Glück - aber worin liegt es?: Zu einer kritischen Theorie des Wohlbefindens 9783666452406, 9783525452400, 9783647452401


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Glück - aber worin liegt es?: Zu einer kritischen Theorie des Wohlbefindens
 9783666452406, 9783525452400, 9783647452401

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Philosophie und Psychologie im Dialog

Herausgegeben von Christoph Hubig und Gerd Jüttemann Band 13: Philipp Mayring / Norbert Rath Glück – aber worin liegt es?

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Philipp Mayring / Norbert Rath

Glück – aber worin liegt es? Zu einer kritischen Theorie des Wohlbefindens Mit 16 Abbildungen und einer Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45240-0 ISBN 978-3-647-45240-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Unter Verwendung der Fortuna von Hans Sebald Beham (1541) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.  www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen

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Abbildung 1: Allegorie der drei Lebensalter des Menschen (Tizian, um 1512)

»Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.« (Franz Kafka, Der Aufbruch)

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Inhalt

Norbert Rath Philosophische Konzepte des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Philipp Mayring Psychologische Konzepte des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Philipp Mayring Die zentrale Frage: Lässt sich Glück beeinflussen? Psychologische Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Norbert Rath Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie des Glücks? . . . . . . 103 Philipp Mayring Wissenschaftstheoretische Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Norbert Rath Glück – aber worin liegt es? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

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Norbert Rath Philosophische Konzepte des Glücks »Was willst du eigentlich später mal werden?«, fragte sie. »Glücklich«, sagte Thomas. »Ich werde später glücklich.« […] (Sie) schaute Thomas lachend an und sagte: »Das ist eine verdammt gute Idee. Und weißt du, womit das Glück anfängt? Damit, dass man keine Angst mehr hat.« (Kuijer, 2004, S. 24)

Einleitung Variationsbreite der Diskussion Eine Vielzahl von Publikationen zum Thema Glück ist in den letzten Jahren erschienen, veröffentlicht u. a. von Theologen (Grün, 2001; S. Schmidt, 2000), Soziologen (Schulze, 1999; Veenhoven, 2011), Ökonomen und Gesundheitswissen­schaftlern (Weimann, Knabe u. Schöb, 2012; Wilkinson u. Pickett, 2010) und Psychiatern (Lelord, 2004). Es gibt Sammelbände zum Glück in alten Hochkulturen (Bellebaum, 1994), zum »Leseglück« (Bellebaum u. Muth, 1996), Anthologien mit Glückszitaten von Dichtern und Schriftstellern (Zirfas, 2003; Michel, 2010), auch eine Zusammenstellung von »Märchen vom Glück« (Uther, 2004). Es gibt Symposien zum Thema (Meier, 2010), einschlägige Textsammlungen (Völlger, 2000; Jänicke, 2005), Zusammenstellungen klassischer Texte (Thielen u. Thiel, 2007) und populäre Einführungen (Klein, 2002; Heller, 2004; Bauer u. Tanzer, 2011). Eine Bestands­aufnahme der Forschung zum Thema Glück findet sich bei Bellebaum (2002). Zugänge zum Thema Glück aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen bietet Hoyer (2007), darin auch Beiträge zu psychoanalytischen Deutungen des Glücks (Zwiebel, 2007, S. 15 ff.). Philipp Mayring hat psychische Dispositionen des Glücks- und Wohlbefin­dens­erlebens (2007, S. 185 ff.) untersucht und »Bausteine einer psychologischen Theorie des Glücks« 9 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

vorgelegt (1991a, S. 69 ff.). Einen auch philosophiehistorisch kompetent informierenden, breiten Überblick über philosophische und wissenschaftliche Konzepte des Glücks gibt ein »interdisziplinäres Handbuch« zum Glück (Thomä, Henning u. Mitscherlich-Schönherr, 2011). Neben Autoren aus vielen anderen Disziplinen greifen oft auch Philosophen (Ritter u. Spaemann, 1974; Bien, 1978; Tatarkiewicz, 1984; Spaemann, 1989; Seel, 1995; Thomä, 2003; Birnbacher, 2006; Bieri, 2011) auf Traditionen des Nachdenkens über Glück zurück und bieten Orientierungsversuche zu diesem immer wieder neu zu entdeckenden Thema an. Bei Demokrit, Platon, Aristoteles (vgl. Forschner, 1993; Heinemann, 2007), Epikur (vgl. Hossenfelder, 1998), Seneca und Marc Aurel (1992) finden sich Antworten auf die Frage, wie ein gelingendes, glückliches Leben zu führen sei, und klassische Bestimmungen des Glücks (vgl. Niehues-Pröbsting, 2004, S. 156 ff.). Bei den Kirchenvätern der Spätantike – so bei Augustinus – rückt die Frage nach dem irdischen Glück aus dem Zentrum der Philosophie, mit Folgen für die gesamte mittelalterlich-christliche Philosophie. Im Humanismus der Spätrenaissance (so bei Montaigne) wird die Frage nach einer Glück ermöglichenden Lebensführung und damit die Frage nach dem diesseitigen Glück mit neuer Intensität gestellt. Auch im Denken des 18. Jahrhunderts, bei Philosophen der Aufklärung wie Voltaire, Diderot oder Condorcet geht es zentral um das Thema Glück, das hingegen von Kant und Hegel eher als Nebenthema und mit einer gewissen Nüchternheit behandelt wird. Insgesamt erreicht dieses Thema in der neuzeitlichen Philosophie nicht mehr denselben Rang wie in der antiken, wo die Antwort auf die Frage nach der Aufgabe der Philosophie lautete, dass diese ihre Adepten zum Glück zu führen habe und führen könne. Diese Selbstgewissheit ist der neueren Philosophie abhanden gekommen, und auch Philosophen des Glücks wie Nietzsche haben sie nicht wiederherstellen können. Bei Denkern wie Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke, Kant, Fichte, Schelling, Hegel und beinahe in der gesamten deutschsprachigen akademischen Philosophie des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Glück allenfalls ein Nebenthema. »Das Problem des Glücks ist […] seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Zentrum des philosophischen 10 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Interesses getreten; es kehrt heute unter veränderten Titeln (etwa als Lebensqualität, Mental Health, psychologisches Wohlbefinden, Bewahrung gefährdeter Identität usw.) in anderen Disziplinen und Zusammenhängen wieder« (Bien, 1978, S. V). Die philosophischen Glückssucher des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts beziehen sich wieder vermehrt auf die Antike. Bei Platon und Aristoteles, Diogenes und Epikur, Seneca und Marc Aurel wird Auskunft gesucht über das, was glücklich machen und was das Wesen des Glücks sein könnte. Foucault hatte noch Verwunderung ausgelöst, als er in seinem Spätwerk die antiken Glückslehren, wie die Diätetik als Lehre des Maßhaltens, untersuchte (vgl. Schmid, 1991). Mittlerweile gibt es mehrere gelungene Versuche, das Thema einer philosophischen Einführung in die Lebenskunst wieder zu beleben (z. B. Fellmann, 2009). Die »Philosophie der Lebenskunst« von Wilhelm Schmid (1999) wurde sogar zum Bestseller. Kommentar von Philipp Mayring Es scheint mir, dass die Philosophie des Glücks eine Pendel­ bewegung zwischen aktiveren und kontemplativeren Konzepten aufweist. Dahinter steht wohl die Frage, wie stark sich Glück durch menschliches Streben beeinflussen lässt. Auf diese Frage möchte ich später in einem eigenen Kapitel (»Die zentrale Frage: Lässt sich Glück beeinflussen? Psychologische Antworten«) eingehen und zusammentragen, was psychologische Forschung hier ergibt.

Fragestellungen In diesem philosophiehistorisch angelegten einleitenden Essay sollen folgende Frage­stellungen im Mittelpunkt stehen: Welche Überlegungen antiker Philosophen zum glücklichen Leben könnten für aktuelle Debatten der Glücksphilosophie und -psychologie von Bedeutung sein? Wie reagieren Theorien des Glücks auf historische Veränderungen? Inwiefern bedeutet das Christentum eine Zäsur in den Traditionen des Nachdenkens über Glück? Wo 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

liegen Differenzen zwischen antiken und modernen Glückskonzepten? Was ist das Neue in neuzeitlichen Versuchen der Bestimmung des Glücks (z. B. bei Montaigne)? Welchen Stellenwert hat der Begriff der Glückswürdigkeit für Kant? Warum steht die antike Eudämonie-Tradition für Hegel zur Kritik? Was trägt die Psychoanalyse zum Glücksdiskurs bei? Inwiefern gibt es bei Adorno Ansätze zu einer aktuellen kritischen Theorie des Glücks? Was können Denker der Vergangenheit zu einer aktuellen Theorie des Glücks beitragen?

Überlegungen antiker Denker zum glücklichen Leben Zunächst einmal sind schwerwiegende Unterschiede zwischen antiken und nachantiken Glückskonzepten festzuhalten, die es kaum erlauben, ohne Distanznahme hermeneutisch unreflektiert an Glücksbestimmungen antiker Denker anzuknüpfen. Beispielsweise unterscheidet die griechisch-römische Antike schon sprachlich deutlicher zwischen Zufallsglück (tyche, fortuna) und Glückseligkeit (eudaimonía, beatitudo bzw. vita beata), als wir es – zumindest im Deutsch der Gegenwart – mit unserem umfassenden Begriff des Glücks gewohnt sind, der momentanes und dauerhaftes, persönliches und materielles, subjektives und objektives, Erlebnisund Reflexionsglück bezeichnen kann (zum Reichtum des Begriffs Glück an semantischen Facetten siehe Schmid, 1999, 2006). Eudaimonía Die Chariten erscheinen zuweilen als Töchter des Zeus und der Hera, zuweilen auch als die des Dionysos und der Aphrodite; als ihre Mütter werden überdies in unterschiedlichen Traditionen noch eine Reihe anderer Frauen genannt. Das Bild der Eudaimonía in der Vasenmalerei (Abbildung 2) dieser Zeit ist in hohem Maße auf äußere Attribute des Glücks bezogen: Schönheit, Reichtum, Glanz, auch Liebe, denn die Chariten gehören zum Gefolge der Aphrodite. 12 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Abbildung 2: Eudaimonía als eine der Chariten (ca. 450–400 v. Chr.)

Das Wort Eudaimonía (εὐδαιμωνία) bezeichnet Glück, Glückselig­ keit, glückliche Lage, Wohlstand; eudaímon (εὐδαίμων) bedeutet ursprünglich, auf Personen bezogen: »einen guten Dämon habend, daher: glückselig, glücklich« (Gemoll, 1962, S. 336), dann wohlhabend, reich; auf Orte bezogen: fruchtbar, blühend; hoi eudaímones sind die Reichen. Pindar (ca. 518 bis ca. 445 v. Chr.) rühmt die Chariten als die »sangesreichen Königinnen«: »mit euch wird das 13 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Erfreuliche und das Beglückende vollendet alles den Sterblichen, wenn weise, wenn schön, wenn glanzvoll ein Mann. Denn auch die Götter führen ohne die heiligen Chariten die Tänze nicht noch ihre Tafel« (Pindar, 1992, S. 104 f., 14. Olympische Ode). Hier geht das, was glücklich macht, schon weit über die Sphären von Reichtum und Besitz hinaus in die Sphäre des Göttlichen hinein. Die Seele als Sitz des Glücks: Demokrit (ca. 459 bis ca. 380 v. Chr.) Demokrit ist einer der Ersten, der philosophische Reflexionen zum Glück anstellt. Für ihn hat das Glück seinen Ort in der Seele (Fragmente 170, 171), nicht in äußerlichem Reichtum: »Die Eudaimonia wohnt nicht in Herden und nicht in Gold; die Seele ist der Wohnsitz des Daimon« (Fragm. 171, hier in der Übersetzung von Gigon, 1981, S. 47). Bei Demokrit finden sich auch erste Ansätze einer psychologischen Theorie des Glücks, von ihm bezeichnet als euthymia, was soviel wie »heitere Zufriedenheit«, »Wohlge­mutheit« oder »Wohlgestimmtheit« bedeutet: »Denn den Menschen wird Wohlgemutheit zuteil durch Mäßigung der Lust und des Lebens rechtes Maß« (Fragm. 191, Diels, 1964, S. 110). Zur Kunst der Lebensführung gehören Zurückhaltung und eine heitere Gelassenheit. Mit solchen Überlegungen weist Demokrit auf Epikur voraus. »Wohlverständig ist, wer sich nicht grämt um das, was er nicht hat, vielmehr froh ist über das, was er hat« (Fragm. 231, Diels, 1964, S. 112). Man solle sein Herz nicht an vergängliche Glücksgüter hängen. »Auf das Mögliche muß man also den Sinn richten und sich mit dem Vorhandenen begnügen, ohne der Beneideten und Bewunderten viel zu achten und mit dem Gedanken ihnen anzuhaften« (Fragm. 191, Diels, 1964, S. 110). Zu einer solchen Haltung kann auch die Erziehung beitragen, die in uns etwas gleichsam Naturhaftes schafft (physiopoiei, Fragm. 33, vgl. Rath, 1996, S. 136–139), so dass wir Erlerntes ausüben können, als wäre es uns angeboren. »Mehr Leute werden durch Übung tüchtig als aus Anlage« (Demokrit, Fragm. 234, Diels, 1964, S. 112). Erziehung kann zu einer größeren Tüchtigkeit führen und das Edlere und Höhere im menschlichen Wesen befördern. Glück ist also nicht einfach von Tyche, der Zufalls- und Schicksalsgöttin – 14 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

die als Glücksgöttin auch unter der Bezeichnung Eutychia, als Göttin des rächenden Schicksals unter dem Namen Nemesis verehrt wird – abhängig, sondern diese selber ist nur ein Eidolon, ein Bild, modern gesprochen: eine Projektion, die »sich der Mensch zu Vorwand und Ausflucht seiner Ratlosigkeit macht« (Ritter, 1974, Sp. 679). So sind die Menschen großenteils selbst für ihr Glück verantwortlich. Glück und Gerechtigkeit: Platon (428/427–348/347 v. Chr.) Demokrit bereits betont: »Wer Unrecht tut, ist unseliger als wem Unrecht geschieht« (Fragm. 45, Diels, 1964, S. 103). Erst recht bei Platon werden Tugend und Glück in einen engen Zusammenhang zueinander gestellt, mit unabsehbaren Folgen für die abendländische Ethik. Der Ungerechte kann nicht wahrhaft glücklich sein; zum Glück gehört die Tugend, und der Tugendhafte ist kraft seiner ethischen Orientierung prinzipiell glücklich. Aber ist das Glück für tugendhaftes Handeln im diesseitigen Leben wirklich garantiert? Sokrates in Platons »Apologie« und »Gorgias« zieht eine endgültige Rechtfertigung vor dem Totengericht im Jenseits in Betracht, bei der der – im Diesseits zu Unrecht bestrafte – Tugendhafte und Gerechte als solcher erkannt werde. Glück im Sinn einer Einstimmigkeit mit sich selbst wird hier zu einer letzten Endes unzerstörbaren inneren Einstellung. Der seiner selbst gewisse, recht Handelnde gewinnt eine Unabhängigkeit von den Urteilen seiner Mitwelt, die es ihm ermöglicht, den sittlichen Imperativen seines Daimonions zu gehorchen. Er folgt dieser in seiner Psyche verankerten autonomen Instanz der Verhaltensbewertung und -regu­lation, also seinem eigenen intellektuellen Gewissen, und nicht der Meinung der Vielen. Sofern das Daimonion das Handeln »seines« Individuums missbilligt, ist keine Glückseligkeit (eudaimonía) möglich. Sokrates ist mit sich im Reinen darin, dass er seine Denkweise gegen das setzt, »was die Stadt denkt«, also gegen den in der Polis verbreiteten konventionellen Menschen­verstand. Sein Daimonion habe ihn nicht gewarnt, als er in seiner Verteidigungsrede vor Gericht seine Angreifer selbst angegriffen habe. Geradezu lustvoll setzt er sich dem Gespött der Menge aus; so finden wir ihn schon 15 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

in den »Wolken« des Aristophanes (423 v. Chr.) gezeichnet. Wie eine Bremse, lässt Platon ihn in der »Apologie« sagen, habe er seine Mitbürger aufgescheucht und mit seinem Nachfragen gequält. Es wundert ihn nicht, dass sie ihn verklagt haben, er ist stolz darauf. Er provoziert die über ihn richtenden Bürger damit, dass er statt einer Strafe eine Ehrung für sich fordert. Nun verurteilt ihn – im Vergleich zum ersten Schuldspruch – eine größere Mehrheit seiner Mitbürger zum Tode. Sokrates bleibt sich treu, und das bis zum letzten Atemzug (vgl. die – vielleicht idealisierende – Darstellung in Platons »Kriton«). Die Todesstrafe nimmt er hin, als sei sie die Gewähr, dass er im Grunde Recht habe und dass er im Rückblick noch als Gerechter erscheinen werde (vgl. Niehues-Pröbsting, 1987, S. 64 ff., 107 ff.). Er sieht seine Berufung darin, ohne Rücksicht auf das eigene Schicksal offensiv das leere Meinen seiner Mitbürger in Frage zu stellen. So ist Sokrates der Erste in einer Reihe von Denkern, die die für verpflichtend gehaltene Wahrheit unbedingt bekennen und dafür den eigenen Tod in Kauf nehmen. Ein durch Verheißung verbürgtes jenseitiges Glück, in dem ihre kompromisslose Haltung gerechtfertigt werde, gilt späteren christlichen Märtyrern als Ausgleich für ihre Leiden im Diesseits. Für Sokrates hingegen ist das Gerechtfertigtwerden nach dem Tod nichts Sicheres, sondern nur eine Möglichkeit. Die Gewissheit, im Leben der Polis das Rechte und Gerechte zu denken und zu tun, ist selbst schon das Glück und kann für ihn handlungsleitend werden. Man kann die Geschichte der bedeutenden Glückskonzepte Revue passieren lassen und wird immer wieder finden, dass sie zuerst einmal kritisch gedacht sind: Als Fragen nach dem Glück sind sie zum einen »immer Relativierungen des Unglücks« (Marquard, 1978, S. 95), zum anderen sind sie gerichtet gegen das Sichberuhigen und das Sicheinrichten in einem »falschen« Glück. Noch für Schopenhauer (1851/2007; vgl. Broese, 2007) ist die Unterscheidung zwischen wahrem und bloß illusionärem Glück zentral; auch Nietzsche hält an dieser Unter­scheidung fest. Sokrates ist selbstsicher und mutig genug, gegen das hochmütige Meinen der Sophisten und den Meinungsterror der gereizten Menge das eigene philosophische Urteil zu setzen. Für ihn liegt wahres Glück nicht im Überleben, sondern im vernunftgemäßen moralischen Handeln; 16 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Unrechtleiden ist besser als Unrechttun, das nicht wirklich glücklich machen kann. Kommentar von Philipp Mayring Das scheint mir ein ganz zentraler Gedanke zu sein, der der Psy­ chologie des Glücks eher fern steht. Dort wird primär von Selbst­ einschätzungen ausgegangen. Ein Konzept von falschem Glück ist da schwer formulierbar.

Diogenes ist Sokrates im Widerspruch gegen die herrschenden Denkgewohnheiten gefolgt und hat ihn in der Schärfe der Polemik gegen das konventionell Geltende sogar noch überboten (vgl. Niehues-Pröbsting, 1979, S. 77 ff.). Der Protokyniker Diogenes findet sein Glück im Widerspruch und in der Reduktion: Gegen den Anspruch der Zivilisation, durch ein immer Mehr an Gütern die Menschen potenziell glücklicher zu machen, erklärt Diogenes – wenn es ihn denn als historische Figur überhaupt gegeben hat (zu Zweifeln daran vgl. Niehues-Pröbsting, 1979, S. 31 f.) – als einer der Ersten in einer langen Reihe philosophischer Kulturkritiker das einfache, der Natur gemäße Leben zum glücklicheren. Noch Erich Fromm (1976; 1991) ist ihm in der Aufwertung des »Seins« gegenüber dem »Haben« gefolgt. Glück als Selbstzweck und höchstes Gut: Aristoteles (384–322 v. Chr.) »Der fraglos bedeutendste und einflussreichste Glückstheoretiker des Abendlandes ist Aristo­teles« (Hoyer, 2007, S. 11). Über Platons Idee des Guten geht Aristoteles hinaus (vgl. Hegel, 1971, Bd. 19, S. 225); er stellt die Frage nach der Bestimmtheit des Guten. Allerdings dürfen die Differenzen zwischen Platon und Aristoteles in der Frage nach dem guten und glücklichen Leben nicht zu schroff gezeichnet werden; beide verbindet als »letzte Intention die, den Menschen mit sich selbst befreundet zu machen« (Bien, 1985, S. 76). Gut ist für Aristoteles das, was absoluter Selbstzweck (téleion) ist und 17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

rein um seiner selbst willen erstrebt wird; dies sei das Glück (eudaimonía): »So scheint also die Glückseligkeit das voll­kommene und selbstgenügsame Gut zu sein und das Endziel des Handelns« (Aristoteles, 1981, S. 65; Nik. Eth. I, Kap. 5, 1097 b). Gutes und tugendhaftes Leben gehören zusammen; von einem Glück­lichen lässt sich sagen, »er lebe und verhalte sich gut« (1981, S. 68; I, 8, 1098 b). Aristoteles deduziert seine Lehre vom Guten und vom Glück nicht aus vorgegebenen Begriffen, sondern räumt der Empirie ausdrücklich ein Mitspracherecht ein: »Man muß nun über diesen Begriff des Guten und der Glückseligkeit nicht nur auf Grund von Schlußfolgerungen reden und aus Beweisgründen, sondern auch aus der allgemeinen Anschauung« (1981, S. 68; I, 8, 1098 b). Eine immer noch gültige psychologische Einsicht formuliert er, wenn er sagt, es sei »das Gute für den Menschen die Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besondern Befähigung« (1981, S. 67; I, 6, 1098 a). Er nennt »die seelischen die eigentlichen und die hervorragendsten Güter« (1981, S. 68; I, 8, 1098 b). Äußere Glücksgüter machen zwar nicht das Glück aus, helfen aber dabei, es zu erlangen, wie er mit trockenem Realitätssinn sagt: »Es ist nämlich unmöglich oder doch nicht leicht, das Edle zu tun, wenn man keine Mittel zur Verfügung hat« (1981, S. 70; I, 9, 1099 a). Im Ausschluss der Kinder, Frauen und Sklaven – als Nichtpersonen (vgl. Neumaier, 2011, S. 42) – von der Glücksfähigkeit zeigt sich die Differenz des aristotelischen Glücksdenkens zu dem der Moderne besonders deutlich, für die seit Rousseau und der Romantik die Kindheit als idealer Ort des sich wie von selbst entfaltenden Glücks im geschützten Raum der Familie aufscheint. Wenn aber das Glück in der tugendgemäßen Tätigkeit der Seele liegt und Einsichts­fähigkeit voraussetzt, dann gelten weder Tiere noch Kinder in vollem Sinne als glücksfähig, Kinder allenfalls im Sinn einer Hoffnung auf ihr späteres Leben (vgl. Aristoteles, 1981, I, 10, 1099 b). Neben der in ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung kaum zu überschätzenden Eudämonie-Konzeption der »Nikomachischen Ethik« (besonders I, 2–10; X, 6–8) ist auch die der Rhetorik (1995a, S. 34, 1362 b) und der »Politik« (1973) von Bedeutung. Aristoteles, der vermutlich erste Autor einer psychologischen Schrift (Peri psychäs/»Über die Seele«, 1995b), stellt auch zum Glückserleben 18 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

psychologische Reflexionen an und lässt mehrere Arten davon gelten. Allerdings hält er – ebenso wie Platon – nicht alle Arten der Glückssuche für gleichwertig: Spiele, Unterhaltungen und der Zeitvertreib der Mächtigen gelten zu Unrecht vielen als Glück. »So gewinnt es den Anschein, als ob derartiges die Glückseligkeit ausmache, da die Machthaber ihre Muße damit zubringen. Indessen dürfte das Verhalten solcher Leute nichts beweisen. Denn Tugend und Vernunft, von denen die edlen Tätigkeiten kommen, beruhen nicht auf dem Besitz der Macht« (1981, S. 294; X, 6, 1176 b). In solchen Sätzen spiegelt sich wohl schon die Erfahrung des Macht- und Ansehensverlusts der Polisordnung gegenüber den Großreichen, die nach den Siegen Philipps von Makedonien und seines Sohnes Alexander, des Zerstörers von Theben, auch die Verhältnisse in Griechenland bestimmen und die Auto­nomie der Poleis vernichten werden. Das Vordringen der Tugend- und Glücksethik seit Sokrates und im Hellenismus ist allerdings wohl nicht allein durch die historisch-politischen Veränderungen seit dem vierten bzw. dritten Jahrhundert vor Christus zu erklären. Nietzsche etwa sieht diesen Wandel der herrschenden Ethik als Ausdruck einer grundlegenden Verabschie­dung der tragischen Daseinsauffassung und des Lebensgefühls des älteren Griechentums. Kommentar von Philipp Mayring Wie wenn die Psychologie des Glücks ob ihrer Selbsteinschät­ zungskonzeption ein schlechtes Gewissen bekommen hätte, knüpft sie aktuell an Aristoteles an und formuliert »eudaimonis­ tisches Glück« in Unterscheidung von »hedonistischem Glück« (Waterman, 1993, vgl. meine Ausführungen im nächsten Kapitel).

Für Aristoteles, so lässt sich zusammenfassend sagen, ist Glück­ seligkeit das Handlungsziel für alle Personen, hat ihren Zweck in sich selbst, ist sich selbst genug und damit höchstes Gut und uneingeschränktes Ziel menschlichen Handelns (vgl. Schlund, 2010, S. 6 ff.). Die Eudaimonía ist dauerhaft, beständig, nicht oder kaum zu verlieren, ist Tätigkeit der Tugend und der Vernunft; der Mensch ist selbstmächtig in Bezug auf das Glück, das er selbst fin19 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

den kann. Neben dem Glück der praktischen gibt es das der theoretischen Lebensform (vgl. Nikomachische Ethik, 10. Buch). Die Autarkie und Autotelie der Eudaimonía gibt ihr eine über die ethische hinausgehende metaphysische Dimension. Augustinus wird die aristotelischen Bestimmungen des Glücks theologisch ummünzen: Für ihn ist Gott autark, absoluter Zweck, höchstes Gut und höchstes Telos menschlichen Handelns. Das neuzeitliche Glück dagegen ist eher flüchtig: Es entspringt aus subjektiven Erlebnissen, wird als Gefühl gesehen, ist damit vorwiegend rezeptiv gedacht, weniger auf durch Reflexion bestimmtes ethisches Handeln bezogen, überhaupt weniger aktiv durch den (philosophierenden) Glückssucher herstellbar. Glück als Freiheit von Angst: Epikur (341–270 v. Chr.) Jede philosophische Glückstheorie kann auch als eine Reaktion auf ihre Zeit verstanden werden. Für Platon und Aristoteles ist Glück selbstverständlich das des aktiven, urteilsfähigen Polisbürgers. »Aristoteles […] sieht die politische Philosophie als die allgemeine, ganze praktische Philosophie an. Der Zweck des Staats ist die allgemeine Glückseligkeit über­haupt« (Hegel, 1971, Bd. 19, S. 225). Mit dem Schwinden der Macht der Poleis im Ausgang des vierten Jahrhunderts vor Christus wird der politische Anspruch von Philosophie und damit auch der von Glückstheorien fragwürdig. Die Philosophie wandert von der Agora in die Wandelhallen der Philosophenschulen oder in den privaten Garten, das »Lebe im Verbor­genen!« wird zum Ratschlag für den Denker, der in Zeiten des Umbruchs überleben will. Den hellenistischen Philosophen-Schulen des Epikureismus, der Stoa und der Skepsis geht es nicht mehr primär um das Glück der Polis, sondern um das des Individuums. Glück wird jetzt vor allem verstanden als dauerhafte Möglichkeit einer psychischen Stabili­sierung gegen äußeres Unglück und eigene Sorgen und Ängste.

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Abbildung 3: Die Tyche (Fortuna) von Antiochia (3. Jh. v. Chr.)

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Kommentar von Philipp Mayring Ein interessanter Diskurs, was das Gegenteil von Glück sei. Die Psychologie würde weniger die Freiheit von Angst als die Freiheit von Depression als Glück definieren.

Die Schulen existieren als Lebensgemeinschaften von Philosophierenden, sie bilden eigene Lebensformen aus. Für Epikurs Schule gilt: »Philosophie wird zur Psychotherapie, der Philosoph zum Seelsorger und Seelenarzt, der in nachantiker Zeit vom christlichen Seelsorger verdrängt wird wie gegenwärtig dieser vom Psychotherapeuten« (Niehues-Pröbsting, 2004, S. 187). Dabei sind die therapeutischen Methoden, die die »antike philosophische Psycho­ therapie« bieten kann, nicht gering zu schätzen; sie erscheint als »eine rationale Anleitung zur individuellen Lebensbewältigung« und will zu autonomen Entscheidungen aus Einsicht hin­führen (Niehues-Pröbsting, 2004, S. 188). Noch Freud hat die »Ataraxia« der Stoiker, die Abwendung des Einzelnen von möglicherweise Leiden verursachenden sozialen Beziehungen, als eine wirksame Glückstechnik bezeichnet, um »das Glück der Ruhe« zu erlangen (Freud, 1930/1999, GW XIV, S. 435). Gegen welche Vorstellung von Glück setzt Epikur die seine? Glück liegt für Epikur (vgl. Krüger, 1998; Hossenfelder, 1998; Tielsch, 1978, S. 59–76) nicht in der Anhäufung von Macht oder Reichtum, es liegt in der angstfreien Erkenntnis und der Entfaltung des eigenen Lebens. Wo die politischen Führer Macht akkumulieren und die Welt erobern möchten, zieht sich der Philosoph mit seinen Freunden in den Garten, in die Privatexistenz zurück. In einer Zeit, in der aus politischen Gründen Herrschergestalten vergöttlicht werden (wie Alexander der Große und einige seiner Diadochen), macht Epikur geltend, man brauche keine Angst vor den Göttern zu haben, da sie keinen Einfluss auf das private oder öffentliche Geschehen haben. Epikur hat die Furcht von den Menschen nehmen wollen; das ist die vornehmste Aufgabe der Aufklärung nach der Auffassung von Horkheimer und Adorno (vgl. 1947, S. 13). »Es ist nicht möglich, sich von der Furcht hinsichtlich der wichtigsten Dinge zu befreien, wenn man nicht begriffen hat, welches 22 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

die Natur des Alls ist, sondern sich durch die Mythen beruhigen lässt. Es ist also nicht möglich, ohne Naturwissenschaft ungetrübte Lustempfindungen zu erlangen« (Epikur, 1983, Katechismus, S. 60 f.). Epikur hegt eine Vorstellung von Naturerkenntnis als Quelle von Erkenntnisglück, die allerdings nicht zu verwechseln ist mit modernen Begründungen von Grundlagenforschung: Es gelte, »die Ursachen der wichtigsten Erscheinungen genau zu erforschen und dass die Glückseligkeit bei der Erforschung der Himmelserschei­nungen eben darin liegt« (Epikur, 1983, Brief an Herodotos, S. 83). Marx sieht in Epikur den größten griechischen Aufklärer (vgl. L. Marcuse, 1972, S. 60). Sein Glück findet Epikur – vielleicht als erster der großen Philosophen – im erfüllten Jetzt. Jedenfalls hat er die Entdeckung, dass das Glück im Augenblick (und nur im erlebten Augenblick) zu finden ist, bekannt gemacht: »Die ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein. Du aber bist nicht Herr des morgigen Tages und verschiebst immerzu das Erfreuende. Das Leben geht mit Aufschieben dahin, und jeder von uns stirbt, ohne Muße gefunden zu haben« (Epikur, 1983, Spruchsammlung, Nr. 14, S. 106; vgl. L. Marcuse, 1972, S. 71). Die konkreten Bestimmungen des Glücks, die Epikur gibt, sind im Wesentlichen negativ: »Die Stimme des Fleisches spricht: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren. Wer das besitzt oder darauf hoffen darf, der könnte sogar mit Zeus an Glückseligkeit wetteifern« (Epikur, 1983, Spruchsamm­lung, Nr. 33, S. 108). Das gilt für den Leib ähnlich wie für die Seele: »alles, was die Seele will, ist Nicht traurig sein und Nicht Angst haben. Ganz können wir diese überraschend negative Formel nicht erklären. Ist ein Einfluß anzunehmen etwa von Spekulationen der Art, dass vom letzten Sein und Ziel nur gesagt werden kann, was es nicht ist, nicht aber was es ist?« (Gigon, 1983, S. 24). Der Akzent liegt jedenfalls in vielen der auf das Glück bezogenen Lehren Epikurs deutlich stärker auf der Unlustvermeidung als auf unmittelbarem Lust- und Glücksgewinn, für den es vor allem das rechte Maß einzuhalten gilt. Epikurs Lehre gilt bis weit in die Neuzeit hinein eher als ein Nebenweg des abendländischen Glücksdenkens; für eine »kritische Theorie des Glücks« allerdings bietet sie wichtige Anknüpfungspunkte. Wenn Adorno als oberstes Ziel nennt: »Ohne Angst Leben« (Adorno, 1971, S. 145), dann geht das in letzter Instanz auf 23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Epikur zurück. Sein Hedonismus wurde häufig tendenziös entstellt dargestellt, als Philosophie für selbstbezogene Genussmenschen, was seinen Intentionen – zumal seiner Hochschätzung der Freundschaft für das Glück – in keiner Weise entspricht. Stoische und neuplatonische Vorstellungen eines inneren Zusammenhangs von Tugend und Glück erwiesen sich als eher mit christlichen Lehren vereinbar als das diesseitige Glückskonzept Epikurs. So verdankt die Glückstheorie von Seneca (ca. 1–65 n. Chr., 1999) ihre durch nahezu zwei Jahrtausende ungebrochene Wirkung nicht zuletzt der Vereinbarkeit ihrer Grundgedanken mit einer christlichen Tugendethik. Auch Gedanken des Stoikers Epiktet (ca. 50–125 n. Chr., 1984), eines Freigelassenen, hatten seit der Renaissance eine große Wirkung auf den Glücksdiskurs in Europa; auch sie waren mit christlichem Denken kompatibel. Es gab sogar mehrere Versuche einer christlichen Überformung Epiktets. In Marc Aurels »Selbstbetrachtungen« (1992) zeigt sich noch einmal die persönlichkeitsbildende Kraft stoischer Tugend- und Glückskonzepte. Glückseligkeit in Gott: Augustinus (354–430 n. Chr.) Die wachsende Bedeutung des Christentums seit dem vierten Jahrhundert nach Christus ist für den Niedergang der Glückslehren der antiken Philosophie mitverantwortlich. Die Kirche verlegt das wahre Glück in ein außerweltliches, überirdisches Jenseits. Ein Totengericht werde die endgültige Gerechtigkeit herstellen, mit der Belohnung der Guten im Himmel und der Bestrafung der Sünder und Ungläubigen in der Hölle. Die Verbindung des christlichen Monotheismus mit einem Konzept Gottes als des höchsten Gutes und höchsten Glücks verstärkt in der Kirche – die 391 nach Christus unter Kaiser Theodosius das Christentum als Reichsreligion durchsetzt – Tendenzen der Intoleranz gegenüber Konkurrenzreligionen, Abweichlern in den eigenen Reihen und der spätantiken Philosophie. Wenn die eigene Religion die Verbindung zum höchsten Gut schon im irdischen Leben und ein ewiges Glück im jenseitigen Leben garantieren kann, dann könnte ein davon abweichender Weg ein Weg ins 24 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

absolute Unglück sein, in die Hölle der Gottes- und Glücksferne. Die Kirche beansprucht, die endgültige Antwort auf den Wunsch der Menschen nach Glück zu kennen und sie durch ihre Gnadenmittel auf diesen Weg bringen zu können. Felicitas wird zur beatitudo, die eudaimonía ist der unsterblichen Seele nunmehr als Möglichkeit ihrer ewigen Glückseligkeit verheißen. Das ist nicht zu überbieten, allerdings auch nicht zu beweisen, sondern nur zu glauben. Aber das Individuum wird dadurch im Kernbezirk seiner ethisch-religiösen Orientierungen gewissermaßen unangreifbar: »Die Idee der Unsterblichkeit verschafft dem Einzelnen einen Freiraum, zu dem der Staat keinen Zugang hat. Das bedeutet eine Stärkung des Individuums, die aus der Verinnerlichung des Glücks folgt« (Niehues-Pröbsting, 2004, S. 183). Die Unsterblichkeit der Seele wird von einer Hypothese (so führt Sokrates sie in der »Apologie« ein) sowohl für den spätantiken Neuplatonismus wie für das Christentum zu einer für gewiss gehaltenen, bis ins 17. Jahrhundert hinein beinahe unbefragten Selbstverständlichkeit im Denken der Theologen und Philosophen. Das Glück (oder Unglück) der unsterblichen Seele in den Ewigkeiten nach ihrem Tod scheint wichtiger zu sein als das Glück der Person im kurzen irdischen Leben. Für Augustinus ist es, wie schon für Aristoteles, evident, dass alle nach dem Glück streben: »Dieses glücksel’ge Leben wollen alle, dies Leben, das allein glückselig ist, das wollen alle, die Freude aus der Wahrheit wollen alle« (Augustinus, 1952, S. 259 f.; Bekenntnisse, Buch X, Kap. 23). Seine Glückstheorie ist gegen die materiellen und sinnlichen Verlockungen der spätantiken Gesellschaft gedacht. Die materiellen Genüsse schwinden, sie haben keine Dauer. Die asketische Lebenshaltung des zölibatär Lebenden ist der eines nach den Imperativen seiner Lust lebenden Menschen im Hinblick auf eine Ökonomie des Glücks überlegen, da sie die Dividende der ewigen Seligkeit erwirtschaftet. »Wie also soll ich, Herr, dich suchen? Denn such’ ich dich, mein Gott, so such ich das glücksel’ge Leben. Ich will dich suchen, daß meine Seele lebe. Es lebt nämlich mein Leib durch meine Seele, und meine Seele lebt durch dich« (Augustinus, 1952, S. 255 f.; X, Kap. 20). Wie die Seele das ist, was den Leib lebendig macht, so ist es das glückselige Leben (in Gott), das die Seele lebendig macht. Gott und Glückseligkeit (beatitudo) wer25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

den gleichgesetzt. Augustinus lebt zunächst sein Leben in vollen Zügen, ehe er sich um einer höheren, jenseitigen Seligkeit willen davon abwendet: »Spät hab’ ich dich geliebt, o Schönheit, so alt und doch so neu, spät hab’ ich dich geliebt! Und siehe, du warst drinnen, und ich war draußen, und dort draußen sucht’ ich dich, und mißgestaltet warf ich der Wohlgestalt mich in die Arme, die du geschaffen. Du warst mit mir, und ich war nicht bei dir« (1952, S. 263; X, Kap. 27). Er stellt die Frage nach dem Sitz Gottes bzw. der Glückseligkeit in uns und antwortet, die memoria, das Gedächtnis sei der Ort des Glücks und damit auch der Ort Gottes in uns: »So bleibst du denn von jenem Tag an, da ich dich kennenlernte, mir im Gedächtnis, und dort find’ ich dich, wenn deiner ich gedenke, und habe meine Lust an dir« (1952, S. 261; X, Kap. 24). Die Seele gewinnt ein Verhältnis zu dem Gott in ihr, einer unzerstörbaren inneren Repräsentanz der göttlichen Glückseligkeit, die allem äußerlich-sinnlichen Glückserleben weit überlegen sei. Kommentar von Philipp Mayring Dazu könnte man psychologische Forschung durchaus bestäti­ gend heranziehen, wenn gesagt wird (vgl. das nächste Kapitel, kognitive Glückstheorien), dass Glücksempfindungen immer einen inneren (im Gedächtnis repräsentierten) Vergleichsanker benötigen. Wir bewerten unser Glück in Relation zu unseren Erwar­ tungen, Zielen, bisherigen Erfahrungen.

Der späte Augustinus hat – beeinflusst vom Römerbrief des Paulus (Röm V 12–19) – aus dem dritten Kapitel der Genesis eine Erzählung von der Ur- und Erbsünde gemacht (vgl. Gross, 1960, Bd. 1). Die Ursünde, von der Schlange angestiftet, durch Eva vermittelt, wird von Adam be­gangen. Ein Selbstopfer des Gottessohnes wird nötig, damit die Heilsbilanz für die Mensch­heit wieder in Ordnung kommt. Diese Interpretation, die vom Text von Genesis 3 kaum ge­stützt wird, dient bei Augustinus der Abwehr eines Dualismus, der einen guten und einen bö­sen Gott voraussetzt wie in manchen Strömungen der Gnosis und im Manichäismus. Seiner Deutung ist 26 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Abbildung 4: Fortuna und ihr Rad (französischer Miniaturist, 1467)

das gesamte christliche Mittelalter gefolgt; noch Luther und Calvin haben sie übernommen. Zweifellos gehört sie zu den folgenreichsten einseitigen Interpretationen der Weltgeschichte. Das irdische Glück gerät um des himmlischen willen in Verruf. Aber damit taucht ein neues Pro­blem am Horizont des Denkens auf, das der Theodizee: »wenn es Gott gibt, warum dann – in seiner Schöpfung, bei seinen Kreaturen – nicht nur Glück, sondern auch Unglück?« (Marquard, 1978, S. 95). 27 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Darstellungen der Fortuna mit dem Glücksrad stehen für Klagen über die Wechselhaftigkeit und mangelnde Dauerhaftigkeit des Glücks. Zeiten intensiven Nachdenkens über Glück sind häufig Zeiten von Krisen und Katastrophen. Platon und Aristoteles reflektieren über Glückseligkeit (eudaimonía) in einer Epoche, in der Athen und die griechischen Poleis überhaupt als selbstständige und selbstbewusste politische Einheiten und selbstverständliche Lebensformen in die Krise geraten sind. Epikur entwickelt seine Lehren über Lust und Unlustvermeidung in der Zeit der Diadochen, der Warlords von damals, in der für den Philosophen gilt: Lathe biosas – lebe im Verborgenen. Cicero (1997) schreibt die »Gespräche in Tusculum« mit ihrem Thema des notwendig glücklichen Lebens des tugendhaften Stoikers 45 vor Christus nieder, zwei Jahre, bevor er selbst im Bürgerkrieg schmählich ermordet wird, im Stich gelassen von dem gleichen Octavian, den er zuvor gefördert hatte. Seneca (1999) philosophiert über Gelassenheit in den Tagen Neros, der ihm schließlich den Suizid befehlen wird. Marc Aurel (1992) formuliert seine markanten Aphorismen über das Glück, das in uns selbst liegt, im Feldlager, in einer schweren Krise des Reiches, dessen Herrscher er ist (161–180 n. Chr.) und angesichts einer Pestepidemie, die Millionen seiner Einwohner hinwegrafft. Augustinus erklärt in den Wirren der Völkerwanderungszeit die ewige Seligkeit zum höchsten erfahrbaren Glück. Die Westgoten haben 410 Rom eingenommen, die Vandalen werden kurz nach seinem Tod (430) seine Bischofsstadt Hippo Regius erobern. Boethius (2010) reflektiert über die glückbringende Philosophie in einem Kerker des Theoderich, den er nicht mehr lebend verlassen wird. Montaigne (2008) schreibt seine immer noch modern anmutenden Essays, in denen es um die subjektive Erfahrung des Glücks geht, in einer Zeit blutiger »Ketzer«-Verfolgungen und zerstörerischer Religionskriege in Frankreich.

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Überlegungen neuzeitlicher Philosophen zu einer Theorie des Glücks Es ist das Kennzeichen der antiken Glückstheorien, dass sie unmittelbar lebbar sein wollen. Die Philosophen haben den Anspruch, sich und ihre Schüler dazu anleiten zu können, dass sein Lebensglück vom Einzelnen gefunden werde. Zu den wichtigsten Unterschieden zwischen antiker und neuzeitlich-europäischer Philosophie gehört, dass in letzterer der Anspruch, Philosophie könne zu einem glücklichen Leben hinführen, in der Regel als naiv und undurchführbar aufgegeben oder gar nicht erst erhoben wird. Diesseitigkeit des Glücks: Montaigne (1533–1592)1 Im Mittelpunkt von Montaignes »Essais« stehen Fragen nach dem guten, gelingenden Leben und nach dem, was Glück ermöglicht und verhindert (vgl. Rath, 2012, S. 33 ff.). Charakte­ristisch für seine Einstellung ist ein Erstaunen darüber, warum die Menschen den ihnen gegebenen Glücksmöglichkeiten nicht mehr Beachtung schenken. Für Montaigne ist uns Glück natürlicherweise zubestimmt, wenn es uns gelingt, ausbalanciert, das heißt naturgemäß und zugleich in Einklang mit den Anforderungen der Kultur zu leben. Sein Konzept betont die Diesseitigkeit, die sinnliche und naturale Verankerung und den Vergänglichkeitsbezug der Glückserfahrung. Montaigne ist im nachmittelalterlichen Europa einer der Ersten, die die Frage nach dem guten und richtigen Leben nicht mehr – im Sinn einer theologisch bestimmten Ethik – als Frage nach dem gottgefälligen Leben stellen. Er greift maßgeblich zurück auf antike Traditionen des Nachdenkens über Glück und Lebenskunst, insbesondere auf skeptische, epikureische und stoische Konzepte. In dem durch Machtkämpfe und konfessionelle Auseinandersetzungen zerrissenen Frankreich der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sucht er politisch nach Kompromissen und rehabilitiert philoso1

In die folgenden Ausführungen zu Montaigne sind Passagen übernommen aus Rath, N. (2012). Montaignes Konzept des Glücks. Psychologie und Gesellschaftskritik, 36 (1), 33–44.

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phisch die Frage nach dem Glück. Für Max Horkheimer ist Montaigne einer der Menschen der Spät­renaissance, »die wußten, was Glück war, und eine zu gründliche Bildung besaßen, um bei den Umwälzungen, die es fortwährend gefährdeten, in religiöse und metaphysische Illusionen zu flüchten« (1938/1968, S. 201). Für ihn habe gegolten: »Die höchste Weisheit besteht darin, […] gelassen dem Glück nachzugehen, das die Natur gewährt« (Horkheimer, 1938/1968, S. 221). Montaigne – mit seiner profunden Kenntnis der philosophischen, biografischen und historiografischen Literatur der Antike – greift Glückstheorien wieder auf, die im christlichen Mittelalter nicht opportun gewesen waren. Ein Anspruch des Einzelnen auf persönliches Glück gilt vielen seiner Zeitgenossen noch als sündhaft. Auf die ewige Seligkeit kommt es ihnen an, der Zugang zu ihr soll durch das irdische Leben, diese Pilgerschaft durch das Jammertal der Welt, offen gehalten werden. Von dieser Sichtweise hat Montaigne sich bereits weit entfernt. Den antidogmatischen Kern seines Denkens versteckt er in Anekdoten und Abschweifungen. Montaigne ist unter den neuzeitlichen Denkern einer der Ersten, der die Glücksmöglichkeiten des Diesseits theoretisch zu würdigen weiß und sie weit stärker betont als die eines seligen Lebens im Jenseits. Zwar äußert er sich nicht direkt gegen derartige Erwartungen, aber er spricht sie auch nicht hoffnungsvoll aus. Montaigne steht jeder Heils­gewissheit distanziert gegenüber. Was ein Leben nach dem Tod angeht, so enthält er sich des Urteils. Wenn unsere Vorstellungen vom Jenseits vielleicht nur Trugbilder sind, gewinnt das irdische Leben eine neue Dignität. Wenn dieses Leben das einzige sein sollte, könnte es Ziel und Lebenssinn sein, hier glücklich zu sein und zum Glück anderer beizutragen. Pascal hat Montaignes Distanz zu kirchlich vermittelten Jenseitsvorstel­lungen gespürt und mit scharfer Kritik darauf reagiert. Montaigne deutet an – darin paradigmatisch für ein säkulares neuzeitliches Denken –, dass das menschliche Leben seinen Sinn in sich selbst haben könnte und wir nicht zwingend einen transzendenten, metaphysischen Sinn benötigen, um auf der Erde glücklich leben zu können. Ein solches Denken kann befreiend, aber auch riskant wirken. Wenn wir hier und nur hier leben, dann sind Bußübungen, Selbstgeißelungen oder Ketzerverbrennungen so 30 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

überflüssig wie die Angst vor Hölle und Höllenstrafen. Montaigne spricht solche möglichen Konsequenzen seines Denkens allenfalls verdeckt aus. Er setzt sich nicht der Gefahr aus, von der Inquisition auf den Scheiterhaufen gebracht zu werden, wie es acht Jahre nach seinem Tod Giordano Bruno widerfährt. Die religiösen Meinungen und Gegenmeinungen, derentwegen in seiner (und nicht nur in seiner) Zeit Menschen auf die verschiedenste Weise zu Tode gebracht wurden, hält er für prinzipiell unbeweisbare Spekulationen, »da Glaubensdinge außerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen«, wie er mit einer auf Kants Erkenntniskritik vorausweisenden Wendung sagt (Montaigne, 2008, S. 61; Essais I. 23). Montaigne jedenfalls kann unbehelligt nach Rom reisen und mit Kardinälen, dem Papst und dessen Sohn sprechen, ohne mit den Kerkern der Inquisition nähere Bekanntschaft zu machen; er darf unbehelligt nach Frankreich zurückkehren. Gerade seine Ausführungen über Glück sind allerdings in Rom ein Stein des Anstoßes. Man empfiehlt ihm, »bei einer Neuauflage meines Buches das, was ich allzu freimütig fände, herauszunehmen – unter anderm das wiederholt vorkommende Wort fortune« (Montaigne, 2002, S. 196). Aber sein scheinbarer Respekt ist für die Fanatiker unangreifbar. Ein freier Geist, so sah er es wohl, sollte sich nicht nur die Freiheit nehmen, zu denken, was ihm plausibel und begründbar erscheint, sondern nach Möglichkeit auch das eigene Überleben in Zeiten der Herrschaft eines Meinungsterrors sicherstellen. Es ist die Zeit der Pariser Bartholomäusnacht (1572), in der Montaigne Ausschau nach einem neuen Bild von Glück hält. Überraschenderweise sind viele seiner Reflexionen dazu nach mehr als vierhundert Jahren noch anregend und unverbraucht. Glück ist für Montaigne etwas sinnlich Erfahrbares, es hat mit dem gelebten und zu lebenden Leben zu tun. Es ist gegenwärtig, fühlbar, konkret, nicht weit entfernt in einer ungewissen Zukunft auf uns wartend. Goethes Verse passen darauf: »Willst du immer weiter schweifen? / Sieh, das Gute liegt so nah. / Lerne nur das Glück ergreifen, / Denn das Glück ist immer da« (Goethe: »Erinnerung«, 1977, S. 48). Dieses Glück, das immer da ist, gilt es zu sehen und auszukosten. Indem wir nämlich zwanghaft nach dem Glück streben, nehmen wir die Glücksmöglichkeiten nicht mehr wahr, die auf unse31 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

rem Wege liegen. Wir sind blind für das Glück, das uns anlächelt, weil wir Verlorenem nachtrauern oder Zukünftiges sichern möchten. Das Verhältnis zum Glück kann keines des Rechnens, Auskalkulierens, Erwirtschaftens sein. Man muss es annehmen, wie es sich zeigt. Es ist etwas, das wir immer schon haben oder doch haben könnten, als Glück der Freundschaft, der Liebe, der Erfahrung, Erinnerung und Erkenntnis. Aber wir verstellen es uns Montaigne zufolge durch Formeln und eingelernte Phrasen, durch das Absehen von dem, was uns gut täte. Für Montaigne ist das »wahre Glück unseres Lebens« eines, »das von der Ruhe und Zufriedenheit eines rechtschaffnen Geistes sowie der Entschlußkraft und Selbstsicherheit einer im Gleichgewicht befindlichen Seele ausgeht« (Ess. I. 19, S. 44 f.). Die begründete Wertschätzung seiner selbst also führt zu einem heiteren In-sich-Ruhen, zu Gelassenheit und Glück. Auch die Institutionen haben ihre Schuld an der Glücksferne so vieler Menschen. Die üblicherweise autoritäre, von Schlägen unterstützte Erziehung in der Familie, so sieht es Montaigne, hindert die Kinder an einer freien und naturge­mäßen Entfaltung. Das einfache Volk hat nicht viel zu lachen, und dabei ist es dem Glück noch näher als die arroganten Eliten. Montaignes scheinbar milde Reflexionen weisen immer wieder auf versagte, verdrängte, vergessene Glücksmöglichkeiten hin. Die Natur bietet vielerlei Glückspotenziale, aber wir schöpfen sie nicht aus. Montaigne sagt (einen Gedanken von Epiktet aufgreifend): »Die Menschen […] werden durch die Meinungen gequält, die sie von den Dingen haben, nicht durch die Dinge selbst« (Ess. I. 14, S. 29). Wenn wir naturgemäßer leben und unsere Ansprüche ermäßigen würden, könnten wir glücklicher sein. Den Indios Lateinamerikas fehle es an nichts Notwendigem – »vor allem nicht an dieser großen Gabe, mit ihrer Lage wunschlos glücklich zu sein« (Ess. I. 31, S. 113). Montaignes Philosophie ist vom Tode aus gedacht. »Philosophieren heißt Sterben lernen« ist der Titel eines seiner zentralen Essais (Ess. I. 20). Hier nimmt er einen hedonistischen Standpunkt ein und betont, die Vernunft müsse »allein nach unserer Zufriedenheit trachten und ihr ganzes Bemühen folglich auf nichts anderes richten, als uns gut und fröhlich leben zu lassen […]. Was immer die Philosophen sagen – selbst in der Tugend trachten wir letzten Endes nach Lust« (Ess. I. 20, S. 45 f.). Ein Leben im Einklang mit 32 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

den eigenen Prinzipien findet sein Glück in sich selbst, wie Mon­ taigne am Beispiel des gefangenen Sokrates in Platons »Kriton« erläutert, dem die Hinrichtung bevorsteht (vgl. Ess. II. 11, S. 212). Wie für Platon und die Stoiker ist auch für Montaigne das selbst geschaffene Glück eines tugend­haften Lebens unzerstörbar: »Bleibt der Tugend das gewöhnliche Glück versagt, kümmert sie das nicht: Sie kommt ohne es aus« (Ess. I. 26, S. 89). Tugend ist dabei in der humanistischen Rhetorik Montaignes nicht als repressive Instanz gedacht. Sie ist geradezu die »Feindin von Sauertöpfischkeit und Mißmut, von Furcht und Zwang, die sich zur Führerin die Natur, zu Gespielinnen Glück und Sinnenfreude auserkor« (Ess. I. 26, S. 88). Die Tugend ist demnach nicht etwas Abschreckendes; sie ist durchaus mit Lust, Genuss, Vergnügen und Glück vereinbar, in ihr entfalten sich die Menschen zu ihrer eigenen Bestimmung. Tugendhaftes Leben ist für Montaigne naturgemäßes Leben, und nur dieses garantiere das Glück: Er spricht von der natürlichen »Weisheit zur Lebensführung« bei »jedem, dem das Glück beschieden ist, sich unbefangen und in wohlgeordneten Bahnen mit sich selbst befassen zu können – eben ganz der Natur gemäß« (Ess. III. 13, S. 541 f.). Naturgemäßheit gilt ihm – wie Diogenes und den Kynikern der Antike und wie später Rousseau – als wichtigster Maßstab, nicht etwa die Bibel oder die Lehren der Kirche. »Unserer großen und mächtigen Mutter Natur geschähe Unrecht, wenn wir sie mit unsren Künsten von ihrem Ehrenplatz verdrängten« (Ess. I. 31, S. 111): Dies ist ein zentraler Gedanke auch für die Glückstheorie Montaignes: Die Natur ist ursprünglicher und für das menschliche Leben belangvoller als die Kultur samt den in ihr geltenden Gewohnheiten. Glücklich leben kann nur, wer naturgemäß lebt – allerdings ohne sich mit den herrschenden Gewohnheiten und mit den Anforderungen des Staates, der Religion, der Justiz usw. in gefährliche Streitigkeiten zu verwickeln, was auch wieder unglücklich machen könnte. Montaignes Glücksdenken kann für eine heutige »Philosophie der Lebenskunst« in Anspruch genommen werden (vgl. Schmid, 1999, S. 363 ff.). Für Schmid ist er ein Erneuerer antiker Theorien des richtigen Lebens, dessen Denken auch für Orientierungsversuche in der Gegenwart hochaktuell sei. Montaignes Glückstheorie vermittelt zwischen antikem und neuzeitlichem Denken und 33 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

kann philosophische und psychologische Fragestellungen anregen. Sie impliziert eine Theorie des guten Lebens und zugleich eine Kritik an den durch dogmatische Metaphysik und religiöse Streitigkeiten angerichteten Verwüstungen. Für ihn gibt es noch kaum eine Gattungsgrenze zwischen philosophischen, psychologischen, anthropologischen, literarischen und alltagsbezogenen Konzepten des Glücks. Dichter wie Shakespeare und Goethe, Moralisten wie La Rochefoucauld und Chamfort (vgl. Schalk, 1980), Philosophen wie Pascal und Nietzsche, auch Psychologen und Psychotherapeuten der Gegenwart haben Montaignes Glückskonzept und seine Überlegungen zum richtigen Leben an- oder aufgegriffen, daraus geschöpft, sie aktualisiert und in ihr Denken einbezogen. Glückswürdigkeit statt Glückseligkeit: Kant (1724–1804) Viele Aufklärungsphilosophen seit dem späten 17. Jahrhundert sind durch das Denken der Ökonomie fasziniert. Ökonomische Theorienbildung passt zur Vorliebe der großen Denker des 17. Jahrhunderts (Descartes, Hobbes, Spinoza, Leibniz) für eine Erkenntnis der Welt nach dem Modell der Mathematik. Ökonomie gilt als eine Mathematik, die auf gesellschaftliche Verhältnisse angewandt wird. Moralphilosophen wie Adam Smith (1723–1790) rechnen mit einer Art Automatismus des Glücks, für den es eigentlich keiner äußerlichen Moral mehr bedarf. Zugleich sieht Adam Smith, dass es ein Korrelat zur ökonomischen Rationalität geben muss; für ihn ist das die Sympathie. Die utilitaristische Ethik von Francis Hutcheson (1694–1746), Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–1873) ist im Kern eine Ökonomie des Glücks. Die Handlungsmaxime der »größten Beglückung der größten Zahl« (Hutcheson) bzw. das »Prinzip des größten Glücks« (Mill, 2006, S. 94) setzen eine Berechenbarkeit des Glücks und damit zugleich seine Verwirklichbarkeit voraus (vgl. Höffe, 1978, S. 147 ff.). Für Kant ist eine solche Denkweise unakzeptabel, das Glück prinzipiell nicht berechenbar: Die Würde des Menschen beruht auf seiner Freiheitsund Vernunftfähigkeit und damit auf der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeit, seinesgleichen wie sich selbst anzuerkennen und darum aus Freiheit moralisch zu handeln. 34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Kant zufolge kann Glück – er spricht in der Regel von Glückseligkeit – nicht Prinzip einer Gesetzgebung sein und taugt daher nicht als Kriterium der Moralität (vgl. Sommer, 1978, S. 131–145; Zitate im Folgenden nach dem Kant-Lexikon von Eisler, 1969, S. 211–215). Die Förderung fremden Glücks gehört zwar zu den sittlichen Pflichten, das eigene Glück aber kann nicht als höchstes Ziel des Lebens angesehen werden; auch Ziel der Geschichte ist nicht das Glück. Kants negative Theorie des Glücks betont, eine klare Definition sei unmöglich, weil die Idee eines Glückszustandes von uns immer wieder in anderer Weise entworfen werde. Obgleich ein jeder zur Glückseligkeit gelangen wolle, so gelte doch, dass »er doch niemals bestimmt und mit sich einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle«, weil »alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze; ein Maximum des Wohlbefindens in meinem gegenwär­tigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist« (Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, III 40 f.). Nur ein allwissender Geist wäre fähig zu wissen, was Menschen in Wahrheit glücklich machen könnte. Selbst wenn eine klare und eindeutige Definition des Glücks möglich wäre, »so würde doch, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht […], von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden« (»Kritik der Urteilskraft«, § 83). An Freuds negativen Hedonismus des Glücks klingt ein Satz aus Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger­licher Absicht« an: »Es scheint […] der Natur darum gar nicht zu tun gewesen zu sein, daß er [der Mensch] wohl lebe, sondern daß er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen« (»Idee …«, 3. Satz). Nicht zuerst um die Glückseligkeit der Menschen ist es Kant zu tun, sondern um ihre Glücks­würdigkeit, um ihre Moralität. Das Glück ist für die kritische Philosophie Kants kein letztes Ziel; es ist »nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft« (»Grundlegung«, III 40 f.). Wir imaginieren nur, was unser Glück sein könnte, und unsere Vorstellungen sind notwendig wechselhaft, unzureichend und oft sogar falsch. 35 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit trägt für Kant gar nichts »zur Gründung der Sittlichkeit« bei (»Grundlegung«, III 69). Die eigene Glückseligkeit könne nur dann zur Handlungsmaxime werden, wenn das Ziel des Glücks der anderen darin eingeschlossen sei. Nicht Glück, sondern Glückswürdigkeit sollen wir mit unserem Handeln anstreben. Schon Schiller hat kritisiert, dass Kant nur dem Handeln aus Pflicht, nicht dem aus Neigung moralischen Charakter zuspreche. Moral ist für Kant eindeutig nicht die »Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen« (»Kritik der praktischen Vernunft«, II 166). Kant kennt die Debatten der Aufklärung über die Beförderung des Glücks (vgl. Cassirer, 2007, S. 156 ff.), aber er bleibt, anders als viele Zeitgenossen, Glücksskeptiker: »Glückseligkeit ist das Losungswort aller Welt; aber sie findet sich nirgend in der Natur, die der Glückseligkeit und der Zufriedenheit mit seinem Zustande nie empfäng­lich ist. Nur die Würdigkeit, glücklich zu sein, ist das, was der Mensch erringen kann« (Kant, Nachlass). Bei Kant finden sich auch Erwägungen dazu, worauf die Glückseligkeit denn psychologisch eigentlich beruhe. In diesem Zusammenhang gelangt er zu einem Konzept der Selbstwirksam­keit: Glückseligkeit ist nämlich »nicht die größte Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewußtsein seiner Selbstmacht, zufrieden zu sein«; sie ist daher für Kant auch nicht primär etwas Empfundenes, sondern etwas Gedachtes (Nachlass). Insofern hat Glücksfähig­keit mit Freiheit zu tun. Glücksstreben als Menschenrecht (1776) Ein Zusammenhang von Freiheit und Glück wird mit einer kaum zu überschätzen­den Wirkung von Thomas Jefferson (1743–1826) in der Präambel der US-amerikanischen Unabhängigkeits­erklärung (1776) hergestellt: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.« Auf Deutsch: »Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewis36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

sen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören« (zit. nach Nink, 2000, S. 223). Frage an Norbert Rath Kann es sein, dass hier die etwas oberflächliche Happiness-Definition (als subjektives Wohlbefinden) in der US-amerikanischen psychologischen Glücksforschung ihren Ausgangspunkt genommen hat? Antwort Vielleicht ist der Utilitarist Jeremy Bentham hier als Ausgangspunkt zu nennen. Er hat in seinem Essay »Defence of Usury« (1787) die These vertreten, »jedermann könne das eigene Glück am besten selbst beurteilen«; Höffe nennt das »das Postulat der Präferenz­ souveränität der Betroffenen« und gibt zu bedenken, ohne Hilfe »von reflexiven, von kritisch-hermeneu­tischen Verfahren wie Psy­ choanalyse, Ideologiekritik u. a.« ließen sich verzerrte Urteile in der Einschätzung dessen, was das eigene Glück sei, nicht ohne Weiteres korrigieren (Höffe, 1978, S. 156 f.).

Es ist ein Erbe der Aufklärung, wenn Jefferson als Sprecher der revolutionär gesinnten US-Bürger Glück und Freiheit so nahe zusammenstellt. Das Streben nach Glück wird jetzt verstanden als ein Menschenrecht, auf das jeder Lebende Anspruch hat (auch wenn Jefferson 1776 mit seinem Vorschlag nicht durchdrang, die Sklaverei in den Vereinigten Staaten abzuschaffen). In der Kombination der Ziele Glück und Freiheit mit dem Ziel der Gleichheit kündigen sich – im Horizont der Französischen Revolution – die neuen politischen Glückskonzepte des Liberalismus und Sozialismus an. Unproblematisch ist eine Politisierung des Glücks nicht. Die Utopie eines nur so und nicht anders herzustellenden Glücks der Menschheit (oder Glücks des eigenen Volkes, in nationalistischen Konzepten) hat zur Rechtfertigung konkrete Menschen verachtender diktatorischer Systeme herhalten müssen. Ein entschiedener Liberaler, der – oft mit hohem persönlichem Risiko – als Philosoph und als politischer Aktivist gegen einengende und unterdrückende Systeme 37 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

politischer und weltanschaulicher Provenienz kompromisslos und unbeirrt für das Glück und die Freiheit des Einzelnen und die verletzten Menschenrechte ganzer Völker eingetreten ist, ist Bertrand Russell (1872–1970). In seiner Schrift »Die Eroberung des Glücks« (1978) macht er konkrete Vorschläge für eine den Möglichkeiten des Glücks gegenüber offene Lebensgestaltung. Leere Blätter im Buch der Geschichte: Hegel (1770–1831) Hegel rühmt als Leistung Kants, er habe die Glücksethik der Spätaufklärung (zum Beispiel Moses Mendelssohns) überwunden. »Diesem alles festen Halts in sich entbehrenden und aller Willkür und Laune Tür und Tor öffnenden Eudämonis­mus hat dann Kant die praktische Vernunft entgegengestellt« (Hegel, 1970, Bd. 8, »Enzyklo­pädie«, § 54, Zusatz; S. 139). Nicht das Ausblenden des Negativen macht glücklich, Glück gibt es nicht als Verleugnen und als ein So-tun-als-ob: »Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, […] sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt« (Hegel, 1970, Bd. 3, »Phänomenologie des Geistes«, Vorrede, S. 36). Hegel wäre kein Anhänger einer »positiven« Psychologie gewesen. Ihm geht es um eine objektive – und das heißt zugleich: skeptische – Sicht auf das Glück. Das Thema der Geschichte und das Ergebnis des Geschichts­ prozesses ist für ihn die verwirklichte Freiheit. In der Weltgeschichte, sagt er ungerührt, sei es nicht um das Glück des Einzelnen zu tun. »Glücklich ist derjenige, welcher sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt. Die Weltge­schichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr« (Hegel, 1970, ThWA Bd. 12, S. 41 f.). Eine Weltgeschichte des Glücks also lässt sich Hegel zufolge nicht schreiben. Wohl aber lässt sich die Geschichte des Nach38 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

denkens über Glück rekonstruieren (vgl. L. Marcuse, 1972; Ritter u. Spaemann, 1974; Bien, 1978; Spaemann, 1989; Engelhardt, 1985; Heller, 2004). Auch die Philosophie des Glücks ist jeweils »ihre Zeit, in Gedanken erfasst« (Hegel, 1970, Bd. 7, S. 26). Wiederkehr antiker Glückskonzepte: Nietzsche (1844–1900) Nietzsche greift in seiner Kritik am Christentum auf antike Philosophen zurück. Für seine Polemik gegen die asketische Glücksfeindschaft des Christentums verwendet er unter anderem neokynische, epikureische und skeptische Argumente. Er polemisiert gegen den Utilitarismus Benthams und Mills und deren Prinzip des größten Glücks der größten Zahl sowie gegen die in seinen Augen substanzlose Zufriedenheits­kultur der Moderne: »›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. […] Kein Hirt und eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus« (Nietzsche, 1980, KSA 4, S. 20). Nietzsche weist den Gedanken zurück, man könne das Leiden mit dem Argument legiti­mieren, es diene innerhalb einer umfassenderen Ökonomie des Glücks dessen Vertiefung: »Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glückes angelegt; […] überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst finden – und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war –, nur wäre es lächerlich zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei« (Nietzsche, 1980, KSA 2, I, Aph. 591, S. 339). Für Nietzsche resultiert das wahre Glück aus dem Schaffen, der Tätigkeit, dem Überwinden von Widerstän­den und dem damit verbundenen Erleben eines Machtzuwachses und einer Selbststeigerung (vgl. Spaemann, in Ritter u. Spaemann, 1974, Sp. 705). In diesem Sinne lässt er Zarathustra sagen: »Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!« (Nietzsche, 1980, KSA 4, »Also sprach Zarathustra«, Kap. 92, Ende des IV. Teils).

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Kulturfreundliches und kulturfeindliches Glück Das versagte Glück: Aspekte der Kulturtheorie Freuds (1856–1939) Die Art und Weise, wie Sigmund Freud über Glück schreibt, entspricht eher der philoso­phischer Schriftsteller als der heutiger empirischer Glücksforscher. Es gibt Freud zufolge nur eine Antwort auf die Frage, was die Absichten der Menschen sind und was sie vom Leben fordern: ihr Glücksstreben. »Dies Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, anderseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird ›Glück‹ nur auf das letztere bezogen« (Freud, 1930/1999, GW XIV, S. 433). Wie Schopenhauer entwirft Freud ein skeptisches Bild, was die Realisierungsmöglichkeiten dieses Glücksstrebens angeht (vgl. Zwiebel, 2007). In der Realität des Lebens stellen sich unserer Programmierung auf Glück erhebliche Hindernisse in den Weg: »die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (GW XIV, S. 434). Zudem sei das Glücksempfinden »seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich«. Zumeist müsse man sich mit der Leidvermeidung zufrieden geben; Glück wie Leid haben dabei keine objektive Wirklichkeit außerhalb des menschlichen Empfindungs­vermögens (vgl. GW XIV, S. 434–436). Das Unglück bedroht uns von drei Seiten her: aus dem von Schmerzen, Krankheiten, Verfall und Tod bedrohten eigenen Körper, aus der Außenwelt bzw. der äußeren Natur, die uns mit Gefahren und Katastrophen aufwartet, und schließlich aus unseren sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, die für uns notwendig und kostbar sind, uns aber immer wieder erhebliches Leiden bringen. Ihrer Struktur nach ist die Welt demnach den menschlichen Glücksansprüchen entgegengesetzt. Es gibt aber einen unverächtlichen, wenn auch langsamen und aufwendigen Weg zur Herstellung von Glück – die Kultur: »Man arbeitet dann mit Allen am Glück Aller« (GW XIV, S. 435). Es gibt aber auch eher kulturfeindliche, stark risikobehaftete Techniken des Glückserwerbs; sie bestehen beispielsweise in der Beeinflussung des eigenen Organismus durch chemische Intoxikation, durch Drogen. Rauschmittel bieten den Schein einer gewissen Autonomie 40 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

gegenüber der Außenwelt und die Illusion einer eigenen besseren Welt; das Erwachen aus dem Rausch bringt allerdings die Alltagsprobleme verschärft zurück. Die Flucht in den nächsten Rausch ist nur eine scheinbare Lösung des Glücksproblems. Und dieses Glück hat einen hohen Preis, macht gewissermaßen süchtig nach mehr (vgl. GW XIV, S. 437, vgl. zur Kritik an diesen »künstlichen Paradiesen« auch Kupfer, 1996). Für Freuds anthropologische Skepsis ist die Möglichkeit von Glück selten genug gegeben. Nicht zuletzt die Sexualität stellt Glücksempfindungen bereit. Aber auch diese Empfindungen sind flüchtig, schwankend, immer bereit zu verschwinden; sie sind kein Element der Stabili­sierung menschlicher Beziehungen. Daher müsse die Kultur durch mächtige, sozial kontrollie­rende und durch ein System von Belohnungen und Strafen geschützte Institutionen wie zum Beispiel die Ehe das Glücksversprechen der sexuellen Beziehung eingrenzen. Unsere Werturteile werden allerdings »unbedingt von […] Glückswünschen geleitet« (vgl. GW  IV, S. 505). Das Glücksempfinden ist für Freud ein Gespinst, das, flüchtig gesponnen, schnell wieder zerfällt. Dabei ist für ihn das sexuelle Glück das Modell des Glücks­empfindens überhaupt – dies ein übrigens für die Glückstheorien der Antike, auch für Epikur, gänzlich fremder Gedanke. Für Freud aber ist es »die geschlechtliche Liebe«, die »das Vorbild für unser Glücksstreben« abgibt (vgl. GW  XIV, S. 441). In Erfahrungen drogeninduzierten Rausches werde etwas Ähnliches gesucht. Beide Male gehe es um eine Stimulierung unseres zentralen Nervensystems. Freud – als pessimistischer Hedonist (vgl. Birnbacher, 2006, S. 17) – hält an dem Satz fest, die Menschen seien nicht zum Glück geschaffen. Er behauptet allerdings auch nicht, sie seien zum Unglück geschaffen, wenn sie sich nicht bessern und bekehren. Er sieht das menschliche Leben als einen immer erneuten Konflikt zwischen dem (sei es evolutionär, sei es biografisch) tief in uns angelegten Streben nach Glück und der Einschränkung oder Verweigerung des Glücks durch Natur und Umwelt. Glücksempfindungen verblassen durch Gewöhnung, sie können keinesfalls über die gesamte Lebensspanne, nicht einmal über lange Perioden des Lebens gleichmäßig andauern. Das Glück flackert in einem 41 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Lebenslauf kurz auf, um schnell wieder zu erlöschen; es ist punktuell, flüchtig, instabil. Wer die kindliche Sehnsucht nach dem vollen Glück für sich selbst ein Leben lang nicht aufgibt, läuft Gefahr, etwas nicht Realisierbares anzustreben. Seine Glücksziele wird er kaum je vollständig verwirklichen können. Freud hält nüchtern fest, dass das Leben, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft eingerichtet ist, nicht primär auf das Glücklichsein des Individuums ausgerichtet sei. Eine religiöse Sinngebung des Leidens lehnt er entschieden ab. Eher geht es ihm um eine kulturelle Sinngebung der Askese. Damit die Kultur erhalten bleibt und wächst, müssen die einzelnen Individuen ihre selbstbezogen-kulturfeindlichen Ansprüche und Egoismen aneinander abschleifen. Sie müssen sich zurücknehmen, sich zu relativieren lernen, um das Glück ihrer Kultur nicht zu gefährden und den ihnen erreichbaren Anteil an Zufriedenheits­gefühlen zu erreichen. Dieses kulturfreundliche Glück, errungen durch Arbeit, lässt Freud gelten. Auch für ihn gibt es eine erfolgreiche Art des Glücksstrebens, vermittelt durch Tätigkeit und Leistung, wenn auch nicht mit dem vollen Glücksempfinden des Kindes oder des Liebenden ausgestattet. Es ist das Glück des Wissenschaftlers. Ein abgeleitetes Glück herrscht hier vor, das der Tüchtigkeit, verknüpft mit dem Glück der Selbstanerkennung. Dieses gleichsam »puritanische« Glück, so dürfen wir vermuten, ist das Glück, das der Begründer der Psychoanalyse für sich selbst anstrebte und gelten ließ. Glück erschöpft sich für Freud weithin in Sehnsucht, dem kaum erfüllbaren Wunsch danach, glücklich zu sein und es auf Dauer zu bleiben. Der Antiromantiker Freud weiß, dass der Weg zurück ins Paradies, in eine ozeanisch beglückende Unmittelbarkeit für den modernen Erwachsenen versperrt ist. Zwar speist sich das Glücksverlangen aus alten biografischen Quellen, aus Erinnerungen des einzelnen an seine Kindheit. »Glück ist die nachträgliche Erfüllung eines prähistorischen Wunsches. Darum macht Reichtum so wenig glücklich: Geld ist kein Kinderwunsch gewesen«, schreibt Freud an Wilhelm Fliess (1950, S. 259). Wenn Kleist (1810/1970, S. 345) davon spricht, man müsse vielleicht den Weg um die ganze Welt machen, um den Rückweg ins Paradies zu finden, so hält Freud es prinzipiell nicht mehr für möglich, im Paradies anzukommen. 42 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Wir dürfen unsere rationale Einstellung zur Welt, so seine Sicht, nicht zugunsten eines Wunschdenkens aufgeben, auch nicht um den Preis von aller Wahrschein­lichkeit nach uneingelöst bleibenden Glücksversprechen, wie Religionen und Weltan­schauungen sie überschwänglich bereithalten. In »Die Zukunft einer Illusion« empfiehlt Freud – die Projektionstheorie Ludwig Feuerbachs aufgreifend – stattdessen, dass der Mensch »alle seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle freigewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert«, damit »das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt« (Freud, 1927/1999, GW XIV, S. 373 f.). Adornos Kritik am Glückskonzept der Psychoanalyse2 Dem sensualistischen Konzept Freuds, wonach man Glück am Modell der leibhaften Erfahrung von Lust erlebt und versteht, stimmt Theodor W. Adorno (1903–1969) – als Kritiker Freuds – zu, wendet sich aber gegen die »Ermahnung zur happiness« (1951/1970, S. 74) und weigert sich, das Recht auf Glück zum Recht auf Unlustvermeidung zu ermäßigen und so den kindlichen Glücksanspruch aufzugeben zugunsten einer lauen Zufriedenheit des Angepasstseins. Die triebökonomische Konstruktion des Glücks erscheint ihm zu mechanistisch, die Folgerungen, die Freud aus ihr ableitet, sind ihm zu sozialtechno­logisch (vgl. 1951/1970, S. 72). Mit »positiver Psychologie« als Weg zum Glück, so viel ist sicher, hat Adornos Konzept nichts im Sinn. Radikale Kulturkritik versteht sich viel­mehr als Alternative zu konformistischer Analyse (vgl. Adorno, 1951/1970, S. 74). Für Adorno muss Glück zugleich somatisch spürbar und metaphysisch grundiert sein, sonst bleibe es schal. Das ist etwas anderes als Freuds funktionale Darstellung der Bedeutung des Glücksstrebens und seine Analyse der Ambivalenzen der Kultur. Mit Kritikern wie Ernst Simmel, Otto Fenichel, Herbert Marcuse (1955/1971) 2

In die folgenden Ausführungen zu Adorno sind Passagen übernommen aus Rath, N. (2008). Negative. Glück und seine Gegenbilder bei Adorno. Würzburg, Kap. 7, S. 176 ff.

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polemi­siert Adorno gegen Tendenzen zur Anpassung an gängige mittelklassen­spezifische Wertvorstellungen, wie er sie in der USamerikanischen Analyseszene bereits seit den 1940er Jahren beobachten zu können meint; Russell Jacoby (1975, 1985) wird diese Kritik aufgreifen. Die Psychoanalyse hat für Adorno – mit einer Formulierung von Erich Fromm (1971, S. 151) – die »Pathologie des Normalen« zu benennen und aufzuarbeiten, sie hat jedoch nicht das So-Sein der Welt durch die Anpassung des Außenseiters an ihre Standards zu verfestigen (vgl. Adorno, 1951/1970, S. 74). Therapeutisch verordnetes Glück bleibt für Adorno problematisch, so wie er Religion nicht um der Psychohygiene willen empfehlen kann. Die Möglichkeiten der Glückserfahrung sind und bleiben solche der spezifischen Individuen mit ihren jeweils besonderen Prägungen. Er misstraut allen Spezialdisziplinen, die für sich beanspruchen, Menschen zu ihrem Glück verhelfen zu können. Psychoanalytiker müssen sich von ihm ebenso wie Sozialarbeiter, Pädagogen und Theologen fragen lassen, ob sie das Glück ihrer jeweiligen Klientel befördern oder das nur vorgeben, ob sie vielleicht nur ungedeckte Wechsel auf ein imaginäres Glück im Land der Zukunft oder des Jenseits ausstellen, vergleichbar den Ablasshändlern der Zeit Luthers. Wer den Menschen »falsche« Bilder eines nur scheinbaren, vorgeblichen Glücks ein- oder aufreden will, zieht Adornos schärfste Attacken auf sich, weil er damit die Perspektive auf »wirkliches« Glück als erst Herzustellendes verstelle. Mag eine stichhaltige Unterscheidung zwischen »wahrem« und »falschem«, »wirklichem« und »schein­barem« Glück auch ebenso schwer realisierbar sein wie eine Unterscheidung zwischen »richtigem« und »falschem« Bedürfnis: In der Kritik am hochstaplerischen Umgang mit Glücksversprechen trifft Adornos Polemik, und man kann annehmen, dass sie heute, da sich in Deutschland zahlreiche Pseudotherapien und esoterische Glückspropheten auf einem wachsenden »Psychomarkt« tummeln, nicht unberechtigter geworden ist. Die skeptische Botschaft Freuds vom Glück hält den Glücksmöglichkeiten – Adorno zufolge – eher die Treue als Ratgeber, die empfehlen, das Glück in Besitz und Erfolg, Beliebtheit und Reichtum oder gar in der manipulativen Macht über Menschen zu suchen. Demnach wäre die »negative Psychologie« Freuds 44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

immer noch aktuell, vielleicht in höherem Maße, als die wie ein Korken auf den Wellen des Zeitgeists schwimmende »Positive Psychologie«. Kommentar von Philipp Mayring Auf die Positive Psychologie und ihren Ideologiegehalt möchte ich im übernächsten Abschnitt (»Die zentrale Frage: Lässt sich Glück beeinflussen? Psychologische Antworten«) ausführlich eingehen.

Eine aktuelle Darstellung psychoanalytischer Glückskonzepte gibt Morbitzer (2013). Morbitzer unterscheidet zwischen dem Glücksbegriff der Triebtheorie (hier bedeutet Glück Triebbefriedigung), dem der Narzissmustheorie (die das Glück der Regression analysiert) und dem der Objektbeziehungstheorie, die darauf hinweist, dass die Schaffung und Aufrecht­erhaltung von Glück befördernden Sozialbeziehungen eine dauerhafte Aufgabe bleibt.

Adornos kritische Theorie des Glücks Glück, Geschichte, Zeitgeschichte Eine positive Bestimmung des Glücks ist von Adorno nicht zu erwarten (vgl. Rath, 2008, S. 175–193). Für Horkheimer und Adorno sind die Zeiten des Glücks kurz und illusionär; das Glück der Wenigen wird erkauft mit der Unterdrückung und Ausbeutung der Vielen. Sie skizzieren eine Historik der Verdrängung. Deren Folgen prägen Selbstkonzept und Körperbewusstsein der vom Mangel des Glücks Gezeichneten: »Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften. […] Von der Verstümmelung betroffen ist vor allem das Verhältnis zum Körper« (vgl. Horkheimer u. Adorno, 1947, S. 276). Es blieb bei der Skizze; das an den kulturtheoretischen Schriften von Freud und Nietzsche orientierte 45 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Großprojekt einer Geschichte als Geschichte der rächenden Wiederkehr des Verdrängten wurde nicht ausgeführt. Nationalsozialismus und Stalinismus, als Organisationsformen totalitärer Herrschaft, sind einander in der Sicht Adornos darin ähnlich, dass beide mit uneinlösbaren Glücks­versprechungen arbeiten und damit Untaten vorab zu rechtfertigen suchen. Die Glücksver­sprechen sind die Ablässe in den Heilslehren der politischen Zwangssysteme des 20. Jahrhun­derts. Wo es um das Glück von großen Kollektiven, sei es des eigenen Volkes, sei es der gesamten Menschheit geht, was zählt da noch das Unglück des Einzelnen, der nebenbei zertreten wird, wenn er sich nicht einschwören lassen will auf die allen verordnete Seligkeit? Für die große Gesamtrechnung spielt sein Glück oder Unglück offenbar keine Rolle. Politik aber, wie Adorno sie sich vorstellt, sollte »den besseren Zustand […] denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno, 1951/1970, S. 131). In den »Minima Moralia« ver­weist Adorno auf im modernen Alltag verstellte und verloren gehende Glücksmöglichkeiten. Leiden und Glück, Negativ des Glücks Leiden hat jeweils eine spezifische historische Prägung; es ist nicht einfach naturgegeben. Häu­fig dient es bestimmten und benennbaren Partikular­interessen. Es ist keine ontologische Konstante, sondern grundsätzlich änderbar. Die Identifizierung mit fremdem Leid bleibe durch­weg eher oberflächlich; Uninteressiertheit an fremdem Schmerz sei eine Grundhaltung der Menschen der Gegenwart. Rechtfertigungen und Sinngebungen des Leidens akzeptiert Adorno nicht (vgl. Adorno, 1970a, S. 160). Er weigert sich vor allem, wie Hegel einen ge­schichts­immanenten Sinn des Leidens zu postulieren, und weist auch jeden Trost ab, der die mensch­lichen Glückserwartungen in ein Jenseits oder ein Paradies auf Erden verlagert. Prinzipiell verweigert er das positive Reden über Sinn, Freiheit, Utopie oder Glück. Seine Methode ist die eines Aufweises der Möglichkeit eines Gewünschten aus dem, was ihm entgegensteht (vgl. Adorno, 1951/1970, S. 334). Demnach verwirklicht sich Freiheit erst im Wider­stand gegen unterdrückende Verhältnisse, Würde im 46 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Nichtdulden von Demütigungen, Gerechtigkeit in der Auflehnung gegen Ungerechtigkeiten, Glück in der Kritik an und Veränderung von glücksfeindlichen Strukturen. Eine Leerstelle im Zentrum der Theorie Für Adornos philosophische Schriften lässt sich eine methodische Gemeinsamkeit ausmachen. Immer geht es darin um die Negierung von als negativ Wahrgenommenem oder Erkanntem, ohne dass eine diesem Negativen entgegengesetzte Positivität unmittelbar benannt würde. Was ist das gemeinsame inhaltliche Motiv? Es wird nicht direkt benannt. Aber es ist identifizierbar: Im Mittelpunkt der Kritischen Theorie Adornos steht das Motiv des Glücks. Vom »beschädigten Leben«, von Ungerechtigkeiten der Gesellschaftsstruktur, von vorurteilsvollem oder ideologisch borniertem Bewusstsein ist darum die Rede, weil das Bessere nur als Gegenbild entworfen werden könne. Adorno spricht immer wieder, öfters mit Bezug auf Kant, vom »Glück des Standhaltens« (1970b, S. 31). Wie für Horkheimers Denken gilt auch für das seine: »Die universelle Sehnsucht der Menschen nach Glück und Erfüllung ist der kritischen Theorie ein Letztes« (Brunkhorst, 1985, S. 375). »Ohne Angst Leben« Lässt man Adornos Bestimmungen des Glücks Revue passieren, so zeigt sich, dass das normative Zentrum seiner Spielart der Kritischen Theorie ein Glückshedonismus ist. Das menschliche Glücksverlangen legitimiert sich – wie schon für Aristoteles – aus sich selbst, es bedarf keiner übergeordneten Zwecksetzung. Die pädagogisch (Platon), theologisch (Augustinus), moralphilosophisch (Kant), geschichts­theoretisch (Hegel), kulturanalytisch (Freud) oder sonstwie begründeten Einschränkungen möglichen Glücks stehen für Adorno zur Kritik. Für ihn ist Glück ein Resultat gelebten Lebens, kein objektivierbarer Besitz von Glücksgütern, sondern immer nur vom Subjekt als solches erfahrbar. Glück kann nicht verordnet und vorgeschrieben werden; es gibt keine ein für 47 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

alle Mal Glück verbürgende Praxis. Glück hat (ebenso wie Angst) mit dem Offensein für Erfahrung zu tun, die das Ich überwältigen kann. Erotische und ästhetische Erfahrung können Modelle solcher glückhaften Erschütterung sein. Glücksempfindung ist immer die des einzelnen, aber im Glückserleben lässt er seine Partikularität hinter sich. Glück mag ein Ziel sein, aber nicht es selbst, sondern allenfalls das, was es hindert, kann unmittelbar der Gegenstand Kritischer Theorie sein. Glück braucht keine äußere Sinngebung. Glück bleibt oft eher Sehnsucht als Erfüllung; auch die Glücksversprechen der Kunstwerke drücken eher eine Sehnsucht als eine Wirklichkeit aus. Glück scheint ein metaphysisches Versprechen mit sich zu führen, dass Leiden und Unterdrückung nicht das letzte Wort haben müssten. Leiden darf nicht als Vorstufe zum Glück in eine sinnstiftende geschichts­philosophische Gesamtkonstruktion eingebaut und so glorifiziert werden. Glück heißt: Leben können in Freiheit, unter Freisein von Angst. Wo die Philosophie des Glücks aufs Ganze geht, ist ihre Entstehung nicht selten vom Unglück einer Zeit oder eines Menschen grundiert. Aus dem Negativ von Unglückserfahrungen wer­den Bilder des Besseren, Bilder von Glück entwickelt. »Die Stellung des Gedankens zum Glück wäre die Negation eines jeglichen falschen. Sie postuliert, schroff wider die allherr­schende Anschauung, die Idee von Objektivität des Glücks« (Adorno, 1970a, GS 6, S. 347). In gewisser Weise wird so von Adorno die antike Fragestellung danach, was der Einzelne tun kann, um sein Glück inmitten der Gesellschaft zu erlangen, wieder auf­gegriffen. Es gelte, sagt er programmatisch zu Beginn der »Minima Moralia« (1951/1970, S. 7) »einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt«, wieder zu entdecken und in veränderter Weise zu erforschen: »die Lehre vom richtigen Leben«. Das Subjekt wird in neuer Weise ernst genommen; zugleich wird es in seinen Möglich­keiten des Leidens und Glücklichseins strikt auf gesellschaftliche Kontexte bezogen. Auch weitere bedeutende deutsch-jüdische Aphoristiker, Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen wie Ernst Bloch (1885–1977), Ludwig Marcuse (1894–1971), Max Horkheimer (1895– 1973), Herbert Marcuse (1898–1979), Erich Fromm (1900–1980), Günther Anders (1902–1992), Erwin Chargaff (1905–2002) und 48 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Hannah Arendt (1906–1975) reflektieren in einer Zeit des Kultur­ bruchs in Mitteleuropa, in der sie verfolgt werden und in die USA emigrieren müssen, um nicht in Deutschland umgebracht zu werden, über psychologische, kulturelle, politische und gesellschaftliche Bestimmungsgründe für Unglück und Glück.

Glück und Sinn Kritik am »falschen« Glück Glück ist nicht von vornherein ein Gefühl: »Vielmehr ist davon die Rede, woran Menschen letztlich, und zwar im Hinblick auf ihr ganzes Leben, interessiert sind« (Heinemann, 2007, S. 80). Das führt auf den Begriff des Sinns. Für Schmid (1999, 2006) steckt hinter der aktuellen Konjunktur von Schriften zum Glück ein vielfältiges, ungestilltes Bedürfnis nach Sinn. Für Hoyer gilt es, an einem qualitativ verstandenen Begriff des Glücks festzuhalten: »Kein anderer Ausdruck verdichtet so sehr den elementaren Anspruch des Menschen auf ein gutes und erfülltes Leben« (2007, S. 8). Kritik am »falschen« – vergänglichen, vereinseitigten, erzwungenen – Glück gehörte schon in der Antike zu den großen Themen der Philosophie, die sich mit Fragen des »richtigen« Lebens befasste. Philosophische Theorien, die sich heute wieder in praktischer Absicht auf das Thema Glück einlassen, enthalten meist in sich einen normativen Kern, oft im Sinn einer Kritik an konventioneller Lebensführung. So urteilt Hartmut Rosa: »Die strikte Privatisierung der Frage nach dem guten Leben war ein historischer Fehler – es ist an der Zeit, ihn zu korrigieren!« (Rosa, 2013, S. 13). Historizität des Glücks Glück ist nicht in allen Epochen und für alle Menschen das Gleiche, es hat zudem auch einen lebensgeschicht­lichen Index, ist unterschiedlich in verschiedenen Lebensaltern: »Der Mensch ist ein offenes Wesen, das sich nicht auf einen bestimmten Stand von 49 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Glückserwartungen und Glücksfähigkeiten fixieren läßt […]. Das menschliche Glück ist in einem lebenslangen, inhaltlich offenen Bildungs- und Selbstfindungsprozeß immer wieder neu zu bestimmen und zu verfolgen« (Höffe, 1978, S. 157). Das Potenzial möglichen Glücks wächst mit den Fortschritten der Zivilisation, es bleibt aber gefährdet durch Verhältnisse und Strukturen, die Glück einschränken oder verhindern. So haben Glückstheorien prinzipiell einen geschichtlichen Index, allein schon weil die Möglich­keiten, ein glückliches Leben zu führen, nicht in jeder Zeit dieselben sind, sondern historisch variieren. Die Möglichkeiten, Glück zu erfahren, reichern sich historisch an, werden differenzierter und vielfältiger. Aber es gibt auch ein historisch wachsendes Potenzial von Unglückserfahrungen. Eine kritische Philosophie des Glücks, zu der Demokrit, Platon, Aristoteles, Epikur, Montaigne, Kant, Hegel, Nietzsche oder Freud beigetragen haben und die für Horkheimer und Adorno im Zentrum ihrer »Kritischen Theorie« steht, kann schon allein darum nicht ein für alle Mal festgeschrieben werden. Kommentar von Philipp Mayring Die Notwendigkeit einer kritischen Philosophie des Glücks erscheint mir evident, und ich werde sie im nächsten Abschnitt mit Überlegungen zu einer kritischen Psychologie des Glücks ergänzen.

Glückserleben stellt sich in paradoxer Weise dar als zugleich subjektiv und objektiv, als eine durch natürliche und gesellschaftliche Voraussetzungen mit bestimmte, durch Kultur und Konventionen in eine bestimmte Richtung gelenkte Erfahrung von Erfüllung und Sinn. Glück wäre demnach ein Muster, eingefärbt durch Urteile und Vorurteile einer Zeit, einer Gesellschaftsschicht, einer Biografie, mit langen Fasern an kulturelle, historische, sinnstiftende Traditionen gebunden, zum Leuchten gebracht im Sonnenstrahl eines Augen­blicks, der nur jetzt so und nicht anders für diese Person in ihrem kommunikativen Zusammenspiel mit anderen möglich war. 50 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Abbildung 5: Selbstporträt mit Saskia (Rembrandt, 1635)

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Philipp Mayring Psychologische Konzepte des Glücks

Begriffliche Vorbemerkungen: Zur Definition von Glück Die Psychologie beschäftigt sich mit dem menschlichen Glück eigentlich seit ihren Anfängen. Schon bei Aristoteles, der wohl das erste Lehrbuch der Psychologie geschrieben hat (»Über die Seele«), steht das Glück an zentraler Stelle. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels werden wesentliche Beiträge einer Glückspsychologie der neueren Zeit dargestellt. Dabei fällt auf, dass völlig unterschiedliche Definitionen zugrunde gelegt werden. So definiert Schmitz (1931) Glück als Dauerzustand relativer Wunschlosigkeit, als Leben in Einklang mit innersten Strebungen. Philipp Lersch (1938/1970) fasst Glück in seiner Persönlichkeitstheorie als tiefes, den seelischen Schwerpunkt treffendes Gefühl, als aktuelle positive Gestimmtheit lebendigen Daseins auf. Erich Fromm (1947) grenzt Glück gegen subjektives Wohlfühlen ab und fasst es als auf objektiven Bedingungen aufbauenden Zustand der Vitalität und Produktivität im Sinne einer Realisierung eigener Potenziale auf. Bollnow (1956) sieht im Glück eine stimmungsmäßige Grundverfassung des menschlichen Daseins, die die Welt schöner erscheinen lässt. Wolfgang Tunner (1978) sieht Glück wieder näher am Lusterleben: lustvolle Eindrücke des Sehens, Hörens, Schmeckens, Riechens, Tastens werden im Glückserleben dauerhaft festgehalten. In der deutschsprachigen Glückspsychologie sind also in den Definitionen Elemente von Stimmung, Persönlichkeitseigenschaften, Gefühl und Lusterleben zu finden, ohne dass sich eine einheitliche Auffassung erkennen lässt. Wenn wir diese Glücksdefinitionen näher analysieren wollen, lohnt sich ein Blick 52 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

in die psychologische Emotionsforschung, denn Glück hat wohl stark mit emotionalem Erleben zu tun. Die Emotionstheorie (vgl. Ewert, 1980; Ulich u. Mayring, 2003) unterscheidet zwischen verschiedenen Gefühlszuständen: ȤȤ aktuelle Gefühlsregungen, Affekte, im Vordergrund des Erlebens, ȤȤ Erlebenstönungen im Hintergrund, Stimmungen und ȤȤ Gefühlsbereitschaften als Dispositionen des Erlebens. Die Psychologie des Glücks lässt sich hier nicht verorten; weder besteht Konsens in den angeführten Definitionen, welche Ebene für Glück zentral ist, noch werden mehrere Ebenen gleichzeitig angesprochen. Noch schwieriger wird die Situation, wenn man die internationale sozialwissenschaftliche Forschung ansieht. Dies liegt bereits an den verschiedenen Sprachbedeutungen des jeweiligen Glücksbegriffes. Der Soziologe Veenhoven, Begründer der »World Database of Happiness« (http://www1.eur.nl/fsw/happiness/), einer OnlineDatensammlung internationaler Glücksliteratur, hat in den Sprachen Englisch, Holländisch, Französisch, Deutsch, Russisch und Tschechisch zehn verschiedene Bedeutungskomponenten von Glück, in jeweils unterschiedlichen Kombinationen, gefunden (Veenhoven, 1984). So ist das englische happiness weniger persönlichkeitsbezogen, dispositional, tiefgreifend, als das deutsche Glück. Die Glücksdefinitionen in der angelsächsischen sozialwissenschaftlichen Literatur sind wieder völlig unterschiedlich. Oft wird Glück mit Wohlbefinden gleichgesetzt, wenn beispielsweise einer der Pioniere moderner Wohlbefindensforschung, Norman Bradburn, von »avowed happiness or the feeling of psychological wellbeing« (Bradburn, 1969, S. 9) spricht. Michael Fordyce, der wohl als erster Psychologe, aufbauend auf empirischer Glücksforschung, ein Glückstraining entwickelt hat, definiert Glück als »longer-term sense of emotional well-being and contentment, […] overall feeling of satisfaction with life« (Fordyce, 1981, S. 5). Wohlbefinden, Glück und Zufriedenheit erscheinen hier als Synonyme. Veenhoven (1991) kritisiert zwar solche Definitionskonfusionen, sieht aber von einem pragmatischen Standpunkt aus happiness als globale (d. h. alle Lebensbereiche umfassende) Lebenszufriedenheit. Argyle 53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

(1987) sieht in seiner Psychologie des Glücks vier Aspekte, Zufriedenheit, gehobene Stimmung, Belastungsfreiheit und Gesundheit, die zusammen Glück ausmachen. In Martin Seligmans Konzeption (2002: »Authentic Happiness«) ist Glück ein subjektiver positiver emotionaler Zustand in der Gegenwart, während sich Zufriedenheit auf die Vergangenheit bezieht. Es ließen sich hier noch eine Reihe widersprüchlicher Definitionsversuche und Abgrenzungen verwandter Begriffe anführen. So hat Ed Diener (2006), führender amerikanischer Wohlbefindensforscher und Herausgeber des »Journal of Happiness Studies«, versucht, hier eine Klärung im Sinne von »Guidelines« vorzugeben: ȤȤ Subjektives Wohlbefinden gilt als Überbegriff (umbrella term); der Zusatz subjektiv ist dabei verzichtbar, da es sich in jedem Falle um Zustände im Erleben von Personen handelt. Auch Glück (happiness) stellt einen Überbegriff dar, da es oft als gleichbedeutend mit positiver Lebensstimmung, Lebenszufriedenheit, Lebensgefühl gebraucht wird, die Verwendung kann aber wegen der Vieldeutigkeit dieses Begriffs problematisch sein. ȤȤ Positiver Affekt bezeichnet angenehme Stimmungen und Emotionen wie Freude. Sie sind Reaktionen auf Ereignisse, können in schwacher Form als Zufriedenheit (contentment), in moderater Form beispielsweise als Lusterleben (pleasure) und in starker Form als Euphorie auftreten; sie können sich auch als positive Reaktionen auf Aktivitäten (Interesse, Engagement) zeigen. ȤȤ Lebenszufriedenheit (life satisfaction) bedeutet eine positive Bewertung des eigenen Lebens als eines Ganzen, kann sich auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft sowie auch auf einzelne Lebensbereiche (z. B. Gesundheit, Arbeit, Freizeit, Sozialbeziehungen) beziehen. ȤȤ Negativer Affekt gilt als Wohlbefindensaspekt in seiner Abwesenheit (siehe die im Folgenden beschriebenen Theorieansätze). Er beinhaltet unangenehme Stimmungen und Gefühle in Reaktion auf Lebensbedingungen oder Lebensereignisse. Aber auch dieser Klärungsversuch hat sich nicht durchgesetzt, schafft nicht wirklich eine Lösung des Definitionsproblems. Bereits die übliche deutsche Übersetzung von subjective well-being als 54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

subjektives Wohlbefinden enthält eine Bedeutungsverschiebung. Beklagt wird aber auch als Ursache der Mangel einer umfassenden Theorie (Sink, 2000). »It is clear that the problems arise from the absence of a theory explaining the basis of the SWB [subjective well-being] construct« (Simsek, 2008, S. 506). Viel Verwirrung bringen auch weitere angrenzende Wohlbefindenskonzepte. So hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Wohlbefinden und Gesundheit gleichgestellt, wenn sie definiert: Gesundheit ist der Zustand vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens. Auch das Konzept der Lebensqualität wird mit Glück und Wohlbefinden in Verbindung gebracht; Glück wird oft als eine Dimension von Lebensqualität verstanden (z. B. Bullinger, 2000). Frage an Norbert Rath Was tut man in einer solchen Situation definitorischer Unklarheiten? Herrscht in der Philosophie ähnliches Definitionschaos vor? Wie relevant sollten philosophische Definitionen von Glück für die Sozialwissenschaften sein? Antwort Es handelt sich bei Aussagen über »Glück« nicht um definito­ risch klar abgrenzbare begriffliche Konstrukte, sondern um tief in semantische Strukturen und kulturelle Kontexte eingelassene Lebens- und Sinnentwürfe, die eine materielle Basis in Gestimmt­ heiten, Erfahrungen, neurophysiologischen Erregungszuständen usw. haben. Eine einzige präzise, (scheinbar) Klarheit schaffende Definition enthielte in sich die Gefahr, dass sie Dimensionen der (er-)lebbaren Bedeutung von Glück abschneiden würde. Die Philosophie kann den Sozialwissenschaften und der Psycho­ logie keine klare und eindeutige Definition dessen, was Glück sei, vorgeben. Sie kann allerdings – das ist ihr kritisches Geschäft – bestehende Definitionen irritieren oder als unvollständig mar­ kieren.

Aus dieser Schwierigkeit entscheiden sich viele empirische Glücksforscherinnen oder Glücksforscher, auf eine Begriffsklärung zu 55 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

verzichten und im Sinne einer operationalen Definition nur das Messinstrument anzugeben, mit dem Glück erhoben wird, so wie das auch in der Intelligenzforschung öfter auftaucht (Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst!). Linda George (1981) hat das sehr treffend als »putting the cart before the horse«, der Karren zieht das Pferd, bezeichnet. Denn eine theoriegeleitete Definition sollte doch die Grundlage der Operationalisierung sein und nicht umgekehrt. Frage an Norbert Rath Sind pure operationale Definitionen in diesem Falle eine Notlösung? Antwort Ein möglicher Grund für die Problematik definitorischer Fest­ legungen: Das, was »Glück« ist und sein kann, ändert sich mit den verwirklichbaren Glückspotenzialen einer Gesellschaft und den sich im gleichen Zuge wandelnden »Antennen« der Subjekte für Glückserfahrungen. Wenn sich das, was als Glück empfunden und verstanden werden kann, subjektiv und objektiv im Laufe historischer und kultureller Veränderungen wandelt, wenn Glück einen historischen Index hat, dann ist es nicht möglich, Glück ein für alle Mal zu definieren.

Eine weitere Möglichkeit der begrifflichen Klärung wäre, subjektive Definitionen von Glück empirisch zu erheben und zur Grundlage einer wissenschaftlichen (»objektiven«) Definition zu machen. Dieser Ansatz der Subjektiven Theorien ist in der Pädagogischen Psychologie erfolgreich gewesen (Groeben, Wahl, Schlee u. Scheele, 1988), als man beispielsweise daran ansetzte, statt einer wissenschaftlichen Definition von Aggression Schülerinnen und Schüler zu befragen, wie sie aggressives Verhalten definieren. Für die weiteren Analysen von Aggression in der Schule war das dann ein wichtiger Ansatzpunkt. In der Glücksforschung hat bereits 1971 Charlotte Bühler Personen in unterschiedlichen Altersgruppen nach ihren Glücksdefinitionen befragt. Sie wirft Bradburn einen oberflächlichen Gebrauch des Wortes Glück 56 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

vor und hat 50 Personen einer intensiven Analyse unterzogen. Neben großen Unterschieden, vor allem zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, findet sie drei gemeinsame Definitionselemente (Bühler, 1971): ȤȤ Glück als positive Beziehung zu sich selbst, als Selbstvertrauen; ȤȤ Glück als aktive, schöpferische Tätigkeit (z. B. im Beruf); ȤȤ Glück als intensive zwischenmenschliche Beziehung (Liebe). Hoffmann (1984) hat, um an subjektive Glücksdefinitionen zu kommen, 105 Personen in einer ausführlichen Entspannungsübung aufgefordert, sich in eine glückliche Situation aus ihrem Leben hineinzuversetzen und dann diesen Zustand zu beschreiben. Nach einer inhaltsanalytischen Auswertung dieser offenen Antworten hat sie daraus einen geschlossenen Fragebogen entwickelt und einer weiteren Gruppe (n = 293) vorgelegt. Die anschließende Faktorenanalyse ergab folgende Punkte: ȤȤ Qualität menschlicher Beziehung; ȤȤ schöpferische Kraft; ȤȤ Öffnung der Sinne, Lust in der unmittelbaren Empfindung sinnlicher Wahrnehmung; ȤȤ Erotik; ȤȤ Ruhe und Entspannung; ȤȤ spontaner Ausdruck überfließender Energie; ȤȤ Ekstase; ȤȤ Transzendenz; ȤȤ Trance; ȤȤ Zeiterleben; ȤȤ Bejahung von Leben und einer Sinnhaftigkeit des Lebens; ȤȤ Qualität der Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung. Sie sieht als Hauptbestimmungsstück des Glücks die Nähe, das Sichöffnen zur Welt und die Annäherung an andere. Einen anderen methodischen Weg ist Freedman (1978) gegangen. Er hat über zwei Zeitschriften (Good Housekeeping, Psychology Today) die Leserinnen und Leser in einem Fragebogen gebeten, Glück zu definieren, zusätzlich strukturierte Interviews geführt und auf diese Weise fast 100.000 Personen erreicht. Die Antworten konnten drei Kategorien zugeordnet werden: 57 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

ȤȤ Glück als aktives Erleben, Freude, Erregung, Lust; ȤȤ Glück als passives Erleben von Zufriedenheit und Seelenfrieden (peace of mind); ȤȤ Glück als vermischter Zustand mit aktiven und kontemplativen Elementen. In einer eigenen Studie (Mayring, 1991a) haben wir 66 Personen im frühen Erwachsenenalter zu ihrer Definition von Glück mit offenem Fragebogen befragt. Die inhaltsanalytische Auswertung ergab folgende häufigste Kategorien (Tabelle 1): Tabelle 1: Glücksdefinitionselemente im frühen Erwachsenenalter (Mayring, 1991a, S. 140)

Kategorie

Nennungen

Erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen, Liebe Zufriedenheit mit dem Leben Innere Ausgewogenheit, Selbstvertrauen Freude, Spaß, Hochstimmung Erfolg Freiheit, Unabhängigkeit

33 26 16 15 12 11

Gemeinsam ist diesen Studien, dass Glück verschieden aufgefasst wird, aktive und kontemplative Elemente enthält und die zwischenmenschliche Beziehung (Liebe) zentral ist. Problematisch an diesen Studien ist jedoch, dass es nicht wirklich gelingt, Personen zu einer klaren expliziten Definition zu bewegen. Meist werden wohl eher Glücksfaktoren, also Bedingungen, die glücklich machen, genannt.

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Frage an Norbert Rath Bringen subjektive Definitionen von Glück hier weiter? Antwort Eine Besonderheit des Konstrukts »Glück« liegt in seiner subjek­ tiv/objektiven Struktur, in seiner Zwischenstellung zwischen sub­ jektiver Erfahrbarkeit und objektiv Einfluss nehmenden äußeren Bedingungen und Gegebenheiten (vgl. Mayring, 1991a, These 3, S. 9 und öfter). Subjektive Definitionen von Glück sind für die Glücksforschung von Bedeutung, weil sie die Erfahrungsdimen­ sion betreffen, die Leiblichkeit und Sinnlichkeit, die existentielle Seite des Glücks. Zugleich sind sie für eine vollständige Bestim­ mung dessen, was Glück sei, nicht zureichend, weil die historische, materielle, kulturelle, gesellschaftliche Seite möglicher Glücks­ erfahrungen darin zu kurz kommt.

Die Psychologie des Glücks kann sich also nicht genau auf eine Definition festlegen.

Kurzer Abriss psychologisch-sozialwissenschaftlicher Glücksforschung Traditionell widmet sich psychologische Forschung, neben den Grundlagenfächern (Allgemeine Psychologie, Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitspsychologie) in ihrem Anwendungsfeld der Klinischen Psychologie der Analyse und Therapie psychischer Störungen oder Belastungen. Stress, Angst, Depression sind zentrale Forschungsthemen. Dies wird immer wieder von Glücksforscherinnen und Glücksforschern als einseitig kritisiert. Es ist ein Phänomen solcher psychologischer Glücksforschung, dass sie in Wellen verläuft, und immer mit großer Euphorie verbunden ist. Eine erste solche Welle wird durch den US-amerikanischen Soziologen und Psychologen Hornell Hart (1940) repräsentiert. Er 59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

entwickelte zur Datenerhebung zwei Selbsteinschätzungsinstrumente, eine Skala für langfristiges Glück (7 Items wie Lebenseinstellung, Zukunftssorgen) und eine Skala für momentanes Glück (48 Adjektive zu Gefühlszuständen) und nannte sie »long-run euphorimeter« und »at-the-moment euphorimeter«. Ergebnisse von Studien an 2.200 Personen werden präsentiert. Diese Erfindung des Euphorimeters, so Hart (1940), begründe einen neuen Forschungszweig, ähnlich der Erfindung von EKG oder Fieberthermometer. Dies ist allerdings nicht aufgegriffen worden. Eine zweite Welle der Glücksforschung fand in den Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit statt und war nachhaltiger. Gemeint ist die Entdeckung von Glück als Sozialindikator zur Analyse von Gesellschaftssystemen (vgl. Bauer, 1966; Peters u. Zeugin, 1979). Für den Wohlstand einer Gesellschaft sollte nicht länger die materielle Güteranhäufung (z. B. Prachtbauten in den Hauptstädten, Goldvorräte, Größe der Flotte) als Maßstab gelten, sondern das durchschnittliche Wohlbefinden der Bevölkerung. In diesem Zusammenhang wurde auch das Lebensqualitätskonzept entwickelt, verstanden als Summe guter objektiver Lebensbedingungen plus hohem Wohlbefinden und Glück (vgl. Glatzer u. Zapf, 1984). Die Steigerung von Glück und Lebensqualität der Menschen wurde zum Ziel der Politik seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in USA unter John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, in der Bundesrepublik unter Willy Brandt. In groß angelegten Repräsentativstudien wurden regelmäßig (meist jährlich) Daten dazu erhoben. Dabei wurde (und wird bis heute) Glück mit einer dreistufigen Selbsteinschätzung erhoben (»Alles zusammengenommen, wie, würden Sie sagen, ist Ihr Leben dieser Tage, sehr glücklich, etwas glücklich oder nicht so glücklich?«). Andrews und Withey (1979) haben durch empirische Analysen gezeigt, dass diese sogenannte 1-Item-Form der Selbsteinschätzung ein brauchbares Maß darstellt. Auf das Problem angemessener Methoden in der Glücksforschung wird noch einzugehen sein (vgl. das Kapitel »Das Methodenproblem«). Nach Lebenszufriedenheit und bereichsspezifischer Zufriedenheit wird ebenfalls gern in der 1-Item-Form gefragt, meist mit einer Selbsteinschätzungsskala mit Werten von 1 bis 10. Solche Surveystudien werden heute regelmäßig in fast allen Ländern der Welt durchgeführt. Die bereits erwähnte »World Database 60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

of Happiness«, vom Soziologen Ruut Veenhoven an der Erasmus Universität Rotterdam gegründet und aktualisiert, gibt einen freien Zugang zu diesen Studien (http://www1.eur.nl/fsw/happiness/). Ein, auch mediales, Hauptinteresse an solchen Studien liegt darin, Ländervergleiche anzustellen. Wo auf der Welt leben die glücklichsten Menschen? Island und die skandinavischen Länder liegen dabei meist auf den vorderen Plätzen. Innerhalb Deutschlands hat die Post einen Glücksatlas vorgelegt, der Städte und Regionen vergleicht (www.gluecksatlas.de). Solche Studien haben eine Reihe prinzipieller Probleme (vgl. auch Suh u. Koo, 2008): ȤȤ Auf das Problem der Erhebungsmethode wird im fünften Abschnitt genauer eingegangen. Kann man mit einer knappen Selbsteinschätzungsskala, erhoben meist an der Türschwelle, erfassen, wie glücklich sich ein Mensch fühlt? ȤȤ Solche regionalen Vergleiche werden in der Regel über Mittelwertsunterschiede berechnet. Mittelwerte haben aber keine reale Existenz, sie sind errechnet. Die Verteilung der gemessenen Werte wird nicht berücksichtigt. So kann es sein, dass einzelne Ausreißer oder Extremgruppen den Mittelwert so beeinflusst haben, dass das Gesamtergebnis umgekehrt wird. ȤȤ Glücksempfinden oder auch das Reden über Glück bedeutet in unterschiedlichen Kulturen womöglich völlig Verschiedenes. Diener und Suh (2000) sprechen hier von Emotionsnormen bzw. kulturspezifischer Sozialisation von Emotionen. So hat sich in mehreren Studien ergeben, dass Glückseinschätzungen in sogenannten individualistischen Gesellschaften (z. B. USA) höher ausfallen als in kollektivistischen Gesellschaften (z. B. China) (Diener u. Suh, 2000). ȤȤ Zusammenhangsanalysen (Korrelationsstudien) stehen immer in der Gefahr von vorschnellen Kausalschlüssen. Der Unterschied im Glücksniveau zweier Länder suggeriert in diesem Kontext, dass die Politik der Länder die Ursache für das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner darstellt, eine methodische Falle, in die übrigens auch viele vorschnelle Deutungen von Schulleistungsländervergleichen (z. B. PISA-Studien) tappen. In der Methodik wissen wir jedoch (vgl. z. B. Bortz u. Döring, 2006), dass ein empirisch gemessener Zusammenhang zwischen der Variable A und B (in unserem Falle A: 61 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Land, B: Glückseinschätzung der Bevölkerung) prinzipiell drei Interpretationen zulässt: A ist die Ursache von B; B ist die Ursache von A; beide werden durch eine dritte Variable verursacht und zeigen nur einen Scheinzusammenhang. Eine Erklärung der zweiten Art wäre, wenn Personen, die sich glücklich fühlen, zu einer aktiveren politischen Einflussnahme neigen. Eine Interpretation der dritten Art wäre, wenn beides, Regierungspolitik wie Glücksempfinden von Faktoren wie Klima, Landschaft, Bevölkerungsdichte o. ä. abhängig wäre. Man sollte also äußerst vorsichtig sein in der Interpretation solcher Länderunterschiede und in deren Verwertung für Politikberatung, wie sie ihren Ausgangspunkt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Euphorie des wirtschaftlichen Aufschwungs genommen haben. Einen weiteren Anstoß für eine Glückspsychologie hat Creel (1983) gegeben. In der neu gegründeten Zeitschrift »New Ideas in Psychology« forderte er eine Eudologie, als Wissenschaft vom Glück, in Anlehnung an die aristotelische Glückslehre (griechisch: eudaimonía). Ihr Ziel sei die Beschreibung verschiedener Formen von Streben nach Glück und die wissenschaftliche Analyse der Ursachen von Glück und Unglück im menschlichen Leben im interdisziplinären Kontext. Dieses euphorische Programm ist allerdings gleich einer fundamentalen Kritik unterzogen worden (Csikszentmihalyi, 1983). Creel gehe von ungeprüften Annahmen aus (dem Streben des Menschen nach Glück), er wolle in der Beschreibung Dinge entdecken, die längst entdeckt sind (ein Kolumbus-Irrtum) und sei in seiner Diktion zu metaphorisch. Interessant dabei ist, dass der Autor dieser Kritik, der zuvor das Konzept des Flow-Erlebens als ein Aufgehen im eigenen Tun in die Psychologie eingebracht hat, selbst einige Jahre später zum Hauptverfechter der Positiven Psychologie mit einem ganz ähnlichen Programm wurde (Seligman u. Csikszentmihalyi, 2000). Nichtsdestotrotz hat sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine empirische Wohlbefindensforschung in der Psychologie etabliert, die systematisch und empirisch positive Befindlichkeiten analysierte (vgl. die Überblicksarbeiten von Wilson, 1967 und Diener, 1984). 62 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Dass um die Jahrtausendwende der letzte, bis heute andauernde Höhepunkt der Glückspsychologie unter dem Namen Positive Psychologie einsetzte, liegt wohl an der Person Martin Seligmans. Er hatte in den 1970er Jahren Experimente mit Tieren in unkontrollierbaren negativen Reizsituationen gemacht und daraus die Theorie der erlernten Hilflosigkeit entwickelt (Seligman, 1975). Ein solcher durch Konditionierungsprozesse erlernter Hilflosigkeitszustand zeigt sich auch beim Menschen und ist der Depression sehr ähnlich. In den 1990er Jahren änderte Seligman sein Forschungsinteresse radikal ins Gegenteil, untersuchte Prozesse erlernten Optimismus (Seligman, 1990) und wandte sich schließlich der Glücksforschung zu. Sein Buch »Authentic Happiness« (2002) ist ein Bestseller geworden. 1998 wurde er Präsident der Amerikanischen Psychologischen Vereinigung APA und hat sich ganz dem Programm einer Positiven Psychologie verschrieben (Seligman, 2003). Er leitet an der Universität von Pennsylvania das Zentrum für Positive Psychologie, in dem Forschung und Lehre (z. B. mit dem Abschluss Master of Applied Positive Psychology) betrieben wird. Die Bewegung ist so begeistert von dem neuen (?) Gedanken, dass neue Gebiete über die Psychologie hinaus angeregt werden: Positive Erziehung, Positive Gesundheit, Positive Neurowissenschaften (vgl. die Homepage http://www.authentichappiness.sas.upenn.edu). Es drängt sich hier ein Verdacht auf: Glücksforscherinnen und -forscher sind von ihrem Gegenstand so angetan, dass sie die nötige wissenschaftliche Abgeklärtheit verlieren, die Bedeutung ihres Forschungsgegenstandes maßlos überschätzen. Auch in anderen Bereichen gibt es wissenschaftliche Moden, die in Abständen immer wieder auftreten (in der Psychologie z. B. die kognitiven Ansätze), sie werden aber nie mit solcher Emphase vertreten.

Systematisierung des Begriffsfelds Glück–Wohlbefinden Eine Möglichkeit begrifflicher Klärung besteht darin, empirische Studien heranzuziehen. Schon in den Anfängen sozialwissenschaftlicher Wohlbefindensforschung haben Bradburn und Caplovitz (1965) zwei relativ unabhängige Wohlbefindensfaktoren empirisch 63 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

differenzieren können: das Erleben positiver Affekte oder Gefühle im Leben und die Abwesenheit negativer Affekte oder Gefühle. Sie befragten Personen, welche Gefühle sie in den letzten Wochen erfahren haben (z. B. »top of the world«, »depressed or unhappy«). Im Folgenden konnte in großangelegten Studien gezeigt werden (Bradburn, 1969), dass Positives und Negatives im Leben einander nicht ausschließen, dass sie gleichzeitig vorkommen können. Daraus können also idealtypisch vier Kombinationen entstehen: 1. Personen mit viel positiven und wenig negativen Erlebnissen, 2. Personen mit wenig positiven und viel negativen Erlebnissen, 3. Personen mit viel positiven und viel negativen Erlebnissen, 4. Personen mit wenig positiven und wenig negativen Erlebnissen. Die zweite und dritte Gruppe stellen also eine Art paradoxer Situation dar (vgl. Staudinger, 2000). Zapf (1984) verwendet für die dritte Gruppe (Wohlbefinden trotz negativer Aspekte) den Begriff des Zufriedenheitsparadoxes und für die vierte Gruppe (Unbehagen trotz positiver Lebenssituation) den Begriff des Unzufriedenheitsdilemmas. Für diese Diskrepanzen wurden verschiedene Erklärungen angeführt. Bradburn (1996) selbst hat ein Aggregatmodell vorgeschlagen. Es gibt im Leben des Menschen Glücksfaktoren und Unglücksfaktoren, die sich aufsummieren lassen und so das Wohlbefinden der Menschen bestimmen. Eine weitere Erklärung geht von der in der Wohlbefindensforschung (vor allem bei der Zufriedenheitskonzeption, siehe folgende Ausführungen) beliebten Bereichsdifferenzierung aus. Verschiedene Lebensbereiche wie Partnerschaft, Freizeit, Beruf, Gesundheit können durch ganz unterschiedliche Lebensbedingungen und damit verschiedene Befindlichkeiten geprägt werden, relativ unabhängig voneinander. Eine weitere Erklärung der relativen Unabhängigkeit des positiven und negativen Wohlbefindensfaktors liefern die im Folgenden ausgeführten persönlichkeitspsychologischen Ansätze. Costa und McCrae (1980) haben in einer Längsschnittstudie mit 1.100 Personen (Normative Aging Study) die Antworten auf die von Bradburn vorgeschlagenen Fragen zum positiven und negativen Affekt (Affect Balance Scale, siehe des Abschnitt zu den Messinstrumenten von Glück) auf Korrelationen mit Persönlichkeitsfaktoren untersucht und ein eindeutiges Muster gefunden: Extraver64 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

tierte Personen neigen zu positivem Affekt, stärker neurotische Menschen zu negativem Affekt (Extraversion und Neurotizismus gelten in der Persönlichkeitspsychologie als zentrale Personeigenschaften). Dieser Effekt zeigte sich auch über die Zeit als stabil, das heißt die Persönlichkeitseigenschaften, gemessen zu einem Erhebungszeitpunkt, können die Wohlbefindenswerte zu einem späteren Erhebungszeitpunkt voraussagen. Die Forschergruppe um Ed Diener konnte hier weitere Differenzierungen finden. Sie zeigte, dass positive und negative Befindensfaktoren nur über längere Zeiträume unkorreliert sind, in konkreten emotionsgeladenen Situationen sich aber schon eine negative Korrelation andeutet, man also in der spezifischen Situation nicht zugleich Freude und Unbehagen empfindet (Diener u. Emmons, 1985). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass die Intensität emotionaler Erfahrungen in einem positiven Zusammenhang steht (Personen, die starke positive Affekte erleben, empfinden auch starke negative Empfindungen), die Häufigkeiten dieser Affekte über längere Zeit aber weniger stark zusammenhängen (Diener, Larsen, Levine u. Emmons, 1985). Dies spricht wiederum für einen zugrunde liegenden Temperamentsfaktor. Es lässt sich also die relative Unabhängigkeit eines positiven und eines negativen Befindensfaktors ausmachen. In subjektivem Wohlbefinden sind positive Affekte und gleichzeitig die Abwesenheit negativer Affekte enthalten; beides muss empirisch erhoben werden, wenn nach Wohlbefinden gefragt wird. In der Folge der Bradburn-Studien hat eine Vielzahl von Forschungsprojekten versucht, die Faktorenstruktur subjektiven Wohlbefindens empirisch weiter zu analysieren. Dabei wurde eine bestimmte statistische Prozedur, die Faktorenanalyse, eingesetzt. Der Grundgedanke ist dabei folgender: Eine große Zahl an ganz unterschiedlichen Fragen zum subjektiven Wohlbefinden wird einer größeren Gruppe von Personen vorgelegt. In den Antworten wird nun nach statistisch häufigen Mustern gesucht. Das Statistikprogramm stellt dann Fragen zusammen, die jeweils von Personen in eine gleiche Richtung beantwortet worden sind. Die Forscherinnen und Forscher sehen sich daraufhin die Fragenformulierungen genauer an und interpretieren die inhaltlichen Gemeinsamkeiten innerhalb einer Gruppe, sie benennen diese Faktoren. 65 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Frage an Norbert Rath Können empirische Studien begriffliche Klärungen und Definitionen sinnvoll begründen? Antwort Von Kant stammt die berühmte Formel: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kant, 1968, S. 98, »Kritik der reinen Vernunft«, B 75). Theorie und Empirie sind also zwingend aufeinander angewiesen. »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird« (Goethe 1977, Bd. 8, S. 325, »Wilhelm Meisters Wanderjahre«).

14 solcher faktorenanalytischen Wohlbefindensstudien habe ich in einer früheren Arbeit gesammelt (Mayring, 1987). Danach bestätigen sich neben den von Bradburn gefundenen positiven und negativen Befindensfaktoren ein emotionaler Befindensfaktor und ein kognitiver Befindensfaktor im Sinne von Zufriedenheit als dem Abwägen der eigenen Lebensbedingungen. Auch eher kurzfristige Affekte lassen sich von längerfristigen Lebenseinschätzungen (Zufriedenheit) unterscheiden. Dieses Bild lässt sich am besten in der Differenzierung von vier Wohlbefindensfaktoren abbilden: ȤȤ ein negativer emotionaler Wohlbefindensfaktor (positiv formuliert: Freiheit von Belastung); ȤȤ ein positiver, kurzfristiger emotionaler Wohlbefindensfaktor (positiver Affekt, Freude); ȤȤ ein positiver langfristiger emotionsbetonter Faktor (Glück) und ȤȤ Zufriedenheit als eher kognitive Einschätzung der Lebensbedingungen (Abbildung 6). Subjektives Wohlbefinden

Belastungsfreiheit

Freuden

Glück

Zufriedenheit

Abbildung 6: Der Vier-Faktoren-Ansatz subjektiven Wohlbefindens

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Mit Belastungsfreiheit ist dabei das Gefühl gemeint, über nichts klagen zu müssen, der Zustand der Unbeschwertheit, Leidensfreiheit. Mit Freuden sind die aktuellen positiven affektiven Zustände gemeint. Sie sind eher kurzfristig, geben dem Leben einzelne Glanzpunkte. Sie müssen dabei nicht durch äußere Zwecke motiviert sein. Das, was Csikszentmihalyi (1975) als Flow-Erleben gefasst hat, als Aufgehen im eigenen Tun, kommt dem sehr nahe und wurde von ihm auch als Freude bezeichnet. Glück ist danach ein über aktuelle Freuden hinausgehender längerfristiger Gefühlszustand als allgemeines Lebensgefühl. Mit Zufriedenheit werden schließlich kognitive Einschätzungen der eigenen Lebenssituation umschlossen: Habe ich meine Ziele im Leben erreicht? Wie ist das Verhältnis positiver und negativer Aspekte in meinem Leben? Später wird auf die kognitiven Wohlbefindenstheorien näher eingegangen. Lawton (1984) und Liang (1985) kommen in ihren Analysen zu einem gleichen Vier-Faktoren-Ansatz des Wohlbefindens. Und sehr entfernt von der Normierung von Diener (2005) ist diese Konzeption auch nicht. Er will ebenso unterschieden haben zwischen positivem Affekt, negativem Affekt und Zufriedenheit. Nur das Glückskonzept sieht er hier nicht eindeutig verankerbar. Auf dem Hintergrund eines Vier-Faktoren-Konzepts von Wohlbefinden lassen sich nun auch benachbarte Konzepte abgrenzen. Die folgende Abbildung 7 will das Begriffsfeld darstellen, in dem auch Überschneidungen sichtbar werden (vgl. Mayring, 1991a, 2007). physisches Wohlbefinden

Gesundheit

Lebensqualität

soziales Wohlbefinden Zufriedenheit

Freude

Belastungsfreiheit

Glück

s u b j e k t i v e s Wo h l b e f i n d e n positive objektive Lebensbedingungen Abbildung 7: Das Begriffsfeld subjektiven Wohlbefindens mit angrenzenden Konzepten

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Die vier Faktoren subjektiven Wohlbefindens sind hier auf die Basis objektiver positiver Lebensbedingungen gestellt worden. Wie wir später darstellen werden, belegen Studien diesen schwachen, aber substanziellen Zusammenhang. Lebensqualität wird nun als Zusammenspiel subjektiven Wohlbefindens und objektiver Lebensbedingungen dargestellt und Gesundheit als Produkt physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens. Vielleicht kann diese Darstellung etwas Klärung in die Wohlbefindenskonzeptionen bringen.

Theorieansätze in der psychologischen Glücksforschung Ich möchte im Folgenden einige theoretische Ansatzpunkte in der Psychologie des Glücks ansprechen und zunächst auf eine aktuelle Debatte eingehen, die auch mit dem Definitionsproblem eng verbunden ist. Die Eudaimonismusdebatte Es hat sich, besonders in der amerikanischen Glücksforschung, in den letzten Jahren eine scharfe Theoriediskussion entwickelt, die gerade für unseren Diskurs Philosophie – Psychologie hochinteressant erscheint. Hatte man bisher happiness immer eindeutig als emotionalen, aktuellen Befindensfaktor aufgefasst, so erscheint mit Waterman (1993) eine Differenzierung, die an die abendländische Glücksphilosophie anknüpft. Eine Form des Glückserlebens bezeichnet er in Anknüpfung an Aristoteles als eudaimonia, nicht als angenehmes Leben, sondern als subjektive Erfahrung im Zusammenhang mit wertvollem Handeln, als Konsistentsein mit dem eigenen Daimon, mit dem wahren Selbst, mit den innersten Potenzialen (Waterman, Schwartz u. Conti, 2008). Kommentar von Norbert Rath … wobei dieser letzte Gedanke auf Platons »Apologie« zurückgeht: Der bereits verurteilte Sokrates beruft sich auf die Kohärenz seiner

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moralischen Persönlichkeit: Sein Daimonion (innere Instanz der Selbstkontrolle, Gewissen) habe ihn bei seiner Verteidigungsrede nicht gewarnt.

Dieses eudaimonistische Glück stehe mit psychologischen Ansätzen intrinsischer Motivation in Zusammenhang (vgl. dazu Ryan u. Deci, 2001), und auch diese knüpften an Aristoteles an, für den Glück autotelisch ist, also keinem äußeren Zweck oder Ziel außerhalb seiner selbst folgt. Davon unterscheidet Waterman hedonistisches Glück als Freude und positive Affekte in Zusammenhang mit erwünschten materiellen Objekten oder Handlungen. Um die Unterscheidung zu verdeutlichen, soll das Messinstrument für die beiden Glücksvariablen vorgestellt werden. Waterman hat hier einen Fragebogen entwickelt, den »Personal Expressive Activities Questionnaire« (PEAQ; Waterman, Schwartz u. Conti, 2008), der eudaimonistische und hedonistische Tendenzen in Aktivitäten differenziert. Hier die Fragen, die sich jeweils auf wichtige eigene Aktivitäten beziehen sollen (eigene Übersetzung) und auf einer Skala von eins (stimme völlig zu) bis sieben (lehne völlig ab) beantwortet werden sollen: Hedonistisches Glück: ȤȤ Ich fühle mich zufriedener als sonst. ȤȤ Die Aktivität gibt mir das stärkste Gefühl von Freude. ȤȤ Ich fühle mich gut. ȤȤ Es gibt mir das größte Vergnügen (pleasure). ȤȤ Ich fühle ein warmes Glühen in mir. ȤȤ Ich fühle mich glücklicher als sonst. Eudaimonistisches Glück: ȤȤ Es gibt mir das stärkste Gefühl, wirklich am Leben zu sein. ȤȤ Ich fühle mich ganz intensiv in die Tätigkeit eingebunden (involved). ȤȤ Ich habe das stärkste Gefühl, dass ich das wirklich selbst bin. ȤȤ Das ist es, was ich immer wollte. ȤȤ Ich fühle mich vollständiger und erfüllter. ȤȤ Ich fühle mich Eins mit der Tätigkeit. 69 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Frage an Norbert Rath Ist mit diesen sechs Fragen das aristotelische Glückskonzept annähernd erfasst? Antwort Problem: Das aristotelische Glückskonzept ist nicht in der glei­ chen Weise subjektivistisch gedacht wie die meisten modernen Glückskonzepte. Das »ich fühle« spielt für Aristoteles’ Verständ­ nis von Glück eine eher geringe Rolle. Glück ist für ihn nicht in erster Linie ein intensives Lebensgefühl, sondern kognitiv fassbar als absolutes Handlungs- und Lebensziel. Die philosophische Einsicht in das wahre Glück hilft dann dabei, ein objektiv gutes, gelingendes und richtiges Leben im Einklang mit sich selbst und der Polis-Ordnung zu führen.

Nun muss man wissen, wie solche Fragebögen oder Skalen in den Sozialwissenschaften üblicherweise konstruiert werden (vgl. zur Messung von Glück auch »Das Methodenproblem: Measuring the immeasureable«). Sie sind nicht immer völlig theoriekonform, sondern auch nach statistischen Kriterien aus einem größeren Itempool ausgewählt. Das Konzept eudaimonistischen Glücks wurde jedenfalls aufgenommen (vgl. z. B. Ryff u. Singer, 2008). Es wurde vermutet, dass Bradburns Konzept subjektiven Wohlbefindens, synonym mit Glück gebraucht, auf einer falschen Übersetzung des Eudaimonismusbegriffes in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles mit happiness fuße (Ryff u. Singer, 2008). Auf diesem Hintergrund mache es Sinn, die beiden Dimensionen Eudaimonie und Hedonie (happiness) abzugrenzen. Aber die Unterscheidung hedonistisches versus eudaimonistisches Glück hat die amerikanische Glücksforschung herausgefordert, da ja bisher happiness als subjektives Wohlbefinden, als aktueller, situationsspezifischer Befindenszustand gefasst wurde (vgl. Diener, 2006). Vielleicht haben die Forscher den Ansatz von Waterman als Vorwurf interpretiert (Hedonismus, mangelnde Kenntnis der großen Philosophen). Jedenfalls wurde »zurückgeschossen«. 70 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Kashdan, Birwas-Diener und King (2008) formulieren in dem neu gegründeten »Journal of Positive Psychology« scharfe Vorwürfe: Das Konzept eudaimonistischen Glückes entbehre jeder wissenschaftlichen Präzision, es sei überhaupt fraglich, ob der Ansatz wissenschaftlich sei (»does not translate well to science«). Kritisiert wird auch, dass eudaimonistisches und hedonistisches Glück nicht eindeutig abgegrenzt würden, einen Überlappungsbereich hätten. Nun gilt diese letzte Kritik für alle Wohlbefindenskonstrukte (deshalb haben wir versucht, ein überlappendes Begriffsfeld zu entwickeln, siehe oben) und wird auch von Waterman zugestanden: Starkes eudaimonistisches Glück verstärkt die Wahrscheinlichkeit hedonistischer Glücksgefühle (nicht jedoch automatisch umgekehrt). Nachdem dies versucht wurde, klarzustellen, versucht die Positive Psychologie (die ja ein eigenes »Konzept« tugendhaften Lebens in Verbindung mit Glück entwickelt hat, vgl. das nächste Kapitel, und die geprägt ist von einem starken Ausschließlichkeitsanspruch) weiter auszugrenzen. Biswas-Diener und King (2009) argumentieren, dass es entgegen Waterman nicht zwei verschiedene Typen von Glück gebe, sondern nur zwei verschiedene Traditionen der Glücksforschung. Frage an Norbert Rath Die Psychologie streitet über Philosophie. Wer hat recht? Antwort Innerhalb der philosophischen Traditionen der Antike handelt es sich, was diese Debatte angeht, um Differenzen zwischen den eher an Platon und Aristoteles anknüpfenden Glückslehren (insbeson­ dere der Stoa und des Neuplatonismus), die den Zusammenhang von Tugend und Glück stark betonen, und den besonders auf Epi­ kur und Lukrez zurückgehenden Glückskonzepten mit einem eher hedonistischen Ansatz. Man kann keine dieser Traditionen eins zu eins auf neuzeitliche Debatten übertragen. Aufgrund einer grund­ legend anderen ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und theoretischen Situation ist eine unmittelbare Anknüpfung an Glücksauffassungen der antiken Philosophie in der Moderne nicht so ohne Weiteres möglich.

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Anton Bucher (2009), Salzburger Theologe, der die jüngste »Psychologie des Glücks« geschrieben hat, kommt zu dem Schluss, dass sich hedonistische und eudaimonistische Glückskonzepte nicht ausschließen, was aber heißt das? Huta und Ryan (2010) zeigen an ihren Daten (300 Studierende), dass beide Glücksaspekte unterscheidbar, aber überlappend sind und gehen davon aus, dass eine Kombination beider mit dem größten Wohlbefinden einhergeht. Neben dieser aktuellen Debatte haben sich einige klassische Ansätze einer Psychologie des Glücks behauptet (vgl. Mayring, 1991a; Snyder u. Lopez, 2002; Eid u. Larsen, 2008). Zu nennen wären hier an erster Stelle kognitive Ansätze der Glücksforschung. Kognitive Glückstheorien Es mag zunächst überraschen, wenn die Psychologie zur Erklärung eines emotionalen Zustandes kognitive Faktoren heranzieht. Hier ist ein Entwicklungsprozess der Disziplin zu verzeichnen (vgl. z. B. Zimbardo u. Gerrig, 2004). Zu Beginn moderner psychologischer Forschung (die ersten Lehrstühle für Psychologie, unabhängig von Philosophie oder Medizin, wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingerichtet) hat sich die Schule des Behaviorismus neben der im akademischen Bereich weniger beachteten Psychoanalyse durchgesetzt. Der Mensch wurde konzipiert als auf Reize mit Verhalten reagierend; die Zusammenhänge wurden als Reiz-Reaktions-Gesetze (z. B. die Konditionierungstheorien des Lernens, Pawlow, Watson, Skinner) analysiert. Gedanken und Gefühle, so der Behaviorismus, seien nicht direkt beobachtbar, damit wissenschaftlich nicht erfassbar, der Mensch zwischen Reiz und Reaktion verblieb eine Blackbox. Dieses Modell wurde im Folgenden immer mehr kritisiert, und es wurde auf Einschätzungs- und Bewertungsprozesse hingewiesen, die zwischen Reiz und Reaktion moderieren. Die kognitive Wende der Psychologie war die Folge, etwa in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, und sie wirkt bis heute nach (kognitive Psychologie). Robinson und Compton (2008) haben in ihrer Überblicksarbeit zu kognitiven Theorien von Glück und Wohlbefinden (in der typisch amerikanischen Gleichsetzung der beiden Begriffe, siehe 72 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

die vorangegangenen Abschnitte) drei grundsätzliche Mechanismen ausgemacht: 1. Im Zustande des Glücks priorisiert unsere Wahrnehmung, unsere Aufmerksamkeit positive Faktoren und hält dadurch das Gefühl aufrecht. 2. Im Zustande des Glücks werden Stimuli, also äußere oder innere Reize oder Informationen, positiver eingeschätzt, kategorisiert, bewertet. 3. Neben Wahrnehmung und Bewertung läuft aber auch die Selbstregulation, also die kognitiven Prozesse, die Handlungen in der Erreichung von Zielen begleiten, positiver ab (Selbstwertsteigerung, Konfliktvermeidung, konstante Zielverfolgung). Diese abstrakte Charakterisierung möchte ich durch konkrete kognitive Glücksansätze verdeutlichen. Hier sind zuerst die Ziel-Erreichtes-Ansätze zu nennen. Schon 1943 hat Thomsen Glück konzipiert als den Quotienten aus dem, was wir im Leben erreicht haben und unseren Erwartungen und Zielen. Und dieser Quotient wird vom Subjekt eingeschätzt, kalkuliert, abgewogen (Abbildung 8). Kommentar von Norbert Rath Schon Chamfort (1980, S. 355; zuerst publiziert 1795) hat einen ähnlichen Gedanken geäußert: »Ansprüche sind eine Quelle des Leidens, und die Zeit des wirklichen Lebensglücks beginnt erst, wenn wir keine mehr stellen.« Vergleichbare Überlegungen finden sich auch in Schopenhauers »Aphorismen zur Lebensweisheit« (1851/2007).

Fakten (Was uns das Leben gibt) = Glück, Zufriedenheit Erwartungen Abbildung 8: Kognitive Glücksformel (Thomsen, 1943)

73 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Dieser Ansatz beinhaltet kognitive Prozesse auf allen drei angeführten Ebenen (Robinson u. Compton, 2008). Man kann Glück erreichen, wenn die Wahrnehmung selektiv auf das im Leben Erreichte gerichtet wird (Ebene 1). Man kann Dinge als Erfolge einschätzen oder Ziele, die man nicht erreicht hat, als unwichtig bewerten (Ebene 2) und man kann die eigenen Handlungen effizienter auf die eigenen Ziele ausrichten oder sich realistischer Ziele setzen (Ebene 3). Solche Ziel-Erreichtes-Ansätze sind vielfältig aufgegriffen worden, beispielsweise in der Arbeitszufriedenheitsforschung (Neuberger, 1985). Einen weiteren kognitiven Ansatz stellt die Theorie des sozialen Vergleiches dar. Leon Festinger (1954) hat gezeigt, dass Personen sich mit anderen Personen vergleichen, wenn keine objektiven Bewertungsstandards vorliegen. Der Vergleich mit schlechter gestellten Personen (downward comparison) ist dabei besonders selbstwertdienlich und steigert das Wohlbefinden. In der Wohlbefindensforschung hat das Easterlin (1973) schön gezeigt. Er wollte das Paradox erklären, dass die durchschnittlichen Wohlbefindenswerte in sozialen Gruppen unterschiedlichster materieller Lage (z. B. Entwicklungsländer vs. Wohlstandsländer) relativ ähnlich sind. Personen mit gleichem Einkommen hingegen zeigen im Schnitt enorme Wohlbefindensunterschiede, je nachdem, in welchem Land sie leben. Easterlins Erklärung zieht die Theorie des sozialen Vergleiches heran und argumentiert, dass Personen sich mit dem Durchschnitt ihrer sozialen Bezugsgruppe vergleichen, wenn sie ihren eigenen Zustand einschätzen. Das bezieht sich auf unterschiedliche Länder, aber auch innerhalb einer Gesellschaft können die sozialen Bezugspunkte unterschiedlich sein. Auch Zeitvergleiche werden so erklärbar. So habe sich das durchschnittliche Einkommen in den USA zwischen 1940 und 1970 bereinigt um 60 % gesteigert, das Glücksniveau sei aber gleich geblieben, da die Vergleichsprozesse sich nicht verändert haben. Die Adaptation Leven Theory (Brickman, Coates u. Janoff-Bullman, 1978) geht hier einen Schritt weiter und geht davon aus, dass jedes einzelne Individuum einen unterschiedlichen Glücksmaßstab besitze. Dazu wurde ein Extremgruppenvergleich vorgenommen und Unfallopfer mit folgender Querschnittslähmung mit Lot74 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

teriegewinnern in ihren Glückseinschätzungen verglichen sowie eine Kontrollgruppe ohne solche einschneidenden Lebensereignisse herangezogen. Es zeigten sich nur kurzfristige Befindensaus­ schläge, längerfristig (ein Jahr danach) gleichen sich die Glücksselbsteinschätzungen wieder an das Niveau vor dem Lebensereignis an. Dieser Effekt wurde als hedonistische Tretmühle bezeichnet: Wir passen uns in unserem Glückserleben an unseren individuellen internen Level immer wieder an, auch wenn einschneidende Veränderungen passieren, wir laufen auf der Stelle, was unser Glück betrifft. Darauf aufbauend wurde das Konzept einer Set-Point-Theorie des Wohlbefindens entwickelt, die ähnlich wie beim Körpergewicht abnahmewilliger Personen davon ausgeht, dass wir auch nach stärkeren Veränderungen immer auf unseren individuellen Set-Point zurückpendeln. Nachfolgende Studien konnten den Ansatz nicht immer bestätigen. So haben Lucas, Clark, Georgellis und Diener (2004) Daten von über 24.000 Personen in der Bundesrepublik Deutschland im Längsschnitt über 15 Jahre analysiert und gefunden, dass Arbeitslosigkeit als einschneidendes Lebensereignis das Wohlbefinden langfristig verändern kann und die betroffenen Personen nicht mehr vollständig zu ihrem Set-Point zurückfinden. Kein Wunder, dass im Rahmen der Positiven Psychologie diese Theorie kritisiert wird (vgl. auch Diener, Lucas u. Scollen, 2006), da ihre Folge wäre, dass persönliches Glück wenig förderbar wäre. Auf solchen kognitiven Ansätzen aufbauend ist auch die Theorie multipler Vergleichsprozesse von Michalos zu sehen (Michalos, 1980, 1985). In einer empirischen Studie an rund 700 Studierenden konnte er zeigen, dass in der Einschätzung des eigenen Glücks und Wohlbefindens sechs verschiedene Vergleichsmaßstäbe zur Geltung kommen: ȤȤ der Vergleich mit den eigenen Wünschen und Ansprüchen (Ziel-Erreichtes-Diskrepanz); ȤȤ der Vergleich mit für einen selbst relevanten anderen Personen; ȤȤ der Vergleich mit der besten Lebenssituation, die man je hatte; ȤȤ der Vergleich damit, was man vor drei Jahren erwartet hatte; ȤȤ der Vergleich damit, was man in drei Jahren erwartet; ȤȤ der Vergleich mit den eigenen Bedürfnissen. 75 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Durch statistische Zusammenhangsanalyse konnte errechnet werden, dass diese kognitiven Einschätzungen 49 % der Varianz der Glücksselbsteinschätzung und 53 % der der Selbsteinschätzung globaler Lebenszufriedenheit erklären können. Die bisher beschriebenen kognitiven Mediatoren (eine Mediatorvariable vermittelt den Zusammenhang zweier Variablen, hier der Lebenssituation und des subjektiven Wohlbefindens) stellen eher sorgfältige, längerfristige Abwägensprozesse dar. Die Arbeitsgruppe um Norbert Schwarz hat kurzfristige kognitive Prozesse im Moment der Glücksselbsteinschätzung ausgemacht (Schwarz u. Clore, 1983; Schwarz, 1987). In einer Serie von Experimenten wurden beispielsweise Personen zu Glück und allgemeiner Lebenszufriedenheit bei gutem und bei schlechtem Wetter befragt, und in der Tat zeigte sich hier ein Einfluss. Wurden die befragten Personen allerdings explizit auf die Wetterbedingungen hingewiesen, so zeigte sich ein differenziertes Bild: Schönes Wetter steigerte das Wohlbefinden (Glück und Zufriedenheit), schlechtes Wetter bestärkte niedriges Wohlbefinden, hatte aber keinen Effekt bei hohem Wohlbefinden. Die Autoren unterscheiden hier direkte und indirekte Einflüsse der aktuellen Situation auf das Wohlbefinden, moderiert durch aktuelle Aufmerksamkeitsprozesse. Das Befinden einer Person, die Glücksgefühle, sind also von einer Reihe von kognitiven Prozessen vermittelt, die zu einem großen Teil die Gefühle erklären können. Andererseits sind gerade die letztgenannten Forschungen auch ein Indiz dafür, wie fragwürdig die Ergebnisse sind, wenn Personen einfache Selbsteinschätzungsskalen über das eigene Glück vorgelegt werden, ohne die situativen Bedingungen und kognitiven Prozesse in jeder einzelnen Person zu kennen. Handlungstheorien des Glücks Andere Glückstheorien legen den Schwerpunkt auf die Aktivitäten der Person, ihre Handlungen, und erklären darüber das Befinden. Die bekannte Flow-Theorie von Csikszentmihaly (1975, 2007) ist hier anzuführen, da er Flow und Glück mehr oder weniger gleichsetzt. Er ging in seinen Studien von Handlungen aus, 76 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

die nicht mit einem äußeren Ziel wie Geld, Macht, Prestige oder Vergnügen getan werden, die ihren Belohnungswert in sich selbst haben, die intrinsisch motiviert sind, und nannte sie autotelische Aktivitäten: Das Ziel (griechisch: telos) liegt in der Handlung selbst. Auffallend ist hier sofort die Parallele zur aristotelischen Glückslehre. Euidaimonia ist nach Aristoteles der Zustand, der entsteht, wenn wir das Gute, als höchstes Gut, um seiner selbst willen anstreben. Für seine Studien hat Csikszentmihalyi (1975) zunächst Bergsteiger, Schachspieler, Komponisten, Tänzer, Basketballspieler und Chirurgen herangezogen, die intrinsisch motivierte Aktivitäten zeigen und ihre eigenen Handlungsfähigkeiten weder stark überfordernd (Angst wäre die Folge) noch stark unterfordernd (Langeweile wäre die Folge) einschätzen. Der Zustand, in den sie dann geraten, wird als Flow-Erlebnis bezeichnet und ist gekennzeichnet durch Folgendes: ȤȤ Die Handlung und das Bewusstsein von der Handlung verschmelzen. ȤȤ Die Aufmerksamkeit ist ganz auf das Gegenstandsfeld gerichtet. ȤȤ Die Person transzendiert ihre Individualität, wird selbstvergessen, verliert Selbstbewusstsein. ȤȤ Die Person hat in ihrer Wahrnehmung Handlung und Umwelt völlig unter Kontrolle. ȤȤ Die Handlungsanforderungen sind kohärent, das Handlungsfeedback ist eindeutig. ȤȤ Die Handlung hat kein primär externales Ziel, ist autotelisch. Dieser Zustand wird auch als Tätigkeitsfreude, auch als Glückserleben bezeichnet, kann in größeren Handlungszusammenhängen entstehen, aber auch im Kleinen, im Alltag (Mikroflow-Erlebnisse), wie beim Tagträumen, Musikhören, Essen, Menschen zusehen. Das Glückserleben, wenn es denn ein solches ist, wird also an bestimmte Handlungsweisen gebunden. Schon bei Erich Fromm (1947) wird ähnlich argumentiert, hier in direktem Bezug auf Glück (happiness), das er streng von Lust (pleasure) abgrenzt. Fromm knüpft direkt an Aristoteles an und bindet Glück an tugendhaftes Handeln im Rahmen einer humanistischen Ethik an. Lust hingegen entbehre einer Wertbegründung. 77 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Produktives Handeln im Sinne der Realisierung eigener Potenziale verbinde den Menschen mit der Welt und sichere die Integrität der Persönlichkeit: »Happiness is man’s greatest achievement; it is the response of the total personality to a productive orientation toward himself and the world outside« (Fromm, 1947, S. 191). In dieser Theorie ist das Glückshandeln, nicht wie bei Csikszentmihalyi, bewusst, zielgerichtet, dabei aber, ähnlich wie bei Csikszent­ mihalyi, intrinsisch motiviert. Frage an Norbert Rath So viele Anknüpfungen an Aristoteles! Ist das ein akzeptables Vorgehen von Nichtphilosophen? Antwort Je mehr Anknüpfungen an Klassiker, desto besser! Natürlich haben Philosophen keinen automatisch privilegierten Verständnis-Zu­ gang zur Bestimmung dessen, was Glück sei. Die historische Differenz, die unsere Gesellschaft und Kultur von der des Aristo­ teles trennt, erfordert allerdings für ein angemessenes Verständnis seiner Glückstheorie eine hermeneutische Anstrengung, die zum Beispiel in Glücksratgebern nicht immer geleistet wird. Zu der von Fromm betonten Verschmelzung von Ich und Welt im Kairos, im Augenblick des Glücks gibt es übrigens zahlreiche literarische Zeugnisse. Ich führe eines davon an: »Man sitzt auf einer Bank zum Beispiel/auf einer Bank mitten im Wald (das gibt es!)/und die Witterung ist entsprechend/die Luft also mild/die Blätter ringsum haben die Farben braun, gelb, rot/– dann passiert’s, dann ergibt sich’s einfach:/das Glück« (Bert Brune, Es ergibt sich einfach).

Ein neuerer, heute viel diskutierter Ansatz einer Glückshandlungstheorie sei hier angeführt, der nicht explizit sich auf Aristoteles bezieht: die Broaden-and-Build-Theorie von Fredrick­son (Fredrick­son, 2001; Fredrickson, Cohn, Coffey, Pek u. Finkel, 2008). Der Ansatz enthält auch eine kognitive Komponente und kann so als eine Verbindung des in den letzten beiden Abschnitten Angeführten gelten. In der Entstehung lang anhaltenden Glücks und 78 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Wohlbefindens, so die Theorie, spielen zwei Mechanismen eine entscheidende Rolle. Befindet sich eine Person in einem positiven emotionalen Zustand, so verbreitert dies (»broaden«) ihre kognitiv-aktionalen Repertoires. Die Aufmerksamkeit wird erhöht, das Denken intensiviert, neue Ideen und Sichtweisen sowie Handlungsmöglichkeiten entstehen. Dies wiederum führt dazu, dass die Person ihre eigenen Ressourcen entdeckt und aufbaut (»build«), sie fokussiert auf die (positive) Gegenwart, beherrscht die Situation, kann emotionale Unterstützung für andere geben und erhalten. Sie begegnet den Herausforderungen des Lebens besser, greift Gelegenheiten auf, kann erfolgreicher handeln. Durch diese beiden Mechanismen wird Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit langfristig erhalten und gesteigert. Die Arbeitsgruppe um Fredrickson hat in zahlreichen Experimenten die Wirksamkeit beider Mechanismen nachweisen können. Fredrickson zählt sich mittlerweile zur Positiven Psychologie, setzt eine buddhistisch beeinflusste Loving-KindnessMeditation (liebende Güte) ein, um positive Gefühle zu induzieren und über die Broaden-and-Build-Mechanismen langfristiges Glück und Lebenszufriedenheit aufzubauen (Fredrickson et al., 2008; zur Kritik Positiver Psychologie siehe das nächste Kapitel). Persönlichkeitspsychologische Ansätze Eine weitere Gruppe von psychologischen Glückstheorien betont die Stabilität und Personabhängigkeit von Glück und Wohlbefinden. Hier werden in letzter Zeit stark die genetischen Ansätze diskutiert. Vor allem durch Zwillingsstudien gestützt wird kalkuliert, dass der Erblichkeitskoeffizient bei Glück bis zu 50 % beträgt (Lykken, 1999; Nes, 2010). Diese Prozentangabe bezeichnet die Größe der Unterschiede zwischen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Lebenssituation, die auf die genetische Ausstattung zurückzuführen sind. Für Zwillingsstudien wird dabei nach eineiigen Zwillingen (gleiche genetische Ausstattung) gesucht, die nach der Geburt getrennt wurden und in verschiedenen Familien aufgewachsen sind. Wenn sich dann im Erwachsenenalter Unterschiede zeigen, so sind sie auf Umweltbedingun79 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

gen (Erziehung z. B.) zurückzuführen; wenn sich Ähnlichkeiten zeigen, so sind diese mit genetischen Faktoren begründet. Solche Studien (berühmt geworden sind sie bei der Erblichkeitsschätzung von Intelligenz) zeigen jedoch prinzipielle Schwächen. Ich möchte vier Punkte nennen: ȤȤ Der erste Einwand ist ein methodischer: Es ist in der Regel äußerst schwer, solche getrennt aufgewachsenen Zwillingspaare für Studien zu gewinnen. Die untersuchten Stichproben sind weit entfernt von Zufallsauswahlen (das Ideal einer empirischen Studie: Ich kenne die Grundgesamtheit und wähle per Zufall eine Stichprobe daraus für meine Studie aus). Sie können also Verzerrungen unterliegen. Auch ist längst nicht garantiert, dass die getrennt aufgewachsenen Zwillinge wirklich verschiedene Erziehungs- und Umweltbedingungen hatten. Oft wird ein Zwilling einem Familienangehörigen, beispielsweise der Schwester der Mutter, in Pflege gegeben, während der Kontakt der Zwillinge nie abbricht und man sich in der Erziehung abspricht. ȤȤ Es handelt sich hier um Varianzanteile und nicht um Merkmalsanteile. Man kann nicht sagen, 50 % des Glücks der Menschen sei anlagebedingt, 50 % sei umweltbedingt. Es werden Gruppenunterschiede von Stichproben unter unterschiedlichen Bedingungen verglichen. ȤȤ Ebenso kann man von dem Koeffizienten nicht auf die einzelne Person schließen, da es sich wiederum nur um Gruppenwerte handelt. Bei manchen Personen wird also das Glück stärker beeinflussbar sein, bei manchen weniger stark. Der Erblichkeitskoeffizient sagt nur etwas über den Durchschnitt aus. ȤȤ Schließlich muss betont werden, dass aus einem hohen Erblichkeitskoeffizienten nicht ableitbar ist, dass das untersuchte Merkmal wenig förderbar sei (so auch Nes, 2010). Mein Professor in Pädagogischer Psychologie an der Universität München, Hans Schiefele, hat in seinen Vorlesungen immer gesagt, wenn nachgewiesen würde, dass Intelligenz einen Erblichkeitskoeffizienten von 99 % hätte, so müssen wir trotzdem alles für dieses eine Prozent in Erziehung und Unterricht tun. Die Möglichkeiten zur Förderung von Glück sind also durch den 50 %-Faktor nicht eingeschränkt. 80 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Kommen wir nun zu den persönlichkeitspsychologischen Ansätzen im engeren Sinn. Persönlichkeitspsychologie als eine psychologische Teildisziplin untersucht individuelle Unterschiede zwischen Menschen im Sinne stabiler Eigenschaften (»traits«), während die allgemeine Psychologie als weitere Teildisziplin die Gemeinsamkeiten, also die bei jedem Menschen gleiche Grundausstattung thematisiert (vgl. Zimbardo u. Gerrig, 2004). In zahlreichen empirischen Studien wurde gezeigt, dass die Grunddimensionen solcher Persönlichkeitseigenschaften, in denen sich Menschen unterscheiden, die folgenden sind: ȤȤ Extraversion als Grad der Geselligkeit und Aktivität im zwischenmenschlichen Bereich; ȤȤ Neurotizismus als Grad der emotionalen Labilität, Ängstlichkeit und Anspannung, ȤȤ Offenheit als Grad der Interessiertheit an neuen Erfahrungen, Erlebnissen und Eindrücken; ȤȤ Verträglichkeit als Grad des Verständnisses, Wohlwollens und Mitgefühls für andere; ȤȤ Gewissenhaftigkeit als Grad des organisierten, sogfältigen und zuverlässigen Handelns. Um den Zusammenhang von Persönlichkeitseigenschaften und Glück zu überprüfen, sind Längsschnittstudien besonders aussagekräftig. So haben Costa und McCrae (1980) an Daten der »Normative Aging Study« (Subsample von 234 Personen) gezeigt, dass unter den fünf Persönlichkeitseigenschaften Extraversion und Neurotizismus (gemessen am ersten Erhebungszeitpunkt) starke Vorhersagekraft für Glück und Wohlbefinden (gemessen am zweiten Erhebungszeitpunkt zehn Jahre später) besitzen. Sie resümieren: »Personality is probably the strongest known predictor of wellbeing« (Costa u. McCrae, 1984, S. 148). Spätere Studien, die auch in Metaanalysen zusammengeführt wurden, bestätigen diesen Zusammenhang, wenn auch nicht so stark, wie ursprünglich angenommen (Lucas, 2008).

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Affektive Ansätze Glück als einen rein affektiven Zustand zu sehen hat in der Wohlbefindensliteratur, vor allem in den USA, eine lange Tradition. Bradburn (1969), der Glück und Wohlbefinden als austauschbare Begriffe verwendet, hat eine affektive Zweifaktorentheorie entwickelt und mit empirischen Daten untermauert. Glück bedeute die Bilanz positiver und negativer Affekte im Leben eines Menschen. Dabei können die positiven und negativen Affekte relativ unabhängig voneinander variieren. Darauf aufbauend hat er ein Messinstrument zur Glückserfassung entwickelt, die »Affective Balance Scale« (siehe nächstes Kapitel). Auch Diener (2006) geht davon aus, dass subjektives Wohlbefinden im Wesentlichen aus positiven und negativen affektiven Zuständen besteht, die allerdings subjektiv eingeschätzt werden. Die bereits zitierten (im Abschnitt zur Definition von Glück) phänomenologischen Glücksansätze (Lersch, 1951; Bollnow, 1956) gehen ebenso von Glück als emotionalem Zustand aus. Auch die dort zitierte Studie von Hoffmann (1984) legt eine Definition von Glück als Emotion zugrunde. Tunner (1983) führt Glück auf emotional starke Lusterlebnisse zurück, Erlebnisse des Sehens, Hörens, Schmeckens, Riechens, der Wärme, die aber nicht vergänglich sind, sondern von der Person innerlich festgehalten werden und so zu überdauernderen Glücksgefühlen führen. Damit sehen wir doch, ähnlich wie bei der Definition von Glück, sehr unterschiedliche Theorieansätze in der Psychologie und verwandten Sozialwissenschaften. Vielleicht ist es gerade diese Vielfalt, die die Glücksforschung so beliebt in Medien und Populärwissenschaft macht, da »für jeden etwas dabei« ist. Frage an Norbert Rath Sieht die Philosophie a) Glück als Emotion, b) als Persönlichkeitseigenschaft, c) als kognitive Einschätzung, d) als Handlungsergebnis an? Gibt es auch in der Philosophie des Glücks diese unterschiedlichen Theorieansätze? Was kann uns hier weiterhelfen?

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Antwort Es gibt ganz unterschiedlich ansetzende Philosophien des Glücks. Die genannten Bestimmungen werden vertreten zum Beispiel a) von Rousseau, b) von Nietzsche, c) von den Stoikern, d) von Utilitaristen wie Bentham und John Stuart Mill. Man kann diese Vielstimmigkeit positiv sehen, als Vieldimensionalität philosophi­ schen Nachdenkens über Glück, mit dem Effekt, dass ganz unter­ schiedliche Aspekte des Glücks jeweils intensiv beleuchtet werden.

Das Methodenproblem in der Erfassung von Glück: Measuring the immeasurable »Measuring the immeasurable« – so überschreibt Michael Eid sein Methodenkapitel im Sammelband Eid und Larsen (2008) und spielt damit mit der Doppeldeutigkeit: unermesslich – unmessbar. Auch wenn Eid dann ein klares Messkonzept vorlegt, möchte ich dieses Wortspiel übernehmen. Unermesslich sind die Messansätze, die Operationalisierungen von Glück in den Sozialwissenschaften. Vor über zwanzig Jahren habe ich 52 unterschiedliche Glücksinstrumente aufgeführt (Mayring, 1991b; vgl. auch Mayring, 2003), von simplen Selbsteinschätzungsskalen (Alles zusammen genommen, wie glücklich ist Ihr Leben derzeit?) über mehrere Indikatoren (Items) umfassende Skalen zu indirekteren Ansätzen. Auch Bucher (2009) widmet ein großes Kapitel den völlig unterschiedlichen Glückserhebungsinstrumenten. Beispiele sind in diesem Kapitel bereits aufgeführt worden (Affect Balance Scale, Bradburn, 1969; Personal Expressive Activities Questionnaire PEAQ, Waterman, Schwartz u. Conti, 2008). Beliebt ist auch die Vorlage von unterschiedlich stark lachenden und weinenden Gesichtern, von denen eines anzukreuzen ist. Solche Instrumente haben alle den Nachteil, dass sie Selbsteinschätzungen darstellen, meist retrospektiv bewertend sind und der sozialen Erwünschtheit unterliegen. Wer bezeichnet sich schon gern als völlig unglücklich? Und in der Tat liegen die Durchschnittswerte der Glücksselbsteinschätzungen immer im positiven Bereich. Hier 83 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

bestehen wohl aber auch starke kulturelle Unterschiede. Unterschiedliche Gesellschaften definieren unterschiedliche Standards, wie angemessen Glücksgefühle sind. Bucher (2009) preist deshalb die Vorteile der Erlebnisstichproben-Methode (ESM). Hier wird meist zufallsgeneriert zu vielen Zeitpunkten ganz aktuell gefragt, wie glücklich sich die Person im Moment fühle. Diese Werte werden dann aufsummiert. Aber auch das bleibt eine Selbsteinschätzung. Der Psychologe Daniel Kahnemann, der den Wirtschaftsnobelpreis 2002 erhielt, hat zur Wohlbefindensmessung eine Vorgangsweise entwickelt, um den retrospektiven Bias (in der Rückschau erscheinen mir Erlebnisse anders als in der aktuellen Erfahrung) zu verhindern, indem er konkrete Episoden des vergangenen Tages aufzählen lässt, die unabhängig auf ihren Befindenswert eingeschätzt werden, und bezeichnet den daraus resultierenden Sammelwert als »Objektives Glück« (Kahnemann, 1999). Aber auch dies bleibt eine Selbsteinschätzung, bleibt Verzerrungen unterworfen, und die Verwendung des Beiwortes »objektiv« erscheint hier sehr überzogen. Sicherlich gibt es auch physiologische Indikatoren für Wohlbefinden, die messbar im klassischen Sinne sind (Panksepp, 1998). Jedoch sind an Glücksgefühlen soviel unterschiedliche physiologische Prozesse, soviel unterschiedliche Hirnareale (z. B. Nucleus accumbens, Benzodiazepinkreislauf am Hirnstamm, präfrontaler Kortex), soviel unterschiedliche Botenstoffe (Dopamin, Serotonin, Oxyticin) beteiligt, dass auch hier ein einfacher Messansatz scheitern muss. Ganz andere Wege geht die Emotionsforschung, wenn sie den Gesichtsausdruck, die Mimik erfasst, um auf emotionale Zustände rückschließen zu können (vgl. Ulich u. Mayring, 2003). Ekman und Friesen (1978) haben hier ein Verfahren vorgelegt, das genauestens die Gesichtsmuskeln beschreibt, die bei glückvollem Lachen betätigt werden (Anheben der Mundwinkel, Spannung des Ringmuskels um die Augen) und daraus ein Kodierschema entwickelt (Facial Action Coding System). Aber äußere Mimik und innerer Gefühlszustand müssen eben nicht immer parallel gehen. In Anbetracht der im letzten Abschnitt dargestellten heterogenen, zum Teil widersprüchlichen Theorieansätze erscheint eine vorschnelle empirische Erfassung von Glück aber auch prinzipiell 84 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

fraglich: Glücksmessungsansätze sind nicht nur unermesslich, Glück selbst erscheint unmessbar. Frage an Norbert Rath Kann man Glück messen? Antwort Glück könnte eine Art von Erfahrung sein, die Versuche aus­ schließt, sie zu messen (vgl. Adorno, 1969, S. 123: »War ich etwa mit der Forderung konfrontiert, wie man wörtlich sagte, ›Kultur zu messen‹, so besann ich demgegenüber mich darauf, daß Kultur eben jener Zustand sei, der eine Mentalität ausschließt, die ihn messen möchte.«).

Für eine kritische Theorie des Glücks Mittlerweile wurde einige Kritik an dieser Art von Glücksforschung geübt. Bereits 1985 hat Freund eine kritische Theorie des Glücks gefordert. Der Pragmatismus amerikanischer Glücksforschung, so Freund, sei eine Abkehr von einer ethisch-normativen Glücksphilosophie (Aristoteles und Folgende) und reduziere Glück auf einen subjektiven, leicht abfragbaren Zustand. Soziale Erwünschtheit, die Tendenz zum Jasagen, die Self-Report-Methodologie sei verfehlt, Ausdruck eines falschen Bewusstseins (Freund, 1985). Auch Erich Fromm (1947) hat rein subjektive Glücksgefühle als oftmals eine Illusion bezeichnet, als Pseudo-Happiness, »completely unrelated to genuine happiness« (Fromm, 1947, S. 182). Handwerkszeug zur Entwicklung einer kritischen Theorie des Glücks kann Klaus Holzkamps Konzept einer kritischen Psychologie sein (Holzkamp, 1983). Für ihn sind folgende drei Ebenen der Kritik wichtig: ȤȤ Eine kategoriale Kritik setzt bereits an den Grundbegriffen und deren Definitionen an. Und in der Tat sind, wie bereits gezeigt wurde, die Glücksdefinitionen in der Psychologie völlig uneinheitlich. Besonders der englische Begriff des happiness ist 85 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

schillernd, unklar. Auf die philosophischen Hintergründe des Glückskonzepts wird in den Sozialwissenschaften selten eingegangen. Bezeichnend ist der Titel der 1999 gegründeten zentralen Zeitschrift für Glücksforschung: »Journal of Happiness Studies – An Interdisciplinary Forum on Subjective Well-Being«. ȤȤ Eine methodologische Kritik setzt an den vorgeschlagenen Erhebungsinstrumenten an. Hier finden sich vorwiegend die bereits kritisierten Selbsteinschätzungsskalen. Oftmals wird sogar nur mit einer einzigen Frage (1-Item-Form) vorgegangen (vgl. die vorangegangenen Abschnitte; Andrews u. Withey, 1976). ȤȤ Die Ebene der Ideologiekritik untersucht die gesellschaftlichen Funktionen der Glücksforschung. Hier ist immer wieder die Kommerzialisierung der Glücksforschung angeprangert worden (vgl. Mayring, 2007). Das zeigt sich zum Beispiel auf dem Buchmarkt. Eine Recherche im Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) auf dem deutschen Buchmarkt vom Oktober 2006 hatte 3.797 Werke mit »Glück« im Titel, 841 Werke mit »glücklich« im Titel erbracht. Vor 25 Jahren hatte Roos (1981) im gleichen Verzeichnis gut 200 Arbeiten gefunden. Der OnlineBuchversand Amazon führt gar derzeit fast 6.000 Titel zum Glück. Eine inhaltsanalytische Auswertung der Buchtitel (Mayring, 2007) hat gezeigt, dass der große Teil simple Glücksanleitungen beinhaltet (z. B. Die 10 Geheimnisse des Glücks, Der Glückstrainer, Werde reich und glücklich, Regeln des Glücks, 365 Ideen für das kleine Glück, Die Treppe zum Glück, Das Tor zum Glück, Kurs zum Glück, Der Wegweiser zum Glück). Bereits Roos (1981) hat nach ihrer Analyse von Buchmarkt und Zeitschriften (Horoskope, Fortsetzungsromane, Kummerkästen, Werbung) kritisiert, dass Glück in diesen Medien als Ware gehandelt wird. Roos interpretiert den »geradezu inflationär gebrauchten Glücksbegriff als eine Art Zuflucht« (Roos, 1981, S. 191). Den Menschen wird eine heile Welt vorgegaukelt. Sie diagnostiziert einen egoistischen, wenig gesellschaftskritischen Gebrauch des Glücksbegriffes: »Das so dargestellte Glück trägt ausgesprochen reaktionäre Züge« (Roos, 1981, S. 192). Eine Ideologiekritik der Glücksforschung muss aber noch grundsätzlicher angegangen werden. Darauf wird später eingegangen. 86 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Abbildung 9: Hotei, japanischer Glücksgott

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Philipp Mayring Die zentrale Frage: Lässt sich Glück beeinflussen? Psychologische Antworten

Im ersten Kapitel zu den philosophischen Konzepten des Glücks (Norbert Rath) erscheint mir die Frage nach der Beeinflussbarkeit von Glück als ganz zentral. Die klassischen Autoren (Demokrit, Platon, Aristoteles, Epikur, Seneca, Marc Aurel) widmen sich der Frage, wie ein gelingendes, glückliches Leben zu führen sei und gehen damit von der Beeinflussbarkeit aus. In Spätantike und mittelalterlich-christlicher Philosophie wird davon abgerückt und irdisches Glück in den Hintergrund gestellt. Der Humanismus greift die Diskussion um eine Glück ermöglichende Lebensführung wieder auf; neuere Philosophie stellt sie wieder zurück, die Glückssucher des 20. und 21. Jahrhunderts greifen sie im Rückgriff auf die Antike neuerlich auf. Das scheint eine Pendelbewegung zu sein, die Frage nach der Beeinflussbarkeit oder Machbarkeit von Glück nicht endgültig beantwortend. Was kann die Psychologie hier beitragen?

Korrelate von Glück Schon zu den Anfängen sozialwissenschaftlicher Wohlbefindensforschung (vgl. meinen ersten Beitrag in diesem Band) wurde in großangelegten empirischen Studien untersucht, welche weiteren Eigenschaften Menschen auszeichnen, die sich als glücklich bezeichnen. Methodisch gesprochen handelt es sich hier um Korrelationsstudien, die Variable Glücksselbsteinschätzung wird mit einer zweiten Variable korreliert. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang von Korrelaten des Glückserlebens. Die dahinter 88 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

stehende These ist natürlich, auf diese Weise etwas über Einflussfaktoren auf das Glück zu erfahren und daraus Strategien abzuleiten, wie Glück steigerbar ist. Nach diesen Studien lassen sich vier Hauptkorrelate von Glück nennen (vgl. Mayring, 2009): ȤȤ Der sozioökonomische Status der Person, das heißt ihre finanzielle Situation, ihr beruflicher Status, ihr Bildungsstand, korrelieren hoch mit Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden und Glück. In unterschiedlichen Studien wird von etwa 10 % erklärter Wohlbefindensvarianz berichtet – nicht viel, aber mehr als jeder andere einzelne Faktor. Vor allem ein Basiswert scheint hier für Wohlbefinden wichtig zu sein; ist dieser erreicht, so steigt das Glück nicht mehr proportional zum materiellen Zuwachs (Veenhoven, 1996). Arbeitslosigkeit dagegen stellt eine Bedrohung für Wohlbefinden dar. ȤȤ Die soziale Integration, vor allem anderen eine enge Vertrauensbeziehung bzw. Partnerschaft, stellt ein weiteres wichtiges Korrelat dar. Im weiteren Sinne ist hier auch die gesellschaftliche Partizipation gemeint (vgl. dazu Studien von Frey u. Stutzer, 2002). ȤȤ Schließlich ist die Gesundheit der Person als Glückskorrelat zu nennen. Moderne Gesundheitskonzepte fassen Wohlbefinden als Bestandteil von psychischer Gesundheit auf. Empirische Untersuchungen zeigen hier vor allem einen hohen Zusammenhang von Glück und Zufriedenheit mit dem subjektiven, selbsteingeschätzten Gesundheitszustand, aber auch mit objektiveren Gesundheitsmaßen. ȤȤ Positive Lebensereignisse stellen Wohlbefindenskorrelate dar, die zeigen, dass Glück im Sinne vollkommenen Wohlbefindens auch etwas mit Glück im Sinne von positivem Zufall zu tun hat. Hier sind vor allem Zugewinns- und Erfolgserlebnisse gemeint, wie der schon erwähnte Lotteriegewinn. Der Zusammenhang gilt auch für negative Lebensereignisse, deren Abwesenheit zentral für Belastungsfreiheit als Wohlbefindensaspekt (vgl. meinen ersten Beitrag in diesem Band) ist. Neben diesen »großen vier« Korrelaten wurden noch diverse Korrelationen vor allem mit Persönlichkeitsvariablen festge89 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

stellt, wie Extraversion, emotionale Stabilität, Selbstwert und Kontrollüberzeugung. Nimmt man diese Ergebnisse, zusammen mit den Ausführungen im dritten Abschnitt des Kapitels zu den Theorieansätzen (besonders den kognitiven Ansätzen) zusammen, so könnte man zu folgendem hypothetischen Modell der Einflussfaktoren von subjektivem Wohlbefinden gelangen (vgl. Mayring, 1991, Abbildung 10): gesellschaftli­ che Voraus­ setzungen Ressourcenverteilung, kulturelle Wohlbefindensbegriffe biografische Vorausset­ zungen Extraversion, emotionale Stabilität, Selbstwert, Kontrolle

Lebens­ bedingungen sozioökonomischer Status, Gesundheit, soziale Integration, positive Lebens­ ereignisse

kognitive Mediatoren multiple Vergleichs­ prozesse Handlungs­ mediatoren Coping, Flowhandlungen emotionale Mediatoren Stimmung

subjektives Wohlbefinden Zufriedenheit Freude Glück Belastungsfreiheit

Abbildung 10: Einflussfaktoren des Subjektiven Wohlbefindens

In diesem Modell sind neben dem bisher Angesprochenen noch gesellschaftliche Voraussetzungen des Wohlbefindens aufgeführt. Damit ist einerseits die gesellschaftliche Verteilung befindensrelevanter Ressourcen (z. B. materielle Faktoren) gemeint, andererseits die in jeder Kultur unterschiedliche begriffliche Füllung der Wohlbefindenskategorien, z. B. unterschiedliche Glücksbegriffe und Glücksideologien (vgl. dazu Diener u. Suh, 1999). Weiterhin sind noch emotionale Mediatoren aufgenommen worden. Diverse Experimente der Stimmungsforschung zeigen, dass positive Stimmung einen direkten Einfluss auf die Glücksselbsteinschätzung von Personen hat, negative Stimmung dagegen eine indirekte Wirkung über zwischengeschaltete Attributionsprozesse. 90 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Der größte Teil der Forschungen hinter diesem Einflussfaktorenmodell besteht jedoch aus Korrelationsstudien. Hierbei ergibt sich das schon angesprochene methodische Problem der kausalen Interpretation einer Korrelation (vgl. auch Bortz u. Döring, 2006).

Glückstherapien Ein weiteres Feld psychologischer Forschung zur Beeinflussbarkeit von Glück stellen die zahlreichen Ansätze zur Entwicklung und Überprüfung von Glückstherapien dar. Einen frühen Ansatz hat hier Michael Fordyce entwickelt. Eine systematische Analyse empirischer Glücksstudien (Fordyce, 1974) führte ihn zur Formulierung von 14 Grundsätzen (fundamentals) einer Glücksförderung: 1. Werde aktiver und halte dich beschäftigt! 2. Verbringe mehr Zeit mit anderen Menschen! 3. Sei produktiv durch sinnvolle Arbeit! 4. Sei systematischer und plane die Dinge besser! 5. Höre auf, dir Sorgen zu machen! 6. Setze niedrigere Ansprüche und Erwartungen! 7. Entwickle ein positives, optimistisches Denken! 8. Orientiere dich an der Gegenwart! 9. Arbeite an einer gesunden Persönlichkeit (Selbstakzeptanz)! 10. Entwickle eine nach außen gerichtete soziale Persönlichkeit! 11. Sei du selbst! 12. Eliminiere negative Gefühle und Probleme! 13. Die engsten Beziehungen sind die wichtigsten! 14. Erkenne, dass Glück wertvoll ist! Jeder der einzelnen Punkte wird mit Forschungsergebnissen untermauert. Sodann hat Fordyce (1977) darauf aufbauend ein Therapiekonzept entwickelt, das er »Einsichtsprogramm« nennt. Die Personen erarbeiten sich die Grundlagen, durch Anleitung begleitet. Für jeden der 14 Grundsätze wurden dann im zweiten Schritt im Sinne der Verhaltenstherapie Übungen entwickelt, zum Beispiel: 1. Einführen von zusätzlichen freudebringenden Aktivitäten in den Tagesablauf; 91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

2. Einladungen organisieren, alte Freundschaften aktivieren; 3. Überdenken von Berufswahl und Karriere; 4. konkrete Pläne für die nächsten Wochen, Monate, Jahre; 5. Sorgentagebuch zum Nachweis der Unbegründetheit, »thought switching« auf Positives; 6. Analyse der persönlichen Ziele, Versuch von deren Minimierung; 7. Konzentrationsübungen auf positive Aspekte von Lebensereignissen; 8. Versuch, die laufende Woche zur besten Woche des Lebens zu machen; 9. Konzentration auf positive Seiten und Akzeptanz negativer Aspekte der eigenen Persönlichkeit; 10. Mitgliedschaft in interessanten Vereinen; Leute anlächeln und grüßen, neue Leute kennenlernen; 11. Spontaneitätsübungen, Ausdruck der eigenen Gefühle; 12. bei nicht bewältigbaren Problemen professionelle Hilfe aufsuchen, die restlichen negativen Gefühle abschalten; 13. mit engsten Bezugspersonen mehr Zeit verbringen, Beziehungsprobleme lösen; 14. mehr Nachdenken über Glück; Glück als übergeordnetes Ziel erkennen. Fordyce hat im Folgenden fünf Studien mit rund 500 Personen durchgeführt, in denen er Effekte dieser Glückstherapie nachweisen kann. Sogar anderthalb Jahre nach Absolvieren des Programms zeigen sich noch signifikant höhere Glückswerte (Fordyce, 1983). Schon bald danach gab es eine Reihe von ähnlichen Glücksprogrammen. Lichter, Haye und Kammann (1980) haben eine kognitive Therapie entwickelt, in der glücksgefährdende Überzeugungen durch glücksförderliche »beliefs« in einem vierwöchigen Kurs ersetzt werden. Houston (1981) arbeitet über die Senkung des Anspruchsniveaus (Wünsche dir nur Dinge, die du erreichen kannst! Weniger und geringere Zielvorstellungen! Orientierung nach unten!) und über eine Selbstdeprivation (sich selbst unter Mangelbedingungen zu stellen, um den Wert bestimmter Erlebnisse zu steigern) (vgl. zu weiteren Ansätzen Mayring, 1991; Bucher, 2009). 92 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Schon früh wurden jedoch Ansätze der Glückstherapien auch mit empirischen Studien in Frage gestellt. So hat Tönnies (1988) gezeigt, dass positive Gedanken per se keinen spezifischen Effekt aufweisen, ein Mehr an positiven Gedanken das negative Denken nicht unbedingt verringere. Eine aktuelle Studie (Mauss, Tamir, Anderson u. Savino, 2011) kritisiert den Grundsatz der Höherbewertung von Glück. Zunächst zeigen die Autorinnen und Autoren, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Bewertung von Glück und dem Glückserleben gibt, in positiven Situationen sogar einen negativen Zusammenhang (je wichtiger Glück genommen wird, desto weniger Glückserleben). Um dem Phänomen näher nachzugehen, haben sie ein Experiment durchgeführt. Der Versuchsgruppe (Studierende) wurde eine Instruktion gegeben über Forschungsergebnisse, die die Bedeutung und die positiven Folgen von Glück nachweisen. Einer Kontrollgruppe wurde dieselbe Instruktion gegeben, nur nicht in Bezug auf Glück, sondern auf vernünftiges Urteilen. Zusätzlich wurde über einen Filmclip eine glückliche versus traurige Situation präsentiert. Es zeigte sich, dass Personen mit der Glücksinstruktion besonders bei glücklicherer Stimulation weniger Glück erleben. Die Autorinnen und Autoren sprechen von einer selbstzerstörerischen Funktion von hoher Glücksbewertung. Erklärt wird der Effekt darüber, dass die Höherbewertung von Glück zu einer höheren Erwartungshaltung führe, die dann schneller enttäuscht werden kann und ins Unglück führt. Damit ist aber ein Grundpfeiler der Glückstherapien erschüttert. Die Ansätze der Glückstherapien, trotz immer wieder auftauchender kritischer Stimmen, wurden besonders im Rahmen der »Positiven Psychologie« aufgenommen, worauf nun näher eingegangen werden soll.

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Das Konzept einer »Positiven Psychologie«1 Das Konzept einer Positiven Psychologie ist an die Person Martin Seligman gebunden, der durch seine Forschungen zur erlernten Hilflosigkeit bekannt wurde. In seinen Überlegungen über eine programmatische Ausrichtung, nachdem ihn seine Tochter als sauertöpfisch (grumpy) bezeichnete, so schildert er (Seligman, 2003), kam ihm die Idee, die er dann zusammen mit Mihaly Csikszentmihalyi ausarbeitete. Sie speist sich aus seiner Kritik der Psychologie, die sich zu stark über ein Krankheitsmodell definiert habe. »For the last half century psychology has been consumed with a single topic only – mental illness« (Seligman, 2002, XI). Die Positive Psychologie dagegen soll auf drei Säulen aufbauen (Seligman, 2003): erstens die Erforschung positiver subjektiver Erfahrungen von Menschen bezüglich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zweitens die Erforschung positiver individueller Charakteristika wie Charakterstärken und Tugenden und drittens die Erforschung positiver Institutionen und Gemeinschaften, da auch die Soziologie bisher nur dahinsiechte (»sociology has languished in the same way as psychology«; Seligman, 2003, S. XVII), fixiert auf »the ›isms‹ – racism, sexism, ageism – and how the isms ruin lives« (Seligman, 2003, S. XVII). Als Ziele der Positiven Psychologie hat Seligman (2003) ausgegeben: die Entwicklung von Tests, Fragebögen, Messinstrumenten zur Erhebung positiver Personvariablen, die Entwicklung von Interventionsansätzen zur Unterstützung von Stärken und Tugenden des Menschen, die Untersuchung der Interaktionen von menschlichen Stärken und Tugenden mit der Welt über den Lebenslauf. Insgesamt soll dadurch die Psychologie aus der Egozentrik zur Philanthropie bewegt werden (Seligman, 2003, S. XVIII). Ein solches Wissenschaftsprogramm, das eine Disziplin dermaßen finalisiert, sollte einer genaueren Analyse unterzogen werden.

1

Die folgenden Abschnitte zur Positiven Psychologie stellen Ausschnitte dar aus: Mayring, P. (2012). Zur Kritik der Positiven Psychologie. Psychologie & Gesellschaftskritik, 36, 45–61.

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Ideologiekritik an der Positiven Psychologie Es soll geprüft werden, ob die Positive Psychologie Züge einer Ideologie trägt. Nun ist das nicht die erste entsprechende Kritik der Positiven Psychologie. Utsch (2011) bezeichnet ihr Programm als »Zwangsbeglückung«, als »Wohlfühlterror«, Ahmed (2010) kritisierte die »happiness duty«. Dies soll nun systematisch angegangen werden. Für die hier vorgenommene Kritik wird ein Ideologiekonzept zu Grunde gelegt, das an Salamun (2001) orientiert ist. Nach Salamun können verschiedene Erkennungsmerkmale von Ideologien identifiziert werden, darunter: 1. Absolutheits- und Ausschließlichkeitsansprüche; 2. charismatische Führungspersonen mit Machtansprüchen, Erkenntnismonopole; 3. Immunisierungsstrategien durch Leerformeln und Suggestivdefinitionen, Zirkelargumente; 4. dichotomisierende Denkformeln; 5. dogmatisch-ganzheitliche Denkformeln; 6. Feindstereotype, Verschwörungstheorien; 7. utopisch-messianische Heilsideen. Dieses am kritischen Rationalismus orientierte Ideologiemodell ist zwar einseitig; es fehlt ihm die gesellschaftliche Komponente, die die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und gesellschaftlichen Funktionalitäten untersucht (vgl. Ritsert, 1972). Eine solche Analyse der Positiven Psychologie soll hier jedoch nicht vorgenommen werden, erscheint sehr viel schwieriger und vielleicht noch verfrüht. So möchte ich mich auf das eher deskriptive Modell von Salamun beziehen. Im Folgenden sollen Textstellen, die in eine dieser sieben Kategorien passen könnten, gesammelt werden.2 Ad 1: Absolutheits- und Ausschließlichkeitsansprüche Die Positive Psychologie bezeichnet sich selbst als Ideologie und beansprucht damit einen gewissen Ausschließlichkeitsanspruch: »a 2

Für Vorarbeiten sowie das Auffinden relevanter Textstellen sei Stefanie Haub mit ihrer Diplomarbeit (»Positive Psychologie: Versuch einer ideologiekritischen Inhaltsanalyse«, Klagenfurt 2011) gedankt.

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positive clinical psychology grounded in positive psychology’s ideology of health, happiness and human strengths« (Maddux, Snyder u. Lopez, 2004, S. 332). Positive Psychologie, verstanden als die Überwindung falschen Denkens (Krankheitsorientierung) verspricht ein goldenes Zeitalter für die gesamte Gesellschaft: »Finally, we suggest that positive psychology represents a potential ›golden era‹ in 21th-century America« (Snyder u. Lopez, 2007, S. 6). Wer kann sich solchen Versprechungen verschließen? Die Hauptvertreter der Positiven Psychologie sind ernsthafte Wissenschaftler(innen), an Universitäten verankert und damit dem wissenschaftlichen Ethos verbunden. Trotzdem wird mit solchen Formulierungen, die die bisherige wissenschaftliche Psychologie generell in Frage stellen (»it is time to abandon the illness ideology«; Maddux, Snyder u. Lopez, 2004, S. 322) und die Lösung aller Probleme durch die eigene Theorie ankündigen, ein gewisser Absolutheitsanspruch formuliert. Ad 2: Charismatische Führungspersonen mit Machtansprüchen, Erkenntnismonopole Die Positive Psychologie ist zentral mit der Person Martin Seligmans verbunden. Er ist Direktor des Zentrums für Positive Psychologie an der Pennsylvania State University in Philadelphia, USA. Gerade in der Gründungsphase der Positiven Psychologie war er, wie bereits erwähnt, Präsident der American Psychological Association (APA), des wohl auf der Welt einflussreichsten Psychologenverbands. Er hat neben der Homepage des Positive Psychology Center unter seiner Leitung eine weitere Homepage in sechs Sprachen an der Universität installiert (http://www.authentichappiness.sas.upenn.edu), die nach seinem alltagssprachlichen Bestseller benannt ist und sich rühmt, fünf Millionen Besucher zu verzeichnen. Ein eigener Studiengang (Master of Applied Positive Psychology) wurde von ihm eingerichtet. Einige äußerst erfolgreiche alltagssprachliche Beratungsbücher wurden von ihm verfasst, neben seinem wissenschaftlichen Werk (z. B. »Authentic Happiness«, deutsch: »Der Glücksfaktor: Warum Optimisten länger leben«, Bastei Lübbe, 2005, 8. Auflage 2011). Er hat eine Weltgemeinschaft Positive Psychologie ins Leben gerufen; im Juni 2011 wurde in Philadelphia der zweite Weltkongress Positive Psychologie von ihm veranstaltet. Das sind alles noch keine Zeichen für 96 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Machtansprüche oder Erkenntnismonopole. Wohl aber dafür, dass das Programm der Positiven Psychologie auf eine Person, Martin Seligman, zugeschnitten ist. Ad 3: Immunisierungsstrategien durch Leerformeln und Suggestivdefinitionen, Zirkelargumente Die zentralen Zielelemente der Positiven Psychologie bewegen sich an der Grenze zu Leerformeln und Suggestivdefinitionen. Das Anliegen der Positiven Psychologie sei, für die Menschen »highest possible levels of happiness« (Sheldon u. Lyubomirsky, 2004, S. 128) zu erreichen, »uncovering people’s strengths and promoting their positive functioning« (Snyder u. Lopez, 2007, S. 3), »making the lives of all people better and nurturing ›genius‹« (Snyder u. Lopez, 2007, S. 4), »cultivating positive emotions to optimize health and well-being« (Frederickson, 2000, S. 1), »realize your potential for lasting and deep fulfillment« (Seligman, 2002), »to help all people to live their best lives« (VIA Institute on Character, 2011). Dem kann man sich nicht verschließen, jeder möchte das erreichen; das Gegenteil macht keinen Sinn. Ad 4: Dichotomisierende Denkformeln Die Gegenüberstellung von Krankheitsideologie und Positiver Psychologie, wie sie nun schon in einigen Zitaten angeklungen ist, stellt wohl eindeutig eine vereinfachende Dichotomisierung dar. Waren bei der bekannten Gesundheitsdefinition der WHO von 1946 (Gesundheit als Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen, vgl. Faltermaier, 2005) beide Seiten vertreten, so ist hier nur noch vom positiven Befinden die Rede. In der Gesundheitspsychologie war dann in den 1980er Jahren von Aaron Antonovsky eine Kontinuumsvorstellung zwischen Gesundheit und Krankheit postuliert worden und gilt heute als einschlägig. Die Gesundheitsforschung arbeitet seit mindestens sechzig Jahren an einem solchen differenzierten Bild, das neben Krankheiten auch Ressourcen der Person in der Krankheitsbewältigung und Gesunderhaltung betont (vgl. Faltermaier, 2005). Ohne dies wahrzunehmen (kein Zitat aus der Gesundheitspsychologie) veröffentlicht Seligman (2008) in einer angesehenen Zeitschrift (Applied Psy97 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

chology) einen Artikel, in dem er eine Positive Gesundheit fordert und der mit den Worten beginnt: »I propose a new field: positive health« (Seligman, 2008, S. 3). Schon früher prägte er die Begriffe »Positive Social Science« und »Positive Education«. Seiner Einschätzung nach war im Besonderen die Psychologie bisher besessen von abweichendem Verhalten und psychischen Störungen (»obsessed with human failing and pathology«; Lambert, 2007, S. 26), sie wurde zur »victimology«, zu einer Opferkunde. Schuld daran war auch die Psychoanalyse (»Psychoanalysis doesn’t get anybody sober«; Lambert, 2007, S. 28). Aber auch die strikte Einteilung von Persönlichkeitseigenschaften, oder wie die Positive Psychologie oft formuliert, von Charaktermerkmalen in positive und negative, in Stärken und Schwächen, lässt keine Zwischentöne zu. Aufgrund von Analysen religiöser und philosophischer Texte (über alle Kulturen hinweg!, siehe folgende Ausführungen) hat die Positive Psychologie einen Katalog von menschlichen Stärken und Tugenden entwickelt: sechs Kerntugenden, differenziert in 24 menschliche Stärken (»Values in Action Inventory of Strengths«, vgl. Peterson, 2003; Peterson ist Direktor des VIA Institute on Character, vgl. www.viacharacter.org). Der Anspruch war dabei, dass »the VIA Classification will make possible a science of human excellence that goes beyond armchair philosophy and political rhetoric« (Peterson, 2003, S. 227). Das klingt so, als ob bisherige Theologien und Philosophien versagt hätten und nun von Seligman und Peterson in einem genialen Schlag die Rätsel der Menschheit gelöst seien. Ad 5: Dogmatisch-ganzheitliche Denkformeln Vieles von dem im letzten Abschnitt Angeführten weist auch in diese Richtung. Es wird zwar immer der wissenschaftliche Charakter des Ansatzes betont, die gefundenen Systeme (6 Tugenden, 24 Stärken) bleiben dann aber fix. Ein Beispiel ist auch die von Martin Seligman (2002) entdeckte Glücksformel: H = S + C + V (Happiness = Set Range + Circumstances + Voluntary Control). Jede Person habe ein angeborenes Glücksniveau, zu dem der Organismus immer wieder zurücktendiere, wenn davon abgewichen werde, ähnlich dem Set-Point beim Körpergewicht. Durch Zwillingsstudien (eineiige Zwillinge, die getrennt aufwachsen, werden im 98 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

späteren Leben auf Übereinstimmungen von Persönlichkeitseigenschaften untersucht) belegt, wird argumentiert, dass dieser GlücksSet-Range etwa 50 % des Glücks ausmache. Gerade bei Glück sind solche Studien jedoch problematisch, da hier, wie dargestellt wurde, subjektive Instrumente (Glücksselbsteinschätzungen) verwendet werden. Die Lebensumstände (Circumstances in der Formel; finanziell-materielle Situation, soziales Netzwerk, Gesundheit) machen etwa 10 % des Glücks aus, und in der Tat gibt es dafür in der Wohlbefindensforschung gute Belege). Der für die Positive Psychologie entscheidende Faktor kontrollierter Willensanstrengungen (Voluntary Control) zeichnet für die restlichen 40 %. Eine eingängige Formel, die jedoch auf dem Hintergrund der Wohlbefindensforschung als grob vereinfachend bezeichnet werden muss (vgl. Mayring, 2009). Insgesamt wird in den Texten der Positiven Psychologie relativierendes, vorsichtiges, bescheidenes, auf Vorläufigkeit der Erkenntnisse hinweisendes Argumentieren vermisst (obwohl Bescheidenheit, »modesty and humility«, als eine der 24 Charakterstärken dargestellt wird). Ad 6: Feindstereotype, Verschwörungstheorien Dies der Positiven Psychologie vorzuwerfen, wäre vielleicht etwas zu hart, wenn auch mit Schwarz-Weiß-Malerei viel gearbeitet wird, wie im letzten Abschnitt deutlich wurde. Ad 7: Utopisch-messianische Heilsideen Dieser von Salamun angeführte Ideologieindikator könnte dagegen relevant werden. Das Ausrufen einer goldenen Ära für das Amerika des 21. Jahrhunderts durch die Positive Psychologie (Zitat unter Ideologieindikator 1) klingt messianisch. Es wäre Spekulation, die Schrecken der Terroranschläge vom 11. September 2001 als Hintergrund für das Bedürfnis nach Überwindung des Schocks mit positivem Denken zu verstehen, Seligman selbst jedoch stellt diesen Zusammenhang dar und betont in direktem Bezug auf September 11: »Positive Psychology holds that one of the best ways to help suffering people is to focus on positive things« (Seligman, 2003, S. XII). Der Ansatz der Tugendlehre (»virtues and strengths«), dessen Entwicklung 2001 begonnen wurde, soll hier nochmals angeführt werden. Laut Darstellung auf der Homepage (www.viacharacter.com) haben Top-Sozialwissenschaftler Schriften der Weltreligionen (u. a. 99 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Bibel, Koran, Bhagavad Gita) sowie zentrale philosophische Schriften analysiert und sind zu folgendem Ergebnis gekommen (sechs Zentraltugenden, Charakterstärken als Unterpunkte in Klammern): ȤȤ wisdom and knowledge (creativity, curiosity, judgment, openmindedness, love and learning, perspective); ȤȤ courage (bravery, perseverance, honesty, zest); ȤȤ humanity (capacity to love and be loved, kindness, social intelligence); ȤȤ justice (teamwork, fairness, leadership); ȤȤ temperance (forgiveness and mercy, modesty and humility, prudence, self-regulation); ȤȤ transcendence (appreciation of beauty and excellence, gratitude, hope, humor, religiousness and spirituality). Das Vorgehen erscheint doch zweifelhaft, das Ergebnis in vielen einzelnen Punkten fraglich, die einer eigenen Analyse bedürften. Dieser Tugendkatalog wurde bisher in 16 Sprachen übersetzt. Zu den Tugenden wird auf der Homepage eine Testbatterie angeboten, mit der jeder selbst überprüfen kann, wo seine Stärken (und damit doch wohl auch seine Schwächen) liegen. Dieses Vorgehen, Alltagsmenschen zu psychologischen Persönlichkeitstests zu überreden (bisher haben laut Homepage 1,3 Millionen Personen diesen »depth report« ihres Charakters aufgrund der Testergebnisse angefordert) und dann psychologische Schriften anzubieten, die ihnen helfen könnten, zu einem besseren Leben (»fulfillment, highest level of happiness«) zu gelangen, erinnert fatal an die Praktiken der Scientology Church. Psychologie wird zurechtgestutzt, das Programm der Positiven Psychologie ist ihre eigentliche Mission. Auch dieser von Seligman oft gebrauchte Begriff der »Mission« erscheint unter ideologiekritischen Gesichtspunkten verräterisch. Wie sieht nun die versprochene Charakterstärkung, Erfüllung, Glückserreichung aus? Seligman, Rashid und Parks (2006) stellen ein Programm vor, das auch über das Internet (»web exercises«) durchführbar ist und signifikante Verbesserungen der Depressivität gezeigt hat. Im Zentrum steht dabei eine monatlich durchzuführende positiv-psychologische Übung, mit der sich, so belegt die Studie, Depressionswerte signifikant verbessern lassen (Seligman, Rashid u. Parks, 2006, S. 776): 100 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

1. Messen Sie mit den Charakterstärkefragebögen (siehe im Vorangegangenen) Ihre Persönlichkeit, legen Sie Ihre fünf (von 24) ausgeprägtesten Stärken fest und denken Sie darüber nach, wie Sie diese in Ihrem täglichen Leben noch verstärken könnten! 2. Schreiben Sie drei Dinge nieder, die heute gut gelaufen sind, und begründen Sie, warum sie gut gelaufen sind! 3. Stellen Sie sich vor, Sie seien nach einem fruchtbaren und befriedigenden Leben verstorben. Was wünschen Sie sich, sollte in Ihrem Nachruf stehen? Schreiben Sie einen ein- bis zweiseitigen Essay darüber! 4. Denken Sie an jemanden, dem Sie sehr dankbar sind, dem Sie es aber noch nie gesagt haben. Verfassen Sie einen Brief an ihn und lesen Sie ihm diesen direkt oder am Telefon vor! 5. Reagieren Sie mindestens einmal am Tag aktiv-konstruktiv auf einen Ihrer Bekannten! 6. Nehmen Sie sich die Zeit, sich mindestens einmal am Tag über etwas zu freuen. Schreiben Sie nieder, was Sie getan haben und wie Sie sich gefühlt haben! Ein Programm, das in Richtung klassischer kognitiver Verhaltenstherapie geht. Einige der Übungen sind gerade im Zusammenhang mit Depressionstherapie bereits wohl bekannt (vgl. Hauzinger, 2000), allerdings werden sie immer eingebettet in eine individuelle Problemanalyse – die auch negative Lebensaspekte beinhalten kann! Zusammenfassende Einschätzung der Positiven Psychologie Mit dieser Kritik soll nicht Glücksforschung generell in Frage gestellt werden. Sozialwissenschaftliche Wohlbefindensforschung bleibt ein wichtiges Feld, wenn sie begriffs- und methodenkritisch vorgeht und sich in einen allgemeinen Rahmen einordnet. Das, was an der Positiven Psychologie so verstört, ist ihr Sendungsbewusstsein und ihr Ausschließlichkeitsanspruch. Die angeführten Kritikpunkte von Csikszentmihalyi (1983) an der Glücksforschung lassen sich nahtlos auf das von ihm selbst propagierte Programm anwenden: ein »Columbus fallacy«. Was sollen denn Psycholo101 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

gen tun, die sich bisher ernsthaft mit Depression, psychosozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit oder auch nur mit neutralen Themen wie Kognitionsforschung oder Methodologie beschäftigt haben? Sie könnten nichts zur Golden Ära Amerikas beitragen, hätten die Message der Positiven Psychologie nicht verstanden? Positive Psychologie trägt einige Merkmale, die sie durchaus in die Nähe einer Ideologie stellen.

Lässt sich Glück aus der Sicht der Psychologie beeinflussen? Insgesamt zeigt sich die Forschung zur Beeinflussbarkeit von Glückserleben in der Psychologie zwiespältig, wenn auch zugegeben werden muss, dass die positiven Antworten überwiegen. Vor einer Überschätzung dieser Effekte muss allerdings gewarnt werden, da sie schnell in Ideologie umschlagen kann.

Abbildung 11: Ganesha, hinduistischer Glücksgott

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Norbert Rath Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie des Glücks? »Ja, renn nur nach dem Glück Doch renne nicht zu sehr! Denn alle rennen nach dem Glück Das Glück rennt hinterher.« Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens, Die Dreigroschenoper, III, 7 (Brecht, 1967, S. 465)

Ich nähere mich dem Thema einer kritischen Theorie des Glücks in diesem Kapitel in drei Schritten: Zunächst beziehe ich mich auf Hinweise von Philipp Mayring zu einem derartigen Konzept. Des Weiteren gehe ich kurz auf Beiträge zu einer kritischen Theorie des Glücks aus dem Umkreis der »Frankfurter Schule« ein. Sodann übe ich Kritik an konventionellen bzw. affirmativen Konzepten von Glück in politischer Philosophie und Ökonomie.

Hinweise von Philipp Mayring zu einer kritischen Theorie des Glücks Kritik an einer ideologischen Indienstnahme von Forschungen zum Glück für ökonomische Interessen und für Ratschläge von Psychologen zur Anpassung an den Status quo findet sich immer wieder in den einschlägigen Arbeiten von Mayring (1991a, 2007, 2012). Insbesondere ideologische Aspekte einer sich »positiv« nennenden Psychologie werden von ihm kritisch unter die Lupe genommen (2012; vgl. sein Kapitel »Die zentrale Frage: Lässt sich Glück beeinflussen? Psychologische Antworten«). Mayring sieht viel Problematisches in der heutigen Sicht des Glücks: Glück werde verdrängt, abgewertet, mit anderen Zielen wie Erfolg, Geld oder Macht gleichgesetzt; es werde ausschließ103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

lich dem privaten Bereich vorbehalten; gelte nicht mehr als »ein alles durchdringendes ethisches Prinzip, sondern eine Angelegenheit des Einzelnen« (1991a, S. 64); es werde – gerade auch in den Massenmedien – kommerzialisiert und als Ware behandelt. Mayring wendet sich dagegen, vorschnell »Ansätze aus Philosophie, Theologie und Literatur immer wieder als unwissenschaftlich (weil nicht empirisch)« abzuweisen, und fordert eine »kritische Theorie des Glücks« als Methoden-, Ideologie- und Interessenkritik (1991a, S. 63). In diesem Zusammenhang bezieht er sich ausdrücklich auf Adornos Wissenschaftskritik sowie Habermas’ Begriff eines emanzipatorischen Erkenntnisinteresses (Habermas, 1968, S. 155; vgl. Mayring, 1991a, S. 66) und spricht sich gegen eine »Abhängigkeit der Glücksforschung von politischen und wirtschaftlichen Interessen« aus (1991a, S. 68). Es geht Mayring um die »Überwindung eines subjektivistischen Glücksbegriffs« (1991a, S. 180). Eine Objektivität des Glücks wird zum Beispiel von Dieter Birnbacher (2006) bestritten; für diesen ist und bleibt Glück »grundsätzlich ein psychologisches Phänomen, eine Qualität des Bewusstseins, nicht der objektiven Verhältnisse. […] Zweitens ist Glück abhängig von Beurteilungen nach einem durch und durch subjektiven Maßstab« (Birnbacher, 2006, S. 12 f.). Glück wäre demnach ausschließlich etwas Subjektives, eine Erlebensqualität. Mayring betont demgegenüber: »In der Lebensqualitätsforschung hat sich die enge Verwobenheit des subjektiven Glückserlebens mit objektiven Lebensbedingungen gezeigt, was zu einem transaktionalen Glücksbegriff geführt hat« (1991a, S. 180). Von hier aus ließen sich auch Kriterien ableiten, »wie man Glück anstreben kann«; im Kern gehe es dabei »um ein erweitertes und vertieftes Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner materiellen, sozialen und gesellschaftlichen Umwelt« (1991a, S. 180 f.). Frage an Philipp Mayring Gelten diese Sätze von 1991 auch 2013 noch? Würden sie heute anders formuliert werden? Wie ist Birnbachers Argument zu bewerten, dass Urteile über Glück ausschließlich vom subjektiven Erleben abhängen und der »Bewertungssouveränität« (Birnbacher 2006, S. 13) des Subjekts unterliegen? Für Birnbacher kann es

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daher »keine allgemeine und schlechthin verbindliche, inhaltlich gehaltvolle Glückstheorie geben« (2006, S. 14). Antwort Ja, die Aussagen gelten heute mehr denn je. Es ist wohl richtig, dass Urteile über Glück immer von Subjekten abgegeben wer­ den, individuelle Bewertungen beinhalten. Sie sind aber nicht völlig losgelöst von Lebensbedingungen und Lebensverhält­ nissen zu sehen. Der Begriff »transaktional« im obigen Zitat wurde aus der Stresstheorie (Richard S. Lazarus) übernommen: Auch hier ist Stress eine subjektive Einschätzung, die aber nur in objektive Lebensbedingungen (Stressoren, Ressourcen) eingebettet Sinn macht. Und dies lässt sich auf eine kritische Theorie des Glücks übertragen.

Wenn das subjektive Erleben auch auf Erfahrungen basiert, die innerhalb der Sozialisation und inmitten einer bestimmten kulturellen und historischen Tradition gemacht wurden, dann ist jedes subjektive Glück auch eines, das in solchen Kontexten und Bezügen steht und damit von vornherein auch eine objektive Seite hat.

Beiträge von Bloch, Benjamin und aus dem Umkreis der »Frankfurter Schule« zu einer kritischen Theorie des Glücks Ernst Bloch geht in einem Aphorismus aus »Erbschaft dieser Zeit« (1935) auf Ambivalenzen von Nietzsches Stellung zum Glück und die Ambiguität seiner Wirkung ein. Nietzsche wende sich zu Unrecht »gegen den untragischen Menschen, der Glück in der Welt meint« (Bloch, 1935/1973, S. 361 f.). Bloch bezieht sich hier kritisch auf Nietzsches Polemik gegen die »letzten Menschen« mit ihrem schalen Zufriedenheitsglück, dem Glück durch Pillen, dem unriskanten Glück (vgl. Nietzsche, 1980, KSA 4, S. 20). Problematische Stichworte Nietzsches wie das vom »Übermenschen« funktionieren bei dafür anfälligen Lesern wie eine Art Glücksdroge (vgl. Bloch, 105 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

1935/1973, S. 358–366). Bloch selbst sucht immer wieder Spuren – so der Titel eines Aphorismenbuchs – von Hoffnung und Glück im »Dunkel des gelebten Augenblicks« (1930/1969). Für Walter Benjamin (1892–1940) gibt es eine Verpflichtung politischen Handelns auf Glück und einen unlösbaren Zusammenhang von Glück und Gerechtigkeit: ohne Herstellung von Gerechtigkeit kein Glück. Zugleich schwinge »in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit« (Benjamin, 1940/1980, S. 693, vgl. 694). Er verlangt eine Parteinahme für die Verlierer der Geschichte, die Gedemütigten und Unterdrückten, während historistische Geschichtsschreibung sich immer nur in die Sieger eingefühlt habe (vgl. 1940, S. 696 f.). Reflexionen Max Horkheimers zum Thema Glück finden sich vor allem in den Aphorismenbüchern »Dämmerung« (ursprünglich 1934) und »Notizen« (1974) sowie im Aufsatz über »Materialismus und Moral« (1933/1968). Horkheimer setzt zu Beginn seiner Laufbahn als Direktor des Instituts für Sozialforschung programmatisch auf eine moralische Orientierung am Gedanken eines Glücks der Menschheit, das durch politisches Handeln, flankiert durch wissenschaftliche und philosophische Kritik, einer Realisierung näher gebracht werden könne. Schon während des Zweiten Weltkriegs hat er sich von den utopischen Hoffnungen früherer Jahre weitgehend gelöst, um dann in seinen letzten Lebensjahren zu einem von Schopenhauer geprägten Denken zurückzukehren (1974). Wie sein wichtigster Mitstreiter Adorno übt auch Horkheimer Kritik an uneingelösten Glücksversprechen der »Kulturindustrie« (Horkheimer u. Adorno, 1947, S. 144–198). Für beide ist Glück vor allem negativ bestimmbar, aus Gegenbildern ableitbar; über der Beschreibung von Glück liegt ihnen zufolge wie über dem »Ausmalen« der Utopie ein Bilderverbot. Alexander Kluge (geb. 1932) greift Adornos »Theorie der zweiten Natur« (Adorno, 1970a, S. 48) auf, wenn er über die Figuren seiner Erzählungen sagt: »Es ist der gleiche Lebenswille dieser Menschen, ihre individuelle Suche nach Glück, der auf kollektiver Ebene das gesellschaftliche Unglück produziert – eine schiefe Welt, aufgebaut auf dem Wunsch der Menschen nach einer geraden« (Kluge, 1973, S. 2). In solchen Formulierungen erscheint die Gesellschaft als eine zweite Natur, die die Glückswünsche vieler Einzelner immer 106 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

erneut zunichte macht, vielleicht gerade infolge von allzu angestrengten Versuchen zu ihrer Einlösung. Das Geschichtsprodukt sollte nach der Vorstellung der Aufklärer das Glück aller sein. Für Horkheimer, Adorno, Alfred Schmidt, Negt und Kluge aber wendet sich das verselbstständigte Geschichtsprodukt gegen die, die es erarbeitet haben, und dementiert oder zerstört deren Glücksansprüche. Zusammen mit Oskar Negt (geb. 1934) hat Kluge Begriffe wie »Hoffnungsarbeit«, »Wunscharbeit« und »Phantasiearbeit« entwickelt, die auf imaginative Möglichkeiten des Glücks aufmerksam machen wollen (Negt u. Kluge, 1981, S. 136, 287, 619, 938). In zahlreichen Erzählungen (2000, 2003, 2006) und Filmen hat er die in der »Frankfurter Schule« skizzierte »negative Theorie« des Glücks in immer neuen Facetten dargestellt und konkretisiert. Jürgen Habermas (geb. 1929) nennt als drängende politische Aufgabe der Gegenwart die Vermeidung von Unglück durch weltweite Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit: Es gelte, »die Weltinnenpolitik auf die mittelfristige Herstellung einer sozial gerechteren Weltordnung« zu verpflichten, da »heute selbst elementare Lebensgüter und Lebenschancen auf unerträgliche Weise ungleich verteilt« seien (2011, S. 95).

Zur Kritik affirmativer Konzepte von Glück in politischer Philosophie und Ökonomie Glück durch Tugend? Für Michael J. Sandel ist Glück – wie für Aristoteles – »eher eine Tätigkeit, eine Art zu leben, als ein Bewusstseinszustand. Glück hat damit zu tun, dass man danach strebt, ein gutes Leben zu führen« (Sandel, 2013b, S. 28). Sandel unterscheidet den utilitaristischen Ansatz, für den ein Glückskalkül für handlungsrelevante Entscheidungen maßgeblich ist, von den auf Wahlfreiheit beruhenden Ansätzen, und unter diesen wieder den »marktliberalen« Ansatz und den egalitären, von Kant beeinflussten Ansatz von Rawls. In seinem Bestseller über Gerechtigkeit wendet er sich gegen »Rawls’ Ausführungen über die moralische Willkür des Glücks« (Sandel, 2013a, S. 243). 107 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Rawls (1971/1994) hatte vorgeschlagen, ein Gedankenexperiment hypothetischer Entscheidungen in einer Ursituation anzustellen. Unter dem »Schleier des Nichtwissens«, welche Position man selbst in einer zu konstituierenden Gesellschaft einnehmen werde, werde man für Chancengleichheit und Gerechtigkeit garantierende Organisations- und Verkehrsformen optieren. Sandel selbst bevorzugt einen konventionelleren Ansatz (vgl. 2013a, S. 263 ff.). Danach »gehört es zur Gerechtigkeit, Tugend zu kultivieren und über das Gemeinwohl nachzudenken« (2013a, S. 356). Sandels Kritik an den – auf das Erreichen von Glück bezogenen – Rechenkünsten utilitaristischer Philosophen wie Bentham wird man akzeptieren können. Wenn er allerdings kritische Überlegungen von Kant oder Rawls zugunsten des Rückgriffs auf eine affirmativ verstandene aristotelische Tugendethik verwirft (vgl. Sandel, 2013a, S. 147 ff., 331 f.), so ist dies weniger einleuchtend. Viele seiner Beispiele und Argumentationen wirken sehr auf die Tagespolitik bezogen, so als gelte es, einen Kompromiss über Gerechtigkeitsfragen zwischen US-Republikanern und -Demokraten zu finden. Glück durch gute Gefühle? Der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein fragt in einem populärwissenschaftlichen Buch mit dem viel versprechenden Titel »Die Glücksformel oder Wie die guten Gefühle entstehen?« (2002) nach neurophysiologischen, biologischen und psychologischen Grundlagen unserer Glücksgefühle. Auch auf politische Fragen hält er in seinem Panorama der Glücksforschung Antworten bereit: Für ihn ist die Schweizer Kantonatsverfassung mit ihren Mitbestimmungsrechten für alle Bürger vorbildlich. »Bürgersinn, sozialer Ausgleich und Kontrolle über das eigene Leben steigern das Wohlbefinden« und vergrößern insbesondere den Freiraum zur Gestaltung des eigenen Lebens (Klein 2002, S. 278). Die große Kunst des richtigen Lebens besteht demnach darin, die genannten Ideale in ausbalancierter Weise im eigenen Leben und im Gemeinschaftsleben zu verwirklichen. Ohne die Nähe zur Ratgeberliteratur zu scheuen, betont Klein, Nichtstun und Resignation seien die größten Feinde des Glücks, »Tätigkeit hingegen ist der Schlüssel zu den 108 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

guten Gefühlen« (Klein, 2002, S. 280). So endet auch sein Beitrag zum Glücksdiskurs mit dem Gedanken des Aristoteles, das Glück gehöre dem Tätigen und Tüchtigen. Ökonomische Glücksforschung Heuser und Jungbluth haben auf die Verquickung von ökonomischer Glücksforschung mit Wirtschafts- und Finanzinteressen hingewiesen: Eine Forschungsfirma der Deutschen Bank habe allen Ernstes »die Abschaffung des Kündigungsschutzes zu einem Glücksrezept« erklärt; aber »solch spezielle Schlussfolgerungen lassen die groben Daten auch nicht zu« (2007, S. 21). In solchen Zusammenhängen werde die Glücksforschung interessengeleitet für wirtschaftliche oder politische Auseinandersetzungen zu instrumentalisieren versucht, und die Kontrahenten würden »versuchen, die Daten nach ihrer eigenen Ideologie zu beugen« (Veenhoven, zit. nach Heuser u. Jungbluth, 2007, S. 21). Wichtig wäre es, bei solchen Versuchen einer parteiischen Vereinnahmung von Einzelergebnissen der Glücksforschung klare methodische und inhaltliche Kritik zu üben. Weimann, Knabe und Schöb warnen davor, »dass man die Glücksforschung überfordert, wenn man von ihr verlangt, eine Bauanleitung für eine Gesellschaft zu liefern, die die Menschen maximal zufrieden macht« (2012, S. 160). Die Glücksforschung tauge »nicht als normatives Konzept«, und zwar wegen »der Unvergleichbarkeit von Glück, wie es Menschen empfinden« (S. 160 f.). Die Autoren begnügen sich ihrerseits mit eher schlichten Weisheiten wie: »Geld macht glücklich, weil Geld es ermöglicht, dass wir uns die Dinge leisten können, die für eine hohe Lebensqualität und für eine hohe Lebenszufriedenheit wichtig sind« (S. 158). Wenn in unserem Wirtschaftssystem alles so bleibt, wie es ist, dann ist das am besten für das Glück aller – das scheint die Kernthese des Buchs von Weimann und seinen Mitarbeitern zu sein. Weiterführend scheint hier auf den ersten Blick der Ansatz von M. Binswanger (2011, S. 67) zu sein: »Bei der Frage nach dem Glück des Einzelnen […] geht [es] um eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Zweck des Wirtschaftens, der nicht in der Einkom109 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

mensmaximierung, sondern in der Glücksmaximierung besteht.« Man möchte Binswanger gern zustimmen, aber seine reduktionistische Sicht auf das zu maximierende Glück schreckt dann wiederum ab: »Die wesentlichen Ressourcen für den einzelnen Menschen sind Zeit und Geld. Das Ziel muss sein, den optimalen Mix von Zeit und Geld zu finden, der zu einem möglichst glücklichen Leben führt.« Nur das so eng wie möglich verstandene Wohlergehen des Einzelnen steht hier zur Debatte, seine gesellschaftliche Einbindung, sein soziales Wesen werden nicht berücksichtigt. Immer noch scheint der einsam nur für sich wirtschaftende Robinson das Modell der Ökonomen zu sein, selbst dann, wenn sie sich mit der Ökonomie des Glücks befassen. Adam Smith und die schottischen Moralphilosophen vor 240 Jahren waren da schon weiter. Wilkinson und Pickett (2010) können in ihrem Buch – mit dem thesenhaft zugespitzten Titel »Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind« – durch auf aussagekräftige sozioökonomische Daten gestützte Interpretationen plausibel machen, dass das Zufriedenheitsniveau von Menschen in Gesellschaften mit größerer Gleichheit im Durchschnitt höher liegt als in besonders ungleichen und von Gerechtigkeitsdefiziten geprägten Gesellschaften. Anleitung zum Unglücklichsein? Welchen Sinn hat eine (ideologie-)kritische Theorie des Glücks? Sicher kann es ihr nicht darum gehen, Glückserleben und Glückserfahrungen als solche abzuwerten, zu denunzieren oder zu diskriminieren, in einer Weise, wie es etwa in fundamentalistischreligiösen Kontexten immer wieder geschehen ist und noch geschieht. Eine kritische Theorie des Glücks darf nicht als glücksfeindlich missverstanden werden. Auch Paul Watzlawicks (1921– 2007) »Anleitung zum Unglücklichsein« (1983) beispielsweise ist ja nicht glücksfeindlich, sondern bietet im Gegenteil eine paradoxe Anleitung zum Glücklichsein, indem die Fallen und Verstrickungen aufgezeigt werden, die diesem entgegenstehen. Für den Kon­ struktivisten Watzlawick (1988, 2006) ist Unglück ein weitgehend 110 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

selbst gemachter – und zumeist völlig unnötiger – Käfig aus Interpretationen, dem wir aus nicht ganz einsehbaren Gründen Macht über unser Leben einräumen. Wenn eine (ideologie-)kritische Theorie des Glücks Formen falschen Glücks aufweisen kann, wenn sie normativ von »Pseudoglück« sprechen und es kritisieren darf, dann sollte sich ihre kritische Energie auch gegen falsche Instrumentalisierungen der Glücksforschung richten. Solche Vereinnahmungsversuche gibt es zum Beispiel bei Vertretern einer »positiven« Psychologie und Verfechtern einer Selbstprogrammierung zum positiven Gestimmtsein. Es gibt sie bei manchen neoliberalen Ökonomen, für die nur eine von allen sozialstaatlichen Flausen gereinigte Marktwirtschaft das Glück gewährleisten kann. Es gibt sie bei Vertretern von Politikentwürfen, für die das Glück dann garantiert ist, wenn der Status quo der Verteilung von Besitz und wirtschaftlicher Macht nicht angetastet wird. Es gibt sie schließlich bei beredten Verteidigern der schönen neuen digitalen Medienwelt, die ihrem Publikum weismachen wollen, eine ungehemmte und unkontrollierte Internetund Mediennutzung sei schon das Glück (zur Kritik daran Spitzer, 2012). Aber vorgegaukeltes Glück ist kein wirkliches: »Das Vergnügen kann sich auf Illusionen stützen, aber das Glück beruht auf der Wahrheit« (Chamfort, 1980, S. 373). Diese Welt – die glücklichste aller Welten? Im »Candide« Voltaires (1759) geht es um metaphysischen Optimismus. Angriffspunkt ist Leibniz’ Formel von dieser Welt als der besten (d. h. auch: der glücklichsten) aller möglichen Welten. Ein Durchgang durch eine irdische Gegenwart voller Unglück und Unheil wie Mord, Sklaverei und Krieg belehrt den anfangs allzu optimistischen, unerfahrenen Candide eines Besseren bzw. Schlechteren. »Wenn das die beste aller möglichen Welten ist, wie sehen dann wohl die andern aus?« (Voltaire, 1759/1980, S. 33). Zum Schluss kann er nicht mehr den Sinn der Welt, wie sie ist, bestätigen, sondern gibt sich mit der Maxime zufrieden: »Nun aber müssen wir unsern Garten bestellen« (1759/1980, S. 170). 111 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Abbildung 12: Fortuna (Hans Sebald Beham, 1541)

112 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Philipp Mayring Wissenschaftstheoretische Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Glücks

Die bisherigen Ausführungen zum Glück haben doch einige Gemeinsamkeiten ergeben, vor allem was die Forderung nach einer kritischen Theorie des Glücks anlangt. Die Vorgehensweisen sind aber sehr verschieden. Gerade für den Dialog zwischen Philosophie und Psychologie ist hier eine nähere Analyse wichtig. Wenn wir die Argumentationsweise in den beiden Disziplinen näher ansehen, betreten wir das Feld der Wissenschaftstheorie, der Lehre also, wie Wissenschaft(en) sinnvoll vorgehen soll(ten). Im einleitenden Text von Norbert Rath (»Philosophische Konzepte des Glücks«) wird von zentralen einzelnen Denkern (Demokrit, Platon, Aristoteles, Epikur, Augustinus, Montaigne, Kant, Hegel, Nietzsche, Freud, Adorno) ausgegangen. Diese Denker werden in einer zeitlichen Folge diskutiert (Antike, Neuzeit). Sie werden also aufeinander bezogen, in eine Folge philosophischen Argumentierens gesetzt und auf die eigene Fragestellung (Theorie des Glücks) hin ausgewertet. In meinem einleitenden Text, besonders im Kapitel »Abriss psychologisch-sozialwissenschaftlicher Glücksforschung«, wird ganz anders vorgegangen. Es werden im Wesentlichen empirische Studien vorgestellt, in denen Personen zu ihrem Glückserleben befragt wurden. Dazu werden die jeweils verwendeten Erhebungsinstrumente (Tests, Fragebögen, Interviews) kritisch diskutiert und die Stichproben (die befragten Personen) geschildert. Die empirischen Daten werden als Variablen (z. B. Glück, Zufriedenheit) gefasst und mit anderen empirisch erhobenen Variablen (z. B. Persönlichkeit, Lebensbedingungen) in Beziehung gesetzt und daraus Theorien konstruiert. Hier gilt eher: Je neuer die Stu113 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

die, desto besser, da sie sich in ihrer empirischen Basis auf die heutige Zeit bezieht. Wir sehen also ein völlig unterschiedliches wissenschaftliches Vorgehen. Auf der Suche nach Erklärungen stoße ich auf eine aktuelle Veröffentlichung eines Philosophen (Habermas, 2012). In seiner Schrift (»Nachmetaphysisches Denken II«) schildert Habermas das Vorgehen der Philosophie: »Die Philosophie ist keine wissenschaftliche Disziplin, die sich über eine feststehende Methode oder einen festgelegten Objektbereich definieren könnte. Die Einheit der philosophischen Diskurse bestimmt sich vielmehr durch Kanonbildung, das heißt anhand der Texte, die seit zweieinhalbtausend Jahren zur Geschichte der Philosophie gerechnet werden« (Habermas, 2012, S. 7). Dies kennzeichnet den Unterschied zu empirisch-sozialwissenschaftlichem Vorgehen recht deutlich. Allerdings wird natürlich auch hier auf zentrale Texte, Theorien, Ansätze zurückgegriffen. Das Argumentieren in Philosophie und Psychologie bedarf also einer weiteren Klärung. Und im Besonderen bedarf es einer Klärung, wie in diesem Rahmen eine kritische Theorie des Glücks zu platzieren sei. In einem unserer (psychologischen) wissenschaftstheoretischen Standardwerke (»Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie. Eine Einführung für Psychologen und Humanwissenschaftler«, Kriz, Lück u. Heidbrink, 1987) werden gerade diese drei (geisteswissenschaftliche, empirisch-analytische und kritische) eben angesprochenen Positionen miteinander verglichen. Position 1, sofern sie in den Sozialwissenschaften auftaucht, wird als »geisteswissenschaftlicher Ansatz« gekennzeichnet. Sie findet sich in Reinform in der Psychologie heute fast nicht mehr, wohl aber in der Erziehungswissenschaft (besonders in der Allgemeinen und Historischen Pädagogik). Kriz, Lück und Heidbrink (1987) unterscheiden die Ansätze nach ihrem Erkenntnisanspruch (Ontologie, Erkenntnistheorie), nach ihren Erkenntnismitteln (Methodologie) und nach dem Selbstverständnis des Forschers, der Forscherin. Die geisteswissenschaftliche Position lässt sich danach als kultureller Realismus kennzeichnen. Zentrale Quellen und Texte stellen den Ausgangspunkt dar. Sie werden methodisch mit Mitteln der Hermeneutik, sinnverstehend analysiert. Historisch-genetische 114 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

und ideengeschichtliche Ansätze, vor allem auch Quellen- und Textkritik werden eingesetzt. Die Forscherperson versteht sich als Denker, Aufklärer und Ratgeber. Position 2 wird von Kriz, Lück und Heidbrink (1987) als »empirisch-analytischer Ansatz«, heute gern auch als »postpositivistischer Ansatz« (Guba u. Lincoln, 2005) gekennzeichnet. Sie entstand aus der Weiterentwicklung eines naiven Positivismus oder Empirismus, der unkritisch davon ausging, dass die empirischen Daten ein vollständiges und eindeutiges Abbild der Realität wiedergeben würden. Besonders durch Karl R. Popper wurde dem die Position eines kritischen Realismus (oder wie Popper sagt, eines kritischen Rationalismus) entgegengesetzt. Wissenschaftliche Analyse kann durch empirische Daten Hypothesen falsifizieren und hoffen, dass dadurch eine Annäherung an die Realität gelingt. Empirische Methoden der Datenerhebung und vorwiegend quantitativen (statistischen) Datenanalyse, besonders innerhalb eines experimentellen Designs, stehen dazu zur Verfügung. Aber auch einige moderne qualitativ-empirische Ansätze lassen sich zur postpositivistischen Position zählen. Typischerweise bezieht sich das wissenschaftliche Selbstverständnis dabei auf die Datenanalyse; weder wie man zu sinnvollen Fragestellungen und Hypothesen gelangt, noch wie die Forschungsergebnisse angewendet, in Praxis umgesetzt werden, wird im wissenschaftlichen Prozess thematisiert (vgl. dazu den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Adorno et al., 1969). Position 3 ist die kritische Theorie. Als ontologische Position könnte man hier einen kritisch-historischen Realismus und die gesellschaftliche Bedingtheit der Untersuchungsphänomene feststellen. Untersuchungsgegenstand sind soziale Strukturen, insbesondere Phänomene der Ungleichheit innerhalb dieser Strukturen. Mit kritisch-historischen, dialektischen, ideologiekritischen, aber auch »kritisch-empirischen« Methoden wird dem nachgegangen. Das Ziel der Forschung ist Kritik und Überwindung der Ungleichheit, »Empowerment«. Die Forscherperson selbst sollte hier aufklärerisch, aber auch aktionsstimulierend tätig werden. Damit sind drei recht widersprüchliche Positionen angesprochen. (Daneben sind noch weitere wissenschaftstheoretische Positionen beschrieben worden, besonders der Konstruktivismus, die 115 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

aber in unseren Diskurs nicht einbezogen werden, da sie von uns nicht thematisiert wurden.) Wie gehen wir nun mit dieser Situation um? Ich denke, alle drei Positionen zeigen Schwachpunkte: Die rein geisteswissenschaftliche Position ist in ihren Ergebnissen gefährdet, wenn sie nicht auch konkrete aktuelle Erfahrungstatbestände einbezieht. Die empirisch-analytische Konzeption bedarf der Theoriebildung (siehe dazu auch meine Ausführungen zu den Schwierigkeiten einer Definition von Glück) und macht sich angreifbar, wenn sie den Anwendungsaspekt ganz ausklammert. Die rein kritische Position, wenn sie nicht empirische Daten und deren sorgfältige, unvoreingenommene Analyse einbezieht, wird einseitig. Einen Ausweg kann hier meiner Meinung nach die Unterscheidung der frühen Wissenschaftstheorie (Reichenbach, Popper) in Entdeckungs-, Begründungs- und Verwertungszusammenhang von Wissenschaft bringen. ȤȤ Der Entdeckungszusammenhang von Wissenschaft betrifft die Auswahl des Forschungsfeldes, die Festlegung der Fragestellung, die Formulierung von Hypothesen, die untersucht werden sollen. ȤȤ Der Begründungszusammenhang stellt den zentralen Vorgang der Materialsammlung und Materialanalyse im Sinne der Fragestellung dar. ȤȤ Der Verwertungszusammenhang von Wissenschaft bezieht sich auf die Umsetzung der Forschungsergebnisse, die Praxiskonsequenzen. Hatte die frühe Wissenschaftstheorie (z. B. Popper; vgl. Adorno et al., 1969) den Standpunkt vertreten, nur der Begründungszusammenhang sei wirkliche Wissenschaft, der Entdeckungszusammenhang sei der Intuition und Phantasie des Wissenschaftlers anheimgestellt und der Verwertungszusammenhang sei die Aufgabe von Praktikern, die Wissenschaft stelle Forschungsergebnisse zur freien Verwendung zur Verfügung, so lässt sich diese Position heute nicht mehr vertreten. Die Diskussionen zur Entwicklung der Atombombe aufgrund von Forschungen von Physikern (z. B. Einstein), die dies nicht im Sinn hatten und später bestürzt über diese Entwicklung waren, ist hier ein drastisches Beispiel. 116 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Die vermittelnde Position, die ich hier vorschlagen möchte, wäre also: im Bereich des Entdeckungs- und Verwertungszusammenhanges ein kritisches Theorieverständnis zugrunde zu legen, im Bereich des Begründungszusammenhangs aber eine empirische, kritisch-rationale Position zu verfolgen. Eine völlig wertfreie, ziellose Grundlagenforschung scheint mir nach Hiroshima nicht mehr möglich zu sein. Wissenschaftliche Fragestellungen müssen sich in einem kritischen Rahmen sinnvoll begründen lassen, die Verwertbarkeit der Forschungsergebnisse muss mitbedacht werden. Auch bei der Ausarbeitung der wissenschaftlichen Fragestellung, bei der Konzeption und Definition der Grundbegriffe, muss an den Stand der Forschung, an bisherige Ansätze und Theorien kritisch angeknüpft werden. Die eigentliche Durchführung der Studie sollte sich aber auf empirisches Material im weitesten Sinne (Dokumentenanalysen und Fallanalysen einschließend) beziehen und unvoreingenommen, methodisch kontrolliert, ausgewertet werden.

Abbildung 13: Zwei Ganesha-Statuen am See von Jeisalmer, Rajasthan (Foto: Paul Thelosen)

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Norbert Rath Glück – aber worin liegt es? »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.« (Wittgenstein, 1921/1973, 6.43)

Seine Schüler unter den gebildeten Eliten im Hellenismus und in der Kaiserzeit führt der Weisheitslehrer und Psychagoge in die philosophisch unterbaute Lebenskunst ein und weist ihnen so einen gangbaren Weg zu ihrem Glück. Den Laien im Mittelalter eröffnet der Priester als »Seelenhirte« durch seine Predigt die Lehren und durch das Spenden von Sakramenten die Gnadenmittel der Kirche und damit den Weg zur ewigen Seligkeit, sofern sie die Anweisungen ihres Hirten befolgen. Die Wege zum irdischen Glück scheinen dagegen für den mittelalterlichen Menschen nicht recht gangbar zu sein; wahres, dauerhaftes Glück ergibt sich in diesem Jammertal nur im Vorschein und als Abglanz des jenseitigen. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts wollen die Glückseligkeit vom Himmel auf die Erde zurückholen. Glück soll durch menschliche Anstrengung herstellbar sein, individuell wie kollektiv. »Die größte Beglückung der größten Zahl« (Hutcheson) wird zur Formel für die Abwägung bei moralischen Entscheidungen und sogar zu einem Ziel der Geschichte. Jeder darf nach Glück streben: »The pursuit of happiness« erhält 1776 in den USA Verfassungsrang. Für Kant ist Glückseligkeit nicht objektiv bestimmbar und kein geeignetes Prinzip einer Moral und einer geschichtsphilosophischen Orientierung. »Glückswürdigkeit« allenfalls kann ein Ziel einer auf die Freiheits- und Vernunftfähigkeit des Menschen gegründeten Ethik wechselseitiger Anerkennung sein. Die Pflicht steht höher als das Glück; dieses ist nur durch die Erfüllung jener zu erreichen. Die Romantiker finden sich nicht damit ab, dass der Platz des Glücks im Denken der Moderne leer bleiben soll. »Da, wo du nicht bist, ist das Glück!«, heißt es in Georg Philipp Schmidt von Lübecks 118 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Gedicht »Des Fremdlings Abendlied« (1821), vertont von Schubert unter dem Titel »Der Wanderer«. Die Liedzeile ist berühmt geworden als Formel für die romantische Glückssehnsucht und ihre Unerfüllbarkeit; sie ist Ausdruck eines modernen Individualismus: Das vereinzelte, zerrissene, sich selbst verlorene und entfremdete Individuum ist unglücklich. Glück, Liebe, Sinn sind da, wo der Einzelne nicht ist, ihre Stelle in seinem Leben ist leer, sie sind im Raum der Gegenwart anwesend als Sehnsucht, vielleicht sogar nur als leere Erwartung, blinde Hoffnung ohne erwartbaren Erfolg. Das Glück, das nicht mehr in einer gottgewollten Lebenswelt und einem sinnerfüllten Kosmos gefunden wird, verlagert sich in den Innenraum des Subjekts, aber als zukünftiges, nicht aktuelles, stets gesuchtes, immer schon verlorenes. Das Land des Glücks ist demnach das Land, in dem Wünsche sich in Wirklichkeiten verwandeln: »Wo meine Träume wandeln geh’n«. Es ist das Land, in dem ich verstehe und verstanden werde: »Das Land, das meine Sprache spricht«. Es ist das Land, in dem alle Defizite des Individuums ausgeglichen sind (»Und alles hat, was mir gebricht«); ein Land, in dem Träume wahr werden und Tote nicht gestorben sind. Es verknüpft so die christliche Erwartung einer ewigen Seligkeit (»Wo meine Todten aufersteh’n«) mit dem Selbstverständnis des romantischen Künstlers, der, ewig unverstanden, ewig unzugehörig, im Land seines Glücks endlich verstanden werden und zugehörig sein könnte. Aber nach diesen Aufgipfelungen des Wünschens kommt im Schlussvers die Aufhebung der Illusion: »Da, wo du nicht bist, ist das Glück!« In der Realität bleibt das »gelobte Land« versperrt, das Paradies verloren, die Erfüllung der Sehnsucht aus. Die Sehnsucht nach dem absoluten Glück ist unerfüllbar.

Abbildung 14: Himmlische und irdische Liebe (Tizian, ca. 1512–1515)

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Unter den Xenien von Goethe und Schiller gibt es einen von Schiller stammenden Doppelvers (Schiller, 1797/2004, S. 267): »Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.« Vom Glück lässt sich ebenfalls fragen: Wo liegt es? Auch dieses Land ist nicht leicht zu finden, auch hier scheint das politisch-gemeinschaftliche aufzuhören, wo das private beginnt. Glück – aber worin liegt es? Seit dem 19. Jahrhundert schwindet in Mitteleuropa die Überzeugungskraft religiöser Sinnangebote und Weltdeutungen. Seit dem frühen 20. Jahrhundert werden nicht selten Psychologen und Psychoanalytiker als Wegbereiter des Glücks betrachtet (vgl. Fellmann, 2009, S. 115–130). Beispiele für die Zumutung, als Seelenführer, Psychagogen der Moderne seien sie für das Glück ihrer Patienten zuständig, lassen sich in den Therapie- und Wirkungsgeschichten von Sigmund und Anna Freud, Alfred Adler, Lou Andreas-Salomé, Melanie Klein oder Erich Fromm finden. Otto Gross, Carl Gustav Jung, Sándor Ferenczi, Wilhelm Reich und Jacques Lacan scheinen in bestimmten Phasen ihres Wirkens derartige Glücks- bzw. Heilserwartungen sogar aktiv bestärkt zu haben. Überzogene Erwartungen an Therapien und Therapeuten gibt es nicht erst seit heute. Psychologen, die sich gerade nicht als Glückscoaches, als Verkünder eines neuen Lebensgefühls und neuer Lebensformen oder als Techniker individuellen und kollektiven Sichwohlfühlens verstehen möchten, fiel und fällt es nicht immer leicht, solche Ansprüche abzuweisen. Die philosophische Lebenskunst erfährt  – zumindest in Deutschland  – gegenwärtig eine Neubelebung (Krämer, 1988; Schmid, 1999; Fellmann, 2009). Aber sie kann – wenn sie methodisch reflektiert bleibt – nur Argumentationsangebote machen, nicht den sicheren Weg ins Glück weisen. Die Menschen aber »streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben« (Freud, 1930/1999, GW XIV, S. 433). Das wiederholen die Glückstheoretiker seit Aristoteles, Cicero, Seneca und Augustinus. Sobald aber eine Personengruppe bestimmter wissenschaftlicher, philosophischer oder spiritueller Ausrichtung verspricht, diesen Wunsch mit Sicherheit erfüllen und dem ersehnten Glück zur Realisierung verhelfen zu können, überfordert sie sich und in aller Regel 120 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

auch die mit der Illusion vom erlernbaren, erreichbaren, durch bestimmte Techniken zu erringenden Glück getäuschten Adepten. Das Versprechen »Wir führen euch in euer Glück« mag die Ausbreitung von Religionen, den Export von Meditationstechniken, den Erfolg von Glücksratgebern und »positiven« Psychologien jeder Spielart gefördert haben bzw. fördern, es bleibt uneinlösbar. Einem solchen Anspruch konnten auf Dauer weder die weisen Seelenführer des Altertums noch die frommen des Mittelalters genügen, noch können ihn die – mit intrusiven Interventionsformen arbeitenden – Apostel der das Glück suchenden Sekten der Gegenwart erfüllen. Auch die unterschiedlichen Richtungen der Psychologie und Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts konnten dem Wunsch, sie möchten das Glück der von ihnen Therapierten garantieren, nicht wirklich gerecht werden. Waren ihre Vertreter aufrichtig genug – wie zum Beispiel Sigmund Freud –, so sprachen sie das aus. Wenn eine psychotherapeutische oder psychoanalytische Behandlung psychisches Leiden mildern, Unglück reduzieren kann, depressive Verstimmungen, Zwänge und Ängste bearbeiten kann, so ist das schon viel. Glück, das den Namen verdient, aber lässt sich nicht therapeutisch oder technisch erzeugen. Glücksgurus mögen es in schwache Köpfe und verführbare Herzen einzupflanzen versuchen. Aber dem Anspruch Kants, dass die »Glückswürdigkeit« etwas mit der Freiheits- und Vernunftfähigkeit von Menschen zu tun hat, kann ein so erzeugtes Pseudoglück nicht standhalten. Menschenwürdiges – der Würde von Menschen würdiges – Glück kann im Jetzt ihres Erlebens Menschen zufallen, sie können es – mit etwas Glück – einander bereiten, aber nicht auf Krankenschein in der psychotherapeutischen oder womöglich der »philosophischen Praxis« bestellen. Eine »kritische Theorie« des Glücks, wie sie von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Alfred Schmidt (1977), Alexander Kluge (1973, 2000, 2003, 2006) und anderen konzipiert worden ist, mag Hinweise geben, wo das Glück nicht ist, und Kritik an bloß scheinbarem, vorgeblichem Glück üben. Philosophie versinkt im Sumpf der Ratgeberliteratur, sobald sie versucht, im Versprechen einer Herstellung von Glück mit Esoterikern, Sektierern, »positiven« Psychologen zu wetteifern. Nicht einmal ein neuer philoso121 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

phischer Münchhausen könnte sich am eigenen Zopf aus diesem Sumpf herausziehen. Was Sinn, was Glück sei, muss jeder und jede sich für sein und ihr Leben selbst beantworten. Die Antworten, die bedeutende Philosophen der Vergangenheit jeweils für ihr Leben, ihre Zeit und Gesellschaft gefunden haben, mögen in der Gegenwart bei der Stellung der richtigen Fragen helfen. Aber es gilt auch, die jeweilige historische und kulturelle Differenz zu markieren, die uns von diesen Klärungsversuchen trennt. Die alten Antworten eins zu eins übernehmen können wir nicht. Aber wir können falsche Versprechungen eines sicheren Wegs zum Glück zurückweisen. Chamfort hat behauptet: »Das Glück ist keine leichte Sache: Es ist sehr schwer, es in uns, und unmöglich, es anderswo zu finden.« Schopenhauer hat diesen Satz zum Motto und damit zum Ausgangspunkt seiner glücksskeptischen »Aphorismen zur Lebensweisheit« (1851/2007) genommen. Dostojewskij dagegen hat darauf bestanden, Glück sei etwas Einfaches, Selbstverständliches, so etwas wie das tägliche Brot unseres Lebens, auch im Straflager noch erfahrbar. Montesquieu hat von der Fähigkeit zum Glück gesprochen, das nicht so sehr in einer Abfolge vieler bestimmter glücklicher Augenblicke im Leben bestehe: »Das Glück […] besteht mehr in der Fähigkeit, diese glücklichen Augenblicke aufzunehmen. Es besteht nicht in der Freude, sondern in der spielend leichten Fähigkeit, Freude zu empfangen, in der begründeten Hoffnung, sie zu finden, wann immer man will« (Montesquieu, 1980, S. 304 f.). Schon die Antike hat die Ambiguität des Glücks in allegorischen Figuren von launischen und wechselhaften Glücksgöttinnen dargestellt. Wer über das Glück philosophieren will, verwickelt sich leicht in Widersprüche: Glück ist keine leichte Sache – aber es ist zugleich das Allereinfachste. Glück ist etwas in uns – aber wir erfahren es am ehesten mit anderen. Glück ist eine Beziehung zu uns selbst – aber zugleich eine zur Welt. Glück ist im Jetzt – aber wir erkennen es erst im Rückblick. Glück ist von uns nicht direkt steuerbar – aber das heißt nicht, wir könnten gar nichts dazu tun. Glück ist nichts ausschließlich Sinnliches – aber sinnliche Erfahrung gehört unabdingbar dazu. Glück hat mit Gefühlen zu tun – aber ohne Reflexion kommt es nicht aus. Glück ist nicht einfach lehrbar – aber wer alle Glückslehren verachtet, macht sich den Zugang unnötig schwer. 122 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525452400 — ISBN E-Book: 9783647452401

Abbildung 15: Fortuna mit dem Füllhorn, zu ihren Füßen Pontos, Gott des Meeres (1. Jh. v. Chr. bzw. 1. Jh. n. Chr.)

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Abbildung 16: Tyche (lat. Fortuna) mit Plutos, dem Gott des Reichtums (2. Jh. n. Chr., Prusias ad Hypium)

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Bildnachweise1

S. 5: Allegorie der drei Lebensalter des Menschen (Tizian, um 1512). Öl auf Leinwand. National Gallery of Scotland, Edinburgh (http://commons.wikimedia. org/wiki/File:Tizian_002.jpg) S. 13: Eudaimonía als eine der Chariten. Attische Vasenmalerei (ca. 450–400 v. Chr.). Britisches Museum, London (www.theoi.com/Gallery/K21.2.html) S. 21: Tyche (Fortuna) von Antiochia. Römische Kopie (Marmor) nach einer griechischen Bronzeskulptur von Eutychides (3. Jh. v. Chr.). Galleria dei Candelabri, Vatikanische Museen, Rom (http://en.wikipedia.org/wiki/Tyche) S. 27: Fortuna und ihr Rad. Miniatur, in Boccaccio (1467). De Casibus Virorum Illustrium, Paris (http://special.lib.gla.ac.uk/exhibns/chaucer/influences.html) S. 51: Selbstporträt mit Saskia (Rembrandt, 1635). Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden (http://favourite-paintings.blogspot.de/2011/04/rembrandt-vanrijn-self-portrait-with.html) S. 87: Hotei, japanischer Glücksgott (Foto: Salzburg Museum) (http://derstandard. at/1250003467651/Salzburg-Museum-Edo-sehen-und-bleiben) S. 102: Ganesha, hinduistischer Glücksgott (http://hindumommy.files.wordpress. com/2006/08/ganesha151.gif) S. 112: Fortuna (Hans Sebald Beham, 1541) (http://wikimedia.org/wikipedia/ commons/7/74/Fortuna_or_Fortune) S. 117: Zwei Ganesha-Statuen am See von Jeisalmer, Rajasthan (Foto: Paul Thelosen) S. 119: Himmlische und irdische Liebe (Tizian, ca. 1512–1515). Öl auf Leinwand. Galleria Borghese, Rom (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tizian_ 029.jpg) S. 123: Fortuna mit dem Füllhorn, zu ihren Füßen Pontos, Gott des Meeres (1. Jh. v. Chr. oder 1. Jh. nach Chr., Tomis). Museum von Constanza, Rumänien (http://commons.wikimedia.org/wiki/File:TomisFortuna2.JPG) S. 136: Tyche (lat. Fortuna) mit Plutos, dem Gott des Reichtums (2. Jh. n. Chr., ­Prusias ad Hypium). Archäologisches Museum, Istanbul (Foto: Giovanni Dall’Orto) (http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Istanbul_-_Museo_ archeol._-_Tyche_e_Plutone_-_sec._II_d.C._-_Foto_G._Dall%27Orto_ 28-5-2006.jpg)

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Zugriff auf die Abbildungen im Internet zuletzt am 24. 06. 2013.

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