte Bindung des Mehrheitsprinzips, eine Bindung der Staatsorgane bei der Ausübung von Staatsgewalt. Die 219 Einen Versuch, „die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen" zu bestimmen, u n t e r n i m m t W. Weber (in: Der Staat 1965, S. 409 ff. m. w. N.), die Problemlösung ist bedingt durch das zugrunde gelegte Verständnis der Grundrechte vor allem als individuelle Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, das Ergebnis entspricht so auch nicht dem N o r m programm des Grundgesetzes. 220 Das ethische Postulat der Solidarität w i r d beim heutigen Zustand der sozialen Verhältnisse u n d Bewußtseinslagen zum Verfassungsprinzip realer Umgestaltung zu solidarischen Verhältnissen, die erst solide Verhältnisse sein können. — Vgl. auch G. Weisser, Solidarität, Grundwert oder Bedingung? I n : Die Mitarbeit, 21. Jg., S. 193 ff.
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Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und die freie Entfaltung der Individualität der Person und von sozialen Vereinigungen sind zu wahren; die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und die freie Entfaltung der Individualität von Personen und sozialen Vereinigungen sind herzustellen, soweit jeweils eine Kompetenz staatlicher Organe gegeben ist. Dies bedeutet keinen Anspruch auf totale Gleichmacherei, eine solche Interpretation würde die Offenheit der Grundrechte und das Mehrheitsprinzip aufheben. „Der Gesetzesvorbehalt ist das rechtstechnische M i t tel zum Vollzug der zum Wesen der grundrechtlichen Freiheit gehörenden Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums, zur Verwirklichung der Grundrechte und ihres „Wesensgehalts", zum Schutze der Verfassung insgesamt und damit auch der Grundrechte, zur Verwirklichung des „Korrelats" der Freiheit, der „Verantwortlichkeit" 2 2 1 . Der normative Anspruch der Grundrechte ist allgemein, er ist nicht verschieden, je nachdem, ob soziale Lagen durch die Tätigkeit oder durch die Untätigkeit staatlicher Organe geschaffen sind. Es ist gerade auszeichnendes Merkmal einer freiheitlichen Gesellschaft, daß die konkrete politisch-gesellschaftliche Ordnung durch staatliches Organhandeln oder durch individuelles und freigesellschaftlich organisiertes Handeln hergestellt sein kann 2 2 2 . Die Bindung der staatlichen Organe an die Grundrechte i n A r t . 1 Abs. 3 GG und das a priori des Verfassungsprinzips der Volkssouveränität vor jedem staatlichen Handeln und i n jedem staatlichen Gestalten beinhaltet eine umfassende Bindung der Kompetenzen des Gesetzgebers 2 2 3 . Gesetzgebung i m Grundrechtsbereich unterliegt so einer doppelten Bindung: Wahrung individueller und sozialer Freiheit und Vermittlung individueller und sozialer Freiheit, und das heißt gleichzeitig immer auch Begrenzung individueller und frei-gesellschaftlich organisierter Freiheit 2 2 4 . Grundrechtliche Freiheiten sind heute wesentlich zur Sache staatlicher Organisation und Verfahren geworden 2 2 5 . Es wäre ein Widerspruch der Verfassung i n sich selbst, wenn die Ausübimg staatlicher Kompetenz durch eine gesellschaftliche Mehrheit i m 221
P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, Karlsruhe 1962, S. 209; vgl. auch E. Hesse, S. 71 ff., 86 f. 222 v g l hierzu auch W. D. Narr ! F. Naschold, Theorie der Demokratie, Stuttgart usw. 1971, S. 157 ff. 223 D e r Gesetzgeber k a n n Grundrechte konkretisieren, unzulässig wäre aber eine Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetz; vgl. zur Problematik O. Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetz, B e r l i n 1971, S. 52 ff., 101 ff. 224 So auch P. Häberle, S. 180. 225 vgl. hierzu auch P. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht i m L e i stungsstaat. Die numerus-clausus-Entscheidung v o m 18. 7.1972, i n : DÖV 1972, S. 729 ff. (S. 729).
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Wege der Gesetzgebung an die skizzierten Verfassungsnormen gebunden wäre, die gleiche Mehrheit aber verfassungsrechtlich die Möglichkeit besitzen würde, Interessen, Anliegen und Bedürfnisse i n einer Weise unmittelbar gesellschaftlich zu realisieren, welche Volkssouveränität und Grundrechte faktisch einschränken oder aufheben würden. Kompetenz von Staatsorganen bedeutet, daß i m Rahmen der verfassungsrechtlich zugeteilten Gestaltungskompetenz eine Verantwortlichkeit für die staatliche Ordnung insgesamt besteht 2 2 6 . Dies w i r d beispielsweise auch deutlich an A r t . 106 Abs. 3 GG, nach welcher Bestimmung bei der Steuererhebung und beim Finanzausgleich „eine Überlastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse i m Bundesgebiet zu wahren ist". Die staatlichen Organe, insbesondere der Gesetzgeber sind so verantwortlich für die „Effizienz" der Grundrechte 2 2 7 und sind verantwortlich dafür, daß soziale Beziehungen — seien sie staatlich geordnet oder freigesellschaftlich organisiert, etwa i n sozialen Vereinigungen und Organisationen, i n Kollektivgesamtheiten — freiheitlich sind 2 2 8 . Die Präambel des Grundgesetzes kennzeichnet m i t dem Begriff des staatlichen Lebens, wofür sich das deutsche V o l k eine neue Ordnung geben w i l l , den Bereich der Gestaltbarkeit der Ordnung durch staatliches Handeln entsprechend den Kompetenz- und Verfahrensbestimmungen des Grundgesetzes. Der verfassungsrechtlichen Bindung staatlichen Organhandelns entspricht eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zu staatlichem Handeln, insoweit verfassungswidrige soziale Lagen i m Bereich staatlicher Kompetenz durch gesellschaftliches Handeln realisiert werden 2 2 9 . Die Bindung des Mehrheitsprinzipes durch das Prinzip der Volkssouveränität und insbesondere durch die Grundrechte ist nicht absolut. Das Mehrheitsprinzip bedeutet Gestaltungskompetenz der Staatsorgane, insbesondere der gesetzgebenden Gewalt i m Rahmen möglicher alternativer grundrechtlicher Konkretionen i m Rahmen des Normprogramms der Grundrechte. Die Auswahl zwischen alternativen Gestaltungsmaßnahmen und ihre Konkretion bedarf regelmäßig der Gesetzesform, insbesondere Leistungsansprüche sind den Grundrechten nicht unmittelbar zu entnehmen, die Grundrechte bedürfen hierzu der gesetzlichen Konkretion 2 3 0 . 226
Vgl. hierzu H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl., Kronberg 1977, S. 152 ff. 227 Vgl. hierzu erg. W. Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen 1971, S. 17 ff. (zum Stand der Diskussion ebd. S. 10 ff.); H. P. Bull, S. 155 ff. 228 H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften, S. 11, vgl. auch BVerfGE 5, 197 ff. 229 Erg. J. Burmeister, V o m staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz f ü r Staatsfunktionen, F r a n k f u r t 1971, S. 3 ff., 18 ff.; insbes. auch S. 76 ff.
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Staatliches Handeln, die Ausübung von Organkompetenz durch Handeln oder durch Unterlassen i m Normbereich der Grundrechte ist als staatlich zurechenbare Grundrechtsrealisierung stets an die Funktion der Grundrechte: Strukturierung und Koordinierung sozialer Beziehungen als freiheitliche, offene und chancengleiche, und an das Prinzip der Volkssouveränität gebunden. Dies bedeutet — je nach den sozialen Lagen — Gewährleistung ideeller und materieller Freiheitsmittel, Herstellung eines sozialen Ausgleiches 231 . I n dieser Weise sind die Grundrechte Freiheitsrechte und „Sozialrechte" 2 3 2 . E. Forsthoff ist nicht zuzustimmen, daß, sofern aus den Grundrechten mehr oder anderes herausgelesen w i r d als individuelle Freiheit, Gleichheit und die Gewährleistung bestimmter Rechtsinstitute, solche Inhalte erst i n die entsprechenden Grundrechtssätze hineingelesen werden müssen 233 . Gerade wenn die Grundrechtssätze als Rechtssätze i n ihrem Anspruch auf Freiheit und Gleichheit und i m Zusammenhang der gesamten Verfassungsordnung ernst genommen werden, sind sie sowohl individuelle Freiheitsrechte als auch soziale Grundrechte, denn die Gewährleistung sozialer Beziehungen als allgemein freiheitlicher beinhaltet für sozial unterprivilegierte Gruppen und Schichten immer auch einen Ausgleichsanspruch, läßt „Freiheitsrechte" zu „Sozialrechten" werden. 230 Z u r gesetzlichen Konkretionserfordernis f ü r die A b l e i t u n g von L e i stungsrechten aus Grundrechten vgl. auch W. Martens, S. 7 ff. (S. 30 ff.). — Allgemein zum Problem des Regelungsermessens des Gesetzgebers vgl. R. Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung v o n Gesetzen, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Bd. 2, S. 108 ff. (S. 117 ff. m. N. Rspr. des BVerfG). 231 Vgl. hierzu auch P. Häberle, Leistungsrechte i m sozialen Rechtsstaat, i n : Festschrift f ü r G. Küchenhoff, B e r l i n 1972, 2. Hlbbd., S. 453 ff.; E. Denninger, Staatsrecht 2, S. 163 ff.; zur Problematik einer „Umdeutung" von G r u n d rechten aus Abwehrrechten i n Leistungs- u n d Teilhaberrechte auch M . Kloepfer, S. 2 f. 232 I m Ergebnis ähnlich E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie u n d Grundrechtsinterpretation, i n : N J W 1974, S. 1529 ff. (S. 1537 f.). — Z u einem Ausgleich zwischen Freiheitsrechten w i l l E. Grabitz, Freiheit u n d Verfassungsrecht, Tübingen 1976, S. 208 ff. m. w. N. über eine angeblich verfassungsrechtlich gewährleistete institutionelle Sicherung von Freiheit auch als Ausdruck sog. objektiver Anforderungen gelangen, ohne daß die Begründung immer konseuqent überzeugt. Eine Trennung zwischen Freiheitsrechten u n d Sozialrechten n i m m t E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, vor, ohne dies allerdings aus dem Grundgesetz u n m i t t e l b a r zu begründen, S. G 8, 14 ff. 233 Beispielsweise E. Forsthoff, Z u r heutigen Situation einer Verfassungslehre, i n : Festschrift f ü r C. Schmitt, B e r l i n 1968, Bd. 1, S. 185 ff. (S. 188 m. w. Ν.) ; H. H. Klein, Die Grundrechte i m demokratischen Staat, S. 65 ff., 73 ff. m. w. N. Z u den verschiedenen Argumentationsformen u n d -ebenen einer Deutung der Grundrechte als originäre u n d offensive Leistungsrechte vgl. W. Martens, S. 26 ff., 32 f. — I m übrigen muß Forsthoff die A r t u n d Weise individueller Freiheit oder Gleichheit auch erst i n die Ordnungsrechte hineinlesen, u m sie herauslesen zu können.
17 Grimmer
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes i n A r t . 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG ist insoweit nichts anderes als eine begriffliche Zusammenfassung dieser normativen Verfassungselemente, Ausdruck für einen spezifischen Inhalt des Normprogrammes des Grundgesetzes. Gleichzeitig konkretisieren diese Verfassungsbestimmungen selbst wiederum das Sozialstaatsprinzip 234 . Diese Verfassungsbestimmungen vermitteln i n gleicher Weise, wie i n ihnen die Abwehr staatlicher Eingriffe i n Freiheit und Eigentum begründet sein kann, auch Ansprüche auf staatliche Leistung 2 3 5 , auf Verpflichtung zu staatlichem Handeln 2 3 6 . I n gewisser Weise kann davon gesprochen werden, daß es sich u m eine „Optimierung" von Freiheit i n ihren unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Funktionen und Bezügen, u m Gewährleistung individueller Entfaltung und Herstellung chancengleicher Entfaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten handelt. Die moderne Sozialgesetzgebung, insbesondere die Formen der sozialen Sicherung 237 genügen nur begrenzt dem Anspruch des Grundgesetzes. Sie beinhalten zwar Leistungsbereitstellung i n individuellen Notlagen oder gewähren eine materielle Sicherstellung i m Falle der Erwerbsunfähigkeit oder des Alters. Der moderne kapitalistisch orientierte Staat der Gegenwart erbringt darüber hinaus eine Vielfalt öffentlicher Leistungen 2 3 8 , sei es u m soziale Defizite abzugleichen, sei es u m die Funktionsbedingungen seines sozioökonomischen und soziokulturellen Systems zu erhalten. 234
Ä h n l i c h w i e hier E. Stein, Staatsrecht, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 71 ff. Z u r E n t w i c k l u n g leistungsfördernder Vorstöße u n d ihrer Begründung i m Sozialstaatsprinzip u n d i n den Grundrechten vgl. M. Kloepfer, S. 3 ff. H. P. Bull, S. 163 ff. argumentiert bei der Bestimmung von Staatsaufgaben unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip, die Inhaltsbestimmung bleibt so vage. 23β E r g > hierzu insbes. zu Formen u n d Typen von Leistungsrechten P. Häberle, „Leistungsrecht" i m sozialen Rechtsstaat, S. 453 ff. Z u r Problematik von Teilhaberechten vgl. E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, S. G 39 ff. m. w . N. Das B V e r f G hat zunächst weder das Gebot der Gewährleistung der Menschenwürde noch A r t . 2 Abs. 1 S. 1 GG als Begründung von Ansprüchen auf staatliche Leistung anerkannt, B V e r f G 1, 97 (104, 105). 235
237 Vgl. hierzu H. Ryffel, Soziale Sicherheit i n der modernen Gesellschaft, i n : Der Staat, 1970, S. 1 ff. (insbes. S. 3 ff.); H. P. Bull, S. 224 ff.; Ε. v. Hippel, Grundfragen der sozialen Sicherheit, Tübingen 1979; zur Geschichte der Sozialgesetzgebung A. Gladen, Geschichte der Sozialpolitik i n Deutschland, Wiesbaden 1974; H. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 3. Aufl., St. Augustin 1978; erg. die Beiträge i n H. A. Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen u n d Anfänge, Göttingen 1974 (insbes. S. 36 ff.); A. Shonfield, Geplanter Kapitalismus, Wirtschaftspolitik i n Westeuropa u n d USA, K ö l n 1968, insbes. S. 284 ff.; P. Flora/J. Alber / J. Kohl, Z u r E n t w i c k l u n g der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, i n : PVS 1977, S. 707 f t 238 Z u m System u n d Umfang öffentlicher Leistungen s. H. Hanusch, Verteil u n g öffentlicher Leistungen, Göttingen 1976, S. 64 ff. m. w . N.; R. A. Musgrave / P. B. Musgrave / L. Kuttmer, Die öffentlichen Finanzen i n Theorie u n d Praxis, Tübingen 1975, Bd. 1, S. 5 ff., 9 ff.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
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Solche sozialen Leistungen, welche die materiellen Grundbedingungen menschlicher Existenz sichern, welche soziale Sicherheit vermitteln, sind nicht unbedingt Ausdruck eines Effizienzanspruches und einer Effizienzvermittlung der Grundrechte 2 3 9 . Der Effizienzanspruch der Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität beinhalten nicht nur die Sicherung materieller Grundbedingungen menschlicher E x i stenz durch Einzelmaßnahmen, sondern die Herstellung eines sozialen Ausgleiches i m Sinne der Gewährleistung gleicher und allgemeiner individueller Freiheit, gleicher Chancen der Machtgewinnung 2 4 0 ; beides bedingt eine offene, freiheitliche Gesellschaft und erfordert beispielsweise die Fähigkeit und Freiheit zur Informationsbeschaffung und -Verarbeitung zur Meinungsbildung, die Gewährleistung von Bildung, die Beschränkimg personeller Herrschaft i n der Gewährleistung von Eigentum 2 4 1 , u m die Verfassungsordnung des Grundgesetzes insgesamt zu realisieren. Grundrechte sind so i n einer und für eine Demokratie als Freiheitsrechte immer auch soziale Grundrechte 2 4 2 . Der soziale Leistungs- und Ausgleichsanspruch, welcher den Grundrechten eigen ist, bedeutet nicht Gewährleistung bestimmter sozial gleicher Lagen, sondern Vermittlung der materiellen und ideellen Bedingungen, welche für die Entfaltung der Person und für politische Mitbestimmung wesentlich sind. Der Anspruchsgehalt ist individuell unterschiedlich, da er von der jeweiligen sozialen Lage abhängt. Die Effektivierung von Grundrechten kann i n vielen Sozialbereichen gleichermaßen durch staatliche Organisationsleistungen oder durch öffentliche Finanzleistungen geschehen 243 . 239 Hierzu der Überblick bei H.-H. Hartwich, Sozialstaatspostulat u n d gesellschaftlicher status quo, insbes. S. 119 ff., 259 ff.; erg. H. P. Widmaier, Sozialpolitik i m Wohlfahrtsstaat, Reinbek 1976, S. 29 ff. m. w . H. 240 Z u r „Optimierungsproblematik" vgl. auch P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, Bad H o m b u r g 1970, S. 710 f.; M. Kloepfer, S. 28 f., S. 30. 241 Z u r Distribution u n d Begünstigung durch öffentliche Leistungen s. H. Hanusch, S. 110 ff., 151 ff. m . w . N.; R. A. Musgrave, S. 97 ff., 158 ff. Der Sozialstaat k a n n sich nicht n u r auf den Bereich materieller Güterverteilung beschränken, sondern hat auch die V e r m i t t l u n g ideeller Teilhabe an K u l t u r gütern zu seiner'Aufgabe, vgl. hierzu H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften i m Sozialstaat nach dem Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland, S. 10, 43 u n d P. Schneider, Pressefreiheit u n d Staatssicherheit, Mainz 1968, S. 21. — Z u r F u n k t i o n der Grundrechte als Teilhaberechte i m Zusammenhang m i t dem Demokratiepostulat vgl. einerseits H. Klein, Diskussionsbeitrag, S. 120 f. u n d andererseits P. Häberle, Diskussionsbeitrag, S. 125 f., i n : W. v. S i m s o n / M . Kriele, Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, i n : W d S t R L , H. 29, B e r l i n 1971. 242 Z u r Diskussion G. Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, Tübingen 1971; H. Schambeck, Grundrechte u n d Sozialordnung, B e r l i n 1969; F. v. d. Veen, Soziale Grundrechte, K ö l n 1963 jew. m. w . N. 243 v g l hierzu Chr. Starck, Staatliche Organisation u n d staatliche Finanzierung als H i l f e n zu Grundrechts Verwirklichungen? I n : Bundesverfassungs-
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie 5.4.3 Gestaltungskompetenz der Mehrheit und Rechtsstaatsgebot
Die so erzielte Funktionsbestimmung für die Grundrechte und die Skizzierung ihres Normprogrammes i m Zusammenhang m i t dem Prinzip der Volkssouveränität und dem Mehrheitsprinzip ergibt selbstverständlich keine Inhaltsbeschreibung, welche eine enumerative A u f listung ihrer normlogisch möglichen und verfassungsrechtlich zulässigen Konkretionen erlaubt. Ein solches Bemühen scheitert immer an der verfassungsrechtlichen Offenheit der Grundrechte. Die Funktionsbestimmung bedeutet deshalb auch keine Aufhebung der i m Mehrheitsprinzip garantierten Gestaltungskompetenz, sondern nur ihre normativ-programmatische Bindung an sogenannte Grenzwerte verfassungsrechtlich zulässiger Gestaltung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung. Die Gestaltungskompetenz ist selbst i n der Offenheit der Grundrechte mitbegründet, sie ist i n der Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG und i n Regelungsvorbehalten einzelner Grundrechte garantiert. Bei der Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 G G 2 4 4 lassen sich zwei Funktionen dieser Norm unterscheiden. A r t . 19 Abs. 2 GG garantiert zunächst den Geltungsanspruch jeder Grundrechtsnorm i n ihrem allgemeinen Ordnungsgehalt. Die Norm stellt damit klar, daß kein Grundrecht i n seinem Normbereich von einem anderen Grundrecht total überlagert werden darf, daß i m Normprogramm der Regelungsgehalt der Einzelgrundrechte nicht aufgehoben werden kann. Dies gilt nicht nur für ein einzelnes Grundrecht, sondern auch für normativ selbständig wirkende Bestandteile eines Grundrechtes. Beispielsweise kann der Gewährleistungsgehalt des A r t . 14 GG nicht Ansprüche aus A r t . 2 oder A r t . 12 GG vollständig überlagern, ebenso wenig darf die Ausgestaltung dieser Verfassungsbestimmungen A r t . 14 GG aufheben. Art. 19 Abs. 2 GG postuliert gewissermaßen einen optimierenden Ausgleich zwischen den Einzelgrundrechten i m Normprogramm des Grundgesetzes und i n ihren jeweiligen Normbereichen. gericht u n d Grundgesetz, S. 480 ff. — Problematisch ist die Formulierung eines Rechts auf Arbeit. Aus dem Grundgesetz ergibt sich n u r mittelbar ein Recht auf Arbeit. Unter der Annahme, daß der Mensch sich wesentlich i n der A r b e i t entfaltet, hat der Staat Vorsorge f ü r die Qualifikationsmöglichkeiten zu treffen, welche f ü r die Verwertung der Arbeitskraft erforderlich sind. N u r bei einer unzureichenden Anzahl an Arbeitsplätzen insgesamt sind beispielsweise durch Arbeitszeitregelungen oder „ T e i l u n g " von Arbeitsplätzen Arbeitsmöglichkeiten zu gewährleisten. — Erg. M. Martiny, Das Recht auf A r b e i t i n historischer Sicht, i n : Festschrift f. H. O. Vetter, K ö l n 1977, S. 449 ff.; M. Rath, Die Garantie des Rechts auf Arbeit, Göttingen 1974. Vgl. auch D. Barth, Recht auf Arbeit, K ö l n 1976. 244 Vgl. allgemein P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, Karlsruhe 1962; H. Jäckel, Grundrechtsgeltung u n d Grundrechtssicherung, B e r l i n 1967; F. Müller, Normbereich von Einzelgrundrechten i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, B e r l i n 1968, S. 30 ff.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
261
Die Wesensgehaltsgarantie garantiert damit fundamental den i n den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Ordnungssinn. Insoweit ist der Gehalt dieser Vorschrift weitgehend identisch m i t dem normativen Sinn der offenen Grundrechte selbst: Handlungsspielräume zu gewährleisten, die freie M i t w i r k u n g bei der Gestaltung der Sozialordnung und den darin implizierten Ausgleichsanspruch zu garantieren 2 4 5 . Gleichzeitig verdeutlicht die Bestimmimg des A r t . 19 Abs. 2 GG aber auch, daß für den jeweiligen Gesetzgeber, die jeweilige parlamentarische Mehrheit, ein politischer und rechtlicher Gestaltungsspielraum gegeben ist, er also nicht unter dem Auftrag einer totalen Nivellierung, Egalisierung oder des Ausschlusses sozialen Formenreichtums steht. Wenn es i n A r t . 19 Abs. 2 GG heißt, daß der Wesensgehalt eines Grundrechtes nicht angetastet werden darf, so ist damit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß es i n der Konkretisierung der Grundrechte Handlungsspielräume gibt. Dieses Ergebnis entspricht der Analyse der offenen Grundrechte, verdeutlicht aber den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Die Gewährleistung des „Wesensgehaltes" ist die „absolute" Grenze gesetzgeberischer Konkretionsfreiheit, i n i h m kristallisiert sich die Bindung des Mehrheitsprinzipes. Die Beigabe eines gesetzgeberischen Regelungsvorbehaltes 246 zu manchen Grundrechtsbestimmungen ist i n diesem Zusammenhang zu sehen: Die Konkretisierung des Grundrechtes bedarf einer besonderen gesetzlichen Gestaltung. Mittels eines i n den Grundrechten vermerkten Regelungsvorbehaltes w i r d dem jeweiligen Gesetzgeber die Möglichkeit einer Grundrechtskonkretion ausdrücklich zugestanden und aufgegeben, ζ. B. i n A r t . 2 Abs. 2 Satz 3, A r t . 4 Abs. 3, A r t . 14 Abs. 1 GG 2 4 7 . 245 Vgl. zu verschiedenen individualtheoretischen u n d sozialtheoretischen Begründungen der Wesensgehaltsgarantie bei P. Schneider, S. 129 ff. — Die Optimierung k a n n durch entsprechende Regelungen materieller Bedingungen oder durch Zurverfügungstellen variabler Rechtsformen geschehen, erg. zur Problematik H. Bethge, Z u r Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 355 ff., 366 ff. m. w. H.; zu meth. Problemen der Optimierung H. Goerlich, Optimierungsaufgaben der Verfassungsinterpretation, i n : Rechtstheorie 1977, S. 231 ff. 246 Vgl. hierzu P. Häberle, S. 117 ff. m . w . N . (S. 140 ff., 193 ff.) u. S. 224: „Recht u n d Gesetz i m Grundrechtsbereich sind (wesensmäßige) Begrenzung u n d Ausgestaltung von Freiheit u n d Eigentum u n d damit der Grundrechte"; H. U. Gallwas, Faktische Beeinträchtigung i m Bereich der Grundrechte, B e r l i n 1970, S. 94; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, S. 55 ff.; W. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes u n d Grundrechte, B e r l i n 1975, S. 110ff. m . w . N . — Z u m Zusammenhang von Gesetzesvorbehalt u n d Gewaltenteilungslehre vgl. M. Drath, Die Gewaltenteilung i m heutigen deutschen Staatsrecht, i n : H. Rausch, Z u r heutigen Problematik der Gewaltentrennung, Darmstadt 1969, S. 21 ff. (S. 77). 247 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A n m . 3, 5, 26 zu A r t . 2 Abs. 1 GG; D. Jesch, Gesetz u n d Verordnung, Tübingen 1961, S. 135 f. m . w . N . ; Chr. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, Baden-Baden 1970, S. 21 ff. m. w . N.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Die Richtigkeit der hier durchgeführten Analysen unterstellt, findet über den Regelungsvorbehalt die politische Dimension staatlichen Handelns Ausdruck und unmittelbar Eingang i n die Grundrechtskonkretion. Mittels des Regelungsvorbehaltes w i r d der Gestaltungsspielraum für den jeweiligen Gesetzgeber erweitert, und zwar bis zur Unvereinbarkeit einer Regelung m i t dem „Wesensgehalt" eines Grundrechtes und dem Normprogramm der Grundrechte insgesamt, w i r d eine Verbindung zwischen Gestaltungsmacht, legitimiert i m Mehrheitsprinzip, und dem Gewährleistungsgehalt der Grundrechte hergestellt. Keinesfalls ermächtigt ein Regelungsvorbehalt, die individuelle Entfaltungsfreiheit oder den sozialen Ausgleichsanspruch nur je für sich als grundrechtliche Verpflichtung aufzufassen oder gar diese ganz zu negieren. Die genannte Grundfunktion der offenen Grundrechte, wie sie sich i n ihrer real-dialektischen Verbindung untereinander und m i t dem Prinzip der Volkssouveränität darstellt, ist durch einen Regelungsvorbehalt nicht aufgehoben, andernfalls würde ein Regelungsvorbehalt die A u f hebung der Grundrechte i n ihrer Funktion und i n ihrer normativen Relevanz schlechthin bedeuten. Der Regelungsvorbehalt steht selbst unter dem Vorbehalt der Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG. Ähnlich ist die Funktion sog. Schrankenvorbehalte, etwa i n A r t . 2 Abs. 1, i n Art. 5 Abs. 2 GG. Der Lehre vom Schrankenvorbehalt 248 liegt vielfach die anschauliche Vorstellung zugrunde, es bestünde nur innerhalb der genannten Schranken staatliche Regelungs- und Eingriffsmöglichkeiten, nur innerhalb der genannten Schranken sei eine i m übrigen absolute, dem Staat entgegengesetzte Freiheit, der staatlichen Bindung unterwerfbar. Diese Lehre hat ihre Grundlage wesentlich i n der bereits einmal angeführten Vorstellung des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates, welcher die Grundrechte als Gewährleistung absoluter, staatsfreier Freiheitsräume verstanden hatte. Diese, m i t der Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft verbundene Vorstellung ist — wie dargelegt — m i t dem Grundgesetz genausowenig vereinbar, wie eine Grundrechtsinterpretation, welche Freiheitsrechte nur als subjektive A b wehrr echte versteht. Wesensgehaltsgarantie, Schrankenvorbehalt und Regelungsvorbehalt kennzeichnen unterschiedliche Formen und Tiefen gesetzgeberischer Konkretionsmöglichkeiten bei der Aktualisierung von Grundrechtssätzen. 248 Z u r Lehre von der Schrankensystematik vgl. den Überblick bei ff. Scholler, Person u n d Öffentlichkeit, München 1967, S. 359 ff.; insbes. i m H i n blick auf die Freiheitsrechte E. Hesse, Die B i n d u n g des Gesetzgebers an das Grundrecht des A r t . 2 Abs. 1 GG, S. 62 ff.; eine weiterführende Aufarbeitung der Problematik bei D. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, B e r l i n 1976, S. 129 ff. m. w . H.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
263
D i e d e n G r u n d r e c h t e n i m m a n e n t e n S c h r a n k e n 2 4 9 w e r d e n d a m i t auch d e u t l i c h : G e g e n ü b e r d e m „ S t a a t " i s t d e n G r u n d r e c h t e n eigen e i n A b w e h r - u n d ein Leistungsanspruch. Die Freiheit, welche die Grundrechte g e w ä h r e n u n d w e l c h e n u r als staatliche r e a l i s i e r b a r ist, f i n d e t i h r e Grenze d o r t , w o d i e A u s ü b u n g dieser F r e i h e i t d i e F r e i h e i t s g e w ä h r u n g f ü r andere b e e i n t r ä c h t i g e n oder e i n e n Z u s t a n d des p o l i t i s c h e n G e s a m t systems schaffen w ü r d e , i n w e l c h e m eine g l e i c h b e r e c h t i g t e M i t w i r k u n g b e i seiner k o n k r e t e n A u s g e s t a l t u n g n i c h t m ö g l i c h ist. D i e i m m a n e n t e S c h r a n k e der G r u n d r e c h t e w i r d also g e b i l d e t d u r c h d i e Rechte anderer, d. h. die m i t d e n G r u n d r e c h t e n i m R a h m e n i h r e r N o r m b e r e i c h e v e r l i e hene R e a l i s i e r u n g s m ö g l i c h k e i t i s t b e g r e n z t d u r c h das Recht anderer, i h r e Interessen ebenso p o t e n t i e l l r e a l i s i e r e n z u k ö n n e n . D i e G r u n d rechte s i n d d a m i t f u n d a m e n t a l a u f d i e H e r s t e l l u n g eines Z u s a m m e n hanges i n i h r e n eigenen n o r m a t i v e n F u n k t i o n e n u n d m i t d e m D e m o k r a t i e p o s t u l a t b e z o g e n 2 5 0 . F u n k t i o n a l s i n d d i e G r u n d r e c h t e bezogen a u f d i e 249 P. Häberle ist zuzustimmen, daß die Grundrechte v o n vornherein i n n e r halb der ihnen immanenten Grenzen der materiellen Allgemeinheit des verfassungsrechtlichen Wertsystems gewährleistet sind. . . . „der Gesetzgeber, der die immanenten Grundrechtsgrenzen konkretisiert, verletzt die G r u n d rechte nicht . . . , sondern bestätigt u n d sichert sie. Die immanenten Grenzen sind „Konseuqenzen" des Grundrechtsbegriffes"; P. Häberle, S. 57; zur D a r stellung des Problems i n der Rechtsprechung des B V e r f G u n d zum Zusammenhang von Tatbestand u n d Schranken vgl. M . Kloepfer, Grundrechtstatbestand u n d Grundrechtsschranken, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, S. 408 ff. — Beispielsweise ist das Problem des Umweltschutzes nicht n u r i m Blick auf die „Schranken" der Eigentumsgewährleistung des A r t . 14 GG, sondern ebenso unter Berücksichtigung des Anspruchsgehaltes von A r t . 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich zu behandeln, vgl. zum Problemstand H. H. Rupp, Die verfassungsrechtliche Seite des Umweltschutzes, i n : JZ 1971, S. 401 ff. (402). 250 I m Grunde handelt es sich bei der Diskussion der Regelungsvorbehalte u n d Schrankenproblematik u m ein Scheinproblem, das n u r aus der deutschen Verfassungstradition erklärbar ist. „ V o n der Einheit der Verfassung her gesehen, gibt es k e i n Grundrechts-,,System", sondern n u r bestimmte g r u n d rechtlich gesicherte Lebensbereiche, deren Einheit n u r i m Zusammenhang m i t den Grundprinzipien des Rechtsstaates verstanden werden kann, das die Sicherung u n d Ausgestaltung der Freiheit des Bürgers u n d der B i n d u n g der V e r w a l t u n g u n d der Gerichte i n die Hände des Gesetzgebers legt. Die U m fassung der „grundsätzlichen Freiheitsvermutung" des Rechtsstaates i n einem Grundrecht ändert dieses Prinzip i n seinem Wesen, indem es zu einer „Freiheit s Vermutung gegen die Rechtsetzung des Gesetzgebers" w i r d . Hans Huber hat . . . dargelegt, w i e w i c h t i g eine Vorstellung ist, die das Recht als Widerspruch zur sogenannten „natürlichen" Freiheit auffaßt, da es doch Freiheit n u r i m Recht geben kann. E r hat dabei zugleich gezeigt, daß diese Auffassung ihre Wurzel i n der deutschen Verwaltungswissenschaft hat. Es ist die deutsche T r a d i t i o n des den Absolutismus nicht überwindenden, sondern n u r gegen i h n gesetzten Rechtsstaats, die hier eine absolut gesetzte Freiheit des einzelnen als Gegenpol der absoluten Staatsmacht erscheinen läßt. . . . I m Grundrechtsteil w i r d diese Freiheit des Bürgers als prinzipiell unbegrenzt gedacht, u m dann i n einem komplizierten System von Vorbehalten, Eingrenzungen, Schrankenziehungen usw. gewissermaßen nachträglich u n d von außen eingeschränkt zu werden. . . . " . (H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, i n : W d S t R L , H. 20, B e r l i n 1963, S. 53 ff. (S. 65 f.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Konstitution der je konkreten Staatsordnung, von daher ergibt sich ihr immanenter Schrankengehalt als Schranke gegenüber freiheitszerstörenden Mitteln, als Gewährleistung von Freiheit, als Anspruch auf Chancengleichheit, und zwar nicht nur für Individuen, sondern auch für koordinierte, kollektive Aktivitäten. Der Anspruchsgehalt der Grundrechte ist für alle formal gleich, inhaltlich ist er differenziert entsprechend der jeweiligen sozialen Situation der einzelnen Grundrechtsträger, der Struktur der sozialen Beziehungen, i n welchen die einzelnen Grundrechtsträger stehen. Verfassungstheoretisch ist allein die Funktion des Grundgesetzes, die Funktion seiner Grundelemente: Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip und Grundrechte und der Zusammenhang zwischen diesen Elementen i m Normprogramm des Grundgesetzes beschreibbar, damit ist gleichzeitig der Rahmen für zulässige Grundrechtskonkretion benannt. Die Formen staatlicher Willensbildung und Entscheidung sind grundgesetzlich festgelegt, ebenso die Bindung an die materialen Ordnungsinhalte, welche i n jedem staatlichen Organhandeln zu wahren sind. Die Einhaltung dieser Vorgaben des Grundgesetzes für staatliches Handeln ist gerichtlich nachprüfbar. Festlegung von Kompetenz und Verfahren staatlichen Organhandelns, Festlegung staatlichen Organhandelns auf das Normprogramm des Grundgesetzes und gerichtliche Überprüfbarkeit und Gewährleistung der Verfassungsmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit staatlichen Organhandelns sind jene Verfassungselemente, welche nach dem Grundgesetz i m Begriff des Rechtsstaates 251 zusammengefaßt werden können. Die Konkretisierung der Grundrechtsordnung und die Gestaltung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung durch Gebote, Verbote und Gewährungen, welche nicht allgemein („rechtsfrei") sind oder welche i n Form staatlicher Leistungen erfolgen, bedürfen der Form des m. w. N.).) Ehmke ist n u r insoweit zuzustimmen, als er eine historische Lage beschreibt, geht m a n aber gerade von dem auch von i h m gestützten Prinzip der Einheit der Verfassung aus, so beziehen sich i m Bonner Grundgesetz die Grundrechte nicht n u r auf Gewährleistung einer dem Staat vorausgesetzten Freiheit an sich, sondern ihre F u n k t i o n ist Gewährleistung von Freiheit, u m gleichberechtigt sich selbst zu entfalten u n d die politische Gesamtordnung mittragen u n d mitbestimmen zu können. I n ihrer Strukturierung u n d N o r mierung sozialer Beziehungen w i r d diese Freiheit rechtlich gefaßt u n d gleichzeitig sozial gebunden. Vgl. auch Κ . K . Preuss, Z u m rechtsstaatlichen Begriff des öffentlichen, Stuttgart 1969, S. 36 f. 251 Die Vielschichtigkeit des Begriffs Rechtsstaat u n d seine historische Herausbildung verdeutlichen K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 602 ff. m. w. H.; K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 77 ff.; E. Stein, Staatsrecht, S. 43 ff.; E. Denninger, Staatsrecht 1, Reinbek 1973, S. 91 ff.; vgl. auch W. Leisner, Rechtsstaat — E i n Widerspruch i n sich? I n : J Z 1977, S. 537 ff.; Chr. Starck, Der Rechtsstaat i n der politischen Kontroverse, i n : J Z 1978, S. 746 ff.; grundlegend f ü r die Lehre v o m materialen Rechtsstaat H. Heller, Gesammelte Werke, Leiden 1971, Bd. 2, S. 210 f., 451.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
265
Gesetzes, der parlamentarischen Entscheidung oder bedürfen zumindest der gesetzlichen Grundlage, u m allgemein verbindlich zu sein 2 5 2 . Der Begriff bezeichnet formal die A r t und Weise der Gestaltung und Sicherung der politischen Ordnung, i n der Bindung der Gestaltungskompetenz durch das Grundgesetz ist die A r t und Weise der Ausgestaltung des politisch-gesellschaftlichen Systems auch inhaltlich-material gebunden, zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat besteht ein durch die Grundrechte vermittelter Zusammenhang 253 . 252 Eine Unterscheidung zwischen Gesetz i m formellen u n d materiellen Sinn n i m m t das Grundgesetz nicht vor. A n der Unterscheidung zwischen Gesetz i m formellen Sinn („jeder Rechtsakt i n Gesetzesform ohne Berücksichtigung seines Inhaltes") u n d Gesetz i m materiellen Sinn (vgl. Chr. Starck, S. 21 ff.) k n ü p f t Jesch f ü r das Grundgesetz wieder an, wobei er aber das Gesetz i m materiellen Sinne auf seinen historischen Bedeutungsgehalt beschränkt sieht, da dieser Begriff m i t einer bestimmten staatsrechtlich-politischen Situation verbunden sei (D. Jesch, S. 9 ff.). „Die Funktion, die die dualistische Lehre zu erfüllen hatte, ist m i t dem Untergang der konstitutionellen Monarchie deutscher Provinienz weggefallen. D a m i t ist der materielle Gesetzesbegriff überflüssig geworden. V o r allem ist diese zeitbedingte staatsrechtliche Gesetzestheorie für das Verständnis moderner staatsrechtlicher Probleme ohne Nutzen." (D. Jesch, S. 23). — Das Gesetz k a n n „nicht mehr als Ausdruck einer — vorgeblich — allgemeinen Vernunft begriffen werden, sondern n u r noch als Produkt des Mehrheitswillens, inhaltlich bestenfalls als ein interner Kompromiß". E. Denninger, Freiheitsordnung — Wertordnung — Pflichtordnung, i n : JZ 1975, S. 545 ff. (548). — „Der Vorrang des Gesetzes beruht . . . i n keiner Weise auf einem logisdien Prinzip, sondern allein auf einer politischen Verfassungsentscheidung, die freiheitlicher rechtsstaatlichdemokratischer Verfassungstradition entspricht u n d deshalb auch v o m V e r fassungsgeber des Grundgesetzes als eine verfassungspolitische „Selbstverständlichkeit" i n das Grundgesetz übernommen wurde." (A. Vogel, Gesetzgeber u n d Verwaltung, i n : W d S t R L , H. 24, B e r l i n 1966, S. 125 ff. (147). Nach Jesch bezeichnet der sogenannte Vorbehalt des Gesetzes i n Wahrheit heute lediglich noch die Tatsache, daß die V e r w a l t u n g an die Grundrechtsartikel unbedingt gebunden ist, auch dort, w o die Verfassung dem Gesetzgeber eine Befugnis zur Ausgestaltung u n d Beschränkung der Grundrechte einräumt, sie sei ein Anwendungsfall von A r t . 1 Abs. 3 u n d A r t . 20 GG. P. Badura weist demgegenüber darauf hin, daß der Gesetzesbegriff selbst auch eine demokratische u n d nicht n u r eine rechtsstaatliche F u n k t i o n hat, diese darf nicht verloren gehen, da es sich letztlich überall u m politische Entscheidungen handele, sowohl bei Planungsmaßnahmen w i e i n der Wirtschaftslenkung. (P. Badura, i n : W d S t R L , H. 24, S. 213); vgl. auch BVerfG, i n : JZ 1979, S. 178 ff. 253
Einerseits w i r d die These vertreten der Unvereinbarkeit von Rechtsstaat u n d Sozialstaat auf der Verfassungsebene (Forsthoff), der Bedeutung des Sozialstaatsprinzipes n u r i m Sinne einer Verpflichtung zur sozialen Rücksichtnahme (Menger) oder i m Sinne eines sozialen Gestaltungsauftrages u n d Schutzes der sozial u n d wirtschaftlich Schwächeren (Nipperdey), andererseits aber auch die These v o m Sozialstaatsprinzip als eines Auftrages zu sozialer Neuordnung u n d zur Wirtschaftsplanung (Abendroth). (Vgl. i m einzelnen die Beiträge bei E. Forsthoff, (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968; zur Dimension des Sozialstaatsprinzips i n der h. L. siehe K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 693 ff.). Nach Böckenförde soll der Sozialstaat die rechtsstaatliche Freiheit nicht rückgängig machen oder abbauen, sondern habe n u r die Bedeutung, die sozialen Voraussetzungen zur V e r w i r k l i c h u n g der rechtsstaatlichen Freiheit
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie 5.4.4 Die Dialektik der Grundgesetzelemente
Das G r u n d g e s e t z i n s g e s a m t p o s t u l i e r t i n s e i n e m N o r m p r o g r a m m eine b e s t i m m t e O r d n u n g s s t r u k t u r . E i n e K o n k r e t i o n dieses N o r m p r o g r a m m s i s t n u r i m m e r situationsbezogen, f a l l b e z o g e n m ö g l i c h i n e i n e r a n a l y tischen A u f a r b e i t u n g d e r E i n z e l s i t u a t i o n u n d i m V e r g l e i c h d e r v e r schiedenen sozialen L a g e n . D i e O f f e n h e i t d e r G r u n d r e c h t e h a t selbst i n d e m S p a n n u n g s v e r h ä l t nis zwischen Souveränitätsprinzip, Mehrheitsprinzip u n d Grundrechten n o r m a t i v e R e l e v a n z : Es g e h t n i c h t n u r d a r u m , daß p r i n z i p i e l l gleiche Chancen zur Realisierung normlogisch gleichwertiger Konkretionsform e n g e w a h r t sein müssen. D i e O f f e n h e i t d e r G r u n d r e c h t e selbst m u ß f ü r alle zu schaffen, d. h. insbesondere die soziale Ungleichheit abzubauen (E. W. Böckenförde, Entstehung u n d Wandel des Rechtsstaatsbegriffes, i n : Festschrift f. A . A r n d t , F r a n k f u r t 1969, S. 53 ff. (69)). Aufgabe des Gesetzgebers sei eine inhaltliche Präzisierung des Sozialstaats. Das Grundgesetz sei eine materiell-rechtsstaatlich konzipierte Verfassung m i t unbedingtem Geltungsanspruch, der i n alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens übergreift. „Werden ethisch-moralische Postulate oder materielle Werte über die Sicherung der gleichen Freiheit aller auf die Grunderfordernisse eines geordneten Zusammenlebens hinaus m i t Rechtsverbindlichkeit ausgestattet, so folgt daraus m i t Notwendigkeit eine Sozialisierung der individuellen Freiheit u n d Autonomie; sie w i r d der Herrschaft derjenigen unterstellt, die das I n t e r pretationsmonopol f ü r diese Postulate oder Werte innehaben, bzw. sich zu eigen machen." (E.-W. Böckenförde, S. 76). Nach Hesse bestimmt das Gesetz „den Rechtszustand des einzelnen keineswegs noch gegenüber dem Staat — es ordnet die Lebensverhältnisse u n d ordnet sie einander zu. I n diese u m fassende, nicht auf eine Abgrenzung von staatlicher u n d individueller Sphäre reduzierbare Bedeutung, ist der Rechtsstaat Gesetzesstaat, gewinnt das Leben des Gemeinwesens durch den Rechtsstaat F o r m u n d Gehalt". Das Grundgesetz normiert dabei feste Bindungen f ü r die Beherrschten u n d die Herrschenden i n A r t . 20 Abs. 3 u n d A r t . 1 Abs. 3 GG. (K. Hesse, Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, S. 74; vgl. auch H. Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung, S. 62, 67; demgegenüber betonen stärker das gesetzgeberische Ermessen Maunz / Dürig, Grundgesetz 1960, A n m . 117 ff. zu A r t . 20 GG). Ä h n l i c h w i e hier U. Scheuner: „Erstmals i n der deutschen V e r fassungsgeschichte ist dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung uneingeschränkt bindende K r a f t verliehen. Das Grundgesetz bindet den Gesetzgeber. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes schließt m i t dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes an überkommene rechtsstaatliche Gestaltungen an, bindet i h n aber auch an bestimmte Inhalte, w i e Würde des Menschen, Freiheit u n d Gleichheit i n ihrer Ausgestaltung." (U. Scheuner, Neuere Entwicklungen, S. 231). Der Staat ist planender, verteilender, gestaltender, individuelles sowie soziales Leben erst ermöglichender Staat, u n d er ist dies nicht n u r i m Sinne einer Gegebenheit, sondern i h m ist diese Aufgabe von Rechts wegen gestellt. „Gewiß k a n n eine herrschende Schicht das Recht setzen, das i m wesentlichen ihren Interessen entspricht. A b e r dieses Recht muß verfassungsmäßig sein." „ A l s bloße Freiheit v o m Staat k a n n der Rechtsstaat reale Freiheit nicht bewirken, . . . angesichts einer Entwicklung, i n der das W i r k e n des »Staates* zur Voraussetzung f ü r die Existenz der »Gesellschaft' geworden ist." Sozialstaat ist i n dieser Ansicht Vorbedingung individueller Freiheit (K. Hesse, S. 78, 82f., 85f.); vgl. U. Scheuner, Die F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat, S. 510; teilw. a. A. Y . Huh, Rechtsstaatliche Grenzen der Sozialstaatlichkeit, i n : Der Staat 1979, S. 183 ff.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
267
erhalten bleiben, d. h. die prinzipielle Möglichkeit, andere Sinndeutungen der Grundrechte vorzunehmen und zur politischen Entscheidung zu stellen. Die Offenheit der Grundrechtssätze selbst ist auch Bedingung für das Mehrheitsprinzip, für die i n diesem Prinzip eingeschlossenen demokratischen Verfahren staatlicher Willensbildung. Indem die Grundrechte einerseits die sozialen Bedingungen der Volkssouveränität regeln, gewährleisten sie andererseits die Bedingungen und Möglichkeiten des Mehrheitsprinzips, ermöglichen sie aufgrund ihrer Offenheit den politischen Disput. Offenheit der Verfassung w i r d so selbst zu einem Aspekt ihrer Öffentlichkeit 2 6 4 . Funktion der Grundrechte ist es damit, die freie Entfaltung der Person als gleiche Freiheit aller, die Ausstattung m i t ideellen und sachlichen Handlungsmitteln, die freie Bildung sozialer Kommunikationsund Interaktionsformen und damit die Befähigung zur Mitbestimmung der staatlichen Ordnung zu vermitteln und die Kommunikation und Interaktion selbst als offene, freiheitliche zu gewährleisten. Der Gewährleistungsinhalt ist nicht abschließend beschreibbar. Grundrechte sind Regulationsmechanismen i n der Entfaltung der verfassungsmäßigen Ordnung als politischem Prozeß 255 . Der Totalitätsanspruch der Grundrechte und des Demokratiepostulats findet seine Begrenzung i n der „Öffentlichkeit" von Handlungsweisen, -formen und -inhalten von Personen und Personenvereinigungen. Die Entfaltung der Person selbst geschieht aber nicht isoliert-monadisch, sondern ist sozial gebunden i n die Interaktions- und Kommunikationsprozesse zu anderen Personen und an den Zustand des „sozialen Systems" insgesamt. Die Grundrechte vermitteln damit einen Anspruch auf jene Formen des sozialen Lebens, i n welchen sich personelle Entfaltung vollzieht und soziale Koordination ergibt: Kooperation, Kommunikation, Partizipation, Solidarität. I n ihrer Partizipations- und Ausgleichsfunktion sind die Grundrechte letztlich nicht nur gegen den Staat gerichtet, sondern auch als Ansprüche des Bürgers gegenüber dem Bürger i n Vermittlung durch staatliches Organhandeln durchzusetzen, nämlich als Bindung staatlicher Organkompetenz 256 . 254 Vgl. hierzu P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, Bad H o m b u r g 1970, S. 709; D. Göldner, Integration u n d Pluralismus i m demokratischen Rechtsstaat, Tübingen 1977, S. 23 ff. m. w. H. 255 Vgl. hierzu auch P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, S. 86 ff.; K . Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, Baden-Baden 1978, S. 34 ff. 258 E. Forsthoff ist zuzustimmen, w e n n er sagt, „der Freiheitsraum der Grundrechte w i r d nicht i m Vorfeld der Staatlichkeit belassen, sondern — unter Verwandlung i n objektive Ordnungsgehalte — i n den von der Verfassung umgriffenen Funktionsraum des Staates einbezogen. Die Freiheit hört auf eine vorstaatliche zu sein, sie erhält einen Stellenwert innerhalb des Staatssystems". Forsthoff verkennt allerdings den Funktionsgehalt der
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Das geltende Verfassungsrecht ist nur als Einheit und dialektisches Verhältnis von Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip und Grundrechten verstehbar. Entsprechend der Funktion der Grundrechte auch „Prozeßregulationsmechanismen" zu sein, ist ihr Gehalt „dynamisch". Funktion der Grundrechte ist nicht isolierte Rechtsschutzgewährleistung i n einem faktischen System, Garantie eines status quo, sondern ist Herstellung „realer Integration", diese verstanden als immer wiederholter antithetischer Prozeß i m System der staatlich verfaßten Gesellschaft als einem freiheitlichen und offenen System 2 5 7 . Die Grundrechte konkretisieren die Freiheitlichkeit und sichern sie ab, sie bilden den Rahmen politischer Einigung. Der Integrationsaspekt ist vom Grundgesetz selbst i n die Verfassungsbegrifflichkeit aufgenommen, wenn i n A r t . 1 Abs. 2 GG von den Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit i n der Welt gesprochen w i r d 2 5 8 . Die Verfassungsordnung bestimmt aber keine Totalität staatlichen Lebens, keine bereits abgeschlossene — logisch-axiomatische oder werthierarchisch-systematische Einheit. „Sie ist jedoch auf Einheit angelegt: I n der Konkretisierung und Aktualisierung ihrer Sätze soll sich politische Einheit bilden und aufgegebene rechtliche Gesamtordnung wirklich werden 2 5 9 ." Funktion des Grundgesetzes insgesamt ist so eine Aufhebung der Widersprüche von und i n Staat und Gesellschaft i m Modell des liberalen bürgerlichen Rechtsstaates. Die Offenheit der Grundrechtssätze bildet eine Unterstützung der formalen Legitimationsmöglichkeiten des Staates; i n der Inanspruchnahme und Realisierung ihres materialen Anspruchsgehaltes beinhalten sie gleichzeitig die normative Ausformung materialer Legitimation.
Grundrechte u n d ihren Stellenwert i m Gesamtsystem der Verfassung w e n n er sagt, daß das Grundgesetz als ein seiner logisdien S t r u k t u r nach auf Freiheit angelegtes Verfassungssystem abweisend gegen soziale Gehalte sei. E. Forsthoff, Z u r heutigen Situation einer Verfassungslehre, S. 191, 192. 257 Ä h n l i c h D. Göldner, S. 34 ff. 258 So auch E. Stein, S. 221; vgl. auch E. Grabitz, Freiheit als Verfassungsprinzip, S. 12 ff.; zum impliziten Spannungsverhältnis D. Goeldner, S. 73 ff. m. w . N. 259 K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl., Karlsruhe 1973, S. 12 m. w. N. Hesse betont i n späteren Aufl. stärker den Aspekt der Zusammenordnung, vgl. 10. Aufl. (1977), S. 11/12 m. w. N. Vgl. auch Fr. Müller, Die Einheit der Verfassung, B e r l i n 1979. — Dies bedeutet nicht Realisierung eines sog. Gemeinschaftswohls (vgl. zu diesen Aspekten H. H. v. Arnim, Gemeinwohl u n d Gruppeninteressen, S. 9 ff.), sondern Herstellung einer offenen Gesellschaft, i n welcher ihre Mitglieder zur Konfliktdiskussion u n d -bewältigung allgemein fähig sind.
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
269
5.4.4.1 Legitimations - und Integrationsfunktion der Grundrechte Die Grundrechte haben — auch i n ihrer Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — eine formale und eine materiale Legitimationsfunktion. Sie bedeuten eine formale B i n dung der Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG), sie sind Ausdruck einer besonderen Legalität 2 6 0 . Die Grundrechte haben aber gleichzeitig eine „dialektische", materiale Funktion: indem sie Staatsgewalt beschränken, gewähren sie gleichzeitig — bürgerliche — Freiheit und Eigentum, diese Freiheiten sind wiederum Bedingung der Möglichkeiten demokratischer Mitwirkung. I n der Gewährleistung dieser Freiheiten werden nicht nur individuelles oder organisiertes Handeln der verschiedenen sozialen Klassen und Gruppen gegenüber Staat und Gesellschaft legitimiert, sondern diese materialen Gewährleistungen fungieren auch als mögliche materiale Legitimation des Staates, zumindest durch jene, welche über solche Freiheit und freiheitsstiftenden M i t t e l verfügen, welche i n der grundrechtlichen Gewährleistung und i n der staatlichen Sicherung ihrer Freiheit und ihres Eigentums die Bedingung für die Anerkennung dieses Staates gegeben sehen. Formale Legitimationsweisen finden i n den Verfassungen moderner Industrieländer so vielfach eine Ergänzung durch materiale Legitimationsmöglichkeiten i n dem expliziten oder impliziten Kanon von Menschenrechten oder Grundrechten und i n Staatszielbestimmungen. Hier läßt sich eine bedeutsame Entwicklung feststellen: Ursprünglich philosophisch konzipiert als rational-naturrechtliche Forderung gegen einen absolutistischen Obrigkeitsstaat, i n dem sie Freiheit der Person, Freiheit der Religion und Weltanschauung, Freiheit der Meinung, Information und Presse, Freiheit und Sicherung des Eigentums begründen. Sie wurden dann verfassungsrechtlich gewendet als subjektive Freiheitsrechte des Bürgertums gegen den Staat 2 6 1 , aber auch gegen jene Schichten und Klassen, welche ohnehin viele solcher freiheitsstiftenden Handlungsmittel nicht besitzen, welche also über die materiellen Bedingungen dieser Freiheitsrechte und der ihr entsprechenden staatlichen Ordnung nicht verfügen. Menschenrechte, Grundrechte w u r den konstitutiv für bürgerlich-kapitalistische Staaten als materiale Legitimation ihrer staatlichen Ordnung und bürgerlichen Freiheiten 2 6 2 . 2βο v g l hierzu C. Schmitt, Das Problem der Legalität, i n : Verfassungsrechtliche Aufsätze, 2. Aufl., B e r l i n 1973, S. 440 ff. 261
14.
Vgl. hierzu C. Schmitt,
Verfassungslehre, 3. Aufl., B e r l i n 1964, §§ 13 u.
262 Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 konnte sich m i t formalen Legitimationen begnügen, material w a r sie i n der N o r m a t i v i t ä t der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse legitimiert. F ü r die Weimarer V e r -
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Sie negieren aber i n der Grundgesetzordnung — wenn sie nicht verfälscht werden — diese Freiheit als besondere und konstituieren sie als allgemeine 263 . Dies nicht nur aufgrund ihres materialen Gewährleistungsgehaltes, sondern auch wegen ihrer Legitimationsfunktion für politisch-gesellschaftliche Gestaltung: Die Zielsetzungen gesellschaftlicher Gruppen oder politischer Parteien und die diesen Zielsetzungen zugrunde liegenden Anliegen, Interessen und Bedürfnisse für staatliches Handeln haben keine unmittelbare Allgemeingültigkeit. Ihre Gültigkeit ist nur eine personelle, „Allgemeingültigkeit" gibt es weder hier noch sonst i n politischer Programmatik 2 6 4 . Eine Legitimation erhalten solche Zielsetzungen als gegebene oder erwünschte staatliche Gestaltungs- und Herrschaftsakte i n den offenen Grundrechten und i m Verfahren staatlicher Entscheidungsbildung als möglicher Konsensformel 2 6 5 . Ein vorherrschendes Grundrechtsverständnis versteht diese jedoch als allgemeine und gleiche formale Rechte, insbesondere gegenüber dem Staat, als Gewährung gleicher staatsbürgerlicher Freiheit und als gleiche staatliche Sicherung von Freiheit und Eigentum 2 6 6 . Dies ist aber eine formale Gleichheit, wenn unterschiedliche soziale Lagen, unterschiedliche Ausstattung m i t Besitz und Bildung eben als unterschiedliche gleich gewährleistet sind. A u f dieser Ebene und i n solcher Interpretation des Grundgesetzes verbirgt sich hinter einer formalen Legitimation des Staates durch alle eine normative und faktische Legitimation von Freiheit, Eigentum und Bildung weniger, welche Legitimation wiederum umschlägt i n eine materiale des Staates durch wenige. Freiheit, Gleichheit, Eigentum sind i n den Grundrechten aber nicht als abstrakt allgemeine definiert, i h r konkreter Gewährleistungseffekt fassung u n d das Grundgesetz genügt diese formale Legitimation nicht. I h r e Legitimation ist eine ständig aufgegebene. Sie ereignet sich i n der K o n k r e t i sierung ihrer Grundrechte u n d offenen Wertungen. 2β3 Y g i hierzu auch W. Piepenstock, Grundgesetz u n d Gesellschaftsstruktur, i n : PVS 1971, S. 252ff. (253f. m . w . N . ) ; H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften i m Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 14 f. 264 Vgl. hierzu m . w . N . G. Weisser, Thesen zu „Rechtsphilosophie u n d Sozialwissenschaften", i n : Mitteilungsblätter des Forschungsinstituts f ü r Gesellschaftspolitik u n d beratende Sozialwissenschaft e.V., Göttingen 1974, Nr. 24 Anh. 1 ff.; A. Podlech, Wertentscheidungen u n d Konsens, i n : G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung u n d Konsens, B e r l i n 1976, S. 9 ff. 265 Die vielfältige Berufung auf die Grundrechte i n der politischen Programmatik oder i n der K r i t i k staatlicher Entscheidungsakte ist Ausdruck dieser Legitimationsbedürftigkeit politisch-gesellschaftlicher Zielsetzungen m i t Verbindlichkeitsanspruch. 2ββ Hierzu beispielhaft Κ. A. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, B e r l i n 1968 m. w . N .
5.4 Volkssouveränität — Grundrechte — Mehrheitsprinzip
271
ist abhängig von unterschiedlichen sozialen Lagen und Interessen und dieser unterschiedliche Anspruchsgehalt besitzt gleiche normative Relevanz (Präambel, A r t . 20 GG). I h r allgemeiner Sinn und ihre verfassungsrechtliche Funktion ist, nicht nur den Anspruch auf formal gleiche, sondern auch auf material vergleichbare Ausstattung m i t freiheitsstiftenden M i t t e l n zu begründen und zu rechtfertigen, als Bedingung gleicher Mitwirkungsmöglichkeit bei der Gestaltung der konkreten politisch-gesellschaftlichen Ordnung entsprechend den verfassungsrechtlichen Verfahrensregeln. Anderenfalls sichert auch formale Legitimation nur die Legalität der Herrschaft, m i t welcher unterschiedliche materielle Gewährleistungen verstärkt werden. Eine Trennung von formaler und materialer Legitimation beinhaltet die Legalisierung der Gewalt, m i t welcher abweichendes Verhalten gegenüber herrschenden Interessen — i n der Regel die Interessen unterprivilegierter Gruppen — unterdrückt wird. Legitimationsthese des Grundgesetzes ist demgegenüber — wie gesagt — die Verflechtung zwischen formaler und materialer Legitimation rechtlich zu sichern. Demokratie ist nicht als politische Einheit konstituiert, sondern ist Organisation kontroverser Interessen 267 . Funktion der Grundrechte ist es, diese Organisation als eine freiheitliche und offene für die Gestaltung staatlich verfaßter Gesellschaft wirksam sein zu lassen.
287 U. K. Preuss, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, Stuttgart 1969, S. 185.
272
5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
5.5 Exkurs Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Verfassungselementen und ihre Regelungsfunktion für komplexe soziale Beziehungen soll an den Beispielen Öffentlichkeit und Informationsrecht, Bildung und Weiterbildung, Eigentum und Mitbestimmung erörtert werden. 5.5.1 Öffentlichkeit und Informationsfreiheit 1
E i n generelles Recht auf Information läßt sich individualistisch und gesellschaftlich-politisch rechtfertigen: Selbstverwirklichung des Menschen kann nicht erreicht werden i n einer undurchschaubaren Umwelt, gegenüber unbekannten und unberechenbaren Gewalten; sie ist auf Transparenz und Kommunikation, auf Öffentlichkeit des Wissens angewiesen. Gesellschaft kann sich nur bilden auf der Basis allgemein verfügbarer Informationen über das Verhalten der einzelnen Glieder dieser Gesellschaft; Partizipation des einzelnen an der politischen W i l lensbildung ist ohne Information über die sozioökonomische und soziokulturelle Lage, über Personen und Zustände nicht sinnvoll, sie setzt freie Zugänglichkeit und Kommunikation, sie setzt Informationsgleichgewicht und Öffentlichkeit 2 voraus. „Öffentlichkeit" wiederum korrespondiert der Offenheit der Grundrechte, sie ist strukturell notwendige Bedingung für den freien Diskurs über mögliche Konkretionen offener Grundrechte. Umgangssprachlich 1 Die folgenden Ausführungen beruhen auf H. Brinckmann / K. Grimmer, Weiterbildung als staatliche Aufgabe, i n : Deutscher Bildungsrat, Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 33, Stuttgart 1974, S. 67 ff. (88 ff.) u n d ff. Brinckmann, Datenschutz u n d Recht auf Information, i n : W. K i l i a n / K . L e n k / W. Stegmüller (Hrsg.), Datenschutz, F r a n k f u r t 1973, S. 77 ff. sowie K. Grimmer, Informations verbünd: öffentlicher u n d privater Bereich — Problemskizze —, i n : W. Steinmüller (Hrsg.). Informationsrecht u n d I n f o r mationspolitik, München 1976; vgl. insb. auch H. Brinckmann / E. Hey se, K o m m u n i k a t i o n u n d Information i m Leistungsbereich des Grundrechts der Meinungsfreiheit, i n : K . L e n k (Hrsg.), Informationsrechte u n d K o m m u n i k a tionspolitik, Darmstadt 1976, S. 81 ff. m. w . N., auf einen ausdrücklichen T e x t u n d Zitatbeleg w i r d verzichtet. 2 Dieser zentrale Begriff ist i n den letzten Jahren i n der Bundesrepublik v i e l erörtert worden; vgl. insbes. J. Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit, 5. Aufl., Neuwied 1971; H. Hämmerlein, Öffentlichkeit u n d V e r w a l tung, Göttingen 1966; W. Martens, öffentlich als Rechtsbegriff, Bad Homburg 1969; A. Rinken, Das öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände, B e r l i n 1971; H. Scholler, Person u n d Öffentlichkeit, München 1967; H.-U. Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive u n d Informationsrecht der Presse, B e r l i n 1971; R. Marcie, Die Öffentlichkeit als Prinzip der Demokratie, i n : Festschrift für A . A r n d t , F r a n k f u r t 1969, S. 267 ff.; U. Κ . Preuss, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, Stuttgart 1969; O. Negt/ A. Kluge, Öffentlichkeit u n d E r fahrung, F r a n k f u r t 1972, insbes. S. 29 ff., 102 ff.; H. Brinckmann, Datenschutz u n d Recht auf Information, i n : W. K i l i a n / K . L e n k / W . Steinmüller (Hrsg.), Datenschutz, F r a n k f u r t 1973, S. 77 ff.
5.5 E x k u r s : Öffentlichkeit u n d Informationsfreiheit
273
meint Öffentlichkeit i n ihrer Mehrdimensionalität den Bereich des Material-Öffentlichen und damit das allgemein Interessierende und Relevante, dann den Bereich des Personal-Öffentlichen, also das Volk, das Publikum, und schließlich den Bereich des Formal-Öffentlichen, die allgemeine Zugänglichkeit, die Publizität 3 . Diese Bereiche der Öffentlichkeit sind aufeinander bezogen, indem die Konstitution der vereinzelten Individuen zum Volk, zum Publikum angewiesen ist auf Kommunikation und allgemeine Zugänglichkeit von Informationen und indem das Publikum zusammengeführt w i r d durch das gemeinsame Interesse am öffentlichen. Der Begriff des öffentlichen hat sich von der ursprünglichen Bezeichnung einer faktischen Seinsweise entwickelt zu einer normativen Bedeutung 4 . Er unterliegt, historisch betrachtet, einem Struktur- und Bedeutungswandel. Habermas spricht von der politischen Öffentlichkeit i m Prozeß der sozialstaatlichen Transformation des liberalen Rechtsstaates5. Das „öffentliche", öffentliches Interesse, öffentliche Aufgaben sind (negative) Schlüsselbegriffe für die deutsche Verfassungsgeschichte. Ihnen korrespondiert die Klausel vom Eingriffsvorbehalt i n Freiheit und Eigentum 6 als Begrenzung des „Privaten", Nicht-Staatlichen, dessen „Öffentlichkeit" abhängig ist von der Zustimmung der faktisch Betroffenen. Das Verständnis der verfassungsrechtlichen Relevanz des ö f fentlichen i m Grundgesetz ist konstitutiv für eine demokratische Verfassungstheorie. Die Begrenzung auf Staatlichkeit ist dabei fragwürdig. „Die Öffentlichkeit ist als normative Öffentlichkeit i m Gesamtzusammenhang zu sehen und i n ihre demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Bezüge zu bringen 7 ." Öffentlichkeit entfaltet i m Freiheitsbereich normierende K r a f t und beschränkende Wirkung. Heller kennzeichnet das Politische als das Zusammenwirken m i t dem Ziel einer nach außen und innen handlungsfähigen Organisation, nur i n der Veröffentlichung der unterschiedlichen individuellen und assoziierten Interessen und der Ziele staatlichen Organhandelns ist ein solches Zusammenwirken möglich 8 . 3
A. Rinken, S. 248 ff. Hierzu insbes. R. Smend, Z u m Problem des öffentlichen u n d der Öffentlichkeit, i n : Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, München 1955, S. 211 ff., S. 217. 5 J. Habermas, S. 233, 263 ff. β Z u r ersten verfassungsrechtlichen Fassung dieses Prinzips vgl. Verfassungsurkunde f ü r das Königreich Bayern v o m 26. M a i 1818, V I I § 2. 7 P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, B a d Homburg 1970, S. 558. 8 Vgl. ü . K . Preuss, S. 74 ff., 79, der i m Anschluß an H. Heller, Staatslehre, 3. Aufl., Leiden 1963, S. 203 ff. die Bereiche des Politischen u n d des ö f f e n t lichen i n Beziehung zueinander setzt. 4
18 Grimmer
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Eine Begrenzung der verfassungsrechtlich relevanten Öffentlichkeit auf Staatlichkeit übernimmt die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft der überkommenen bürgerlich-liberalen Staatstheorie und verkennt, daß gerade die Formen institutioneller und kommunikativer Öffentlichkeit es sind, i n denen sich erst Staatlichkeit i n einer Demokratie ereignen kann. Bezogen auf die demokratische Organisation von Staat und Verwaltung meint Öffentlichkeit die freie Zugänglichkeit aller öffentlichen Angelegenheiten, die Zugänglichkeit von Verfahren, Entscheidungen und Entscheidungsgrundlagen, freie Zugänglichkeit aller der Bereiche, für die ein auf die politische Willensbildung bezogenes Interesse geltend gemacht werden kann. Diese freie Zugänglichkeit ist eine entscheidende Voraussetzung für den status activus, für die Beteiligung des Bürgers an dem politischen Willensbildungsprozeß. Diese freie Zugänglichkeit liegt auch den kommunikativen Grundrechten, wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung und freie Unterrichtung, dem Recht der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zugrunde. Erst die Transparenz der Herrschaft und allgemeine Zugänglichkeit des Herrschaftswissens ermöglichen freie politische Willensbildung, Wahlentscheidungen des Bürgers, inner- und außerparlamentarische Opposition, die sich nicht auf unorientiertes und orientierungsloses Räsonieren beschränkt: „Öffentlichkeit neigt dem theoretischen Anspruch nach dazu, Herrschaft durch kritische Publizität und Diskussion auf rationale Autorität zu reduzieren 9 ." Freie Zugänglichkeit ist aber nicht nur Element der demokratischen Organisation, sondern auch ein Element der Rechtsstaatlichkeit 10 . Rechtsstaatlichkeit i m Sinne von rationaler Herrschaftsausübung basiert auf Vorhersehbarkeit und Einsichtigkeit von Freiheitsbeschränkungen ; rechtsstaatliche Gewaltenverteilung kann nur dann Gewaltenkontrolle sein, wenn Informationen über die jeweilige Gewaltausübung zugänglich sind. Die auf kritische Kommunikation und politische Kontrolle ausgerichteten Grundrechte bleiben politisch folgenlos, wenn die Freiheitsräume der Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit abgeschüttet vom politischen Geschehen einen rein privaten Bereich kultivieren. I m Zusammenhang m i t dem Demokratiepostulat drückt — wie U. K . Preuss es erklärt — „die Sozialstaatsklausel . . . den normativen Anspruch auf Politisierung jener gesellschaftlichen Bereiche aus, die die Existenz des Volkes auf dem heutigen zivilisatorischen Niveau garantieren" 1 1 . N u r so kann sich eine Durchdringung von Staat und Gesellschaft i n einer Sphäre demo9
F. Naschold, Organisation u n d Demokratie, 2. Aufl., Stuttgart 1971, S. 29. Hierzu siehe H.-U. Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive u n d Informationsrecht der Presse, S. 77 ff. m. w . N. 11 U. K . Preuss, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, S. 139. 10
5.5 E x k u r s : Öffentlichkeit u n d Informationsfreiheit
275
kratischer öffentlichkeit, eine „Sozialisierung" des Staates vollziehen, kann dem Verfassungsprinzip der Volkssouveränität und dem A n spruch der Grundrechte auf Verallgemeinerung ihrer Ordnungsgehalte entsprochen sein. Indem das Grundgesetz Parteien und Wahlen, parlamentarisches Regierungssystem, Gesetzgebung durch Parlament vorsieht, schafft es die staatsorganisatorischen Grundlagen für eine „demokratische" Verfassung. Die individuellen Voraussetzungen für eine demokratische Willensbildung wollen die auf Kommunikation bezogenen Grundrechte, Freiheit der Meinungsäußerung, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sichern. Sie sind neben den makropolitischen Organisationsformen die mikropolitisch notwendigen Ergänzungen, die den Bürger erst i n den Stand setzen, aus der individuellen Vereinzelung herauszutreten, seine Interessen zu artikulieren und zu aggregieren und so auch i n Ausnutzung des verfassungsrechtlichen Mehrheitsprinzips politisch verbindlich Herrschaft zu etablieren. Diese A r t i k u l a t i o n und Aggregation der individuellen Interessen kann sich nicht i n Abgeschlossenheit vollziehen, sondern bedarf der Öffentlichkeit, der für alle chancengleichen Zugänglichkeit der für die Bildung der Meinung notwendigen Informationen. Nach Martens, welcher Darlegungen von Krüger und Ridder aufnimmt, sind die Gebilde des „öffentlichen" wegen Zugehörigkeit zur Verfassungswirklichkeit zu Homogenität hinsichtlich der freiheitlichen Struktur ihrer sozialen Beziehungen m i t der politischen Verfassimg verpflichtet 1 2 , dies entspricht der hier entwickelten Grundgesetztheorie. Z u m öffentlichen Bereich zählen so insbesondere Gewerkschaften, Parteien, Verbände, Standesorganisationen. Unter dem öffentlichen Bereich versteht Martens jenen, i n dem irgendwie staatsbezogen oder sonst politisch relevant agiert wird, also die gesellschaftlich-politische Sphäre 13 . Hierzu gehören auch jene Bereiche, i n denen, verfassungsrechtlich-institutionell" gewährleistet, sich die Bestimmung der konkreten Staats- und Gesellschaftsordnung vollzieht. Die Funktion dieser „institutionellen Verfassungsgarantien" ist, konstitutive Ordnungsstrukturen zu gewährleisten; als solche unterliegen sie i n ihrer Ausgestaltung auch den allgemeinen verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien. 12 Vgl. W. Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, S. 21 m . w . N . ; erg. G. Täubner, Organisationsdemokratie u n d Verbandsverfassung, Tübingen 1978, S. 122 ff.; Maunz / Dürig / Herzog, Grundgesetz, München 1971, A n m . 43 zu A r t . 20 GG. 13 Der Versuch, öffentlich als allein sozialempirischen Begriff unter den K r i t e r i e n faktischer Offenheit zu sehen — so W. Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, S. 42 — ist unzureichend; Öffentlichkeit steht auch unter dem Postulat von Grundrechtsnormen u n d k a n n so — als aufgegebene, aber nicht faktisch vorfindliche — normative Bedeutung haben.
18*
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Für die gesetzgebende Gewalt ist durch die A r t . 42 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 3 S. 3 GG und A r t . 82 Abs. 1 S. 1 GG verfassungskräftig Öffentlichkeit der Verhandlungen und der bindenden Verhandlungsergebnisse garantiert. Das gilt aber nur insoweit, als die Rechtsetzung durch die Organe der Legislative vollzogen wird. Die Rechtsetzungsgewalt der Exekutive ist bereits weitgehend der Öffentlichkeitspflicht entzogen; lediglich Rechtsverordnungen sind zu verkünden (Art. 82 Abs. 1 Satz 2 GG); zu den Verwaltungsvorschriften schweigt das Grundgesetz und überläßt deren Publikation der Praxis, die den Bürger höchst unvollkommen über den Normbestand informiert 1 4 . Allerdings hat auch hier die Rechtsprechung unter Berufung auf das Rechtsstaatsgebot, auf Prinzipien der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit weitgehend eine Publizitätspflicht definiert. Inwieweit das Grundgesetz die Öffentlichkeit der Dritten Gewalt, also die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren, die ausdrücklich nur auf der Ebene des Gesetzes geregelt ist, verfassungsrechtlich gewährleistet, ist umstritten 1 5 ; das Bundesverfassungsgericht spricht von der Öffentlichkeit der Verhandlung nur als Prozeßrechtsmaxime 16 . Über die Öffentlichkeit der Vollziehenden Gewalt schweigt die Verfassung 17 ; für Gesetzesvollzug, gesetzesfreie Initiativen der Exekutive, Vollzug des Haushaltsplanes und für staatliche Tätigkeit i n Form des Privatrechts verordnet die Verfassung keinerlei Publizitätspflichten. Regierung und Verwaltung sind weder von der Verfassung noch durch Gesetz angewiesen, die Bürger generell über ihre Tätigkeit zu informieren 1 8 , noch sind sie gehalten, auf Anfragen des Bürgers h i n Informa14
Vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt i m Bereich der Regierung, B e r l i n 1964, S. 278 ff.; F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften u n d Grundgesetz, Bad H o m b u r g 1968, S. 462 ff.; W. Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, S. 75 ff. 15 Vgl. einerseits P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 123, 576; andererseits W. Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, S. 74 f. 16 BVerfGE 15, 303 (307). 17 Vgl. hierzu insbes. H.-U. Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive u n d Informationsrecht der Presse, S. 117 ff.; P. Häberle, öffentliches I n t e r esse als juristisches Problem, S. 105 ff., 585 f.; W. Martens, öffentlich als Rechtsbegriff, S. 70 ff.; H. Hämmerlein, Öffentlichkeit u n d Verwaltung, a.a.O.; J. Scherer, V e r w a l t u n g u n d Öffentlichkeit, Baden-Baden 1978; W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, i n : W d S t R L , H. 30, B e r l i n 1971, S. 262, 76 ff. 18 I n einzelnen Sachbereichen sind die Bundesregierung oder Bundes- bzw. Landesbehörden verpflichtet, Berichte vorzulegen; vgl. z. B. § 2 StabG m i t dem Jahreswirtschaftsbericht; § 32 I I WohnbauG m i t Bericht über den Wohnungsbau u n d den Wohnbedarf; § 1273 RVO m i t dem Sozialbericht; § 50 G W B m i t dem Kartellbericht; § 14 Abs. 1 Hess. DatenschutzG m i t dem Bericht des Hess. Datenschutzbeauftragten, ebenso sind i n einzelnen Bereichen die Behörden zur Auslegung ihrer Vorhaben u n d Pläne, zur Information
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tionen zu geben 19 . Sie sind i m Gegenteil zur Amtsverschwiegenheit i m öffentlichen 20 oder i m privaten 2 1 Interesse verpflichtet. Die von Häberle aufgestellte Gleichung „öffentliche Verwaltung — öffentliches Interesse — Öffentlichkeit" 2 2 stellt eine politische Forderung, nicht aber eine Beschreibung der Verwaltungsnormen oder gar der Verwaltungsrealität dar. Nicht das demokratische und rechtsstaatliche Interesse an Öffentlichkeit ist es, das sich i n der Verwaltungspraxis als durchschlagend erweist, sondern das Interesse der Exekutive an Aufrechterhaltung der überkommenen Arkansphäre. Dieses Interesse, das sich heute nur noch sehr beschränkt aus den Prinzipien des Staatsaufbaues herleiten läßt, w i r d nun primär m i t bürokratischen Argumenten gestützt 2 3 : Hemmung der effektiven Arbeit durch informationssuchende Bürger; Politisierung der gebundenen Gesetzesvollziehung durch dauernde Diskussion über Verwaltungshandeln; Lähmung der Initiative der Exekutive durch immerwährende Kontrolle der Öffentlichkeit 2 4 . Diese beschränkte, unmittelbar verfassungsrechtliche Regelung und Gewährleistung von Öffentlichkeit steht scheinbar i n einem Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit des A r t . 5 Abs. 1 GG. Die Garantie des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, seine Meinung frei äußern zu können, verpflichtet, beispielsweise i m Bauplanungsbereich, i m Gewerbebereich, i m Kommunalbereich. 19 W. Geiger, Die Grundrechte der Informationsfreiheit, i n : Festschrift f ü r A . A r n d t , F r a n k f u r t 1969, S. 123 weist darauf hin, daß ein solcher Anspruch aus A r t . 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht hergeleitet werden kann; eingehend H. Windsheimer, Die „ I n f o r m a t i o n " als Interpretationsgrundlage für die subj e k t i v e n öffentlichen Rechte des A r t . 5 Abs. 1 GG. B e r l i n 1968, S. 119 ff., 141 f. Auch das Petitionsrecht gem. A r t . 17 GG gewährt keinen Anspruch auf vollständige Information; vgl. H. 17. Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exek u t i v e u n d Informationsrecht der Presse, S. 113 f. — Allerdings besteht nach dem V e r w V e r f G u n d nach sozialrechtlichen Bestimmungen eine Auskunftsu n d Beratungspflicht (vgl. F. O. Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, M ü n chen 1976, A n m . 1 zu § 25, A n m . 5 zu § 26 VwVfG). 20 Vgl. etwa zur Amtsverschwiegenheit § 61 BBG, § 76 Abs. 1 HBG, § 6 B M i n G , § 14 SoldatenG. Z u m Schweigen i m öffentlichen Interesse siehe die Regelung der Aussagegenehmigung § 61 BBG, § 84 StPO, § 376 ZPO, § 28 I I 1 BVerfGG. 21 Z u m privaten Interesse siehe etwa §§ 22, 412 AO, § 121 StatG, § 9 KreditwesenG. 22 P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 641. 23 Vgl. z. B. W. Martens, ö f f e n t l i c h als Rechtsbegriff, S. 71 m i t dem Hinweis auf „Gefahren f ü r Bestand, Sicherheit u n d Funktionstüchtigkeit des Staates". 24 Das Problem der Partizipation an Verwaltungsentscheidungen w i r d zunehmend i n der Staats- u n d Verwaltungsrechtswissenschaft diskutiert, vgl. W. Schmidt, Organisierte E i n w i r k u n g e n auf die Verwaltung. Z u r Lage der zweiten Gewalt, i n : W d S t R L , B e r l i n 1975; der Problemhintergrund w i r d deutlich i n der A k t i v i t ä t der Bürgerinitiativen, vgl. P. C. Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung, Reinbek 1976.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
meint nicht nur den Schutz unbegründeter, für den anderen und für die Gesellschaft irrelevanter Meinungen, also den Schutz der Weitergabe von Inhalten, die subjektiv und objektiv unzureichend gesichert sind 2 5 ; Freiheit der Äußerung der Meinung und Freiheit der Bildung der Meinung sind vielmehr, da man Meinimg nicht auf irrelevantes Meinen — objektiv und subjektiv unzureichendes Für wahrhalten — reduzieren kann, eng aufeinander bezogen. I m Grunde wäre daher die Reihenfolge der verfassungsrechtlichen Garantien i n A r t . 5 Abs. 1 GG umzudrehen 2 6 : „denn nur umfassende Information, für die durch ausreichende Informationsquellen Sorge getragen wird, ermöglicht eine freie Meinungsbildung und -äußerung für den einzelnen wie für die Gemeinschaft" 27 . Das Informationsrecht ist so gesehen Voraussetzung der Freiheit der Meinungsäußerung. Da es keine Bereiche gibt, von denen generell gesagt werden kann, sie seien ohne jede Bedeutung für die freie Entfaltung des einzelnen, folgt daher auch aus der individuellen und autonomen Verwirklichung der Meinungsäußerungsfreiheit die freie Zugänglichkeit zu allen Informationen; denn nur ein umfassender Informationsanspruch ist geeignet, dem Freiheitszweck von A r t . 5 Abs. 1 Satz 1 GG i m Zusammenhang m i t A r t . 2 Abs. 1 GG, die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und die Chancengleichheit i n der politischen Mitbestimmung normativ zu sichern, zu genügen 28 . Dieser Freiheitszweck, auch als Teilhabezweck, entspricht dem Normprogramm der Grundrechte, wie es i n A r t . 5 Abs. 1 GG zur Geltung zu bringen ist. Der positive und der negative Aspekt der Meinungsfreiheit erlaubt zwar die verengte Begrenzung auf private Interessen, ermöglicht aber ebenso die unbeeinflußte Konstitution von Meinungen i m öffentlich bedeutsamen Bereich; er w i r d damit Bedingung für selbstbestimmte Teilnahme am öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozeß. Gerade dieser Prozeß kann aber nur dann positiv für den politischen Prozeß und für die eigene Selbstverwirklichung sein, wenn die Meinungsbildung nicht abgelöst von der sozialen Realität sich vollzieht, wenn sie geprägt w i r d von Erkenntnis der eigenen Lage, wenn das positive Recht des freien Zugangs zu allen relevanten Informationen besteht 29 . 25 Eingehend zum Zusammenhang von Meinungsfreiheit u n d Informationsfreiheit W. Geiger, Die Grundrechte der Informationsfreiheit, S. 121 ff. 26 So R. Herzog, i n : Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, Grundgesetz, München 1978, A n m . 82 zu A r t . 5; vgl. auch Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : AöR 97, 1972, S. 43 ff.; H.-U. Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive u n d Informationsrecht der Presse, S. 101 ff. 27 BVerfGE 27, 71 (81). 28 Vgl. hierzu P. Schneider, Pressefreiheit u n d Staatssicherheit, Mainz 1968, S. 21, 38 ff. 29 Erg. H. Brinckmann / E. Heyse, S. 90 f., 92 ff. m. w . H.
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Ein K r i t e r i u m zur Abwägung zwischen allgemeinen (öffentlichen) Interessen an freier Zugänglichkeit zu Informationen und den individuellen Interessen an einer geschützten Privatsphäre läßt sich nur i m Blick auf das Normprogramm des Grundgesetzes finden. Gegenüber der Forderung nach freier Zugänglichkeit von Informationen kann immer ein Interesse des von der beanspruchten Information Betroffenen an Privatheit geltend gemacht werden 3 0 . Vom Inhalt der Daten her ist dieser K o n f l i k t nicht zu lösen, jedenfalls nicht generell. Es mögen zwar die Rollen, die der einzelne auszufüllen hat, getrennt werden nach privatem und öffentlichem Bereich; da aber jedem auch die Rolle des Staatsbürgers zukommt und er diese Rolle nicht nur m i t einem Teil seiner Person ausfüllen kann 3 1 , das Grundgesetz auch prinzipiell keine Trennung zwischen privatem, gesellschaftlichem und staatlichem Bereich vornimmt, sondern die allgemeine Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen postuliert, ist es unmöglich, einen Datenbereich zu definieren, der nur privat ist: Es gibt — abgesehen von wenigen Grenzbereichen — keine privaten Daten, denen nicht auch potentiell ein öffentliches Interesse zukommen kann 3 2 ; es gibt keine allgemein relevanten Daten, die nicht auch (potentiell) die Privatsphäre irgendeines Individuums tangieren. Informationen, seien es Personen-, Institutionen- oder Sachangaben, betreffen immer die Situation der Person und ihre Umweltbeziehungen, sie sind Bedingungen ihres eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer, auch staatlicher Organe i h r gegenüber. Informationen werden auch vergegenständlicht, sind Teil sozio-ökonomischer Verwertungsprozesse, fungieren als spezifische Form und Funktion von Eigentum. Der Eigentumscharakter der Informationen findet beispielsweise seinen Niederschlag i m Urheber- oder Warenzeichenrecht. Als Form der Personen- oder Institutionendarstellung und ihrer Entfaltungsund Entscheidimgsfreiheit ebenso wie als Warenform unterliegen die Informationen subjektiver Verfügungsgewalt. Information und Informationsrechte sind aber nicht ausschließlich individualisierbar. Informationen sind Bedingungen für jede freie Entfaltung von Personen und von Gesellschaft, i m Austausch von Informationen, i n der Kommunikation ereignet sich soziales Dasein, entfaltet sich Gesellschaft und 80
Siehe 17. Scheuner, Pressefreiheit, i n : W d S t R L , H. 22, B e r l i n 1964, S. 54. Z u r Sphärentheorie vgl. die Nachweise u n d K r i t i k bei W. Schmidt, Die bedrohte Entscheidungsfreiheit, i n : J Z 1974, S. 242 f. u. R. Kamiah, Hinweise aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Regelung eines materiellen Informationsrechts, i n : E. Benda, Privatsphäre u n d „Persönlichkeitsprofil", i n : Festschrift f ü r H. Geiger, 1974, S. 39. Erg. M. Drath, Über eine kohärente soziokulturelle Theorie des Staates u n d des Rechts, i n : Festschrift f ü r G. Leibholz, Bd. 1, Tübingen 1966, S. 50 f. 82 Vgl. R. Marcic, Die Öffentlichkeit als Prinzip der Demokratie, S. 273, 281 ff. 31
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realisiert sich Meinungsbildung und gesellschaftlich-politische Gestaltung. Das Grundrecht des A r t . 5 Abs. 1 GG w i r d deshalb auch als eine „institutionelle Gewährleistung" von Meinungs- und Meinungsbildungsfreiheit verstanden 38 , welche auch den freien Informationsaustausch, die freie Kommunikation umfaßt und subjektive Informationsrechte und Verfügungsrechte über Informationen beschränkt, spezifiziert durch die Vorschriften der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG). Eine solche Interpretation des A r t . 5 Abs. 1 GG i m Zusammenhang m i t dem Normprogramm des Grundgesetzes ermöglicht einen Ausgleich zwischen den gegenläufigen Individualrechten auf freie Unterrichtung und stellt diese i n den Funktionszusammenhang freier Kommunikation für gesellschaftlich-politische Meinungsbildung; indem freie Meinungsäußerung und Unterrichtung und damit implizit freie Kommunikation selbständig gewährleistet sind, werden auch Inhalt und Umfang organisierter Informationsverbunde als spezifizierte, privatautonome Informationsmärkte i n ihrer selektiven Wirkung für eine freie Meinungsbildung begrenzt, ist die Unterrichtungsfreiheit tendenziell auch ein politisches Teilhaberecht 34 . Die auf Kommunikation bezogenen Grundrechte des Grundgesetzes 35 vereinigen den gegensätzlichen Bezug, den zur Öffentlichkeit und den zur Geheimhaltung, indem Kommunikation als öffentliche (Zensurverbot, Recht auf Unterrichtung aus allgemein zugänglichen Quellen) wie auch als geheime Kommunikation (Brief- und Telefongeheimnis) unter jeweils besonderem Grundrechtsschutz steht. Das Grundgesetz hat den Trägern der kommunikativen Grundrechte überlassen, welche A r t der Kommunikation sie untereinander pflegen wollen, die öffentliche oder die geheime. Sie können die Inhalte ihrer Kommunikation als öffentliche oder als geheime qualifizieren. Das Grundrecht des A r t . 5 Abs. 1 GG statuiert unmittelbar keine ausdrückliche Verpflichtung, für Inhalte, an denen ein allgemeines Informationsinteresse besteht, auf geheime Kommunikation zu verzichten und so allgemein zugängliche Informationsquellen zu eröffnen, Öffentlichkeit herzustellen. Der einzelne kann konsequent durch Schweigen oder durch Wahl einer 33
Vgl. hierzu insbes. H. Ridder, Meinungsfreiheit, i n : Die Grundrechte I I , hrsg. v. F. Neumann u.a., B e r l i n 1954, S. 243 ff.; einschränkend demgegenüber Maunz / Dürig / Herzog f Scholz, Grundgesetz, A n m . 49 ff. zu A r t . 5 GG m. w . N. 34 Vgl. hierzu a m Beispiel der Rechtsentwicklung i n den U S A H. Becker, Meinungsfreiheit i n den USA, Grundrecht auf politischen Einfluß?, i n : K . L e n k (Hrsg.), Informationsrecht u n d technische Entwicklung, Darmstadt 1976, S. 75 ff. m. w . H. 35 Z u m folgenden näher H. Brinckmann, Datenschutz u n d Recht auf I n formation, a.a.O., ders. IE. Heyse, K o m m u n i k a t i o n u n d Information i m L e i stungsbereich des Grundrechts der Meinungsfreiheit, S. 81 ff.
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vertraulichen Kommunikationsform den Bereich des legalen Ausschlusses anderer von Informationen abstecken. Eine unmittelbare Verpflichtung für Individuen oder private Organisationen zur Öffentlichkeit ihres Informationshaushaltes kennt das Grundgesetz nicht. Wenn das Bundesverfassungsgericht „das Grundrecht der Informationsfreiheit (als) eine der wichtigsten Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie" qualifiziert 3 6 , so bleibt ein solches Recht auf eine korrespondierende Pflicht angewiesen. Das Grundgesetz verweist zunächst den Informationssuchenden auf das, was andere freiwillig der Öffentlichkeit preisgeben, der Allgemeinheit gegenüber offenbaren, so daß bei der Verfolgung des Informationsanspruches auf gesamtgesellschaftliche Relevanz von Informationen nicht abgehoben werden kann. I m Grundgesetz kommt eine solche Restriktion deutlich zum Ausdruck, indem es das individuelle Informationsrecht auf die Information aus allgemein zugänglichen Quellen beschränkt 37 . Die geforderte Reihenfolge „Informationsfreiheit vor Meinungsäußerungsfreiheit" ist, solange nur A r t . 5 Abs. 1 GG i n den Blick genommen wird, nicht möglich: Das Informationsrecht ist nicht der Freiheit der Meinungsäußerung i m Sinne einer freien Meinungsbildung vorgeordnet, w e i l die private Verfügung über Informationsquellen und deren Ergiebigkeit keine ausreichende Grundlage für eine selbstbestimmte Meinungsbildung abgibt. Das Informationsrecht ist verfassungsrechtlich zunächst garantiert als Annex der Meinungsäußerungsfreiheit: Jeder, der seine Meinung der Allgemeinheit gegenüber äußern w i l l , soll dies tun dürfen; dem Staat ist untersagt, die Reichweite der Äußerung dadurch zu begrenzen, daß er den freien Zugang Dritter zu einer vom einzelnen als öffentlich deklarierten Meinungsäußerung einschränkt. Ein — durch die individuellen Rechtspositionen begrenztes — Informationsrecht und eine „Informationsvermittlungspflicht" des Staates ergeben sich aber aus dem Zusammenhang von A r t . 5 Abs. 1 GG m i t dem Normprogramm des Grundgesetzes. Es würde dem Normprogramm des Grundgesetzes widersprechen, den Aufbau von Positionen, welche seinen demokratischen und egalitären Intentionen nicht genügen, schlechthin zu sichern. I m Bereich „institutioneller Öffentlichkeit" — und dieser w i r d nicht nur durch den Bereich des Staates i n engerem Sinne gebildet — liegt i n der Institutionalisierung als öffentliches 3e Vgl. BVerfGE 27, 71 (81 f.); W. Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 66 f., 75 ff. 37 Z u diesem Grundrecht siehe W. Geiger, Die Grundrechte der I n f o r m a tionsfreiheit, S. 122 ff.; BVerfGE 27, 71 (83 f.); H. Windsheimer, Die „ I n f o r mation" als Interpretationsgrundlage für die subjektiven öffentlichen Rechte des A r t . 5 Abs. 1 GG, S. 131 ff.
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Gebilde und i n der Verpflichtung zu struktureller Homogenität die Kennzeichnung der allgemeinen Zugänglichkeit mitbegründet. Hier ist ein Zugang zu Informationen verfassungskonform, soweit er nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist, hier ist die individuelle Freiheitsbestimmung über die Informationshergabe überholt durch die verfassungsstrukturelle Verpflichtung zur Öffentlichkeit. Diese Verpflichtung zur Öffentlichkeit beinhaltet aber nicht eo ipso einen subjektiv-rechtlichen Informationsanspruch. So deklariert das Grundgesetz die Pflicht der politischen Parteien gemäß A r t . 21 Abs. 1 Satz 4 GG, „über die Herkunft ihrer M i t t e l öffentlich Rechenschaft (zu) geben". Eine analoge Vorschrift etwa für Tarifvertragsparteien gibt es nicht. Der Gesetzgeber hat weitere Publizierungsvorschriften erlassen. Die Vorschriften des Handels- und Wirtschaftsrechtes, welche p r i v a t w i r t schaftliche Unternehmen zwingen, bestimmte Informationen allgemein zugänglich zu machen, über allgemeine Geschäftsbedingungen oder Vergleichs- und Konkursanmeldungen öffentlich zu unterrichten, haben zwar spezifische Schutzfunktionen, aber i n diesen Bestimmungen kommt die Verpflichtung des Staates zum Ausdruck, für eine Öffentlichkeit bestimmter Informationen zu sorgen: Wenn die private Verfügungsmacht über Informationen als Ausprägungen von A r t . 5 Abs. 1, A r t . 2 und A r t . 14 GG zu einer Gefährdung eben dieser grundrechtlichen Gewährleistung bei Dritten führen kann, ergibt sich aus der Verpflichtung der Staatsorgane auf die Allgemeinheit grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung, die Öffentlichkeit solcher Informationen herzustellen 38 . Individuelle Verfügungsrechte über Informationen sind durch gesetzliche Regelung begrenzbar und zu begrenzen, soweit eine „Informationsvermittlungspflicht" oder ein eigener „Informatiorisanspruch" des Staates bestehen. Zunächst erfordert die Gewährleistung der Handlungskompetenz des politisch-administrativen Systems gegenüber dem privaten — insbesondere gegenüber dem Wirtschaftsbereich — Zugang und Verfügungsmacht über die Informationen, welche für seine A u f gabenerfüllung erforderlich sind. Der staatliche Informationshaushalt unterliegt selbst aber wiederum dem Gebot der Transparenz, soweit ein Ausschluß von Informationen zu einer gruppen- oder schichtenspezifischen Verzerrung i n der M i t w i r k u n g bei der politischen Meinungs- und Entscheidungsbildung führt. 38 Diese verfassungsrechtliche Bindung staatlicher Organe bedeutet keine Pflicht zur Herstellung allgemeiner Öffentlichkeit über private Information. Wirtschaftliche Konkurrenz beispielsweise als Ausprägung von A r t . 2, A r t . 12 u n d A r t . 14 GG w ü r d e ad absurdum geführt. Die private Verfügungsgewalt ist aber durch staatliches Organhandeln einzuschränken, w e n n andernfalls wirtschaftliche Freiheit durch Informationsmonopole selbst gefährdet ist.
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Der Staat ist aber auch verpflichtet, nicht nur private Meinungsbildungs- und Entscheidimgsfreiheit zu gewährleisten, sondern — wie dargelegt — diese Freiheiten auch zu verallgemeinern, einen sozialen Ausgleich herzustellen 39 . Der individuelle Freiheitsanspruch findet seine Grenzen dort, wo diese Freiheit das politische System an die private Freiheit einzelner Gruppen oder Klassen ausliefert oder anders gewendet: Die Informationsvermittlungspflicht i n einem öffentlichen Bereich hat Vorrang, soweit dies für eine vergleichbare Meinungsbildungs- und Entscheidungsfreiheit als Grundlage freier persönlicher Entfaltung und chancengleicher politischer Mitbestimmung erforderlich ist. Regelmäßig w i r d es sich dabei u m Informationen handeln, welche an das Verhalten der Menschen i n der Außenwelt anknüpfen, an Verhalten, i n welchem sich ihre Gemeinschaftsbezogenheit und Gesellschaftsgebundenheit ausdrückt. Dieser Informationsanspruch des Staates unterliegt dem Erfordernis der Gesetzlichkeit 40 , dem Verbot der Zweckentfremdung 41 und dem Übermaßgebot 42 . Entsprechend gestaltet sich der Anspruch auf Informationen des einzelnen gegenüber dem Staat. Gesetzliche Handlungspflichten begründen zunächst einen Informationsanspruch, soweit Informationen zu ihrer Erfüllung erforderlich sind 4 3 . Die Abgabe von Informationen darf keine einseitige Begünstigung darstellen, sie ist an den Gleichheitssatz gebunden. Ein „berechtigtes Interesse" bildet keine ausreichende Grundlage für einen Informationsanspruch, da hier letztlich freies Verwaltungsermessen zum Tragen käme: Grundlage kann nur ein verrechtlichtes Interesse sein 44 . Ein Informationsanspruch gegenüber dem Staat besteht darüber hinaus auch, soweit Zugangsmöglichkeit zu I n formationen erforderlich ist, u m die staatsbürgerlichen Rechte wahrnehmen zu können. Die rechtliche Ausgestaltung und Differenzierung ist Sache des Gesetzgebers. Er ist dabei gebunden an den Gewährleistungsgehalt des Grundgesetzes, Effektivierung der Grundrechte als allgemeine Freiheitsrechte und der Möglichkeit zur politischen Mitbestimmung als all39 Z u einem Informationsanspruch des Staates, speziell der V e r w a l t u n g zur integrativen Aufgabenerfüllung vgl. auch E. Benda, S. 38, 42; W. Schmidt , Organisierte E i n w i r k u n g e n auf die V e r w a l t u n g (Man.-S. 7, 28). 40 Vgl. W. Schmidt, Die bedrohte Entscheidungsfreiheit, S. 248 m. w . N. 41 Hierzu E. Forsthoff, Verwaltungsrecht I, München 1973, 10. Aufl., S. 99 f., 293 f., 419, 505; vgl. insbes. auch E. Benda, S. 39 u. passim m. w. Ν . 42 So auch W. Schmidt, Die bedrohte Entscheidungsfreiheit, S. 247. 43 Z u r näheren Begründung eines akzessorischen Informationsrechtes H. Brinckmann / E. Heyse, K o m m u n i k a t i o n u n d Information i m Leistungsbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit, S. 95 ff. 44 Hierzu A. Podlech, Datenschutz i m Bereich der öffentlichen Verwaltung, B e r l i n 1973, S. 13, 57; W. Schmidt, S. 249; anders § 8 E-BDSG.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
gemeines u n d gleiches Recht, w i e es d i e G r u n d r e c h t e u n d das P r i n z i p der Volkssouveränität garantieren. 5.5.2 Bildung und Weiterbildung 46 G r u n d l a g e f ü r d i e verfassungsrechtliche B e u r t e i l u n g eines Rechtes auf B i l d u n g u n d auf W e i t e r b i l d u n g b i l d e n B e s t i m m u n g e n der Landesverfassungen, die G r u n d r e c h t e u n d die „ S t r u k t u r p r i n z i p i e n " des Grundgesetzes. D i e V e r f a s s u n g e n des B u n d e s u n d d e r L ä n d e r b e s t i m m e n m i t d e n Grundrechten u n d den K o m p e t e n z n o r m e n Ziele u n d U m f a n g staatlicher T ä t i g k e i t 4 6 . Z i e l s e t z u n g e n f ü r staatliche T ä t i g k e i t e n t h a l t e n n i c h t n u r j e n e G r u n d r e c h t e , w e l c h e d e m S t a a t eine A u f g a b e p o s i t i v v o r s c h r e i b e n — w i e A r t . 7 A b s . 1 G G d i e A u f s i c h t ü b e r das gesamte Schulwesen, A r t . 6 A b s . 5 G G d i e G l e i c h s t e l l u n g n i c h t e h e l i c h e r K i n d e r oder w i e i n e i n i g e n L a n d e s v e r f a s s u n g e n die F ö r d e r u n g v o n W e i t e r b i l d u n g s e i n r i c h t u n g e n — , s o n d e r n s i n d auch — w i e d a r g e l e g t w u r d e — i n d e r G e w ä h r leistung grundrechtlicher Freiheiten m i t enthalten47. B i l d u n g u n d W e i t e r b i l d u n g sind Voraussetzung f ü r freie E n t f a l t u n g d e r Person, f ü r F r e i h e i t d e r M e i n u n g s b i l d u n g u n d M e i n u n g s ä u ß e r u n g , 45 Die folgenden Ausführungen beruhen auf H. Brinckmann / K . Grimmer, Rechtsfragen der Weiterbildung, der Information u n d der Bildungsstatistik, S. 74 ff.; auf einen T e x t - u n d Zitatnachweis w i r d verzichtet; erg. K . Grimmer/W. Gabler, Die Verrechtlichung der Erwachsenenbildung, i n : Europäische Enzyklopädie der Erziehungswissenschaft, Stuttgart 1980. 46 Vgl. hierzu 17. Scheuner, Staatszielbestimmungen, i n : Festschrift f ü r E. Forsthoff, München 1972, S. 325 ff. m. w. N.; Ch. Pestalozza, Der Garantiegehalt der Kompetenznorm, i n : Der Staat 1972, S. 161 ff.; U. Scheuner, Die F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat, i n : D Ö V 1971, S. 505 ff.; Th. Ramm, Der Wandel der Grundrechte u n d der freiheitliche soziale Rechtsstaat, i n : J Z 1972, S. 137 ff.; Κ. H. Friauf, Z u r Rolle der Grundrechte i m Interventionsu n d Leistungsstaat, i n : DVB1. 1971, S. 674 ff. (677); G. Brunner, Die Problemat i k der sozialen Grundrechte, Tübingen 1971; B. Daum, Soziale Grundrechte, i n : R d A 1968, S. 81 ff.; W. Schreiber, Das Sozialstaatsprinzip des G r u n d gesetzes i n der Praxis der Rechtsprechung, B e r l i n 1972; I. Menzel, Sozialstaatlichkeit als Verfassungsprinzip der Bundesrepublik, i n : D Ö V 1972, S. 37 ff. 47 Hierzu u n d zum folgenden vgl. Maunz I Dürig I Herzog ! Scholz, G r u n d gesetz, München 1978, A n m . 13 u. 88 zu A r t . 1, A n m . 25 f. zu A r t . 2 Abs. 1 GG; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Karlsruhe 1977, S. 117 ff.; E. Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 203 ff. jew. m. w. N. Eine Weiterentwicklung der Grundrechtsdogmatik versuchen K . D. Heymann / E. Stein, Das Recht auf Bildung, i n : AöR 97, 1972, S. 185 ff. (192); W. Martens, Grundrechte i m L e i stungsstaat, i n : W d S t R L , H. 30, B e r l i n 1972, S. 7 ff. (30, 34 m . w . N . ) ; P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, ebda., S. 43 ff. (112, 117 m . w . N . ) ; zu einem Recht auf B i l d u n g ders., „Leistungsrecht" i m sozialen Rechtsstaat, i n : Festschrift für G. Küchenhoff, B e r l i n 1972, 2. Hlbbd., S. 453 ff.; einschränkend E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft i m demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, i n : Festgabe f ü r W. Hefermehl, Stuttgart 1972, S. 11 ff. (22 ff.).
5.5 Exkurs: B i l d u n g u n d Weiterbildung
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für Teilnahme an Kommunikationsprozessen, für freie Wahl und damit auch Erhaltung von Beruf und Arbeitsplatz, für Freiheit i n der Wahl der Ausbildungsstätte 48 . I n diesem Sinne beinhalten insbesondere die i n A r t . 2 GG (freie Entfaltung der Person), A r t . 5 GG (Freiheit der Meinungsbildung und -äußerung), A r t . 12 GG (Berufsfreiheit) verbürgten Freiheitsrechte auch einen Anspruch auf Bildung und Weiterbildung 4 9 . Bildung und Weiterbildung sind auch Bedingungen für politische Mitbestimmung, für die Ausübung der Rechtsgewährleistungen des Prinzips der Volkssouveränität. Für den Bereich allgemeiner, insbesondere schulischer Bildung ergibt sich aus A r t . 7 GG und aus Landesverfassungen die Verpflichtung des Staates, schulische Ausbildung bereitzustellen, für die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten sowie sozialen Verhaltensweisen zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung und gesellschaftlicher M i t w i r kung zu sorgen. Staatliche Verantwortung und inhaltliche Gestaltungsanforderungen für das Bildungswesen sind nicht nur i n einer sozialstaatlichen Interpretation der Grundrechte, sondern auch als akzessorischer Rechtsanspruch aus der staatlichen Kompetenz i m Bereich der Sozial- und Wirtschaftsordnung begründet. Indem der Staat das Recht i n Anspruch nimmt, bestimmte Qualifikationsanforderungen, beispielsweise für die Aufnahme eines Berufes oder auch die Teilnahme an öffentlichen Einrichtungen, festzusetzen, begrenzt er die durch die Grundrechte gewährten Freiheiten. Da der Gesetzgeber durch A r t . 1 Abs. 3 und A r t . 3 Abs. 1 GG nicht zu sich spezifisch auswirkenden Einschränkungen legitimiert wird, sind solche Grundrechtseinschränkungen nur dann zu rechtfertigen, wenn den Staat gleichzeitig auch die Verpflichtung trifft, entsprechende Bildungs- und Weiterbildungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen: „So führt eine sozialstaatliche Interpretation der A r t . 7 Abs. 1, A r t . 12 Abs. 1 und A r t . 5 Abs. 3 GG zu einem Grundrecht auf Bildung i n einem die Schul-, Berufs- und Hochschulbildung umfassenden Sinn 5 0 ." I n dem Maße, i n dem die Freiheitsrechte durch sozialstaatliche Regelungen i m Interesse einer bestimmten Sozialordnung begrenzt werden, sind ihnen aus Gründen der Gewährleistung der Einzelgrundrechte und des Normprogramms des Grundgesetzes indivi48 Z u letzterem vgl. auch M. Abelein, Recht auf Bildung, i n : DÖV 1967, S. 375 ff. (376) u. K . D. Heymann / E. Stein, S. 194; I. Richter, Grundgesetz u n d Schulreform, Weinheim 1974, S. 341. 49 Ä h n l i c h auch M. Abelein, S. 376. 50 K . D. Heymann / E. Stein, S. 194; vgl. auch I. Richter, S. 58 ff.; Th. Oppermann, Nach welchen rechtlichen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen u n d die Stellung der an i h m Beteiligten zu ordnen? i n : Verh. des 51. Dt. Juristentages, Bd. 1, München 1976, S. C 19 ff. m. w . N.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
duelle Ausgleichsansprüche immanent 5 1 , wobei der Gesetzgeber einen weiten Spielraum bei der Ausgestaltung der Ausgleichsansprüche, auch solcher auf Weiterbildnug, hat 5 2 . Besondere Bedeutung kommt i n diesem Zusammenhang A r t . 3 Abs. 1 GG zu i m Sinne eines Anspruchs auf Gleichheit der Bildungschancen 53 . Nach Heymann / Stein kann dem Gleichheitssatz gerade i m Bereich des Bildungswesens nur dadurch Genüge getan werden, daß neben der Verwirklichung der Gleichheit der Aufstiegschancen als gleichem A n spruch auf freie Entfaltung der Person auch die Bildungsmöglichkeiten auf allen Ausbildungsebenen gewährleistet werden. Die Anerkennimg eines Anspruches auf gleiche Aufstiegschancen und auf Gleichwertigkeit der Bildungswege hat zur Folge, daß nicht nur durch eine den tatsächlichen sozialen Bedingungen entsprechende schulische Bildung der Versuch unternommen wird, Bildungsunterschiede abzugleichen, sondern daß auch die Förderung der Weiterbildung auf sozialen Ausgleich ausgerichtet zu sein hat, u m den trotz Erstausbildung verbliebenen und ebenso den ständig neu produzierten Ungleichheiten entgegenzuwirken. Chancengleichheit hat daher i m Bildungswesen nicht nur einen passiven Aspekt i m Sinne einer Gleichberechtigung bei der Entgegennahme staatlicher Bildungsleistungen, sondern auch einen aktiven Aspekt i m Sinne eines „Hechts auf Förderung der Entwicklung gerade derjenigen Fähigkeiten, die erforderlich sind, u m sich auch i n einem unterprivilegierten Beruf Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung zu erkämpfen" 5 4 . Aus der Verpflichtung staatlicher Organe auf die Grundrechte ergibt sich also für den Bildungsbereich, i n welchem der Staat nicht nur eine umfassende Gestaltungskompetenz hat, sondern quasi monopolartig die Ressourcen verwaltet, daß der Staat zur Gewährleistung der freien Entfaltung der Person und der gleichen Chancen i n der politischen Mitbestimmung entsprechende Ausgleichs-, Förderungs- und Organisationsmaßnahmen, auch inhaltlicher Festlegungen i n Curricula, zu treffen hat 5 5 . 51 Vgl. K . D. Heymann IE. Stein, S. 193 ff.; M. Abelein, S. 377; I. Richter, S. 38 f.; Th. Oppermann, S. 86 ff. m. w . H.; einschränkend F. Hufen, Gleichheitssatz u n d Bildungsplanung, Baden-Baden 1976. 32 Vgl. am Beispiel des numerus clausus BVerfGE 33, 303 (331 f.). 53 Z u r Begründung eines solchen Anspruches vgl. K. D. Heymann / E. Stein, S. 202 ff.; anderer Ansicht Th. Maunz, Der Bildimgsanspruch i n verfassungsrechtlicher Sicht, i n : Festschrift für G. Küchenhoff, B e r l i n 1972, 2. Hlbbd., S. 605 ff. (607 ff.), welcher es als grundgesetzkonform ansieht, daß staatliche Differenzierungen i m Bildungsbereich an die am Ende der Grundschulzeit vorhandenen Begabungsunterschiede anknüpfen. 54 K. D. Heymann / E. Stein, S. 209. 55 Das B V e r f G ließ dahingestellt, ob eine solche Verpflichtung aus der Überlegung, „daß der soziale Rechtsstaat eine Garantenstellung f ü r die U m -
5.5 E x k u r s : B i l d u n g u n d Weiterbildung
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Das Bundesverfassungsgericht hat auf der Grundlage seines Verständnisses der Grundrechte als objektiver Wertordnung festgestellt, daß diese nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat sind: „Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet", desto mehr t r i t t „ i m Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen" 5 6 . I m Zusammenhang m i t A r t . 3 Abs. 1 GG ergeben sich aus A r t . 2 GG einige Kriterien für Inhalt und Umfang staatlicher Verpflichtung i m Bereich der Bildung und der Weiterbildung. Die Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit umschließt i n ihrem Effizienzanspruch auch die Garantie der Möglichkeit, jene Fähigkeiten ausbilden zu können, welche zur Erkenntnis, Artikulation und Durchsetzung persönlicher Interessen, also zur persönlichen Entfaltung erforderlich sind 5 7 . Gerade w e i l A r t . 2 Abs. 1 GG auch das Recht umschließt, über A r t und Weise der Selbstverwirklichung autonom zu bestimmen, ist es als staatliche Aufgabe zu erachten, durch Information und Definition von Qualifikationskriterien die i n einer je gegebenen Situation als Bedingung der Selbstentfaltung erforderlichen Bildungsformen und B i l dungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dem steht nicht entgegen, daß m i t A r t . 2 Abs. 1 GG der Erwachsene von der Verfassung auch das Recht zur Bestimmung des Ob und Wie seiner Selbstverwirklichung eingeräumt bekommen hat 5 8 , da es hier zunächst darum geht, die Bedingungen für eine freie Bestimmung über das Ob und Wie der Selbstversetzung des grundrechtlichen Wertsystems i n die
Verfassungswirklichkeit
einnimmt", unmittelbar folgt; BVerfGE 33 (331); vgl. auch BVerfGE 27, 360. 56 BVerfGE 33, 303 (330); zustimmend hierzu P. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht i m Leistungsstaat; die numerus clausus-Entscheidung v. 18. 7.1972, i n : DÖV 1972, S. 729 ff. (729, 731, 734 unter Betonung des Zusammenhanges von Freiheitsrechten u n d Teilhabechancen u n d der staatlichen Verpflichtung hierauf); kritisch O. Kimminich, i n : A n m . zur BVerfGE, i n : J Z 1972, S. 696 ff.; vgl. auch BVerfGE 21, 362 (372) m. w . N. 57 Ä h n l i c h K . D. Heymann iE. Stein, S. 209; vgl. erg. Th. Oppermann, S. C 82 ff. m. w. H.; I . Richter, Nach welchen rechtlichen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen u n d die Stellung der an i h m Beteiligten zu ordnen? Verh. des 51. Dt. Juristentages, zit. nach Manuskript, S. 3 m. w . H. 58 Vgl. hierzu K. D. Heymann / E. Stein, S. 213 m. w. N. Die Ansicht, daß A r t . 12 GG als lex specialis f ü r den Bereich des Bildungswesens A r t . 2 G G vorgeht u n d insoweit k e i n Platz ist, einen Bildungsanspruch oder auch n u r einen Anspruch auf Förderung des Bildungswesens aus A r t . 2 GG zu begründen — so Th. Maunz, S. 609 —, verkennt die Interdependenz zwischen Entfaltung der Person u n d Bildungswesen. Jedenfalls müßte aber bei einer Argumentation aus A r t . 12 GG A r t . 2 G G als Interpretationsgrundlage angesehen werden, so daß ein Bildungsanspruch nicht n u r als ein überwiegend „politisches Programm", sondern auch als eine verfassungsrechtliche „Gewährleistung" zu betrachten wäre.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
wirklichung zu schaffen. Nach Grundgesetz und Landesverfassungen haben sich die Bestimmung der konkreten politischen Ordnung selbst i n einem egalitären, demokratischen und rechtsstaatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß zu vollziehen. Der Stand der Grundrechtsrealisierung, und dies heißt die soziale Lage der Individuen und sozialen Gruppen, bedingt die faktischen Möglichkeiten demokratischpolitischer Teilhabe. „Die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Demokratie lassen sich daher nicht ohne Bildungsanstrengungen realisieren", „sie geben einem Hecht auf Bildung, welches auch i n der gekennzeichneten verfassungsrechtlichen Ausprägung nur sehr vage strukturiert ist, weitere Konturen und rechtliche Relevanz" 59 . Der Anspruch auf Bildimg und Ausbildung ist nicht erfüllt durch die Gewährung einer einmaligen Bildung, der schulischen Grundausbildung. Aufgrund der geringen Ausgleichswirkung des primären B i l dungsbereiches i n den individuellen Chancen zur Selbstbestimmung und zur gesellschaftlichen Mitverantwortung, der tiefgreifenden sozialen Differenzierung des gegebenen gesellschaftlichen Systems i n der Bundesrepublik und der ständigen Situationsänderung i n einer dynamisch sich verändernden modernen Industriegesellschaft ist die Gewährleistung ständiger Weiterbildung Bedingung für einen Ausgleich individueller und sozialer Chancen, für die freie persönliche Entfaltung und für die Befähigung zur ständigen Teilhabe an demokratisch-politischen Willensbildungsprozessen. Es genügt deshalb nicht, allein ein Recht auf schulische Grundausbildung oder ein Recht zur Weiterbildung aufgrund von A r t . 2 und A r t . 12 GG anzuerkennen. Vielmehr hat der Staat zur Bildung und Weiterbildung zu motivieren, Weiterbildungseinrichtungen zu garantieren und über Weiterbildungsmöglichkeiten sowie über die i n der jeweiligen Situation erforderliche Weiterbildung zu informieren 6 0 . 59 So K . D. Heymann / E. Stein, S. 201/202; hierzu auch F. Hennecke, Staat u n d Unterricht, B e r l i n 1972, insbes. S. 98ff., 101 ff. u. 181 ff. jew. m . w . N . ; M. Abelein, S. 377 spricht i n diesem Zusammenhang von „ k u l t u r e l l e r D a seinsvorsorge": „Der Staat hat alles zu unternehmen, u m ein Bildungswesen i n allen Stufen aufzubauen, das jedem durch Bereitstellung entsprechender Einrichtungen u n d Förderungsmittel eine seiner Begabung entsprechende B i l d u n g ermöglicht." Ä h n l i c h auch H. P. Bull, Die Staatsauf gaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl., Kronberg 1977, S. 284 ff., welcher von Ausbildung als Bedingung erfolgreicher Selbstvorsorge u n d der Sicherung der menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten spricht. 60 Staatlich initiierte Umschulungsmaßnahmen sind Ausdruck solcher V e r pflichtung, betreffen aber i n der Regel n u r technisch-instrumentelle Fertigkeiten. — „ D i e Weiterbildung ist darauf angewiesen, i h r Angebot rasch u n d elastisch auf die sich wandelnden Anforderungen an die Teilnehmer u n d deren zugleich sich ändernde Ansprüche einzustellen, u m so m i t der D y n a m i k der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g Schritt zu halten." (Dt. Bildungsrat, S t r u k t u r p l a n f ü r das Bildungswesen, S. 201).
5.5 E x k u r s : B i l d u n g u n d Weiterbildung
289
Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes erlaubt den sozialen Gruppen, welche über eine parlamentarische Mehrheit verfügen, i m Rahmen der Grundrechte ihre gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zu gesamtstaatlich verbindlichen Normen durch Gesetzgebung oder durch Unterlassen von Gesetzgebung zu erheben. Diese Gestaltungsfreiheit findet ihre wesentliche Begrenzung i m Sozialstaatspostulat nach A r t . 20 Abs. 1 und A r t . 28 Abs. 1 GG i n der oben vorgenommenen Interpretation als begriffliche Zusammenfassung der Freiheitsgewährleistungen und ihnen impliziter sozialer Ausgleichsansprüche. Weiterbildung als staatliche Aufgabe ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip nicht nur i m Sinne eines „Folgenbeseitigungsanspruches", sondern auch aus einem Anspruch auf Ausgleich von sozialen Unterprivilegierungen, als Anspruch auf reale soziale Integration, auf „soziale Gerechtigkeit", auf Gleichheit der Lebensbedingungen und Verbesserung der Lebensverhältnisse entsprechend A r t . 91a Abs. 1 und Art. 106 Abs. 3 GG. Die A r t und Weise, i n welcher der Staat seine Aufgabe i n der B i l dung und Weiterbildung wahrnimmt, ist weitgehend i n die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers gestellt. Es kann hier dahingestellt bleiben, i n welchem Umfange ein konkretes subjektiv-öffentliches Recht auf Bildimg und Weiterbildung und auf staatliche Förderung des Weiterbildungsbereiches gegeben ist; jedenfalls handelt es sich u m einen objektiven Verfassungsauftrag 6 1 ' 6 2 . 61 E i n subjektives öffentliches Recht auf öffentliche Ausbildungsförderung lehnt ab W. Philipp, Rechtsansprüche auf öffentliche Ausbildungsförderung? I n : FamRZ 1969, S. 7 ff. m i t der Begründung, daß Ausbildungsförderung nicht notwendige Daseins Vorsorge ist, sondern es dem Staate nach dem G r u n d gesetz freistehe, ob u n d i n w i e w e i t er begünstige u n d Rechtsansprüche gewähre. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz gewährleistet nunmehr ein subjektives öffentliches Recht auf Leistung bei Vorliegen des gesetzlich normierten Tatbestandes. M. Abelein, S. 378 versucht ein subjektives öffentliches Recht auf B i l d u n g analog zum Bundessozialhilfegesetz zu begründen. E i n solches Recht ist sicher anzuerkennen f ü r den Bildungsbereich, den der Staat allein oder nahezu allein i n seine Obhut genommen hat; f ü r das Schulwesen ergibt sich ein solches Recht aus den entsprechenden Verfassungsbestimmungen. I m übrigen w ü r d e es aber einem solchen Recht vielfach an der entsprechenden Bestimmtheit f ü r seine Einklagbarkeit fehlen — vgl. i n diesem Zusammenhang die Problemstellung beim numerus clausus, BVerfGE 33, 330 ff.; die Zulässigkeit einer allgemeinen Feststellungsklage wegen staatlichen Unterlassens ist bisher nicht anerkannt u n d i m B V e r f G G nicht vorgesehen; vgl. auch E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, S. G 21. E i n objektiver Verfassungsauftrag k a n n u. U. auch i n subjektiv einklagbare Rechte umschlagen; i n dieser Richtung BVerfGE 33, 303 (329 ff.). 62 Selbst wenn m a n bei enger Verfassungsauslegung davon ausgeht, daß f ü r den gesamten Bildungsbereich — soweit er nicht das Schulwesen bet r i f f t — ausschließlich sedes materiae A r t . 12 Abs. 1 GG ist u n d diese N o r m als lex specialis eine verfassungsrechtliche Legitimation staatlicher Weiterbildungstätigkeit aus A r t . 2, A r t . 5 u n d A r t . 3 GG sowie aus verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien — w i e sie hier entwickelt w u r d e n — überholen würde (so i m Grunde Th. Maunz, S. 605 f.), folgt daraus noch nicht die Unzuständigkeit des Staates für den Weiterbildungsbereich. A r t . 12 Abs. 1 G G
19 Grimmer
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
Die staatliche Gestaltungsmacht für den Bildungs- und Weiterbildungsbereich ist nach dem Grundgesetz nicht total, sie ist insbesondere von den Grundrechten her auch beschränkt. Der Staat hat nicht die Kompetenz, seine Staatsbürger selbst zu reproduzieren, den total angepaßten und anpaßbaren Staatsbürger herzustellen. Das Recht auf Selbstentfaltung als Recht auf Emanzipation bedingt als Voraussetzung für alle Bereiche, i n denen der Erwachsene eigene Entscheidungen zu treffen hat, wie Familie, Beruf und Staat, eine eigenständige Urteilsfähigkeit. Das Recht auf Individualisierung gemäß A r t . 2 Abs. 1 GG muß insoweit gewahrt bleiben. Dieses Recht beinhaltet grundsätzlich ein freies Entscheidungsrecht zwischen verschiedenen Bildungsgängen und zwischen verschiedenen Curricula 6 3 , ebenso auch das Recht, auf über die Grundausbildung hinausgehende Bildung zu verzichten. Wahlfreiheit bei der Bildimg und Weiterbildung schließt aber nicht aus, daß der Staat aufgrund seiner Zuständigkeit und seiner Aufgaben i m Schulwesen und i n der Weiterbildung das Bildungswesen strukturiert und organisiert, über situationsgerechte Bildungsmöglichkeiten informiert oder solche anbietet. I m Gegenteil, solche staatliche A k t i v i t ä t ist Voraussetzung individuell-freier Wahl i n der Schulbildung und i n der Weiterbildung. Die Verpflichtung des Staates auf Effektivierung der Grundrechte als allgemeine und gleiche Rechte bindet ihn auch i n der organisationsrechtlichen Ausgestaltung seiner Leistungen. Förderung freier Entfaltung der Person, Herstellung eines sozialen Ausgleichs, Freiheit weltanschaulicher Bekenntnisse, Befähigung zur Teilnahme an läßt die gesetzliche Regelung der Berufsausübung — u n d hierzu gehören auch die Bedingungen der Berufsausübung w i e ζ. B. bestimmte Bildungsnachweise — zu. I m übrigen ergibt sich die Gestaltungsmacht des Staates f ü r den Weiterbildungsbereich dann unmittelbar auch aus seiner Ordnungsmacht für das Wirtschafts- u n d Sozialsystem u n d die damit verbundene Kompetenz, jene Qualifikationen bereitzustellen, welche f ü r die Funktionen des ökonomischen Systems — hierzu gehört auch die Freizeit u n d die i h r entsprechende allgemeine Weiterbildung — erforderlich sind. Die Kompetenz zur Bestimmung des sozialen u n d wirtschaftlichen Systems beinhaltet ihrerseits auch die Kompetenz zur Planung jener Bedingungen u n d Bereitstellung jener Einrichtungen, welche zur Erhaltung oder Durchsetzung des sozialen u n d wirtschaftlichen Systems erforderlich sind (vgl. i n diesem Zusammenhang zur F u n k t i o n der Kompetenzen Ch. Pestalozza, Der Garantiegehalt der K o m petenznorm, S. 161 ff. m. w . N.). Die Ausübung dieser Kompetenz ist w i e derum materiell an die Grundrechte u n d Staatszielbestimmungen des G r u n d gesetzes gebunden. I m Rahmen dieser Argumentation k a n n eine staatliche Zuständigkeit nicht unter Hinweis auf die Grundrechte abgelehnt werden. Auch w e n n i n diesem Zusammenhang die Grundrechte n u r als Freiheitsrechte — u n d das w ü r d e hier bedeuten: als Abwehrrechte gegenüber staatlicher Gestaltung der Weiterbildung — verstanden werden, so fehlt den Grundrechten doch eine solche Eindeutigkeit, die einen generellen W i d e r spruch gegen staatliche Gestaltung der Weiterbildung begründen könnte. 83 Vgl. hierzu K . D. Heymann / E. Stein, S. 377 m. w . N. u. Th. Maunz, S. 615; I. Richter, Grundgesetz u n d Schulreform, S. 40 f.; ders., Nach welchen rechtlichen Grundsätzen, S. 11 ff., 19 ff. m. w . H.
5.5 Exkurs : Eigentum — Mitbestimmung — Wirtschaftsordnung
291
Wirtschafts- und Arbeitsprozessen bedeuten eine inhaltliche Bindung der Organisationskompetenz und eine Beschränkung von Selektionsmaßnahmen wie Prüfungen etc. 64 . Speziell für den Bereich der Weiterbildung kann dahingestellt bleiben, ob der Staat auch legitimiert ist, das Weiterbildungswesen schulmäßig zu organisieren. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Einwände sind auch dagegen nicht zu erkennen, denn durch eine solche Organisationsform der Weiterbildung w i r d i n den Freiheitsbereich des einzelnen kaum tiefer eingedrungen als durch die allgemeine Schulpflicht und den Vorrang staatlicher Schulen, deren Verfassungsmäßigkeit außer Frage steht. Freie, eigenverantwortliche Weiterbildung wäre auch neben einer schulmäßigen Organisation des Weiterbildungswesens möglich und ist — etwa durch die Garantie des Zugangs zu den allgemein zugänglichen Informationsquellen gemäß A r t . 5 Abs. 1 GG — verfassungsrechtlich ebenso garantiert wie die Freiheit privater Personen und Institutionen, Weiterbildung anzubieten. Z u Mißverständnissen kann es allerdings führen, wenn i n diesem Zusammenhang i m Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur wirtschaftspolitischen Neutralität von einer b i l dungspolitischen Neutralität gesprochen w i r d 6 5 . I m Unterschied zur behaupteten wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes 66 — diese Interpretation ist hier nicht weiter zu überprüfen — enthält das Grundgesetz, wie dargelegt wurde, für den Bildungsbereich eine Reihe von Normen, aus welchen sich nicht nur eine Begründung von Bildung und Weiterbildung als staatlicher Aufgaben ergibt, sondern welche auch genügend konkrete Entscheidungen über A r t und Umfang dieser Aufgaben enthalten. 5.5.3 Eigentum — Mitbestimmung — Wirtschaftsordnung
Die Verteilung des Eigentums und die Verfügungsmöglichkeiten über Eigentum bestimmen mittelbar oder immittelbar den Zustand des politisch-gesellschaftlichen Systems. Umfang und Inhalt des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes sind deshalb umstritten. A r t . 14 Abs. 1 64 Z u m geltenden Schulrecht vgl. N. Niehues, Schul- u n d Prüfungsrecht, München 1976, S. 12 ff. m . w . N . ; zu den verfassungsrechtlichen Problemen Th. Oppermann, Nach welchen rechtlichen Grundsätzen, S. C 1 9 f f . m. w . H.; I. Richter, Nach welchen rechtlichen Grundsätzen, S. 16 ff. m. w . H. — Z u r Festsetzung der Bedingungen für die Organisation v o n Lerngruppen u n d Lernprozessen als Sache der Bildungspolitik, gesetzgeberischer Entscheidungen vgl. am Beispiel des Schulwesens BVerfGE 34, 165 (185 ff.); Hess. V G H , i n : JZ 1977, S. 223 ff. m. einschr. A n m . v. H. H. Rupp (S. 226 f.). 65 Vgl. Th. Maunz, S. 611; ähnlich G. Püttner, Toleranz als Verfassungsproblem, B e r l i n 1977, S. 48 ff. 68 Vgl. hierzu K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 105 ff. m. w . N.
19·
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
S. 1 GG gewährleistet privates Eigentum als sachliche Verfügungsmacht an sich. Inhalt und Schranken dessen, was begrifflich als Eigentum gewährleistet ist, unterliegen — wie dargelegt wurde — der gesetzlichen Konkretion. Der Eigentumsbegriff selbst ist nicht statisch 67 . M i t dem Fortgang der Industrialisierung trat fortschreitend eine Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln ein. „Weite Schichten der Bevölkerung werden proletarisiert. Ihre Angehörigen verfügen nicht mehr über die Produktionsmittel. Sie sind darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen. Darin sieht die M a r a sche Theorie einen unaufhaltsamen Trend: D i e Entwicklung der Industriegesellschaft führe dahin, daß sich die gesamte Bevölkerung bis auf einen kleinen Rest i n abhängige Arbeitskräfte verwandelt. I n entwickelten Industriegesellschaften leben heute an die 70°/o aller Erwerbspersonen von Lohn und Gehalt. Rechnet man noch die Sozialrentner hinzu, die größtenteils ehemalige Verkäufer der Ware Arbeitskraft sind, so bleiben — je nach statistischen Definitionen — als „Selbständige" kaum mehr, möglicherweise weniger als 1 0 % übrig 6 8 , d. h. nur bei diesen sozialen Gruppen verbinden sich Arbeit und Eigentum zu einer umfassenden individuell bestimmten Lebensform. Die Konzentration der Produktionsmittel i n den Händen einer kleinen gesellschaftlichen Minderheit auf der einen Seite und die Generalisierung der Lebensform der Lohnabhängigkeit verknüpfen das Schicksal der Bevölkerung m i t dem Funktionieren eines hochkomplizierten, k r i senanfälligen Wirtschaftssystems 69 . Die Verknüpfung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffes und seines Gewährleistungsgehaltes m i t dem Produktivvermögen macht die verfassungsiechtliche Struktur solcher Lebensverhältnisse abhängig von Gehalt und Funktion des Verfassungssatzes. „ E i n gesellschaftlicher Strukturwandel, der das Ende einer spezifischen sozio-ökonomischen Gesellschaftsformation signalisiert, kann von der Verfassungsentwicklung nicht ignoriert werden. Tatsächlich finden w i r auch i n den neueren Verfassungen Signale, die andeuten, daß i n der Frage der Wirtschaftsverfassung die dem u r sprünglichen Liberalismus entsprechende Heiligsprechung des Privateigentums zurückgenommen und die Eigentumsgarantie unter eine Reihe von Beschränkungen gestellt w i r d 7 0 . " Die Weimarer Verfassung 67 So auch P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, S. 100 f.; E.-W. Böckenförde, Eigentum, Sozialbindung des Eigentums, Enteignung, abgedr. i n : ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, F r a n k f u r t 1976, S. 318 ff. (319); H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, Darmstadt 1975. 68 A. R. L. Gurland, Z u r Theorie der sozialökonomischen E n t w i c k l u n g der gegenwärtigen Gesellschaft, i n : Th. W. Adorno (Hrsg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, Stuttgart 1969, S. 52. 89 Erg. K . Grimmer, L e g i t i m i t ä t u n d Legitimationsbedarf des Staates, i n : Die Neue Gesellschaft 1976, S. 335 ff. 70 Ch. Müller, Grundzüge des öffentlichen Rechts, Arbeitspapier, B e r l i n
5.5 Exkurs : Eigentum — Mitbestimmung — Wirtschaftsordnung
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hat i n den A r t . 151, 152, 153, 156, 157, 161 - 163 eine Reihe von korrigierenden Forderungen anklingen lassen. Solche Forderungen sind aber nur i m geringen Umfang i n explizite Verfassungssätze umgewandelt 7 1 . Staatliche Garantie des freien Erwerbs von Eigentum und die Garantie des erworbenen Eigentums war die Grundforderung der Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft 72 . Es ist dabei nicht selbstverständlich, daß Produktionsmitteleigentum, d. h. Eigentum an Sachen, das i n seiner Verwertung des Einsatzes lohnabhängiger Arbeit bedarf, ausschließlich der einen Seite, der Kapitalseite zusteht und i n dieser Weise eine Trennung von privatem Kapital und lohnabhängiger Arbeit durchgeführt w i r d 7 3 . Gesellschaftspolitisch war von Bedeutung, daß die Kombination von Eigentum schützendem Grundrecht, Prinzip des Gesetzesvorbehalts und der Gehorsamspflicht gegenüber dem Gesetz sowie Klassenwahlrecht zur Folge hatte, daß die durch die bürgerliche Staatstheorie erstmals postulierte absolute Gehorsamspflicht gegenüber dem Gesetz und der Obrigkeit politisch für das Bürgertum ungefährlich blieb, „ihre ganze Schärfe aber gegenüber der lohnabhängigen Arbeiterschaft geltend gemacht werden konnte. . . . Formell traf jeden die Pflicht zum absoluten Gehorsam, materiell, vom Inhalt der Gehorsamkeitspflicht her gesehen, war diese Pflicht ein Mittel, jeden Versuch der lohnabhängigen Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, außerhalb der Rechtsordnung zu stellen" 7 4 . Der Inhalt der Rechtsordnung aber war das überkommene Recht und das vom Parlament beschlossene Gesetz, die Mitwirkungsmöglichkeit i n der Gesetzgebung entsprach wiederum der unterschiedlichen sozialen Privilegierung. Das Grundgesetz postuliert i n seinem Normprogramm eine prinzipielle strukturelle Änderung, indem es der Gewährleistung von Eigent u m gleichrangig die Gewährleistung allgemeiner individueller Entfaltungsfreiheit gegenüberstellt, indem der normative Anspruch der Grundrechte die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen ist, indem die Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität gleiche Chancen 1975, S. 89. — P. Saladin, Unternehmen u n d Unternehmer i n der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, i n : W d S t R L , H. 35, B e r l i n 1977, S. 7 ff. (34 ff.) greift diese Entwicklungstendenzen auf u n d folgert, daß größere Unternehmungen als „machtbewehrte Organisationen" i n den Bereich des „öffentlichen" hineingewachsen sind. 71 Vgl. hierzu G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs v o m 11. 8.1919, 8. Aufl. (1938), Nachdr. Darmstadt 1960, S. 698. 72 Vgl. hierzu die Nachweise bei A. Podlech, Eigentum — Entscheidungss t r u k t u r der Gesellschaft, i n : Der Staat, 1976, S. 31 ff. (33 ff.) u. H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, Darmstadt 1975, S. 60 ff. 73 A. Podlech, S. 36. 74 A. Podlech, S. 41.
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5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
zur politischen Herrschaft verbürgen. Zunächst sind nicht Teil der Eigentumsgarantie — wie kurz ausgeführt — arbeitsrechtlich oder sonstwie begründete Direktionsgewalten über Menschen, auch wenn sie i n unmittelbarem Zusammenhang m i t der Nutzung von Eigentum stehen. Obwohl die arbeitsrechtlich aus dem Dienst- oder Arbeitsvertrag abgeleitete Direktionsgewalt inhaltlich nicht von der Rechtsmacht über die i n einem Betrieb organisatorisch zusammengefügten Güter getrennt werden kann, ist m i t Ekkehart Stein festzustellen, daß die soziale Macht über Personen, die mittelbar aus der Rechtsmacht über Güter folgen kann, durch die Eigentumsgarantie nicht geschützt wird. Sie kann daher der Gesetzgeber so regeln oder beschränken wie es i h m notwendig erscheint 75 , wobei diese Regelungskompetenz wiederum eingebunden ist i n die dargelegten Verfassungsprinzipien und Grundrechte, also insbesondere Begrenzungen und Gewährleistungsansprüchen aus A r t . 2, A r t . 3, A r t . 5 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3, A r t . 11, A r t . 12 GG unterliegt. Als Bestandteile des Eigentums wurden i m Anschluß an Podlech die Verfügungsbefugnis über Eigentumsmittel, die Aneignungsbefugnis an Produkten, welche m i t Hilfe von Eigentum erzeugt werden und die Entscheidungskompetenz über die Nutzung des Eigentums unterschieden 76 . Diese Elemente von Eigentum sind hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Gewährleistung und ihrer gesetzgeberischen Ausgestaltbarkeit i m Blick auf A r t . 14 GG und entsprechend ihrem sozialen Bezug i m Blick auf das Normprogramm des Grundgesetzes insgesamt zu beurteilen. I n die Verfügungsbefugnis über Eigentumstitel, einer Rechtsposition, kann rechtmäßig bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen durch das Rechtsinstitut der Einzelenteignung eingegriffen werden 7 7 . Die allgemeine Aneignungsbefugnis des Eigentümers an den Produkten, die m i t Hilfe der i n seinem Eigentum stehenden Güter durch gesellschaftliche Arbeit entstehen, w i r d durch A r t . 14 Abs. 1 GG — sieht man von der anders gelagerten Bestimmung des A r t . 86 Abs. 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft ab — nur insoweit garantiert, als sie unmittelbar verbunden ist m i t den i n Eigentum stehenden Gütern. A r t . 14 GG beinhaltet keinen Anspruch auf Überführimg gesellschaftlicher Arbeitsergebnisse i n das Privateigentum jener, welche die Produktionsgüter zur Verfügung stellen. 75
E. Stein, Lehrbuch des Staatsrechts, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 163. A. Podlech, Eigentum — Entscheidungsstruktur der Gesellschaft, S. 47; vgl. auch W. Däubler / U. Sieling-Wendeling / H. Welkoborsky, Eigentum u n d Recht, Darmstadt 1976, S. 212 ff. m. w. H. 77 Z u r Problematik von Eigentum u n d Entschädigung vgl. E.-W. Böckenförde, S. 321 m. w . H. 76
5.5 E x k u r s : Eigentum — Mitbestimmung — Wirtschaftsordnung
295
Zulässig ist also eine gesetzliche Regelung, welche entweder einen vermögenswirksamen Ausgleich für jenen Mehrwert, welcher durch gesellschaftliche Produktion geschaffen wird, vorsieht oder eine Regelung, wonach gemeinsames Eigentum jener an dem Mehrwert entsteht, die Güter zur Verfügung stellen oder durch ihre Arbeit einen Mehrwert produzieren. A r t . 14 Abs. 1 GG beinhaltet keine private Enteignungskomptenz an jenem „Mehrwert", der durch die Zurverfügungstellung von Arbeitskraft entsteht. Die Kompetenz zur Entscheidung über die Nutzung des Eigentums kann i n doppelter Hinsicht staatlich beschränkt werden, nämlich inhaltlich durch staatliche Veränderung der Marktdaten und durch Regelung des Entscheidungsverfahrens. Zur staatlichen Datendefinition gehört außer der klassischen Fiskalpolitik, besonders i m Steuer- und Zollbereich, die Anwendung aller makro-ökonomischen Steuerungsinstrumente, also insbesondere solche aufgrund des Bundesbank-, des Außenwirtschafts- und des Stabilitätsgesetzes. „Die Grenzen möglicher Regelungsbefugnisse des Gesetzgebers für die staatliche Datendefinition liegen i m Rechtsstaatsprinzip, insbesondere i n der Beachtung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, i n den Geboten der Geeignetheit und Erforderlichkeit, i m Übermaß- und Rückwirkungsverbot und gegebenenfalls i m Erfordernis des Vertrauensschutzes. Sie liegen nicht i n der Eigentumsgarantie 78 ." Diese Regelungskompetenz ist inhaltlich auch gebunden an die Verpflichtung staatlicher Organe, eine allgemeine Effektivität der Grundrechte und des Prinzips der Volkssouveränität zu vermitteln. Regelungen des Entscheidungsverfahrens betreffen auch die betriebliche und die überbetriebliche Mitbestimmung, welche beinhaltet, daß andere als Kapitaleigner am formellen Prozeß der Unternehmensentscheidung beteiligt werden. Betriebliche oder überbetriebliche Mitbestimmung von Arbeitnehmern i n den Entscheidungsverfahren sind jedenfalls insoweit nicht als Enteignung zu qualifizieren, als diese das Entscheidungsverfahren nicht mehrheitlich bestimmen. Aber auch die gleichberechtigte Mitbestimmung ist eine verfassungsrechtlich zulässige Regelung, um einen Ausgleich zwischen dem Anspruch auf freie, selbstverantwortliche Entfaltung der Person und dem Anspruch auf freie Verfügung über die eigene Arbeitskraft einerseits, das Eigentum an78 A. Podlech, S. 48; vgl. auch H. P. Bull, Die Staatsauf gaben nach dem Grundgesetz, S. 261 ff.; P. Badura, Verwaltungsrecht i m liberalen u n d i m sozialen Rechtsstaat, Tübingen 1966, S. 26; W. Däubler u. a., S. 216 ff. m. w. H.; erg. H. Spanner, Grundrechtsschranken f ü r wirtschaftslenkende Gesetze nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : H. Spanner / P . Pernt h a l e r / H . Ridder, Grundrechtsschutz des Eigentums, Karlsruhe 1977, S. I f f . ; problematisch ist eine staatliche L o h n - u n d Preisbestimmung, vgl. M. Schmidt-Preuss, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher L o h n - u n d Preisdirigismen, Baden-Baden 1977, S. 77 ff., 131 ff.
296
5. Grundelemente einer Grundgesetztheorie
dererseits herzustellen, u m die freiheitliche Struktur sozialer Beziehungen und u m gleiche Chancen bei der Gestaltung der politischgesellschaftlichen Ordnung zu vermitteln 7 9 . I n der Arbeit ebenso wie i n der Nutzung von Sachgütern vollzieht sich wesentlich die Entfaltung des Menschen. Der Anspruch auf freie Entfaltung der Person ist i n seiner grundgesetzlichen Gewährleistung für Kapitaleigner und Arbeitnehmer zumindest gleich. Das Grundgesetz bestimmt auch keine Priorität zwischen den A r t . 2, 12, 14 GG, i m Normbereich jedes Einzelgrundrechtes hat vielmehr das Normprogramm des Grundgesetzes insgesamt Geltung zu finden. Wenn Funktion der Grundrechte ist, soziale Beziehungen als freiheitliche zu strukturieren, dann sind auch i m Unternehmensbereich diese Beziehungen entsprechend auszugestalten. Kapital ohne Arbeit ist tot, Arbeit bedarf i n einer industrialisierten Gesellschaft des Kapitals, soll sie nicht verkümmern 8 0 . Eine mögliche Ausgestaltung ist die gleichberechtigte Mitbestimmung von Kapitaleigner und Arbeitnehmer, eine mögliche Ausgestaltung ist auch i m Rahmen des A r t . 15 GG die Herstellung von Gemeineigentum. Ziel der Ausgestaltung hat die gleichberechtigte, freie Entfaltungsmöglichkeit für die Person, hat die Ablösung von Herrschaftspositionen zu sein, welche sich aus Eigentum ergeben, um die Vermittlung von Macht allein i n demokratischen Verfahren zu legitimieren 8 1 . Ziele und Inhalte der Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik nach dem Grundgesetz können also nicht allein aus einem individualistischen 79 Ä h n l i c h i n der Argumentation, bezogen auf das Mitbestimmungsgesetz v o m 4. 5.1976, das BVerfG, vgl. BVerfGE v. 1. 3. 79, dort auch zur Rechtsprechung des BVerfG, auf die Entscheidung des BVerfG sei erg. hingewiesen. — A u f die umfangreiche L i t e r a t u r zum Mitbestimmungsgesetz 1976 ist hier i m einzelnen nicht einzugehen, vgl. etwa auf der Grundlage eines privatistischen Grundrechtsverständnisses P. Badura / F. Rittner / B. Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 u n d Grundgesetz, München 1977, insbes. S. 181 ff., 253 ff. m. w . Ν . ; N. Doehring, Verfassungsrechtliche Aspekte der Mitbestimmung, i n : B B 1978, S. 265 ff.; teilw. a. Α. P.-H. Naendrup, Mitbestimmung u n d V e r fassung, Darmstadt 1977; Th. Raiser , Das Unternehmen i n der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik nach dem Mitbestimmungsurteil des BVerfG, i n : J Z 1979, S. 489 ff. (S. 495). 80 Ähnlich, jedoch teilw. m i t anderer Begründung A. Podlech, S. 48 ff.; vgl. auch Th. Raiser , Paritätische Mitbestimmung i n einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, i n : JZ 1974, S. 273 ff. 81 Bezogen auf die größere Unternehmung als machtbewehrte Organisation k o m m t P. Saladin, S. 40 m. w . H. aufgrund staatstheoretischer Überlegungen zum Ergebnis, daß solche Macht immer rechtlich verantwortete Macht zu sein hat. Einschränkend aufgrund einer privatistischen Interpretation von A r t . 14 GG H.-J. Papier, Unternehmen u n d Unternehmer i n der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, i n : W d S t R L , H. 35, S. 56 ff., 87 ff. m . w . H . Erg. Th. Ramm, Die Mitbestimmung als T e i l der Arbeits- u n d Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland u n d der Deutschen Demokratischen Republik, i n : Festschrift f ü r K . Duden, München 1977, S. 440 ff. (459 ff.).
5.5 Exkurs: Eigentum — Mitbestimmung — Wirtschaftsordnung
297
und liberalrechtsstaatlichen Verständnis des A r t . 14 GG abgeleitet werden. Unter dem politischen Einfluß des Neo-Liberalismus sind die bürgerlichen Eigentumsgarantien immer weiter ausgebaut worden. Es ist auch versucht worden, die Verfassung so zu interpretieren, daß die Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik fundamental durch die Garantie des Privateigentums bestimmt werden, daß nur eine „soziale Marktwirtschaft" verfassungsgemäß ist 8 2 . Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber festgestellt, daß das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei 83 . Eine solche Feststellung erscheint i m Zusammenhang der hier dargelegten Funktion der Grundrechte und des Prinzips der Volkssouveränität als selbstverständlich. Die Wirtschaftsordnung ist an und für sich kein Grundelement der Verfassungsrechtsetzung, sondern verfassungsrechtliche Grundbestandteile der politischen Ordnung sind Gewährleistung von Freiheit, Herstellung eines sozialen Ausgleiches und Vermittlung gleicher Chancen der politischen Mitbestimmung. A n diesen Verfassungselementen und den Grundrechten i m einzelnen hat sich jede Wirtschaftspolitik zu orientieren 84 . I m Handlungsspielraum, welchen das Grundgesetz dem jeweiligen Gesetzgeber beläßt, ist es seiner Entscheidung überantwortet, i n welcher Form von Wirtschaftspolitik die Produktion von Gütern und ihre Umverteilung hergestellt werden. Diese Bindung an die genannten verfassungsrechtlichen Grundbestandteile konkretisieren letztlich auch A r t . 14 Abs. 2 S. 2 GG: Der Gebrauch des Eigentums soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Das Wohl der Allgemeinheit, soweit es verfassungsrechtlich konkretisierbar ist, w i r d bestimmt durch die genannten Verfassungsprinzipien, i m übrigen ist es politische Entscheidung, ein Allgemeinwohl gibt es nicht 8 5 . 82
1965.
Siehe H. C. Nipperdey,
Soziale Marktwirtschaft u n d Grundgesetz, K ö l n
83 BVerfGE 4, 17 ff.; 7, 400; 12, 363; 14, 275; erg. Th. Raiser , Das Unternehmen i n der verfassungsrechtlichen Ordnung, S. 489 f.; A. Bäumler, Abschied von der grundgesetzlich festgelegten „WirtschafteVerfassung", i n : D Ö V 1979, S. 325 ff. 84 Z u r Verdeutlichung der Problematik s. H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 94 ff.; erg. J. Isensee, Wirtschaftsdemokratie — W i r t schaftsgrundrechte — Soziale Gewaltenteilung, i n : Der Staat, 1978, S. 161 ff. 85 Das Eigentum wandelt sich so zu einer praktisch leistungsstaatlichen Sozialisierung geschichtlicher Freiheit. Eine stark restriktive Interpretation des A r t . 14 Abs. 2 n i m m t W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, B e r l i n 1972, S. 185 ff., 214 ff. vor; vgl. auch F. Klein, Eigentum, Enteignung, Sozialisierung u n d Gemeinwirtschaft i. S. d. Bonner Grundgesetzes, Tübingen 1972. Die soziale Bindung betont demgegenüber stärker E.-W. Böckenförde, Eigentum, Sozialbindung des Eigentums, Enteignung, S. 319, 322. — Z u m Gemeinwohlproblem allgemein vgl. H. H. v. Arnim, Gemeinwohl u n d Gruppeninteressen, F r a n k f u r t 1977, S. 22 ff.
6. Demokratie und Legitimation Volkssouveränität, Grundrechte u n d Mehrheitsprinzip sind die k o n stitutiven Elemente der freiheitlich demokratischen G r u n d o r d n u n g i m S i n n e des Grundgesetzes. D e m o k r a t i e u n d Rechtsstaat, u r s p r ü n g l i c h f o r m a l e W e i s e n d e r S e t z u n g u n d G e w ä h r l e i s t u n g v e r b i n d l i c h e n Rechts w e r d e n i m G r u n d g e s e t z m a t e r i a l i s i e r t , a n spezifische m a t e r i e l l e B e d i n gungen u n d Zustände gebunden. 6.1 M a t e r i a l e Demokratie D e r B e g r i f f D e m o k r a t i e i s t i m G r u n d g e s e t z so w e n i g d e f i n i e r t w i e d i e G r u n d r e c h t e . D e m o k r a t i e s t e h t w i e diese i n e i n e m h i s t o r i s c h e n K o n t e x t . D e r historische B e z u g h a t aber f ü r d i e Verfassungsrechtsi n t e r p r e t a t i o n n u r i n s o w e i t B e d e u t u n g , als er i n seiner S i n n b e s t i m m u n g f ü r d i e G e g e n w a r t k o n s e n s f ä h i g i s t : Dies i s t n i c h t d e r F a l l 1 . Es i s t deshalb n a c h d e n n o r m a t i v e n B e s t a n d t e i l e n des Grundgesetzes z u f r a gen, w e l c h e k o n s t i t u t i v f ü r D e m o k r a t i e s i n d 2 . A r t . 2 0 1 G G s t a t u i e r t zunächst, daß d i e B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d e i n d e m o k r a t i s c h e r u n d sozialer B u n d e s s t a a t ist, A r t . 2 8 1 G G b e s t i m m t entsprechend f ü r d i e verfassungsmäßige O r d n u n g i n d e n L ä n d e r n , daß 1
Z u Unterschieden begrifflicher K l ä r u n g H. Quaritsch, Demokratisierung — Möglichkeiten u n d Grenzen, i n : Demokratisierung — Möglichkeiten und Grenzen, E i n Cappenberger Gespräch, K ö l n u. B e r l i n 1976, S. 11, 35 m. w. H.; E. Denninger, Demokratisierung. Möglichkeiten u n d Grenzen, ebda. S. 45 ff. W. Leisner, Demokratie, B e r l i n 1979. — Grundlegend f ü r die nachfolgenden Erörterungen R. Bäumlin, Demokratie, i n : Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart. 2. A u f l . 1975, Sp. 362ff. m . w . N . ; F. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie u n d Anpassung, Konstanz 1970, insbes. S. 8 ff., 54 ff. m. w . N.; H. Peters, Geschichtliche E n t w i c k l u n g u n d Grundfragen der Verfassung, Berlin, Heidelberg, New Y o r k 1969, S. 164 ff.; W. v. Simson, Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, S. 3 ff. u. M. Kriele, Das demokratische P r i n zip i m Grundgesetz, S. 46ff., i n : W d S t R L , H. 29, B e r l i n 1971 jew. m . w . N . ; A. Gehlen, Demokratisierung, S. 179 ff.; H. Ryffel, Der demokratische Gedanke i m politischen u n d i m sozialen Bereich, S. 201 ff.; W. Geiger, Das Demokratieverständnis des Grundgesetzes, S. 229 ff., i n : Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Demokratie u n d Verwaltung, B e r l i n 1972; E. Stein, Staatsrecht, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 81 ff.; K . Hesse, Grundzüge des V e r fassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Heidelberg 1977, S. 54 ff. — Der Gesamtkomplex des Demokratiebegriffes u n d -Verständnisses k a n n hier nicht diskutiert werden, zu einzelnen Aspekten vgl. die Beiträge i n U. Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973. 2 So K . Hesse, Grundzüge Deutschland, S. 52 m. w . N.
des Verfassungsrechts
der
Bundesrepublik
6.1 Materiale Demokratie
299
diese den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats i m Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen müssen. Aus beiden Bestimmungen ergibt sich, daß die Verfassungsordnung insgesamt als eine demokratische deklariert w i r d und daß den Demokratiebegriff alle jene Verfassungselemente unmittelbar konstituieren, welche nicht allein den Begriffen sozial, republikanisch, Bundesstaat, Rechtsstaat zuzuordnen sind. Die additive Aneinanderreihung dieser Begriffe m i t dem Demokratiebegriff bedeutet aber nicht, daß diese verschiedenen Kennzeichnungen isoliert nebeneinanderstehen, nicht selbst Elemente des Demokratiebegriffes sein können. I m Gegenteil, die verfassungsrechtliche Grundordnung w i r d i n Art. 18, A r t . 21 Abs. 2, Art. 91 GG nur m i t dem Begriff freiheitlich-demokratisch gekennzeichnet. I m allgemeinen w i r d m i t dem Begriff der Demokratie eine spezifische Form staatlicher Willens- und Entscheidungsbildung verbunden, welche unmittelbar oder mittelbar durch das Volk legitimiert und kontrolliert ist 3 . Verfassungsrechtliche Elemente des Demokratiebegriffes, welche die Form der Entscheidungsbildung und Verbindlichkeitssetzung betreffen, sind insbesondere jene Verfassungsbestimmungen, welche die Konstitution der Organe der Gesetzgebung, politischen Kontrolle und Regierungsbildung sowie ihre Verantwortlichkeit und Verfahren regeln, also A r t . 20 Abs. 2, A r t . 21 Abs. 1, A r t . 38 Abs. 1, A r t . 39, A r t . 42 Abs. 1 u. Abs. 2, (Art. 50, 51) A r t . 54 Abs. 1, A r t . 63 und 67, A r t . 80 Abs. 1, A r t . 110 Abs. 2 u. Abs. 3 GG. Diese Vorschriften regeln i m wesentlichen die Bestellung von Repräsentativorganen des Volkes und ihre unmittelbare M i t w i r k u n g bei der Ausübung politischer Herrschaft. A r t . 18 GG stellt fest, daß Grundrechte, und zwar die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1), Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3), Versammlungsfreiheit (Art. 8), Vereinigungsfreiheit (Art. 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10), Eigentum (Art. 14), Asylrecht (Art. 16) v e r w i r k t werden können, wenn sie zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht werden, das gleiche gilt gem. A r t . 21 Abs. 2 GG für die Bildung und Tätigkeit der politischen Parteien. Diese Grundrechte sind nach dem Grundgesetz somit konstitutiv für die freiheitliche demokratische Grundordnung 4 . Der Zusammenhang zwischen Grund3 Vgl. beispielsweise K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München 1977, S. 453 ff. m. w. N. Ä h n l i c h R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, F r a n k f u r t 1972, S. 204 ff. m. w . H. 4 Hierzu W. v. Simson, Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, i n : W d S t R L , H. 29, B e r l i n 1971, S. 3 ff.
300
6. Demokratie u n d Legitimation
rechten und Demokratiebegriff kommt auch i n der Bezeichnung freiheitliche demokratische Grundordnung selbst zum Ausdruck, denn es ist — wie dargelegt wurde — gerade Funktion der Grundrechte, die freiheitliche Struktur sozialer Beziehungen, und es ist ihre Funktion i m Zusammenhang m i t dem Prinzip der Volkssouveränität, die material gleiche Chance i n der Bestimmung der konkreten politisch-gesellschaftlichen Ordnung zu gewährleisten. Jene sozialen Faktoren, welche die Fähigkeit und Möglichkeit zur politischen Entscheidungsbildung bedingen wie Information und Meinungsbildung, öffentliche Meinungsäußerung, Bildung von Interessengemeinschaften und organisierten Vereinigungen, sind gleichzeitig solche soziale Lagen und Beziehungen, welche von den Normbereichen der Einzelgrundrechte umfaßt werden, für deren Gestaltung durch staatliches Handeln der Verbindlichkeitsanspruch der Grundrechte gilt. Die Grundrechte gewährleisten ihrem Normthema und Normprogramm nach die freie Entfaltung der Person, ihre Ausstattung m i t ideellen und sachlichen Handlungsmitteln und -Spielräumen, die Kommunikations- und Vereinigungsfreiheit aller. Verfassungsrechtlich und politisch-praktisch existent ist diese Freiheit nur i n der staatlichen Ordnung. Der Gleichheit der Grundrechte für alle Aktivbürger stehen unterschiedliche Ansprüche und Interessen an der Konkretion der Grundrechte i n einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung gegenüber; der Gleichheit der Grundrechte für alle entsprechen unterschiedliche praktische Möglichkeiten und Fähigkeiten zu ihrer Umsetzung i n die faktische Staatsordnung. Faktisch ist die Fähigkeit zur Meinungs- und Willensbildung, zur Kommunikation, zur Darstellung politischer Meinungen, zur Organisation politischer Vereinigungen und zur M i t w i r k u n g i n ihrer Willensbildung abhängig von ideellen und sachlichen Handlungsmitteln, insbesondere von Bildung und Eigentum, abhängig vom sozialen Status, der Lebenssituation. Die Möglichkeit und Bedeutung von Demokratie als Form allgemeiner politischer Meinungskonkurrenz und Willensbildung ist i n der m i t ihr gegebenen und i n i h r enthaltenen Partizipationsmöglichkeit an staatlicher Ordnungssetzung für den einzelnen Staatsbürger unterschiedlich. Demokratie als Ordnungsform ist i n ihrer materialen Substanz abhängig vom sozialen Status und diesen bedingenden soziokulturellen und sozioökonomischen Faktoren. A l l e i n formale Demokratie tendiert dahin, sich zur Oligarchie zu entwickeln, Volkssouveränität zu einer formalen Legitimationsweise zu denaturieren. Die Explosivkraft dieses Spannungsverhältnisses für die Freiheitlichkeit der Staatsordnung als allgemeine und gleiche w i r d nach dem
6.1 Materiale Demokratie
301
Normprogramm des Grundgesetzes gebändigt durch den Effizienzanspruch der Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität m i t der Verpflichtung der Staatsorgane und der sie bestimmenden parlamentarischen Mehrheit auf die Gewährleistung einer allgemeinen und gleichen materialen Freiheitlichkeit der sozialen Beziehungen, auf die Gewährleistung real gleicher Chancen, zur politischen Mitbestimmung und zur Konkretion der Grundrechte i n einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Demokratie, zunächst formales Ordnungsmittel auf der Grundlage formaler Gleichheit der Wahlentscheidung, aber m i t einer unterschiedlichen Zuordnung und Verteilung ihrer materialen Ergebnisse ist i m Grundgesetz an eine materiale Gleichheit i n ihrer Willensbildung gebunden. Demokratie, zunächst ein M i t t e l zur Willens- und Einheitsbildung für ein Volk bei der Bestimmung seiner politisch-gesellschaftlichen Ordnung ist i m Grundgesetz material unterbaut, indem das Grundgesetz nicht nur Organisation und Prozesse der Willensbildung regelt, sondern auch einen Bestand materialer Bedingungen rahmenmäßig festlegt, welcher als Voraussetzung demokratischer Verfahren gewährleistet und i n diesen durchgehalten werden muß. Demokratie i m Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur ein bestimmtes Verfahren und eine bestimmte Organisation, mittels derer eine Mehrheit eine rechtlich verbindliche Ordnung für die staatlich verfaßte Gesellschaft setzen kann, sondern Demokratie ist ein material gebundenes Verfahren 6 . I m Demokratiebegriff treffen die grundlegenden Verfassungselemente der Volkssouveränität, des Mehrheitsprinzipes und der Grundrechte aufeinander und konstituieren staatliche Einheit 6 . Formale Verfahrens- und Kompetenzelemente 7 treten zusammen m i t materialen Elementen: der Gewährleistung individueller oder freigesellschaftlich organisierter Freiheit, der Verfügungsmöglichkeit über freiheitsstiftende M i t t e l wie Besitz und Bildung 8 , die Bindung solcher 5 Vgl. hierzu erg. P. Saladin, Grundrechte i m Wandel, Bern 1970, S. 330ff.; P. Häberle spricht i n diesem Zusammenhang i m Anschluß an M. D r a t h von Grundrechten als funktioneller Grundlage der Demokratie, als K o n n e x inhalte der Demokratie, P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, Karlsruhe 1962, S. 17 m. w. N.; vgl. auch insbes. hinsichtlich der Bedeutung von Selbstverwaltung f ü r Demokratie U. K. Preuss, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, Stuttgart 1969, S. 205 ff. Z u grundrechtlichen u n d verfassungsstrukturellen Bedingungen f ü r Demokratie vgl. auch U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, K ö l n u. Opladen 1978, S. 50, 57 ff. m. w . H.
• Ä h n l i c h H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, S. 35 ff. m. w . H.; erg. W. Abendroth, Über den Zusammenhang von G r u n d rechtssystem u n d Demokratie, i n : J. Pereis (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, F r a n k f u r t / M . 1979, S. 249 ff. 7 Diese Aspekte stehen vor allem bei W. v. Simson / M. Kriele, a.a.O. i m Vordergrund, vgl. insbes. M . Kriele, S. 75 ff.
302
6. Demokratie u n d Legitimation
Verfügungsmöglichkeiten i m Prinzip der Volkssouveränität an allgemeine und gleiche Chancen der Mitbestimmung der politischen Ordnimg 9 , die Ausgestaltbarkeit der politisch-gesellschaftlichen Ordnung durch die jeweilige Mehrheit, soweit eine Kompetenz für staatliche Organe gegeben ist, i n dem Rahmen, wie i h n Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität setzen. Dem Bundesverfassungsgericht kann zugestimmt werden, wenn es Demokratie bezeichnet als eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit aller. Grundprinzipien dieser Ordnung sind nach dem BVerfG: die Achtung vor den i m Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem dem Recht der Person auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip, die Chancengleichheit für die politischen Parteien und das Recht zur Bildung einer parlamentarischen Opposition und die Chancengleichheit für diese Opposition 10 . Als Bestandteile der freiheitlich demokratischen Ordnung materialisieren die Grundrechte den Demokratiebegriff, erweitern i h n zu einer inhaltlich bestimmten Staatsform 11 . Demokratie ist so nach dem Grundgesetz eine bestimmte A r t und Weise der Entfaltung der politischgesellschaftlichen Ordnung i n dem realdialektischen Verhältnis von Volkssouveränität, Grundrechten und Mehrheitsprinzip und realisiert gleichzeitig dieses Verhältnis i n konkreter offener Ordnung. Dieses Verhältnis ist nicht abschließend normiert und normierbar, nur die fundamentalen Gewährleistungsinhalte und die funktionalen Bezüge sind verfassungsrechtlich statuiert. Die konkrete Ausgestaltung und die verfassungsrechtlichen Anspruchslagen sind jeweils nur i m Blick auf die Faktizität der Verfassungsordnung zu bestimmen und von daher bestimmt, insgesamt sind sie aber konstitutiv für eine freiheit8 Vgl. hierzu P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, i n : W d S t R L , H. 30, B e r l i n 1972, S. 43 ff. (116 f.). 9 Erg. hierzu W.-D. Narr ! F. Naschold, Theorie der Demokratie, Stuttgart usw. 1971, S. 28 ff.; G. Lautner, Die freiheitliche demokratische Grundordnung, Kronberg 1978, S. 49 ff. 10 Vgl. etwa BVerfGE 2, 1 (12 f.); 4, 144 (151); 5, 85 (112, 140 f.). Allerdings werden auch v o m B V e r f G die formalen Elemente zu sehr betont u n d f u n gieren die Grundrechte stärker als Gewährleistungen einer staatsfreien Sphäre. 11 Der Begriff Staatsform bezeichnet hier nicht n u r eine bestimmte formale Ordnung, sondern den Zusammenhang der verschiedenen Strukturprinzipien i n der durch das Grundgesetz vorgezeichneten Staatsordnung. — (Zu V e r wendungsformen des Begriffs vgl. K . Stern, S. 411 m. w . H.).
6.1 Materiale Demokratie
303
lich-demokratische Grundordnung. Demokratie als politischer Prozeß ist so nach dem Grundgesetz als freier und offener Prozeß des ganzen Volkes 1 2 organisiert und materialisiert. Versuche zur Einschränkung des demokratischen Prinzips i n seiner grundgesetzlichen Festlegung, seine Reduktion auf formale Prozesse der Bildung verbindlicher Entscheidungen sind i n einer bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft häufig: Formal w i r d i m Demokratieprinzip die gleiche Chance zur Machtgewinnung postuliert. Die Chance ist aber nicht gleich aufgrund der gegebenen Verteilung von „Besitz und Bildung". I n einer formalen, historisch-positivistischen Interpretation der Grundrechte w i r d dann die Gewährleistung der faktischen Verteilung von Besitz und Bildung als Ausdruck individueller, vorstaatlicher Freiheit zum Inhalt der Grundrechte erklärt, zumindest w i r d ihr Effizienzanspruch auch i m Sinne eines Ausgleichsanspruchs geleugnet. Dieses Verfassungsverständnis trennt den formalen und den materialen Demokratiebegriff und stellt damit auch formale und materiale Legitimation des Staates i n Widerspruch zueinander, entzieht der formalen Legitimation die materiale Bedingung allgemeiner und gleicher Freiheit. Formal werden i m Wahlverfahren alle gesellschaftlichen Klassen und Gruppen integriert, i n der materiellen Verfassungswirklichkeit und i n der sie bestimmenden Legalität werden sie desintegriert, werden die faktische Verteilung von Eigentum und Bildung, die faktischen Möglichkeiten zur Organisation, A r t i k u l a t i o n und Durchsetzung von Interessen zur Grundlage gesellschaftlicher und staatlicher Macht. Die gewonnene Macht — formal demokratisch legitimiert — w i r d wiederum festgelegt auf eine solche formale Funktion der Grundrechte. Formale Gleichheit, formale Demokratie und damit formale Legitimation können aber allein keine staatlich-gesellschaftliche „Integration" und also keine allgemeine Legitimation eines Staates verbürgen. Denn der Staat ist nichts Vorgegebenes, er konstituiert sich nach dem Grundgesetz i n einer Gesellschaft, welche m i t den Grundrechten inhaltlich ihr Ordnungsgefüge bestimmt und m i t den grundrechtlichen Gewährleistungen einen Ausgleich zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität und dem Mehrheitsprinzip postuliert. Form und Inhalt des Demokratiebegriffes, formale und materiale Legitimation des Staates und die Bedeutung des Legalitätsprinzipes bilden auch den Hintergrund der Diskussion über die Funktion des Rechtsstaats- und des Sozialstaatsbegriffes i m Grundgesetz 13 . 12
So K. Hesse, S. 55, 63 ff. Vgl. zu dieser Diskussion die Beiträge i n E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968; i m übrigen siehe unter 5.4.2.3 u n d 5.4.3. 18
304
6. Demokratie u n d Legitimation
Vielfältig verdecktes Kernproblem dieser Diskussion ist die Frage, ob sich der Staat allein i n und durch seine rechtsstaatlichen Formen und grundrechtlichen Schutzpositionen legitimieren kann gegenüber einer als frei vorausgesetzten Gesellschaft oder ob i m Postulat der Sozialstaatlichkeit, der Demokratie und auch i n den Grundrechten letztlich das materiell zwingend gegebene Legitimationserfordernis dieses Staates normiert ist, welches nur durch soziale Leistungen, durch Herstellung allgemeiner und gleicher Freiheit und politischer M i t w i r kungsmöglichkeiten zu erfüllen ist, und so i m Prozeß sozialer und politischer Ordnung eine immer prekär bleibende materiale Legitimation dieses Staates ermöglicht. Die Diskussion u m Hechtsstaat und Sozialstaat hat nicht nur akademischen, verfassungstheoretischen Sinn. I h r kommt die gleiche Bedeutung einer Vorformung und Rechtfertigung von Wirklichkeit zu wie der Staatsrechtsdiskussion i n den 20er Jahren, i n welchen eben von der Staatsrechtslehre der formelle und materielle Anspruch der Weimarer Verfassung vielfältig gebrochen, ihr Legitimitätsanspruch i n einem bloß programmatischen Sinne entwertet wurde, so daß die Verfassung als normativer Rahmen für das Erstarken eines bürgerlichen Konservativismus und schließlich des Faschismus übrig blieb und dieser juristisch abgesichert wurde. Als verfassungstheoretisches Problem blieb die Frage nach der formalen und materialen Legitimation des Staates i n der Diskussion des Rechts- und Sozialstaatsprinzips offen. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Rechtsstaatliche Demokratie 1 4 meint die rechtliche Sicherung und Überprüfbarkeit des verfassungsrechtlichen Gewährleistungsgehaltes des Volkssouveränitätsprinzipes und der Grundrechte. Sie bedeutet auch, daß die Entfaltung des Mehrheitsprinzipes prinzipiell nur i n rechtlich formierter und überprüfbarer Weise geschehen kann 1 5 . 14
Z u m Begriff des Rechtsstaates i n diesem Zusammenhang u n d zum V e r hältnis von Demokratie u n d Rechtsstaat insbes. R. Bäumlin, i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 2041 ff.; W. Kägi, Rechtsstaat u n d Demokratie. Antinomie u n d Synthese, i n : Festgabe f ü r Z. Giacometti, Zürich 1953, S. 107 ff.; M. Imboden (Hrsg.), Gedanke u n d Gestalt des demokratischen Rechtsstaats, Wien 1965; 17. K . Preuss, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, S. 87 ff.; vgl. auch unter 5.4.3. 15 Erg. D. Rauschnig, Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht, Bad Homburg 1969. Eine einseitige Betonung des Rechtsstaatsbegriffes n i m m t G. Schnorr vor, w e n n er ausführt, „weder der Demokratiebegriff i m Sinne politischer Mehrheitsherrschaft noch das Gewaltenteilungsprinzip können nach dem Grundgesetz absolute Gültigkeit beanspruchen. Sie w e r den überschattet durch den Rechtsbegriff, der — von seiner ideologischen u n d systempluralistischen A n f ä l l i g k e i t befreit — als ein apriorischer Wesensbegriff i n Erscheinung t r i t t u n d i n der Verfassung selbst positiviert ist. U m dieses Rechtes w i l l e n muß sich selbst der Verfassungsgesetzgeber eine justizmäßige Kontrolle gefallen lassen. Der deutsche Rechtsstaat ist daher
6.2 Legitimationsfähigkeit des Staates nach dem Grundgesetz
3Ò5
I m B e g r i f f d e r sozialstaatlichen D e m o k r a t i e ist d i e G r u n d f u n k t i o n der G r u n d r e c h t e : S t r u k t u r i e r u n g sozialer B e z i e h u n g e n , G e w ä h r l e i s t u n g a l l g e m e i n e r u n d gleicher F r e i h e i t u n d d a m i t G e w ä h r l e i s t u n g sozialen Ausgleiches als B e d i n g u n g e n i n d i v i d u e l l e r E n t f a l t u n g u n d staatlich-gesellschaftlicher M i t b e s t i m m u n g zusammengefaßt. A u s z e i c h nendes M e r k m a l des Grundgesetzes ist es, daß dieses n i c h t e i n isoliertes S o z i a l s t a a t s p r i n z i p p o s t u l i e r t 1 8 , s o n d e r n d i e S o z i a l s t a a t l i c h k e i t eingef a n g e n i s t i n d i e rechtsstaatlichen S i c h e r u n g e n 1 7 u n d b e i d e E l e m e n t e d i e f r e i h e i t l i c h e D e m o k r a t i e 1 8 b i l d e n ; erst i h r e R e a l i s i e r u n g k e n n z e i c h n e t eine f r e i h e i t l i c h d e m o k r a t i s c h e G r u n d o r d n u n g . 6.2 I d e n t i t ä t u n d Nichtidentität zwischen gesellschaftlich herrschenden Interessen u n d der P o l i t i k der Staatsorgane — D i e Legitimationsfähigkeit des Staates nach dem Grundgesetz Das G r u n d g e s e t z i s t k e i n e statische O r d n u n g , d i e A b s t r a k t h e i t u n d O f f e n h e i t seiner G r u n d r e c h t e e r m ö g l i c h t es, daß Verfassungsrecht als dynamischer Prozeßregulationsmechanismus w i r k e n kann. I n den drei Elementen Souveränitätsprinzip, Mehrheitsprinzip Grundrechte ist die Offenheit der Verfassungsordnimg begründet,
und im
heute nicht mehr ein bloßer sozialer Seinsbegriff i m Sinne der bürgerlichliberalen Legalitätstheorie; er ist vielmehr ein materialer Normativbegriff, i n dem Staat u n d Recht i n einer ethischen Einheit zusammenfließen". G. Schnorr, Die Rechtsidee i m Grundgesetz, S. 48. 16 Vgl. hierzu P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, S. 8 ff.; E. Benda, Industrielle Herrschaft u n d sozialer Staat, Stuttgart 1966, S. 49 ff.; insbes. zur Bedeutung des Sozialstaatsprinzipes i n der Rechtsprechung W. Schreiber, Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes i n der Praxis der Rechtsprechung, B e r l i n 1972. 17 Vgl. hierzu zur grundsätzlichen Problematik U. Scheuner, Freiheitsrechte i m Sozialstaat, i n : AÖR, Bd. 95, S. 401; H. Peters, S. 195 ff.; P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, S. 43 ff. (94 ff.). Insgesamt auch D. Suhr, Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, i n : Der Staat 1970, S. 67 ff. 18 Grundlegend H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (1929), i n : ders., Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. 2, S. 461 f.; ders., Staatslehre, Leiden 1934, S. 120; W. Abendroth, Demokratie als I n s t i t u t i o n u n d Aufgabe (1955), i n : U. Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, S. 156 ff.; H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften, S. 6 f., 18. Ridder macht deutlich, daß A r t . 20, Abs. 1 G G nicht nur die i m Grundgesetz vertretenen Elemente demokratisch, sozial u n d bundesstaatlich bündelt, sondern daß diese Bündelung eine eigene konstitutiv-normative F u n k t i o n hat, welche auf die übrigen Verfassungsbestimmungen zurückwirkt. Das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes selbst sei dem Sozialstaatsgebot nicht übergeordnet, sondern gleichgeordnet — was auch den hier entwickelten Überlegungen entspricht, da diese beiden Verfassungselemente selbständig i m Grundgesetz konstituiert sind; vgl. auch ders., Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 35 ff., 144 ff. m. w. H.; erg. W. Leisner, Demokratie, S. 217 ff., Leisner mißt allerdings den sozial- u n d rechtsstaatlichen Elementen der Demokratie des Grundgesetzes zuwenig Gewicht bei. 20 Grimmer
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6. Demokratie u n d Legitimation
Souveränitätsprinzip und i n den Grundrechten ist die Kompetenz der Staatsorgane und ist die Mehrheitsherrschaft gleichzeitig gebunden, damit sich die staatlich verfaßte Gesellschaft i n einem offenen, dialektischen Prozeß und i n allgemeiner und gleicher Freiheit entfalten kann. Das Grundgesetz beinhaltet die Möglichkeit, ja es zwingt dazu, wenn sein normativer Anspruch anerkannt wird, die Legalität seiner Rechtsstaatlichkeit i n die allgemeine Legitimation des Staates einzubinden, i m Rechtsstaatsprinzip aber gleichzeitig die Nichtidentität von staatlichen Organen 19 und Gesellschaft zu wahren. Diese „Nichtidentität" ist i n der Bindimg der Mehrheitsgewalt und damit i n der Kompetenzstellung von Staatsorganen begründet. Die Verfassung garantiert zwar die Herrschaft der Mehrheit, aber diese hat nicht die Kompetenz, die konkrete Staatsordnung unbeschränkt nach ihren Anliegen, Interessen und Bedürfnissen zu gestalten. Die Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität begrenzen die Gestaltungskompetenz der jeweiligen Mehrheit sowohl negativ wie auch positiv. Aufgrund dieser verfassungsrechtlichen Bindungen kann das Handeln staatlicher Organträger unter Umständen nur partiell dem Handlungsinteresse der jeweiligen gesellschaftlichen Mehrheit entsprechen. Die Bindung an die Grundrechte und das Prinzip der Volkssouveränität einerseits, das Mehrheitsprinzip andererseits können so eine partielle Verselbständigung staatlicher Organträger gegenüber den faktischen Interessen i n der Gesellschaft ergeben. Dies auch deshalb, weil staatliches Organhandeln die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und die materiale Chancengleichheit i n der politischen Mitbestimmung auch gegenüber freigesellschaftlichen Aktivitäten zu wahren hat. H i e r i n ist letztlich auch verfassungspolitisch und politisch-praktisch die Legitimationsfähigkeit einer Mehrheitsherrschaft begründet, indem für jeden Staatsbürger die gleiche Chance zur politischen Mitbestimmung gewahrt zu bleiben hat. Eine partielle Nichtidentität kann auch i n der Differenzierung der Verwaltung i n unterschiedliche organisatorische Ausprägungen m i t unterschiedlichen Leistungsaufgaben für das sozioökonomische und soziokulturelle System begründet sein, denn dieser unterschiedlichen Aufgabenstellung entsprechen häufig eine selektive und differenzierte Zuordnung gesellschaftlicher Interessen; auf diese Weise finden partiell 19 Einen kurzen Überblick über die unterschiedlichen Versuche zur Rechtfertigung des Staates gibt R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl., München 1975, S. 278 ff.; zur E n t w i c k l u n g des Staatsbegriffs vgl. bei F. Erma cora, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1971, 1. Tlbd., S. 75 ff. m. w. H.; zur D a r stellung des Staates i n der Rechtsprechung des B V e r f G vgl. P. Badura, V e r fassung, Staat u n d Gesellschaft i n der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. 2, S. 1 ff. (S. 11 ff.).
6.2 Legitimationsfähigkeit des Staates nach dem Grundgesetz
307
auch unterprivilegierte Interessen Eingang i n die Entscheidungsfindungen und Gestaltungsprozesse i m politischen System. Die Verwaltung ist unmittelbar an das Prinzip der Volkssouveränität und die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 u. A r t . 20 Abs. 1 GG) gebunden 20 . Sie unterliegt eigenen Handlungspflichten 21 und einer eigenständigen Ausprägung und Dogmatik ihrer Handlungsformen 22 . Der Staat hat Subsysteme ausgebildet, welche i n ihrer Aufgabenstellung interessenorientiert und bezogen auf bestimmte wirtschaftliche und soziale Lagen sind: öffentlich-rechtliche Körperschaften und selbständige Anstalten wie Bundesbank, Rentenversicherungen, Krankenkassen, Bundesanstalt für Arbeit, Interessen- und Standesvertretungen (Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, A n waltskammern u. ä.), aber auch Ämter wie Sozialämter, Jugendämter usw. Solche Subsysteme müssen selbst den Ordnungsstrukturen des Grundgesetzes entsprechen 23 , da sie konstitutive Bestandteile des staatlichen Ordnungssystems sind. Eine übergreifende, aber vergleichbare Funktion haben auch die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, welche als Selbstverwaltungseinrichtungen kein allgemeines Staatsinteresse, sondern partikulare Interessen vertreten 2 4 . Der Staat legitimiert sich dabei nicht als solcher, sondern seine Organe legitimieren sich je für sich i n ihren Teilfunktionen durch ihre Leistungen, durch formelle Teilhabeverfahren (Parlament — Wahlen, Gerichte — rechtliches Gehör, Verwaltung — Anhörung und Einspruch) und durch die Formalisierung ihrer Entscheidungsprozesse. Sie vermitteln aber i n ihrer Zugehörigkeit zum politisch-administrativen System auch diesem selbst Legitimation. Nur die Verwaltung besitzt die erforderliche Kapazität zur Informationsbeschaffung und -Verarbeitung für Problemlösungen i n gesellschaftlichen Konfliktlagen. Der „Verwal20 Vgl. allgemein H.-W. Laubinger, Die V e r w a l t u n g als Helfer des Bürgers, S. 439 ff.; R. Herzog, Möglichkeiten u n d Grenzen des Demokratieprinzips i n der öffentlichen Verwaltung, S. 485 ff., beide i n : Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 50, Demokratie u n d Verwaltung, B e r l i n 1972. 21 Vgl. hierzu P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, S. 53 ff.; ders., öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 715; W. Schmidt, Organisierte E i n w i r k u n g e n auf die Verwaltung. Z u r Lage der Zweiten Gewalt, i n : W d S t R L , H. 33, B e r l i n 1975 m. w. H. 22 Z u r Problematik einer neuen Verwaltungsrechtsdogmatik vgl. insbes. W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, i n : W d S t R L , H. 30, B e r l i n 1972, S. 245 ff. (246 ff., 272 ff.) ; erg. O. Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, ebda., S. 193 ff. 23 Dieses Verfassungsverständnis hat auch auflösende W i r k u n g f ü r sog. besondere Gewaltverhältnisse, vgl. BVerfGE 33, 1 ff. (9 ff.). 24 Z u r Rechtsprechung des B V e r f G vgl. W. Weber, Selbstverwaltungskörperschaften i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, S. 331 ff.
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6. Demokratie u n d Legitimation
tung" obliegt es, praktisch-politischen Interessen gegenüber durch Leistung zu reagieren 26 , und i n diesen ihren A k t e n dem politischen System insgesamt Legitimation zu verschaffen und zu sichern. Ihre eigene partielle Verselbständigung w i r d zur Funktionsbedingung des politischen Systems. Ungenügende institutionelle Differenzierung und Repräsentation unterschiedlicher Interessen kann zur Ausbildung unmittelbar freigesellschaftlicher Aktionsmuster führen: Bürgerinitiativen 2 6 . Die Staatstätigkeit selbst ist funktionalisiert, die Einheit i n der Staatsperson ist aufgegeben 27 . I n dieser Funktionalisierung der Staatstätigkeit kommt auch ein Moment des Interessenausgleichs zur Geltung. Die Einheit der Staatsperson ist nicht mehr i n einem „Wesen" des Staates begründet 28 , sondern ist eine für juristische Zwecke brauchbare Rechtskonstruktion, für eine sozialwissenschaftliche Analyse aber unzutreffend. Aufgrund der partiellen Verselbständigung des Staates und staatlicher Subsysteme und Organe treten gesellschaftlich begründete Konflikte nicht nur zwischen Staat und gesellschaftlichen Klassen und Gruppen oder innerhalb der Gesellschaft i n Erscheinung, sondern auch zwischen verschiedenen staatlichen Organen und Institutionen entsprechend ihrer spezifischen Aufgaben- und Interessenorientierung. Insgesamt ergibt sich so für den Staat nach dem Grundgesetz eine mehrfache allgemeine Legitimationsfähigkeit: Legitimation aufgrund der Gewährleistung einer allgemeinen Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und der Chancengleichheit politischer Mitbestimmung; Legitimation aufgrund der möglichen Rechtfertigung politisch-programma25 Aus dem Beispielbereich staatlicher Leistungen durch Verwaltungshandeln vgl. U. Scheuner / A. Schule, Die staatliche Intervention i m Bereich der Wirtschaft, i n : W d S t R L , H. 11, B e r l i n 1951; ff. P. Ipsen/H. F. Zacher, V e r w a l t u n g durch Subventionen, i n : W d S t R L , H. 25, B e r l i n 1967; zur Problem a t i k der Planung als F o r m des Verwaltungshandelns bereits ff. Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 273. 26 Formen institutionell gesicherter Interessenrepräsentation sehen z.B. das BBauG u n d das StädtBFördG vor. — Z u r Bürgerinitiative als rechtspolitisches Problem vgl. P. C. Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung, Reinbek 1976 m. w. N. — Z u r Selektivität politisch-administrativer Prozesse vgl. D. Fürst, Kommunale Entscheidungsprozesse, Baden-Baden 1975. J. Breuer, Selbstverwaltung u n d M i t v e r w a l t u n g Beteiligter, i n : Die V e r w a l t u n g 1977, S. 1 ff. m. w. H. 27 Vgl. erg. E.-W. Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, i n : Festschrift f ü r H. J. Wolff, München 1973, S. 269 ff.; W. Schmidt, Organisierte E i n w i r k u n g auf die V e r w a l t u n g — Z u r Lage der zweiten Gewalt, S. 31 (Manuskr.); F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1970, Tlbd. 1, S. 875 ff. m. w . N. 28 Dies findet auch i n der Stellung des Bundespräsidenten seinen Ausdruck, welcher zwar den „Staat" repräsentiert, aber selbst gerade keine Kompetenzen hat, vgl. R. Weber-Fas, Z u r staatsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten, i n : Festschrift f ü r K . Duden, München 1977, S. 685 ff. m. w . N.
6.2 Legitimationsfähigkeit des Staates nach dem Grundgesetz
309
tischer A n s p r ü c h e i n d e n o f f e n e n G r u n d r e c h t e n ; L e g i t i m a t i o n a u f g r u n d einer I d e n t i t ä t staatlichen Organhandelns m i t jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen; L e g i t i m a t i o n d u r c h organisatorische oder m a t e r i e l l e L e i s t u n g e n e i n z e l n e r Staatsorgane oder V e r w a l t u n g s e i n h e i ten; Legitimation durch formalisierte u n d partizipative Verfahren. L e g i t i m a t i o n i m d e m o k r a t i s c h e n P r i n z i p insbesondere b e i n h a l t e t d i e These v o n d e r M ö g l i c h k e i t m a t e r i e l l gleicher C h a n c e n d e r M a c h t g e w i n n u n g . B e d i n g u n g d a f ü r i s t eine „ o f f e n e " , f r e i h e i t l i c h d e m o k r a tische u n d soziale Gesellschaft — d e n A n s p r u c h d a r a u f v e r b ü r g e n d i e G r u n d r e c h t e . F u n k t i o n d e r d u r c h sie v e r m i t t e l t e n L e g a l i t ä t ist es, Z i e l u n d I n h a l t sozialer V e r ä n d e r u n g e n festzulegen, u m d i e M ö g l i c h k e i t materialer Legitimation allgemein zu gewährleisten 29. A u f diese Weise h e b t sich a u f D a u e r i n e i n e r a l l g e m e i n f r e i h e i t l i c h d e m o k r a t i s c h e n O r d n u n g einerseits d e r Gegensatz v o n S t a a t u n d G e sellschaft auf, u m andererseits stets n e u z u entstehen. I n d e r p r i n z i piellen Negation aller der ökonomischen u n d soziokulturellen S t r u k turen, Positionen u n d Vorgänge, welche Freiheit verhindern, bleiben Staatsorgane e i g e n s t ä n d i g gegenüber d e r Gesellschaft u n d w i r d d e r S t a a t als e i g e n s t ä n d i g e r stets n e u b e f e s t i g t u n d b e g r ü n d e t 3 0 . Diese 29 E. Denninger, Demokratisierung — Möglichkeiten u n d Grenzen, S. 47 bezeichnet ähnlich das Problem der Demokratisierung als die Frage einer konkreten u n d differenzierten Zuordnung v o n Staat u n d Gesellschaft bzw. systemtheoretisch gewendet, als das Problem der Legitimationsbeschaffung, Rationalitätskontrolle u n d der Funktionalitätssicherung f ü r die Entscheidungen des politisch-administrativen Systems. Vgl. auch S. Neumann, Der demokratische Dekalog: Staatsgestaltung i m Gesellschaftswandel, i n : R. L ö w e n t h a l (Hrsg.), Demokratie i m Wandel der Gesellschaft, B e r l i n 1963, S. 11 ff. — Z u r Rechtsprechung des B V e r f G vgl. P. Badura, Verfassung, Staat u n d Gesellschaft i n der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, S. 6 f. 30 Der Unterschied Staat u n d Gesellschaft reduziert sich dabei nicht auf die Differenz von Political Society u n d Government i m Sinne H. Ehmkes (vgl. H. Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, i n : Festschrift f ü r R. Smend, B e r l i n 1962, S. 23 f f. (S. 45 f.)), da i m Staat als Summe organisatorischer u n d normativer politisch verbindlicher Veranstaltungen die Anliegen, Interessen u n d Bedürfnisse aller sozialen Klassen u n d Gruppen gleichermaßen abgebildet u n d relevant zu sein haben. — Vgl. hierzu auch E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen 1973, S. 28, 36, kritisch W. Schmidt, Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen zwischen staatlicher Herrschaft u n d gesellschaftlicher Macht, i n : AÖR 101/1976, S. 24ff.; E. Denninger, Freiheitsordnung — Wertordnung — Pflichtordnung, i n : J Z 1975, S. 545 ff.; erg. R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, F r a n k f u r t / M . 1971, S. 118 ff., 136 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart usw. 1966, S. 341 ff.; F. Ermacora, S. 331 ff. Der Gesamtkomplex der Differenzierung von Staat u n d Gesellschaft vor allem i m staatsrechtlichen Schrifttum u n d einer Identifizierung von Staat u n d Gesellschaft i m politikwissenschaftlichen Bereich k a n n hier nicht aufgearbeitet werden, vgl. die Beiträge i n E.-W. Böckenförde (Hrsg.), Staat u n d Gesellschaft, D a r m stadt 1976 m. w. H.; erg. K . Grimmer, Die F u n k t i o n der Staatsidee, i n : ARSP 1978, S. 63 ff. — Es erscheint bedenklich, von einer Krise des Staates zu sprechen, w i e es der Tenor der Schrift von E. Forsthoff, Der Staat der I n -
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6. Demokratie u n d Legitimation
Dialektik i n der Entwicklung von Staat und Gesellschaft i m Rahmen einer freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung 31 bedeutet nicht die unmittelbare Aufhebung des bürgerlich-kapitalistischen Staates, aber sie zielt auf seine ständige Transformation i n einen material freiheitlichen und demokratischen „Staat". I n der Anerkennung des realdialektischen Bezuges zwischen Grundrechten und Demokratie und i n der Anerkennung eines gemeinsamen Handlungszusammenhanges und i n zunehmender Realisierung einer „gewaltfreien Sprache" 32 kann eine freiheitlich demokratische Grundordnung endlich ihren letzten Geltungsgrund und ihre Legitimität erhalten, indem sich der Widerspruch von Staat und Gesellschaft, von Demokratie und Grundrechten aufhebt. Aufgrund der Diffusität und Differenziertheit gesellschaftlicher Verhältnisse i m bürgerlich-kapitalistischen Staaten beinhalten freiheitlichdemokratische Verfassungen scheinbar i n sich selbst einen Widerspruch: Der normative, Anspruch der Verfassung impliziert den Zwangscharakter der staatlichen Ordnung als Bedingung ihrer Effizienz. Gleichzeitig aber ist die Materialität der Verfassung, sind Demokratie und Grundrechte — die freie Entfaltung der Person, Meinungsund Informationsfreiheit, Freiheit der Religion und Weltanschauung — nur i n gewaltfreier Kommunikation und Interaktion als ihre eigenen Konstitutionsbedingungen und damit als Bedingungen freiheitlich demokratischer Grundordnung erfüllbar. 6.3 Demokratie als Bedingung u n d F o r m der Verfassungsauslegung
Es w i r d damit deutlich, daß Staat und Verfassung nicht als vorgegebene Begriffe bestehen. Die Offenheit der Verfassung 33 ist vielmehr als Aspekt ihrer Öffentlichkeit, der Öffentlichkeit Verfassungswirklichkeit konstituierender politischer Tatbestände zu betrachten, u m sie dustriegesellschaft, München 1971, ist. I n einer Ablösung befindet sich n u r das Staats Verständnis des 19. Jahrhunderts m i t seinem verfassungsrechtlichen Positivismus. 81 Erg. D. Göldner, Integration u n d Pluralismus i m demokratischen Rechtsstaat, Tübingen 1977, welcher v o n einem Prinzip systemtragender Verfassungsspannung gerade auch zur Wahrung des rechtsstaatlich-parlamentarischen Freiheitssystems spricht (S. 25) u n d dies i n einer Analyse des G r u n d gesetzes u n d des vorherrschenden Ordnungs- u n d Integrationsdenkens begründet; vgl. auch P. Badura, Staat, Recht u n d Verfassung i n der Integrationslehre, i n : Der Staat 1977, S. 305 ff. 32 Vgl. hierzu J. Habermas, Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 148 f. 33 Erg. hierzu P. Häberle, Diskussionsbeitrag, i n : W. v. S i m s o n / M . Kriele, S. 98 f.
6.3 Demokratie als Bedingung und F o r m der Verfassungsauslegung
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beurteilen zu können. Die Offenheit der Grundrechte i m besonderen bedingt die Bedeutung des Demokratieprinzips für ihre Konkretion. Effizienz der Grundrechte für alle ist aber wiederum Bedingung einer Effizienz des Demokratiepostulates. Beide Bereiche verfassungsrechtlicher Offenheit bedürfen der Öffentlichkeit. „Öffentlichkeit" ist so eine Grundform des demokratischen Prinzipes. Sie dient der Legitimation und der Kontrolle Staat konstituierender Willensbildungsprozesse und staatlicher Tätigkeit 3 4 . Die Dialektik von Grundrechten und Demokratiepostulat i n der entwickelten Begrifflichkeit beinhaltet i n ihrer normativen Relevanz eine Politisierung staatlichen und gesellschaftlichen Handelns; diese Politisierung reduziert den Gegensatz von öffentlich und Privat 3 5 , wie er ursprünglich einmal m i t der Konstitution der Freiheitsrechte als subjektiver Rechte gegenüber dem Staat begründet w a r 3 6 . Der Effizienzanspruch der Grundrechte und des Demokratiepostulates erledigt sich nicht — wie dargelegt wurde — i n einer nur formalen staatsbürgerlichen Mitwirkungsfreiheit, sondern erfaßt auch Zustand und Beschaffenheit gesellschaftlicher Strukturen und Positionen, — „der Staat braucht die sozialen Voraussetzungen für politische Freiheit" 3 7 . Staatliche und gesellschaftliche Freiheit sind dialektisch aufeinander bezogen. I n dem Maße, i n dem die Ausformung staatlicher Ordnung politisches Handeln ist, w i r k t auch die Formung der gesellschaftlichen Ordnung politisch, w i r d zu öffentlichem Handeln 3 8 und unterliegt dem Ordnungsanspruch des Grundgesetzes 39 , soll die Legitimationsfähigkeit des 34 I n diesem Zusammenhang steht auch die Publizitätspflicht der Gesetze u n d Verordnungen, vgl. hierzu R. Thoma, Vorbehalt des Gesetzes, S. 199 ff.; M. Drath, Der Verfassungsrang der Bestimmung über die Gesetzesblätter, i n : Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, München 1955, S. 237 ff. 35 Erg. hierzu K . Grimmer, Z u r D i a l e k t i k von Staatsverfassung u n d Gesellschaftsordnung, i n : ARSP, Bd. L X I I / 1 1976, S. 1 ff. (13 f.). 36 Vgl. hierzu allgemein M. Dirath, Das Gebiet des öffentlichen u n d des privaten Rechts, i n : Zeitschrift f ü r soziales Recht, 1931, S. 229 ff., wieder i n : ders., Rechts- u n d Staatslehre als Sozialwissenschaft, B e r l i n 1977, S. 11 ff.; U. K . Preuss, Die Internalisierung des Subjekts — Z u r K r i t i k der F u n k tionsweise des subjektiven Rechts, F r a n k f u r t / M . 1979, S. 117 ff., S. 282 ff. 37 E.-W. Böckenförde, S. 38. 38 Z u r begrifflichen Abgrenzung vgl. P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 211 ff.; ähnlich w i e hier A. Rinken, S. 273 ff.; H. Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften, S. 24 f.; einschränkend H. Peters, öffentliche u n d staatliche Aufgaben, i n : Festschrift f ü r H. C. Nipperdey, München u. B e r l i n 1965, Bd. 2, S. 877 ff., insbes. 879. — Peters differenziert entsprechend einer von i h m vorgenommenen Trennung Staat u n d Gesellschaft, er anerkennt aber, daß öffentliche Aufgaben zu staatlichen durch Geschichte, Weltanschauung oder praktische Erwägungen werden können. 39 Dies g i l t allgemein, insbesondere aber f ü r größere Unternehmungen — vgl. hierzu unter 5.5.1 u n d 5.5.3 u n d BVerfGE v. 1. 3.1979, 1 BvR 532/77 u. a. S. 84 ff. — u n d politisch relevante Verbände — vgl. G. Teubner, Organisa-
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6. Demokratie u n d Legitimation
politisch-gesellschaftlichen Systems nicht gebrochen werden 4 0 und soll der Anspruch des Grundgesetzes i n seiner Präambel, dem staatlichen Leben eine neue Ordnung zu geben, eingelöst werden. Dies ist auch der Rahmen, i n welchem Verfassungsauslegung als offener und allgemeiner Diskurs geschehen kann (vgl. unter 4.3). Das Grundgesetz enthält i n seinen Grundrechten und i n der Bestimmung der Strukturprinzipien staatlicher Ordnung keine konkrete, operationale Normordnung, es erklärt auch keine Theorie oder Methode der Verfassungsauslegung für verbindlich. Die Grundrechte bestimmen nicht konkretistisch eine bestimmte Staatsordnung. Ihre Offenheit erlaubt mehrere mögliche Ausgestaltungen i n der Praxis. Die Praxis muß aber immer so geordnet sein, daß sie die allgemein gleichen Chancen zur Grundrechtsrealisierung wahrt. Das Normprogramm der Grundrechte bestimmt den Rahmen dieser Verfassungspraxis. Das Grundgesetz setzt als Entscheidung des souveränen Volkes i n seinem Normprogramm die materialen Bedingungen, welche die Grundlage für den allgemeinen Diskurs der Grundrechtsauslegung bilden. Und weil die Grundrechte i n ihrer Offenheit mehrere Konkretionsformen ermöglichen, haben diese materialen Bedingungen ständige Verfassungspraxis zu bleiben, u m eben die Grundrechte und ihre allgemeine Auslegungsfähigkeit zu wahren. Grundrechtsauslegung und Grundrechtsrealisierung sind praktizierte Demokratie.
tionsdemokratie u n d Verbandsdemokratie, Tübingen 1978, S. 178 ff., 205 f., 312 ff.; K . Schelter, Demokratisierung der Verbände, B e r l i n 1976, S. 23 ff., 26 ff. m. w. H. — Das Prinzip der K o n f o r m i t ä t m i t dem Normprogramm des Grundgesetzes bedeutet nicht das Postulat des „totalen Staates", was auch i m Grundgesetz keine Entsprechung finden würde. — Z u r neueren Diskussion vgl. E. Denninger, Demokratisierung — Möglichkeiten u n d Grenzen, S. 64 ff. m. w. N. 40 Z u m Problem der „Demokratisierung" politisch-sozialer Subsysteme s. U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 46 f.; W. Hennis , Demokratisierung. Z u r Problematik eines Begriffes, K ö l n u. Opladen 1970; W. Leisner, Demokratie, a.a.O.; das Erfordernis der s t r u k t u rellen Homogenität w i r d i n beiden Schriften nicht genügend beachtet. Vgl. auch A. Schiile, Demokratie als politische F o r m u n d als Lebensform, i n : Festschrift f ü r R. Smend, Göttingen 1952, S. 321 ff.; C. J. Friedrich, Demokratie als Herrschafts- u n d Lebensform, 2. Aufl., F r a n k f u r t / M . 1966; K . Lange, A r t . Partizipation (Demokratisierung), i n : Evangel. Staatslexikon, Sp. 1779 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 471 ff. m. w. H.; H. Quaritsch IE. Denninger, Demokratisierung — Möglichkeiten u n d Grenzen, K ö l n u. B e r l i n 1976, S. 37. — Das Verfassungspostulat der „Demokratisierung" i m hier skizzierten Rahmen w i r d i n der Staatsrechtslehre n u r sehr zurückhaltend vertreten, dies mag mitbegründet sein i m überkommenen Verständnis des bürgerlich-liberalen Rechtsstaats u n d i n einer Ausrichtung an den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen.
7. Funktion der Verfassung und Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichtes Ein Normensytem ist sowohl i n seinem formalen als auch i n seinem materialen Regelungsgehalt nur soweit unmittelbar effektiv, wie es konsensfähig ist. I n einer Gesellschaft, i n welcher sich die Verteilung von „Besitz und Bildung", die Anliegen, Interessen und Bedürfnisse ihrer Mitglieder tiefgreifend unterscheiden, fehlt regelmäßig die allgemeine Konsensfähigkeit des konkreten materialen Regelungsgehaltes eines Normensystems, mag auch die formale Ordnung der Entscheidungsbildung und -durchsetzung akzeptabel sein. Das Grundgesetz erhält die Konsensfähigkeit des materialen Regelungsgehaltes durch seine Allgemeinheit und Abstraktheit. Es setzt voraus und anerkennt eine unterschiedliche Konkretionsmöglichkeit der Normen, insbesondere der Grundrechte. Die Offenheit dieser Normen ist selbst Ausdruck der i m Grundgesetz vorausgesetzten und gewährleisteten „pluralistischen Gesellschaft". Die Offenheit der Grundrechtsnormen bedeutet aber nicht Beliebigkeit für die konkrete Ordnung der Gesellschaft, sondern verpflichtet diese auf eine allgemeine freiheitliche und damit soziale Gestalt, auf die allgemeine Freiheitlichkeit der sozialen Beziehungen und die gleichen Chancen zur Konkretisierung des Normprogrammes des Grundgesetzes i n der staatlichen Herrschaftsordnung. 7.1 D i e Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichtes
Die Einhaltung des Normprogrammes einer Verfassung i n der politischen Praxis kann der demokratischen Auseinandersetzung anvertraut sein, wenn sich die Mitglieder der Gesellschaft i n „gewaltfreier Sprache" begegnen können, wenn die materialen Bedingungen für die demokratische Auseinandersetzung gleich sind. I n einer Gesellschaft, i n welcher aufgrund ihrer sozioökonomischen und soziokulturellen Struktur diese Voraussetzungen offenen Diskurses nicht gegeben sind, bedarf es der Gewährleistung des Normprogrammes. Der „Ausweg" der Rechtsordnung ist die Maßgeblichkeit der verbindlichen Entscheidung und Gestaltung und dies erweist sich sogar als notwendige Bedingung rechtsstaatlicher Ordnung. Die Entscheidungskompetenz liegt nach dem Grundgesetz letztlich beim Bundesverfas-
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7. F u n k t i o n der Verfassung
sungsgericht (Art. 93 GG) 1 , dies i n Anerkennung des Umstandes, daß ansonsten die herrschende Verfassungswirklichkeit jeweils sich selbst zum Verfassungsinhalt erheben würde. Die Entscheidungen des BVerfG sind verbindlich, sie sind nur durch das Gericht selbst i n der Entwicklung seiner eigenen Spruchpraxis 2 oder durch eine Verfassungsänderung revidierbar. Die Entscheidungen des Gerichts sind i n der Regel einzelfallbezogen. Die Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG ( § 3 1 BVerfGG) erstreckt sich auf die Verfassungsorgane von Bund und Ländern, sowie alle Gerichte und Behörden. Teilweise haben die Entscheidungen des BVerfG Gesetzeskraft: der gesetzeskräftige Teil der Entscheidungsformel ist durch den Bundesminister der Justiz i m Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen (vgl. § 31 I I i. V. m. § 13 Nr. 6, 11, 12 u. 14 und ggf. § 13 Nr. 8 a BVerfGG). Die Funktion des Bundesverfassungsgerichtes ist es, i n dem Spannungsverhältnis von Grundrechtsprinzip und Prinzip der Volkssouveränität einerseits und Mehrheitsprinzip andererseits den Effizienzanspruch des Normprogrammes des Grundgesetzes zu sichern. Gerade weil das Grundgesetz i n der Gewährleistung der Grundrechte und auch i n formalen Regelungen für die staatlichen Organträger und die parlamentarische Mehrheit weite Gestaltungsmöglichkeiten enthält, bedarf es der Grenzziehung für staatliches Organhandeln, soll das Normprogramm des Grundgesetzes nicht verfälscht werden. Die unterschiedlichen Konkretionsmöglichkeiten bedürfen der praktischen K o n f l i k t lösung, u m den Zusammenhang der Rechtsordnung zu wahren. Das Gericht hat nicht die Aufgabe eines Gesetzgebers und kann auch nicht anstelle anderer Staatsorgane, Gerichte und Behörden handeln 3 , — dies 1 E. Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik Deutschland, K ö l n 1963; G. Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, i n : Das Bundesverfassungsgericht 1951 - 1971, 2. Aufl., Karlsruhe 1971; K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl., Heidelberg 1977, S. 263 ff.; Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl., München 1977, S. 284 ff.; E. Denninger, Staatsrecht 2, Reinbek 1979, S. 195 ff.; einen umfassenden Überblick über die Stellung des B V e r f G enthalten die Beiträge i n Bd. I der Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Tübingen 1976 sowie die Beiträge i n P. Häberle (Hrsg.), V e r fassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976 u. Chr. Starck, Das Bundesverfassungsgericht i m politischen Prozeß der Bundesrepublik, Tübingen 1976; J. Delbrück, Quo vadis Bundesverfassungsgericht? Überlegungen zur verfassungsrechtlichen u n d verfassungsfaktischen Stellung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Festschrift für E. Menzel, B e r l i n 1975, S. 83 ff.; P. Häberle, Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, i n : J Z 1976, S. 377 ff. m . w . N . ; W. Fiedler, F o r t b i l d u n g der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht, i n : J Z 1979, S. 417 ff. m. w. N. 2 Erg. M. Sachs, Die B i n d u n g des Bundesverfassungsgerichts an seine eigene Spruchpraxis, München 1977. 8 Vgl. erg. D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit i m demokratischen Sy-
7.1 Die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichtes
315
w ä r e eine V e r l e t z u n g des P r i n z i p s der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t u n d des Mehrheitsprinzipes. Das B V e r f G k a n n n u r die Verfassungsmäßigkeit oder V e r f a s s u n g s w i d r i g k e i t des V e r h a l t e n s staatlicher Organe feststellen. D i e F u n k t i o n des B V e r f G ist f u n d a m e n t a l v e r k a n n t , w e n n sie beschränkt w i r d auf die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit oder der V e r f a s s u n g s w i d r i g k e i t p o s i t i v e r staatlicher Herrschaftsakte 4 . W e n n es A u f g a b e des Gerichtes ist, die R e a l i t ä t des N o r m p r o g r a m m e s des Grundgesetzes u n d die Effizienz der einzelnen G r u n d r e c h t e i n der staatlichen P r a x i s auf A n t r a g h i n z u p r ü f e n u n d z u gewährleisten, d a n n k a n n sich seine Entscheidungsgewalt n i c h t a l l e i n auf die Ü b e r p r ü f u n g p o s i t i v e n H a n d e l n s des Staates beschränken. V e r f a s s u n g s w i d r i g k e i t k a n n sich auch aus einer U n t ä t i g k e i t , e i n e m Unterlassen staatlicher Herrschaftsakte ergeben, w e n n f ü r den entsprechenden Sachbereich eine Organkompetenz nach d e m Grundgesetz besteht 5 . Gerade die U n stern, in: JZ 1976, S. 697 ff. m . w . N . ; E. Stein, Das Bundesverfassungsgericht als4 Ersatzgesetzgeber in: Gegenwartskunde 1975, S. 397 ff. Das BVerfG lehnt i m allgemeinen einen Anspruch auf gesetzgeberisches Tätigwerden ab, wenn nicht spezifizierte Handlungspflichten bestehen, h i l f t sich aber vielfach durch eine entsprechende Auslegung des Art. 3 GG vgl. dazu H. H. Rupp, Art. 3 GG als Maßstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, i n : Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. 2, S. 385 ff. 5 Das BVerfG hat i m allgemeinen Klagen wegen „Unterlassen" nicht zugelassen, da es nicht Aufgabe des Gerichtes sei, dem Gesetzgeber positiv Handlungsweisen vorzuschreiben; das Gericht suchte einen Ausgleich über die Interpretation von Art. 3 GG und über das Postulat verfassungskonformer Auslegung — vgl. BVerfGE 23, 249. „ E i n Recht zu schaffen, das dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, Gleichheit und Billigkeit entspricht, ist eine ewige Aufgabe des Gesetzgebers, an welcher der einzelne Staatsbürger nur durch die Ausübung des Wahlrechts mittelbar A n t e i l hat. Das Bundesverfassungsgericht ist keine gesetzgebende Körperschaft, und es ist sicher nicht seine Sache, sich an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen." BVerfGE 1, 97 (100 f.). I n der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court wurden die political-question-doctrine und die sogenannte preferred freedom-doctrine entwickelt, welche zum Inhalt haben, daß es nicht Sache des Supreme Court ist, politische Streitfragen zu entscheiden, daß es auch nicht Sache des Supreme Court ist, beispielsweise Gesetze i m wirtschaftlichen Bereich auf ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfen, sondern nur hinsichtlich „ W i l l k ü r " ; die Beseitigung bedrückender oder schlechter Wirtschaftsgesetzgebung sei der demokratischen Auseinandersetzung zu überlassen. Aufgabe des Gerichtes sei es aber, das Offenhalten des freien demokratischen Prozesses, i n dem beispielsweise eine solche Korrektur der Wirtschaftsgesetzgebung erzwungen werden kann, zu garantieren. (Vgl. hierzu H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, S. 437 ff.; ders., Prinzipien der Verfassungsinterpretation, i n : W d S t R L , H. 20, Berlin 1963, S. 53 ff. (77); R. Zuck, PoliticalQuestion-Doctrine, Judical-Self-Restraint und das Bundesverfassungsgericht, in: JZ 1974, S. 361 ff.; erg. U. Scheuner, Grundgesetz, in: AöR Bd. 95, S. 353 ff. (380 ff.). Die hier vorgenommene Funktionsbestimmung für das Bundesverfassungsgericht beinhaltet nicht, daß es als „Gesetzgeber" tätig wird, sie beinhaltet aber, daß es eine Handlungspflicht des Gesetzgebers feststellt, wenn beispielsweise der Garantieanspruch der Grundrechte durch gesellschaftliche Entwicklungen für einzelne oder für soziale Gruppen und Klassen
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7. F u n k t i o n der Verfassung
tätigkeit staatlicher Organe kann — wie dargelegt wurde — eine tiefgreifende Minderung verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechtsstellungen einzelner Bürger oder von sozialen Vereinigungen bewirken. Das Gericht kann allerdings nur eine inhaltlich rahmenmäßig gebundene Handlungspflicht statuieren 6 , andernfalls würde es das Prinzip der Volkssouveränität und das Mehrheitsprinzip selbst verletzen, w i r d dieser nicht nachgekommen, liegt ein Verfassungsbruch durch das angesprochene Staatsorgan vor. Diese Entscheidungskompetenz des BVerfG bedeutet nicht die A u f hebung der Offenheit der Grundrechte, sondern nur Gewährleistung jener grundgesetzlichen Rechtsstellungen, welche Bedingung für die Offenheit der Grundrechte sind, damit sich die konkrete politischgesellschaftliche Ordnung i n einem offenen Diskurs entfalten kann 7 . Die Offenheit ist an sich auch nicht aufhebbar, sie ist — wie dargestellt — konstitutiv für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung und für die Verwirklichung des i m Grundgesetz enthaltenen Programmes einer realen sozialen Integration, das heißt einer offenen Gesellschaft, i n welcher ihre Mitglieder i n der Lage sind, ihre Interessen zu artikulieren und ihre Konflikte zu diskutieren und auszutragen, welche eine freie und gleiche, demokratische und solidare Gesellschaft ist. 7.2 K r i t e r i e n f ü r die B i l d u n g der Entscheidungsnorm: die analytisch-finale Methode
I m Zusammenhang m i t der Rechtsprechungsgewalt des BVerfG stellt sich noch einmal die Frage, was ist der konkrete Inhalt einer Verfassungsnorm für eine bestimmte soziale Situation, was kann Inhalt der Entscheidungsnorm des Gerichtes sein und wie ist diese begründbar. Die Entscheidungsfindung des Gerichtes steht unter den allgemeinen, i n Teil I I dargelegten normlogischen und methodischen Schwierigkeiten. Grundrechte, Menschenrechte als abstrakt-allgemeine Normen bedürfen der Transformation i n konkrete normative Gebote, u m gesellschaftlich wirksam zu werden. Zur Ermittlung ihres hermeneutischen Sinnes und ihres konkret nomativen Gehaltes hat die Rechtswissenschaft — wie angeführt wurde — unterschiedliche Interpretationsververletzt ist. Es ist eine Frage der Konsensfähigkeit der Verfassung, ob der Gesetzgeber einer solchen Auflage zur Handlung nachkommt. Lehnt er es ab, k a n n das Gericht zwar ein verfassungswidriges Verhalten feststellen, i m übrigen handelt es sich aber dann u m einen Verfassungsbruch. 6 Auch bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit positiver staatlicher Entscheidungen legt das Gericht dem angesprochenen Staatsorgan eine Handlungspflicht auf, entweder die beanstandete Entscheidung zu u n terlassen oder eine andere Entscheidung zu treffen. 7 Vgl. insgesamt M. Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : W d S t R L , H. 9, B e r l i n 1952, S. 17 ff.
7.2 K r i t e r i e n der Entscheidungsnorm
317
f a h r e n e n t w i c k e l t : philologische, historische, systematisch-logische u n d teleologische. Diese V e r f a h r e n h a t sie z u b e g r ü n d e n v e r s u c h t i n G e setzes« u n d A u s l e g u n g s t h e o r i e n : s u b j e k t i v e n u n d o b j e k t i v e n 8 . So v e r schieden d i e T h e o r i e n u n d M e t h o d e n sind, m i t i h n e n s i n d k e i n e e i n d e u t i g e n Ergebnisse als i n t e r s u b j e k t i v a l l g e m e i n v e r b i n d l i c h z u g e w i n n e n . D i e Ergebnisse s i n d v i e l m e h r i m j e w e i l i g e n I n t e r p r e t a t i o n s r a h m e n v o r n e h m l i c h b e g r ü n d e t u n d g e r e c h t f e r t i g t i n d e r Sozialisation, i m V o r v e r s t ä n d n i s u n d i n d e r Standessprache d e r J u r i s t e n 9 u n d eben i n d e r E n t s c h e i d u n g f ü r eine I n t e r p r e t a t i o n s m e t h o d e . Das G r u n d g e s e t z b e s t i m m t n i c h t die k o n k r e t e u n d s i t u a t i o n s s p e z i fische A u s g e s t a l t u n g e i n e r politisch-gesellschaftlichen O r d n u n g , sond e r n n u r d i e G r u n d l a g e n des O r d n u n g s s y s t e m s i n seiner S t r u k t u r , K o m p e t e n z v e r t e i l u n g u n d L e g i t i m a t i o n s v e r m i t t l u n g . A l s F u n k t i o n des Grundgesetzes w u r d e festgestellt, d i e Prozesse staatlich-gesellschaftl i c h e r O r d n u n g z u s t r u k t u r i e r e n u n d z u regeln, p o l i t i s c h e H a n d l u n g s e i n h e i t z u b i l d e n 1 0 , solche sozialen L a g e n f ü r I n d i v i d u e n u n d f r e i g e s e l l schaftliche V e r e i n i g u n g e n z u g a r a n t i e r e n , w e l c h e d i e G e w ä h r l e i s t u n g i h r e r Rechte a u f gleiche F r e i h e i t i n d e r i n d i v i d u e l l e n E n t f a l t u n g u n d gleiche C h a n c e n i n d e r M i t b e s t i m m u n g d e r s t a a t l i c h e n O r d n u n g , w e l c h e die F r e i h e i t l i c h k e i t sozialer B e z i e h u n g e n b e i n h a l t e n . Z w i s c h e n V e r f a s 8 Vgl. hierzu die Ausführungen unter 4.2; erg. R. Schlothauer, Neuere A n sätze zur Methodik der Verfassungsinterpretation, K ö l n 1979. 9 Vgl. hierzu allgemein J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung, F r a n k f u r t / M . 1970; H. Brinckmann, Juristische Fachsprache u n d Umgangssprache, i n : ÖVD 1972, S. 60ff.; — i m übrigen siehe unter 4.3.1. 10 E. Forsthoff schreibt, „die Verfassung ist ein Gesetz, das durch bestimmte Entscheidungen einen bestimmten Zustand politischer Gesamtordnung festlegt. Es ist also ein politisches Gesetz u n d muß als solches erkannt u n d ausgelegt werden. . . . Vielleicht w i r d m a n dem entgegenhalten, daß hier der Entscheidungscharakter der Verfassung überbetont w i r d . Dem ist jedoch nicht so. Das Verfassungsrecht aktualisiert sich n u r einmal i n der Entscheidung. Wer das Entscheidungsmoment aus der Verfassung elimiert, spielt es unvermeidlich den Verfassungsinterpreten i n die Hände". E. Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961, S. 38, 39. Forsthoff ist nicht zuzustimmen, w e i l die Verfassung keine einmalige Entscheidung beinhaltet, sondern sie statuiert die Bedingungen, welche erforderlich sind, damit ein Staat sich als freiheitlich-demokratischer entfalten kann, i n welchem die Freiheit der I n d i v i d u e n u n d sozialen Vereinigungen u n d i n dem die Chancengleichheit i n der Mitbestimmung der politischen Ordnung gewährleistet u n d welcher deshalb auch fundamental ein Sozialstaat ist. Vgl. gegenüber Forsthoff auch K . Hesse: „Durch ihre sachliche F i x i e r u n g w i e auch durch die Festlegung des staatlichen Aufbaues u n d die verfassungsmäßige Regelung des Prozesses politischer Einheitsbildung u n d staatlichen Wirkens konstituiert die Verfassung staatliche Einheit, gibt sie dem Leben des Gemeinwesens Form, sichert sie überpersonale K o n t i n u i t ä t u n d w i r k t sie darum stabilisierend. Zugleich macht sie dadurch politische Einheitsbildung u n d staatliches W i r k e n einsehbar u n d verstehbar, ermöglicht sie bewußte A n teilnahme, bewahrt sie vor einem Rückfall ins Ungeformte u n d Undifferenzierte u n d w i r k t sie darum rationalisierend." K . Hesse, Grundzüge des V e r fassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 14 m. w . N.
318
7. F u n k t i o n der Verfassung
sungsrecht u n d S o z i a l s t r u k t u r besteht e i n realdialektisches V e r h ä l t n i s 1 1 , zwischen d e n P r i n z i p i e n d e r V o l k s s o u v e r ä n i t ä t , d e n G r u n d r e c h t e n u n d dem Mehrheitsprinzip ein dialektischer, normlogischer Zusammenhang, w e l c h e r d i e S t r u k t u r des politisch-gesellschaftlichen Systems d e f i n i e r t . Dieser B e f u n d b e d e u t e t k e i n e „ K r i s e d e r r e c h t l i c h e n V e r f a s s u n g " 1 2 , s o n d e r n n u r d i e K r i s e statischer, i d e a l t y p i s c h e r Verfassungsmodelle, welche sich ausschließlich a m b ü r g e r l i c h - l i b e r a l e n Rechtsstaat des 19. J a h r h u n d e r t s o r i e n t i e r e n 1 8 . A l s K o n s t a n t e f ü r d i e B i l d u n g d e r E n t s c h e i d u n g s n o r m e r w e i s e n sich d e r G e l t u n g s a n s p r u c h des N o r m p r o g r a m m e s u n d der E i n z e l n o r m e n des Grundgesetzes i m d a r g e l e g t e n S i n n u n d die O f f e n h e i t d e r V e r f a s s u n g als eines i h r e r r e c h t l i c h v e r b i n d l i c h e n S t r u k t u r p r i n z i p i e n . I n j e d e r E n t s c h e i d u n g des B V e r f G i s t deshalb d i e i m N o r m p r o g r a m m i n t e n d i e r t e a l l g e m e i n e F r e i h e i t l i c h k e i t sozialer B e z i e h u n g e n u n d d i e gleiche Chance z u r p o l i t i s c h e n M i t b e s t i m m u n g z u w a h r e n , w a s auch b e i n h a l t e t , verschiedene n o r m l o g i s c h g l e i c h g ü l t i g e K o n k r e t i o n e n v o n Grundrechtsnormen i n die politische Meinungs- u n d Entscheidungsbildung einbringen zu können. 11 Siehe hierzu auch — ohne daß die Ergebnisse übernommen werden können — D. Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale Struktur, 3. Aufl., Zürich 1950, insbes. S. 7 ff., 13 ff., 133 ff. 12 So W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, S. 9 ff., vgl. aber auch daselbst zum Verfassungsrecht als „ p o l i tischem Recht" u n d zum Verhältnis von Verfassung u n d Demokratie, S. 127 ff., 152 ff. 13 I n der Verfassungslehre können unterschiedliche Ausprägungen unterschieden werden: Die Kennzeichnung einer Verfassung als Instrument zur Kontrolle des Machtprozesses, als eine liberale Ausformung, so Löwenstein, als Rechtssätze, welche i m Prozeß des staatlichen Lebens Integration zu verm i t t e l n versuchen, so Smend, als materiale Ordnung, welche sich gründet auf einem „ o b j e k t i v e n Reich" der Werte als Ausdruck einer liberalen Staatsvorstellung, so Kägi, als konkrete politische Realität u n d als Grundentscheidung über A r t u n d F o r m der politischen Einheit, so Schmitt (welche Aussagen die Gefahr einer Auflösung i n einem politischen Machtdezisionismus beinhalten), schließlich aber auch Verfassung als staatliches Element verfassungsrechtlicher N o r m a t i v i t ä t einerseits, welche sich i n der D y n a m i k des Geschichtsverlaufs auflöst, wobei das positive Recht letztlich identisch ist m i t dem Prozeß seiner Verwirklichung, so B ä u m l i n ; — diese Beispiele mögen das Spektrum des Verfassungsbegriffs verdeutlichen, vgl. zum Überblick K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, S. 51 ff. m. w. H.; P. Badura, A r t . Verfassung, i n : Evangel. Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1975, Sp. 2708 ff.; Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 28 ff. m. w. H.; K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 11; sowie die Beiträge i n M. Friedrich, Verfassung, Darmstadt 1978. — Z u r marxistisch-sozialistischen Interpretation vgl. H. Klenner, Studien über die Grundrechte, Berlin-Ost 1964, insbes. S. 48 ff., 101 ff. — I n der Verfassungslehre steht vielfach die einheitsbildende u n d die entscheidungslegitimierende F u n k t i o n i m Vordergrund, dies ist eine einseitige Betrachtung, die Verfassung einer freiheitlichen Demokratie zielt gerade auf Erhaltung eines Spannungsverhältnisses, vgl. auch D. Göldner, Integration u n d Pluralismus i m demokratischen Staat, Tübingen 1977 m. w. H.
7.2 K r i t e r i e n der Entscheidungsnorm
319
Für die Bestimmung der Einzelnorm ergeben sich aufgrund der hier entwickelten Grundgesetztheorie bestimmte methodische Anforderungen. Die Methode der Entscheidungsfindung muß zunächst hermeneutisch linguistisch sein, u m den möglichen semantischen Gehalt eines Grundrechtssatzes, die zu diesem Grundrechtssatz möglichen Paraphrasen i n der Umgangssprache — jedoch nicht nur jene einer „bürgerlichen Öffentlichkeit" — zu ermitteln. Die Ermittlung der normlogisch möglichen Inhalte einer Einzelnorm hat von der sprachlichen Formulierung der Einzelnorm auszugehen und den zulässigen Sprachrahmen zu entwickeln. Sie hat die normlogisch mögliche Interpretation auf die Vereinbarkeit m i t dem Geltungsanspruch anderer Grundrechtsnormen i m Anwendungsbereich und auf die Vereinbarkeit m i t dem Normprogramm insgesamt zu prüfen und die normlogisch zulässigen Interpretationen festzustellen 14 » 15 . Die Methode der Entscheidungsfindung muß analytisch sein, das heißt sie muß die A r t und Weise der Verfassungswirklichkeit feststellen, sie muß die faktischen und normativen Interdependenzen zwischen sozialen Situationen und Ordnungsgehalt einzelner Grundrechte klären 1 6 . Die Methode der Entscheidungsfindung muß final sein. Sie muß ausgehen vom Normprogramm des Grundgesetzes und muß feststellen, ob die Realisierung einer bestimmten Verhaltensregelung oder ob das Unterlassen einer rechtlichen Regelung unmittelbar oder mittelbar den politisch-gesellschaftlichen oder den individuellen Gewährleistungsgehalt des Normprogrammes des Grundgesetzes und eine Einzelnorm verletzen 17 . Die Methode der Entscheidungsfindung hat so Ergebnisse 14 Z u r Methodik vgl. W. Kilian, Juristische Entscheidung u n d elektronische Datenverarbeitung, F r a n k f u r t / M . 1974, S. 167 ff. m. w. H. 15 Z u r Methodik der „ A b w ä g u n g " des BVerfG u n d zu den Möglichkeiten ihrer theoretischen Strukturierung B. Schlink, Abwägung i m Verfassungsrecht, B e r l i n 1976, insbes. S. 192 ff. m. w. H.; zur F o r m a l s t r u k t u r einer E n t scheidung m i t Ungewißheit vgl. W. Kilian, Juristische Entscheidung u n d elektronische Datenverarbeitung, S. 162 ff. m. w . N. 16 Es k a n n davon ausgegangen werden, daß Handeln durch Werte u n d Zwecke bestimmt w i r d . Die reine „Zweckrationalität" als alleinige Programmform u n d also auch Interpretationsform versagt aber, w e n n das p o l i tische System aus gesellschaftlichen Bindungen teilweise herausgelöst u n d verselbständigt ist. Die Zweck-Mittel-Orientierung verliert m i t dem Übergang zum Rechtsstaat u n d zur Ausbildung eines umfangreichen Verfassungsgesetzes, welches i n sich kein System ist, aber aufgrund seines eigenen Z u sammenhanges den seinen Entscheidungen entsprechenden Zusammenhang i m gesellschaftlichen System herstellen w i l l , an Bedeutung. Die Zweckbetrachtung hat aufzugehen i n einer „Systemrationalität" — vgl. hierzu, vor allem unter Bezugnahme auf das Verwaltungsrecht, N. Luhmann, Zweckbegriff u n d Systemrationalität, Tübingen 1968, insbes. S. 19 ff., 58 ff., 115 ff., 183 ff.; erg. H. P. Dreitzel, Rationales Handeln u n d politische Orientierung, i n : Soziale W e l t 1965, S. 1 ff. (5, 13, 17). 17
Z u r methodischen Problematik vgl. W. Kilian,
Juristische Entscheidung,
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7. F u n k t i o n der Verfassung
sozialer Handlungstheorien 18 zu berücksichtigen, soweit es darauf ankommt, nomologische Aussagen oder zumindest begründete Vermutungen über soziale Folgen staatlichen oder gesellschaftlichen Handelns oder Unterlassens i m Normbereich von Grundrechten zu bestimmen. Die Methode der Verfassungsinterpretation, welche sich aus der Theorie des Grundgesetzes ergibt, kann als eine analytisch-finale bezeichnet werden, sie ist praxisbezogen. Eine Grundrechtsinterpretation auf der Grundlage der hier dargelegten Grundgesetztheorie hat sinnvollerweise nicht zu fragen, was ist Menschenwürde, freie Entfaltung der Person, Eigentum usw., sondern was heißt Menschenwürde, freie Entfaltung der Person, Eigentum i n und für verschiedene individuelle und soziale Situationen, welche mögliche Bedeutung kann realisiert werden, damit die gleiche Freiheit i n der Entfaltung der Person, i n der Bildung und Betätigung frei-gesellschaftlicher Vereinigungen, damit die Freiheitlichkeit sozialer Beziehungen und die gleichen Chancen zur Konkretion von Grundrechten, zur Bestimmung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung gewährleistet sind. I n diesem Zusammenhang enthält die Verfassung auch Argumentationslastregeln 19 . Diese Elemente einer Methodik liefern immer nur Beurteilungskriterien, Aspekte logisch möglicher und praktisch zulässiger Konkretionen. Sie führen zu Interpretationsergebnissen, für welche eine verfassungsrechtliche Gültigkeit gegeben, eine intersubjektive Gültigkeit herstellbar ist. Eineindeutigkeit i m Sinne verfassungsrechtlicher Verbindlichkeit und intersubjektiver Geltung ist aber i n der Verfassungsinterpretation als Konkretion politischer Ordnung nicht möglich. I m Rahmen der möglichen und zulässigen Verfassungskonkretion entscheidet letztlich das BVerfG über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit eines bestimmten Tuns oder Unterlassens staatlicher Organe m i t dem Grundgesetz 20 , indem es seine Interpretationsnorm als EntscheidungsS. 211 ff. m. w . H.; B. Schlink, Abwägung i m Verfassungsrecht, B e r l i n 1976, S. 117 ff. 18 Vgl. hierzu A. Görlitz, Z u einem Konzept rationaler Politik, i n : PVS 1972, S. 64ff.; u n d bei N. Luhmann, a.a.O.; R. Dreitzel, a.a.O., m . w . N . — Die Erklärungsfunktion von Theorien beinhaltet selbst spezielle Probleme, welche hier nicht zu behandeln sind. 19 Z u den Grundrechten insbesondere als Argumentationslastregelung vgl. A. Podlech, Gehalt u n d F u n k t i o n des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, B e r l i n 1971, S. 87 ff., 90, insbes. i m Blick auf A r t . 3 Abs. 1, A r t . 4 Abs. 1, auch A r t . 2 Abs. 1 u n d A r t . 14 GG; B. Schlink, Abwägung i m Verfassungsrecht, B e r l i n 1976, S. 195 ff. 20 Die Betonung der „Entscheidung" i n der Beurteilungspraxis des B V e r f G bedeutet nicht, daß es sich u m einen „Dezisionismus" handelt, denn die Entscheidung ist vielfach gebunden, sie ist zu rationalisieren, sie ist nur insoweit Entscheidung, als verbleibende „Ungewißheit" i m U r t e i l aufgehoben w i r d . I m Rahmen der dargelegten Anforderungen an die Verfassungsinterpretation liefern auch die überkommenen Interpretationsmittel Aspekte des
7.2 K r i t e r i e n der Entscheidungsnorm
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norm setzt, bei mehreren möglichen und zulässigen Regelungen ist aufgrund des Mehrheitsprinzipes die Entscheidung des Gesetzgebers verbindlich 2 1 . Das Gericht w i r d sich gegebenenfalls nur m i t hinreichend begründeten Vermutungen hinsichtlich effektiver oder möglicher Handlungsfolgen zu begnügen haben. Die Entscheidung über verfassungsrechtlich zulässige oder unzulässige Konkretionen der Grundrechte hat immer auch eine Entscheidung anhand der gegebenen oder möglichen faktischen Folgen zu sein 22 . Das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes und das Gleichheitsgebot implizieren nach F. Müller ein „Grundrecht auf Methodengleichheit" 23 . Ein solches Gebot ist, wie hier dargelegt wurde, wegen der fehlenden Stringenz der i n der Verfassungswissenschaft angewandten Methoden, ihrer unzureichenden Legitimation und letztlich ihrer dezisionistischen Subjektivität nicht einlösbar. Aufgrund des Verbindlichkeitsanspruches der Verfassung hat aber jede Normkonkretisierung der m i t der Verfassungsgebung verfolgten Gesamtordnung des politisch-gesellschaftlichen Systems zu entsprechen und sind die dargelegten Kriterien für die Methodik der Bildung der Entscheidungsnorm zu verallgemeinern. Die Interpretation der Verfassung, ihre theoretische Aufarbeitung kann nicht die einzelnen Grundrechte zu einem verbindlichen, konkretistischen Wert- oder Normensystem erweitern 2 4 . Die Bestimmtheit des Grundgesetzes ist erst auf der Ebene der konkreten Rechtsordnung, also der Fallösung zu erzielen. Die praktische Kontrolle des Interpretationsergebnisses geschieht deshalb auch immer i n der Frage nach der Gerechtigkeit der Fallentscheidung. Podlech stellt zutreffend fest, „nach Verfassungsverständnisses, vgl. auch J. Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, i n : JZ 1975, S. 555 ff. 21 Erg. W. Stefani , Verfassungsgerichtsbarkeit u n d demokratischer E n t scheidungsprozeß, i n : P. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 374 ff. 22 Hierzu W. Kilian, Juristische Entscheidung, S. 207 ff. m . w . N . ; zur E n t scheidung hinsichtlich der Folgen vgl. auch BVerfGE v. 1.3.79 — 1 B v R 532/77 u. a. (Mitbestimmungsurteil), S. 54 ff. m. w. Rsp. 23 So F. Müller, Juristische Methodik u n d politisches System, B e r l i n 1976, S. 65 ff. 24 Es wurde bereits eingangs dargestellt, i n welchem Maße juristische M e thodik u n d Dogmatik die Effizienz von Rechtsnormen bestimmt. Die W i r k lichkeit der Rechtsgrundsätze ist i n vielfältiger Weise eine Frage der W i r k samkeit ihrer Dogmatik. Die Folgerungen, welche sich aus der hier dargelegten prinzipiellen Offenheit der Verfassung f ü r die Grundrechtsdogmatik ergeben, u n d welche aus dem realdialektischen Verhältnis von Grundrechtssätzen, Souveränitätsprinzip u n d Mehrheitsprinzip i m einzelnen zu e n t w i k keln sind, bleibt Aufgabe der Dogmatik. Z u m Problem der Grundrechtsdogmatik vgl. auch P. Häberle, Grundrechte i m Leistungsstaat, S. 70 ff.; M. Drath, Rechtsdogmatik als Selbstzweck oder als fließende Anpassung des Rechts an die gesellschaftliche Wirklichkeit? i n : ders., Rechts- u n d Staatslehre als Sozialwissenschaft, Göttingen 1977, S. 33 ff. 21 Grimmer
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dem derzeitigen Stand der Wissenschaftstheorie scheint m i r eine rationale, d. h. wenigstens grundsätzliche Gründe produzierende Argumentation über die Richtigkeit von Rechtsregeln nur als Diskussion der Folge der Rechtsregel i n der Gesellschaft möglich zu sein" 2 5 . Zur Diskussion sind dabei alle überprüfbaren Argumente zugelassen, die Diskussion kann die „Richtigkeit" einer Lösung nur i n einem allgemeinen Konsens ergeben. Interpretation von Grundrechtsnormen steht damit i n einem weiteren Zirkel: Die Herstellung von Konsens würde die prinzipiell offene, freie und gleiche Rede und Kommunikation i n der Interpretation der Grundrechtsnormen aller vom Geltungsbereich des Grundgesetzes erfaßten Personen erfordern, Konkretion von Grundrechten bedeutet aber gleichzeitig Abbruch dieser freien Kommunikation und normative Festsetzung einer verbindlichen Ordnungsform 26 . Ihrer Funktion nach ist Verfassung — wie i n der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht — darauf ausgerichtet, soziales Handeln zu strukturieren und zu regulieren 27 . Aus der regulativen und legitimatorischen Funktion von Verfassung ergibt sich, daß die Diskussion um Verfassungsauslegung selbst als kommunikativer Prozeß stattzufinden hat. Als notwendige Bedingung für die Zulässigkeit einer Wertung i m juristischen Begründungszusammenhang ist deshalb zu formulieren, „daß die fragliche Wertung wenigstens prinzipiell und m i t dem Plausibilitätsgrad, der i m juristischen Bereich möglich ist, durch Wertung ihrer Folgen i m gesellschaftlichen Zusammenhang diskutierbar und begründbar ist. Zweck dieser Bedingung ist die Sicherung der Rationalität von Begründungen" 2 8 . Die Offenheit als Konstitutions25
A. Podlech, Wertungen u n d Werte i m Recht, i n : AÖR, Bd. 95 (1970), S. 185 ff.; erg. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, F r a n k f u r t 1978, S. 219 ff., 274 ff. 2e Gerade w e n n m a n davon ausgeht, daß dem Verfassungsrecht vielfach begriffliche Eindeutigkeit fehlt, darf die Interpretation des Verfassungsrechtes nicht unter Bezug auf Normen, Traditionen oder „Theorien" des niederrangigen Gesetzesrechtes erfolgen. Es ist i n jeder Interpretation die Frage nach der F u n k t i o n der Verfassung insgesamt u n d der einzelnen Grundgesetznorm unter Absehen von vorgenommenen gesetzgeberischen Konkretionen zu stellen, andernfalls bestimmt die Verfassungswirklichkeit unter Umständen auch eine verfassungswidrige Verfassungswirklichkeit, den I n h a l t der Verfassungsnorm. — Vgl. zum Verhältnis Gesetz u n d Verfassung i n der Interpretation W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, Tübingen 1964, S. 5 f., 48. 27 Vgl. hierzu Fn. 13 u n d zur Diskussion M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, Darmstadt 1978. 28 A. Podlech, Wertungen u n d Werte i m Recht, S. 200. Z u r Folgenwirkung als methodisches Problem vgl. auch ders., Recht u n d Moral, i n : Rechtstheorie, 1972, S. 129 ff. (138); zur Problematik der Rationalisierung vgl. auch H. Albert, Theorie u n d Praxis, i n : H. A l b e r t / E . Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1971, S. 227 ff.; ders., T r a k t a t über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 11 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., B e r l i n usw. 1969, S. 323 ff. m. w. N.; A. Podlech, Dogmatik, Rechts-
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bedingung möglicher allgemeiner Geltung v o n Verfassungsnormen u n t e r l i e g t t e n d e n z i e l l d e r G e f a h r , i n d e r Festsetzung d e r k o n k r e t e n E i n z e l n o r m a u f g e h o b e n z u w e r d e n . Diese O f f e n h e i t i m m e r w i e d e r h e r z u stellen, i s t l e t z t l i c h F u n k t i o n des Bundesverfassungsgerichtes i m G r u n d rechtsbereich.
theorie, Mathematik. Vorüberlegungen zu Strukturuntersuchungen j u r i s t i scher Dogmatik, Manuskript, Darmstadt 1975 m . w . N . ; J. Rödig, Die D e n k form der Alternative i n der Jurisprudenz, B e r l i n usw. 1969; W. Kilian, E n t scheidungstheoretische Strukturierung rechtsdogmatischer Argumentation, i n : Mitteilungsblätter des Institutes f ü r Gesellschaftspolitik u n d beratende Sozialwissenschaften e.V., Göttingen 1975, Anhang m . w . N . ; R. Alexy, Die Regeln des praktischen Diskurses, Man., Forschungsinstitut f ü r Gesellschaftspolitik u n d beratende Sozialwissenschaft, Göttingen 1978.