235 19 9MB
German Pages 325 [348] Year 1981
MEDIEN
IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Dieter Baacke, Wolfgang Gast, Erich Straßner in Verbindung mit Wilfried Barner, Hermann Bausinger, Hermann K. Ehmer, Helmut Kreuzer, Gerhard Maletzke Band 4
Irmela Schneider
Der verwandelte Text Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Neuere Philologien der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/Main gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schneider, Irmela: Der verwandelte Text : Wege zu e. Theorie d. Literaturverfilmung / Irmela Schneider. - Tübingen : Niemeyer, 1981. (Medien in Forschung + Unterricht : Ser. A ; Bd. 4) NE: Medien in Forschung und Unterricht / A ISBN 3-484-34004-5
ISSN 0174-4399
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1981 Alle Rechte vorbehalten Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen Printed in Germany Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
VORWORT EINLEITUNG
IX 1
EINE UNTERSUCHUNG DER LITERATURVERFILMUNG - DIE PROBLEME UND DAS PROGRAMM
1. 2. 3. 4. 5.
Literaturverfilmung und Literaturwissenschaft Andr6 Bazins »Plädoyer für die Adaption« Literaturverfilmung als Transformation eines Textsystems Literaturverfilmung und Filmtheorie Literaturverfilmung und die Beziehung zwischen Buch-Literatur und Film 6. Methodologische Konsequenzen
1 13 17 21 24 26
1. TEIL ANMERKUNGEN ZUR FORSCHUNGSGESCHICHTE
31
1. Filmkunst und Literaturverfilmung 2. Zum Stellenwert der Buch-Literatur für den Film 3. Kunst- und gattungstheoretische Barrieren auf dem Weg zu einer Theorie der Literaturverfilmung 4. Zum Problem einer Gattungstheorie als Folie zur Untersuchung von Literaturverfilmungen
31 35
4.1. Käte Hamburgers Bestimmung des Films als »fiktionale Gattung« . . . . 4.2. Die Überwindung von Raum und Zeit als Gemeinsamkeit zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzählen 4.3. Zum Problem der Zeit als tertium comparationis zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzählen 4.4. Zum Problem des Raumes als tertium comparationis zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzählen 4.5. »Raum« und »Zeit«: Kategorien zur materiellen Klassifizierung der Kunstarten
38 43 44 46 48 51 54
2 . TEIL LESSINGS KUNSTKRITIK UND DAS PROBLEM DER BEARBEITUNG
57
1. Das »Laokoon«-Problem als Teil des Problems der Bearbeitung . . . 2. Zum Problem der Regelfindung in einer Theorie der Bearbeitung: der »Laokoon« als Beispiel 3. »Kopie«-»Original«-»Nachahmung« 4. Das »Täuschende« als Verbindungs- und Differenzierungsmerkmal zwischen Malerei und Poesie
58 61 69 74 V
5. Zum Problem der Differenzierung der Kunstarten und -gattungen . . 5.1. Die Differenzierung der Kunstarten unter dem Gesichtspunkt der Darstellung von Raum und Zeit 5.2. Zur Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen als Differenzierungskriterium der Kunstarten 5.3. Zur Kategorie der Handlung
77 78 80 87
3 . TEIL VORAUSSETZUNGEN ZU EINER THEORIE DER LITERATURVERFILMUNG - PROBLEME DER FILMSEMIOTIK
93
1. Filmsemiotik und Linguistik 2. Zur Unterscheidung von »filmisch« und »kinematographisch«
93 97
. . . .
3. Zur Unterscheidung von Text und Textsystem 4. Zum Problem des kinematographischen Codes 4.1. Das Problem der kleinsten Einheit im Film 4.2. Zur Struktur des ikonischen Codes 5. Zur Unterscheidung von Fiktion und Diegese 6. Der Film als Kombination unterschiedlicher Semiosen
101 107 107 109 113 115
4 . TEIL ÜBERLEGUNGEN ZU EINER THEORIE DER LITERATURVERFILMUNG
119
1. Textrezeption und Textstrukturierung von Literaturverfilmung . . . 2. Zur Kategorie der Transformation 2.1. Die literarische Vorlage als Transform 2.2. Zum Transformationsprozeß des Transforms »literarische Vorlage« . . . 3. Zum Problem des narrativen Codes 4. Zum Transformationsprozeß kultureller Codes 5. Sprachlich-spezifische Codes und das Problem der Transformation . . 6. Zum Problem der Technik des Erzählens - Einige Voraussetzungen . 6.1. Techniken des Erzählens als Techniken der Kommunikation 6.1.1. Jan Marie Peters' Unterscheidung von »mimesis« und »informatie« 6.1.1.1. Mimetischer und informativer Sprachgebrauch in Heinrich von Kleists Novelle »Die Marquise von Ο . . . « 6.1.2. Zur Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsebene in den Redeformen des Erzählens 7. Filmische Erzählung und das Problem der Perspektive des Erzählens . 7.1. Perspektivischer Verweis auf die literarische Vorlage 7.2. Die Schichten des Films als Mittel der Perspektivebildung 7.2.1. Die Schicht der Kamerahandlung 7.2.2. Die Schicht der mise-en-scene 7.2.3. Mise-en-scene und Einstellungswechsel als Indikatoren der Erzählerperspektive 8. Überlegungen zum Transformationsprozeß der Erzählform 8.1. Zum Problem der Ordnung eines Erzählgeschehens 8.2. Referentielle Situation als Vergleichsebene 8.3. Der Transformationsprozeß und das Problem der Syntagmatik des Films . 8.3.1. Zur Syntagmentheorie von Christian Metz 8.3.2. Vorschlag zur Neu-Gruppierung der Metzschen Syntagmen . . .
120 128 132 134 136 146 157 161 166
VI
166 169 176 184 184 186 187 190 192 196 199 200 206 206 213
8.4. Der Transformationsprozeß und das Problem der großen Syntagmatik der wortsprachlichen Erzählung 8.4.1. Zur Praxis der Ermittlung von Syntagmen im wortsprachlich-erzählenden Text 8.5. Syntagmatischer Vergleich am Beispiel »Die Marquise von O . . . « . . . . 8.6. Probleme des Transformationsprozesses im Blick auf die Dauer des Erzählgeschehens im Verhältnis zur Dauer des erzählten Geschehens . . 8.6.1. Vergleich der zeitlichen Proportionen von literarischer Vorlage
218 219
und Transformation: »Die Marquise von Ο . . .«und »Der Gehülfe«
243
9. Überlegungen formen
zum
Transformationsprozeß
dialogischer
216
239
Rede266
10. Zusammenfassende Überlegungen zur Textstrukturierung einer Literaturverfilmung
273
11. Überlegungen zum Transformationsprozeß als Produktionsprozeß von Sinn
276
11.1. Thesen zur Funktionsbestimmung von Literaturverfilmungen 11.2. Skizze zum Vergleich unterschiedlicher Bearbeitungen eines literarischen Textes
283 284
SCHLUSSBEMERKUNG
291
LITERATURVERZEICHNIS
295
REGISTER
313
ANHANG
317
VII
Vorwort
Die hier vorgelegte Untersuchung ist im Frühjahr 1980 vom Fachbereich Neuere Philologien der Universität Frankfurt als Habilitationsschrift angenommen, für den Druck nun freilich stark gekürzt worden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat meine Arbeit dankenswerterweise durch ein Habilitationsstipendium möglich gemacht. Die Professoren Norbert Altenhofer und Helmut Kreuzer haben diese Untersuchung bis zu ihrem Ende begleitet. Ich verdanke ihnen viele wichtige Hinweise und hilfreiche Kritik. Für die Bereitstellung von Drehbüchern und das Überlassen von Videokassetten, aber auch für Einsichten in das besondere Gebiet der Literaturverfilmung im Fernsehprogramm danke ich Mitarbeitern aus Rundfunkanstalten: Harald Heckmann und Achim Klünder vom Deutschen Rundfunkarchiv, Dieter Meichsner vom Norddeutschen Rundfunk, Hans Prescher vom Hessischen Rundfunk, Günter Rohrbach, damals beim Westdeutschen Rundfunk, jetzt bei der Bavaria, Heinz Ungureit vom Zweiten Deutschen Fernsehen. Was die zahlreichen Gefühls-Transformationen betrifft, die der Umgang mit diesem Thema mit sich bringt, so hat sie im wesentlichen mein Mann ausgehalten. Frankfurt am Main, Mai 1980
IX
Einleitung Eine Untersuchung der Literaturverfilmung Die Probleme und das Programm
1. Literaturverfilmung und Literaturwissenschaft Auf eine Rundfrage zum Verhältnis von Film und Roman antwortete Thomas Mann 1955: »Natürlich ist es mir lieb, daß das Buch neben dem Film fortbesteht. Aber ich glaube nicht daran, daß ein guter Roman durch die Verfilmung notwendig in Grund und Boden verdorben werden muß. Dazu ist das Wesen des Films demjenigen der Erzählung zu verwandt... Er ist geschaute Erzählung - ein Genre, das man sich nicht nur gefallen lassen, sondern in dessen Zukunft man schöne Hoffnungen setzten kann.« 1 Zum Allgemeingut ist diese Einschätzung von Literaturverfilmungen bis heute noch nicht geworden. Noch immer ist die nahezu konfessorisch formulierte Ablehnung sowohl vonseiten der Literatur- wie der Filmwissenschaft und -kritik ein häufig praktiziertes Urteil. Erst in jüngster Zeit bahnen sich im Bereich der Forschung Veränderungen an, beschäftigt man sich hier vermehrt mit diesem Teilbereich der Kultur. 2 Es gehört zu den Vorarbeiten dieser Untersuchung, den Motiven für die lange Geschichte des Unbehagens gegenüber Literaturverfilmungen nachzugehen. Auf diese Weise soll der Weg frei werden für eine Untersuchung des Phänomens selbst, in der dann theoretisch-systematische Fragen im Zentrum stehen. 1
Thomas Mann, Film und Roman, in: Miszellen, Thomas Mann Werke, Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Das essayistische Werk, hgg. von Hans Bürgin, Frankfurt/Main und Hamburg 1968, S. 260. 2 Als Signal der Veränderung kann gewertet werden, daß Literaturverfilmung als Thema im Funk-Kolleg Literatur behandelt wurde. Man beschränkte sich hier nicht auf den Aspekt, daß die Bearbeitung »zu Lasten der Literatur« ging, sondern machte auch auf ihre Funktion für die literarische Kommunikation aufmerksam. (Cf. Knut Hickethier/Karl Riha/Armin Staats, Mediale Bedingungen der literarischen Kommunikation, in: Funk-Kolleg Literatur. Studienbegleitbrief 2, Tübingen 1976, S. 119ff, bes. S. 136-138; cf. als Zeichen dieser positiven Entwicklung auch: Helmut Kreuzer/Karl Prümm (Hg.), Fernsehsendungen und ihre Formen. Typologie, Geschichte und Kritik des Programms in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1979, darin bes.: Karl Prümm, Vom Buch zum Fernsehfilm (und umgekehrt). Varianten der Literaturverfilmung, S. 94ff; Knut Hickethier, Das Fernsehspiel der Bundesrepublik. Themen, Form, Struktur Theorie und Geschichte. 1951-1977, Stuttgart 1980 (zur Zeit der Druckvorbereitung dieser Untersuchung im Satz).
1
Spricht man über Literaturverfilmung, so ist eine Vorklärung darüber notwendig, mit welcher wissenschaftlichen Zielsetzung man arbeitet. Innerhalb der Topographie der Wissenschaften ist der Gegenstand mehrdimensional. Hinsichtlich der Mehrdimensionalität des Gegenstands ergeben sich erste grobe Eingrenzungen, wenn man die Literaturverfilmung der Literaturwissenschaft zuordnet. An späterer Stelle wird deutlich, daß damit nicht die Zuordnung zu einer in sich ruhenden, von Veränderungen ungetrübten Literaturwissenschaft gemeint sein kann, sondern zu einer Literaturwissenschaft, die die Herausforderung durch veränderte kulturellliterarische Bedingungen als Impuls zur Reflexion ihres »Paradigmas« versteht.3 Wenn man Literaturverfilmung der Literaturwissenschaft zuordnet, so entstehen daraus vorab zwei Fragen: 1. Was heißt Literaturverfilmung als Gegenstand der Literaturwissenschaft? 2. Was heißt Literaturverfilmung als Gegenstand der Literaturwissenschaft? In der zweiten Frage ist die Literaturverfilmung Beispiel für eine Diskussion über den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft; im ersten Fall wird geklärt, was es heißt, mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen das Phänomen der Literaturverfilmung zu verhandeln. Die Antwort auf die zweite Frage kann die erste Frage überflüssig machen, indem der Gegenstandsbereich so eng gesteckt wird, daß die Literaturwissenschaft sich als nicht zuständig erweist. Es wird sich im Laufe der Arbeit herausstellen, daß der Ausschluß der Literaturverfilmung aus dem Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft schwerer zu begründen ist, als dies bei der weithin geübten Zurückhaltung gegenüber diesem Phänomen den Anschein hat. Die Antwort auf die zweite Frage kann aber nicht, auch wenn sie die Zuständigkeit der Literaturwissenschaft für die Literaturverfilmung impliziert, die Antwort auf die erste Frage einschließen. Denn der Gegenstand Literaturverfilmung ist immer mehr als nur ein Gegenstand der Literaturwissenschaft. Die Antwort auf die erste Frage verlangt also, die Parzelle abzustecken, die man von dem Feld dessen, was den Gegenstand der Literaturverfilmung ausmacht, im Kontext der Literaturwissenschaft behandelt. Weiter ist zu prüfen, in welcher Reihenfolge man sinnvollerweise die beiden oben formulierten Fragen diskutiert. Logisch gesehen liegt die Reihenfolge auf der Hand, wenn man die Möglichkeit einschließt, daß die Gegenstandsbestimmung von Literaturwissenschaft die Wahl des Paradigmas Literaturverfilmung ausschließen kann. Blickt man auf die jüngere 3
2
Cf. Hans Robert Jauß, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft, in: Linguistische Berichte, Heft 3/1969, S. 44ff, bes. S. 54f.
Forschungsgeschichte, so hat sich die zweite Frage erst entwickelt, nachdem eine Fülle von Fragen der ersten Art gestellt und diskutiert wurden. Die Frage nach der Zuständigkeit ist erst nach der Diskussion sog. neuer Gegenstandsbereiche aufgekommen. Blickt man auf diese neuen Gegenstandsbereiche, die die Literaturwissenschaft in jüngerer Zeit betroffen haben, so lassen sie sich nach mehreren Gesichtspunkten gliedern: - die Gliederung auf der Basis der Dichotomie von Kunst und NichtKunst; - die Gliederung unter dem Aspekt, ob sie an ein elektronisches Medium gebunden sind oder nicht; - die Gliederung unter dem Aspekt, ob sie individuell oder kollektiv produziert werden; - die Gliederung unter dem Aspekt der massenhaften oder individuellen Rezeption. Die Diskussion dieser vier Aspekte kann die Frage nach der Literaturverfilmung als Gegenstand der Literaturwissenschaft mit einer Perspektive ausstatten, insofern sich daraus Hinweise ergeben, von welcher methodologischen Stufe aus die Frage der Zuständigkeit überhaupt nur zu stellen ist. ad 1 Kreuzer hat in seinen Überlegungen zur Trivialliteratur als einem Forschungsproblem dargestellt, daß auch die Mehrzahl der jüngeren Arbeiten, die sich, den traditionellen Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft erweiternd, mit Trivialliteratur befassen, die »ästhetische Basis der orthodoxen Position« voraussetzen, insofern sie von der »Annahme einer objektiven Dichotomie - ja Antinomie von Kunst und Unkunst, Kunst und Kitsch, Dichtung und Trivialliteratur« ausgehen.4 Zwar wurde der Literaturbegriff der Literaturwissenschaft in den 60er Jahren erweitert.5 Allerdings wurden die Prämisse und ihre ästhetisch-wertenden Implikationen, auf deren Basis man sog. Grenzbereiche der Literaturwissenschaft untersuchte, nicht verändert. 6 Von daher nennt Kreuzer die Situation auf diesem Forschungssektor nicht nur »aufgrund der Forschungslücken, sondern auch aufgrund der ForschungsmefAoife« unbefriedigend«. 7 4
Helmut Kreuzer, Trivialliteratur als Forschungsproblem, in: ders., Veränderungen des Literaturbegriffs, Göttingen 1975, S. 7ff, S. 10. 5 Cf. Helmut Kreuzer, Zum Literaturbegriff der sechziger Jahre, in: ders., aaO, S. 64ff. 6 Ein Exempel für diese Vorgehensweise bildet im Kontext des Problems der Literaturverfilmung die Arbeit von Alfred Estermann, Die Verfilmung literarischer Werke, Bonn 1965. 7 Helmut Kreuzer, Trivialliteratur als Forschungsproblem..., S. 8.
3
Statt der horizontalen Aufteilung in Kunst und Trivialliteratur schlägt er eine »vertikale Betrachtung« 8 von ästhetisch, gattungs- und stilmäßig verwandten Werken vor. Die vertikale Betrachtung stellt bestehende ästhetische Kategorien insofern infrage, als ihr dogmatischer Status unbrauchbar wird. Sie entzieht darüberhinaus einer jahrhundertealten Tradition der Kunstkritik den Boden.9 Angewandt auf die Kategorie der Trivialliteratur, formuliert Kreuzer: »Dementsprechend funktionieren wir den Begriff um: aus einem unmittelbar ästhetischen zu einem unmittelbar historischen - und definieren Trivialliteratur als Bezeichnung des Literaturkomplexes, den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren. Diese Diskriminierungen sind weder für die Wertungen der Wissenschaft noch für die jeweils späteren Epochen verbindlich. Dann würde es also nicht mehr die Trivialliteratur als Gegenstand der Stilistik oder systematischen Ästhetik, sondern Trivialliteraturen als historisch vorfindbare Epochenphänomene geben.«10 Aus der Historisierung der ästhetischen Kategorien folgt, daß die Literaturwissenschaft die Annahme einer objektiven Dichotomie von hoher und niederer Literatur aufgeben und von einer Skala ausgehen muß, auf der das, was als literarisches Leben< zu bezeichnen wäre, erfaßt werden kann. 11 Diese methodologische Veränderung, die Kreuzer im Blick auf das Problem der Trivialliteratur und in ähnlicher Weise Jauß im Blick auf die Gattungstheorie vorschlägt,12 erweist sich in ihrer Konsequenz als eine Veränderung der Literaturwissenschaft von einer dogmatisch-fundamentalistischen zu einer empirisch-systematischen Disziplin.
8
AaO, S. 11. Cf. z . B . Thomas Munro, The Arts and their Interrelations, New York 1951, S. 511, der darauf hinweist, daß die Unterscheidung zwischen hoher und niederer Literatur »was made largely from an aristocratic point of view from the Greek period through the eighteenth century, according to which arts were deemed suitable for a freeman and nobleman.«; cf. auch Jochen Schulte-Sasse, Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs, 2. Auflage, München 1977. 10 Helmut Kreuzer, aaO, S. 17. " Zurecht weist Peter Uwe Hohendahl in seinen kritischen Anmerkungen zu Kreuzers Ansatz darauf hin, daß diese Vorgehensweise nur einen ersten Schritt erfassen kann, der durch einen zweiten, der sich um wertende Analyse bemüht, ergänzt werden muß. Dies gilt umso mehr, wenn man, wie Hohendahl, von einer Verantwortung der Literaturwissenschaft für die Literaturkritik ausgeht (cf. Peter Uwe Hohendahl, Promotor, Konsumenten und Kritiker, in: R. Grimm/J. Hermand (Hg.), Popularität und Trivialität, Frankfurt/Main 1974, S. 169ff, S. 209). 12 Cf. Hans Robert Jauß, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: H. R. Jauß/E. Köhler (Hg.), Grundriß der romanischen Literatur des Mittelalters, Bd. I: Generalites, Heidelberg 1972, S. 107ff, bes. S. 110. 9
4
ad 2 Der zweite Gesichtspunkt, unter dem die neuen Gegenstandsbereiche betrachtet werden, ist die Frage, ob sie für eines der elektronischen Medien produziert werden oder nicht. Der Problembereich einer Literaturwissenschaft als Medienwissenschaft hat eine Fülle von Gesichtspunkten ergeben. Von Interesse ist dabei zunächst, daß die Auseinandersetzung sich um die Frage gruppiert, ob die Literaturwissenschaft über die wortsprachlichen Produkte hinaus auch audiovisuelle zu ihrem Gegenstandsbereich erklären soll oder nicht. Diese Frage lenkt aber ab von dem zugrundeliegenden prinzipiellen Konflikt: ob nämlich die für ein elektronisches Medium produzierten Produkte überhaupt von einer wie auch immer gearteten literaturwissenschaftlichen Analyse erreicht werden können, ob es sich also bei diesen Produkten noch um Elemente des literarischen Lebens handelt. Die Antwort auf diese Frage wurde und wird zum Teil noch heute mit Verweis auf das Medium, nicht aber über eine Analyse der Produkte formuliert. 13 Dies führte zu einer Dichotomie zwischen literarischen und medialen Produkten, die dann der ersten Dichotomie von hoher und niederer Literatur zugeordnet wurde. Der Trivialitätsverdacht, dem alle medialen Produkte ausgesetzt sind, hat seinen Ursprung in der Medienbezogenheit dieser Produkte. Konsequent wurden dann auch als erstes die Produkte analysiert, an denen sich dieser Verdacht erhärten ließ - die Fernsehserien. 14 Aus der Dichotomie von literarisch und medial läßt sich eine >SubDramaturgie< bzw. eine >Poetik< der audiovisuellen Unterhaltungssendung« als ein »Desiderat« bezeichnet (cf. Helmut Kreuzer, Fernsehen als Gegenstand der Literaturwissenschaft, in: ders., aaO, S. 27ff, S. 36). 14 Cf. v. a. Friedrich Knilli (Hg.), Die Unterhaltung der deutschen Fernsehfamilie. Ideologiekritische Kurzanalysen von Serien, München 1971; Knut Hickethier, Unterhaltung in Fortsetzungen - Fernsehspielserien im Vorabendprogramm. In: P. von Rüden (Hg.), Das Fernsehspiel. Möglichkeiten und Grenzen, München 1975, S. 136ff. Eine Parallele läßt sich im Umgang der Literaturkritik mit Bestsellern feststellen; cf. ζ. B. die Analysen der Rezensionen zu Heinz Habes »Das Netz« von Peter Uwe Hohendahl, aaO. Es ist ein Desiderat der Forschung, in einer >Geschichte derFernsehkritik< der Frage nachzugehen, inwieweit sich hier Parallelen mit der Geschichte der Literaturkritik ermitteln lassen. 15 Helmut Kreuzer, aaO, S. 34. " Claus Beling, Fernsehspiel und epische Vorlage. Probleme der Adaption, dargestellt am Beispiel der Bearbeitung und Realisation von Kafkas »Amerika«. Phil. Diss., Mainz 1976, S. 42.
5
merkmal so gravierend, daß er daraus erhebliche Konsequenzen für die Konzeption eines Fernsehspiels ableitet: »Überspitzt könnte man formulieren: das Fernsehspiel wirkt sofort oder gar nicht. Die Hersteller haben solche Reaktionsunmittelbarkeit von vornherein einzukalkulieren.« 17 Dies ist äußerlich gesehen gewiß richtig, als Prinzip allerdings fragwürdig. Es führt zur >Fetischisierung< eines Faktors, nämlich der einmaligen Ausstrahlung (die mehr ein medienhistorisches als ein medienspezifisches Merkmal ist), wenn Beling, den Bezug zur Literaturverfilmung herstellend, folgert, daß aufgrund der Flüchtigkeit des Fernsehspiels »der literarische Stoff durch den Akt der Transposition jeglicher längerdauernden Wirkung beraubt ist.«18 Daß es bei dem zweiten Einteilungsaspekt nicht primär um die Frage ging, ob die Literaturwissenschaft sich nicht auf wortsprachliche Texte begrenzen müßte, belegt die bis heute nur sporadische Aufmerksamkeit, die Hörfunk-Texte erfahren - Texte, die, gerade was Erzähltheorien betrifft, von hohem analytischen Interesse sind. Auch bei diesem zweiten Einteilungspaar handelt es sich also nicht nur um eine Forschungslücke, was die Untersuchung der Gegenstände betrifft, sondern auch um ein Problem der Forschungsmethode. Dieses Defizit führt in den Arbeiten über sog. mediale Produkte nicht nur dazu, daß diese wiederum auf der Folie der Dichotomie von hoher und niederer Literatur untersucht werden, sondern darüberhinaus zu einer Tendenz zum wissenschaftlichen Universalismus, die die Gefahr des Dilettantismus einschließt. 19 Daß man, wenn man von Fernsehspiel und Literaturverfilmung im Fernsehprogramm redet, auch immer von der medien- und programmpolitischen Gesamtsituation meint reden zu müssen, läßt sich auf zwei Defizite innerhalb der Literaturwissenschaft zurückführen: es ist immer noch fragwürdig, inwieweit die für Medien produzierten Texte einer literaturwissenschaftlichen Analyse zugänglich und für die Literaturwissenschaft selbst für fruchtbar gelten können. Und es ist immer noch dunkel, was es wohl heißt, diese Texte aus der Perspektive der Literaturwissenschaft zu analysieren. Notwendig ist eine Revision des Einteilungskriteriums, das von der Unterscheidung zwischen sog. literarischen und sog. medialen Texten ausgeht und damit ineins von vornherein die medialen als nicht-literarisch bestimmt. Sowohl von der Seite der Autoren wie von der Seite der Rezipienten sind die für Medien produzierten Texte Teil des literarischen Lebens. Notwendig ist also auch hier eine vertikale Betrachtung, statt einer von einem Determinismus des Mediums ausgehenden horizontalen Scheidung. 17
AaO, S. 43. AaO, S. 46. 19 Dieser Vorwurf ist v. a. gegen den von Heinz Ide herausgegebenen Sammelband »Massenmedien und Trivialliteratur« (Projekt Deutschunterreicht 5), Stuttgart 1973, zu richten. Hier werden programmanalytische, programmpolitische und medienpolitische Aussagen heillos vermischt. 18
6
Diese vertikale Betrachtung entlastet zugleich von dem Zwang, der Untersuchung der für Medien produzierten Texte auch immer zugleich eine medien- oder programmpolitische Gesamtschau anzufügen und wäre ein erster Schritt auf dem Wege zu einer Forschungsmethode, die weder einem falschen >Integrationismus< noch einem der literarischen Situation unangemessenen >Exklusivismus< verfällt, ad 3 Der dritte Aspekt, unter dem in der Literaturwissenschaft in jüngerer Zeit Produkte aus dem sogenannten Grenzbereich betrachtet werden, ist die Frage nach dem Prozeß der Produktion. Im Unterschied zu wortsprachlichen literarischen Texten ist die Produktion von Filmen und Fernsehspielen im Regelfall an ein Kollektiv gebunden. Dieses Faktum stellt den herrschenden Schriftsteller- und Autoren-Begriff infrage. Unter kulturpolitischem Aspekt einerseits und unter dem Aspekt, wie der Film als Kunst trotz der fehlenden Individualität im Produktionsprozeß zu legitimieren sei, beherrschte dieser Gesichtspunkt über lange Zeit hinweg die Diskussion. Einen besonderen Stellenwert nimmt hier Astrucs Theorie der »camera-stylo«20 und die deutsche Bewegung zum Autorenfilm ein. Eine Parallele zur Diskussion auf dem Gebiet des Films findet sich beim Fernsehspiel. Von Interesse ist an dieser Stelle die Frage nach der kommunikationstheoretischen Legitimation, die es zuläßt, die Unterscheidung von kollektiver und individueller Produktion zu einem Einteilungskriterium von Texten zu erheben. Außer Frage steht, daß diese Unterscheidung für eine kultursoziologische Betrachtung von hoher Relevanz ist. Gefragt werden muß allerdings, ob die an eine kollektive Produktion gebundenen Texte aufgrund dieses Produktionsprozesses ihre >Literarizität< verlieren und für eine literaturwissenschaftliche Analyse nichts mehr bringen. Sucht man 20
Cf. ζ. B. Alexandre Astruc, Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter (1948). In: Th. Kotulla (Hg.), Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente. Bd. 2:1945 bis heute, München 1964, S. 11 Iff, S. 113f: »Das wichtigste Ereignis der letzten Jahre ist das allmählich sich herausbildende Bewußtsein vom dynamischen, das heißt, signifikanten Charakter des filmischen Bildes... Von heute an ist es möglich, dem Film Werke zu geben, die durch ihre Tiefe und ihre Bedeutung den Romanen von Faulkner, denen von Malraux, den Essays von Sartre oder Camus ebenbürtig sind... Wir haben keineswegs Lust, jedesmal dann, wenn wir den kommerziellen Notwendigkeiten entgehen können, wieder poetische Dokumentarfilme oder surrealistische Filme zu machen. Zwischen dem cinema pur der zwanziger Jahre und dem verfilmten Theater gibt es immerhin noch Raum für einen Film, der neue Horizonte aufreißt. Was natürlich voraussetzt, daß der Szenarist seine Filme selber macht. Besser noch, daß es keine Szenaristen mehr gibt, denn bei einem solchen Film hat die Unterscheidung zwischen Autor (auteur) und Regisseur (realisateur) keinen Sinn mehr. Die Regie (mise-en-scene) ist kein Mittel mehr, eine Szene zu illustrieren oder darzubieten, sondern eine wirkliche Schrift. Der Autor schreibt mit seiner Kamera wie ein Schriftsteller mit seinem Federhalter.« (Unterstreichung vom Verf., I. S.)
7
nach Argumenten, die den Produktionsprozeß als den Text determinierende Komponente begründen, so hält es schwer, solche Argumente zu finden, die nicht in vergleichbarer Weise auch auf wortsprachliche, individuell produzierte literarische Werke zutreffen: auch hier muß man von einer Leserbezogenheit ausgehen, auch hier spielt der Einfluß der Tradition, der Umwelt, der Situation eine Rolle. Interessanter als die Suche nach weiteren Instanzen der Beeinflussung sind zwei, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Faktoren: die Suche nach Argumenten, warum der an ein Kollektiv gebundene Produktionsprozeß im Unterschied zu der technisch gesehen individuellen Produktion wortsprachlicher literarischer Texte die >Literarizität< verhindern soll, führt zu einem Biographismus und zu einer Aufwertung der Frage nach der Autorintention - zu Fragestellungen also, deren relativer Stellenwert für die Analyse literarischer Texte immer wieder betont wird. 21 Funktioniert man die Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Produktion um zu einem Kriterium in einer vertikalen Betrachtung des literarischen Lebens, so erhält es dann eine Bedeutung, wenn man sich der bisher damit verbundenen ästhetisch-wertenden Implikationen enthält. In einer vertikalen Betrachtung literarischer Gegenstände wird die Frage nach den am Produktionsprozeß beteiligten Instanzen dann interessant, wenn man eine differenzierte Analyse des literarischen Lebens vornimmt, in der die Literatur »als Information, als Botschaft aufgefaßt wird, die von einem Sender mittels einer Zeichenfolge an einen Empfänger gerichtet ist, dergestalt daß keines der drei Elemente dieses Kommunikationssystems unbeeinflußt vom Charakter der anderen Elemente gedacht werden kann.« 22 Mit diesem - für eine Gesamtsicht sicherlich kognitiv verkürzenden - Verständnis von Literatur, das eine erste Orientierung gibt und an späterer Stelle der Differenzierung bedarf, wird deutlich, daß der hier verhandelte dritte Gesichtspunkt der Einteilung beibehalten 21
Zwei Vorgehensweisen zeigen, wie unterschiedlich diese Dichotomie behandelt wird: Alfred Estermann, aaO, S. 224 geht von der Prämisse aus, daß »alle großen Kunstwerke... Werke eines einzelnen Schaffenden (sind)«. Er kommt zu dem dann nur konsequenten Ergebnis, daß die »Menge der Filme, gerade die Verfilmungen zumeist,... ihren Autoren so wenig (gehören), daß sie niemandem gehören. Auf diesen Grund läßt sich das Verhältnis des Films zur Literatur zurückführen.« Claus Beling dagegen erhebt die Frage der Intention zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung und zwar - unberührt von allen literaturwissenschaftlichen Bedenken - sowohl für die Vorlage wie für die Bearbeitung; cf. aaO, S. 18: »Eine ganz entscheidende Frage ist, aufgrund welcher Anregungen Amerika zustande kam.« Und er interviewte korrespondierend dazu Drehbuchautor und Regisseur über ihre Intentionen, cf. S. 23: »Besonders das Verhältnis von Drehbuchautor und Regisseur zur literarischen Vorlage i s t . . . von zentraler Bedeutung. Gerade die Kenntnis ihrer individuellen Schwerpunkte im Verständnis des Kafkaschen Werkes könnte entscheidende Einblicke in den Mechanismus der Adaption ermöglichen.« 22 Helmut Kreuzer, Trivialliteratur als Forschungsproblem..., S. 23.
8
werden kann und muß, wenn die Prämissen dieses Einteilungskriteriums revidiert sind. Die Voraussetzung, unter der dieses Kriterium angeführt werden kann, muß eine kommunikationstheoretische Analyse des literarischen Lebens und nicht eine dichotomische Aufteilung der Literatur sein, ad 4 Der vierte Gesichtspunkt, die Frage nach der massenhaften oder individuellen Rezeption, die die Texte verlangen, wird stets sehr rasch angebunden an anspruchslose und anspruchsvolle Rezeption und damit faktisch in die Dichotomie von Kunst und Nicht-Kunst integriert. Die Unterscheidung zwischen individueller und massenhafter Rezeption hat allerdings mit der Entwicklung des Films und der elektronischen Medien eine qualitativ neue Bedeutung erhalten. Während der Film, um rentabel zu sein, ein großes Publikum erreichen muß, definieren sich die elektronischen Medien Hörfunk und Fernsehen von ihrem Programmauftrag her als Massenmedien. Die Zielsetzung, ein disperses Publikum zu erreichen bzw. der ökonomische Zwang, es erreichen zu müssen, bereitete und bereitet sowohl dem Film wie Hörfunk und Fernsehen immer dann Schwierigkeiten, wenn der Anspruch erhoben wird, >Kunst< zu produzieren. Von Interesse ist an dieser Stelle, daß mit diesem Einteilungskriterium soziologisch bestimmbare Rezipientengruppen als Maßstab für die ästhetische Qualität eines Textes definiert werden. Damit wird offensichtlich, daß die Annahme einer objektiven Dichotomie von Kunst und NichtKunst ihr Fundament in der politischen Unterscheidung zwischen Elite und Masse hat. Diesen Konnex benannte Baläzs in seinen »Ideologischein) Bemerkungen« zum Film 1930: »Doch schien es bisher ein allgemeines Gesetz zu sein, daß in der Kunst geistiger Wert und Popularität in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen. Für die Bildungsaristokratie galt >unverständlich< als ein Adelsprädikat.« 23 Die Hoffnungen, die etwa Benjamin in den Film setzte, daß nämlich mit dem Film dieser Konnex unterlaufen werden könnte, 24 sind nicht 23
Bela Baläzs, Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, 4. Auflage, Wien 1972, darin abgedruckt: »Ideologische Bemerkungen« aus: »Der Geist des Films« (1930), S. 284ff, S. 285; ähnlich formuliert Peter Uwe Hohendahl, aaO, S. 169, im Blick auf Bestseller: »Was dem Geschmack der Massen gefiel, schied aus dem Kanon der seriösen Dichtung von vornherein aus.«; daß es sich hier nicht um eine >gestrige< Kontroverse handelt, wird deutlich, wenn man sich an Benno von Wieses Plädoyer für die »Idee der Elite« in der Wissenschaft ebenso wie in der Literatur erinnert; cf. Benno von Wiese, Ist die Literaturwissenschaft am Ende?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 10. 1973; auf die kulturund gesellschaftspolitische Komplexität dieses Problems geht Herbert Marcuse ein. Für ihn ist weder das Postulat der Popularisierung noch das Postulat der Elite ein angemessener Standpunkt; cf. Herbert Marcuse, Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik. Ein Essay, München - Wien 1977, S. 29f.
24
Cf. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
9
eingelöst worden. Dies hat nicht zuletzt seinen Grund in einer soziopolitischen Überbewertung des Faktors der massenhaften Rezeption. Im Blick auf das Fernsehspiel und die Literaturverfilmung im Fernsehprogramm ist dieser Konflikt bis heute ein Kernproblem. Er konzentriert sich in den Kategorien »Unterhaltung«, »Trivialität«, »Kunst«. 25 Von Interesse an dieser Stelle ist, daß in dem vierten Gesichtspunkt der Einteilung der Gegenstände das Fundament manifest wird, aus dem sich der erste Gesichtspunkt der Einteilung - die Annahme einer objektiven Dichotomie von Kunst und Nicht-Kunst - ableiten läßt. Die Argumentation, daß die mit diesen vier Einteilungskriterien zu gruppierenden Gegenstände einer Einteilung in literarisch, ästhetisch und nicht-literarisch, nicht-ästhetisch entsprechen und die Schlußfolgerung, daß die auf diesem Wege ermittelten Gegenstände für eine literaturwissenschaftliche Analyse unzugänglich seien, stellt sich jetzt als eine Begründung heraus, die ihren Literatur-Begriff von unaufgedeckten soziologisch-politischen Kategorien her gewinnt und sie dann in eine ästhetische Terminologie transponiert. Das Ergebnis der Skizzierung der Ausgangsfragen verweist erneut auf die Aufteilung der Frage, die am Anfang stand: Literaturverfilmung als Gegenstand der Literaturwissenschaft und Literaturverfilmung als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Hinsichtlich der zweiten Frage zeigt sich, daß der Gegenstand »Literaturverfilmung« in einer Betrachtungsweise, die im Blick auf alle vier Einteilungs-Gesichtspunkte dichotomisch vorgeht, in das Gebiet der literarisch-ästhetisch fragwürdigen Texte fiele. Sie wäre dann für die Literaturwissenschaft ein Thema, die ihren Literaturbegriff um sog. Randgebiete erweitert hätte. Allerdings - und dies ist weitaus wichtiger - zeigt sich an allen vier Punkten, daß die Erweiterung des Literaturbegriffs solange unbefriedigend bleiben muß, solange nicht die methodologische Basis geklärt ist, von der aus sich der erweiterte Literaturbegriff als eine Konsequenz ergibt.26 Diese Grundsatzfrage soll hier zierbarkeit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, S. 7ff, 4. Auflage, Frankfurt/Main 1970, S. 37f: »Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei: nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich.« 25 Diese Kategorien standen bezeichnenderweise im Zentrum der durch die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie »Holocaust« (Januar 1979) ausgelösten Diskussion über dramaturgisch-ästhetische Entwicklungsmöglichkeiten des Fernsehspiels. 26 Diese Feststellung trifft auch Karl Heinz Stahl, wenn er sagt, daß es »über die Erweiterung des Textsortiments hinaus grundlegender Neuerungen« bedarf. Allerdings bleiben seine Ausführungen zu den grundlegenden Neuerungen des Literaturbegriffs zu vage, wenn er sagt, daß »Texte in ihren Bedeutungsfestlegungen als zeichen- und prozeßhafte Objektivationen von Sinnzusammenhängen, als historisch-sozial vermittelte und funktionale Ereignisse dargelegt werden
10
anhand der ersten Frage - Literatuverfilmung als Gegenstand der Literaturwissenschaft - angesprochen werden. Damit wird der Weg eingeschlagen, der oben als der der jüngeren Forschungsgeschichte charakterisiert wurde. Dies ist richtig, was die Reihenfolge der Fragestellungen betrifft. Es ist ein anderer Weg, insofern die Basis, die in den meisten Arbeiten etwa zu sog. Grenzbereichen der Literaturwissenschaft ausgesprochen oder unausgesprochen vorgegeben ist, hier vorerst ganz formal bleibt: der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft, die Literatur, wird mit Kreuzer als »Information, als Botschaft aufgefaßt (wird), die von einem Sender mittels einer Zeichenfolge an einen Empfänger gerichtet ist«.27 Wendet man diese Bestimmung auf die Literaturverfilmung an, so nimmt man, was den Gegenstand betrifft, eine Perspektivierung der Betrachtung vor. Deren Legitimation liegt einerseits in dem Gegenstand selbst, insofern es sich um eine Botschaft, eine Information handelt. Zugleich kann nicht der Anspruch erhoben werden, den Gegenstand in seiner Komplexität zu erfassen. Die Eingrenzung, die mit dieser Perspektivierung vorgenommen wird, bezieht sich auf die Topographie der Wissenschaften. Literaturverfilmung wird eingegrenzt auf ihren Status als Text, der in einem kommunikativen Kontext steht. Die Vorläufigkeit dieser Perspektivierung wird offensichtlich, sobald man die Spezifizierung des Textes als Literaturverfilmung mit der Bestimmung als Information in Einklang zu bringen versucht. Der Terminus Literaturverfilmung enthält nämlich zwei Weisen von Texten: Literatur und Film. Genau dieser Tatbestand und seine terminologische Fixierung als Literaturverfilmung oder filmische Adaption eines literarischen Werkes präjudizierte (und verhinderte gleichzeitig) zum Teil bis heute das Interesse an diesem und das Urteil über diesen Gegenstand. Überprüft man die einschlägigen Lexika nach der Bedeutung des Wortes Literaturverfilmung, so stößt man als erstes darauf - und dies mag als ein Symptom gelten -, daß der Begriff, obwohl die Sache so alt ist wie der Film,28 erst in allerjüngster Zeit Eingang in die Wörterbücher gefunden (müssen).« (Karl Heinz Stahl, Literaturwissenschaft und Medienkunde, in: F. Knilli/K. Hickethier/W. D. Lützen (Hg.), Literatur in den Massenmedien. Demontage von Dichtung?, München - Wien 1976, S. 176ff, S. 180); genau an der Stelle, wo er die relevanten Probleme anspricht, indem er darauf verweist, daß eine »zu schaffende Poetik des Fernsehens... sich ohne Rekurs auf Dichtungstheorie und -kritik nicht entwickeln (läßt)« (aaO, S. 182), weicht er aus mit dem Hinweis, daß das Fernsehen darüberhinaus als Institution betrachtet werden muß: »Die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit des Kommunikationsprozesses wird hierbei in gleicher Weise bedacht wie das Netzwerk intervenierender Variablen einschließlich außermedialer Faktoren von kommunikationsbeeinflussender Bedeutung.« (Ebd.) Diese Tendenz zur allesumgreifenden Analyse ist eines der zentralen Hindernisse in der Entwicklung einer »Poetik« des Fernsehens. 27 28
Helmut Kreuzer, aaO, S. 23. Alfred Estermann, aaO, S. 15 führt als erste Literaturverfilmung eine Verfil11
hat. Unter dem Stichwort »verfilmen« liest man in dem »Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache« von 1976: »etwa, als Film gestalten·, e. Roman, Novelle, Schauspiel, Oper .. .«. 29 Symptomatisch ist an dieser Umschreibung, daß von einem primären Text ausgegangen wird, der dann zu einem sekundären, dem Film führt. Aufschlußreich ist auch die Umschreibung des Wortes »Adaption« im »Duden«: »Umarbeitung eines literarischen Werkes, um es den Bedingtheiten einer anderen Gattung oder eines anderen Kommunikationsmittels anzupassen«.30 In den Kritiken zu Literaturverfilmungen wird dann sehr rasch aus der zeitlichen Folge, in der literarischer Text und Literaturverfilmung stehen, eine hierarchische Aufteilung in ein erstes im Sinne von erstrangiges und ein zweites im Sinne von zweitrangiges Produkt. Literaturverfilmung wird, so gesehen, zur »Kunst aus zweiter Hand«. 31 Wenn gesagt wurde, daß Literaturverfilmung von der Wortbedeutung her zwei Textgefüge umfaßt, so zeigt sich jetzt, daß die Bedeutung des Wortes »Film« als des einen Textgefüges in der geläufigen Bedeutung von »verfilmen« und »Verfilmung« nur noch schwach enthalten ist. Verfilmen ist ein Bearbeitungsprozeß, Adaption ein Anpassungsprozeß, dem die originäre Schöpfung gegenübersteht.32
mung von Goethes » F a u s t « (Louis Lumiere) von 1896 an. Für Gerhard Zaddach fällt diese Zeit ( 1 8 9 5 - 1 9 0 8 ) in die Phase des »vorkünstlerischen Films«. Die erste Produktion der 1908 gegründeten deutschen Mutoskop- und Biographgesellschaft war eine Verfilmung von Teilen der Oper » C a r m e n « (cf. Gerhard Zaddach, Der literarische Film. Ein Beitrag zur Geschichte der Lichtspielkunst. Phil. Diss., Breslau 1929, S. 14). Letztlich ist Rudolf Räch, Literatur und Film. Möglichkeiten und G r e n z e n der Adaption, Köln - Berlin 1964, S. 25, zuzustimmen, wenn er feststellt, daß die » F r a g e nach der ersten A d a p t i o n . . . heute nicht mehr einwandfrei zu beantworten zu sein (scheint).« 29
30
31
32
12
Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, hgg. von R. Klappenbach/W. Steinitz (Akademie der Wissenschaften der D D R ) , Berlin 1976, S. 4044. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 6 Bänden, Bd. 1, Bibliographisches Institut M a n n h e i m - Wien - Zürich, M a n n h e i m 1976, S. 83. So Heinrich Boll in einem Interview zur Verfilmung seines R o m a n s »Gruppenbild mit D a m e « in der Sendung »Apropos F i l m « vom 2 4 . 4 . 1977; in ähnlicher Weise spricht Rudolf Räch, aaO, S. 95, in seiner Analyse von Orson Welles Kafka· Verfilmung ( » D e r Prozeß«) von »Kunst aus zweiter H a n d « ; cf. auch R e n e Clair, V o m S t u m m f i l m zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films, 1 9 2 0 - 1 9 5 0 , M ü n c h e n 1952, S. 109: » D e r T o n f i l m kann seine G r a m m a t i k nur finden, seinen Weg nur machen, wenn man ihn mit Theater und Literatur vollkommen verschont. Sonst wird er Kunst aus zweiter Hand.« D a ß dies nicht nur ein Problem der Literaturverfilmung ist, sondern, zumindest in den Anfangszeiten, den ganzen Film betraf, zeigt Walter B e n j a m i n , wenn er mit der technischen Reproduzierbarkeit in der Kunst die Kategorie » E c h t h e i t « für überholt erklärt (aaO, S. 15). A u f das Problem der Literaturverfilmung angewandt: » D i e kümmerlichste Provinzaufführung des >Faust< hat vor einem Faustfilm jedenfalls dies voraus, daß sie in Idealkonkurrenz zur Weimarer Uraufführung steht.« (aaO, S. 52/Anm. 4).
Von diesen Konnotationen her ist es nur konsequent, daß die Literaturverfilmung weder für die Literaturwissenschaft noch für die Filmwissenschaft von Interesse war. Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft fügt die Literaturverfilmung der Literatur »Leid« zu. 33 Für die Filmwissenschaft ist - pauschal formuliert - Literaturverfilmung nur dann von Interesse, w e n n man die Literatur, die mit dem Film zusammenhängt, vergißt und Literaturverfilmung als Film und als sonst nichts betrachtet. 34
2. A n d r e B a z i n s » P l ä d o y e r f ü r d i e A d a p t i o n « Aus der Reihe der die Literaturverfilmung konfessorisch ablehenden Filmtheoretiker scherte Bazin, Gründer der bis heute führenden Filmzeitschrift »Cahiers du Cinema«, aus mit e i n e m »Plädoyer für die Adaption«. 3 5 Bazins Ausführungen wurden in der >Filmwelt< weitgehend als Provokation übergangen oder als Irrtum abgetan. Eine detaillierte Auseinandersetzung haben sie nicht bewirkt. N a c h wie vor ist Literaturverfilm u n g das aus der Beziehung zwischen Film und Literatur abgeleitete Mißverständnis: ein Bastard. 33
Cf. Fritz Martini, Literatur und Film, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hgg. von K. Kohlschmidt und W. Mohr, 2. Bd., Berlin 1965, S. 103ff, S. 104: »Das Wortkunstwerk erleidet bei der Verfilmung erhebliche Veränderungen.« Es soll nicht bestritten werden, daß das Wortkunstwerk bei der Verfilmung erheblich verändert wird, es soll aber bestritten werden, daß dies etwas mit Leid zu tun hat. Als einer der wenigen, die für die Verfilmung »plädieren«, hat Andre Bazin derlei Äußerungen als »unsinnig« bezeichnet: »Es ist unsinnig, sich über die Verluste zu entrüsten, die literarische Meisterwerke bei der Übertragung auf die Leinwand erleiden, jedenfalls dann, wenn man das im Namen der Literatur tut. Denn die Adaption, wie groß auch immer ihr Annäherungswert an das Original sein mag, kann diesem in den Augen der Minderheit, die es kennt und schätzt, keinen Schaden zufügen...«. (Andre Bazin, Für ein unreines Kino Plädoyer für die Adaption, in: ders., Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 45ff, S. 55). 34 Exemplarisch sei auf Siegfried Kracauers »Theorie des Films« hingewiesen, der in seinem »Zwischenspiel: Film und Roman« die Romane für verfilmbar hält, die seiner Vorstellung von filmisch entsprechen. So begründet er, warum die Verfilmung von Zolas »L'Assomoir« (Rene Clement) trotz der Abweichungen von der Vorlage den Roman gut wiedergibt und zugleich einen guten Film darstellt, damit, daß er dem Roman eine »unverwüstliche(r) filmische(r) Substanz« zuschreibt: »Die wesentlichen Züge der Handlung sowohl wie die Beschreibungen zeitgenössischer Milieus lassen sich leicht in die breite bildliche Kontinuität einweben; und vor allem erweisen sich die Szenen, die Gewalttätigkeit und tierisches Grauen schildern, als echtes Filmmaterial. In diesen Szenen, die ihre volle Eigenkraft zu gewinnen scheinen, wenn sie vom Wort ins Bild umgesetzt werden, übertrifft die Filmversion das Original an Wucht und wohl auch an ästhetischer Gültigkeit.« Die Verfilmbarkeit eines literarischen Werkes und das Urteil über diese Verfilmung sind also eine abhängige Größe dessen, was Kracauer als das Spezifische des Films definiert. (Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1973, S. 318). 35 Andre Bazin, aaO, passim. 13
Die Ausführungen Bazins werden an dieser Stelle aufgegriffen, da sich im Anschluß an sie einige mögliche Fehleinschätzungen über das Interesse an Literaturverfilmungen verhindern lassen. Bazins Plädoyer für die Adaption wäre mißverstanden als Plädoyer für den Film als Adaption und als sonst nichts.36 Wenn er für die Auseinandersetzung mit der Literaturverfilmung plädiert bzw. diese in Angriff nimmt, so folgt daraus nicht, daß er die Literaturverfilmung insgesamt als das positive und zukunftsträchtige Phänomen in der Entwicklung des Films einschätzt. Die erste Folgerung ist lediglich, daß sie ernst genommen zu werden verdient, und zwar mit der Perspektive, daß ihre Analyse die Erkenntnisse über die Beziehung von Film und Literatur weiterzuführen vermag und zugleich einen Baustein in der Erforschung der Interdependenz der Künste liefert. Bazins Plädoyer für die Adaption leitet sich ab aus einer Entwicklung der Literaturverfilmungen. Er unterscheidet zwischen den Adaptionen, die sich allein aus ökonomischen Motiven erklären lassen und die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Films ziehen, und solchen, die sich auf dieses Erklärungsmuster nicht reduzieren lassen.37 Ausgehend von der These, daß der Film in seinen ersten 30 Jahren durch eine Entwicklung der Form bestimmt war, die mit einer Perfektionierung der Technik parallel lief,38 sieht er den Film jetzt in ein Stadium eingetreten, wo er sich um die Entwicklung der Inhalte zu kümmern hat: »Wenn sich der Film heute erfolgreich an den Roman und an das Theater heranwagt, so vor allem deshalb, weil er seiner selbst sicher ist und Herr seiner Mittel, um hinter seinen Gegenstand zurücktreten zu können.« 39 Literaturverfilmung kehrt sich von dieser Betrachtungsweise aus um von einer Notlösung zu einem Phänomen, das eine bestimmte Entwicklungsstufe innerhalb des Films voraussetzt und seine Entwicklung zugleich voranzutreiben vermag.40 36
Cf. aaO, S. 63: »Sicher ist bei im übrigen gleicher Qualität ein Original-Drehbuch der Adaption vorzuziehen. Niemand denkt daran, das zu bestreiten.« 37 Cf. aaO, S. 57. Als Vertreter der zweiten Gruppe führt er v. a. Jean Renoir, Claude Autant-Laura, Robert Bresson an. Befragt man die Verantwortlichen für das Fernsehspiel-Programm, so antworten sie mit einer vergleichbaren Differenzierung: Sie unterscheiden zwischen Literaturverfilmungen, die allein aus programmpragmatischen Motiven entstehen, und solchen, die zum ambitionierten Fernsehspiel-Programm gezählt werden sollen. In die erste Gruppe der Literaturverfilmungen fällt ζ. B. die Verfilmung von Sandra Parettis Unterhaltungsroman »Der Winter, der ein Sommer war« (1976), in die zweite ζ. B. Eric Rohmers Verfilmung von Heinrich von Kleists Novelle »Die Marquise von O . . . « (1976). 38 Cf. aaO, S. 66: »30 Jahre lang war die Geschichte der Filmtechnik (in einem sehr weiten Sinne zu verstehen) nicht von der des Drehbuchs zu unterscheiden. Die großen Regisseure sind vor allem die Erfinder von Formen oder, wenn man so will, Rhetoriker.« 39 AaO, S. 61. 40 Cf. aaO, S. 55: »Ohne also an den Adaptionen Anstoß zu nehmen, sehen wir in ihnen, wenn auch nicht einen bestimmten Beweis, so doch zumindest eine mög-
14
Der zweite Aspekt, unter dem Literaturverfilmung in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Films untersucht werden soll, bezieht sich auf das Problem der Gestaltung von Inhalten. Bazin spricht von der Notwendigkeit für den Film, das Verhältnis von Form und Inhalt umzukehren. 41 Sieht man in der Literaturverfilmung eine besondere Bemühung um Gestaltung qua Neu-Gestaltung eines literarischen Textes als Film, so wird eine geläufige Frage der Forschung umgekehrt: Aus der Frage nach dem Einfluß des Films auf die Literatur, besonders auf den Roman, 42 wird die Frage, »welchen Einfluß die moderne Literatur auf die Filmemacher hat«. 43 Diesem Einfluß nachzugehen, meint allerdings mehr, als die selbstverständlich gewordene Erkenntnis noch einmal zu formulieren, daß der Film sich an vorgegebene literarische Ausdrucksformen - wie das Drama angelehnt habe bzw. aufzuzeigen, wie der Film sich allmählich aus diesem Abhängigkeitsverhältnis befreit habe. Es heißt vielmehr, nach tertia comparationis der Gestaltung von Inhalten in Buch - Literatur und Film zu suchen, um auf diesem Wege die >Instanzen< der Beeinflussung zu erfassen. Der >Stoff< als das Verbindende rückt dann eher an den Rand des Interesses. Ein anderer Aspekt in den Ausführungen Bazins betrifft das Problem der Popularisierung der Literatur durch die Literaturverfilmung. Bazin wehrt dies, häufig als Klage formuliertes Problem nicht ab mit dem Verweis auf die zunehmende Reflektiertheit der Literaturverfilmungen. Eine derartige Argumentation hieße in der Literaturverfilmung eine Konkurrenz oder gar einen Ersatz für den literarischen Text zu sehen. Bazin stellt vielmehr das Problem der Literaturverfilmung als ein Problem der Popularisierung von Literatur in einen kulturgeschichtlichen Kontext: er problematisiert die Entwicklung der Kunst als Ent-Popularisierung. Von dieser Warte aus definiert sich das Verhältnis der Literaturverfilmung zur Literatur durch den Rekurs auf die Gegebenheiten der Rezeption. Literaturverfilmung ist dann weder Ersatz noch Konkurrent der Literatur, sondern sie fügt dieser »eine ganz neue Dimension« hinzu, »die die Künste seit der Renaissance mehr und mehr verloren haben: das Publikum«. 44 liehe Komponente für die fortschrittliche Entwicklung des Films - in sich selbst so beschaffen, daß der Schriftsteller sie schließlich verändern wird.« 41 Cf. aaO, S. 66. 42 Dieses Problem erörtern v. a. französische und amerikanische Untersuchungen, cf. ζ. B. das Themaheft der Zeitschrift »La Revue des Lettres modernes« zu »Cinema et Roman, elements d'appreciation«, Nr. 36-38, Bd. V/1958, hgg. von Micl.el J. Minard; Etienne Fuzellier, Cinema et litterature, Paris 1964; MarieClaire Ropars-Wuilleumier, De la litterature au cinema. Genese d'une ecriture, Paris 1970; Andre Gardiez (ed.), Cinema et litterature. Sonderheft von »Cahiers du 20e siecle«, Nr. 9/1978; John L. Fell, Film and the Narrative Tradition, Oklahoma 1974; Geoffrey Wagner, The Novel and the Cinema, Cranbury - New Jersey 1975; Douglas G. Winston, The Screenplay as Literature, Cranbury - New Jersey und London 1973. 43 Andre Bazin, aaO, S. 52. 44 AaO, S. 67; vergleichbar schätzt Gilbert Cohen-Seat, Film und Philosophie. Ein
15
Die Gefahr dieser Argumentation liegt in ihrem Mißbrauch als schnelle Legitimationshilfe für Literaturverfilmungen. Literaturverfilmung wurde und wird heute noch als »kulturelle Aufgabe« des Films und besonders der Fernsehanstalten erklärt. 45 Zur Pseudo-Begründung wird dieses Argument, w e n n damit schnell und verhältnismäßig preiswert produzierte Film e und Fernsehspiele legitimiert werden. Allerdings kann der Mißbrauch einer Überlegung die Überlegung selbst kaum diskreditieren. Sie soll hier in einigen Thesen zur Frage, welche Funktionsbestimmungen sich für die Literaturverfilmung im Fernsehprogramm ermitteln lassen, angesprochen werden. In e i n e m ersten Zugriff könnte man dann den Boom der Literaturverfilmungen seit 1976 als Reflex auf zweierlei verstehen: auf die zur Programmatik stilisierte Brüchigkeit des epischen Erzählers und auf die Vorstellung von e i n e m Publikum, das der einer Didaktik verpflichteten Erzählweise überdrüssig ist. Verfolgt man diesen Gedankengang hypothetisch einmal weiter, so erweist sich Literaturverfilmung auch als ein Versuch, das P h ä n o m e n des Erzählens zu erhalten trotz des Verlusts an Geschichten. 4 6 W e n n m a n von Literaturverfilmung spricht, muß m a n festlegen, ob m a n das P h ä n o m e n meint, also die - vorläufig formuliert - Tatsache, daß das Textgefüge Literatur und das Textgefüge Film in e i n e m neuen, gewissermaßen dritten Text z u s a m m e n k o m m e n , oder ob man das meint, was unter Literaturverfilmung konnotativ verstanden wird: nämlich die Zurichtung, für viele die >Hinrichtung< eines literarischen Textes zu einem Film. Essai, Gütersloh 1962, S. 108ff, die kulturgeschichtliche Bedeutung des Films ein; cf. auch Rene Clair, aaO, S. 22, der im »populäre(n) Charakter des Films« den Anziehungspunkt sieht: »Die ganze Kunst schien sich in einer Sackgasse zu befinden, wo sie ihre Existenzberechtigung verlor. Der Film war für die Masse. ..«; cf. in jüngster Zeit u. a. Wolfgang Buddecke/Jörg Hienger, Verfilmte Literatur. Probleme der Transformation und Popularisierung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi), Heft 36/1980 (Filmtheorie und Filmanalyse), S. 12ff. 45 Cf. ζ. B. Viktor Sklovskijs Funktionsbestimmung der Literaturverfilmung von 1946: »Verfilmungen sind unerläßlich; sie bringen uns in Berührung mit der alten und großen Kunst der Literatur, sie erweitern unser Denken, unsere Gefühle.« (Viktor Sklovskij, Schriften zum Film, Frankfurt/Main 1966, S. 56); und die Formulierung der Zielsetzung zur NDR-Reihe »Verfilmte Literatur - Große Erzähler reflektieren die Gesellschaft ihrer Zeit« in den Erläuterungen zur Verfilmung von Dostojewskijs Roman »Die Dämonen« (1977): »Ziel der Reihe ist es, einem breiten Publikum unbekannte, in Vergessenheit geratene oder gar aus politischen Gründen unterdrückte Romane zugänglich zu machen.« (»Die Dämonen«: Roman und Fernsehfilm. In: ARD-Fernsehspiel, Oktober-NovemberDezember 1977, S. 178f, S. 178). 46 Cf. ζ. B. Hans W. Geissendörfers Ausführungen anläßlich seiner Verfilmung von Ibsens »Wildente«: »Da ich die Zeit verachte, in der ich lebe (mich zumindest zynisch zu ihr verhalte), so aber nicht leben kann, erfinde oder suche ich Geschichten, die meine Verachtung widerlegen. Heute werden aber wenig Geschichten erzählt, die das ermöglichen.« (Hans W. Geissendörfer, Warum Ibsen?, In: ARD-Fernsehspiel, Juli-August-September 1977, S. 172f, S. 173). 16
Unbestreitbar ist, daß die mit den Kategorien Literaturverfilmung und filmische Adaption verbundene Konnotation der Funktionalisierung, Instrumentalisierung und Verwertung von Literatur ihr Recht hat, blickt man auf die Motive für eine Fülle derartiger Produkte. Die pejorative Konnotation erhält materialreiche Unterstützung: Stoffmangel, Seriosität durch Vorlage und Popularität durch die Attraktivität der Vorlage sind hinreichend analysierte Gründe für Entstehung und Ausdauer dieses Phänomens. 47 Dieser film- und fernseh-politische Aspekt ist eine Seite des Problems. Hier geht es um mehr systematisch-theoretische Aspekte der Literaturverfilmung, die, um die Sache zu erfassen, zumindest unterschieden werden können von den ökonomischen Bedingungen, unter denen die Produkte entstanden sind und entstehen.
3. Literaturverfilmung als Transformation eines Textsystems Wenn man Literaturverfilmung als Information versteht, die mittels einer Zeichenfolge von einem Sender an einen Empfänger gerichtet wird, so muß man sich den doppelten Status des Phänomens Literaturverfilmung vor Augen halten, der durch die wie auch immer geartete Beziehung zu dem, was als literarische Vorlage bezeichnet wird, entsteht. Sie kann als eine Information betrachtet werden, deren Zeichensystem in ein anderes Zeichensystem transformiert wird. Diesem Faktum der Transformation nachzugehen, ist ein Interesse dieser Arbeit. Die Kategorie der Transformation hat dabei weniger die Funktion, die verbrauchte Bezeichnung »Literaturverfilmung« einfach zu ersetzen, sondern sie hat methodologischen Stellenwert. Im Anschluß an Kristevas transformationeile Methode, 48 auf die ich an späterer Stelle eingehe, soll die Kategorie der Transformation den spezifischen produktiven Prozeß, der hier für die Bearbeitung eines literarischen Textes zu einem Film angenommen wird, anzeigen. Damit grenzt sich die Untersuchung von den meisten der bisher vorliegenden Monographien zu dem Thema ab: So unterscheidet sich die Fragestellung ζ. B. von Schmid, deren methodisches Verfahren die content analysis ist, wie Bernard Berelson sie entwickelt hat. Als inhaltsanalytisch gewonnenes Ergebnis nennt Schmid den Zeitfaktor als den eigentlichen Grund für Veränderungen: »Of all limitations which the technology of television imposes, the limitation of time is the most important in determining content changes.« 49 Der äußerliche Rahmen, den Schmid inhaltsanalytisch als Bedingungsfaktor für Veränderungen bei Ver47
Cf. Alfred Estermann, aaO, S. 20ff; Rudolf Räch, aaO, S. 27f; Knut Hickethier, aaO, S. 76. 48 Cf. vor allem Julia Kristeva, Probleme der Text-Strukturierung, in: Tel Quel. Die Demaskierung der bürgerlichen Kulturideologie, München 1971, S. 135ff. 49 Betty Α. P. Schmid, Selected Novels adapted to ninetyminute Television Program, Phil. Diss. 1967, University Microfilms, A n n Arbor, Michigan 1968, S. 270.
17
filmungen ermittelt, befriedigt sie selbst aber nicht vollauf, und so will sie als letztlich gültige Instanz die individuelle Arbeit des Bearbeiters geltend machen: »The individual adapter is a more important factor than is the tyranny of time.« 50 Unterschiedlich geht auch Beling vor, der die »Reduktion« und »Expansion« der Vorlage in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt und nach den fernsehspezifischen Gründen dafür sucht. Reduktion und Expansion beziehen sich dabei auf die Ebene der dargestellten Gegenstände. Begründungszusammenhang können für ihn allein »praxisrelevante(r) Faktoren« sein.51 Beling ist zwar in seiner Kritik an Bergs rein quantifizierendem Verfahren zuzustimmen, unbefriedigend bleibt an seiner Arbeit die >Fetischisierung< medienspezifischer Zwänge. 52 Diese Zwänge sind programmpolitisch und -historisch aufschlußreich, ihr Status wird aber ahistorisch zum Prinzip erhoben, wenn sie als ErklärungsFolie für Literaturverfilmung gelten. Evident wird dieser Mangel vor allem im letzten Teil der Arbeit. Hier greift Beling auf filmanalytische Ansätze von Knilli/Reiss, Kaemmerling und Hickethier zurück und führt auf der Basis dieser Ansätze eine selektive Analyse der Verfilmung von Kafkas »Amerika"«-Roman (Carle/Brynych) durch. Die Ergebnisse dieser Form-Analyse bleiben unverbunden mit den Ergebnissen des ersten Teils der Arbeit, der auf Inhalte ausgerichteten Analyse. Unterschiedlich geht auch Estermann vor, der zwar auch untersuchen will, »was mit den literarischen Werken bei der Übernahme geschieht«, 53 diese Frage aber perspektivisch verengt, wenn er sagt: » . . . die einzelnen Werke werden als unkürzbar angenommen. Kürzung (und Verfilmung muß immer Streichung sein) gilt als Mangel. Es soll nicht die Stellung des Bearbeiters über die des Autors erhoben werden. Nur von einer solchen festen Position aus sind Urteile über Verfilmungen literarischer Werke möglich.« 54 Weniger deutlich als Heinkel, dessen »Hauptanliegen« es ist, »Stellung zu nehmen gegen den Mißbrauch und die ungemäße Behandlung bedeutender literarischer Vorlagen durch die willkürliche >Verarbeitung< im Film«, 55 nimmt Estermann das Ergebnis der Arbeit in der Prämisse vorweg. Mit einer unterschiedlichen Fragestellung geht auch Schauer vor, der von einer >gesicherten< Widerspiegelungstheorie aus die Literaturverfilmung untersucht. Kriterium ist für ihn, ob es sich um einen »realistischen Adaptionsprozeß« handelt oder nicht. 56
Wenn man Literaturverfilmung als Transformation eines Textsystems von einem Zeichensystem in ein anderes bestimmt, so sind darin einige Voraussetzungen enthalten, die hier angemerkt und an späterer Stelle detailliert diskutiert werden müssen. Die erste Voraussetzung betrifft das Verhältnis von Zeichensystem und Text. Die hier vorläufig unterstellte Vermittlerfunktion des Zeichensystems ist - nicht nur im Blick auf literarische Texte, aber im Blick auf diese besonders - höchst problematisch. (Es handelt sich um eine Voraus50
AaO, S. 272. Claus Beling, aaO, S. 64. 52 Cf. aaO, bes. S. 64. 53 Alfred Estermann, aaO, S. 4. 54 AaO, S. 6f. 55 Ernst Heinkel, Epische Literatur im Film. Eine Untersuchung im besonderen Hinblick auf die doppelte Filmfassung von Theodor Fontanes »Effi Briest«, Phil. Diss., München 1957, S. 10. 56 Hermann-Ernst Schauer, Grundprobleme der Adaption literarischer Prosa durch den Spielfilm, Phil. Diss., Berlin 1964, ζ. B. S. 121. 51
18
Setzung, die meine Fragestellung perspektiviert, die aber nicht den Umgang mit Literatur und Film generell determinieren sollte.) Daß die Zeichen eine Vermittlerfunktion im Blick auf eine >Geschichte< haben, ist phänomenologisch ein altbekannter Sachverhalt, der strukturalistisch analysierbar ist. Die Voraussetzung, daß die Zeichen eine Vermittlerfunktion im Blick auf die Geschichte haben, muß, wenn man dies auf verbalsprachlich-literarische und filmische Texte anwendet, in ihrem logischen Stellenwert als Konstrukt, als Hypothese deutlich sein und darf nicht mit semiotischen Realisierungen verwechselt werden.57 Die zweite Voraussetzung, die in einer solchen Bestimmung der Literaturverfilmung enthalten ist, betrifft das Verhältnis von Zeichensystem und Zeichensystem. Diese Voraussetzung ist, blickt man auf die bisherigen Arbeiten zu diesem Thema, gravierender, als es bei der heute gleichfalls inflationär gehandhabten Rede von Zeichensystemen den Anschein haben mag. Nicht die Selbstverständlichkeit, daß es sich bei der Literaturverfilmung um ein im Vergleich zum verbalsprachlich-literarischen Text verändertes Zeichensystem handelt, ist das Entscheidende, sondern daß die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Zeichensysteme, was ihre Funktionen betrifft, die Basis sind, von der aus Literaturverfilmung untersucht werden soll. Es geht also nicht darum, Film- Bilder oder -Sequenzen von einzelnen Wörtern oder Sätzen abzuleiten, nach Korrespondenzen zu suchen, wie dies vor allem in den filmtheoretischen Arbeiten geschieht, die in der Filmsprache etwas dem Konstrukt der langue Vergleichbares ermitteln wollen.58 Angestrebt wird, die semiotisch bedingten Unterschiede, die durch die Transformation entstehen, von den gemeinsamen Funktionen beider Zeichensysteme aus zu entwickeln. In diesem Punkt handelt es sich um eine Fortführung des Ansatzes, den Peters formuliert hat.59 In der Tatsache, daß beide Texte eine Geschichte erzählen und daß beide dieser Geschichte eine Bedeutung geben, liegt nach ihm das Gemeinsame, von dem eine Untersuchung der Literaturverfilmung auszugehen hat.60 Allerdings be57
Diese Verwechslung unterläuft Jean Mitry in seiner Kritik an Bremond, cf. Jean Mitry, Esthetique et Psychologie du cinema, Bd. 2: »Les formes, Paris 1965, S. 379f. Die sich im Anschluß an Bremond, Greimas, Todorov immer weiter entwickelnden Überlegungen zu einer Logik des Narrativen oder zu Problemen des narrativen Code müssen genau angeben, was sie untersuchen wollen: die Narrativität selbst, d. h. die Untersuchung des signifie der Realisation als signifiant, oder Formen der Narration in bestimmten semiotischen Realisierungen; cf. Christian Metz, Semiologie des Films, München 1972, S. 196. 58 Cf. den historischen Abriß von Werner Zurbuch, Die Lingusitik des Films. Dargestellt an Beispielen aus der Filmgeschichte. In: Sprache im technischen Zeitalter, Heft 27/1968, S. 191 ff; mit dem Problem von »langue« und »langage« im Kontext filmsemiotischer Fragen hat sich v. a. Christian Metz, aaO, S. 5Iff, auseinandergesetzt. 59 Cf. Jan Marie Peters, Roman en Film, Groningen 1974. 60 Cf. aaO, S. 8.
19
darf der Ansatz von Peters gewisser Modifikationen und Differenzierungen, da die Kategorien »mimesis« und »informatie«, mit denen er arbeitet, lediglich einen ersten Zugang eröffnen. 6 1 Die Probleme stellen sich genau an dem Punkt, wo Peters endet: daß nämlich »mimesis« und »informatie« gemeinsame Funktionen von Film und Buch-Literatur darstellen, daß aber diese Funktionen in Film und Buch-Literatur in je unterschiedlichen »Semiotisierungsstufen« 62 mit anderen Funktionen verschmelzen. Daraus entsteht das Problem, wie sich die Funktionen jeweils voneinander sondern lassen, ohne daß falsche Korrespondenzen aufgestellt werden, aber so, daß sie gleichwohl tertia comparationis zwischen Buch-Literatur und Literaturverfilmung bleiben. Die dritte Voraussetzung betrifft die Kategorie des Textsystems. Geht man davon aus, daß jeder Text die Realisierung eines Textsystems darstellt und daß dieses System bestimmbar ist, ja, daß man jede Lektüre als wenn auch naive - >Rekonstruktion< des Textsystems verstehen kann, 63 so läßt sich der Vergleich zwischen literarischer Vorlage und Literaturverfilmung als ein Vergleich auf der Ebene der Systeme definieren und nicht als einer auf der Ebene der Realisierungen. Daraus folgt, daß Literaturverfilmung nicht die Transformation des wortsprachlich-literarischen Textes in das Zeichensystem des Films ist, sondern die Transformation des aus dem literarischen Text ermittelten Textsystems. Die Entwicklung des Films ist in entscheidendem Maße bestimmt durch seine Orientierung an literarischen Gattungen, vor allem an Drama und Roman. Dieser Sachverhalt hat zu einer langen und immer noch andauernden Auseinandersetzung darüber geführt, ob der Film mehr dramatisch, mehr episch oder eher eine Mischform aus beidem sei. Ein Teil der Arbeiten zum Problem der Literaturverfilmung führen diese Auseinandersetzung fort, indem sie die Verfilmung und ihre Vorlage mit gattungspoetischen Kategorien vergleichen. 64 Die grundsätzliche Problematik einer der61
Cf. aaO, S. 37ff. Es ist bezeichnend, daß Peters für Buch-Literatur und Film eine analoge Wortbildung benutzt, indem er von »verwoorden« und »verbeeiden« spricht. 62 Cf. Walter A. Koch, Semiotisierungsstufen im Film, in: ders., Varia Semiotica, Hildesheim - New York 1971, S. 507ff und ders., Roman - Film - Poem, in: ders., aaO, S. 507ff. 63 Cf. Christian Metz, Sprache und Film, Frankfurt/Main 1973, bes. S. 99ff. Zur Kritik an Metz' These von der »Rekonstruierbarkeit« des Textsystems s. S. 125ff. 64 Cf. Alfred Estermann, aaO, Kp. 5 »Strukturelle Unterschiede zwischen Literatur und Film und ihre Folgen für Verfilmungen«, S. 369ff; cf. auch Walter Brosche, Vergleichende Dramaturgie von Schauspiel, Hörspiel und Film (mit Berücksichtigung des Fernsehens). Phil. Diss., Wien 1954. Brosche geht vor allem von Petsch, »Wesen und Form des Dramas« und Kutscher, »Grundriß der Theaterwissenschaft« aus; Saad R. Elghazali, Literatur als Fernsehspiel. Veränderungen literarischer Stoffe im Fernsehen. Phil. Diss., Hambrug 1965, der S. 84 expressis verbis von einer Parallelität der Probleme spricht, die bei der »Dramatisierung eines epischen Werkes für das Theater und bei der Dramatisierung einer Vorlage - eines Romans - für das Fernsehen« besteht. Bezugspunkt ist für ihn Wolfgang Kayser, »Das sprachliche Kunstwerk«.
20
artigen Vorgehensweise liegt darin, daß an wortsprachlichen Texten gewonnene Erkenntnisse auf filmische Texte unmittelbar übertragen werden. Die Ergebnisse einer solchen Vorgehensweise sind, was ihren deskriptiven Teil betrifft, in vielen Fällen aufschlußreich. Die Begründung dieser Vorgehensweise bleibt unbefriedigend, solange sie die Gattungsbestimmungen, um sie auf Buch-Literatur und Film anwenden zu können, anthropologisch fundiert. Diese anthropologische Fundierung von Gattungen ist nicht allein aufgrund ihrer mangelnden Historizität fragwürdig, sondern sie bleibt hinter der Erkenntnis der Dialektik von Selbstbewußtsein und Zeichen zurück, indem sie Formen des Selbstbewußtseins und der Weltaneignung als unabhängig von Zeichen voraussetzt. Dieser hier skizzierte Einwand gegen den Rekurs auf eine Gattungstheorie als der Ausgangsbasis zur Untersuchung der Literaturverfilmung muß im Verlauf der Arbeit präzisiert werden, zumal diese Vorgehensweise weitgehend den bisherigen literaturwissenschaftlichen Zugriff zu filmischen Texten repräsentiert.
4. Literaturverfilmung und Filmtheorie Die Arbeiten, die das Problem ohne impliziten oder expliziten Rekurs auf eine Gattungstheorie behandeln, gehen von einer mehr oder weniger präzisen Vorstellung von dem aus, was »Film« sein soll. Ihre Folie ist eine Filmtheorie, so ζ. B. bei Räch die Theorie Kracauers. 65 Für die Analyse der Literaturverfilmung ist dabei der Sachverhalt, daß es sich um eine Literaturverfilmung handelt, methodologisch irrelevant. Die Vorgehensweise, die auf eine Filmtheorie zurückführt, hat gegenüber den Untersuchungen, die von einer Gattungstheorie ausgehen, einen Vorzug: Sie überträgt nicht Kategorien, die an wortsprachlichen Texten gewonnen wurden, auf Filme, sondern arbeitet mit solchen Kategorien, die am Film gewonnen wurden. Der Einwand gegen dieses Verfahren konzentriert sich auf zwei Gesichtspunkte: zum einen auf den normativen Kern der zugrundegelegten Filmtheorien, der in der Annahme einer objektiven Dichotomie von Filmisch und Nicht-Filmisch liegt.66 Das, was »filmisch« ist, wird allein von der Materialität und Technik des Films abgeleitet, ein Verfahren, das Adorno anhand der Analyse der ChaplinFilme und Metz auf der Basis einer Semiotik kritisieren. 67 Zum zweiten 65
66 67
Cf. Rudolf Räch, aaO, bes. S. 36: »Aus dem g e h t . . . hervor, daß die eigentliche Aufgabe des Films darin besteht, physische Wirklichkeit, wie sie sich dem Menschen darbietet, zu enthüllen.« Cf. aaO, S. 89, wo Räch »filmisch« als Gegensatz zu »literarisch« definiert. Cf. Theodor W. Adorno, Filmtransparente, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, 3. Auflage, Frankfurt/Main 1969, S. 79ff, S. 81: »Kenner der spezifischen Filmtechnik verweisen darauf, daß Chaplin über deren Möglichkeiten nicht verfügte oder sie links liegen ließ, zufrieden damit, Sketches, Slapstickszenen oder was immer zu photographieren. Dadurch jedoch wird Chaplins Rang nicht her21
richtet sich der Einwand auf die prinzipielle Prämisse, die d i e s e m Ansatz zugrundeliegt, daß n ä m l i c h eine Literaturverfilmung nicht anders als als F i l m zu untersuchen, daß das F a k t u m der Transformation peripher sei. D e m g e g e n ü b e r soll hier die Hypothese überprüft werden, daß die Methode der A n a l y s e das Faktum der Transformation verarbeiten muß, u m d e m G e g e n s t a n d der Literaturverfilmung gerecht zu werden. 6 8 D i e Filmwissenschaft hat bisher in der Topographie der Wissenschaften k e i n e n der Literaturwissenschaft vergleichbaren etablierten Platz. 6 9 D i e s liegt, historisch betrachtet, an der vergleichsweise kurzen G e s c h i c h t e des Films. Es m u ß aber auch in e i n e m Z u s a m m e n h a n g mit d e m traditionellen Wissenschaftsverständnis g e s e h e n werden: » D i e G e s c h i c h t e des Kinos scheint d e m Forscher zu alltäglich; es ist eigentlich Vivisektion, während sein Steckenpferd die Jagd nach Antiquitäten ist.« 7 0 Einen weiteren G r u n d k a n n m a n in d e m G e g e n s t a n d » F i l m « selbst entdecken. Dabei m u ß allerdings vorweg angemerkt werden, daß es hier u m die theoretisch-analytische Betrachtung des Films geht, nicht u m seine Praxis. D i e s e Fragestellung mag v i e l e n als d e m F i l m u n a n g e m e s s e n erscheinen. Blickt m a n auf abgedrückt, und kaum jemand wird bezweifeln, er sei filmisch... Unmöglich demnach, aus der Filmtechnik als solcher Normen herauszulesen.« Und Christian Metz, aaO, S. 43: ».. .zwar stellt man aus dem Komplex dessen, was zum Film gehört, das Spezifische heraus, aber allein deswegen, weil man sogleich letzteres mit unmittelbar technisch-sensoriellen, nicht-systematischen Kriterien definieren möchte: was zum >cinema< gehört, ist dann das Visuelle, die Bewegung, das Zeigen weiter Räume usw; diese Auffassungen - insbesondere die Definition des cinema durch den optischen oder kinetischen Aspekt - sind bekanntlich recht verbreitet, trotz ihrer Plattheit.« 68 Eine ähnliche Forderung erhebt Andre Malraux, zitiert nach Franz J. Albersmeier, Andre Malraux und der Film, Bern - Frankfurt/Main 1973, S. 71: »Die Adaption ist ein eigenes Genre und kann immer nur mit anderen Adaptionen verglichen werden.« - Am Beispiel der Analysen zur Literaturverfilmung »Le journal d'un eure de Campagne« (Robert Bresson nach Bernanos' »Tagebuch eines Landpfarrers«) wird die Notwendigkeit einer derartigen Forderung deutlich; cf. etwa Andre Bazin, aaO, S. 59, der den Film stringent als Literaturverfilmung untersucht: »Seine (seil. Bressons) Adaption erreicht durch die immer wieder neue bewußte Beachtung des Textes eine nahezu schwindelerregende Werktreue. . . Die Ellipse und Litotes der Schnittechnik Robert Bressons waren die genaue Entsprechung zur Bernanos'schen Übertreibung.«; im Unterschied dazu das Urteil von Douglas G. Winston, aaO, s. 95: »Much of the difficulty that Bresson encountered in making this film - and much of the film's distinction, too - stems from his sincere attempt to be faithful to the novel. However, in doing so Bresson sometimes lost sight of the fact that film is not only a literary but also a multifaceted medium, with words (spoken), visual images and music...«. Für Lars Th. Braaten, Roman og film, Oslo 1972, S. 94, sind genau die Stellen des Films, die Winston als unfilmisch beurteilt, Kriterium, den Film als »>litteraer filmetablierten< Forschung war. 70 Roman Jakobsen, Verfall des Films? (1933), in: Sprache im technischen Zeitalter, Heft 27/1968, S. 185ff, S. 185. 22
die Geschichte der Filmwissenschaft, so fällt ins Auge, daß in den meisten Fällen eine enge Liaison zwischen theoretischer Betrachtung und praktischer Erprobung bestand. Die Theorie stand und steht heute noch weitgehend im Dienst der Entwicklung des Films. Den augenfälligen institutionellen Beleg für diesen Sachverhalt geben die Filmhochschulen als der eigentliche Ort der Filmwissenschaft, in deren Curricula die praktische Filmarbeit einen entscheidenden Bestandteil bildet. Diese grobe Skizzierung setzt sich dem Vorwurf der Vereinfachung aus, zumal wirkungsvolle Filmtheorien wie etwa die von Arnheim, Baläzs oder Kracauer bedingt als Gegenbeispiele angeführt werden können. Sie sind nur bedingt Gegenbeispiele, weil alle diese Filmtheorien eine Fülle von Ratschlägen für die weitere Entwicklung des Films enthalten. Als Gegenbeispiele können sie gelten, insofern sie ihre Vorschläge nicht primär aus der Filmpraxis ableiten, sondern aus einer normativen Vorstellung von Film. Zugleich belegen diese Filmtheorien, betrachtet man ihre Disposition, daß der Konnex von Theorie und Praxis des Films nur einer der Gründe sein kann, warum die Filmwissenschaft in der Topographie der Wissenschaften bisher nicht vergleichbar anderen Disziplinen etabliert ist. Ein entscheidender Grund für diesen Sachverhalt liegt in dem Phänomen Film selbst, insofern ihm von Anbeginn an eine spezifische Mehrdimensionalität eignet und diese auch betont worden ist: »Die Probleme des Films, des Publikums und deren Wechselwirkungen sind gleichermaßen Angelegenheit des Soziologen und des Ästhetikers. Jedoch könnte sich weder der eine noch der andere, selbst wenn er darauf Anspruch erhöbe, ohne weiteres des Filmgeschehens bemächtigen, ohne es zu entfremden. Zwar repräsentieren der Ästhetiker und der Soziologe ziemlich genau die beiden Seiten der Kultur, aber das Filmgeschehen entwickelt sich gerade in einem zweifachen Sinne und in einem Gleichgewicht, das sich keineswegs zu verändern scheint. Diese Dualität ist ohne Vorbild. Weit davon entfernt, sie als nebensächliche Eigentümlichkeit hinzunehmen, hat man allen Anlaß, zu vermuten, daß sie ihrem Objekt eine grundlegende Bedeutung verleiht.« 71 Diese Problemskizze von Cohen-Seat aus dem Jahre 1946 markiert die Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Zuordnung des Films. Cohen-Seat ergänzend, kann man ζ. B. die Psychologie als eine weitere Disziplin anführen, die einen beträchtlichen Beitrag zur Erforschung des Films zu leisten vermag. So nennt Mitry seine umfassende Studie über den Film bezeichnenderweise »Esthetique et Psychologie du Cinema«, und er 71
Gilbert Cohen-Seat, aaO, S. 11. Diese Formulierung hat im Grunde für alle Kulturprodukte, also auch für die Literatur, ihre Berechtigung. Im Unterschied aber zum Film ist die Mehrdimensionalität der Literatur in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik immer, wenn auch historisch je unterschiedlich, reduziert worden.
23
begründet dieses im Titel enthaltene Programm mit den fundamentalen Eigenschaften des Films: »Le cinema prenant ses sources dans la vie et dans le reel immediat il m'a semble necessaire de situer d'abord l'image filmique devant cette realite >objectiveKünsten< zugehörig erweist? Schwierig ist bei einer Antwort nicht allein das Einteilungskriterium, sondern auch der Kunstbegriff. So hat etwa Munro in seiner umfassenden Studie zum Problem der Beziehungen der Künste darauf hingewiesen, »that there is no one correct meaning of >artNaturnachahmung< der Aufklärungspoetik in der Forschung vornehmlich mit den Kategorien der Genieästhetik beurteilt (wird). Bloße Nachahmung der Natur ist danach ein Anspruch, der nur in das Vorfeld wahrer Dichtung gehört, und der Nachahmungsbegriff wird erst dort interessant, wo Ansätze zu seiner Überwindung zu erkennen sind: bei Bodmer und Breitinger etwa, ganz deutlich bei Johann Elias Schlegel.« Diese Forschungsperspektive bildet sicherlich auch einen, nicht den einzigen, Grund für die weitverbreitete Ignoranz der Literaturwissenschaft gegenüber dem Film, die - blickt man auf das Lehrangebot germanistischer Seminare - erst seit ein paar Jahren in Interesse umzuschlagen scheint. 10
Andre Malraux, Psychologie der Kunst: Das imaginäre Museum, Hamburg 1957 (Genf 1947), S. 81. " Andre Malraux, aaO, S. 82. 12 Ebd. 13 Andre Bazin, aaO, S. 52. 14 Roman Jakobson, aaO, S. 186. 33
Kanonisierung eines Phänomens als ästhetisches eine historische Entwicklung voraussetzt.15 Zumindest aus der Perspektive der Literaturkritik ist diese Voraussetzung für den Film bislang nur schwach, für die Literaturverfilmung nahezu gar nicht gegeben.' 6 Der zweite Aspekt betrifft die Klärung der Voraussetzungen, unter denen man dem Film den Status dessen, was als Kunst gilt, zuzuerkennen bereit ist oder nicht. Auf diese Voraussetzungen geht Mitry ein, wenn er feststellt: »Au debut de cet ouvrage, nous avons pose le cinema comme art. C'etait peut-etre confondre le moyen avec la fin et considerer le but qu'il se propose d'atteindre comme devant l'etre necessairement. Mais... se demander si le cinema est un art'c'est comme si Ton demandait: Les mots sont-ils un art? Les couleurs sont-esses un art? Les notes sont-esses un art? C'est la maniere de servir des mots, des couleurs et de notes, qui constitue l'art d'ecrire, l'art de peindre, l'art musical. II en est de meme du cinema: c'est un moyen et quel moyen. !visual arts< and >auditory artsÜberwindung< Staigers in einer phänomenologischen Betrachtung der Gattungen bei Hamburger oder der Kampf gegen die Gattungspoetik, die von der Trias der Gattungen ausgeht, zugunsten einer »Fromenlehre«, 4 5 scheinen auf der Oberfläche die Bedingungen einer Theorie der Bearbeitung zu liefern. Und die literaturwissenschaftlich orientierten Publikationen zu Fragen der Literaturverfilmung nehmen auch derartige Gattungspoetiken als Folie ihrer Untersuchung. Mit dieser Folie ist allerdings das Ergebnis der Arbeiten in der Prämisse vorweggenommen. Konstitutiv für diese Gattungspoetiken ist nämlich - oberhalb aller Differenzen im Detail - die Vorstellung, daß der literarische Text in einer dialektischen Einheit von Form und Inhalt ein abgeschlossenes Ganzes bildet und daß dieses Ganze aufgrund verallgemeinerbarer Merkmale die jeweilige Gattung konstituiert. Die partielle Veränderung ist hier identisch mit der Zerstörung des Werkes. Baläzs hat darauf aufmerksam gemacht, daß gegen den theoretisch als unanfechtbar geltenden Satz von der dialektischen Einheit von Form und Inhalt » j e n e Wahrheit (spricht), daß Shakespeare die Handlung vieler seiner Stücke sehr guten alten italienischen Novellen entnahm, und daß auch die Handlungen der antiken Griechendramen aus den Epen bekannt waren.« 4 6 Baläzs spricht von einer »Verwunderung..., daß die gelehrten Ästhetiker dieses Paradoxon noch nicht zum Gegenstand ihrer Erörterung gemacht haben.« 4 7 Betrachtet man den historischen und philosophischen Hintergrund innerhalb der Ästhetik, so verwundert dies nicht, sondern ist nur konsequent. G e n a u aus dieser konsequenten Entwicklung auszubrechen, ist die Voraussetzung zu einer Theorie der Bearbeitung. Einer der ersten deutschen Literaturkritiker, der einen solchen >Ausbruch< exemplifiziert hat, und zwar in einer eigentümlichen, aber symptomatischen doppelten Frontstellung, war Lessing. Die Fronten, gegen die sich seine Ausführungen in der »Hamburgischen Dramaturgie« und im » L a o k o o n « richten, sind in ihrem 45
46 47
42
Cf. Friedrich Sengle, Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform, Stuttgart 1967; diese Betrachtung ist notwendigerweise äußerst summarisch. I. g. beziehe ich mich auf die systematische Darstellung der einzelnen gattungstheoretischen Ansätze von Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie. Information und Synthese, München 1973. Bela Baläzs, aaO, S. 241. Ebd.
Kern genau die, die man vorfindet, wenn man sich mit dem Phänomen der Literaturverfilmung auseinandersetzt: die Front, die gegen die Unterschiede die Gemeinsamkeiten der Kunstarten ins Feld führt und daraus Normen ableitet, und die Front, die mit dem Kriterium der Originalität die Bearbeitung diskreditiert. In einem gesonderten Kapitel sollen Lessings kunstkritische Ausführungen in Erinnerung gerufen werden. An ihnen wird deutlich, daß ein Teil der mit Literaturverfilmung verbundenen Probleme keine durch sie hervorgerufenen Probleme sind, sondern daß sich hinter ihnen eine lange Tradition verbirgt.
4. Zum Problem einer Gattungstheorie als Folie zur Untersuchung von Literaturverfilmungen Bevor ich in einer Art von Exkurs auf die historische Basis für meine Überlegungen zu einer Theorie der Literaturverfilmung eingehe, soll skizzenhaft der gattungstheoretische Ansatz bei der Untersuchung von Literaturverfilmungen vorgestellt werden. Er repräsentiert weitgehend die literatur- und theaterwissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema im deutschsprachigen Bereich. Von diesen Anmerkungen aus dürfte deutlich werden, inwiefern es zum jetzigen Zeitpunkt der Forschungslage sinnvoll ist, nicht auf diesen gattungstheoretischen Ansätzen aufzubauen, sondern einen Schritt zurück zu tun, von dem aus dann wiederum gattungstheoretische Überlegungen sinnvoll werden können - Überlegungen, die in diesem Zusammenhang allerdings nicht mehr ausgeführt werden. Ich beschränke mich in meinen Anmerkungen auf einige zentrale Gesichtspunkte, die zusammenfassend dargestellt werden, um langwierige Literaturdarstellungen zu vermeiden. Kernpunkt meiner Kritik an den bisher vorliegenden gattungstheoretisch ausgerichteten Arbeiten ist die durchgängige Orientierung dieser Forschungen an solchen Gattungen, die sich innerhalb der wortsprachlichen Literatur herausgebildet haben. Übersehen wird dabei in den meisten Fällen, daß eine solche Orientierung zwar möglich ist, aber auf Vorüberlegungen aufbauen muß, in denen die Differenzen der Materialität geklärt werden. Das vergleichende Verfahren, das von literarischen Gattungen - v. a. erzählender Literatur und Drama - ausgeht und den Film von hier aus bestimmt bzw. von dieser Basis her Gemeinsamkeiten und Veränderungen zwischen literarischer Vorlage und ihrer Verfilmung ermittelt, ist nur dann weiterführend, wenn die Vergleichsebenen exakt bestimmt sind. Ein Mangel der gattungstheoretisch vorgehenden Arbeiten liegt in der zum Teil problematischen Verquickung mehrerer Ebenen, von denen aus verglichen wird. 43
Ich konzentriere mich in m e i n e n A n m e r k u n g e n a u f drei Gesichtspunkte, von denen der erste - Hamburgers Ausführungen zum F i l m als »fiktionaler G a t t u n g « - sicherlich der forschungsgeschichtlich a m meisten wirkungsvolle war.
4.1. K ä t e H a m b u r g e r s B e s t i m m u n g des F i l m s als fiktionale G a t t u n g Historisch gesehen hat der von H a m b u r g e r in ihrer » L o g i k der D i c h t u n g « entwickelte Ansatz für die U n t e r s u c h u n g von Literaturverfilmungen den Vorzug, das P r o b l e m überhaupt a u f einer theoretischen Basis anzusiedeln. H a m b u r g e r überwindet die erste Stufe, in der nach der Adäquatheit des »gedanklichen G e h a l t s des W e r k e s « gefragt wurde, 4 8 o h n e diese Frage anders als mit dem R e k u r s auf subjektive E m p f i n d u n g e n beantworten zu können. Allerdings wird auch bei H a m b u r g e r der erste Ansatz nicht vollk o m m e n überschritten, insofern nach wie vor Literaturverfilmungen mit hierarchisierenden
Formulierungen
an den literarischen Vorlagen
ge-
messen werden - eine Vorgehensweise, auf deren » A m b i v a l e n z « H i c k e thier zurecht hinweist. 4 9 Es kann in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht darum gehen, H a m b u r g e r s A u s f ü h r u n g e n zum F i l m , die nicht abgelöst werden k ö n n e n von ihrer F i k tionstheorie, in aller Ausführlichkeit darzustellen. Es geht m i r lediglich darum, einige Fragen an diesen Ansatz anzusprechen. G e g e n Ende ihres Kapitels zum F i l m gibt H a m b u r g e r eine z u s a m m e n fassende G a t t u n g s - B e s t i m m u n g des F i l m s : » D a s bewegte Bild ist die Ursache dafür, d a ß der F i l m sowohl epische D r a m a t i k wie aber auch dramatisierte Epik ist. D e r F a k t o r des Bewegtseins der filmischen Photographie m a c h t diese zu einer E r z ä h l f u n k t i o n , die auch den Schauspieler weitgehend zu einer epischen Figur macht. D e r F a k t o r des Bildseins der Photographie b e s c h r ä n k t die Menschengestaltung des F i l m s dennoch a u f die dramatische, d. i. dialogische F o r m und beraubt dazu die Schilderung der dinglichen W e l t ihrer ursächlichen Struktur.« 5 0 K r i t e r i u m des Epischen ist die Bewegtheit des Bildes, K r i t e r i u m des D r a m a t i s c h e n die Bildhaftigkeit Karl L. Woelfel, Dramaturgische Wandlungen eines epischen Themas bei Dramatisierung und Verfilmung, dargestellt an Henry James< »Washington Square«, Phil. Diss., Erlangen 1955, S. 10. 49 Knut Hickethier, Robinson und Robinsonaden in den literarischen Medien Nachahmung, Adaption, literarische Verwertung. In: F. Knilli/K. Hickethier/W. D. Lützen (Hg.), Literatur in den Massenmedien. Demontage von Dichtung?, München 1976, S. 61ff, S. 79. 50 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, 2., stark veränderte Auflage, Stuttgart 1968, S. 185; so auch Fritz Martini, aaO, S. 104: »Die generelle Problematik im Verhältnis von F. (seil. Film) und Literaturwerk liegt darin, daß das Drama zum Epischen, die Erzählung zum Dramatischen umstilisiert werden muß, womit jeweils ein Eingriff in die innere Formgesetzlichkeit des Wortwerkes vorgenommen wird, der es unter Umständen selbst entfremdet.«
48
44
und die damit verbundene Rezeptions-Weise. Das Bewegtsein des Bildes macht seine Erzählfunktion aus, der Präsentations- und Rezeptions-Modus das Dramatische. Als Schlußfolgerung kann Hamburger dann formulieren: »Dramatik und Epik verschmelzen im Film zur Sonderform der episierten Dramatik und dramatisierten Epik, beides in einem - eine Verschmelzung, in der auf eigentümliche, aber strukturell-erkenntnistheoretisch begründete Weise jeder der beiden Faktoren zugleich erweitert und begrenzt ist.«51 Das epische Element des Films liegt nach Hamburger in der Erzählfunktion des Bildes; dies führt zur Nähe zwischen Roman (Hamburgers Beispiel für erzählende Literatur) und Film und zur Episierung des Dramas bei seiner Verfilmung. Die Erzählfunktion des Films liegt in seiner Eigenschaft als bewegtes Bild, das heißt in seiner Fähigkeit, Leben darzustellen bzw. zu reproduzieren. Diese Fähigkeit ist das tertium comparationis zwischen Roman und Film. Das Epische ist also nicht - weder im Roman noch im Film - an Sprache gebunden, sondern inhaltlich bestimmt. Als dramatische Struktur hatte Hamburger die »rein dialogische Form des Dramas (verstanden), die die letzte Ursache seiner Aufführbarkeit ist.«52 Bei der Frage, ob ein verfilmter Roman immer noch ein erzählter Roman ist, nennt sie als Grund, warum er in wesentlichen Teilen dramatisiert ist, die Eigenschaft des Filmbildes als Bild. Tertium comparationis zwischen dem dramatischen Element des Films und dem dramatischen Element des Dramas, der Theateraufführung ist der Modus der Rezeption: beides wird wahrgenommen, gesehen, gehört. Die Argumentationslinie, die zur Rede vom epischen Element des Films geführt hat, ist demnach von einer anderen Ebene her gewonnen als die, die zur Rede vom dramatischen Element führt. Zugleich wird die Definition des dramatischen Strukturelements als »rein dialogisch« jetzt zu einer Bestimmung, die allein im Modus der Wahrnehmung verankert ist. Konsequenterweise müßte Hamburger differenzieren und sagen: der Film als bewegtes Bild ist epische Form, der Film als bewegtes Bild wird wie eine dramatische Form wahrgenommen. Diese Differenzierung macht deutlich, daß Hamburgers Definition des Films als episch-dramatische Mischform zwei Ebenen der Argumentation verknüpft, ohne daß deutlich wird, daß sie sie verknüpft oder von welchen Voraussetzungen aus sie sie verknüpft. Im Blick auf Literaturverfilmungen nun kommt bei Hamburger gerade eines der zentralen Probleme zu kurz, wenn sie nur allgemein von einer Erzählfunktion des Bildes ausgeht. Dies ist in der Konsequenz ihrer Fiktionstheorie stringent. Will man aber Literaturverfilmungen und damit den Prozeß der »Verschmelzung« analysieren, so muß man einen Weg 51 52
Käte Hamburger, aaO, S. 185. Käte Hamburger, aaO, S. 180. 45
ermitteln, auf dem das Erzählende und das Dialogische von einer Ebene aus analysiert werden können. Dieser Weg aber wird mit Hamburgers Bestimmung des Films kaum möglich, da die Film-Fiktion von der wortsprachlich-fiktionalen Erzählung und der Film-Dialog vom D r a m a hergeleitet werden. Weiterführen kann hier eher eine Theorie der Narrativität, die das Erzählen als kommunikative Handlung, als Redeform, bestimmt. Von dieser, Film und Literatur als erzählende Kunstarten, gemeinsamen Basis aus lassen sich die Unterschiede ermitteln. 4.2. Die Überwindung von R a u m und Zeit als Gemeinsamkeit zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzählen Als zweiter Gesichtspunkt soll die in gattungstheoretisch ausgerichteten Arbeiten entwickelte These überprüft werden, daß die Überwindung von R a u m und Zeit eine Gemeinsamkeit zwischen wortsprachlicher und filmischer Erzählung herstelle. Diese Nähe, die auf dem äußeren Merkmal beruht, daß das im Film und in der erzählenden Literatur dargestellte Geschehen sich an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten abspielen kann, hat sowohl in der Film- wie in der Fernsehspielgeschichte dazu geführt, daß man der Bearbeitung erzählender Werke den Vorzug gab vor der dramatischer. Die Argumente dafür liegen nicht allein darin, daß sich in der Bearbeitung von Dramen sehr häufig die allein reproduzierende Leistung des Films durchsetzte, sondern in der Annahme, daß die Darstellung von R a u m und Zeit in der erzählenden Literatur der Darstellung von R a u m und Zeit im Film unmittelbar kompatibel sei. Die Gemeinsamkeit zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzählen, die aus der Frage abgeleitet wird, in welcher Weise Zeit und R a u m in einem Handlungsgeschehen organisiert werden können, besteht nur unter der Voraussetzung, daß man von den Techniken, mit denen beide Raum und Zeit organisieren, abstrahiert. Zwar ist es richtig zu sagen, daß der Film - historisch gesehen - Anleihen bei der erzählenden Literatur, v. a. beim Roman, gemacht hat, was die Transformation von Handlungsverläufen in >Geschichten< betrifft, aber man muß zugleich sagen, daß es sich um >transformierte< Anleihen handelt. 53 Ausgehend von den Techniken, mit denen im Film, im Drama und in wortsprachlichen Erzählungen Geschichten erzählt werden, lassen sich Gradunterschiede zwischen den drei Ausdrucksformen ermitteln, die sich aus den unterschiedlichen Transformationsleistungen ableiten: während die Anleihen beim Drama so stark sein können, daß die Transformations53
46
Cf. auch Marie-Claire Ropars-Wuilleumier, aaO, S. 33, die genau auf diesem Punkt insistiert: »Si done il ne parait pas possible d'etablir une comparaison d'ordre linguistique entre litterature et cinema, puisqu'ils ne disposent pas des materiaux comparables, la comparaison peut en revanche s'exercer ä partir du moment ou ces materiaux se trouvent organisees dans un recit.«
leistung in der Reproduktion besteht, setzen die Anleihen bei wortsprachlichen Erzählungen immer eine Transformation in neue Semiose-Zusammenhänge voraus. Genau dieser Unterschied aber läßt es nicht zu, nach Gemeinsamkeiten der Darstellung von Zeit in wortsprachlichen Erzählungen mit der Darstellung von Zeit im Film zu suchen, ohne den >Zwischenschritt< durchzuführen, in dem die Unterschiede der Bedeutungskonstruktion wortsprachlicher und filmischer Erzählung ermittelt werden. In diesem Zwischenschritt wird die an der Oberfläche auffindbare Gemeinsamkeit zwischen beiden Arten des Erzählens, was die Darstellung von Raum und Zeit betrifft, im Blick auf die je unterschiedlichen Techniken relativiert. Möglich ist der wortsprachlichen Erzählung dieser Modus des Erzählens durch die Struktur des sprachlichen Zeichens: das sprachliche Zeichen hat eine Bedeutung, ohne daß der Referent präsent sein muß. Möglich ist dem Film dieser Modus des Erzählens, weil er qua Montage unterschiedliche Zeiten und Räume verbinden kann. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß sich die Bedeutungsträger, die Signifikanten, die angeben, welche Zeit und welcher Raum >überwunden< werden, unterscheiden: beim wortsprachlichen Erzählen resultieren diese aus dem gleichen Semiose-Kontext wie die Signifikanten, die einen Raum und ein Geschehen ausdrücken - alles ist sprachliches Zeichen. Im Film dagegen muß man von unterschiedlichen Semiotisierungsstufen ausgehen: während das Handlungsgeschehen mit dem Code der Analogie von Signifikant und Signifikat dechiffriert werden kann, also mit einem Regelsystem, das Analogien zwischen Gezeigtem und Zeigendem angibt, sind die Indikatoren, die die Richtung, in der Zeit und Raum überwunden werden, in je unterschiedlichen Graden kodifizierte Zeichen. Das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant beruht auf Konvention, d. h. das Verstehen beruht auf der Kenntnis eines Codes der Filmsprache. Das »Es war« einer wortsprachlichen Erzählung hat die gleiche Funktion (was nicht meint: ist Äquivalent) wie die Rückblende im Film. Im Unterschied zum Film fehlt dem Drama als Bühnenaufführung die dem Film eigene Möglichkeit, dem Bühnenraum selbst eine andere Bedeutung zu geben, als die, die er präsentisch-sichtbar erhält. Diese kurze Skizzierung erlaubt das Fazit, daß die Kategorien »Raum« und »Zeit« die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen wortsprachlicher Erzählung, Film und Drama aufzeigen können im Blick darauf, was dargestellt werden kann. Sie eignen sich nicht, die Unterschiede im Modus des Erzählens zu ermitteln. Bezeichnend für die Diskussion über Literaturverfilmung ist nun, daß der hier angedeutete Zwischenschritt weitgehend übersprungen wird. Exemplarisch steht hier Gesek: »Aber zur Epik fehlt dem Film das >Es warLiteratur-Zeit< (die vorzüglich auf dem Wesen des Wortes beruht) zur >Film-ZeitGattungs-Zeiten< (die durch spezielle Komposition entstehen) ebenfalls zur >Film-ZeitLiteraturZeit< meint also nichts anderes als die Loslösung eines Geschehens vom hic et nunc, das, was Metz die »Irrealisation« nennt. 58 Die Gattungs-Zeiten definieren sich durch die Art und Weise der Loslösung vom hic et nunc. Daß diese Gattungs-Zeiten an Sprache gebunden sind, bleibt bei Estermann eine Behauptung, die nicht weiter begründet wird. Die Ausführungen Estermanns zur »Film-Zeit« schließen sich Überlegungen von Iros und Arnheim an. Untersucht wird, analog zur Untersuchung der Literatur-Zeit, die Zeitbezogenheit im Film im Blick auf Zeitfreiheit und Zeitgebundenheit. Während es in der Untersuchung der Literatur-Zeit lediglich um die Zeit ging, die sich auf die Ebene der dargestellten Gegenstände bezieht, fließen in die Untersuchung über die FilmZeit von Anfang an Aussagen über die Perzeption ein. So formuliert Estermann, teilweise Arnheim zitierend: »Der F i l m . . . ist nicht ganz von der Zeit unabhängig. Innerhalb der einzelnen Filmszenen >bedeutet das Nebeneinander der Einstellungen auch eine zeitliche Aufeinanderfolge^ besteht ein regelmäßiger ZeitablaufLaokoon< »überholt« habe.64 Sieht man einmal ab von der e. g. a choice the protagonist must make between two conflicting goals, values or women.« 63 Cf. Roman Jakobson, aaO, S. 189: »Im heutigen Film kann nach einem Ereignis nur ein nachfolgendes Ereignis gezeigt werden, nicht aber ein vorhergehendes oder gleichzeitiges. Die Rückkehr zur Vergangenheit kann nur als Erinnerung oder Erzählung einer Person erfolgen. Dieser Grundsatz hat eine genaue Analogie in der Poetik H o m e r s . . . Die sich gleichzeitig abspielenden Handlungen werden bei H o m e r . . . entweder als aufeinanderfolgende Ereignisse dargestellt, oder von zwei parallelen Ereignissen wird das eine ausgelassen, wobei eine fühlbare Lücke entsteht, falls dieses Ereignis nicht schon vorher so angedeutet ist, daß wir uns seinen Verlauf leicht zu Ende denken können. Mit diesen Prinzipien der antiken epischen Poetik stimmt erstaunlicherweise die Montage des Tonfilms überein.« 64
Cf. Alfred E. Hartner, Wird Lessings Laokoon durch den Film überholt? Versuch einer ästhetischen Betrachtung mit Beispielen zur Filmdramaturgie und Filmontologie. Phil. Diss., Wien 1951, S. 70: »Es erweist sich erneut die Tatsache widerlegt, daß es der Malerei nicht möglich wäre in die Bereiche der Poesie zu finden. Allerdings handelt es sich um die Malerei des F i l m s . . . « . 51
ΜißVerständlichkeit in der Formulierung - nicht Lessings Ausführungen werden überholt, sondern seine Fragestellungen müssen mit dem Entstehen des Films erweitert werden - so ist Hartner in dem Punkt zuzustimmen, daß der Film eine Synthese bildet, bestimmt man die Malerei als die Kunst des Raumes und die Dichtung als die Kunst der zeitlichen Sukzession. Allerdings führen derart pauschale Vorstellungen nicht sehr viel weiter. Wichtiger als die unumstrittene, weil sichtbare und unmittelbar einleuchtende Erkenntnis, daß der Film eine Aussageform ist, in der Raum und Zeit synchron perzipiert werden, sind die Überlegungen, welche differentia specifica und welche Gemeinsamkeiten mit den bisher bestehenden literarischen Formen daraus abgeleitet werden können. Ich greife, wiederum exemplarisch, Estermanns Überlegungen auf, der in der für Literaturwissenschaftler signifikanten Weise dem Problem nachgegangen ist, indem er auf Ausführungen zum Raum-Problem in gattungspoetischen Untersuchungen (Staiger und Seidler) rekurriert. Von den literarischen Gattungen ausgehend, stellt er fest: »Mischen sich in einem Werk die drei Ideen, so stiftet das Lyrische die Raum-Freiheit, das Epische die Raum-Beherrschung und -Mischung, das Dramatische die RaumKonzentration.« 65 Ausgangsfrage ist hier, in welcher Weise ein Geschehen an einen Raum gebunden ist. Es ist damit noch nichts darüber ausgesagt, wie Raum in den Ausdrucksformen, wo er vorhanden ist, entsteht. Mit dieser Frage setzt Estermann ein, wenn er »Raum« im Film untersucht. Qua Kamera-Einstellung und Montage, so Estermann, wird filmischer Raum gestaltet und ist im Film Raum-Vielfalt möglich. 66 Das Stichwort der Raum-Vielfalt gibt den Bezug zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzählen: »Filmische Raumgestaltung entspricht darum insgesamt, wiederum zunächst für sich betrachtet, der Raum-Gestaltung des E p i schem. Die mögliche Raumvielfalt wie auch die Raumbeschränkung im Kleinen verweisen darauf ebenso wie das Erlebtwerden solcher Raumgestaltung als >Raumgefühlgefühlt< wird. Von einem gemeinsamen Merkmal zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzählen, das sich auf die dargestellte Geschichte und ihre Beziehung zum Raum bezieht, wird eine Gemeinsamkeit der Gestaltung und des Erlebtwerdens gefolgert. Diesen Sachverhalt gilt es bei der Anwendung der allgemeinen Ergebnisse auf die Verfilmung zu bedenken: »Die Literatur kennt eine dreifache Raumgestaltung, der Film vorzüglich eine solche, die - in Analogie - >episch< zu nennen ist. Da sie durch die >Zeiträumlichkeit< 65 66 67
52
Alfred Estermann, aaO, S. 393. Cf. aaO, S. 394f. AaO, S. 396.
eng mit der Gestaltung der Zeit zusammenhängt, steht sie wiederum in der Mitte zwischen Epik und Dramatik. Epische Raumgestaltung wird daher dramatisiert.« 68 In dieser Formulierung werden Verknüpfungen von Merkmalen vorgenommen, die von unterschiedlichen Fragen aus gewonnen wurden: 1. Die Eingrenzung des Films auf eine Raumgestaltung im Unterschied zur erzählenden Buch-Literatur erhält lediglich als historische Aussage eine gewisse Berechtigung. 2. Geht man von der Funktion des Raumes im Film aus, so sind zahlreiche Möglichkeiten denkbar und vorhanden. Die Funktion des Raumes, bei einer Großaufnahme etwa, ist eine >Nullgenau< in seiner Raum-Übermittlung, dies aber nur in bezug auf den Kontext. Im Vergleich zum optisch fixierten Filmbild ist es wesentlich >ungenauinkarniertverräumlichtinkarniertverräumlichtZusammenspiel< zwischen Kunstwerk und Rezipient unter dem Aspekt, ob das Verstehen eines Werkes an das Verstehen eines Raumes, einer Zeit oder eines Raumes und einer Zeit gebunden ist. Vergleicht man nun diese Fragestellung mit der Lessings, so erweist sich, daß die Ergänzung um das Kriterium der Kommunikation implizit bei Lessing vorgezeichnet ist: auch bei ihm ist die Frage ausschlaggebend, unter welchen Bedingungen ein Kunstwerk verstanden wird, und die Bedingungen des Verstehens werden mit den materiellen Bedingungen des Werkes vermittelt. Mit den von Kowzan aufgestellten Kriterien zur Klassifizierung der Kunstarten verläuft die Trennungslinie zwischen erzählender Buch-Literatur auf der einen und Drama und Film auf der anderen Seite. Diese Einteilung ist stringent unter den von Kowzan angegebenen Kriterien. Sie hat den Vorzug, daß sie die Kategorien »Raum« und »Zeit« in der Weise 71
Cf. Tadeusz Kowzan, aaO. Cf. aaO, S. 18. 73 AaO, S. 23. 72
54
definitorisch eingrenzt, daß die Frage nach möglichen Beziehungen und darüberhinaus die Zuordnung des Films als Kunstart zu kanonisierten literarischen Gattungen nicht unmittelbar über die Kategorie »Raum« und »Zeit« vorgenommen werden kann. Kowzan verläßt bezeichnenderweise den Fragehorizont, der im Bereich der Klassifizierung der Kunstarten liegt, wenn er eine Analyse des Dramas als Bühnenaufführung vornimmt. Hier geht er von der Frage aus, welche unterschiedlichen Zeichensysteme das Drama konstituieren. 74 Allerdings versucht er dann nicht mehr die Rückbindung dieser semiotischen Analyse an die Ausgangsfrage nach den Kriterien zur Einteilung der Kunstarten. Wenn man diesen Schritt durchführt, dann werden Beziehungen zwischen Kunstarten auch im Blick auf die Frage von »Raum« und »Zeit« auf einem Niveau sichtbar, das weder den Rückzug in Wesensaussagen beinhaltet, noch der Gefahr der Vermischung von Aussagen über die dargestellte Zeit mit Aussagen über die Wahrnehmung von Zeit ausgesetzt ist. Die Frage lautet dann, welche unterschiedlichen oder auch gemeinsamen Kodifizierungen stattfinden müssen, um Raum und Zeit im Film und in der erzählenden Buch-Literatur begreifbar zu machen - eine Fragestellung, die Lessing vor-formuliert hatte, die aber in den Arbeiten über Literaturverfilmungen weitgehend verschüttet wurde.
74
Cf. aaO, S. 182ff. 55
2. Teil Lessings Kunstkritik und das Problem der Bearbeitung
In diesen Ausführungen geht es nicht darum, eine aktualisierende »Laokoon«-Interpretation und -Kritik zu liefern. Die Absicht des Kapitels und das Interesse an Lessing ist ein doppeltes. Auf der einen Seite geht es um ein historisches Interesse an Lessings Kunstkritik als einem historischen Ansatz zu einer Theorie der Bearbeitung, auf der anderen Seite um das Interesse an Lessings Verfahren der Kunstkritik als einem Modell einer Theorie der Bearbeitung. Die Bedingungen, unter denen eine Theorie der Bearbeitung nur möglich ist, werden - so die These - in Lessings Verfahren, die Unterschiede zwischen Malerei und Dichtung zu ermitteln, und in seinen gattungspoetischen Ausführungen entwickelt. Gerade seine modellhafte Betrachtung der Homerischen Epen im »Laokoon«, das also, was mit dem Erscheinen der Schrift heftig kritisiert wurde, vermag den Weg aufzuzeigen, den man bei dem Versuch, Ansätze zu einer Theorie der Bearbeitung zu finden, einschlagen muß. Lessings Kritik an den französischen Klassizisten und sein Ziel, eine deutsche Nationalliteratur zu entwickeln, weisen paradigmatisch auf den Konnex hin, der zwischen der ästhetischen Reflexion und der kulturellen Situation hergestellt werden muß, und das gerade auch bei Produkten, die der ästhetischen Reflexion kaum für Wert befunden werden. Lessings Kunstkritik markiert den archimedischen Punkt in einer Theorie der Bearbeitung, die nicht ihr Ergebnis in ihrer Prämisse versteckt, indem sie von der Voraussetzung der Originalität des Sprachkunstwerks her Bearbeitung als Reduktion bestimmt. Zentrale Aspekte in Lessings kunsttheoretischen Schriften - dem »Laokoon«, den »Abhandlungen über die Fabel« und der »Hamburgischen Dramaturgie« - sind seine Unterscheidung der Kunstarten Malerei und Dichtung, sein Handlungsbegriff als Differenzierungskriterium der Kunstarten und -gattungen und seine Differenzierung von Bearbeitungen mit den Kategorien »Nachahmung«, »Kopie« und »Original«. Alle diese Aspekte sind in einer Fülle von Publikationen innerhalb der Lessing-Forschung interpretiert, historisch situiert und kritisiert worden. Die in diesem Zusammenhang gestellte Frage nach Lessing als einem Theoretiker der Bearbeitung ist dabei - wenn überhaupt auf dieses Problem eingegangen wird - ein peripherer Gesichtspunkt. 57
1. Das »Laokoon«-Problem als Teil des Problems der Bearbeitung Die Frage, welche Unterschiede zwischen Malerei und Poesie auszumachen sind, das Hauptthema im >Laokoonüberholthistorisch< diskreditiert werden. Wie notwendig es gerade im Blick auf Lessing ist, sich der ästhetischen Tradition, in der man selbst als Lessing-Leser steht, bewußt zu sein, hebt Hans Mayer hervor, wenn er den ästhetisch-wissenschaftlichen Fehlinterpretationen und ihren Quellen nachgeht. Einen entscheidenden Stellenwert nimmt hier der berühmte Aufsatz von Friedrich Schlegel »Über Lessing« ein, dessen Zielsetzung Mayer darin sieht, Lessing »aus der Geschichte der deutschen Poesie und Kritik (>wegzuhebenLaokoon< und ihre Analyse nach der modernen Semiotik, Phil. Diss., Stuttgart 1975, Lessings Ausführungen »mit den Mitteln der modernen, auf Peirce aufbauenden Semiotik« als zeichen- und informationstheoretische Differenzierungen zwischen den Kunstarten Dichtung und Malerei; cf. ζ. B. S. 8: »Wie der Untertitel des Werkes (seil. >LaokoonNachahmung der Natur< die >Rückkehr zur Natur< fordert.« (aaO, S. 63). 10 Armand Nivelles Selbstverständlichkeit, mit der er von der Einheit von Form und Inhalt spricht, ist repräsentativ: »Es gehört heute zum guten Ton, die Unterscheidung von Form und Inhalt als unkünstlerisch zu verwerfen, um die von Hegel behauptete Identität als >Stimmigkeit< des Kunstwerks, als seinen >Stil< zu bestimmen.« Gegenüber dieser simplifizierenden Auffassung sieht Szondi mit den Begriffen »eine in jedem Kunstwerk tatsächlich gegebene Gegensatzspannung erfaßt..., eine Dualität, die sich mit der geforderten Identität von Form und Inhalt, also mit der Einheit des Kunstwerks, sehr wohl vereinen läßt.« (Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I..., S. 301 f). 60
Wenn hier das Bearbeitungs-Problem als Teil des »Laokoon«-Problems behandelt werden soll, so handelt es sich um den Versuch, den Zugang zum Problem über Lessing zu finden, der in seiner Kunstkritik sowohl traditionsbewußt als auch traditionsüberschreitend vorgeht" - eine Methode, die von ihrem Inhalt nicht zu trennen ist und die als Modell für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Problemen der Bearbeitung stehen könnte. An zwei Voraussetzungen ist dieses Unterfangen gebunden: an ein historisch bewußtes Vorverständnis gegenüber Lessing und an eine historische Distanz seinen Ausführungen gegenüber in substantieller Hinsicht.
2. Zum Problem der Regelfindung in einer Theorie der Bearbeitung: der »Laokoon« als Beispiel Lessings Interesse zielt darauf, die Kunst - und vor allem die Poesie - von Auflagen, Regeln zu befreien, die auf der Grundlage sachfremder Voraussetzungen und Orientierungsschemata aufgestellt wurden. Aus der Gemeinsamkeit zwischen Malerei und Poesie, nachahmende Künste zu sein, wurde in der Poetik die Schlußfolgerung gezogen, daß man sich um ihre Differenzen nicht zu bemühen brauche. Darüberhinaus wurde aus der gemeinsamen Funktionsbestimmung der Künste abgeleitet, daß auch die dargestellten Gegenstände gleich sein könnten. Diese Konsequenz findet ihren Ausdruck in der »Schilderungssucht der Poesie« und in der »Allegoristerei der bildenden Kunst«. 12 Lessings Absicht läßt sich verkürzt als die bestimmen, sowohl die Schilderung in der Poesie als auch die Allegorie in der Malerei als ein der jeweiligen Kunstart zuwiderlaufendes Medium der Darstellung zu erweisen. 13 Das Pradigma, an dem er die Unterschiede 11
Cf. Hans Mayer, aaO, S. 13; auch Walter Jens, Lessing und die Antike, in: ders., Zur Antike, München 1978, S. 102: »Gleich weit entfernt von Musealität auf der einen und anmaßender Traditions-Leugnung auf der anderen Seite war Lessing darauf bedacht, die Antike von den Interessen seiner Zeit aus: den Intentionen einer sich langsam emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaft - parteilich also! mit neuem und frischem Blick anzuschauen... mit den Augen eines Mannes, für den die Griechen und die Römer in der literarischen Auseinandersetzung mit den Diktaten des Feudalismus den Rang von Nothelfern hatten.« 12 Zur Tradition dieses Problems cf. aus der Fülle der Literatur die aus jüngerer Zeit stammende Darstellung von Hans Christoph Buch, aaO, S. 28ff, der zugleich eine Reihe von Hinweisen auf die Lessing-Forschung gibt. 13 Daß Lessing mit diesem Vorhaben u. a. von Diderots »Lettre sur les sourds et les muets« (1751) in entscheidendem Maße beeinflußt war (er hat die Schrift zum Teil selbst übersetzt), ist allgemein bekannt. Daß hier nicht auf Diderot näher eingegangen wird, findet seine Erklärung in dem Stellenwert des Kapitels in der Arbeit. Nicht in dem Maße, wie es eine vollständige Darstellung von Lessings Schrift verlangte, wird zudem auf die »zweite Intention« des »Laokoon«, die Ingrid Kreuzer nennt, eingegangen, nämlich auf die »Begründung des Primats der Dichtkunst vor der Plastik« (aaO, S. 219).
61
zwischen Malerei und Poesie als Vorbedingung seiner speziellen Absicht ermittelt, ist - verallgemeinernd - die Bearbeitung von Dichtung für die Malerei am Beispiel der Laokoon-Gruppe, des »Philoktet« von Sophokles und Vergils Erzählung der Laokoon-Begebenheit im 2. Buch des »Aeneis«.14 Die Ursache der Probleme, mit denen er sich befaßt, sieht Lessing nicht zuletzt in einer mißverständlichen Sprachregelung, die mit den Kategorien »Gemälde« und »malerisch« gegeben ist. »Es giebt mahlbare und unmahlbare Facta, und der Geschieht Schreiber kann die mahlbarsten eben so unmahlerisch erzehlen, als der Dichter die unmahlbarsten mahlerisch darzustellen vermögend ist. Man läßt sich bloß von der Zweydeutigkeit des Wortes verführen, wenn man die Sache anders nimt. Ein poetisches Gemählde ist nicht nothwendig das, was in ein materielles Gemähide zu verwandeln ist; sondern jeder Zug, jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich macht, daß wir uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte, heißt mahlerisch, heißt ein Gemähide, weil es uns dem Grade der Illusion näherbringt, dessen das materielle Gemähide besonders fähig ist, und der sich von dem materiellen Gemähide am ersten und leichtesten abstrahiren lassen.«15 Das Problem hat seinen Ursprung in der doppelten Bedeutung der Begriffe »malerisch« und »Gemälde«. Sie bezeichnen einerseits einen ästhetischen Sachverhalt: die Qualifikation einer Dichtung als »malerisch« ist ein ästhetisches Urteil. Zugleich bezeichnet »malerisch« eine adjektivische Bestimmung der Kunstart der Malerei, indem es als Differenzierungskriterium der Kunst nach der Art der Materie fungiert. Eine ebensolche Doppelbedeutung kennzeichnet das Wort »Gemälde«: es meint einmal die materielle Seite der Kunstart, ein anderesmal ein ästhetisches Urteil über ein Kunstwerk. Das Problem besteht dann, daß matt die materielle Bedeutung, die zur Differenzierung von Kunstarten dient, substantialisiert hat zu einem ästhetischen Urteil. »Malerisch« meint nun etwas, das wie in der Malerei geformt ist, und dies wird ineinsgesetzt mit der ästhetischen Qualifikation von Malerei und Poesie. Es wurde übersehen, daß der Bezugspunkt, von dem her der Begriff bestimmt wurde, eine Vermischung von zwei prinzipiell unterschiedlichen Ebenen darstellt: nämlich die der materiellen Bedingungen der Kunstart mit der der ästhetischen Urteils findung. Dagegen verlangt die Regelfindung im Bereich der Kunst, 14
Daß Lessing sich dabei, kunstgeschichtlich gesehen, irrt, ist hinreichend oft dargelegt worden; cf. in neuerer Zeit vor allem die Studie von Margarete Bieber, Laocoon. The Influence of the Group since its Rediscovery, Detroit 1967. 15 Gotthold Ephraim Lessing, L-M IX, S. 91 f; zitiert wird nach der Ausgabe derSchriften Lessings von Karl Lachmann, der 3., aufs neue durchgesehenen und vermehrten Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Bd. 1-22, als Registerband: Bd. 23, Stuttgart (ab Bd. 12 Leipzig) 1886-1924; alle Zitate werden im folgenden im Text belegt als L-M, (Bd.), S . . .
62
daß die Ebenen, von denen die Regeln abgeleitet werden, unterschieden werden, damit nicht - mit dem Ergebnis willkürlicher Regeln - die Regeln, die aus dem unterschiedlichen Material der Kunstarten resultieren, zu einer Kunstarten-übergreifenden ästhetischen Regel verallgemeinert werden. Die Konsequenz, die die Vermischung der Bezugsebenen bei der Regelformulierung hat, zeigt Lessing an der exemplarischen Analyse ausgewählter Textstellen und >Bildvervollständigen< will. " K l a u s R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, S. 115, bezeichnet Lessings Konzeption von Handlung als eine »am Vorbild der pragmatischen Geschichtsschreibung gewonnene«. Diese Feststellung läßt sich verallgemeinern: Lessings Konzeption von Kunst ist insgesamt als eine pragmatisch situierte bestimmbar, wofür sowohl seine kunstkritischen Urteile als auch sein kunstkritisches Verfahren Belege geben. Gestützt wird diese These, wenn Udo Bayer, aaO, ζ. B. S. 8 von einem triadischen Zeichenbegriff bei Lessing ausgeht und darlegt, in welchem Kontext Lessing den Zeichenbegriff erläutert: »Der Begriff des Zeichens wird von Lessing nicht allgemein, also abgelöst vom Zeichenprozeß, in dem die jeweiligen Zeichen auftauchen, geklärt und untersucht, sondern er tritt im Zusammenhang mit der jeweils diskutierten Semiose auf.«
63
ist, wieso der Dichter sich gestalterischer Redundanz bedienen sollte, nur weil er damit die dem Maler zur Vermittlung notwendigen gestalterischen Mittel in sein Werk integrieren kann. Doch erweist sich die Frage nach den Bedingungen von Verständigung als eine nach der Ästhetik der Aussage, wenn er formuliert: »Bedienet sich aber der Dichter dieser mahlerischen Ausstaffirungen, so macht er aus einem höhern Wesen eine Puppe.« (L-M IX, S. 73) Fragt man nach dem Begründungszusammenhang, der die Bedingungen von Verständigung als Bedingungen der Ästhetik einer poetischen und künstlerischen Aussage legitimiert, so muß man auf die Funktionsbestimmung der Kunst als »gefallender Täuschung« zurückgreifen. Eine Bedingung, um diese Funktion zu erfüllen, liegt darin, daß die Mittel der Täuschung dem Material angemessen sind, daß die Gestaltung eine Funktion dieses Prinzips ist. Die Funktion ist nicht einlösbar, wenn die Gestaltung sich verselbständigt, allein noch innerliterarisch/künstlerisch zu erklären ist. Von daher bestimmt Nivelle zu Recht Lessings FormBegriff als einen »funktionellen«. 18 Voraussetzung für die Regelfindung ist die Unabhängigkeit der beiden Kunstarten, was die Darstellungsmittel und -formen betrifft. Die Bezugsebene, mit der sich Regelformulierungen für beide Kunstarten ermitteln lassen, ist die Frage, welche Bedingungen für die Bedeutungskonstitution in Malerei und Poesie für bestimmte Gegenstände bestehen. 19 Als zweites Beispiel soll hier eine Stelle des »Laokoon« aufgegriffen werden, in der die Frage der Bearbeitung von Malerei in Dichtung im Mittelpunkt steht: »Wer sieht aber nicht, daß bey dem Dichter das Einhüllen in Nebel und Nacht weiter nichts, als eine poetischeRedensart für unsichtbar machen, seyn soll? Es hat mich daher jederzeit befremdet, diesen poetischen Ausdruck realisiret, und eine wirkliche Wolke in dem Gemählde angebracht zu finden, hinter welcher der Held, wie hinter einer spanischen Wand, von seinem Feinde verborgen stehet. Das war nicht die Meinung des Dichters. Das heißt aus den Grenzen der Mahlerey heraus18
Armand Nivelle, aaO, S. 8 7 : »Inhalt, F o r m und Zweck sind also funktionell aufeinander abgestimmt.« Allerdings nimmt Nivelle diese Formulierung in dem folgenden Kapitel (»Das Primat der F o r m « ) in nahezu >klassischer< Weise wieder zurück, wenn er apodiktisch formuliert: »Es ist also zulässig, einen Stoff zu entlehnen; es ist verboten, eine F o r m nachzuahmen.« (aaO, S. 9 1 ) Nur läßt sich dieses strikte Verbot schwerlich mit Lessings Ausführungen belegen.
19
Cf. Udo Bayer, aaO, S. 15f, der die Überlegungen Lessings in den Rahmen der modernen Kreationstheorie stellt und von daher Lessings Prozeß der Differenzierung zwischen Malerei und Dichtung beschreibt: »Lessing stößt auf die Angrenzung von bildender Kunst und Dichtung nicht dadurch, daß er, allein unter semiotischem Aspekt, etwa nach den syntaktischen Regeln für die Verknüpfung von Zeichenrepertoires f r a g t . . . Vielmehr beziehen sich seine semiotischen Beobachtungen zur Frage der Distribution eines Repertoires immer auch auf die Darstellung von Welt, von O-Bereichen. Damit wird die Distribution in Beziehung gesetzt zur ontischen Ebene, also dem System - verstanden im Sinn eines Zusammenhangs- oder Extensionsschemas - der Objekte selbst.«
64
gehen; denn diese Wolke ist hier eine wahre Hieroglyphe, ein blosses symbolisches Zeichen, das den befreyten Held nicht sichtbar macht, sondern den Betrachtern zuruft: ihr müßt ihn euch als unsichtbar vorstellen.« (LM IX, S. 85/86) Wiederum wird nach den Bedingungen der Verständigung als Ausgangsfrage der Gestaltung gefragt. Beispiel ist hier eine »poetische Redensart« und die Frage ihrer Bearbeitung für die Malerei. Die unmittelbare Umsetzung einer solchen Redensart in ein Gemälde ist nach Lessing nicht nur ein Mißverständnis der dichterischen Aussage, sondern hat zur Folge eine kunstfremde Didaktik in einem Gemälde. Dieses Urteil wird wirkungsästhetisch begründet. Die unterschiedliche Materialität von Malerei und Poesie verlangt unterschiedliche gestalterische Mittel, soll das gleiche Wirkungs-Ziel erreicht werden.20 Nimmt man den »Laokoon« als Beispiel für die Frage, auf welchem Wege Regeln für die Bearbeitung zu ermitteln sind, so gilt als erstes, daß man sich vorab über die kunsttheoretischen Prämissen einer solchen Theorie verständigen muß. Voraussetzung für Lessing ist stmt Funktionsbestimmung der Kunst, aus der für die jeweiligen Kunstarten und -gattungen das »Präzept der vollkommenen Wirkung« 21 folgt und die Materialität der Kunstart als eine Determinante der ästhetischen Gestaltung. Dabei muß kategorial zwischen beiden Voraussetzungen unterschieden werden, obgleich sie konstitutiv zusammengehören. Die Unterscheidung ist notwendig, um die Ebene, auf der die Regelformulierung fundiert ist, im Auge zu behalten. Damit kann verhindert werden, daß Regeln, die sich für eine Kunstart ableiten lassen, auch als Regeln, die zugleich auch für andere Kunstarten gelten, mißverstanden werden. Nimmt man diese beiden Voraussetzungen als Grundlage der Regelformulierungen, so ergibt sich eine erste allgemeine Regel: Unter der Voraussetzung, daß zwei materiell unterschiedliche Kunstarten eine gemeinsame Funktion haben und daß das Material der Kunst eine Determinante der Gestaltung ist, folgt, daß bei Gleichheit auf der Ebene der dargestellten Gegenstände - bei »einerley Vorwurf« - der Bearbeitungsprozeß sich an der Ästhetik seiner Vorlage orientiert. 22 20 21
22
Cf. auch Udo Bayer, aaO, S. 125 f. So die Überschrift Klaus R. Scherpes, aaO, S. 113, zu seinen Ausführungen zu Lessings Gattungspoetik; cf. auch Ingrid Kreuzer, aaO, S. 223: »Eigentlicher Sinn aller Künste ist für Lessing nicht ihr ästhetisches Sein, sondern ihre Wirkung auf den Rezipierenden.» - Zum Prozeß der Regelformulierung bei Lessing cf. auch David E. Wellbery, aaO, S. 285: »The rule of art generates the aesthetic in general; the rules of signs account for the individual art forms.« und aaO, S. 344: »The arts are generated by the interaction of the rules of art and the rules of signs. The content form ist thus determined by two basic pragmatic interest: a communicative interest (the painting or poem must use its signs so as to yield an intelligible message) and an aesthetic interest (the communicated message must have an aesthetic effect).« In diesen Zusammenhang kann dann auch das Problem der Darstellung von Schönheit und Häßlichkeit gestellt werden, cf. dazu Udo Bayer, aaO, S. 71; im
65
Aus dieser allgemeinen Regelformulierung folgt wiederum eine >MetaGenieKünstleroriginales< Genie sein. Der Plagiatsvorwurf wird vor seinem Werk, das entscheidend als Weiterarbeit und Vermittlung überlieferter Stoffe und Formen gedacht war, ebenso sinnlos wie vor den Partituren Bachs und Händeis, die gleichfalls ganz außerhalb heutiger Originalitätsideen liegen.«27 Es geht bei Lessing also auch, entgegen der Annahme von Nivelle, um die Nachahmung einer >FormLaokoon< ist umgekehrt proportional zu ihrem praktischen Informationswert. . . Die Literaturwissenschaft ist Lessing gleichsam in die Falle gegangen: anstatt ein kritisches Verständnis von Lessings Schrift zu erschließen, reagiert sie, sei es zustimmend oder ablehnend, auf den normativen Anspruch von Lessings Ästhetik nicht anders als die Zeitgenossen Garve, Herder und Goethe.«
69
zig Jahre später lebet; und daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüths nicht auch unendliche Benennungen hat.« ( L M IX, S. 270/271) Wenn schon in Fällen, wo lediglich der Name gleich ist, der Verdacht des Kopierens auf einen Autor fällt, um wieviel mehr entsteht dieser, wo es um die künstlerische Nachahmung einer Vorlage geht. Lessing selbst spielt nahezu mit den vorurteilsbeladenen Kategorien, wenn er anläßlich des Trauerspiels »Merope« von Voltaire zu Beginn des 37. Stücks schreibt: »Ich habe gesagt, daß Voltairens Merope durch die Merope des Maffei veranlasset worden. Aber veranlasset, sagt wohl zu wenig: denn jene ist ganz aus dieser entstanden. Fabel und Plan und Sitten gehören dem Maffei; Voltaire würde ohne ihn gar keine, oder doch sicherlich eine ganz andere Merope geschrieben haben. Also, um die Copie des Franzosen richtig zu beurtheilen, müssen wir zuvörderst das Original des Italieners kennen lernen; und um das poetische Verdienst des letztern gehörig zu schätzen, müssen wir vor allen Dingen einen Blick auf die historischen Facta werfen, auf die er seine Fabel gegründet hat.« (L-M IX, S. 337) Lessing richtet Voltaires Stück mit dieser Aufteilung in Original und Kopie. Darüberhinaus ironisiert er Voltaires Postulat an das historische Drama, wenn er das »poetische Verdienst« der Maffeischen Vorlage an den »historischen Facta« ermitteln will, die der Fabel zugrundeliegen. 29 Die Begründung, warum Voltaire für Lessing Maffei lediglich kopiert hat Lessing spricht hier von »nachgeahmt« 3 0 - gibt Lessing schließlich im 50. Stück: »Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Auflösung machen, daß zwey oder mehrere Stücke für ebendieselben Stücke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier für weiter nichts, als für den Uebersetzer und Nachahmer desselben zu erklären.« (L-M IX, S. 396) Originalität entscheidet sich also nicht an der »einerley Geschichte« - im »Laokoon« spricht Lessing von »einerley Vorwurf« 31 sondern daran, ob über die Geschichte hinaus die Art und Weise, wie die Geschichte dargestellt ist, unmittelbar übernommen wird. Wenn es dem Dramatiker um die Geschichte geht, wenn er also ein Geschehnis nachahmen will, so Lessing, wird er zum Nachahmer und bloßen Übersetzer des Dramatikers, der die gleiche Geschichte gestaltet, wenn er auch dessen Art der Gestaltung übernimmt. 3 2 Die Veränderungen, die Voltaire vorgenommen hat, »betreffen«, 29
Zum Problem des historischen Dramas cf. vor allem Lessings Ausführungen zum Unterschied zwischen einem dramatischen Dichter und Geschichtsschreiber im 11. Stück der »Hamburgischen Dramaturgie«; zum Verhältnis von historischer Wahrheit und Erdichtetem im Drama cf. das 31., 32. und 22. Stück; cf. zum Unterschied zwischen Poesie und Historie als Problem des Besonderen und Allgemeinen v. a. das 88. Stück. 30 Lessing verwendet die Termini »Nachahmung« und »Copie« nicht konsequent, Nachahmung wird sowohl im positiven wie im negativen Sinn benutzt. 31 Cf. ζ. B. Lessings Vorrede zum »Laokoon«. 32 Man muß unterscheiden zwischen der Bearbeitung eines fremdsprachigen Dra-
70
so Lessing, »die unerheblichsten Kleinigkeiten die fast alle außer dem Stücke sind, und auf die Oekonomie des Stückes selbst keinen Einfluß haben.« (L-M IX, S. 397) Scheinbar seinen Vorwurf der Kopie einschränkend, de facto ihn aber verstärkend, qualifiziert er diese Veränderungen: »Und doch wollte ich sie (seil, die Veränderungen) Voltairen noch gern als Aeußerungen seines schöpferischen Genies anrechnen, wenn ich nur fände, daß er das, was er ändern zu müssen vermeinte, in allen seinen Folgen zu ändern verstanden hat.« (L-M IX, S. 397) Ein weiteres Beispiel für Lessings Einschätzung der Frage, ob die Anlehnung an eine Vorlage dem künstlerischen Wert eines Werkes Abbruch tut, geben seine Ausführungen zum Trauerspiel »Richard der Dritte« von Christian Felix Weiße. Er nimmt dieses Drama zum Anlaß, um der Frage nachzugehen, inwieweit Shakespeare nachgeahmt werden kann. Zwei Empfehlungen spricht er, an die Dramatiker gerichtet, aus, die sich, oberflächlich betrachtet, zu widersprechen scheinen: »Shakespear will studiert, nicht geplündert seyn. Haben wir Genie, so muß uns Shakespear das seyn, das dem Landschaftsmahler die Camera obscura ist: er setze fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf Eine Fläche projektiret; aber er borge nichts daraus.« (Ι^Μ X, S. 95) und: »Alle, auch die kleinsten Theile beym Shakespear, sind nach den großen Maaßen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen Geschmacks, ungefehr wie ein weitläufiges Frescogemählde gegen ein Migniaturbildchen für einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze ausführen muß? Eben so würden aus einzeln Gedancken beim Shakespear ganze Scenen, und aus einzelnen Scenen ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ermel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ermel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.« (L-M X, S. 95/96) Hatte Lessing in einem ersten Schritt prinzipiell davor gewarnt, bei Shakespeare etwas zu borgen und stattdessen aufgefordert, ihn zu studieren, so scheint hier oberflächlich eine Anleitung gegeben, was man bei Shakespeare >borgen< kann. Überprüft man nun das im Bild abgehandelte Problem, wie mit dem »Geborgtem umgegangen werden soll, so gibt Lessing nichts anderes an, als eine Erläuterung dessen, was er unter »Studieren« versteht. Gleichwohl hat er im Auge, daß ein Dramatiker bei dem von ihm empfohlenen Verfahren den Vorwurf des Kopisten fürchtet: »Thut man aber auch dieses, so mas im Sinne einer Übersetzung und der Bearbeitung eines Werkes in eine andere Gattung oder Kunstart. Daß Lessing allerdings auch in der Übersetzung einen produktiv-künstlerischen Akt sieht, belegen seine zahlreichen Ausführungen zum Problem der Übersetzung in der »Hamburgischen Dramaturgie«; beispielhaft sind seine kritischen Anmerkungen zu den Übersetzungen der Gottschedin; cf. die Stücke 8, 13, 16, 19, 20 der »Hamburgischen Dramaturgie«.
71
kann man wegen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig seyn. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, verrathen den Meister nicht, und wissen, daß ein Goldkorn so künstlich kann getrieben seyn, daß der Werth der Form den Werth der Malerey bey weitem übersteiget.« (L-M X, S. 96) Auch an dieser Stelle kann man das Bemühen Lessings sehen, im Umgang mit >Vorlagen< zu differenzieren. Es geht hier nicht darum, ein Urteil über ein nach Vorlage erstelltes Drama zu begründen, sondern es geht ihm darum, die Orientierung an einer Vorlage eher zu empfehlen, als Originalität um der Originalität willen. Explizit spricht Lessing eine solche Empfehlung dann im 33. Stück aus.33 Daß Lessing derartige Empfehlungen ausspricht, muß im Zusammenhang gesehen werden mit seinem Gestus gegen alles Prinzipienhafte und Doktrinäre in der Kunstkritik. Dieser Gestus macht es möglich, eine Bearbeitung für lehrreicher zu erklären als die starre Orientierung an sanktionierten Regeln. Die Frage der Bearbeitung spielte bisher eine mehr mittelbare Rolle. Explizit wird sie bei Lessing behandelt, wenn es um die Bearbeitung eines literarischen Werkes - einer Fabel, eines Romans - für ein Drama geht. Aus den zahlreichen Beispielen soll Lessings Kritik an dem Drama »Julie« aufgegriffen werden: »Die Hauptzüge der Fabiel und der größte Teil der Situationen, sind aus der Neuen Heloise des Rousseau entlehnet. Ich wünschte, daß Hr. Heufeld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurtheilung diesesRomans in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, gelesen und studiert hätte. Er würde mit einer sicherern Einsicht in die Schönheiten seines Originals gearbeitet haben, und vielleicht in vielen Stücken glücklicher gewesen seyn.« (L-M IX, S. 217) Eine wichtige Voraussetzung wird hier ausgesprochen: Vorbedingung einer »glücklichen« Bearbeitung ist die »Einsicht in die Schönheiten seines Originals«. Lessing erläutert im folgenden den Prozeß der Bearbeitung, indem er die Vorlage auf die Möglichkeit der Dramatisierung hin überprüft. Maßstab ist dabei das gattungspoetische Gerüst des Dramas. Aus diesem folgt etwa, daß der Schluß des Romans nicht der Schluß des Dramas sein kann: »Die Geschichte konnte sich auf der Bühne unmöglich so schliessen, wie 33
72
Cf. L-M IX, S. 322: »Ich rathe allen, die unter uns das Theater aus ähnlichen Erzehlungen (seil, wie die von Marmontel) bereichern wollen, die Favartsche Ausführung mit dem Marmontelschen Urstoffe zusammen zu halten. Wenn sie die Gabe zu abstrahiren haben, so werden ihnen die geringsten Veränderungen, die dieser gelitten, und zum Theil leiden müssen, lehrreich seyn, und ihre Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer b l o ß e n Spekulation wohl unentdeckt geblieben wäre, den noch kein Kritikus zur Regel generalisiret hat, ob er es schon verdiente, und der öfters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stück bringen wird, als alle die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama machen möchten.«
sie sich in dem Romane nicht sowohl schließt, als verlieret. Der Liebhaber der Julie mußte hier glücklich werden, und Hr. Heufeld läßt ihn glücklich werden.« (L-M IX, S. 217) Den Umwandlungsprozeß kritisiert Lessing dann en detail, nicht im Prinzipiellen, wenn er erläutert, daß Julie nicht länger eine Person ist, die interessiert, sondern lediglich noch eine »kleine verliebte Närrin, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schöne Stelle im Rousseau besinnet.« (L-M IX, S. 217) Die Veränderung der Romangestalt, die durch die gattungsspezifischen Gegebenheiten des Dramas notwendig sind, hat der Verfasser zwar gesehen, nach Lessing allerdings nicht mit der notwendigen Konsequenz durchgeführt. Die gleiche Kritik übt Lessing an der Veränderung der Romangestalt St. Preux. Er begründet seine Kritik wiederum mit den Gattungsgesetzen des Dramas. Dabei erweisen sich Lessings Gattungsgesetze als Wirkungsgesetze. 34 »Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute unter einander ertheilen, allen Glauben beymißt. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? Gewiß nicht; ob er sich schon sein Geschäft dadurch sehr leicht machen könnte. Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Thaten sehen. Das Gute, das wir ihnen, bloß auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmöglich für sie interessiren; es läßt uns völlig gleichgültig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine üble Rückwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen.« (L-M IX, S. 219) Was der erzählende Text vermittels der indirekten Charakterisierung einer Person vermag, ist dem Drama, das von seinen Gattungs- und Wirkungsgesetzen her die Unmittelbarkeit der Gestalten verlangt, 35 ihre >AktionLaokoonHaltungen< zu vermitteln sucht, ist die des »Täuschenden«, die als ästhetische und psychologische verstanden werden muß. Von hierher ist es berechtigt, Lessings Verfahren als »dialektisches«41 zu charakterisieren. Seine Kritik an der Schilderungssucht in der Poesie und dem Prozeß der Regelformulierung in seiner Zeit ist im Grunde die Kritik an der Trennung der Position des Liebhabers von der des Kunstrichters. Beispielhaft stehen hier seine Ausführungen zur Schilderung einer Blume in Poesie und Malerei im XVII. Kapitel des »Laokoon«. Sein Interesse gilt der Frage, nach welchen Kriterien der Kunstrichter die Schilderung in 39
Auf die Problematik, daß Lessing nicht zwischen Malerei und Plastik differenziert, ist häufig hingewiesen worden. Paul Rilla, Lessing und sein Zeitalter, München 1959, S. 117, leitet dies aus Lessings Beziehung zur Bildenden Kunst ab, die er als »mittelbare und literarisch vermittelte Beziehung« charakterisiert, die der »anschauenden Unmittelbarkeit eines Winckelmann« entgegensteht. Walter Jens, aaO, S. 110, setzt dies in Beziehung zu Lessings »Verklärung der Handlung als des Grundelements aller Dichtung: »Wirkung durch Handlung, Affekt-Erregung durch Aktion: Kein Wunder, daß sie, dank ihrer Schönheit, den Betrachter hinreißt und entzückt und - die Theorie des fruchtbaren Moments - seine Phantasie evoziert.«
40
Peter Szondi, aaO, S. 44. Cf. Hans Christoph Buch, aaO, S. 34, der dieses Verfahren, indem er auf Moses Mendelssohn verweist, als ein »Allgemeingut der kunsttheoretischen Reflexion der Zeit« bestimmt. Cf. auch David E. Wellbery, aaO, S. 300, der anmerkt, daß »the term >dialectical< is common in Lessing criticism.«
41
75
der Poesie lobt. Die Fehler in der Beurteilung, die er dem Kunstrichter und dem schildernden Dichten vorwirft, leitet er aus dem obersten Prinzip der Kunst ab, das - so seine Kritik - bei beiden hinter dem Lob für das Verfahren des Dichters steht: »Ich höre in jedem Worte den arbeitenden Dichter, aber das Ding selbst bin ich weit entfernet zu sehen.« (L-M IX, S. 104) Für Lessing ist die Arbeit des Dichters, seine Fähigkeit der Gestaltung eine Funktion der allgemeinen Aufgabe der Kunst. Die Gestaltung ist kein Eigenwert in dem Sinne, daß das Gefallen an der Gestaltung in der Kunst überhaupt Qualität ausmacht. Es ist also problematisch, Lessings Unterschiede zwischen Malerei und Dichtung so eindeutig in dem Formbegriff zentriert zu sehen, wie Nivelle dies tut.42 Hier wird vorschnell von einer Einheit von Form und Inhalt als Voraussetzung und Resultat jedes Kunstwerks gesprochen. Die Frage der Bearbeitung ist mit diesem Verständnis von Form und Inhalt leicht zu beantworten. In dem letztlich mechanistischen Begriff von From und Inhalt wird allerdings übersehen, daß Lessing als theoretische Bezugspunkte zur Bestimmung der Unterschiede von Malerei und Poesie Absicht/Wirkung und Form/Inhalt sieht.43 Für ihn sind Form und Inhalt gleichermaßen eine Funktion der allgemeinen Aufgabe der Kunst. Allein von diesem allgemeinen Prinzip der Kunst - der Täuschung - her lassen sich Aussagen über die Beziehung von Form und Inhalt treffen. Lessing begründet sein Urteil, daß das Schildern eines körperlichen Ganzen nach seinen Teilen >unpoetisch< ist, indem er es am obersten Prinzip der Kunst - dem Täuschenden 44 - mißt. Die Ausgangsfrage der Unterscheidung von Malerei und Poesie lautet: Wie unterscheiden sich beide Kunstarten in der Realisierung dieses künstlerischen Prinzips. Es geht hier um eine komparativische Bestimmung in dem Sinne, daß es der Malerei aufgrund ihrer Zeichenstruktur eher, besser möglich ist, das Coexistierende des Körpers darzustellen als der Dichtung. Die prinzipielle Möglichkeit dazu soll der Sprache nicht streitig gemacht werden, lediglich der Poesie als einer »ästhetischen Semiose«. Das, was als poetisch bestimmt werden kann, läßt sich somit aus zwei Kriterien ableiten: aus dem der Täuschung und dem der unter den gegebenen Künsten am meisten materialgerechten Täuschung. Dabei ist deutlich, daß die beiden Kriterien konstitutiv zusammenhängen: denn Täuschung wird erreicht durch die am meisten materialgerechte Darstellung und das, was die 42
Cf. Armand Nivelle, aaO, S. 87ff, bes. S. 89: »Form und Inhalt bedingen sich gegenseitig. Ein gegebenes Thema läßt sich keine beliebige Form aufzwingen, eine gegebene Form paßt nicht zu irgendwelchem Thema.« 43 Cf. auch Udo Bayer, aaO, S. 15. 44 Wenn Hans Christoph Buch, aaO, S. 49 lapidar zum Begriff der Täuschung bemerkt, »man würde heute von Anschaulichkeit sprechen«, so überspringt er eine Fülle von Problemen, die in dem Begriff enthalten sind und übersieht zudem, daß auch sein Vorschlag, den Begriff - modernisierend - durch Anschaulichkeit zu ersetzen wiederum eine eigene ästhetische Tradition hat, die in Baumgartens Begriff der »anschauenden Erkenntnis« begründet liegt.
76
am meisten materialgerechte Darstellung meint, läßt sich nur vom Ziel der Kunst - der Täuschung - her ermitteln. Als ästhetische Kategorie ist das »Täuschende« das Differenzierungsmerkmal zwischen Malerei und Poesie, als psychologische Kategorie das Verbindungsmerkmal. Lessings Kritik an der Übernahme von Gestaltungsformen der Malerei in der Poesie ist die Kritik an dem Fundament, von dem das Schildern in der Poesie abgeleitet wird. Dieses Fundament ist nämlich lediglich im Binnenraum kunstkritischer Überlegungen gebildet, es ist nicht mit Kategorien begründbar, die ästhetisch und psychologisch bedeutsam sind. Die Trennung der beiden für Lessing konstitutiv zusammengehörenden Ebenen führt dann, wie seine Ausführungen zu Dolce zeigen, zu unterschiedlichen Urteilen: »Dolce, in seinem Gespräche von der Mahlerey, läßt den Aretino von den angeführten Stanzen des Ariost ein ausserordentliches Aufheben machen; ich hingegen, wähle sie als ein Exempel eines Gemähides ohne Gemähide. Wir haben beyde Recht. Dolce bewundert darinn die Kenntnisse, welche der Dichter von der körperlichen Schönheit zu haben zeiget; ich aber sehe bloß auf die Wirkung, welche diese Kenntnisse, in Worte ausgedrückt, auf meine Einbildungskraft haben können.« (L-M IX, S. 125) Lessings Zielsetzung, die Vermittlung der ästhetischen und psychologischen Kategorien, verlangt den Primat der Wirkung gegenüber der >innerkünstlerischen< Argumentation. Böckmanns These, daß »sobald das Prinzip des Schönen infrage gezogen wurde. . . Lessings Unterscheidungen zwischen bildender Kunst und Dichtung ihre Bedeutung verlieren«, 45 greift zu kurz, indem sie den ästhetisch-philosophischen Traditionszusammenhang, in dem Lessing und besonders sein Begriff der Schönheit stehen, verabsolutiert, ohne die ästhetisch-psychologischen Differenzierungskriterien zwischen Poesie und Malerei zu bedenken. Ihre Bedeutung verlieren Lessings Ausführungen in prinzipieller Hinsicht dann, wenn sich ästhetische Kategorien gegenüber psychologischen verselbständigen, wenn ihre Vermittlung über die Zielbestimmung der Kunst nicht mehr möglich erscheint.
5. Z u m P r o b l e m d e r D i f f e r e n z i e r u n g d e r K u n s t a r t e n u n d -gattungen Lessing unterscheidet die Kunstarten Malerei und Dichtung, indem er von der Frage ausgeht, wie sie sich in ihrem Material unterscheiden. Dieses in der Tradition vorgegebene Differenzierungskriterium erhält seinen systematischen Stellenwert durch einen zweiten Parameter, der die Unterschiede 45
Paul Böckmann, Das Laokoonproblem und seine Auflösung im neunzehnten Jahrhundert, in: W. Rasch (Hg.), Bildende Kunst und Literatur. Beiträge zum Problem ihrer Wechselbeziehungen im neunzehnten Jahrhundert, Frankfurt/Main 1970, S. 59ff, S. 65. 77
über die Gemeinsamkeiten zu bestimmen vermag: in seinem Postulat der vollkommenen Wirkung, das nicht nur für die Dichtungsgattungen, sondern auch für die Kunstarten gilt. Die vom Material her gegebenen Unterschiede müssen sich jederzeit vermitteln lassen mit dieser kunstartenumgreifenden Bezugsebene. Die Frage nach der Art der Darstellung ist nicht mit den Beschaffenheiten des Materials allein zu beantworten, sondern die Beschaffenheiten des Materials können nur solange strukturbildend für die Art der Darstellung sein, solange sie eine Funktion der vollkommenen Wirkung der Kunstart sind. Das Kriterium, nach dem die Kunstarten differenziert werden, ist die Frage nach dem Material und den Bedingungen, unter denen dieses Material seine vollkommene Wirkung erzielen kann. Zentralen Stellenwert in der Unterscheidung der Kunstarten im »Laokoon« haben die Unterscheidung unter dem Aspekt von Raum und Zeit und die Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen. Zentrale Kategorie zur Unterscheidung der Dichtungsgattungen ist die Kategorie der Handlung. In Lessings Unterscheidung zwischen kollektiven und einfachen Handlungen im »Laokoon« wird sich darüberhinaus zeigen, daß die Kategorie der Handlung auch als Kriterium zur Differenzierung der Kunstarten dient. Der Weg, den Lessing einschlägt, um die Regeln der Kunstarten und Dichtungsgattungen zu ermitteln, führt über die Analyse am praktischen Beispiel zur Formulierung allgemeiner Regeln. Sein Prinzip der Kunstkritik nimmt seinen Ausgang in der Wendung »Exempel mögen mich leiten« (L-M IX, S. 93) und findet seine Begründung in der Unterscheidung zwischen Besonderem und Allgemeinem, wie Lessing sie in der »Fabeltheorie« formuliert: »Das Allgemeine existiret nur in dem Besonderen, und kann nur in dem Besonderen anschauend erkannt werden.« (L-M VII, S. 43) Seine Beobachtungen müssen an ihrer Zielsetzung gemessen werden, nämlich allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln.
5.1. Die Differenzierung der Kunstarten unter dem Gesichtspunkt der Darstellung von Raum und Zeit Bei dem Vergleich zwischen Vergils Erzählung der Laokoon-Begebenheit und der spätantiken Laokoon-Gruppe ermittelt Lessing als einen zentralen Unterschied, daß Laokoon in der Plastik »seufzet«, während er bei Vergil »schreyet«. Von der Annahme her, daß der Künstler den Dichter nachgeahmt hat, fragt Lessing nach den Motiven, die den Künstler zur Veränderung bewogen haben. Die Frage nach den Motiven für die Veränderung ist für Lessing eine Frage nach der beabsichtigten Wirkung: »Virgils Laokoon schreyet, aber dieser schreyende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreyen nicht auf seinen Charakter, 78
sondern liediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreyen; und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreyen allein sinnlich machen. Wer tadelt ihn also noch? Wer muß nicht vielmehr bekennen: wenn der Künstler wohl that, daß er den Laokoon nicht schreyen ließ, so that der Dichter eben so wohl, daß er ihn schreyen ließ?« (I^M IX, S. 23) Das Schreien des Laokoon in der Erzählung des Vergil steht für den Leser im Kontext dessen, was er über die Gestalt des Laokoon bereits erfahren hat. Im Unterschied dazu vermag der Maler nur einen einzigen Augenblick aus dem Leben des Laokoon darzustellen. Die Antwort auf die Frage, welchen Augenblick er darstellen will, welcher der »fruchtbarste« ist,46 muß aus der Art der Darstellung des Laokoon bei Vergil und aus den Wirkungsgesetzen der Malerei ermittelt werden. Bei Vergil ist das Schreien des Laokoon Kulminationspunkt in einer Zeitfolge, die die Stufen von Laokoons Leiden darstellt. Die Frage des Malers muß sein, wie er die Entwicklung des Leidens so in einem einzigen Augenblick, auf einen Raum konzentrieren kann, daß das Prozeßhafte des Leidens durchscheint. Die Antwort darauf findet Lessing in einer wirkungsästhetischen Prämisse: »Dasjenige nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freyes Speil läßt.« (L-M IX, S. 165) Von dem Mittel der Malerei aus, das sich durch die Begrenzung von Zeit auf einen Augenblick, was heißt auf einen Raum, 47 definiert, fragt Lessing nach der diesem Material am meisten adäquaten Art der Darstellung. Adäquat ist dann das, was unter dem Diktat der Begrenzung auf einen Raum die in der Dichtung dargestellte Zeitfolge modellhaft repräsentiert. Die Differenzierung unter dem Gesichtspunkt von Raum und Zeit bei Lessing begnügt sich also nicht damit, den Raum allein als die 44
Cf. L-M IX, S. 19: »Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Mahler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholter massen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblicks, nicht fruchtbar genug ewählet werden kann. Dasjenige aber allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt.« Die »Theorie des fruchtbaren Augenblicks« ist von Seiten der Kunstwissenschaft, v. a. von Carl Justi, kritisiert worden. Rudolf Arnheim, Zur Psychologie der Kunst, Köln 1977, S. 86 rekurriert auf Justi, wenn er, ausgehend von psychologischen Erkenntnissen, Lessings Vorstellung von Einbildungskraft, aus der die Theorie des fruchtbaren Augenblicks abgeleitet ist, kritisiert. Dabei trifft diese Kritik nicht das Verfahren Lessings zur / Differenzierung der Kunstarten, sondern die Konsequenzen, die Lessing zieht. Cf. zu diesem Fragenkomplex auch Ingrid Kreuzer, aaO, S. 219. 47 In Lessings Unterscheidung zwischen einfachen und kollektiven Handlungen wird deutlich, daß die Differenzierung unter dem Gesichtspunkt von Raum und Zeit ineins gesetzt werden kann mit einer Differenzierung unter dem Gesichtspunkt von Zeit, die aus den Koordinaten Simultaneität und Sukzession gebildet wird; cf. zu diesem Problem Bayers Ausführungen zum Begriff des »Transitorischen« und »Permanenten«, aaO, S. 74f.
79
Domäne des Malers zu konstatieren, sondern Lessing fragt darüberhinaus, was die Begrenzung auf einen Raum für Konsequenzen hat im Hinblick auf die Vermittlung einer Zeitfolge: »Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreyen hören; wenn er aber schreyet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stuffe höher, noch eine Stuffe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichem, folglich uninteressantem Zustande zu erblicken. Sie höret ihn ächzen, oder sie sieht ihn schon todt.« (L-M IX, S. 19/20) Das Mittel und der Gegenstand der Darstellung sind die Koordinaten, aus denen sich die Art der Darstellung ableiten läßt. Dabei ist der Zweck der Darstellung - die vollkommene Wirkung - prinzipiell vorgegeben. In concreto läßt sich diese Wirkung erst präzisieren mit den Koordinaten Gegenstand - Mittel und der aus ihnen ableitbaren Art der Darstellung. Am Exempel: Vorgegeben ist das Gesetz der vollkommenen Wirkung, vorgegeben ist der Gegenstand, das Leiden des Laokoon, wie Vergil es erzählt, vorgeben ist das Mittel, der Raum des Malers. Aus dem Mittel und dem Gegenstand ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der vollkommenen Wirkung, als Art der Darstellung einen Zeitpunkt des Leidens zu wählen, der in der räumlich fixierten Darstellung das Prozeßhafte durchscheinen läßt. Bayer spricht von einer »antizipierenden Repräsentation«. 48 Die vollkommenste Wirkung des Gemäldes ist also dann erreicht, wenn der Betrachter aufgrund der Art der Darstellung das Seufzen des Laokoon als eingebettet in einen Prozeß von Leiden wahrnimmt. Die Kunstarten Malerei und Poesie unterscheiden sich im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Raum und Zeit. Dabei definiert sich der Raum des Malers auch von der Zeitlichkeit der Dichtung her, so wie sich die Zeitlichkeit der Dichtung auch von dem Raum des Malers her bestimmt. Präzisiert wird diese gegenseitige Bestimmungsfunktion der Kategorien in Lessings Unterscheidung zwischen kollektiven und einfachen Handlungen. 5.2. Zur Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen als Differenzierungskriterium der Kunstarten Die zentralen Ausführungen zu diesem Problem finden sich im 16. und 17. Kapitel des »Laokoon«. Rudowski weist nachdrücklich darauf hin, 48
80
Udo Bayer, aaO, S. 58; cf. auch David E. Wellbery, aaO, S. 369: »The choice of the pregnant moment guarantees that the viewer's imagination can transcend the represented content substance and can itself select aspects of the remaining content material - the rest of the action - for concretization. What is important here is that, as a result of the suggestiveness of the representation, the viewer's imagination acquires a freedom of production that exceeds the perimeters of the painted content. The viewer himself engenders the images of the prior und subsequent phases of the action without relying on or being limited by the determinate material representation provided by the painting or sculpture. The purpose of the rule of the pregnant moment is to insure this imaginative freedom.«
daß, obwohl die Termini »natürlich« und »willkürlich« in den ersten Entwürfen z u m » L a o k o o n « wiederholt angeführt werden, sie bis zu dieser Stelle in der endgültigen Version nicht erwähnt werden. Zugleich sieht er in der Einführung der Zeichentheorie an dieser Stelle die Ursache für viele Mißverständnisse in der Auslegung des »Laokoon« allgemein und der Grenzbestimmung zwischen Malerei und Poesie, wie Lessing sie vornimmt, im besonderen. 4 9 Lessing beabsichtigt in diesen Kapiteln die Unterschiede der beiden Kunstarten »aus ihren ersten Gründen« (L-M IX, S. 94) herzuleiten. Mit der W e n d u n g »Ich schließe so« (L-M IX, S. 94) bestimmt er den Stellenwert seiner folgenden Überlegungen: Malerei und Dichtung, die bisher durch die Arbeit an Beispielen auf ihre Unterschiede hin untersucht wurden, werden nun in diesen Unterschieden logisch-begrifflich bestimmt. 5 0 A n k n ü p f e n d an seine Differenzierung unter dem Gesichtpunkt von Raum und Zeit formuliert Lessing die erste Schlußfolgerung: » W e n n es wahr ist, daß die Mahlerey zu ihren N a c h a h m u n g e n ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nehmlich Figuren und Farben in dem Räume, diese aber artikulirte Töne in der Zeit..« (L-M IX, S. 94) Nahezu unauffällig setzt Lessing hier den Terminus »Mittel« identisch mit dem des »Zeichens«, eine Gleichung, aus der Rudowski ableitet, daß Lessing lediglich von dem ästhetischen Medium handelt, und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob dieses räumlich oder zeitlich ist. D i e Zeitlichkeit oder Räumlichkeit eines ästhetischen Mediums als solche hängt aber nicht
49
Cf. Victor A. Rudowski, Aesthetica in Nuce. An Analysis of the May 26, 1769, letter to Nicolai, Chapel Hill 1971, S. 3. Zugleich stellt Rudowski die Tradition dar, die Lessing mit dieser Unterscheidung aufgreift, indem er auf Abbe Dubos' »Reflexion critique sur la poesie et sur la peinture« (1719) verweist. Lessing hatte 1755 diese Schrift teilweise übersetzt. Der zweite Bezug führt zu Moses Mendelssohns Definition von natürlichen und willkürlichen Zeichen in seiner Schrift »Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften« (1761). 50 In seiner Auseinandersetzung mit Lessings Begriff der Handlung verweist Victor A. Rudowski, Action as the Essence of Poetry: A revaluation of Lessing's Argument. In: PLMA, Nr. 5/1967, Bd. LXXXII, S. 333ff, S. 339 auf die Bedeutung dieser Stelle im Zusammenhang mit der Frage nach der Entwicklung Lessings: »One must therefore take care not to be misled by the opening sentence of Chapter xvi, where Lessing states that he intends to explain the matter on the basis of first principles. Lessing does not mean that he is shifting to premises of universal validity, but rather that he is discarding the ideas and definitions engenered by Mendelssohn's comments and is returning to his original scheme.« Rudowski strapaziert hier die Entwicklung Lessings allzu sehr, denn die Anknüpfung an das eigene Schema schließt die Zielsetzung, wie sie formuliert wird, nämlich Sachverhalte begrifflich-logisch zu fixieren, nicht aus. Cf. auch das Nachwort von Klaus Briegleb zur Ausgabe des »Laokoon« in der im GoldmannVerlag erschienenen 6-bändigen Ausgabe ausgewählter Werke Lessings. Briegleb analysiert den »Laokoon« v. a. als ein Streitgespräch Lessings mit Moses Mendelssohn. 81
ab von der Natürlichkeit oder Willkürlichkeit der Zeichen.51 Mit der Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen, die ihre Relevanz in Lessings Verhältnisbestimmung zwischen Zeichen und Bezeichnetem findet, ist also das Differenzierungskriterium von Raum und Zeit nicht ersetzt durch die Natürlichkeit und Willkürlichkeit, wie Lessing in einigen Formulierungen zu meinen scheint. Vielmehr handelt es sich um ein weiteres Parameter in der Differenzierung der Kunstarten. Unter diesem Gesichtspunkt sollen Lessings Ausführungen zum Verhältnis von Bezeichnetem und Zeichen überprüft werden: » . . . wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müßen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Theile aufeinander folgen.« (L-M IX, S. 94) Lessings Schlußfolgerung gründet auf der Voraussetzung, daß das Verhältnis der Zeichen zu dem Bezeichneten ein »bequemes« sein muß. Dabei meint »Zeichen« und »Bezeichnetes« etwas anderes, als heute von der Linguistik darunter verstanden wird.52 Wurde oben der Begriff des Zeichens ineins gesetzt mit dem Begriff des Mittels, so meint das Bezeichnete hier die Ebene der dargestellten Gegenstände in dem Sinne, daß ein Abbildungsverhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem angenommen wird.53 Die-
51
Cf. Victor A. Rudowski, Aesthetica in N u c e . . S . 3, der sich dort auf Lessings Bestimmung in seinen Vorarbeiten zum »Laokoon«, L-M XIV, S. 334 bezieht: »Es ist wahr, beydes sind nachahmende Künste; und sie haben alle die Regeln gemein, welche aus dem Begriffe der Nachahmung zu folgern. Allein sie brauchen ganz verschiedene Mittel zu ihrer Nachahmung, und aus dieser Verschiedenheit fließen die besonderen Regeln für eine jede. Die Mahlerey brauchet Figuren und Farben in dem Räume. Die Dichtkunst artikulirte Töne in der Zeit. Jener Zeichen sind natürlich, dieser ihre sind willkürlich. Und dieses sind die beyden Quellen aus welchen die besonderen Regeln für eine jede herzuleiten.« Im Unterschied zu Rudowski beziehe ich mich auf die veröffentlichte Version des »Laokoon«. In dieser Version lassen sich die Unterscheidung nach Raum und Zeit und die zwischen willkürlichen und natürlichen Zeichen voneinander, was ihre jeweiligen Bezugsebenen betrifft, sondern. Die erste Unterscheidung nach Raum und Zeit - geht von empirischen Beobachtungen, von Erfahrungsdaten aus, die zweite impliziert eine Erkenntnistheorie. 52 Cf. auch Udo Bayer, aaO, S. 44, der in der Verhältnisbestimmung von Zeichen und Bezeichnetem bei Lessing eine »Verbindung zwischen ontischer und semiotischer Ebene« sieht und die Forderung nach dem »bequemen Verhältnis« semiotisch reformuliert, wenn er sagt, daß die Zeichen »demselben Distributionsschema unterliegen müssen.« 53 Anders Hans Christoph Buch, aaO, S. 42, der sprachkritisch die Stelle betrachtet und seine Interpretation mit den Vorarbeiten zum »Laokoon« zu belegen versucht: »Es hat fast den Anschein, als wolle sich Lessing hier, entgegen seiner sonstigen Exaktheit, absichtlich vage ausdrücken; das Wörtchen >unstreitig< täuscht verbal eine Übereinstimmung vor, die der Sache nach höchst zweifelhaft ist - gleichsam ein Indiz für Lessings schlechtes Gewissen, das nicht von unge-
82
se >Ikonizität< läßt sich allerdings nur - wenn überhaupt - für die natürlichen Zeichen bestimmen. 54 Zudem wäre, wenn damit Lessings Ausführungen zum Problem beendet wären, tatsächlich kein neuer Parameter zur Differenzierung der Kunstarten gewonnen, sondern lediglich der von Raum und Zeit neu formuliert. Aus dieser >falschen< Schlußfolgerung selbst aber ergeben sich Aufschlüsse für Lessings Konzept von Dichtung. Aufgrund der Zeitlichkeit von Dichtung und der Voraussetzung des bequemen Verhältnisses von Zeichen und Bezeichnetem kommt Lessing zu der Folgerung, daß das Gebiet der Dichtung die Darstellung von Zeitfolgen ist. Es wird sich zeigen, daß Lessing - auch wenn er Mendelssohns Einwand gegen diese Formulierung aufgreift55 - gleichwohl seine Position beibehält. Er präzisiert sie allerdings, indem er die Ebenen der Argumentation bestimmt: Mendelssohns Einwand, daß die Zeichen auch nebeneinander existierende Dinge ausdrücken können, wenn sie von willkürlicher Bedeutung sind, betrifft die logische Seite. Lessings Voraussetzung des bequemen Verhältnisses zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist eine ästhetische Annahme. 56 Diese These findet ihre Begründung in Lessings Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa an späterer Stelle im »Laokoon«, in der er Mendelssohns Einwand implizit aufgreift: »Es ist wahr; da die Zeichen der Rede willkürlich sind, so ist es gar wohl möglich, daß man durch sie die
fähr kommt: an diesem Glied hängt die Kette seiner Beweisführung; akzeptiert man sie nicht, bricht der kunstvolle Bau in sich zusammen. Daß Lessing in diesem Punkt seiner Sache nicht ganz so sicher war, wie es auf den ersten Blick scheint, läßt sich aus einem früheren Entwurf zum >Laokoon< schließen, den er den Freunden Nicolai und Mendelssohn voller Einsicht zugesandt hat.« Im Unterschied zu dieser leicht psychologistischen Sicht möchte ich die von Lessing veröffentlichte Version einmal ernstnehmen. 54 Cf. auch Udo Bayers Ausführungen zum »Sprachiconismus« (aaO, S. 115ff). 55 Cf. L-M IX, S. 101: »Aber, wird man einwenden, die Zeichen der Poesie sind nicht bloß auf einander folgend, sie sind auch willkürlich; und als willkürliche Zeichen sind sie allerdings fähig, Körper, so wie sie im Räume existieren, auszudrücken.« Lessing bezieht sich hier auf Mendelssohns Einwand gegen seine Formulierung: »Nachahmende Zeichen auf einander können auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen.« (L-M XIV, S. 344) Mendelssohn hatte angemerkt: »Nein! Sie drücken auch neben einander existirende Dinge aus, wenn sie von willkürlicher Bedeutung sind.« (L-M, XIV, S. 344, Anm.) 56 Cf. auch Klaus Briegleb, aaO, S. 320, der diesen argumentativen Grundunterschied zwischen Lessing und Mendelssohn als kennzeichnend für Lessings Texte bestimmt: »Lessing durchdenkt die Frage (seil. »Welche Bedeutung kommt in den sozialen Kunstwirkungen der Erregung des Mitleids zu?«) als Dichter, Mendelssohn argumentiert als philosophischer Systematiker... Im gemeinsamen Versuch zur Abgrenzung von Philosophie und Dichtung (Pope ein Metaphysiker, 1755) sind die Rollen nach den verdeckten Motiven verteilt, die Dichtung vor philosophischer Systematik zu retten (Lessing) und die Philosophie vor dichterischer Verunklärung (Mendelssohn).«
83
Theile eines Körpers eben so wohl auf einander folgen lassen kann, als sie in der Natur neben einander befindlich sind. Allein dieses ist eine Eigenschaft der Rede und ihrer Zeichen überhaupt, nicht aber in so ferne sie der Absicht der Poesie am bequemsten sind. Der Poet will nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich seyn; hiermit begnügt sich der Prosaist. Sondern er will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu seyn aufhören.« (L-M IX, S. 101) Lessing präzisiert diesen Gedankengang in dem Brief an Nicolai, in dem er auf Graves Rezension auf den »Laokoon« reagiert: »Die Poesie muß schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen; und nur dadurch unterscheidet sie sich von der Prosa, und wird Poesie. Die Mittel, wodurch sie dieses thut, sind der Ton, die Worte, die Stellung der Worte, das Sylbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse usw. Alle diese Dinge bringen die willkürlichen Zeichen den natürlichen näher; aber sie macht sie nicht zu natürlichen Zeichen; folglich sind alle Gattungen, die sich nur dieser Mittel bedienen, als die niedern Gattungen der Poesie zu betrachten; und die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkürlichen Zeichen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in dieser hören die Worte auf willkürliche Zeichen zu seyn, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge.« (L-M XVII, S. 291) Es kann hier nicht darum gehen, die Bedeutung dieser Stellen für die »realistische Schreibweise« zu ermitteln, 57 sich mit dem aus dieser Stelle abgeleiteten Mißverständnis des Naturalismus bei Lessing zu beschäftigen,58 den historischen Kontext von Lessings Ausführungen hieraus abzuleiten59 oder seine Abgrenzung gegenüber Aristoteles im Blick auf die Dra57
So im Anschluß an Tschernyschewski Hans Mayer, aaO., S. 25f; cf. auch Elida Maria Szarota, Lessings Laokoon. Eine Kampfschrift für eine realistische Kunst und Poesie, Weimar 1959. 58 So Fred O. Nolte, Lessing's Laokoon, Lancaster 1940. 59 Cf. etwa Hans Christoph Buch, aaO, S. 49. Victor A. Rudowski, aaO, S. 23f sieht in Lessings Ausführungen eine auffallende Parallele zu Susanne Langers Philosophie der Zeichen, wie sie sie in ihrer »Philosophy in a New Key« (1942) entwickelt hat: »Langer's aesthetic philosophy the function of a poet might be said to consist symbolism into presentional symbolism. This is also what Lessing means when he maintains that poetry try to raise its arbitrary signs to natural signs.« Diese unmittelbare Beziehung wird von ihm historisch noch einmal differenziert, wenn er die Tradition, in der Lessing steht, markiert und mit der Langers konfrontiert: »The similarity of Lessing's and Mrs. Langer's formulation of the poetic process is too obvious to require further comment. In view of her own numerous expressions of indebtness to the theories of Ernst Cassirer, Alfred Whitehead, Ludwig Wittgenstein, and other leading twentieth-century thinkers, it is also unnecessary to argue the fact that the aesthetic doctrine by Susanne Langer are furry abreat of the most significant development in contemporary
84
mentheorie zu bestimmen. 6 0 Zwei Gesichtspunkte sollen hier aufgegriffen werden: Lessings Verfahren der Differenzierung zwischen den Kunstarten und die Frage, welchen heuristischen Wert diese Differenzierung für eine Theorie der Bearbeitung hat. Genau an einer Stelle, die Lessings Tradition in der Nachahmungstheorie offensichtlich werden läßt - eine Theorie, deren Überwindung als Hauptverdienst der klassischen Ästhetik gilt muß sich erweisen, ob Lessing trotz dieser Tradition als der »archimedische Punkt« für eine Theorie der Bearbeitung bezeichnet werden kann. Der materielle Unterschied der Künste manifestiert sich in ihren unterschiedlichen ästhetischen Mitteln, in ihren unterschiedlichen »Semiotizitätsstufen«. 6 1 Als erstes Differenzierungskriterium überprüft Lessing das Verhältnis der Mittel zu R a u m und Zeit. Als Unterschied ermittelt er den Raum als das Formprinzip der Malerei und die Sukzession als Formprinzip der Dichtung. Die Frage nach den Zeichen der Kunstarten in ihrem Verhältnis zum Bezeichneten führt zu einer weiteren Differenzbestimmung. Bezugsebene für die Verhältnisbestimmung ist die Unterscheidung von willkürlichen und natürlichen Zeichen. Erkenntnistheoretische Voraussetzung dieser Unterscheidung ist die Annahme, daß ein abbildhaftes Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem denkbar ist. Diese erkenntnistheoretische Voraussetzung ist konstitutiv für die Nachahmungstheorie Lessings insgesamt. Das Verhältnis der Zeichen der Malerei zu dem Bezeichneten ist unter dieser Prämisse ein natürliches, das der Zeichen der Dichtung zu dem Bezeichneten ein willkürliches. In einem dritten Schritt wird die Beschaffenheit der Zeichen vermittelt mit der Funktionsbestimmung der Kunst. Die Vollkommenheit der Illusion als Funktion der Kunst ist für Lessing in der Konsequenz seiner Prämissen nur bei einem »bequemen« Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu erreichen, also bei natürlichen Zeichen. Von hier aus gewinnt er die Differenzierung zwischen höheren und niederen Gattungen, die - logisch gesehen - nicht nur, wie er an der angegebenen Stelle ausführt, auf die Dichtung, sondern auch auf die Malerei zu beziehen ist, insofern die Allegorie in der Malerei ein willkürliches Zeichen ist. 62 Das Drama wird als philosophy... Among the adherents of Wolffian philosophy, Alexander Gottlieb Baumgarten in particular deserves recognition for having formulated an aesthetic doctrine which has much in common with contemporary trend in literary and artistic criticism. Indeed the cycle running from the aesthetic views of Baumgarten to those recently espoused by Mrs. Langer represents a return to a cognitive explanation of artistic communication after an intervening period of almost two centuries during which theories of art stressing the expression of emotion have been in dominance.« 60 61 62
Cf. zu diesem Problemkomplex v. a. Victor A. Rudowski, aaO, passim. Cf. Udo Bayer, aaO, S. 20. Daß Lessing hier nur auf die Dichtungsgattungen eingeht, findet seine Begründung in seiner allgemeinen Abwertung der Malerei gegenüber der Dichtung; sein Interesse gilt letztlich dem Drama als der für ihn höchsten Gattung.
85
die höchste Gattung begründet, insofern die Transformation von willkürlichen in natürliche Zeichen im Akt der Aufführung im Vergleich zu allen anderen dichterischen Gattungen am meisten erreicht wird. 63 Die Begründung der Unterschiede zwischen den Kunstarten im Blick auf die Ebene der dargestellten Gegenstände, d. h. die Begründung dafür, warum in der Dichtung Körper nur andeutungsweise durch Handlungen und in der Malerei Handlungen nur andeutungsweise durch Körper geschildert werden können, ist auf drei konstitutiv zusammenhängenden Ebenen angesiedelt: - auf dem unterschiedlichen Verhältnis der Kunstarten zu Raum und Zeit, insofern die Sukzession als Formprinzip der Dichtung und der Raum als Formprinzip der Malerei sich nur von diesem Differenzierungskriterium aus ergeben; - auf dem unterschiedlichen Verhältnis der Zeichen zu ihrem Bezeichneten, insofern die Unterscheidung zwischen willkürlichen und natürlichen Zeichen eine Voraussetzung für die dritte Differenzierungsebene bildet; - auf dem unterschiedlichen Verhältnis zwischen der Beschaffenheit der Zeichen und dem Prinzip der Kunst als vollkommene Illusion, insofern die Willkürlichkeit der Zeichen aufgelöst werden muß in eine der natürlichen Wahrnehmung korrelierende Gestaltung. Der Drei-Schritt in der Differenzierung der Kunstarten macht deutlich, daß es sich bei Lessing nicht um eine Grenzziehung handelt, die restrik63
86
Dies ist eine, nicht die einzige Begründung für Lessings Bestimmung des Dramas als höchste Gattung. Zu weiteren Begründungen cf. Hans Christoph Buch, aaO, S. 61: »Erstes und höchstes Thema der Kunst ist für Lessing der Mensch. Die Malerei stellt ihn in seiner physischen, die Poesie in seiner geistigen Existenz dar: sie ist diese geistige Existenz. So wie der Geist über dem Körper, so steht für Lessing deshalb der Dichter über dem Maler. Zugleich wird klar, warum Lessing diejenigen Formen der Poesie, die den Menschen lediglich von seiner physischen Seite zeigen, oder die natürliche Umwelt des Menschen zum alleinigen Thema erheben: erotische Lyrik, beschreibende Poesie, Idylle, Lehrdichtung ablehnen muß: sie verfehlen das wichtigste Thema der Literatur, den geistigen Menschen, und lassen sich stattdessen auf einen fruchtlosen Wettstreit mit der bildenden Kunst ein. Lessing teilt deshalb die Gattungen von Malerei und Poesie, je nach ihren Gegenständen, in höhere und niedere ein. An der Spitze dieser Hierarchie steht das Drama als höchster Ausdruck des geistigen Menschen bzw. des menschlichen Geistes.« Paul Rilla, aaO, S. 179 hingegen sieht bei Lessing eine mehr kulturell-gesellschaftlich orientierte Begründung gegeben: »Die beiden Gattungen (seil. Drama und Erzählung) unterscheiden sich nicht als die >schwierigere< und die >leichtereEndzweck< als der pragmatische Konnex, bestimmt die Konstitution des narrativen Textes, d. h. die Art und Weise, wie das Erzählschema ergriffen und besetzt ist.«66 Der Endzweck nun bestimmt sich für Lessing aus der Wirkung: »Die Handlung der ersten (seil. Aesopischen Fabel) braucht diese innere Absicht nicht, und sie ist vollkommen genug, wenn nur der Dichter seine Absicht damit erreichet. Der heroische und dramatische Dichter machen die Erregung der Leidenschaften zu ihrem vornehmsten Endzwecke. Er kann sie aber nicht anders erregen, als durch nachgeahmte Leidenschaften; und nachahmen kann er die Leidenschaften nicht anders, als wenn er ihnen gewisse Ziele setzet, welchen sie sich zu nähern, oder von welchen sie sich zu entfernen streben. Er muß also in die Handlungen selbst Absichten legen, und diese Absichten unter eine Hauptabsicht so zu bringen wissen, daß verschiedene Leidenschaften neben einander bestehen können. Der Fabuliste hat mit unseren Leidenschaften nichts zu thun, sondern allein mit unserer Erkenntnis. Er will uns von irgend einer einzeln moralischen Wahrheit lebendig überzeugen. Das ist seine Absicht, und diese sucht er, nach Maaßgebung der Wahrheit, durch die sinnliche Vorstellung einer Handlung bald mit, bald ohne Absichten zu erhalten. So bald er sie erhalten hat, ist es ihm gleich viel, ob die von ihm erdichtete Handlung ihre innere Endschaft erreicht hat, oder nicht.« (L-M VII, S. 438) Der Endzweck der Fabel realisiert sich in einer kognitiven Rezeption, der des Dramas in einer affektiven. Die Differenz in der Bestimmung des Endzwecks ist das Kriterium, nach dem sich der Aufbau der Handlung ergibt. Zugleich wird »durch die Präzisierung des Handlungsbegriffs .. die Wirkungsart der Dichtkunst genauer bestimmt.« 67 sing'sche Definition, resp. Erweiterung der letzteren, wäre nicht nöthig gewesen, wenn dieselben in Betracht gezogen hätten, daß Lessing bereits in einer früheren Schrift den Begriff der Handlung eingehend und mit all den Forderungen, welche seine Kritiker hier stellen, definirt hatte. Das i s t . . . in seiner Abhandlung über die Fabel geschehen.« (aaO, S. 603); gegen Blümner muß man allerdings nach wie vor die Unterschiede zwischen Lessings Handlungs-Definition in seiner Fabel-Theorie und der von Herder betonen. 66 Karl Stierle, Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: R. Koselleck/W. D. Stempel (Hg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung. Poetik und Hermeneutik V, München 1973, S. 347ff, S. 355; zur Bedeutung von Lessings Fabeltheorie und seiner Kategorie der Handlung für die gegenwärtige Narrativik-Forschung cf. auch Karl Stierle, Die Struktur narrativer Texte, in: Funkkolleg Literatur, Studienbegleitbrief 4, Tübingen 1976, S. l t f f , S. 21 f. 67 Klaus R. Scherpe, aaO, S. 115; cf. auch David E. Wellbery, aaO, S. 376, der im
88
Das Zentrum der Wirkung einer Gattung ergibt sich für Lessing aus der Vermittlung psychologischer Kategorien mit Kategorien zur Präzisierung des Handlungsaufbaus: »Ihrem Geschlechte nach ist sie (seil, die Tragödie) die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form ist daraus zu bestimmen.« (L-M X, S. 111) Es kann hier nicht darum gehen, Lessings Kategorie des Mitleids und die damit verbundene Definition der Tragödie zu erläutern. 68 Wichtig war es, den Stellenwert der Kategorie der Handlung in der Gattungspoetik Lessings zu erwähnen. Denn von hier aus sind seine Ausführungen zum Problem der Bearbeitung eines Werkes für eine andere Gattung verständlich, so etwa, wenn er Dramen untersucht, die auf einer Fabel beruhen. 69 Voraussetzung der Bearbeitung einer Fabel zu einem Drama ist die Kenntnis der Gattungsgesetze, die sich aus dem Endzweck und dem aus ihm präzisierbaren Handlungsschema ermitteln lassen: »Denn da die Illusion des Drama weit stärker ist, als einer bloßen Erzehlung, so interessiren uns auch die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnügen uns nicht, ihr Schicksal bloß für den gegenwärtigen Augenblick entschieden zu sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls zufrieden gestellet wissen.« (L-M IX, S. 333) Die Unmittelbarkeit des Dramas als realisierte Handlung< erfordert einen anderen Handlungsaufbau, vor allem im Blick auf die agierenden Personen, als die mittelbare Handlung der Erzählung, um den Endzweck der Gattung zu erfüllen. Wurde oben als ungelöstes Problem die Frage der Bearbeitung der Ästhetik einer Aussage für eine andere Kunstart stehengelassen, so erhält man mit der Kategorie der Handlung einen Weg, dieses Problem als Problem zu präHandlungs-Begriff ästhetische Regeln begründet sieht: »As I see it, the aesthetic rules of selection in poetry are essentially two: 1. Those elements should be selected which are functional within the overall action and which serve to heighten the action. 2. Those elements should be selected which stimulate an imaginative concretization of several, unmentioned aspects of the actors involved in the action.« 68 Die Probleme, die der Begriff des Mitleids in der Lessing-Forschung hervorgerufen hat, werden exemplarisch deutlich, konfrontiert man einmal die Analysen von Armand Nivelle und Klaus R. Scherpe. So sieht Nivelle, aaO, S. 106, in dem Begriff ein »kunsttheoretisches Fachwort«: »Der gemeinte Affekt ist eine rein ästhetische Erfahrung...«; demgegenüber betont Scherpe, aaO, S. 125, in seinen analytischen Überlegungen zu diesem Begriff, »daß Lessings Theorie sich vorwiegend an der auf strenge Logik bedachten Psychologie der Zeit und den Erfordernissen der eigenen Dramaturgie orientierte. Diese Umstände beschränken eine spekulative Ausdeutung des tragischen Phänomens, was die von der Ästhetik der Goethezeit rückblickenden Interpreten leicht übersehen.« Cf. zum Begriff des Mitleids auch Klaus Briegleb, aaO, passim und Udo Bayer, aaO, S. 71, wo er die Ausführung zur Kategorie des Mitleids mit der Frage nach der Darstellung von Häßlichkeit verknüpft. 69
Cf. die Stücke 1, 12, 33, 35, 54, 83 der »Hamburgischen Dramaturgie«.
89
zisieren. Wenn Handlung narrative Texte überhaupt konstituiert und die unterschiedlichen Schemata von Handlungen Gattungen definieren, so lassen sich mit dieser Kategorie Regeln der Bearbeitung entwickeln, indem Variablen der Handlungsschemata innerhalb der Gattungen ermittelt werden und in Beziehung gesetzt werden zu den den narrativen Text konstituierenden Handlungs-Elementen. In seiner Unterscheidung zwischen kollektiven und einfachen Handlungen appliziert Lessing die Kategorie der Handlung auf zwei unterschiedliche Kunstarten. Rudowski hat in dieser Unterscheidung ein Argument dafür gesehen, daß Lessing Dichtung nicht restriktiv auf die Darstellung von Zeitfolgen eingrenzen will, sondern auch die Möglichkeit der Darstellung von Simultaneität offenhalten will.70 Hier soll die Frage angesprochen werden, ob und in welchem Maß der Handlungsbegriff ein Kunstarten-übergreifendes Merkmal sein kann, mit dem man literarische Gattungen und Gattungen anderer Kunstarten zugleich in Beziehung setzen kann. Der Bezugspunkt ist die Differenzierung im Blick auf die Handlungsschemata. »Die Mahlerey schildert Körper, und andeutungsweise durch Körper, Bewegungen. Die Poesie schildert Bewegungen und andeutungsweise durch Bewegungen, Körper. Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck abzielen, heißet eine Handlung. Diese Reihe von Bewegungen, ist entweder in eben demselben Körper, oder in verschiedene Körper vertheilet. Ist sie in eben demselben Körper, so will ich es eine einfache Handlung nennen; und eine collective Handlung, wenn sie in mehrere Körper vertheilet ist. Da eine Reihe von Bewegungen in eben demselben Körper, sich in der Zeit eräugnen muß, so ist es klar, daß die Mahlerey auf die einfachen Handlungen gar keinen Anspruch machen kann. Sie verbleiben der Poesie einzig und allein.« (LM IIV, S. 372) Lessing grenzt die Malerei von der Poesie ab, indem er danach fragt, welche Handlungsschemata sie aufgrund ihrer Mittel darzustellen vermag. Während Handlung als die Gattungen bestimmende Kategorie lediglich nach der Art ihrer Handlungschemata eingeteilt ist, müssen - bei der Differenzierung der Kunstarten unter diesem Gesichtspunkt - die Handlungsschemata vermittelt werden mit den Mitteln der Darstellung. Eine Theorie der Bearbeitung, die systematisch versucht, Regeln zu ermitteln für den Prozeß der Bearbeitung in dem Sinne, daß sie Erklärungsmuster für notwendige Veränderungen aufstellt, kann sich in die Tradition von Lessings kunsttheoretischer Methode stellen. Allerdings - und hier liegt die entscheidende Grenze der Anlehnung - muß sie in einem weite70
90
Cf. Victor A. Rudowski, Action as the Essence of Poetry..., S. 341: »But by means of the above analysis of simple and collective actions, one can at least disprove the traditional view of Laokoon which interprets Lessing as seeking to restrict poetry to the narrow sphere of depicting acts that are consecutive in time.« Cf. auch Udo Bayer, aaO, S. 93.
ren Schritt der Frage nachgehen, inwiefern die Historisierung der Kunstarten und Gattungen, die in der ästhetischen Theorie auf Lessing folgte, mit einer Theorie der Bearbeitung in Einklang zu bringen ist, ohne vorschnell die Bearbeitung als Phänomen literarisch-ästhetischer Ungleichzeitigkeit zu fixieren, noch geschichtsphilosophisch als Durchgangsstadium zu einer Synthese aller Künste zu dekretieren - beide Ansätze haben bisher die Frage nach einer Theorie der Bearbeitung überhaupt fragwürdig gemacht.
91
3. Teil Voraussetzungen einer Theorie der Literaturverfilmung Probleme der Filmsemiotik Einige kurze Vorbemerkungen zum Stellenwert der folgenden Ausführungen: - Die Überlegungen zur Semiotik des Films bedeuten eine unverzichtbare Vorklärung des Problemfeldes von Literaturverfilmung. - Aus der umfangreichen Literatur zum Bereich der Filmsemiotik und -theorie wird im wesentlichen auf Eco und Metz Bezug genommen. Weitere Ansätze und Konzeptionen hier einzuführen und zu diskutieren, würde die Auseinandersetzung mit der Literatur zu einem eigenen Thema machen. - Die von Metz und Eco benutzte und hier aufgenommene Terminologie erscheint gelegentlich etwas >überSprache< des Films ist allerdings nicht von diesen >semiotischen Linguisten< erfunden worden. Sie ist nahezu so alt wie der Film und bildet eine der Ursprungs-Fragen, mit der man den Film von anderen Kunstarten abgrenzen wollte. Eisensteins Konzept der ' Cf. Pier Paolo Pasolini, Die Sprache des Films, in: Film, Heft 2/1966, S. 49ff, S. 49f. 2 So der Titel eines Aufsatzes, in: Christian Metz, Semiologie des F i l m s . . . , S. 5Iff.
93
Montage etwa ist geprägt von Überlegungen, wie sich die bedeutungstragenden Elemente des Films so kombinieren lassen, daß sie eine vorhersehbare, also systematisch bestimmbare Bedeutung erhalten. Eisensteins Ziel ist auch eine Syntax des Films. Zwar bestimmt er die Attraktion als etwas »Relatives«, insofern sie auf der Reaktion des Zuschauers beruht, d. h. nicht als objektive Struktur des Films mißverstanden werden darf, aber die mit der Attraktion verbundene »Formung des Zuschauers in einer gewünschten Richtung« ist abhängig vom System der Montage. 3 Offensichtlicher noch als im Konzept der Montage der Attraktionen wird die Bezeihung Eisensteins zu sprachsystematischen Untersuchungen des Films in seiner Theorie der »Intellektuellen Montage«, die er von den Prinzipien der japanischen Schriftkunst aus entwickelt. 4 Zielsetzung Eisensteins ist es hier, die polysemische Bedeutung von Bildfolgen des Films möglichst auf Eindeutigkeit hin zu reduzieren, d. h. Kombinationsregeln aufzustellen, welche die semantische Bedeutung einer Bildfolge eingrenzen und systematisch beschreibbar machen. Zwar ist sein theoretisches Modell nicht die Linguistik, und seine Überlegungen stehen im Dienst der Praxis des Films, gleichwohl darf man den vergleichbaren systematischen Ort beider Forschungsrichtungen nicht übersehen. Derartige Zusammenhänge werden gern geleugnet, wenn der Zugriff systematischer Forschungen mit dem Hinweis kritisiert wird, welche kulturgeschichtliche Bedeutung dem Film zukomme und wie diese sich besonders in Eisensteins Filmen offenbare. Weitere Beispiele für frühe sprachsystematische Untersuchungen des Films ließen sich anführen, so etwa das Experiment Kuleschows, in dem die Veränderungen der Bedeutung (des Signifikats) bei gleichem Bedeutungsträger (Signifikanten) untersucht werden, das also auf zeichentheoretischen Fragestellungen basiert. 5 Nicht von ungefähr verweist Bremond 3
Sergej M. Eisenstein, Schriften 1 /Streik (hgg. von H.-J. Schlegel), München 1975, S. 219 und S. 217. 4 Cf. Sergej M. Eisenstein, Schriften 3/Oktober (hgg. von H.-J. Schlegel), München 1975, S. 252f. 5 Vsevolod I. Pudowkin, der an dem Experiment beteiligt war, schildert seinen Verlauf: »Wir (seil. Kuleschow und Pudowkin) entnahmen irgendeinem Film verschiedene Großaufnahmen des bekannten russischen Schauspielers Mosjukhin. Wir wählten Aufnahmen, die keinen besonderen Ausdruck hatten, Großaufnahmen des unbewegten, ruhigen Antlitzes. Diese Aufnahmen, die einander sehr ähnlich waren, montierten wir mit anderen Filmstücken in drei verschiedenen Kombinationen. In der ersten Kombination folgte auf die Großaufnahme des Schauspielers die Aufnahme eines Tellers Suppe auf einem Tisch. Ganz offensichtlich schaute Mosjukhin die Suppe an. In der zweiten Kombination wurden dem Bild Mosjukhins die Aufnahme eines Sargs mit der Leiche einer Frau beigefügt; in der dritten folgte auf die Großaufnahme die Aufnahme eines kleinen Mädchens, das mit einem Teddybär spielt. Als wir die drei Kombinationen dem Publikum, dem wir unser Geheimnis nicht verraten hatten, vorführten, war die Wirkung ungeheuer. Das Publikum war von der schauspielerischen Leistung Mosjukhins hingerissen. Man wies auf die tiefe Nachdenklichkeit seiner Stim-
94
in seinen Überlegungen zur autonomen Struktur der narrativen Botschaft auf den Kuleschow-Effekt.6 Ein entscheidender Unterschied zwischen diesen frühen Untersuchungen zur Filmsprache und den semiotisch-linguistischen Ansätzen in neuerer Zeit besteht in der ästhetischen Ausrichtung der frühen Untersuchungen: Überlegungen zur Filmsprache sind Funktion einer Ästhetik des Films, die von weitgehend normativen Vorstellungen darüber bestimmt wird, was Film heißt. Während also die Frage nach der Filmsprache frühzeitig formuliert wird - Zurbuch zitiert die Wochenzeitschrift »Le Film«, die 1918 bereits von einem »kinematographischen Alphabeth« sprach 7 ist die sprachsystematische Erforschung des Films erst dort anzusetzen, wo der Versuch unternommen wird, linguistische Methoden am Film zu erproben. Sie folgt damit der »Filmologie«,8 obgleich diese, betrachtet man das Hauptwerk von Jean Mitry, zeichentheoretische Zusammenhänge aufarbeitet. 9 Die bislang relativ kurze Phase filmsemiotischer Forschungen kann in zwei Richtungen unterteilt werden: eine Richtung geht vom linguistischen Modell aus und fragt nach Entsprechungen zwischen der verbalen und der filmischen Sprache; die zweite Richtung greift - so könnte man ihr Programm beschreiben - auf Saussures Verhältnisbestimmung von Semiotik und Linguistik zurück: »Man kann sich also vorstellen eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht; diese würde einen Teil der Sozialpsychologie bilden und infolgedessen einen Teil der allgemeinen Psychologie; wir werden sie Semiologie .. nennen. Sie würde uns lehren, worin die Zeichen bestehen und welche Gesetze sie regieren. Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat Anspruch darauf, zu bestehen; ihre Stellung ist von vornherein bestimmt. Die Sprachwissenschaft ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft, die Gesetze, welche die Semiologie entdecken wird, werden auf die Sprachwissenschaft anwendbar sein, und diese letztere wird auf diese Weise zu einem ganz bestimmten Gebiet in der Gesamtmung über der vergessenen Suppe hin, man war gerührt und bewegt über die Trauer seines Antlitzes angesichts der Toten und bewunderte das sanfte, glückliche Lächeln, mit dem er dem spielenden Mädchen zuschaute. Nur wir wußten, daß in allen Fällen der Gesichtsausdruck der nämliche gewesen war.« (Vsevolod I. Pudowkin, Filmtechnik. Filmmanuskript und Filmregie, Zürich 1961, S. 198f). 6 Cf. Claude Bremond, Le message narrativ..., S. 32. 7 Cf. Werner Zurbuch, aaO, S. 193. 8 Zur Aufgabe der Filmologie cf. Gilbert Cohen-Seat, aaO, S. 9; cf. auch die Definition von Jean Mitry in seinem »Dictionnaire du Cinema«, Paris 1963, S. 112: » . . . , science de creation recente, qui a pour objet, d'une part, l'etude des fondements psychologiques de l'esthetique du film, d'autre part, l'etude de ses consequences sociales, tant du point de vue du moyen d'expression que du point de vue des choses exprimees. C'est done une branche de la Psychologie des perceptions et aussi de la sociologie.« 9 Cf. zur Forschungsgeschichte Christian Metz, Sprache und Film..., S. 9ff.
95
heit der menschlichen Verhältnisse gehören.« 10 Das Verhältnis von Sprachwissenschaft und Semiologie, wie Saussure es vorzeichnet, hat sich in der weiteren Forschung nahezu umgekehrt: die Semiologie bzw. Semiotik ist zwar nicht zum Teilgebiet der Sprachwissenschaft geworden, wie Saussure die Sprachwissenschaft als Teilgebiet der Semiologie sah, aber die in der Sprachwissenschaft entwickelten linguistischen Methoden sind die Basis semiotischer Forschungen geworden." Wenn man filmsemiotische Probleme erörtert, ist es auf dem forschungsgeschichtlichen Hintergrund, der hier skizziert wurde, notwendig, die linguistischen Implikationen, die in filmsemiotische Aussagen einfließen, zu markieren und danach zu fragen, ob die Zuordnung von Elementen des Films zu Elementen der verbalen Sprache mehr aus dem Anlehnungsbedürfnis an die Linguistik als aus der Stringenz der eigenen Argumentation resultiert. Gegen die Abhänigkeit semiotischer Forschungen von der Linguistik hat sich vor allem Eco gewandt, der nicht vom dualen Zeichenbegriff Saussures, sondern von der triadischen Bestimmung des Zeichens, wie Peirce sie vornimmt, ausgeht.12 Auf der Basis dieses Zeichenbegriffs sieht Eco in der Untersuchung der visuellen Kommunikation auch eine Möglichkeit, die Unabhängigkeit der Semiotik von der Linguistik zu erweisen. Diese Unabhängigkeit definiert sich nicht dadurch, daß alle in der Linguistik gewonnenen Unterscheidungen nun ignoriert werden. Vielmehr sollen diese Unterscheidungen für eine Semiotik der visuellen Kommunikation fruchtbar gemacht werden, ohne diese in den Dienst der Linguistik zu stellen: »Aber wenn die Semiotik eine autonome Disziplin ist, dann ist sie es gerade, sofern es ihr gelingt, die Kommunikationstatbestände durch die Entwicklung autonomer Kategorien zu erklären, wie ζ. B. der Kategorien des Codes und der Botschaft, welche zwar die von den Linguisten als langue und parole bezeichneten Phänomene umfassen, sich aber nicht auf diese beschränken. Wir haben gesehen, daß sich die Semiotik selbstverständlich der Resultate der Linguistik bedient, die sich von all ihren Zweigen mit größter Strenge entwickelt hat. Aber das Erste, was man in einer semiotischen Untersuchung präsent haben muß, ist die Bemerkung, daß nicht alle Kommunikationserscheinungen mit den Kategorien der Linguistik erklärt werden können.«n 10
Ferdinand de Saussure, Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Auflage, Berlin 1967, S. 19. " Über den Namen der Disziplin ist lange diskutiert worden. Im folgenden wird der Terminus Semiotik im Sinne von Eco verwendet, d. h. er meint eine Disziplin, die die Zeichensysteme erforscht, ohne unbedingt von der Linguistik abhängig zu sein (cf. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 17). Wenn Metz seine Abhandlungen zum Film »Semiologie des Films« nennt, so ist dies von seinem Ansatz her nur konsequent, da er den Versuch unternimmt, das Zeichensystem Film mit linguistischen Fragestellungen zu untersuchen. 12 Cf. Umberto Eco, aaO, S. 30f. 13 AaO, S. 197.
96
Eco zieht aus der Verhältnisbestimmung von Linguistik und Semiotik terminologische Konsequenzen: den Terminus »Sprache« will er den Codes der verbalen Sprache vorbehalten, die anderen Zeichensysteme will er als »Codes« betrachten.14 Die filmsemiotischen Forschungen lassen sich grob in zwei Interessengruppen unterteilen: die Forschungen, die sich auf systematische Untersuchungen des Filmbildes konzentrieren, und die Forschungen, die die Analyse der Syntagmatik des Films in den Mittelpunkt stellen. Die exponiertesten Vertreter der ersten Richtung sind Eco und Barthes, der zweiten Forschungsrichtung hat vor allem Metz seine Untersuchungen gewidmet.15
2. Zur Unterscheidung von »filmisch« und »kinematographisch« Die Frage nach der Zeichenhaftigkeit des Films und die damit verbundene Suche nach Klassifizierungen läßt häufig einen »Fanatismus der Besonderheiten, der nicht ganz frei von irgendeiner Metaphysik ist«,16 durchscheinen. Um die filmische Kommunikation als spezifisch zu erweisen, verzichtet man gern auf Differenzierungen zwischen dem, was spezifisch für diese Kommunikation ist, und dem, was diese Kommunikation mit anderen Formen von Kommunikation gemeinsam hat. Eine solche Differenzierung ist aber notwendig, wenn man der Frage nach der materiellen und sensoriellen Einheit und Vielfalt des Films nachgeht. Bereits auf der Ebene der Ausdrucksmaterie besteht zwischen der verbalen Kommunikation und dem Kommunikationssystem Film eine qualitative Differenz. Die Ausdrucksmaterie der verbalen Sprache ist die Lautung, als sekundäres System fungiert die Schrift. Die Ausdrucksmaterie des Films gliedert sich in vier Ausdrucksmaterien: Bild, Ton, Geräusch, Musik. Beim Film muß man also immer von einem Komplex von Systemen bzw. einem Komplex von Codes ausgehen. Das Spezifische der Ausdrucksebene des Bildes ist, daß diese den Film als Film definiert, während die anderen Ebenen keine den Film in diesem Maße definierenden Eigenschaften haben.17 Filmsemiotische Überlegungen zum Film müssen also vorab die Ausdrucksebene, auf die sie sich beziehen, festlegen. Das heißt natürlich nicht, daß die im Film vorhandenen Ausdrucksmaterien, nimmt man den Film 14
Cf. aaO, S. 235. Diese Zuordnung und vor allem die damit verbundenen Namen sind als Orientierungsstützen, nicht als Überblick zu verstehen. 16 Christian Metz, Sprache und F i l m . . . , S. 211. 17 Man kann die anderen Ebenen aber nicht als fakultativ bezeichnen, da sie dramaturgisch jeweils eine Eigenständigkeit gewinnen können, die sie als notwendig zum Verständnis des Films definiert. 15
97
als Globalstruktur, voneinander isoliert stehen bleiben können oder gar, daß das Zusammenspiel der Ausdrucksmaterien irrelevant wäre. Notwendig ist es allerdings, genau festzulegen, wovon man spricht, wenn man das Phänomen Film untersucht. Die äußere Unterscheidung zwischen den vier Ausdrucksebenen des Films verlangt eine weitere systematische Differenzierung zwischen dem Film als komplexem Aussagesystem, dem, was Metz im Anschluß an Cohen-Seat des » f a i t filmique« nennt, und dem » f a i t cinematographique«, d. h. dem, was spezifisch für den Film ist. Kennzeichen des fait filmique ist seine semiotische Mehrdimensionalität: »>Filmique< sollen also alle Eigenschaften genannt werden, die in den Filmen (d. h. in den Nachrichten, die das Kino sendet) erscheinen, seien sie nun spezifisch für diese Ausdrucksmittel oder nicht, ganz gleich, wie die Vorstellung aussehen mag, die man sich von dieser Besonderheit macht. Als >kinematographisch< sollen bestimmte zum Film gehörige Sachverhalte bezeichnet werden: jene, von denen man vermutet (oder von denen man möchte), daß sie in den einen oder anderen Code, der für das cinema spezifisch ist, eintreten. Das Kinematographische ist nur ein Teil des filmique: einige Phänomene sind filmique und kinematographisch, andere sind filmique, ohne kinematographisch zu sein.«18 Die Beziehung zu Cohen-Seat, die Metz herstellt, ist mehr oder weniger terminologisch: für Cohen-Seat ist das Kinematographische umfassender als das Filmische, während bei Metz das Filmische umfassender ist als das Kinematographische. 19 Die Unterschiede zwischen Cohen-Seat und Metz in diesem Punkt markieren exemplarisch die Unterschiede zwischen einer filmologischen und filmsemiotischen Sichtweise: Während die Filmologie sich gliedert in die Erforschung der ästhetischen, psychologischen und (nach Cohen-Seat) philosophischen Grundlagen des Films auf der einen Seite und seine sozialen Folgen auf der anderen, 20 versuchen filmsemiotische Forschungen die Regelsysteme (Codes) filmischer Kommunikation zu ermitteln, um auf diesem Wege die ästhetische und soziale Bedeutung des Films zu erhellen. Während das Kinematographische bei Cohen-Seat ein interdisziplinäres Forschungsobjekt darstellt, ist es für Metz ein theoretisches Konstrukt, das von der Materialbasis, dem »fait filmique«, aus gewonnen wird, aber als Konstrukt von ihm abstrahiert: »Ein fait filmique geht dem Film also voraus, ein fait cinematographique folgt ihm. Der Unterschied leitet sich daraus ab, daß der Film eine Nachricht ist, während das cinema im eigentlichen Sinne ein Komplex von Codes ist. Eine Untersuchung muß den genauen Inhalt des filmique nicht wieder herstellen, muß das Kinematographische aber Stück für Stück konstruieren. Für den Semiologen ist 18 19 20
98
Christian Metz, aaO, S. 50. Cf. Gilbert Cohen-Seat, aaO, S. 98ff. Zur Aufgabe der Filmologie cf. Anm. 8.
die Nachricht ein Ausgangspunkt, der Code ein Endpunkt.. .«.21 Wenn von »Film« die Rede ist, so meint dies nach Metz »die Nachricht mit der Pluralität und Heterogeneität ihres Codes«, wenn von »Cinema« die Rede ist, so meint dies »den Komplex homogener und spezifischer Codes«. 22 Der Wert der Unterscheidung von verschiedenen Codes in einem Film liegt primär darin, daß man das Phänomen, warum ein Film verstanden wird, erklären kann und nicht darin, auf diesem Wege die >Sprachlichkeit< des Films nachzuweisen. Die Unterscheidung von spezifisch-kinematographischen Codes und solchen, die der Film mit anderen Nachrichten gemeinsam hat, erlaubt, die Spezifität des Films systematisch und nicht normativ festzulegen. Die Unterscheidung von Film und Cinema, oder - mit Eco - von filmischem und kinematographischem Code, 23 erlaubt eine verfahrenshypothetische Unterteilung des Aussagesystems Film in zwei Arten von idealen Komplexen, nämlich in »jene(n), die alle Nachrichten innerhalb einer bestimmten sensoriellen Ordnung gruppieren, ohne notwendigerweise mit einem einzigen Code in eins zu fallen, und jene(n), deren Kohärenz systematischen Charakter hat (die also Codes oder Gruppen von Codes sind).« 24 Will man also Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Ausdruckssystemen, Nachrichten untersuchen, so muß man zwei Parameter unterscheiden, von denen aus man eine solche Unterscheidung vornehmen kann: das eine Parameter bildet die Materialität, aus der eine bestimmte sensorielle Ordnung resultiert, das andere bilden die Codes, die als abstrakte Entitäten konstruiert werden. Die den Film kennzeichnende codische Komplexität macht eine Unterscheidung der Codes, die sich in ihn einschreiben, notwendig. Während Eco versucht, die ermittelbaren Codes aufzulisten, 25 teilt Metz die Codes im Anschluß an seine Unterscheidung von filmisch und kinematographisch ein in kinematographische, kinematographisch-nicht-filmische und in filmisch-nicht-konematographische. 26 Für eine Filmsemiotik primär interessant ist nach Metz das Kinematographische. 27 Die von Metz vorgeschlagene grobe Unterteilung der Codes - grob, insofern es sich jeweils um Komplexe von Codes handelt - soll hier im Blick auf die Frage der »Kinematographisierung« betrachtet werden. Die Rede von der Kinematographisierung, also die Aussage, daß alles spezifisch für den Film sei,28 beruht nach Metz auf einer Verwechslung von 21 22 23 24 25 26 27 28
Christian Metz, aaO, S. 53. Christian Metz, aaO, S. 63. Cf. Umberto Eco, aaO, S. 250. Christian Metz, aaO, S. 30. Cf. Umberto Eco, aaO, S. 20ff und S. 246ff. Cf. Christian Metz, aaO, S. 52. Cf. aaO, S. 21 f. Die Bezeichnung »Film« erfaßt hier das Metzsche »fait filmique«; in die Über-
99
Code und Textsystem. Außerkinematographische Elemente werden zwar, indem sie Teil eines Films werden, »filmisiert«, 29 aber dies hat nicht zur Folge, daß die Codes, mit denen diese Elemente gebildet werden, umgeformt werden. Dieser Gesichtspunkt ist speziell im Zusammenhang meiner Fragestellung relevant. Wenn man von Transformation spricht, so meint dies nicht eine Transformation von Codes. Kulturelle Formen gehen in den Film als Nachricht ein, sie werden transformiert, da sie neue Verknüpfungen erfahren, aber diese Veränderung ist eine Veränderung auf der Ebene des Textsystems und nicht auf der Ebene der Codes. Der Begriff des Kinematographischen hat auf einer anderen Achse der Betrachtung eine weitere Bedeutung: wenn man von einem kinematographischen Code ausgeht, so muß man annehmen, daß dieser Code auch in anderen als in dem Ausdruckssystem Film wirksam werden kann und auf andere Bereiche Einfluß ausübt. 30 Beispiele für solche Einflüsse des kinematographischen Codes auf kulturelle Ausdruckssysteme - Metz spricht von »semiologischen Interferenzen« 3 1 - sind ζ. B. in bestimmten sozialen Phänomenen zu sehen. Metz nennt als Beispiel das James-Dean-Phänomen. 32 Ein weiteres, für die Literaturwissenschaft besonders wichtiges Einflußfeld wäre die Frage, wie der kinematographische Code auf literarische Erzähltechniken wirkt bzw. in diese eingeht. Die bislang deskriptiven Forschungen zum Wechselverhältnis von Film und Literatur - besondere Bedeutung nehmen hier die Untersuchungen zum Verhältnis von Roman und Film ein - können auf diesem Wege systematisiert werden. Abschließend soll noch einmal die verfahrenshypothetische Bedeutung der Unterscheidung von Cinema und Film bzw. kinematographisch und filmisch zusammengefaßt werden. Wenn Meixner lapidar feststellt, daß Metz von einem abstrakten Begriff von Cinema ausgehe, 33 so trifft diese tragungen der Kategorien ins Deutsche fließen leicht Ungenauigkeiten ein, die hier aber, um >lesbar< zu bleiben, in Kauf genommen werden. 29 Christian Metz, aaO, S. 127. 30 Cf. aaO, S. 126f. 31 AaO, S. 231. 32 Cf. aaO, S. 126. 33 Cf. Horst Meixner, Filmische Literatur und literarisierter Film. Ein Mannheimer Projekt zur Medienästhetik. In: H. Kreuzer (Hg.), Literaturwissenschaft Medienwissenschaft, Heidelberg 1977, S. 32ff, S. 35. Meixner führt die Decodierbarkeit des »filmischen Code« schlicht auf das »im weitesten Sinn literarisch präformierte(s) Bewußtsein« zurück. Auf Unverständnis der Untersuchung von Metz muß man auch die Kritik Hermann Kalkofens zurückführen, wenn er Metz vorwirft, »in einer gewissen Borniertheit..., die sonstigen Sachverhalte(n) der sogenannten audio-visuellen Kommunikation zu semiologischen Marginalien zu degradieren, vom Fernsehen zum Beispiel nur eben so Notiz zu nehmen.« (Hermann Kalkofen, Bemerkungen zu einer Semiologie des Films, in: T. Borbe/M. Krampen (Hg.), Angewandte Semiotik, Wien 1978, S. 49ff, S. 65) Dieser Vorwurf trifft ins Leere, wenn man die Ausführungen von Metz, aaO, S. 25ff zur Frage des Relevanzprinzips seiner Untersuchung betrachtet.
100
Kritik ins Leere, da sie die Prämissen von Metz ignoriert: die Unterscheidung von Film und Cinema ist nicht eine Unterscheidung zwischen dem Film als Ganzem und einem Teilbereich von Film, sondern sie ist eine Unterscheidung auf theoretischem Niveau: Sie erlaubt eine Perspektivierung der Betrachtungsweise, insofern Cinema immer die Ebene der Codes betrifft und Film die Ebene der Nachricht. Cinema ist ein theoretisches Konstrukt, das zur Analyse des Films als sozialem Faktum beitragen soll.
3. Zur Unterscheidung von Text und Textsystem Den Film als Text zu bezeichnen, meint nicht etwa, ihn auf seine verbale Ebene zu reduzieren, noch bezieht sich diese Bezeichnung auf das Drehbuch. Der Begriff des Textes wird von Metz, der sich hier Hjelmslev anschließt, im weiten Sinne verstanden. Text ist »jede Bedeutung tragende Einheit..., sei sie nun linguistischen, nicht-linguistischen oder gemischten Typs«.34 Aufgabe einer Filmsemiotik ist bei dem gegenwärtigen Forschungsstand - so Metz »Filme als Texte, als Diskurseinheitn zu behandeln und sich so zu bemühen, die verschiedenen Systeme (gleich, ob sie nun aus Codes bestehen oder nicht) zu erforschen, die diese Texte ausmachen und sich in ihnen ausdrücken.«35 Daß dieser Text-Begriff restriktiv ist und der Modifikation bedarf, soll an anderer Stelle verhandelt werden. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist wichtig zu erörtern, was die Rekonstruktion eines Text systems, das sich in einem konkreten Text ausdrückt, meint. Zentral ist die Frage nach dem Verhältnis von Text und System. Das Systematische, so Metz, steht dem Textuellen als Nicht-Textuelles gegenüber. Es wird »durch seinen idealen, durch die Analyse konstruierten Charakter definiert; das System hat keine materielle Existenz, es ist nichts anderes als eine Logik, ein Kohärenzprinzip; es besteht in der Verständlichkeit des Textes: in dem, was man vermuten muß, damit der Text verstehbar ist.«36 In dieser Verhältnisbestimmung von Text und System wird einer der prinzipiellen Unterschiede zwischen einer semiotischen Betrachtung von Texten im Vergleich zu einer hermeneutischen sichtbar. Während die hermeneutische Frage vom Text als fait accompli ausgeht und nach den Möglichkeiten des Textverstehens unter der Voraussetzung des allein approximativen Verstehens fragt,37 ist die Arbeit der Rekonstruktion des Text34
Christian Metz, aaO, S. 95. AaO, S. 22. 36 AaO, S. 82. 37 Cf. ζ. B. Manfred Frank, aaO, S. 341, der Textverstehen als die Bildung einer »konjunkturale(n) Analogie« sieht. Inwieweit Frank sich damit zurecht auf Schleiermachers hermeneutische Theorie bezieht, kann in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden. 35
101
systems primär eine Arbeit der Segmentierung des Textes in Verständnis begründende Einheiten und die Rekonstruktion der Codes, mit deren Hilfe diese Einheiten gebildet werden. Deutlicher noch wird diese Differenz in den Zugangsweisen zu Texten, wenn man die Unterscheidung von Text und Textsystem mit der Unterscheidung von Nachricht und Code in Beziehung setzt. Beide Unterscheidungen liegen auf einer Achse. Um zu bestimmen, worin der Unterschied zwischen einem Text und einer Nachricht auf der einen Seite und einem System und einem Code auf der anderen Seite liegt, bedarf es eines weiteren Kennzeichens, mit dem festgelegt wird, was den Text von der Nachricht und was das System vom Code unterscheidet. Dieses Kennzeichen ist für Metz in der Kategorie der Singularität bzw. Nicht-Singularität enthalten. Während Nachricht und Code durch ihre Nicht-Singularität definiert werden, ist der Text singulär und das konstruierte Textsystem auch. Die Singularität des Textes und des konstruierten Textsystems ist aber nicht auf der gleichen Ebene als Singularität zu bestimmen, auf der die NichtSingularität der Nachricht und der Codes angesiedelt sind. Denn die definierende Eigenschaft der Nicht-Singularität bei den Codes ist eine Konsequenz ihres logischen Stellenwerts. Codes sind Regelsysteme, die singuläre Systeme »mit Bedeutung tragendem Material versehen«.38 Die das Textsystem definierende Eigenschaft der Singularität muß logisch aus der Relationsbestimmung von Textsystem und Code folgen. Ein Text kann nur dann als singulär bezeichnet werden, wenn er >mehr< ist als eine Nachricht, ein Textsystem kann nur dann als singulär bezeichnet werden, wenn es mehr ist als ein Code. Auf dieser Basis definiert Metz die Unterschiede zwischen den für eine Filmsemiotik zentralen Kategorien Text - Textsystem - Nachricht - Code: »Ein Code ist ein System, das für mehrere Texte gilt (und letztere werden auf diese Weise Nachrichten); eine Nachricht ist ein Text, der nicht der einzige ist, in dem sich ein gegebenes System manifestiert (und letzteres wird auf diese Weise zu einem Code). Das System, das keine Codes aufweist (ein singuläres System), besitzt einen einzigen Text; der Text, der keine Nachricht aufweist (ein singulärer Text), ist der einzige, der sein System manifestiert.« 39 Diese Unterscheidung ist einleuchtend, wenn man die definierenden Eigenschaften der Singularität und Nicht-Singularität betrachtet. Sie wirft Probleme auf, wenn man die Definition von Code überprüft. Ein Code liegt einem singulären System zugrunde, aber er ist nicht dieses singuläre System. Es muß also geklärt werden, in welchem Verhältnis Textsystem und Code als Konstrukte stehen. Man kann ζ. B. den narrativen Code einer literarischen Erzählung oder eines Films rekonstruieren. Aber dieser Code gibt keine ausreichende Bestimmung des aus der Erzählung oder dem Film ermittelba38 39
Christian Metz, aaO, S. 85. AaO, S. 82f.
102
ren Textsystems. Der Code ist zwar autonom, aber er steht in einem anderen Verhältnis der Realisierung als das Textsystem. Während die singulären Systeme realisierte Systeme sind, handelt es sich bei den Codes um Systeme, die niemals vollständig realisiert, »bezeugt« werden.40 Die hier im Anschluß an Metz getroffene Unterscheidung zwischen Textsystem und Code ist vergleichbar der Unterscheidung, die Barthes zwischen »ecriture« und »ecrit« trifft. 41 Eco beschreibt das Textverstehen (er spricht im Unterschied zu Metz nicht von Text, sondern von »Nachricht mit ästhetischer Funktion«), indem er den Text vom »Geräusch«, der »Unordnung in reinem Zustand« abgrenzt und damit genau die untere Grenze berührt, während es Metz um die obere - der Abgrenzung von Text und Nachricht - geht: »Die Nachricht mit ästhetischer Funktion ist das Beispiel einer Nachricht, die den Code infrage stellt und durch den Kontext eine derart ungewöhnliche Beziehung zwischen den Zeichen herstellt, daß von diesem Augenblick an unsere Art, die Möglichkeiten des Code zu sehen, sich ändern muß: In diesem Sinne ist die Nachricht in höchstem Grade informativ und erschließt sich in einer Übermittlung von konnotativen Komponenten. Aber es gibt keine Information, die sich nicht auf redundante Anteile stützt. Man kann gegen den Code nur bis zu einem bestimmten Grade verstoßen und muß ihn in anderen Punkten respektieren. Andernfalls entsteht keine Kommunikation, sondern >Geräusch< (noise), keine Information als Dialektik zwischen beherrschter Unordnung und infrage gestellter Ordnung, sondern nur Unordnung in reinem Zustande. Man kann demnach nicht zu einer Aufdeckung der erfinderischen Akte übergehen, wenn man nicht vorher die Ebene des Codes festgelegt hat, auf der die Nachricht entsteht. Wenn man die Codes nicht kennt, kann man auch nicht sagen, wo die Erfindung einsetzt.«42 Die Formulierung von Metz, daß ein singuläres Textsystem ein System ohne Code sei, ist also falsch bzw., wenn man diese Aussage daran mißt, in welcher Weise Metz an anderer Stelle das Verhältnis von Code und Textsystem bestimmt, mehr als mißverständlich. Dort nämlich nähert er sich der Position von Eco, wenn er den >Umgang< mit den Codes als Verschiebung umschreibt: »Das, was das System eines Films im eigentlichen Sinne >machtmit< wird das Wichtige ausgedrückt. Mit verschiedenen Codes, aber ebensogut auch gegen sie. In diesem Sinne wird jeder Film auf der Zerstörung seiner Codes aufgebaut.« 43 40
AaO, S. 85. Cf. Roland Barthes, A m Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur. Zwei Essays, Hamburg o. J., S. 80f. 42 Cf. Umberto Eco, Die Gliederung des filmischen Kode, in: H. Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln 1972, S. 363ff, S. 364f. 43 Christian Metz, aaO, S. 110; in der Art des Umgang mit bestehenden Codes sieht Metz die Gemeinsamkeit zwischen Film und Literatur, cf. aaO, S. 113. 41
103
Was in der Tradition der Textanalyse gern übersehen wurde und noch wird, ist die Existenz von Codes auch in einem ästhetischen Kontext. Daß diese Basis des Textverstehens immer wieder übersprungen wurde, führt Kloepfer auf unsere »hermeneutische(n) Vergangenheit« zurück, von der her wir immer »zu sehr auf das Nichtfunktionieren von Verständigung ausgerichtet (sind), als daß wir die Kunst- und wirkungsvollen Sicherungssysteme erforscht hätten.« 44 Allerdings muß man einschränkend hinzufügen, daß diese Vergangenheit nicht selten auf einem Mißverständnis dessen beruhte, was Hermeneutik als Lehre vom Textverstehen konzeptionell umfaßt. Die These, daß das Textsystem aus einer Verschiebung der Codes konstruiert wird, ist eine Aussage, die sich auf die Gesamtstruktur eines Textes bezieht. Sie betrifft nicht die Autonomie der Codes und ihre Funktion als Materialbasis jeglicher Textkonstruktion. Aufgabe einer Rekonstruktion des Textsystems ist es also - so könnte man jetzt formulieren -, die Codes eines Textes zu bestimmen und die Verschiebungen, d. h. die die Singularität konstituierenden Elemente zu >markierenmarkieren< verbirgt sich dabei ein Problem: Inwieweit kann man von Rekonstruktion sprechen, versteht man darunter die »>authentische< Wiederherstellung eines gewesenen Zustands«? 45 Bevor dieser Frage nachgegangen wird, muß zuvor der Prozeß der Rekonstruktion selbst noch differenziert werden. Wenn man einen Film untersucht, indem man das Textsystem rekonstruiert, muß man drei Haupttypen von Systemen unterscheiden: die allgemeinen kinematographischen Codes, die besonderen kinematographischen Codes und die singulären Systeme.46 Der Begriff des besonderen kinematographischen Code leitet sich aus der Annahme ab, daß es mehrere kinematographische Codes gibt. Diese Tatsache ist eine Konsequenz aus der Pluralität der Filme und der Definition von Codes 47 Die Konstruktion eines Code schließt nämlich nicht aus, daß dieser Code sich auf einer anderen Achse weiter differenzieren läßt in unterschiedliche Codes. Als Sprachregelung bestimmt Metz den Code als den kinematographischen, der virtuell für alle Filme von Interesse ist, während als besonderer kinematographischer Code der Code gilt, der selektiv bestimmte Filme betrifft und in anderen nicht auftritt. Zur Unterscheidung zwischen »besonders« und »allgemein« führt Metz also die Kategorie der Filmklassen ein.48 44
45 46 47
48
Rolf Kloepfer, Tendenzen der Literatursemiotik in der BRD - eine erste Skizze, in:T. Borbe/M. Krampen (Hg.), Angewandte Semiotik, Wien 1978, S. 70ff, S. 86. Manfred Frank, aaO, S. 341. Cf. Christian Metz, aaO, S. 84. Cf. aaO, S. 70; cf. auch S. 206, wo er ausführt, daß seine Syntagmentheorie mißverstanden ist, wenn man sie als Analyse des einzigen kinematographischen Code liest. Cf. aaO, S. 73.
104
Die von Metz genannten drei Hauptsysteme müssen ergänzt werden um einen vierten Haupttyp von Systemen, die aus den sprachlich ..nicht spezifischem Codes bestehen. Diese Codes unterscheiden sich von den sprachlich spezifischen, da die durch sie regulierte Nachricht als unabhängig von einer spezifischen semiotischen Realisierung gedacht werden muß. Metz nennt diese Codes »Inhaltscodes« bzw. »semantische Codes«. 49 Auf diese Codes muß an späterer Stelle genauer eingegangen werden. Wichtig ist hier nur, sie als den vierten Haupttyp von Systemen, die sich aus einem Film ermitteln lassen, zu erwähnen. Es scheint nun so, daß - blickt man auf die vier Haupttypen von Systemen - die Untersuchung dieser Haupttypen sich isolieren lasse. Aufgabe der ästhetischen Untersuchung wäre dann die Erforschung der singulären Systeme. Eine derartige Arbeitsaufteilung mag, was die Erforschung der Codes betrifft, sogar sinnvoll sein. So ist es Zielsetzung der Narrativik, wie sie Bremond im Anschluß an Propp versteht, von den singulären Systemen zu abstrahieren. Allerdings läßt sich diese Arbeitsteilung nicht umkehren: man kann nicht allein, d. h. indem man die Codes ignoriert, die Singularität des Textsystems untersuchen, da diese sich aus der Relation der Codes ergibt. Dieser Sachverhalt hat Konsequenzen für das Verhältnis von ästhetischer und semiotischer Analyse: »Man muß also sagen..., daß die singulären Systeme eine sichtbarere, deutlichere Beziehung mit der >ästhetischen< Annäherung an das fait filmique unterhalten und die Codes mit der >semiologischen Annäherungkonkretes< Objekt, das eine bestimmte materielle Ausdehnung hat, und dessen Singularität nicht seine definierende Eigenschaft ist, sondern die Singularität ergibt sich korrelativ aus dieser Definition von Text. Von der Singularität des Textsystems zu sprechen, meint, es vom System der Codes abzugrenzen. Im Unterschied zur Singularität des Textes, die sich als Korrelat seiner Definition ergibt, ist die Singularität des Textsystems eine das Textsystem gegenüber den Codes definierende Eigenschaft. Während also der Text die Konkretion meint, spricht man von Textsystem, wenn man die Haupttypen der Systeme, die das Textsystem definieren, untersucht. Von der Singularität des Textsystems zu sprechen, heißt von den Codes insofern zu abstrahieren, als man ihre >Verschiebung< untersucht. Diese drei Unterscheidungen dienen Metz als Folie, um die Kategorie der Originalität abzugrenzen. Die Singularität eines Textes ist eine »relationale Eigenschaft..., eine Stellung in einer Topologie, die die analysierende Untersuchung herstellt -, und nicht eine unreduzierbare oder unsagbare, eine unfehlbare Originalität, die sich unmittelbar auf die >Person< oder auf das >Werk< beruft.« 52 Über das, was ästhetisch und notwendigerweise auch historisch als Originalität oder Nicht-Originalität zu bezeichnen ist, ist also mit der Kategorie der Singularität noch nichts ausgesagt. Die Annahme von Codes als Bestandteil eines Textes ist eine Voraussetzung, um das Textverstehen zu erklären und das Textsystem zu konstruieren. Die Annahme eines Textsystems als Komposition, nicht als Komplex von Codes, ist die notwendige Konsequenz aus der Unterscheidung zwischen Nachricht und Text bzw. - mit Ecos Terminologie - zwischen Nachricht und Nachricht mit ästhetischer Funktion. Ein Code ist ein System, das sich nicht als Diskurs entfaltet, während das Textsystem sich im Text realisiert und nichts anderes als die verfahrenshypothetische Bestimmung dessen darstellt, was Textstrukturierung meint. Die These, daß das Textsystem aus einer Verschiebung der Codes konstruiert wird, ist eine Aussage, die sich auf die Gesamtstruktur des Films bezieht, aber nicht die Codes in ihrer Autonomie und als >Materialbasis< jeglicher Textstrukturierung betrifft. Ein Textsystem, das aus einem Film gewonnen wird, muß immer ein bestimmtes Maß an Kinematographischem enthalten, da der kinematographische Code der den Film als Film definierende Code ist. Die anderen, sich in den Film einschreibenden Codes, können sowohl kinematographisch wie auch nicht-kinematographisch sein. Diese Dualität von 51 52
AaO, S. 169. AaO, S. 170.
106
Kinematographischem und Nicht-kinematographischem wird im Filmsystem als Komposition von beidem nicht aufgehoben in einer rein kinematographischen Komposition (alles wird filmisiert, aber nicht kinematographisiert), sondern die Eigenart des Films besteht, so Metz, darin, »kinematographische und nicht-kinematographische Codes zu einer Gesamtkonstruktion zusammenzufassen, die diese Dualität bewahrt, durch die logische und strukturelle Einheit eines singulären Systems jedoch über sie hinausgeht: die die Dualität in eine Mischung (mixite) transformiert.« 53 Diesen Mischungscharakter zu präzisieren, ist Aufgabe einer konkreten, am Beispiel orientierten Untersuchung des Films.
4. Z u m P r o b l e m des k i n e m a t o g r a p h i s c h e n C o d e s 4.1. Das Problem der kleinsten Einheit im Film Aus der Perspektive einer Semiotik, die sich an linguistischen Methoden orientiert, sind naheliegende Fragen, was man als Zeichen des Films eingrenzen kann, was die kleinste Einheit des Films ist und in welchem Verhältnis Signifikat und Signifikant beim »filmischen Zeichen< stehen. Es kann nicht die Aufgabe dieser Ausführungen sein, die diversen Ansätze, die hierzu formuliert worden sind, zu diskutieren. Es sollen nur einige zentrale Fragen und Lösungsvorschläge erörtert werden. Die Frage nach der kleinsten Einheit im Film orientiert sich am linguistischen Modell, wenn sie nach den der Verbalsprache korrespondierenden Elementen im Film sucht. Die erste linguistisch >naive< Antwort auf die Frage nach der Kompatibilität von Satz und Wort mit Elementen des Films erklärt die Einstellung als dem Wort und die Sequenz als dem Satz vergleichbar. 54 Die Einstellung gilt dann als die nicht weiter in bedeutungstragende Elemente zerlegbare Einheit des Films. Die Sequenz wird als dem Satz korrespondierende syntagmatische Einheit definiert. Übersehen wird in dieser Zuordnung, daß die Einstellung im Film auch immer eine syntagmatische Einheit ist, daß sie lediglich dann als unzerlegbar gelten kann, wenn man den technischen Aufnahmeprozeß zum alleinigen Unterscheidungsmerkmal erklärt. Fragt man nach der Bedeutung einer Einstellung, so wird die Korrespondenz zum Wort mehr als fragwürdig. Eine Einstellung, die ein Haus zeigt, ist nicht ein Lexem wie das Wort »Haus« in der verbalen Sprache, sondern muß mit einer Aussage wie der »Dies ist ein Haus« 53 54
AaO, S. 118. Cf. ζ. B. Vsevolod I. Pudowkin, aaO, S. 108: »Die Montage ist die Sprache des Filmregisseurs. Was in der Sprache ein Wort ist, das ist in der Montage ein Stück aufgenommenen Films, eine Einstellung. Ein Satz entspricht der Vereinigung dieser Einstellungen.« 107
verglichen werden. In dem angeführten Beispiel, einer Einstellung (einem Bild), die (das) ein Haus zeigt, handelt es sich um ein ikonisches Zeichen, von dem Eco zu Recht sagt: »Ein ikonisches Zeichen ist fast immer ein Sema, d. h. etwas, was nicht einem Wort, sondern einer Aussage der Wortsprache entspricht.« 55 Von der Lexik der Verbalsprache aus gesehen, läßt sich die Einstellung nicht dem Wort vergleichen. Auf einen anderen Aspekt, der gewisse Gemeinsamkeiten zwischen Wort und Einstellung sichtbar macht, hat Lotman hingewiesen: » . . . man kann sie (seil, die Einstellung) aus dem Zusammenhang herausnehmen, mit anderen nach den Gesetzen sinnhafter, nicht natürlicher Zusammengehörigkeit kombinieren, kann sie im übertragenen - metaphorischen und metonymischen - Sinn gebrauchen.« 56 Lotman spielt hier auf die paradigmatischen und zugleich konnotativen Möglichkeiten der einzelnen Einstellung an und stellt diese in Beziehung zu denen des verbalsprachlichen Wortes. Allerdings läßt er, wenn er Einstellung und Wort in gleicher Weise als »diskrete Einheiten« bezeichnet, die zeichenstrukturellen Unterschiede, die in Film und Verbalsprache zu unterschiedlichen Semioseprozessen führen, außer acht.57 Wichtiger als die Frage nach verbalsprachlichen Zuordnungs-Möglichkeiten ist hier die Frage, welche Funktion die Einstellung im Film aufgrund ihrer Struktur hat. Die Einstellung ist prinzipiell dreifach begrenzt: durch die Ränder der Leinwand, in räumlicher und in zeitlicher Hinsicht. Dieser Ausschnittcharakter der Einstellung führt zu »Leerstellen«, die vom Rezipienten ausgefüllt werden müssen: » . . . in der Wirklichkeit folgen die Ereignisse einander in einem unaufhörlichen Strom, auf der Leinwand aber wird die Handlung auch beim Verzicht auf die Montage gleichsam Verdickungen bilden, zwischen denen Leerstellen sind, die mit Überleitungshandlungen gefüllt werden müssen.«58 Wenn Lotman hier zu Recht von Leerstellen in der einzelnen Einstellung spricht, die für ihn auf die Beziehung zwischen Literatur und Film als jeweils komponierter Einheit hinweisen, so widerspricht er damit zugleich seinem Versuch, die Einstellung dem Wort zu vergleichen.59 Die dreifache Begrenztheit der Einstellung, die sie immer als Ausschnitt von etwas definiert, erhellt zugleich, daß jede Einstellung im Film >Zeichen< ist in dem Sinne, daß sie etwas >semiotisiert< und nicht bloß >reproduziertKonventionalität< des sprachlichen Zeichens. Wenn man nach Vergleichbarem zwischen einer konventionalisierten Einstellung und Elementen der verbalen Sprache sucht, so korrespondiert ihr eine idiomatische Redewendung und nicht ein Wort. 4.2. Zur Struktur des ikonischen Codes Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, in welchem Verhältnis Signifikat (signifie) und Signifikant (signifiant) bei dem stehen, was heuristisch als filmisches Zeichen bezeichnet werden kann. Das Filmbild, das ein Haus zeigt, hat als Signifikat ein Haus und als Signifikant gleichermaßen die >wahrnehmungsgemäße< Wiedergabe eines Hauses. Das, was Pasolini in seinen Überlegungen zur Filmsprache unterläuft, daß er nämlich Referent und Signifikat verwechselt, 62 bestimmt die naive Wahrnehmung von Film. Bitomsky spricht von dem Mißverständnis, im Film ein Fenster zur Wirklichkeit statt ein Schaufenster zu sehen. 63 Lotman merkt zu Recht an, daß aufgrund der Ähnlichkeit zwischen dem Filmbild und dem, was es darstellt, häufig die irrtümliche Schlußfolgerung gezogen wird, Filmverstehen setze keinerlei Lernprozeß voraus, sei eine im Vergleich zum verbalsprachlichen Textverstehen un-intellektuelle Tätigkeit. 64 Dieses weitverbreitete Urteil kann zurückgeführt werden auf die Unterschiede, die in der Entwicklung des Films im Vergleich etwa zur wortsprachlichen Literatur bestehen, und zugleich auf die Unterschiede, die in der Erlernbarkeit des Filmsehens im Vergleich etwa zum Lernprozeß, den das Sprach verstehen voraussetzt, liegen: Denn »das Kino erfordert beim Sender wie beim Empfänger (also beim Filmautor und Zuschauer) eine 61
Cf. Jurij M. Lotman, aaO, S. 49. Cf. Pier Paolo Pasolini, aaO, passim; cf. auch die Kritik Umberto Ecos an Pasolini (Umberto Eco, Einführung in die S e m i o t i k . . S . 245f). 63 Cf. Hartmut Bitomsky, Der Alltag der Kunst. Audiovisuelle Medien als Schlüssel der Erziehung. In: O. Schwencke (Hg.), Ästhetische Erziehung und Kommunikation, Frankfurt/Main 1972, S. 28ff, S. 34. 64 Cf. Jurij M. Lotman, aaO, S. l l f : »Der Film hat Ähnlichkeit mit der uns sichtbaren Welt. Die Steigerung dieser Ähnlichkeit ist ein konstanter Faktor der Entwicklung des Films als Kunst. Aber diese Ähnlichkeit ist ebenso heimtückisch wie die Wörter einer Fremdsprache, deren Klanggestalt Wörtern der eigenen gleicht: das Wort der anderen Sprache gibt sich den Anschein, dasselbe zu sein. Erst wenn wir die Sprache des Films verstehen, werden wir uns überzeugen, daß er keine sklavische, mechanische Kopie der Wirklichkeit darstellt, sondern eine aktive Reproduktion, in der Ähnlichkeiten und Unterschiede zu einem einzigen, spannungsreichen - zuweilen dramatischen - Prozeß der Lebenserkenntnis verschmelzen.« 62
109
gewisse Vorbereitungs- (bzw. Lehr-) zeit, aber diese Vorbereitungszeit ist gering im Vergleich zu der, die die Sprachen (idioms) erfordern. Auf der phylogenetischen Ebene: es hat ungefähr zwanzig Jahre gedauert (von 1895 bis ca. 1915, d. h. von Lumiere bis Griffith), ehe die kinematographische Sprache auftauchte: das ist einerseits lange, andererseits aber auch nicht. Auf der ontogenetischen Ebene: es ist erwiesen, daß ein Kind, das vor dem zwölften Lebensjahr ins Kino geht, nicht imstande ist, den genauen Sinn eines normalen modernen Spielfilms in seiner ganzen Kontinuität zu verstehen; doch von diesem Alter ab gelingt ihm dies nach und nach, und zwar ohne große Ausbildung wie die, die das Erlernen fremder Sprachen... erfordert. Das gleiche gilt für die Erwachsenen einer Gesellschaft ohne Kino...; bei ihrem ersten Kontakt mit dem Kino verstehen sie zwar nicht sofort alle Filme unserer Gesellschaft, doch mit der Zeit gelingt es ihnen sogar ziemlich rasch. In diesem Punkt herrscht in allen Forschungsergebnissen Übereinstimmung.« 65 Das Problem des Filmverstehens konzentriert sich in semiotischen Überlegungen zum Film vor allem auf die Frage, in welchem Verhältnis Filmwahrnehmung und Alltagswahrnehmung stehen. Die Definition des ikonischen Zeichens muß dieses Verhältnis umschließen. Im Unterschied zu der naiven Annahme einer Gleichheit muß man, um das Verstehen überhaupt erklären zu können, von Codifizierungsprozessen ausgehen. Im Anschluß an die Forschungen des genetischen Strukturalismus, vor allem die Ergebnisse Piagets, formuliert Eco: »Wir werden also sagen, daß alles, was in den Bildern uns analog, kontinuierlich, begründet, natürlich und damit irrational erscheint, einfach etwas ist, was wir mit unseren heutigen Kenntnissen und operationalen Fähigkeiten noch nicht auf Diskretes, Digitales, rein Differenziertes zurückführen können. Vorläufig möge es genügen, im Innern des geheimnisvollen Phänomens >BildKopf< im Kontext der Aussage >stehendes Pferd im Profil< nur, wenn es in Opposition steht zu Zeichen wie >HufeSchwanz< oder >MähneWortfür-Wort< die Beziehung suchen, vergleichen nicht allein aufgrund des veränderten Zeichensystems Unvergleichbares, sondern sie übersehen den Prozeß, der zur Literaturverfilmung geführt hat. Verglichen werden können nur die Systeme. Diese Bestimmung muß an späterer Stelle präzisiert werden, wenn danach gefragt wird, was es heißt, die Systeme zu vergleichen, und wenn tertia comparationis zwischen literarischem Text und Literaturverfilmung ermittelt werden. An dieser Stelle muß auf einen anderen, im Bereich der Vorfragen liegenden Aspekt eingegangen werden: Was führt zu der Bezeichnung eines Films als Literaturverfilmung? - Man weiß aus der Ankündigung des Films, daß dem Film ein literarischer Text zugrunde liegt. - Man kennt den literarischen Text und weiß aus der Ankündigung, daß dem Film dieser Text zugrunde liegt und erkennt den Text im Film wieder. - Man kennt den Film, aber nicht den literarischen Text, der diesem Film zugrunde liegt, liest den Text und erkennt den Film im Text wieder. Während die erste Spezifizierung des Films als Literaturverfilmung auf Zusatzinformationen angewiesen ist und diese Zusatzinformationen allein zu der Spezifizierung führen, kommt zu der Zusatzinformation bei der Spezifizierung unter Punkt zwei und drei der Faktor des Wiedererkennens hinzu. Die erste Spezifizierung eines Films als Literaturverfilmung, die allein durch die externe Zusatzinformation begründet ist, soll hier ausge15
Mit dieser Formulierung soll allein die Tatsache nochmals betont werden, daß Buch-Literatur wie Film, um überhaupt verstehbar zu sein, bis zu einem bestimmten Maße Realisierungen von bekannten Regelsystemen sein müssen.
123
klammert werden. Es wäre kulturgeschichtlich und wahrnehmungspsychologisch interessant zu ermitteln, inwieweit diese Zusatzinformation die Lektüre des Films selbst lenkt oder post festum verändert. Von methodologischem Interesse für eine Untersuchung der Literaturverfilmung (nicht im numerischen, sondern im absoluten Sinne) ist dies erst einmal weniger. Zentral ist die Frage des Wiedererkennens, die in Punkt zwei und drei zur Spezifizierung eines Films als Literaturverfilmung führt. Die Zielsetzung einer Theorie der Literaturverfilmung läßt sich auf diese Kategorie hin formulieren: Es geht darum, das, was hier vage als Wiedererkennen bezeichnet wird, zu präzisieren. Während bisher der Prozeß der Textstrukturierung einer Literaturverfilmung aus der Perspektive des die Literaturverfilmung Produzierenden betrachtet wurde, hat sich nun die Perspektive auf den die Literaturverfilmung Wahrnehmenden verlagert. Aus dieser Perspektive läßt sich Literaturverfilmung wie folgt schematisieren: Literarischer Text
I I
Lektüre
I I
- Textsystem .
(
Vergleich bzw. Analogieraum s Textsystem
\ I J
ι I
Lektüre
I
I Literaturverfilmung Konsequenterweise müßte man die Spezifizierung eines Films als Literaturverfilmung, die auf den unter Punkt drei angeführten Bedingungen aufbaut, als >filmisierten literarischen Text< bezeichnen. Die Erklärung, warum aber auch hier von Literaturverfilmung gesprochen werden kann, begründet sich aus der chronologischen Entstehungsfolge: obgleich die Lektüre des literarischen Textes der Lektüre des Films folgt, dominiert das Bewußtsein, daß die Literaturverfilmung den Text als Materialbasis hatte und nicht vice versa. Anders verhält es sich bei literarischen Texten, die einen Film als Materialbasis haben. Diese neue Genese von Texten - Beispiele sind etwa Heinar Kipphardts Roman »März«, Tankred Dorsts Erzählung »Klaras Mutter« - zu behandeln, wird eine der notwendigen Forschungsaufgaben in der Zukunft sein. 124
Zwei weitere Fragen müssen kurz erörtert werden, u m Mißverständnisse f ü r die weiteren Überlegungen gering zu halten: Jede Lektüre stellt ob >naiv< oder >reflektiert< - die Ermittlung des dem Text zugrundeliegenden Systems dar. Metz erhebt die Forderung, daß das ermittelte System isomorph mit dem Text sein müsse. Dieser Forderung liegen zwei Prämissen zugrunde: zum einen, daß es überhaupt möglich ist, ein dem Text koextensives System zu rekonstruieren; zum anderen das Postulat, daß die vollständige Analyse des Films die Rekonstruktion eines derart isomorphen Systems einschließt. Was die zweite Prämisse betrifft, so werden die Differenzen deutlich, wenn m a n sich den unterschiedlichen methodologischen Stellenwert vor Augen hält, den die Ermittlung des Textsystems in unserem Zusammenhang im Vergleich zu Metz e i n n i m m t : Während die Ermittlung eines Textsystems bei Metz Teil eines Forschungsprogramms ist, ist die Ermittlung des Textsystems hier als Teil des Prozesses der Textstrukturierung von Literaturverfilmung bezeichnet worden. Die Forderung, daß dieses Textsystem isomorph mit dem Text zu sein habe, hieße also restriktivnormativ festzulegen, was Literaturverfilmung sein soll und widerspräche der hier formulierten Zielsetzung, den Prozeß der Genese der Literaturverfilmung methodologisch zu bestimmen. M a n könnte n u n - im Anschluß an Metz - die Forderung erheben, daß eine exakte Analyse einer Literaturverfilmung die dem literarischen Text und der Literaturverfilmung zugrunde liegenden Systeme in der Weise zu ermitteln habe, daß Systeme und Texte isomorph sind. Damit wäre der Weg eines objektiven Vergleichs möglich. Die Diskussion dieser Forderung f ü h r t zurück zu der ersten Prämisse von Metz, der Voraussetzung, daß es möglich ist, ein Textsystem, das isom o r p h mit dem Text ist, zu ermitteln. Der Streitpunkt, ob eine solche Voraussetzung aufgestellt werden kann und als Programm auch einzulösen ist, f ü h r t in die komplexe Problematik, in welchem Verhältnis die strukturalistische und hermeneutische Betrachtungsweise stehen. Diese Problematik kann hier nur soweit zur Sprache kommen, wie sie den Untersuchungsgegenstand selbst betrifft. Betont m a n das Problem der Verständigung, des Verstehens und im Blick auf die Literaturverfilmung das Moment des Wiedererkennens, so geht m a n der Frage nach, mit welchen Codes ein Text verstanden bzw. eine literarische Vorlage in einem Film wiedererkannt wird. Betont man das die Singularität eines Textes konstituierende Zusammenspiel unterschiedlichster Codes - das Phänomen der Destruktion von Codes und der partiellen Herausbildung neuer Codes -, so zeigt sich, daß das, was man im Blick auf die Bedingungen des Verstehens als Rekonstruktionsarbeit bezeichnen kann, ergänzt werden m u ß u m einen systembildenden Prozeß. Eco spricht in seiner Analyse der ästhetischen Botschaft von der »>offene(n)< Logik der Signifikanten«, 1 6 die der Gegenstand der Untersuchung 16
Umberto Eco, aaO, S. 162. 125
der poetischen Botschaft ist. In seiner Kritik am »ontologischen Strukturalismus«, 17 der von einem geschlossenen System ausgeht, betont Eco die »Offenheit des Kunstwerks«, ohne allerdings den Faktor der auch im Kunstwerk vorhandenen Codehaftigkeit zu vernachlässigen: »Dadurch, daß die ästhetische Botschaft sich in bezug auf den Code zweideutig strukturiert und ständig ihre Denotationen in Konnotationen verwandelt, bringt sie uns dazu, auf ihr immer neue Codes auszuprobieren. Daher lassen wir in ihre leere Form immer neue Bedeutungen einfließen, die von einer Logik der Signifikanten kontrolliert werden, welche eine Dialektik zwischen der Freiheit der Interpretation und der Treue zum strukturierten Kontext der Botschaft aufrecht erhält. Und nur so versteht man, warum in jedem Fall die Betrachtung des Kunstwerks in uns jenen Eindruck von emotionalem Reichtum und immer neuerer und tieferer Erkenntnis erweckt, der Croce von Kosmizität sprechen ließ. Aber die zweideutige und autoreflexive Botschaft ist nicht nur eine Maschine, die Emotionen erzeugt. Sie kann auch als Instrument der Erkenntnis betrachtet werden. Diese Erkenntnis verwirklicht sich sowohl gegenüber dem Code, von dem die Botschaft ausgeht, als auch gegenüber den Referenten, auf die die Signifikanten durch den Filter der Signifikate verweisen.« 18 Die Dialektik zwischen interpretatorischer Treue und interpretatorischer Freiheit, die Eco bestimmt, hat ihre Ursachen in dem Verhältnis des Textes zu den Codes. Während man vom Gesichtspunkt des Verstehens ausgehend die codischen Verhältnisse eines Textes versuchsweise rekonstruieren kann und die Verschiebungen der Codes markieren kann, muß die Singularität des Textsystems als ein Prozeß verstanden werden, d. h. als offenes System. Versteht man unter Rekonstruktion die in Umlauf gebrachten SinnsKreativitätDenkmodellen< einer Grammatiktheorie auf fiktive Texte nicht unproblematisch. 29 Julia Kristeva, aaO, S. 138. 30 AaO, S. 147. 31 Zur Unterscheidung von Diskurs und Text cf. Julia Kristeva, aaO, S. 37. 32 AaO, S. 147.
129
nelle Analyse) setzt die Dichotomie Signifikant/Signifikat voraus und läßt sich von dem Prinzip leiten, daß eine Transformation des Signifikanten möglich ist, wenn sie von der Äquivalenz (der Unbeweglichkeit) des Signifikats umschlossen ist... Damit können die Schranken der transformationellen Analyse bezeichnet werden: sie ist imstande, die Veränderungen im Innern einer geschlossenen Struktur zu entziffern, aber sie kann die Verschränkung dieser Struktur mit einem gesellschaftlichen oder historischen Text nicht erfassen.« 33 Die Grenzen der transformationeilen Analyse, die Kristeva sieht, markieren letztlich die Problematik, die die theoretische Konstruktion eines Performanz-Kompetenz-Modells enthält. Diese Problematik findet selbst im Binnenraum linguistischer Diskussionen ihren Niederschlag, wenn der Bereich der Kompetenz immer weiter ausgedehnt wird mit dem Ziel, in die Ermittlung von konstanten, ahistorischen Systemen, wie dem der grammatischen Kompetenz, historische Entwicklungen zu integrieren. 34 Hinter diesem Problem verbirgt sich die hier nur zu benennende Grundfrage, wie der Zusammenhang von Struktur und Geschichte systematisch erfaßt werden kann. Schiwy hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der generelle Vorwurf, der Strukturalismus eliminiere die Geschichte, der Diskussion, die diese Frage unter den Strukturalisten selbst hervorgerufen hat, nicht gerecht wird 35 - eine Mahnung, die heute noch notwendig ist. Formulierungen wie die, daß der Erklärungswert der strukturalistischen Betrachtungsweise »verschwindet«, »wo Historizität ins Spiel kommt«, 3 6 müssen sich den Vorwurf der Ignoranz gefallen lassen. Worum es ζ. B. Kristeva gerade geht und weshalb sie die transformationelle Analyse zu einer Methode erweitert, ist, eine historische Analyse von literarischen Texten methodologisch abzusichern. Die Notwendigkeit, die transformationeile Analyse zu einer Methode auszuweiten, ist eine Konsequenz ihrer Unterscheidung von Text und Diskurs. Während die Ebene des Diskurses die Satz- und Wortkompetenz erfaßt, ist der Text ein »Produktionsprozeß von Sinn«, 37 der auf vorgegebenen Sinnmodellen aufbaut. Kristeva strebt mit ihrer Methode an, eine »Typologie der Bedeutungspraktiken (zu erhalten), die sich jeweils an den diesen Bedeutungspraktiken zugrunde liegenden Modellen von Sinnproduktion zu orientieren hätte«. 38 33
AaO, S. 149. Diese Fragen sind v. a. von Dieter Wunderlich im Kontext der Überlegungen zu einer »linguistischen Pragmatik« und zu Fragen der Sprechakttheorie erörtert worden. Cf. exemplarisch Dieter Wunderlich (Hg.), Linguistische Pragmatik, Frankfurt/Main 1972; Utz Maas/Dieter Wunderlich, Pragmatik und sprachliches Handeln, Frankfurt/Main 1972. 35 Cf. Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 86ff. 36 Horst Meixner, aaO, S. 35. 37 Julia Kristeva, aaO, S. 136. 38 AaO, S. 134. 34
130
Die Sequenzen oder Systeme, die anderen Texten entnommen sind und die sich in einen Text einschreiben, nennt Kristeva »Transforme«. 39 Als Transformationen bleiben sie relativ auf ihr Modell von Sinnproduktion bezogen. In dieser Bestimmung liegt Kristevas Nähe zu Derridas TextBegriff und, so Frank, die Nähe bieder zu dem »historisch-genetischen Zug der Schleiermacherschen Hermeneutik«. 40 Das Zusammenspiel der Transforme konstituiert die »Intertextualität« eines Textes: »Mit Intertextualität bezeichnen wir jene textuelle Interaktion, die im Innern eines einzigen Textes entsteht. Für das erkennende Subjekt ist Intertextualität ein Begriff, der die Art und Weise anzeigt, wie ein Text die Geschichte entziffert und sich in sie einschreibt. Die spezifische Realisierung der Intertextualität in einem bestimmten Text ist das hauptsächliche (>gesellschaftlicheästhetischematerialisiert< ist und sich in der Weise mit dem Text verschränkt, daß er ein historisches und gesellschaftliches Koordinatensystem zu erkennen gibt.«42 Die Transformation von semiotischen Praktiken ist ein Teil des textuellen Ganzen. Die Analyse der Transforme muß vermittelt werden mit der Bestimmung ihrer Funktion sowohl im Ganzen des Textes wie in ihrer Funktion in den historischen und gesellschaftlichen Texten. Abschließend soll skizziert werden, worin sich die Bestimmung der Literaturverfilmung als Transformation von dem unterscheidet, was Kristeva unter Transformation versteht. Bei Kristeva findet Transformation auf der Ebene des Genotextes statt, ist Teil der Textstrukturierung. Aufgabe der Forschung ist es, die Transforme zu ermitteln, die die Intertextualität konstituieren. Literaturverfilmung als Transformation bezeichnet die intentionale Transformation einer semiotischen Praxis. Transformation bezieht sich auf die Ebene des 39
AaO, S. 149. Manfred Frank, aaO, S. 288. 41 Julia Kristeva, aaO, S. 149. 42 AaO, S. 151. 40
131
Phänotextes. Auf der Ebene des Genotextes muß man von dem Transformationsprozeß und -system sprechen. Transformation ist in unserem Zusammenhang ein realisiertes Gebilde, kein Konstrukt. Aufgabe der Erforschung dieser Transformation ist die Ermittlung des Transformationsprozesses und -systems als Teil der Textstrukturierung. In diesem Transformationsprozeß hat der literarische Text, der transformiert wird, die Rolle eines Transforms. 2.1. Die literarische Vorlage als Transform Die Frage, welchen Stellenwert die literarische Vorlage bei einer Literaturverfilmung einnimmt, kann in einer Applikation von Kristevas Ansatz auf unseren Problemzusammenhang präziser erfaßt werden, als dies deskriptive Versuche der Bestimmung von Literaturverfilmung vermögen. Es wird mit Hilfe dieser Methode möglich, das, was gemeinhin als Interpretation einer Vorlage qua Literaturverfilmung bezeichnet oder gefordert wird, exakter zu bestimmen. Der Phänotext einer Literaturverfilmung wurde oben als Transformation bezeichnet. Der Genotext als Konstrukt zur Bestimmung der Textstrukturierung umfaßt nach Kristeva die Satz- und Wortkompetenz, also den Diskurs, und Sequenzen und Systeme, die aus Modellen von Sinnproduktion entnommen sind und auf der Ebene des Genotextes transformiert werden. Den Genotext zu bestimmen, heißt also immer mehr als eine Analyse des Diskurses. Wendet man die Unterscheidung von Text und Diskurs auf die Literaturverfilmung an, so läßt sich der literarische Text als Transform bestimmen, das zwar einen besonderen Status hat, aber nicht das die Intertextualität erschöpfend definierende Transform ist. Worin liegt der Erkenntniswert, wenn man den literarischen Text als Transform auf der Ebene des Genotextes einer Literaturverfilmung bestimmt? Die verfahrenshypothetische Definition des literarischen Textes als Transform ermöglicht, den Prozeß der Textstrukturierung einer Literaturverfilmung nicht nur im Binnenraum des Vergleichs von literarischer Vorlage und ihrer Verfilmung zu erfassen, sondern in ihrer gesellschaftlichgeschichtlichen Dimension zu bestimmen. Literaturverfilmung ist nicht nur die Transformation einer semiotischen Praxis in eine andere semiotische Praxis, sondern zugleich immer auch die Transformation anderer Modelle von Sinnproduktion, die dem literarischen Text als Transforme zugeordnet werden, die neue Erfahrungen über das Transform »literarischer Text« ermöglichen oder aber dieses Transform ideologisch festschreiben. Der besondere Status des Transforms »literarischer Text« ist durch die Definition der Literaturverfilmung als Transformation gegeben: in dieser Bestimmung ist die Absicht enthalten, dieses Modell von Sinnproduk132
tion als ein Modell von Sinnproduktion zu transformieren, sich also nicht nur relativ, sondern programmatisch darauf zu beziehen. In diesen Transformationsprozeß nun schreiben sich Sequenzen und Systeme ein, die nicht auf das Transform »literarische Vorlage« zurückzuführen sind, sondern die ihren historischen und gesellschaftlichen Ort an anderer Stelle haben. Die Textstrukturierung einer Literaturverfilmung läßt sich also als ein Prozeß konstruieren, der ein Ensemble von Transformen umfaßt. Die Intertextualität einer Literaturverfilmung konstituiert sich durch das Zusammenspiel dieser Transforme, sie ist also nicht der Intertextualität des literarischen Textes, der transformiert wird, äquivalent.43 Die Bestimmung der Literaturverfilmung als einer Interpretation des literarischen Textes meint also nichts anderes als die methodisch unpräzise Umschreibung dessen, was die Textstrukturierung der Literaturverfilmung definiert. Durch den Ansatz der transformationellen Methode wird es möglich, diesen Sachverhalt zu präzisieren, indem der Ort der subjektiven Interpretation angegeben wird. Die Untersuchung der Textstrukturierung von Literaturverfilmung läßt sich nun näher präzisieren: 1. Es muß untersucht werden, was der Transformationsprozeß der literarischen Vorlage als Transform der Literaturverfilmung (bzw. Transformation) meint. 2. Es muß untersucht werden, was der Transformationsprozeß, verstanden als Produktionsprozeß von Sinn, in den sich andere Modelle von Sinnproduktion eingeschrieben haben, meint. Diese beiden Untersuchungsschritte lassen sich allerdings, wenn man auf konkrete Beispiele rekurriert, nicht in der hier formulierten Schärfe voneinander isolieren. Der Schwerpunkt meiner Überlegungen liegt auf der ersten Fragestellung. Überlegungen zur zweiten Frage, die durch analytische Arbeit gewonnen werden, werden in ihrem Stellenwert jeweils lokalisiert, aber nicht von den Überlegungen zur ersten Frage abgetrennt. Eine ausführliche Behandlung der zweiten Fragestellung, die auf zahlreichen an Beispielen orientierten Analysen aufbauen muß, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.
43
Die Vorstellung der Äquivalenz zwischen Literaturverfilmung und literarischer Vorlage impliziert, im Unterschied zur Kategorie der Analogie, ein Vergleichen hinsichtlich der Wertigkeit beider Texte. Auf die Problematik eines solchen Vergleichs wurde bereits mehrfach hingewiesen. Hier sei noch einmal an die Kritik Francois Truffauts an dem von Jean Aurenche und Pierre Bost vertretenen Verfahren der Äquivalenz erinnert; Fran5ois Truffaut, Eine gewisse Tendenz im französischen Film, in: Th. Kotulla (Hg.), Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente. Band 2: 1945 bis heute, München 1964, S. 116ff, S. 117f.
133
2.2. Zum Transformationsprozeß des Transforms »literarische Vorlage< Wenn man nach dem Transformationsprozeß des Transforms »literarische Vorlage< fragt, so abstrahiert man von dem Faktum, daß sich in einen literarischen Text andere Modelle von Sinnproduktion als Transforme eingeschrieben haben. Man fragt danach, was mit dem literarischen Text im Transformationsprozeß geschieht. Untersucht werden soll im folgenden, wie ein wortsprachlich-erzählender Text so transformiert werden kann, daß er im filmisch-erzählenden Text wiedererkannt wird. Diese Fragestellung baut auf der Ausgangshypothese auf, daß »unter jedem Kommunikationsprozeß diese Regeln - oder Codes - existieren und daß diese auf irgendeiner kulturellen Übereinkunft beruhen.« 44 Von dieser Ausgangshypothese aus läßt sich die Fragestellung präzisieren: Sowohl der literarische Text als auch der Film situieren die kommunikative Rede im Schnittpunkt verschiedener, nicht allein des sie definierenden Codes. Der sprachliche Code ist nur einer, aber nicht der einzige, auf dem der literarische Text aufbaut, sowie der kinematographische Code einer, aber nicht der einzige des Films ist. Das Verstehen sowohl eines literarischen als auch eines filmischen Textes beruht also nicht nur auf der Kenntnis des sprachlichen bzw. kinematographischen Codes, sondern auf der Kenntnis einer Fülle anderer Codes, die sich in diesen einschreiben. Verschiedentlich, so etwa von Eco und mit anderer Perspektive von Barthes,45 ist versucht worden, die Codes zu bestimmen, die sich aus einem ästhetischen Text konstruieren lassen. Metz geht in seiner Studie »Sprache und Film« der Frage nach, welche anderen als kinematographischen Codes einen Film bestimmen können. 46 Für unseren Zusammenhang entscheidend ist die Frage, welche Codes beim literarischen und filmischen Text gemeinsam sein können und welche verschieden sein müssen. Mit diesem pragmatischen Blickwinkel lassen sich die Codes einteilen in solche, die >sprachlich-spezifisch< und solche, die >nicht-sprachlich-spezifisch< sind. Diese Einteilung wird aus der Frage gewonnen, ob die durch den Code regulierte Nachricht als unabhängig von der spezifischen semiotischen Realisierung gedacht werden kann oder nicht. Die Unterscheidung baut auf der von Metz vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen spezifischen und nicht-spezifischen Codes auf, die dieser aus der Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltscodes, wie Hjelmslev sie getroffen hat, ableitet. Die Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltscodes beruht auf der Voraussetzung, daß ganze Codes sich entweder auf.der Seite des Ausdrucks oder des Inhalts befinden. 47 44 45 46 47
Umberto Eco, aaO, S. 197. Cf. Umberto Eco, aaO, S. 247f und Roland Barthes, aaO, S. 25f. Cf. Christian Metz, aaO, bes. Kp. V und X. Cf. Christian Metz, aaO, S. 266ff.
134
Die Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltscodes ist nicht gleichzusetzen mit der traditionellen Unterscheidung von Form und Inhalt. Die Form-Inhalt-Problematik wird allerdings in dieser Unterscheidung aufgefangen, wenn njan sie, wie Metz, als Unterscheidung zwischen Vehikel und Programm präzisiert, »wobei es sich versteht, daß das Vehikel nicht der Signifikant und das Programm nicht das Signifikat ist, sondern daß Vehikel und Programm jeweils aus einem Komplex von Codes, mit ihren Signifikanten und Signifikaten, bestehen.« 48 Während die Ausdruckscodes per definitionem zu der Gruppe der sprachlich-spezifischen Codes zu rechnen sind, d. h. zu der Gruppe von Codes, die durch die relevanten Eigenschaften der Materie des Signifikanten begrenzt sind, sich also auf das, was Metz Vehikel nennt, beziehen, sind die Inhaltscodes dadurch definiert, daß sie durch keine Eigenschaften der Materie der Signifikanten irgendeiner Sprache begrenzt sind. Die Inhaltscodes besitzen universale Manifestationsmöglichkeiten. Metz nennt sie die im eigentlichen Sinne »semantische(n) Codes«: ».. .ihre Signifikanten befinden sich ebenso wie ihre Signifikate sozusagen innerhalb der Inhaltsmaterie, innerhalb dessen, was man >Sinn< (sens) nennt, jener Instanz, die allen Sprachen gemeinsam ist... Ihr Aufbau des Ausdrucks besteht aus abstrakten Konfigurationen von Semantismen, ihr Aufbau des Inhalts entspricht der mit diesen Konfigurationen verknüpften gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung.«49 Die Unterscheidung zwischen Inhalts- und Ausdruckscodes wurde als eine pragmatische bezeichnet. Diese Bezeichnung signalisiert ein Absicherungsbedürfnis gegenüber prinzipiellen Einwänden. Die hier getroffenen Unterscheidungen sind Hypothesen und - vom Standpunkt der langue< des Erzählens zu 51 52 53
So die Definition der kulturellen Codes bei Umberto Eco, aaO, S. 25. Cf. Rolf Kloepfer, Zum Problem des »narrativen K o d e « . . . , passim. Cf. Vladimir Propp, Morphologie des Märchens, Frankfurt/Main 1975.
136
ermitteln, geht es hier darum, die Elemente zu benennen, die eine Geschichte, unabhängig von ihrer semiotischen Realisierung, konstituieren. Der Weg, den Bremond verfolgt, hat also nur heuristischen Wert für diesen Kontext: es geht nicht u m eine langue des Erzählens. Es geht vielmehr u m die Bedingungen, unter, denen eine Erzählung mit der in e i n e m anderen Semiose-Kontext realisierten Erzählung so verglichen werden kann, daß v o n ihrer semiotischen Realisierung abstrahiert ist, d. h. daß sie den Status eines tertium comparationis zwischen wortsprachlichem und filmischem Erzähl-Text erhält. 54 Der Weg soll im folgenden skizziert werden, indem auf die Überlegungen von Bremond zurückgegriffen wird. 55 Bremond geht davon aus, daß sich neben den unterschiedlichen Semiologien der einzelnen Kunstarten und Kunstgattungen eine »semiologie autonome du recit« ermitteln läßt. 56 Diese Hypothese gründet auf der phänomenologisch seit langer Zeit bekannten Tatsache, daß dieselben Handlungen und Ereignisse in verschiedenen >Medien< erzählt werden können. 5 7 Zielsetzung von Bremond ist, neben der Modifikation des Proppschen Ansatzes, Haupttypen der narrativen Aussagen zu ermitteln, die ein möglichst großes Sample von Texten erfassen. Das zentrale Problem liegt damit in der Aufgabe, weder zu allgemeine noch zu enge Merkmale zu entwickeln. 5 8 Hier wird noch einmal der Unterschied zwischen der Zielset54
Das, was hier als »Geschichte« bezeichnet wird, weist Ähnlichkeiten auf mit der Kategorie der Fabel, wie sie von den Russischen Formalisten definiert wurde, um den Begriff des Sujets einzugrenzen (cf. ζ. B. Boris Eichenbaum, aaO, S. 25). Allerdings, das grenzt meine Überlegungen prinzipiell von den Russischen Formalisten ab, wird die Fabel nicht, wie die >Geschichteinstrumentalisiert< wird, ohne ihn zuvor ausführlich referiert und kritisiert zu haben. 56 Claude Bremond, Le message narratif..., S. 5. 57 Darauf weist Christian Metz in seinen Ausführungen zum Problem des Narrativen hin, wenn er sagt: »So erscheint jenseits der Verschiedenheit der semiologischen Systeme, die eine Erzählung manifestieren können, die wesentliche Segmentierung der erzählenden Sequenz in aktualisierte Äußerungen (sukzessive Prädikationen)... als eine konstante Eigenschaft der Narrativität. Alles dies ist nicht neu; man brauchte sich nur die Tatsache vor Augen zu halten, daß, wenn die Erzählung strukturell gesehen analysierbar ist in eine Folge von Prädikationen, sie dies nur ist, weil sie phänomenal gesehen eine Folge von Ereignissen ist.« (Christian Metz, Semiologie des Films..., S. 48f). 58 Cf. Claude Bremond, aaO, S. 5; cf. zu diesem Fragenkomplex auch Algirdas J. Greimas, Elemente einer narrativen Grammatik, in: H. Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln 1972, S. 47ff, S. 61; Tzvetan Todorov, Die Grammatik der Erzählung, in: H. Gallas (Hg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Darmstadt und Neuwied 1972, S. 57ff, S. 69; Roland Barthes, Introduction ä l'analyse structurale des recits, in: Communications, Nr. 8/1966, S. Iff. 137
zung Bremonds und dem Stellenwert, den die Frage des narrativen Codes in unserem Zusammenhang einnimmt, offensichtlich: Hier geht es darum, das narrative Schema, das als unabhängig von seiner Realisierung in einer bestimmten Sprache gedacht werden kann, zu ermitteln. Nicht die Frage, ob dieses Schema in einer Fülle von Erzählungen auffindbar ist, soll behandelt werden - dieses wäre, am Rande bemerkt, ein auch im Kontext von Literaturverfilmungen aufschlußreiches Thema, auf seinen Wert für die Literaturgeschichtsschreibung hat Kloepfer aufmerksam gemacht.59 An dieser Stelle ist die Frage leitend, mit welchen methodischen Schritten das narrative Schema von literarischem und filmischem Text so ermittelt werden kann, das von der jeweiligen semiotischen Realisierung abstrahiert ist. Zwei Fragerichtungen sind zentral: Nach welchen Gesetzen eine Handlung abläuft, und wie sich eine Erzählung so in Einheiten zerlegen läßt, daß man bei der Frage nach der Zusammenfügung der Einheiten das narrative Schema erhält. Bremond unterscheidet zwischen zwei Arten von Gesetzmäßigkeiten, nach denen eine Erzählung ablaufen kann: die Gesetze der Logik und die Gesetze der Konvention, des kulturellen Stereotyps.60 Ihm geht es primär um die logischen Gesetze, die einer Handlung zugrunde liegen. Entgegen der alternativen Unterscheidung dieser beiden Gesetzmäßigkeiten, wie Bremond sie vornimmt, muß auf das Zusammenspiel beider in der Erzählung von Handlungsabläufen aufmerksam gemacht werden. Ausgangspunkt der Überlegungen von Bremond ist, daß sich Handlungen in Einheiten zerlegen lassen, die zu einem universalen Lexikon der Erzählung führen, und deren Verbindungen eine universale Syntax ergeben. Eine konkrete Erzählung soll sich als die Realisierung, die >parolelangue< der Geschichte bietet, erweisen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, nach welchen Kriterien sich eine Erzählung segmentieren läßt. Ein erstes Kriterium der Segmentierung ist die Frage, welches die invarianten, nicht austauschbaren Glieder sind.61 Als invariant läßt sich eine Aktion nur bestimmen, wenn sie eine den Handlungsablauf insgesamt determinierende Funktion hat. Bei der Frage nach der Funktion muß man von dem terminus a quo ausgehen, der das Netz der Möglichkeiten in der Geschichte eröffnet, und nicht vom terminus ad quem, von dem aus sich die speziellen Selektionen einer bestimmten Geschichte erklären lassen. 59
Cf. Rolf Kloepfer, Tendenzen der Literatursemiotik in der BRD - eine erste Skizze..., S. 81; cf. auch Umberto Eco, aaO, S. 242, der den heuristischen Wert über seine eigenen theoretischen Bedenken (aaO, S. 100) stellt. 60 Cf. Claude Bremond, aaO, S. 15. 61 Phänomenologisch hat Lessing in seiner Definition von Handlung als einer Kette von Gliedern, die zusammen ein Ganzes ergeben, ein Fundament zu dieser Fragestellung gelegt.
138
In seiner Kritik an Propps finalistischem Prinzip vergleicht Bremond die Struktur einer Geschichte mit einem Muskel und der Anordnung von Muskelfasern. Die Geschichte ist nicht linear zu fixieren, sondern muß als »un entrelacement de sequences« betrachtet werden.62 Ein zweites Kriterium der Segmentierung ist die Frage, welche Sequenzen in einer Geschichte als elementar, als abgeschlossen gelten können. Nach Bremond gilt ein Ereignis dann als elementare Sequenz, wenn Ursprung, Ablauf und Ergebnis dieses Ereignisses erzählt werden.63 Die Segmentierung der Geschichte in Sequenzen muß ergänzt werden um die Bestimmung der Aktanten bzw. narrativen Rollen.64 Entgegen der Annahme von Propp, daß die handelnden Personen sekundär seien, betont Bremond die Notwendigkeit, die Perspektiven aller handelnden Personen zu erfassen. Bremond unterscheidet zwischen dem Handelnden (»agent«) und dem Leidtragenden (»patient«). Die Art der Handlung, von der der »patient« betroffen ist, führt zur Differenzierung zwischen der Rolle des beeinflußten Leidtragenden, dem Nutznießer und dem Betroffenen. Dieser Differenzierung korrespondieren komplementäre Unterscheidungen auf der Seite des »agent«.65 Die Funktion einer Sequenz ist also nicht eine Handlung, sondern eine Relation zwischen einem Subjekt und einem Prädikat. Das Prädikat, das einer Person zugesprochen wird, bestimmt die Rolle, die diese Person durch eine Handlung einnimmt. Eine Spezifizierung der Prädikate führt also zu einer Spezifizierung der narrativen Rollen.66 Wie wichtig es vor allem auch in unserem Zusammenhang ist, die handelnden Personen und ihre Perspektive in der Erstellung des narrativen Schemas zu berücksichtigen, soll an zwei Beispielen demonstriert werden. Während in dem Roman »Der Gehülfe« von Robert Walser die Familie Tobler vier Kinder hat, ist die Zahl der Kinder in der Transformation auf zwei reduziert. Es entfallen Dora und Eddi. Walter ist in der Transformation das wohlerzogene und gut gekleidete Bürgerskind, das umsorgt und geliebt wird. Silvi dagegen schreit, wird von der Hausangestellten Pau62
Claude Bremond, Le message narratif..., S. 26. Cf. Claude Bremond, Logique du recit, Paris 1973, S. 32. Die elementare Sequenz >korrespondiert< in dieser Definition der aristotelischen Fabel (mythos). 64 Dieses komplexe Problem wird im folgenden sehr vereinfacht dargestellt, da ζ. B. die Frage nach solchen Merkmalsgruppen, die als Teil eines universalen Lexikons der Erzählung gelten können, hier nicht zur Diskussion steht. 65 Cf. Claude Bremond, aaO, S. 133ff. 66 Im Blick auf das Textmaterial, mit dem man es bei der Literaturverfilmung zu tun hat, halte ich es für berechtigt, die Synthetisierung der Segmente zu narrativen Propositionen als der elementaren Einheit der Synthese, zu übergehen. Eine Bestimmung der narrativen Propositionen etwa eines Romans entspräche einer Satz-für-Satz-Analyse. Für jede narrative Proposition müßten dann im Sinne von Bremond folgende Angaben gemacht werden: lien syntaxique, processus, phase de processus, volition, agent, patient (cf. Claude Bremond, aaO, S. 310). 63
139
line traktiert und ist das von Frau Tobler, ihrer Mutter, nicht geliebte Kind. Im Roman werden, was die Charakteristika betrifft, Dora und Walter auf eine Stufe gestellt und gleichfalls Eddi und Silvi. Es handelt sich um Gegensatzpaare. Dabei stehen Silvi und Eddi nicht einfach parallel, sondern Silvi steht aufgrund ihres Geschlechts noch eine Stufe tiefer als Eddi. Der Gegensatz von Walter und Silvi läßt sich im Film ablesen an der unterschiedlichen Kleidung beider Kinder und an den unterschiedlichen Formen des Umgangs mit diesen Kindern. Augenfälliges Beispiel ist hier die Anordnung des Bildes, das die Abreise von Frau Tobler zu Grünen zeigt: Walter steht im Arm der Frau Tobler, Silvi >kauert< in der Ecke der Treppe. Walter erhält im Film nicht die Merkmale, die den Merkmalen von Dora oder Walter im Roman vergleichbar sind. Er wird nur als Gegensatz-Kind zu Silvi gezeigt. Die Bedeutungsfunktion von Silvi im Film richtet sich auf die Person Joseph, insofern sie es ist, die sein Verhalten gegenüber Ungerechtigkeiten evoziert. Die Konstellation der Familie Tobler ist damit, was das narrative Schema betrifft, in Roman und Transformation unterschiedlich. Setzt man die beiden Gegensatzpaare, die die Kinder bilden, in Beziehung zu den übrigen Gestalten, so läßt sich die Gruppe der Personen, die zusammen ein Gegensatzpaar bilden, erweitern. Die Sequenzen, die sich auf Dora und Walter beziehen, sind, was die Prädikationen der Subjekte betrifft, der Beschreibung Wirsichs vergleichbar. 67 Die Prädikationen, die Eddi und Silvi erhalten, treffen in ähnlicher Weise auf Joseph zu. So heißt es von Silvi, daß sie im Grunde schon alt sei,68 und von Joseph: »Er war so alt gewesen in seiner Jugend.« 69 Wenn aber Silvi und Joseph auf einer Seite der Gegensatzpaare stehen, so erhält das Verhalten Josephs zu Dora eine signifikante Bedeutung für seine eigene Identität: auch er vermag nicht, genausowenig wie die Frau Tobler, Silvi gleichrangig oder gar besser als Dora zu behandeln. Es heißt, daß man, im Unterschied zu Silvi, Dora lieben muß. Joseph liebt also genau das, was er nicht ist. Die Gegensatzpaare des Romans lassen sich noch erweitern: so werden Tobler und Fischer von Joseph als Gegensatzpaare empfunden: Fischer repräsentiert das Wohlhabende, Feine, Tobler das Grobe, Ungeschlachte. So werden weiter die »kalten Augen« der Frau Tobler den »verweinten Augen« der Frau Wirsich gegenübergestellt. 70 Weitere als Gegensatz geltende Prädikationen bestimmen das narrative Schema des Romans: ζ. B. Frau Specker - Frau Tobler, Bärenswiler - Herr Tobler, bürgerlich - nicht bürgerlich, Innenwelt - Außenwelt. Das Strukturprinzip der Gegensatz67
Cf. Robert Walser, Der Gehülfe, zitiert nach der Suhrkamp-Ausgabe (Lizenzausgabe der im Kossodo-Verlag erschienenen Gesamtausgabe), Frankfurt/Main 1976, S. 35. 68 Cf. aaO, S. 115. 69 AaO, S. 285. 70 Cf. aaO, S. 45.
140
paare, das das narrative Schma kennzeichnet, ergibt als ein »Konzept« 71 des Romans das Fehlen von Synthesen. Das aus dem narrativen Schema abgeleitete Konzept läßt sich dann wiederfinden in der Weise des Erzählens. Untersucht man die Äußerungen des Erzählers über Joseph, so findet sich hier der Gegensatz von Identifikation und Abwehr (mit) der Gestalt wieder, das also, was die Perspektive Josephs gegenüber Tobler definiert. Auch der Erzähler synthetisiert nicht die Gegensätze, die die Geschichte durchziehen. Einziger >Ort< der Synthese sind die Träume. Vergleicht man nun damit das narrative Schema des Films, so fällt auf, daß nicht die Gegensatzpaare strukturbestimmend sind, sondern daß alle Gestalten in der Weise Joseph zugeordnet sind, die seine Rolle spezifiziert. Das zweite Beispiel, das hier aufgegriffen werden soll, die Novelle »Die Marquise von O...« und ihre Bearbeitungen als Film und als Komödien,72 zeigt, daß die Veränderung von Perspektiven der handelnden Personen zur Veränderung des Motivationsschemas führt: Während in Novelle und Transformation aufgrund der Perspektiven die einfache Form des Rätsels entsteht, ist in den Bearbeitungen als Komödien die Suche nach dem Vater des Kindes eine Tat, die trotz der Kenntnis des Vaters geschieht. Für unsere Überlegungen relevant werden kann schließlich die Frage nach der syntaktischen Verbindung von elementaren Sequenzen. Bremond unterscheidet drei Arten von Sequenzverbindungen: die Verbindung »bout ä bout«, die Verbindung »enclave« und die Verbindung »accolement«. 73 Die Verbindung nach dem Typ »bout ä bout« meint, daß eine elementare Sequenz, indem sie an ihr Ende kommt, eine neue Situation schafft, die sich unmittelbar an die erste anschließt. Bei der Enklave handelt es sich um eine Sukzession, in der die Sequenzen stufenweise aufeinander folgen. Damit die elementare Sequenz abgeschlossen werden kann, muß sie durch mehrere andere hindurchgehen. In der Verbindung »accolement« werden zwei elementare Sequenzen, die sich gleichzeitig entwickeln, unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt. Die Skizzierung der Schritte, die zur Ermittlung des narrativen Schemas notwendig sind, erheben nicht den Anspruch, Bremonds Überlegungen zur Logik der Erzählung umfassend aufgegriffen und diskutiert zu haben. Vielmehr wurden diese Überlegungen für die eigene Fragestellung >instrumentalisiertunzertrennbar< gestaltet, indem das »C« von »Cecile« wie eine Klammer um den Namen Fontane gezeichnet ist.84 83
Die zeitlichen Bedingungen, denen der Film untersteht, führen im ersten Teil von »Cecile« zu Kürzungen, was die Zahl der erzählten Ausflüge betrifft, im zweiten vor allem zu Streichungen der den politischen Hintergrund erhellenden Passagen des Romans. Mit dieser zweiten Art der Kürzung stellt Damek sich in eine lang geübte und fatale Tradition. 84 Die Verklammerung des Films mit der literarischen Vorlage ist, was den Filmbeginn betrifft, noch intensiver in Luchino Viscontis »L'Innocente« (dtsch. Titel: Die Unschuld«), 1976 nach dem Roman von Gabriel D'Annunzio. Die erste Sequenz zeigt das Titelblatt des Romans, dann wird der Roman von einer Hand aufgeschlagen und einige Seiten werden umgeblättert.
145
Wenn nun, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, im Transformationsprozeß Damek versucht hätte, Gordons Perspektive, das Rätsel um Cecile zu lösen, und zudem die Perspektive von Cecile, in allen Ereignissen Anspielungen, Andeutungen auf ihre Vergangenheit aufzuspüren, aufgegriffen hätte, so wären eine Fülle von >Erklärungen< notwendig geworden, die den Versuch, den ruhigen Erzählduktus aufzufangen, zum Scheitern verurteilt hätten. Die Veränderungen auf der Ebene der Geschichte müssen bei diesem Beispiel in einen Zusammenhang gestellt werden mit der Absicht, auf der Ebene des Erzählduktus Analogien zur Vorlage zu bilden. Diese Absicht mag man kritisieren. Denn der Preis, den die dadurch motivierten Veränderungen auf der Ebene der Geschichte, v. a. was die Perspektive der Personen betrifft, fordern, ist hoch.
4. Z u m T r a n s f o r m a t i o n s p r o z e ß k u l t u r e l l e r C o d e s In der oben vorgenommenen Zweiteilung der Codes in solche, die sprachlich-spezifisch, und solche, die nicht-sprachlich-spezifisch sind, wurde die Gruppe der kulturellen Codes den nicht-sprachlich-spezifischen, den semantischen Codes zugeordnet. Im Anschluß an Ecos Definition der kulturellen Codes 85 muß man diese als schwache bestimmen, auf denen andere, sepzifischere Codes aufbauen können. Die Notwendigkeit der Annahme einer solchen Gruppe von Codes sei an einem einfachen Beispiel erläutert: Wenn in einem Text auf die Frage »Gehst du mit mir spazieren?« der Satz folgt »Paul nickte mit dem Kopf und zog sich sogleich den Mantel an«, so wird die Bedeutung dieser beiden Sätze auch mit dem kulturellen Code entschlüsselt: Kopfnicken bedeutet Zustimmung und die Tatsache, daß Paul sich den Mantel anzieht, zeigt in diesem Kontext die Vorbereitung eines Spazierganges an. Wenn in einem Film auf die Frage nicht der Aussagesatz folgt, daß Paul mit dem Kopf nickt und sich den Mantel anzieht, sondern dieser mit dem Kopf nickt und 85
Cf. Umberto Eco, aaO, S. 25: »Kulturelle Codes: Die semiotische Forschung verlegt schließlich ihre Aufmerksamkeit auf Phänomene, die nur schwer als Zeichensysteme im engeren Sinn und ebensowenig als Kommunikationssysteme zu definieren wären, sondern es sind eher Verhaltens- und Wertsysteme. Wir wollen anführen: die Systeme der Etikette, die Hierarchien, die Systeme der Weltmodellierung. . . und endlich die Typologien der Kulturen..., welche die Codes untersucht, die ein bestimmtes kulturelles Modell definieren; ...schließlich die Modelle gesellschaftlicher Organisation wie Verwandtschaftssysteme... oder Organisationsschemata fortgeschrittener Gruppen und Gesellschaften... Alle diese Systeme haben auf den ersten Blick nichts mit Kommunikation zu tun, außer in dem Sinn, daß ihre Elemente mögliche Inhalte verbaler, gestueller usw. Kommunikation werden.«
146
sich den Mantel anzieht, so wird aufgrund des gemeinsamen kulturellen Codes das »Programm« (Metz) beider Sequenzen als gleich bestimmt. Dabei ist in beiden Fällen der kulturelle Code nur einer von vielen, die zur Entschlüsselung der jeweiligen Sequenzen notwendig sind. Prinzipiell aber gilt, daß es eine Fülle von kulturellen Phänomenen sowie Phänomenen des Wissens, der Erfahrung etc. gibt, die, unabhängig von der Sprache, in der sie realisiert werden, als gleiche Programme identifiziert werden. Scheinbar problemlos scheint also die Transformierbarkeit der mit Hilfe dieser Codes gewonnenen Programme bzw. Semantismen zu sein. Die Problemlosigkeit hört allerdings dann auf, wenn man sich vergegenwärtigt, daß diese Codes raschen historischen Veränderungen ausgesetzt sind. An einem extremen Beispiel sei dies verdeutlicht: In Fontanes Roman »Cecile« ist der Besuch von Gordon, St. Arnaud, Cecile und Rosa im Kloster von Quedlinburg nur dann als Anstrengung für Cecile zu entschlüsseln, wenn man die Geschichte der porträtierten Frauen kennt und von daher folgern kann, daß Cecile permanent an ihre Vergangenheit als Mätresse erinnert wird. Fontane setzte dieses Wissen bei seinen Lesern voraus, neuere Editionen des Romans liefern dem heutigen Leser dieses Wissen im Anmerkungsapparat. Was nun den Transformationsprozeß betrifft, so zeigt sich die Schwierigkeit der historischen Distanz: Diese Codes können heute nicht mehr vorausgesetzt werden, man muß das Wissen, das mit ihnen entschlüsselt wird, mitliefern. Wenn dieses Wissen aber weder vorausgesetzt noch mitgeteilt wird, wie in der Transformation, so wird der Klosterbesuch für Cecile nicht durch seine Bedeutung im Blick auf ihre Vergangenheit anstrengend, sondern ein ganz anderer, gegenwärtiger Konnotationscode wird wirksam: Der Besuch eines Klosters gilt als langweilig und ermüdend. Hier haben also nicht semiotische Probleme dazu geführt, den Bedeutungsaspekt eines Textes fallen zu lassen, sondern, neben der oben festgestellten Grundintention, die historischen Wandlungen von kulturellen Codes. Zwei Probleme, die sich im Blick auf diese Codes aufdrängen, müssen hier angesprochen werden. Man sagt, daß ein Teil der Textstrukturierung einer Literaturverfilmung darin besteht, die nicht-sprachlich-spezifischen Codes, die in einem Text wirksam sind, zu bestimmen. Resultat sind eine Fülle von Programmen bzw. Semantismen, die nicht durch die Materie der Signifikanten determiniert sind, d. h. die also nicht einer und nur einer Sprache zugeordnet werden können, sondern die in anderen Sprachen mit dem gleichen Inhalt realisiert werden können. Fragt man nun nach dem Transformationsprozeß, dem diese Programme unterliegen, so wird eine Differenzierung dieses Prozesses im Blick auf die Semiose unabdingbar, da der Film, anders als etwa die Malerei oder die Photographie, über vier verschiedene Ausdrucksebenen verfügt. Aufgrund dieser vier verschiedenen Ausdrucksebenen ist es möglich, die aus einem 147
Text gewonnenen Programme mit dem gleichen sprachlich-spezifischen Code in einen Film zu transformieren, mit dem sie in der literarischen Vorlage realisiert sind, oder aber sie in der Kombination mit anderen Codes zu >übersetzenunmittelbar< in der Literaturverfilmung wirksam werden bzw. in welcher Kombination sie mit anderen Codes stehen. An Beispielen sei dies erläutert: Auffallend an der Novelle »Die Marquise von O...« ist die minutiöse Schilderung der Mimik und Gestik der Erzählerfiguren. Darin eine Versessenheit Kleists aufs Detail zu sehen, geht an der Hauptintention vorbei. Gefragt werden muß doch, angesichts des auffallenden Kontrasts, daß in der Novelle der Raum des Geschehens lediglich genannt wird, während die an dem Geschehen beteiligten Personen bis in die Mimik und Gestik hinein gezeichnet werden, welche Funktion die Mimik und Gestik bei Kleist übernehmen. Als Beispiel sei die Stelle angeführt, die unmittelbar dem Heiratsantrag des Grafen folgt: »Die Marquise wußte nicht, was sie von dieser Aufführung denken sollte. Sie sah, über und über rot, ihre Mutter, und diese, mit Verlegenheit, den Sohn und den Vater an, während der Graf vor die Marquise trat, indem er ihre Hand nahm, als ob er sie küssen wollte, wiederholte: ob sie ihn verstanden? Der Kommandant sagte: ob er nicht Platz nehmen wolle; und setzte ihm, auf eine verbindliche, obschon etwas ernsthafte, Art einen Stuhl hin. Die Obristin sprach: in der Tat, wir werden glauben, daß Sie ein Geist sind, bis Sie uns werden eröffnet haben, wie Sie aus dem Grabe, in welches man Sie zu P . . . gelegt hatte, erstanden sind. Der Graf setzte sich, indem er die Hand der Dame fallen ließ, nieder, und sagte, daß er, durch die Umstände gezwungen, sich sehr kurz fassen müsse.. ,«86 Der >voix de dehorsvoix de dedanseinfach< beschrieben, sondern - darauf ist in der Kleist-Forschung wiederholt aufmerksam gemacht worden - qua syntaktischer Struktur der Sätze virtuell ikonisch. Conrady spricht von der »Kunst des syntaktischen Mitausdrucks«. 87 Die Ausdrucksebene wird hier zum Spiegelbild der Inhaltsebene. Die Gestik wird in ihren Bewegungen in der Syntax der Sätze 86
Heinrich von Kleist, Die Marquise von O . . . , zitiert nach der Ausgabe sämtlicher Werke und Briefe in 2 Bänden, hgg. von Helmut Sembdner, 6. ergänzte und reividerte Auflage, München 1977, Band 2, S. 104ff, S. 115. 87 Karl Otto Conrady, Das Moralische in Kleists Erzählungen. Ein Kapitel vom Dichter ohne Gesellschaft. In: W. Müller-Seidel (Hg.), Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, 2. Auflage, Darmstadt 1973, S. 707ff, S. 726.
148
nachgezeichnet. Gestik und Mimik werden von Kleist in einer Weise transkribiert, daß nicht nur der Inhalt der sprachlichen Zeichen diese wiedergibt, sondern daß ihre Bewegung in der Anordnung der Signifikanten nachvollzogen wird. Der zitierte Abschnitt der Novelle stellt, was die Signifikanten-Anordnung betrifft, die Transformation der Bewegung von Mimik und Gestik dar und die Transformation der Bedeutung der Bewegung auf der Ebene der Semantik der Wörter. Die Ebene der Signifikanten versucht der Ebene der Signifikaten analog zu werden. Die Entschlüsselung dieser Stelle verlangt also sowohl den Code der verbalen Sprache, um den Sinn der Wörter zu verstehen, den Code der Mimik und Gestik, um deren Bedeutung zu ermitteln, wie auch den Code der Analogie, um den Sinn der syntaktischen Bewegung zu verstehen. Die Verlagerung dieses Textsystems in den semiotischen Kontext des Films bringt nun folgende Zusammenführung der dem literarischen Text zugrunde liegenden Codes mit sich: durch den dem Film eigenen Code der Analogie wird die Bewegung, die mit Gestik und Mimik verbunden ist, zum Inhalt der Bewegung. Der Ausdruck der Bewegung und ihr Inhalt sind analog. Der Inhalt der Bewegung wird mit dem Code der Gestik und Mimik entschlüsselt. Die Ikonisierung der sprachlichen Zeichen, die Kleist durch die syntaktische Bewegung versucht, wird im Film durch seine Ikonizität hinfällig. Dies schließt, vom sprachkünstlerischen Wert der Novelle aus betrachtet, einen Verlust ein, zeigt aber zugleich die Problematik dieses Maßstabes. Die den Film kennzeichnende Benutzung der Beschreibungen von Gestik und Mimik - die Novelle kann streckenweise als die Transkription des Films gelesen werden - als eine Art Regieanweisung für die Schauspieler ist möglich, da der Code der Gestik und Mimik zur Dekodierung des literarischen Textes an nahezu allen Stellen notwendig ist. Wären allerdings lediglich die manifesten Beschreibungen von Gestik und Mimik Ausgangsmaterial des Transformationsprozesses, so ließen sich nur schwerlich Begründungen dafür finden, warum der Film nicht die ihm in der Vorlage so exakt gelieferten Beschreibungen zu Gestik und Mimik auch exakt, d. h. in Groß- und Nahaufnahmen zeigt. Im Film dominieren aber Einstellungsgrößen wie die Totale, die Halbtotale und die amerikanische Einstellung. Daß diese Einstellungsgrößen vorherrschend sind, wird verständlich, wenn man sich die Funktion der Beschreibung von Mimik und Gestik bei Kleist vergegenwärtigt: nämlich den voix de dehors über die Beschreibung der Gestik und Mimik tendenziell zu einem voix de dedans werden zu lassen. Wenn in der Transformation die Gestik und Mimik der Gestalten in Groß- und Nahaufnahme gezeigt würden, so hätte Rohmer genau diese Funktion der Beschreibungen verkehrt, indem er die Darstellung von Gestik und Mimik zum voix de dedans hätte werden lassen. Die Nah- und/oder Großaufnahme eines Gesichts ist der filmisch-konventionalisierte voix de dedans, die Beobachtung von Gestik und Mimik mit der halbtotalen oder amerikanischen Einstellungsgröße bei nahezu statischer 149
Umgebung ist der Ausdruck der Nähe, die der voix de dehors zum voix de dedans über die Beobachtung der Gebärdensprache erhält. Der Transformationsprozeß der aus dem literarischen Text gewonnenen Programme kombiniert diese mit dem Code, der die Erzählerperspektive eines Films regelt. Die neue Kombination des Codes, der mit dem des Kleistschen Textes identisch ist, mit einem kinematographischen Code bildet eine Analogie zur literarischen Vorlage. In diesem Zusammenhang - der Frage des Transformationsprozesses der nicht-sprachlich-spezifischen Codes - ist eine weitere Gestaltungskomponente in der »Marquise von O . . . « aufschlußreich. Die Marquise und der Graf brechen beide in einer die Handlung auslösenden Sequenz die Konvention: die Marquise, indem sie das Zeitungsinserat aufgibt, der Graf, indem er mit ihr schläft, nachdem er sie gerettet hat. Demgegenüber ist das Verhaltensspektrum der Eltern der Marquise und ihres Bruders durchgängig von Konventionen diktiert. Noch die Empörung des Vaters und die übertriebene Reaktion bei der Versöhnung mit der Tochter sind durch den konventionellen Rahmen abgedeckt. Zugleich entlarvt diese Skala von konventionell sanktioniertem Verhalten die Fragwürdigkeit, den der Maßstab der Konvention zur Beurteilung von Verhalten darstellt. Wenn durch die Konvention der totale Bruch mit der Tochter abgedeckt ist, weil man gegen sie einen Verdacht hegt, und wenn in gleicher Weise der exaltierte Akt der Versöhnung sein Konventions-Recht hat, sobald sich der Verdacht als unbegründet erweist, so wird die Konvention selbst fragwürdig, anachronistisch und pseudo-moralisch. Dieser Sachverhalt läßt sich, darauf hat Moering in seiner Studie zu Kleist aufmerksam gemacht, durch die unterschiedliche Ironie, mit der Kleist seine Gestalten zeichnet, ermitteln. 88 Die Pseudo-Moralität der Eltern wird in der Novelle deutlich, indem das Programm, das mit Hilfe des Codes der Konvention ermittelt werden kann, durch das Vehikel, mit dem es realisiert wird, relativiert wird. Die Art, wie das moralische Verhalten dargestellt wird, entlarvt dieses als pseudo-moralisch. Anders formuliert: Was mit dem Code der Konvention als moralisch entschlüsselt wird, wird durch den Gebrauch des Code der verbalen Sprache zur Fassade von Moral. Dieses läßt sich dann als die Ironie des Textes bezeichnen. An einer kurzen Passage aus der Novelle sei dies erläutert. Nach dem Besuch der Hebamme, die die Schwangerschaft der Marquise feststellt, heißt es: »Die Obristin, die ihr mütterliches Gefühl nicht überwältigen konnte, brachte sie zwar, mit Hülfe der Hebamme, wiederum ins Leben zurück. Doch die Entrüstung siegte, da sie erwacht war. Julietta! rief die Mutter mit dem lebhaftesten Schmerz. Willst du dich mir entdecken, willst 88
Cf. Michael Moering, Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists, München 1972, S. 23Iff.
150
du den Vater mir nennen? Und schien noch zur Versöhnung geneigt. Doch als die Marquise sagte, daß sie wahnsinnig würde, sprach die Mutter, indem sie sich vom Diwan erhob: geh! geh! du bis nichtswürdig! Verflucht sei die Stunde, da ich dich gebar! und verließ das Zimmer.« 89 Das Faktum der Schwangerschaft, das für die Mutter nur auf einem Bruch mit der Konvention beruhen kann, bringt die Mutter in den Konflikt zwischen mütterlichem Gefühl und Entrüstung. Wenn es nun heißt, daß die Entrüstung über das mütterliche Gefühl siegte, und daß dieser Sieg nur mit lebhaftestem Schmerz in Kauf genommen werden kann, so relativieren sich die Codes, indem sowohl der Sieg, der die Konvention und Moral meint, aufgrund des lebhaftesten Schmerzes, der damit verbunden ist, fragwürdig wird, als auch die denotative Bedeutung von lebhaftem Schmerz durch die Verbindung mit Sieg relativiert wird. Weder der Sieg noch der Schmerz sind eindeutig. Der Satz »Und schien noch zur Versöhnung bereit« ist kaum noch glaubwürdig, denn während die Versöhnung nur noch mit dem Verbum »geneigt sein« sich verbinden kann, ist die Entrüstung, als die alternative Haltung zur Versöhnung, bereits vorher mit dem Verbum »siegen« prädiziert. Mit dem folgenden Satz und seinem einleitenden modalen Adverb »doch« wird das Leserurteil allerdings nochmals verunsichert, denn es scheint eine Wendung anzuzeigen und damit die Neigung zur Versöhnung nachträglich noch glaubwürdig zu machen. Die semantisch korrekte Dekodierung des Wortes »doch« erweist sich aber als ein vorläufiges Verstehen der Textstelle, wenn man sich zurückbesinnt an den Satz: »Doch die Entrüstung siegte«. Die Wendung zur Versöhnung, die, indem die Mutter Satzsubjekt ist, in ihrer Hand zu liegen scheint, erweist sich jetzt als scheinhaft, indem mit dem gleichen Signifikanten, der den Sieg der Entrüstung einleitete, nun der Sieg der Entrüstung über die Mutter eingeleitet wird: in dem zweiten mit »doch« eingeleiteten Satz ist die Mutter Subjekt und damit zugleich Sprachrohr der Entrüstung, also Sprachrohr der Moral. Ihre Funktion, Sprachrohr der Moral zu sein, wird ausgefüllt mit einem Fluch über die Tochter, der von einer Geste begleitet ist, die die Bedeutung ihrer Worte unterstreicht (»indem sie sich vom Diwan erhob«). Diese Geste wird gravitätisch: es heißt nicht einfach, daß sie vom Diwan aufstand. Den Abschluß bildet dann die nüchterne Feststellung: » . . . und verließ das Zimmer«. Warum heißt es hier nicht, wie von der Gravität der Konvention her zu erwarten w ä r e : . . . >und entfernte sich aus dem Raum< oder >und schritt aus dem Zimmer