Zu einer Ethik der Selbstreferenz oder: Theorie als Compassion: Möglichkeiten einer Kritischen Theorie der Selbstreferenz von Gesellschaft und Recht [1 ed.] 9783428472420, 9783428072422


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Zu einer Ethik der Selbstreferenz oder: Theorie als Compassion: Möglichkeiten einer Kritischen Theorie der Selbstreferenz von Gesellschaft und Recht [1 ed.]
 9783428472420, 9783428072422

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M I C H A E L BLECHER

Zu einer Ethik der Selbstreferenz oder: Theorie als Compassion

Schriften zur Rechtstheorie Heft 147

Zu einer Ethik der Selbstreferenz oder: Theorie als Compassion Möglichkeiten einer Kritischen Theorie der Selbstreferenz von Gesellschaft und Recht

Von

Michael Blecher

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Blecher, Michael:

Zu einer Ethik der Selbstreferenz oder: Theorie als Compassion: Möglichkeiten einer kritischen Theorie der Selbstreferenz von Gesellschaft und Recht / von Michael Blecher. - Berlin : Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 147) Zugl.: Florenz, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07242-1 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07242-1

Meinen Eltern

Vorwort Das vorliegende Buch ist von der Abteilung Rechtswissenschaften des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz im akademischen Jahr 1989/90 als Dissertation angenommen worden. Es ist ein Zwischenergebnis auf dem Wege der Dauerrekonstruktion psychosozialer Systemkategorien, zu denen auch das Recht zählt. Meinen Blick für die „Kontingenz" bzw. die „Prozeduralisierung" dieser Kategorien geschärft zu haben, verdanke ich den langjährigen Seminarzirkeln bei Rudolf Wiethölter am Institut für Wirtschaftsrecht der Universität Frankfurt. Daß die Rekonstruktionsprozedur mit der Selbstreferenz von Systemen rechnen muß, hat mich Gunther Teubner in Florenz im Anschluß an die Arbeiten Niklas Luhmanns gelehrt. Der Einsicht, daß die Kategorie der Selbstreferenz zugleich jede systemische Logik sprengt und die Notwendigkeit einer ethischen Systembegründung (des Rechts) selbst hervorbringt, ist das Buch gewidmet. Dabei schließt die Arbeit explizit an das in dieser Reihe erschienene Buch meines Freundes Reiner Frey an: „Vom Subjekt zur Selbstreferenz — Rechtstheoretische Überlegungen zur Rekonstruktion der Rechtskategorie" (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 134,1989). Ihm danke ich für die Dauerbereitschaft zur Auseinandersetzung über „unsere Themen" während und auch nach der gemeinsamen Frankfurter Zeit. Last not least gilt mein besonderer Dank dem Publikationsausschuß des Europäischen Hochschulinstituts für seine großzügige Beteiligung an den Druckkosten. Vicenza (Italien) im Juni 1991 Michael Blecher

Inhalt Einleitung - Spuren einer Ethik der Selbstreferenz

13

A. Bedingungen der Möglichkeit einer Ethik der Selbstreferenz I: Die Logik der Selbstreferenz

28

I. Vom Subjekt zur Selbstreferenz

28

1. Subjektivität

28

2. Die Theorie selbstreferentieller Systeme

33

a) Die Entwicklung

33

b) Sinn und Komplexität

34

c) Selbstreferenz

36

aa) Konstruktion

36

bb) Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung und Selbstreproduktion .

38

cc) Binäre Codierung

39

dd) Erkenntnistheoretische Konsequenzen

42

d) Resümee

44

II. Geschlossenheit und Offenheit 1. Selbstreferenz und Fremdreferenz, Codierung und Programmierung 2. Der Code als „Symbol" selbstreferentieller Einheit?

46 ..

46 48

a) Code und „Kontingenzraum"

49

b) Autonomie-„Steigerung"?

51

10

Inhaltsverzeichnis

3. „Historische Offenheit" versus „logische Geschlossenheit"?

54

4. Das Problem der Kriterienbildung

57

5. Interpénétration

59

6. Reflexion und Rationalität

63

a) Reflexion?

64

b) Rationalität?

65

c) Reflexionsinhalt und Reflexionsstil

68

B. Bedingungen der Möglichkeit einer Ethik der Selbstreferenz II: Logik weil Ethik der Selbstreferenz - „Zwischen"-Betrachtungen -

74

Allzumenschliche Vorüberlegungen

74

Einleitung

76

I. Erste „Zwischen"-Betrachtung: Das Entstehen von Paradoxien

77

II. Die Selbstreferenz von Leben und Tod und die Universalität „unmöglicher Zustände"

81

III. Zweite „Zwischen"-Betrachtung: „Fundamentalität", Rekursivität und Kontingenzdimension

85

1. „Fundamentalität": Die Entstehung von Systemen

85

2. Rekursivität

89

3. Die Kontingenzdimension

96

IV. Selbstbeobachtung, Selbstgewißheit und Begreifen (Einsicht)

106

1. Selbstbeobachtung und Reproduktion von Sinnsystemen

106

2. Selbstbeobachtung, Paradoxie und Einheit des Selbst

108

Inhaltsverzeichnis

3. Selbstgewißheit

115

4. Begreifen und Einsicht

120

a) Gedächtnis

124

b) Erkenntnisinteresse

124

c) Systeme verstehen Systeme

125

d) Begreifen und Kritik

127

e) Begriffene Begriffe

132

V. Dritte „Zwischen"-Betrachtung: Sinn-Einheit

135

1. Die Einheit des Nichtidentischen

139

2. Das Selbst als Tautologie, Paradoxie, Ökologie

142

3. Die Welt ist nicht geschlossen

142

4. Sinn als Kontingenzdimension, Kontingenzdimension als Sinn

145

5. Aufhören und Tod als Sinnform

146

6. Vernunft als begriffene Sinnform

152

C. Zu einer Ethik der Selbstreferenz

I. Ethik der Selbstreferenz - Ethik der Veränderung

165

165

1. Der Sinn für Unangemessenheit

166

2. Der Explosivstoff Selbstrejektion

174

3. Rekursivitätsintervalle und Prozeduralisierung

178

4. Kontingenzgremien

182

12

Inhaltsverzeichnis

II. Weder Autonomie, noch Steuerung, andere Möglichkeiten 1. Die Entmachtung des „blinden Flecks" 2. Synchronizität (paradoxe Kopplung) und Interpenetrationsversagen 3. „Resonanz" als Verlegenheitsformel III. Veränderung von Immunmechanismen I: Das „Leiden" des Subjekts

184 184 . . . 190 198 . . . 199

1. Immunmechanismen in der Theorie selbstreferentieller Systeme

199

2. Leiden als Immunmechanismus

200

3. Leiden an Immunmechanismen

204

IV. Veränderung von Immunmechanismen II: Der „Konflikt" im Recht

210

1. Der Verweisungsüberschuß von Immunmechanismen

210

2. Gerechtigkeit als Rechts-Meson

215

3. Recht als soziales Meson

228

Literatur

237

Einleitung Spuren einer Ethik der Selbstreferenz „ Z u einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht... Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist das nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Zweifel bestand?) Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische... Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen!" (Ludwig Wittgenstein)

Die vorliegenden Untersuchungen nehmen ihren Ausgang von einem Unbehagen: dem Unbehagen daran, daß keine der marktgängigen Universaltheorien, die psychische und soziale Systeme und ihre Umwelten betreffen, in der Lage zu sein scheint, „Orientierungsfragen" für die Evolution psychischer und sozialer Systeme zufriedenstellend zu beantworten. Alle Theorien hinterlassen einen „Rest", der hier vorläufig schlicht „ethischer Rest" genannt werden soll, und machen sich daraus ein Problem oder auch nicht: Für die einen ist schon die Fragestellung falsch: Da nur anhand von Differenzen selbstreferentiell beobachtet wird, kann es vorkommen, daß einst wirkungsvolle Differenzen — wie die von Ethik/Moral — nicht mehr die Beziehung Individuum-Gesellschaft darstellen können. Die „Bindung" läuft dann eben über andere evoluierende Kopplungsformen ab. Die Frage einer richtigen Einrichtung der Gesellschaft stellt sich jedenfalls nicht (mehr). Für die anderen geht es gleichfalls um Systementwicklung anhand von Differenzen, aber die Differenzen sollen noch —wie prekär und situativ auch immer—im intersubjektiven Kommunikationszusammenhang überbrückbar sein. (Zeitweise) Einheit im Konsens soll die

14

Einleitung

auseinanderdriftenden Teile noch zusammenhalten können. „Der Rest" wird hier zur idealen Notwendigkeit, die — wie Benjamins Engel — die Trümmer der Vergangenheit sich auftürmen sieht und nur noch vor ihren Splitterbergen in die Zukunft zurückweichen kann. Die „reale Subsumtion" scheint Kommunikation und Bewußtsein gleichermaßen erfaßt zu haben und die Suche nach sprengenden „Antagonismen" fragwürdig, nachdem Produktion und Reproduktion an selbstreferentiell-autopoietische Zirkularitäten verloren sind, die Widersprüche lediglich funktional zur Selbstkorrektur mitbenutzen. Die Selbstbewegung ist allenfalls noch „kritisch-negativ" nachvollziehbar. Man kann die Gefangnisse öffnen, die Gefangenen sind ausgestorben. Dann erscheint die neu angepriesene „Freiheit" des psychischen Systems von „seiner" Gesellschaft (Luhmann) — einer zweiten ursprünglichen Akkumulation gleich 1 — ebenso zynisch, wie der Konsens der (kompetenten) Sprecher (Habermas) auf den ersten Blick sympathisch-idealistisch, aber mit dem gleichen Effekt: daß damit nämlich die (Ausgrenzungs-, Orientierungs-) Probleme, die die Mechanismen individueller Selbstregulierung trotz aller sozialer Anleitung hervorbringen, noch gar nicht angesprochen sind bzw. unterbelichtet werden; analog zur unzureichenden Behandlung der „SelbstBegründung" sozialer Systeme. Dieser Rest bleibt dann für die einen kontrafaktisch-kritisch die Chance für eine Veränderung des nicht zu Ändernden, und man nennt ihn das „Nichtidentische" (Adorno), das im „Leiden" zum Vor-Schein kommt. Unter dem Vorzeichen „sozialer Systeme" taucht er nunmehr als „heimliche Implementationsdialektik" oder „Faktor X " (Wiethölter) wieder auf und bezeichnet damit genau die ortlose Stelle, an der alle Wirklichkeitskonstruktionen heißlaufen, da alle Beobachtung anhand von Differenzen die Gesellschaft und die Welt nur unvollständig erfassen kann. Es sollen daher normative (Richtigkeits-)Grundsätze für eine kurz- bis mittelfristige kontingente Bestimmung des Verhältnisses von psychischen und sozialen Systemsubjekten Einzug in die systemische (Re-)Produktion und ihre Beschreibung halten können; Grundsätze, die in praktischen Verfahren zur Bewältigung von Konflikten jeweils zu finden sind. Die auf diesem Wege gerechtfertigte „Einheit" ist folglich von kontinuierender Vorläufigkeit. Für die System(re-)konstrukteure sind es nun erklärtermaßen diese „Paradoxien" der Selbstreferenz, aus denen die entparadoxierende konstruktive Kreativität der Systeme herrührt, wenn sie nicht in den Paradoxien gefangenbleiben sollen. Die Einheit liegt im jeweiligen selbstreferentiellen Operieren selbst, und darüber hinaus gibt es kein Bewußtsein und Kommunikation umfassendes Superprinzip/-system. Eine ethische Begründung der Konstruktionen/ 1 Akkumuliert werden Lebensvermögen und Lebensbedingungen als solche, nicht mehr bloß Arbeitsvermögen und Arbeitsbedingungen; Vergleiche zur ursprünglichen Akkumulation Marx, 150 ff.

Einleitung

Entparadoxierungen, die die jeweilige systemische Selbstbegründung hervorbringt, bleibt damit ausgeschlossen, und der Angst-/Leidensdruck der Individuen — wenigstens vom sozialen System her gesehen — im Grunde ein regressiver Störfaktor; allenfalls ein schlechter Selbstbeschreibungsersatz. — „Paradoxie" als der „Rest": Als Anlaß immer neuer kontingenter Entparadoxierungen im Prozeß selbstreferentieller Reproduktion und/oder als paradoxe „Hoffnung"? Kein Zufall jedenfalls, wenn sich viele Menschen vor solcher (in ihnen selbst aufbrechenden) Alternative lieber neuen (alten) (religiösen) Heilslehren anvertrauen, die noch immer die ersehnte Erlösung / Versöhnung mit einem objektiven Universum, einer letzten Realität oder Wahrheit versprechen. Auch dies sind universale Theorien, die man ernstnehmen muß, wenn man sich nicht scheut, den breiten Zuspruch zur Kenntnis zu nehmen, den sie haben. Ob sie die versprochene „Dauerorientierung" bieten und (Gegenwarts-)Realität „greifen" können, erscheint zumindest fraglich. Genauso fraglich scheint es zu sein, der Verzeitlichung von Sicherheiten mit „Reflexion" beikommen zu wollen. Die tagtägliche „Balance-Arbeit" 2 , die das oft widersprüchliche Angeschlossensein an heterogene soziale Kontexte erfordert, beschäftigt jeden eh schon zur Genüge. Und warum sollte man sich dann noch durch zusätzliche Irritationen „wecken" lassen, die nur der temporalisierten persönlichen Selbstbeschreibungsproblematik einiger psychischer Systeme und ihrer sozialen Gruppierungen entspringen?! Heilssuche und Leiden kann man jedenfalls endlich als Glanz und Elend eines verblichenen Humanismus aus der Selbstbegründung der Gesellschaft ausscheiden. Sozial zuständig sind „Kulturindustrie", „Therapie", „Religion" oder allenfalls „Philosophie". Und doch bleibt das Problem bestehen: Was keinen epistemologischen Status hat und zwischen den konstruktivistischen (Differenz-)Rastern psychischer und sozialer Systeme immer hindurchfallt. Ist es das „Unaussprechliche", von dem Wittgenstein (zunächst)3 meinte, man müsse darüber schweigen? Daran bestätigte sich zunächst vielleicht nur die Grenze des Wissenschaftssystems. Man könnte eine Ersatzversprachlichung finden; etwa den „Nichttitel" Metaphysik 4 , oder aber auch Formulierungen politischer Bewegungspassion oder wirtschaftlicher und kultureller Erfolgs- und 2

oder Balance-Ökonomie; der Begriff stammt von Negt/ Kluge, 109 ff. „Zunächst", d. h. im „Tractatus"; in den „Philosophischen Untersuchungen" wandert das „logisch Unsagbare" in die „Sprach-Spiele" ein, vgl. Atlan 223 ff.; und Aufgabe von Philosophie ist es dann nicht, einen Widerspruch dank einer mathematischen oder logischmathematischen Entdeckung aufzulösen, sondern „uns zu erlauben, klar den Zustand der Mathematik zu sehen, der uns betrifft: den Stand der Dinge, bevor der Widerspruch aufgelöst ist... Die fundamentale Tatsache ist hier die, daß wir Regeln aufstellen, eine Spieltechnik, und daß, wenn wir die Regeln befolgen, die Dinge nicht so eintreten, wie wir es vermutet hatten: Wir finden uns demnach in unseren eigenen Regeln verstrickt vor. Das, was wir verstehen müssen, ist genau diese Verstrickung in unsere Regeln", ebd. 224; (Übersetzung von mir, M.B.). 3

4

Vgl. Henrich 1987, 17.

16

Einleitung

Konsumattraktion, und wenn sich herausstellt, daß man nirgendwo darüber kommunizieren kann, in Religion oder Mystik einen Repräsentanten suchen, den man kommunizieren kann und der vor allem das Bewußtsein bedient. Hier soll es nicht um den — aussichtslosen — Versuch gehen, die Weltgrenze zu überschreiten, sondern darum, wie das „Unaussprechliche" — noch als „Paradoxie" darstellungsfahig — die Behandlung praktischer Probleme beeinflussen kann — eben in einer „Ethik der Selbstreferenz", mit der Paradoxie „als Kontakt" zum „Unaussprechlichen", wenn man sich mit schlichten Auffangformeln wie „Lebenswelt" nicht zufriedengibt. Und genau diese Unzufriedenheit /Skepsis kennzeichnet heute alle Welt. „Sinnsuche" im „Subjekt" tritt tendenziell in einer Reinheit auf, die vielleicht historisch kaum Vergleichbares kennt. Die radikale Temporalisierung aller Modelle und „Ersatzsprachen" überläßt sie am Schluß nur noch sich selbst. Sie stößt auf Selbstreferenz und damit die Selbstreferenz von Sinn, aber anders als es intendiert war. Ebenso finden sich soziale Systeme als Konstrukteure ihrer eigenen Welt vor. Wenn es also irgendwo noch „Halt" geben soll, dann muß er aus der Selbstreferenz selbst herrühren, und er könnte dann mit jener „Kontaktstelle" von Paradoxie und „Unaussprechlichem" zu tun haben 5 . Und er könnte dann aus einer Wie der e inßihrung der Differenz von (systemischer) Selbstreferenz (Bewußtsein und Kommunikation) und Unaussprechlichem in die (systemische) Selbstreferenz (Bewußtsein und Kommunikation) hervorgehen (!?). Dafür stehen (natürlich!) keine Begriffe zur Verfügung; „Reflexion" und „Rationalität" (im Luhmannschen Sinne) treffen das hier Gemeinte nur partiell. Alles (!) „Reden und Schweigen" schließt es zugleich ein und aus und muß genau damit umgehen (lernen): daß und wie es dies tut 5*. — „Ethik der Selbstreferenz" versteht sich nicht als „Religion". Allenfalls liefe sie — wie auch bezüglich anderer Themen — auf eine Rekonstruktion des"Religiösen" hinaus und hätte dann zu akzeptieren, daß alle Erscheinungen in diesem neuen (ethischen) Sinne eine religiöse Variante quer zu Systemdifferenzierungen erhalten, weil auf den „mitlaufenden" Konstitutionszusammenhang zurückgegriffen wird („Religio"). „Religion" in diesem Sinne wäre nicht mehr einfach an gesellschaftliche Vorgaben gekoppelt, sondern ein Modus des Umgangs mit psychosozialer Selbstbegründung. Bezieht sich „Ethik der Selbstreferenz" damit auf das „Heilige", über das Bateson noch schreiben wollte? 6 Jedenfalls geht es um sich selbst („ökologisch") „heilende Tautologien" 7 und die These, daß man sie so beeinflussen kann, daß sich der Heilungsprozeß 5 „Where angels fear to tread"? — So wollte Bateson eines seiner Bücher nennen, vgl. 1978, 262. 5a In dieser Hinsicht bleiben — wie sich zeigen wird — die Auseinandersetzungen von Luhmann/Fuchs mit „Reden und Schweigen" unterbelichtet. 6 Ebd., 261 ff. 7 Ebd., 253 ff.

Einleitung

nicht als Zerstörungsprozeß vollzieht; ohne so naiv zu sein zu glauben, daß „Heilung" ohne „Vergängnis" zu haben ist und ohne in ihr andererseits ein synthetisierendes Telos zu suchen. Aber man muß versuchen, sie selbst in Regie zu nehmen und damit auch den „Zerstörungsprozeß" zu kanalisieren; mit anderen Worten: „Heilung" ist gegeben, weil aufgegeben 8. Dafür steht „Ethik der Selbstreferenz". — Derweilen stellt man also psychischen Systemen soziale Ambulatorien zur Verfügung 9 , wenn ihre „Sinnsuche" für sie und andere „bedrohliche" Formen annimmt. Das verweist auf die Art und Weise, wie Systeme jenen „Dauerrest" an Hoffnung und Unsicherheit aneinander behandeln: Als „Widerspruch", der als „Leiden" und „Konflikt" in psychischen bzw. sozialen Systemen verarbeitet wird 1 0 . Dies geschieht als „blinde Immunabwehr" zum Schutz von Selbstreproduktion und unter eventueller Aufgabe von Strukturen. Damit solche Heilungsprozesse nicht zu Zerstörungsprozessen werden, aus deren Trümmer auch schwerlich eine „bessere Gesellschaft" auftauchen könnte, bedarf es jedoch ihrer „Konditionierung" 1 1 . Das Problem verschiebt sich also nur: Welche Konditionierungsformen sind wie zu rechtfertigen und anhand welcher Kriterien? Oder geht es eben nicht um „Rechtfertigung", sondern nur um funktionale Immunabwehr? Außerdem: wie verändert sich mit einem Wechsel der Selbstbeschreibungen „zur Selbstreferenz" der Umgang mit Unsicherheit, Veränderbarkeit und damit der Umgang mit Widersprüchen, Leiden und Konflikt? M i t diesen Fragen ist man bei den Sozialsystemen bereits an einen Adressaten verwiesen: Sollte das Rechtssystem ein soziales „Intersystem-Ambulatorium" sein können? Anhand welcher Grundsätze sollte es funktionieren, wenn man ihm eine solche Rolle als Teil seiner Selbstbegründung zuschreiben würde? — Die vorliegenden Untersuchungen wollen keinen Neohumanismus begründen. Die Frage nach dem „ethischen Rest" betrifft soziale und psychische Systeme gleichermaßen. Sie betrifft aber soziale Systeme auch, weil sie psychische Systeme betrifft, und umgekehrt: Psychosystem und Sozialsystem sind nur als Differenz möglich, das heißt aber auch nur deshalb, weil notwendigerweise die jeweils andere Seite dieser Differenz autonom existiert. Und dieser „gleichbleibende, paradoxe, in Beziehungssprache: symmetrische, reziproke Zusammenhang (der Gleichzeitigkeit) " wird aneinander (asymmet8

In Abwandlung eines Wortes von R. Wiethölter: „Gesellschaft und Geschichte lassen sich nur dadurch entdecken, daß man ,handelt4, oder kürzer: sie sind nicht irgendwo gegeben, sondern aufgegeben"; vgl. 1982 b, 31. 9 Man könnte allgemein von „Partnerschaften" sprechen: von der Familie — inzwischen ihrerseits prekär — zur Freizeitanimation, zur Therapie und (neuerdings verstärkt) zur „Kultur", vgl. M. GrefTrath: „Die mißbrauchte Kraft des Schönen", in: „Die Zeit" Nr. 48 vom 25.11.1988, 65; und Gerhard Spörl: „Kultur ist alles das, was nicht ist", ein Gespräch mit Hermann Glaser, in: „Die Zeit" Nr. 19 vom 4.5.1990, 56. 10 Vgl. Luhmann 1984, 488 ff. 11 Vgl. ebd., 536 ff. 2 Blecher

Einleitung

18

risch) organisiert, wird mit „Entwicklung", „Geschichte" angereichert (mit Ungleichzeitigkeit), wird „komplementär" eingerichtet, ohne daß beide in einem umfassenden „Metadiskurs" vereint werden könnten. Dem sozialen System verbleibt dann ein menschliches „Antlitz", gerade weil es seine Komplexität immer mit Hilfe psychischer Systeme aufbaut. Ebenso gibt es psychische Systeme nur unter sozialen Bedingungen. Bedingung der Möglichkeit für diese Komplementarität bleibt jedoch immer der „symmetrische Zusammenhang" beider. Das soll heißen, daß, wenn ein System beginnt, dem anderen seine autonome Einheitsbildung entziehen zu wollen, es sich selbst die autonome Einheit entzieht, sich selbst tendenziell in Krisen stürzt 12 . Die Beziehung zwischen psychischen und sozialen Systemen (aber auch zwischen sozialen Funktionssystemen!) bleibt trotz und wegen aller komplementären Festlegungen gleichsam eine „reziprok homöopathische": Das homöopathische Präparat führt als Naturstoff sein Eigenleben. Es ist jedoch unverdünnt ein Gift und in der Lage, spezifische Krankheitssymptome beim Gesunden hervorzurufen. In der „richtigen Verdünnung" hingegen kann es den Kranken, der genau diese Symptome aufweist, heilen entsprechend dem „Grundsatz", daß das Ähnliche durch das Ähnliche geheilt wird 1 3 . Ebenso sind psychische und soziale Systeme nicht aufeinander reduzierbar. Aber ihre komplementären Festlegungen können ihre symmetrische, reziproke Möglichkeitsbedingung „vergessen" und dann für ein System zum „Gift" werden (und damit wegen des gleichbleibenden Zusammenhangs im Endeffekt für beide). Dann beginnen Systeme früher oder später (reflexiv) nach der „richtigen Verdünnung" im Verhältnis zueinander und zu sich selbst zu suchen, die in der Lage ist, die „Krankheit", die „Autonomiebedrohung" eines (bzw. beider) Systems zu „heilen". Die Frage nach der „richtigen Verdünnung" ist die Frage nach der „richtigen" Konstruktion der Systeme für sich selbst und ihr Verhältnis zur Umwelt. Man kann diese Frage nur dann zureichend beantworten, wenn man die Grenzen der (komplementären) differenzorientierten Konstruktion ausleuchtet 14 . Es reicht nicht aus zu wissen, wie Systeme ihre Konstruktion auf selbstreferentieller Basis im Verhältnis zu anderen Systemen institutionell einrichten. Dies bleibt ein notwendiger Forschungsschritt. Es geht aber gleichzeitig um die Maßstäbe, mit denen sie das tun, wenn das Resultat der Umwelt „gerecht" werden soll, weil es nur damit dem System selbst „gerecht" werden kann. Und dann fragt es sich, woher diese Maßstäbe kommen können. Sie werden im Konstruktionsverfahren zugleich erzeugt und in Anspruch 12

Es muß dafür zumindest ein „Immunsystem" organisieren, dazu weiter unten Teil C

IV. 13

Homoion — ähnlich; pathein — Leiden; Homöopathie folgt also immer schon der Therapiemethode der (paradoxen) „Symptomverschreibung", die seit ca. 20 Jahren vor allem in der Psychotherapie angewendet wird; vgl. Watzlawick, Selvini Palazzoli 1977, Willke 1987 b. 14 Gleichsam die „Grenzen der Grenzen".

Einleitung

19

genommen. Es geht also um Konstruktion und die Bedingungen der Möglichkeit von Konstruktionen, Differenzen und damit von Beobachtungen als Systemoperation. Es geht um deren selbstreferentielle „Basis" selbst, um diese Einheit, „die nur als Differenz wirkt" (Luhmann), aber eben auch nur als Einheit als Differenz wirkt. Wir vertreten die These, daß diese selbstreferentielle Einheit selbst die Maßstäbe und Kriterien für die „richtige Verdünnung" liefert und daß man jeder systemischen Differenzbeobachtung zugleich auch „mißtrauen" und sie daraufhin kontrollieren muß, ob sie in ihrer Selbstbegründung die Maßstäbe trifft, die in ihrer eigenen selbstreferentiellen Einheit vorausgesetzt sind: Konstruktion und Kritik also! Systeme mögen dann hyperzyklisch und episodenverknüpfend laufen, aber darüber hinaus gelten in ihnen Kriterien einer „Ethik der Selbstreferenz", die bestimmte Verknüpfungen im Gegensatz zu anderen vornehmen. Ihre Mißachtung führte zur Mißachtung und tendenziellen Zerstörung der eigenen operativen „Basis". Diese Kriterien könnten dann nur der Kontingenz der „schlechthin transitorischen Moderne" als dem Maßstab ihrer eigenen selbstreferentiellen „Logik" abzugewinnen sein 15 . Und „Aufklärung" 1 6 wird auf die (selbstreferentiell-paradoxe) Spitze getrieben, indem sie ihren Gegenstand und sich selbst als Kontingenzbewältigung und zugleich Kontingenzreproduktion begreift und noch angeben kann, wie daraus praktische Handlungskriterien hervorgehen. Und „Beobachtung" („Unterscheiden und Bezeichnen") ist folglich nur das halbe Leben: Ihr exklusiver Modus setzt andere gleichgewichtige Formen des „Zugriffs" auf Realität voraus, die die gleichzeitige Präsenz der selbstreferentiellen Einheit in jeder Differenzbildung erfassen, ohne daß diese die Differenzbildung überbieten könnte. Gefragt ist jedoch nach den Kriterien, die sie für die Differenzbildung liefern kann, vor allem hinsichtlich der Differenz des „Selbst" zum „Anderen" (Selbst). Es ist die Ignoranz der Präsenz der Paradoxie der selbstreferentiellen Einheit 17 , die Systeme nicht die „richtige Verdünnung" in sich selbst und in ihrem Verhältnis zu anderen Systemen finden läßt. Und selbst die „Reflexion" der Einheit des selbstreferentiellen Systems bedarf dann noch der Führung durch Kriterien. Ist ihre „Rationalität" aus sich selbst — aus der Reflexion auf „Einheit" also — als notwendig begründbar? Und wie sähe eine solche Rationalität aus? Diesen „ethischen Rest" gilt es aufzuklären. Und zwar auf der Folie der Theorie selbstreferentieller Systeme und in kritischer Auseinandersetzung mit ihr. Die Reflexion auf Selbstreferenz wird hier also als einzig angemessene Form 15

Vgl. zu dieser Suche bei Walter Benjamin, Habermas 1985, 20 ff. Nicht nur „soziologische" Aufklärung. 17 Der Einfachheit halber wird im Teil A der Arbeit oft von „paradoxer Einheit" gesprochen. 16

2*

Einleitung

20

der Reflexion auf soziale und psychische Systembildungen und ihren Operationsmodus zugrunde gelegt, um erneute „Externalisierungen" der Bedingungen ihrer Möglichkeit zu vermeiden. — „Ethik der Selbstreferenz" kann dann nur eine Erscheinungsform von Selbstreferenz sein, und zwar ein „Modus", ein „Stil" des Umgangs mit der Selbstreferenz psychischer und sozialer Systeme und ihren Kopplungen, der aus ihr selbst resultiert; kein ethisches Prinzip, keine Wertethik, Gesinnungsethik, Verantwortungsethik, aber auch keine Diskursethik, vor allem keine „Einheit im Konsens", denn im selbstreferentiellen psychosozialen Prozedieren kommen Konsens und Dissens gleichrangig vor 1 8 . Und doch hat „Ethik der Selbstreferenz" es mit all diesen Ansätzen zu tun, nimmt sie in sich auf als Begriff davon, was „Ethik" überhaupt nur (noch) sein kann. — Der vorliegende Ansatz sitzt zwischen allen Stühlen. Er wird deshalb vielleicht auf Unverständnis stoßen: bei „Differenzdenkern", weil ihnen vorgeführt wird, daß die Einsicht in selbstreferentielle Machbarkeit selbst die ethische Restproblematik mitproduziert, die man glaubte, aus ihrer Rolle als Zentralproblem für alle Systembildungen endgültig verdrängt zu haben; bei „Einheitsdenkern", weil ihnen vorgeführt wird, daß es keinen „synthetischen" Ort gibt, wo die richtige Einrichtung der Gesellschaft als Überbrückung der Differenzen gestiftet werden könnte. Es scheint schwierig zu begreifen, was die hier eingenommene Position soll, wenn sie sich doch eh schon der Selbstreferenz verschrieben hat. Damit scheint schon alles geklärt, und man kann dann annehmen, der Verfasser habe seinen eigenen Gegenstand — eben die Selbstreferenz — einfach nicht begriffen. Der Schlüssel zum Verständnis, so die These, ist die „Paradoxie", die bei der (notwendigen!) (Selbst-) Beobachtung von Selbstreferenz bekanntlich auftaucht, und die „Relation zwischen" Paradoxie und Entparadoxierung: Diese Relation der Paradoxie zur asymmetrischen oder komplementären Entparadoxierung, „zwischen" allen Entparadoxierungsschritten, ist symmetrisch, das heißt sie verweist immer rekursiv auf die paradoxe Einheit des (systemischen) Selbst zurück. Auch in diesem Sinne ist „Rekursivität ein symmetrischer Prozeß" (Luhmann). Und es ist die Kontingenz-Y^onsimkiion von Selbstreferenz, die die Paradoxie gleichsam „vertritt", indem sie deren „Entfaltung" organisiert und von der Paradoxie zur Entparadoxierung und zurück („Reparadoxierung") führt. In diesem Zusammenhang der „Logik der Selbstreferenz" steckt der Schlüssel zur „Ethik" selbstreferentieller Differenzbildung! (Selbstreferentes) „Greifen" von Realität als universaler Selbstreferenz führt zur Feststellung, daß zum Überleben Evolution genügt. Begreifen von Selbstreferenz führt zur universalen ethischen Praxis selbstreferentieller Konstruk18

Allenfalls geht es um eine „Kultur für Dissense". R. Wiethölter spricht für das Recht von „Streitkulturrecht", vgl. 1987, 39.

Einleitung

tion. Von daher werden erst selbstreferentielle Ansätze, die Systeme konstruieren und aufeinander abstimmen, weil es sich für alle (funktional) lohnt, unterscheidbar von solchen selbstreferentiellen Ansätzen, die Systeme konstruieren und aufeinander abstimmen, weil es (sich) für alle — ihrer eigenen „Grundlagen" im Begreifen eingedenk — so gehört (und deshalb auch lohnt). „Begreifen" heißt, daß man den soeben genannten „logischen" Zusammenhang von Selbstreferenz (als die Realität „greifend") verstehen muß, um zugleich die Notwendigkeit ihrer ethischen Selbstbegründung (als Modus des „Greifens") miterfassen zu können (klassisch: als „begriffenen Begriff"). Sie ist also Teil der selbstreferentiellen „Entfaltung" („Praxis") als ein immer vorausgesetztes, aber immer zu gestaltendes ethisches Selbstreferenzverhältnis, das seine eigenen „Richtigkeitskriterien" folglich in sich selbst trägt. Es geht also um „InAnspruch- wfl