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German Pages 373 [376] Year 2002
Sabine Mainberger Die Kunst des Aufzählens
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
22 (256)
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin • New York
2003
Die Kunst des Aufzählens Elemente zu einer Poetik des Enumerativen
von
Sabine Mainberger
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
2003
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-017246-1 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar. © Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Satz: ΜΕΤΑ Systems GmbH, Elstal Druck: Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Nachlesen: Spittler, Havemann, Kobbe, Wiedemann, Pratje, Hüne, Mannecke, Pfannkuche, Reden, Ringklib, Guthe; dazu Thimme, natürlich vor allem Thimme. Und Jansen, (immer ruhig: in 3.000Jahren liest sichs wie der Schiffskatalog von Homer!) Arno Schmidt
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1) Zu den Wörtern 2) Aufzählungen in und als Literatur 3) Zu Anliegen und Struktur des Buches Technische Vorbemerkung
1 3 6 13 17
I Aufzählung und Lektüre 1) De- und Rekontextualisierung 2) .Konditionale' Literatur Bibliothekskatalog/konkrete Poesie Gelbe Seiten/Collage und Litanei Klassifikationssystem/philosophische Aussage 3) Aufzählung vs. Satz
18 20 23 25 30 31
II Klassifizieren, Definieren, Beschreiben Klassifizieren 1) Selektion und Umqualifizierung: Zu Perec/Bober, Rents d'Ellis Island 2) Taxonomien Klassifikation als Gegenstand und Mittel von Kämpfen Verschiedene Bezugssysteme — Wissenschaft vs. Erfahrungswissen: Ichthyologie bei Verne und Melville - Augenblickslust vs. Systemambition: Mozart/Da Pontes Don Giovanni und Merimees Don Juan Wider ein Klischeebild vom Klassifizieren 3) Koordination als Transgression geltender Einteilungen Heterogene Aufzählungen als Topos des .Fremden' Monstrosität Kitsch
37 37 42 42 45 45 49 53 61 61 63 70
VIII
Inhaltsverzeichnis
Definieren 1) Aufzählung als philosophische Kunstform: Nietzsche Auflösung eines Begriffs als Kritik und Figur Definieren als Kampf und Hervorbringen: ,Freie Geister' und ,neue Philosophen' ,Nietzscheanisch-sophistisches' Definieren 2) Definitionen poetisch Definition und Meditation in einigen Renaissance- und Barockdichtungen Gottfried Benn 3) Rätsel Beschreiben 1) Ambivalenz und Leistung des Beschreibens 2) Zur beschreibenden Aufzählung 3) Bevorzugte Sujets und der Bruch mit der Mimesis 4) ,Reines Beschreiben', ,bloßes Aufzählen', Zeigen
73 74 75 78 82 87 87 92 96 102 102 106 Ill 114
III Buch- und Gedächtnistechnisches Enumerative Paratexte 1) Aufzählende Titel, Titellisten und der Roman als Bibliothek . . . . 2) Danksagungen, Widmungen 3) Listen in Anmerkungen 4) Inhaltsverzeichnisse, Register 5) Douglas Blaus ,Index' zu The Naturalist Gathers. Bemerkungen zu (enzyklopädischen) Sammlungen
119 120 129 130 134
Wörterbücher und Verwandtes 1) Philo-logie 2) Die Wörtersammlung als erster und zweiter Text 3) Fachwörter und das Vokabular der aisthesis 4) Gesammelte Namen und Poesie 5) Wörterbücher des fremden Eigenen 6) Weitere (Anti-)Wörterbücher
142 142 144 146 154 156 160
Memorieren und Didaktik 1) Strukturierende Sets 2) Suggestionskraft von Zahlen 3) Didaktische Literatur als Hypotexte 4) Mnemotechnik und hybride Inventare
164 164 166 169 172
138
Inhaltsverzeichnis
IX
IV Methodisierungen der Erkenntnis und des Lebens Aufzählung und Dialog 1) Gemeinsamkeiten und Gegensätze 2) Befragung 3) Exkurs: Fragebogen und fremde Kultur
176 176 182 186
Methodische Selbstbeschreibung und -gestaltung 1) Die moralische Person und was von ihr übrig ist 2) Die Werte schaffende Person: Nietzsche und die individuellen Tafeln 3) Die perfekte Person jenseits der Moral
192 192 196 200
Prospektive Aufzählungen: Zeit- und Handlungspläne 1) Zeit oder Leben. Zum Problem der Zeitökonomie in der Literatur 2) Rezepte
204 204 209
V Postulative Aufzählungen 1) Recht, Moral, Lebensweisheit 2) Ranking- und Kanonlisten 3) Programme, Manifeste
218 222 228
VI Zeit, Erinnerung, Werden Aufzählen und/oder Erzählen 1) Interferenzen und Wechselwirkungen 2) Potentielle Erzählungen 3) Prozession, Triumphzug u. ä 4) Suada, Redemaschine, Geschwätz
233 233 237 241 245
Zeitdarstellung 1) Zeitdehnung, Zeitverkürzung, Beschleunigung, Simultaneität . . . . 2) Warten 3) Anfang, Ende, Schwelle
248 249 253 255
Genealogien 1) Genealogien in modernen Romanen 2) Weitere Funktionen
262 262 271
Gedenken: Aufzählung als monumentale Form 1) Helden und Heldinnen 2) Opfer 3) Dinge
274 274 278 281
χ
Inhaltsverzeichnis
Die Chronik - ihre Zwischenräume, Subversionen und Hybridisierungen
284
Aufzählungen als status nascendi 1) Lineare vs. nichtlineare Dynamik des Werdens: Evolution oder Kraftentfaltung 2) Intransitives Schreiben, nicht-repräsentierende Sprache
295 295 301
Textgenesen 1) Zum generativen Schreiben 2) Götter- und Textentstehung bei Hesiod 3) Von der Sammlung zum Text
303 303 304 309
VII Diktionen des Passionellen und Rituellen 1) Der Körper zählt 2) Sprache der Ausnahmezustände und rituelle Formen 3) Loben und Schimpfen als Kunst des Aufzählens
318 321 325
Literaturverzeichnis Namenregister Sachregister Danksagung
334 351 357 364
Einleitung „Die zeitgenössische Literatur", schrieb Georges Perec 1976, „hat, bis auf ganz seltene Ausnahmen (Butor), die Kunst des Aufzählens vergessen: die Listen Rabelais', die Linnesche Aufzählung der Fische in Zwan^igtausendMeilen unter den Meeren, die Aufzählung aller Geographen, die Australien erforscht haben, in Die Kinder des Kapitän Grant.. ,"1 ,Die Kunst des Aufzählens'? Gibt es so etwas? Aufzählen — das kann schließlich jeder, das braucht man in bestimmten Fällen, und dann tut man es eben. Wir schreiben uns eine Einkaufsliste oder notieren uns auf einen Zettel, was wir alles erledigen müssen; oder wir benutzen fertige Listen, schlagen das Telefonbuch auf, das Straßenverzeichnis im Stadtplan, studieren den Kontoauszug. Schüler müssen alles mögliche aufzählen können: nicht nur das ABC und die Zahlenreihe, auch die Zuflüsse zur Donau, die römischen Kaiser, die Stammformen der Verben ... Was soll das mit Literatur zu tun haben? Linne hat die Fische und nicht nur sie aufgezählt; er hat die Tiere und Pflanzen eingeteilt, geordnet und in ein System gebracht, denn Wissenschaft heißt das Ganze überblicken und jedem einzelnen seinen Platz darin anweisen. Alles muß unter Kontrolle sein, Buchhaltung der Natur... Und ähnlich ist es mit der Gesellschaft. Niemand und nichts entgeht inzwischen mehr seinem Schicksal, registriert und sortiert zu werden, umgewandelt in Ziffernfolgen, eingespeist in Datenbanken — die Bürokratie ist das Prosaische schlechthin. Auch an die Statistiken der Wirtschaft mag man denken, an die Zahlenkolonnen der Börse, an die Politik: Fünfpunkteprogramm, Maßnahmenkatalog, Positivliste, Streichliste ... Gibt es etwas Öderes als Aufzählungen hören oder lesen zu müssen? Gibt es etwas, das der Kunst ferner wäre? Aufzählungen scheinen die wahren Antipoden zu Literatur und Poesie. Der Schiffskatalog ist das langweiligste Stück der ganzen Ilias, und wer würde 1 „L'ecriture contemporaine, ä de rares exceptions (Butor), a oublie l'art d'enumerer: les listes de Rabelais, l'enumeration linneenne des poissons dans Vingt Mille Lieues sous les mers, l'enumeration des geographes ayant explore l'Australie dans Les Enfants du capitaine Grant..." Notes concernant les objets qui sont sur ma table de travail, in: G. Perec: Penser/Classer, Paris 1985, ( 1 7 - 2 3 ) 22; dt.: Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände die auf meinem Schreibtisch liegen, in ders.: In einem Netΐζ gekreuzter Linien. Aus d. Frz. von E. Heimle, Bremen 1996, ( 1 5 - 2 0 ) 18 f. (Übers, ergänzt von S. M.) Der Satz gehört zu einer in Klammern gesetzten Überlegung zur Schwierigkeit von Listen oder Inventaren.
2
Einleitung
in der Bibel das ,Und Sowieso zeugte Soundso, und Soundso zeugte Denundden, und Derundder zeugte..." nicht überspringen? Wenn es also in der zeitgenössischen Literatur keine Aufzählungen gibt, dann ist das nur gut. Nicht alles Vergessene muß wieder in Erinnerung gebracht werden, es gibt auch Vergessenswertes und ein befreiendes, erfrischendes Vergessen. Perec sieht das anders. Schon in dem zitierten Satz erwähnt er nicht nur die ,Kunst des Aufzählens', sondern praktiziert sie auch. Die These folgt in seinem Text obendrein auf ein Inventar der Dinge auf seinem Schreibtisch. Und das ist keine Ausnahme. Welches Buch von Perec man auch aufschlägt, immer ist er am Aufzählen, überall sind Listen. Wenn wir uns in der zeitgenössischen Literatur umsehen, dann scheinen jedoch die .Ausnahmen', von denen er spricht, gar nicht so selten. Neben Butor gibt es noch eine ganze Menge Aufzählungs- und Listenkünstler, ζ. B., um nur einige wenige zu nennen, Italo Calvino, William Gass, Allen Ginsberg, Julian Barnes, Hubert Fichte, Edoardo Sanguineti... Nehmen wir das Adjektiv zeitgenössisch' großzügig und blicken wir auf das 20. Jahrhundert, dann finden sich unter denen, die Aufzählungen besonders zugetan sind, Joyce und Virginia Woolf, Η. H. Jahnn, George, Rilke, Benn, Brecht, Beckett, Celine, Gadda, Borges und viele andere. Auch die Liste der Vorfahren, Verwandten und Wahlverwandten dieser aufzählenden Literaten läßt sich problemlos erweitern. Auf ihr stehen nicht nur Jules Verne und Rabelais, nicht nur Homer und die Bibel, sondern auch Whitman und Flaubert, Sterne und Quevedo, die Bhagavadgita, die Sumerische Königsliste... Und da wir beim Aufzählen sind, mögen auch einige von dessen Spielarten auf eine Liste gesetzt sein: Neben dem Inventar wovon auch immer stehen darauf die Litanei, das Abecedarium, der Stammbaum, die Vokabelliste, die Grundreihe für Permutationen, das Inhaltsverzeichnis, die Kaskade der Schimpfwörter, das Rezept, die Gesetzestafel, die Agenda, das Rätsel, die enumerative Beschreibung, der Hymnus, die Deklinationstafel, das Curriculum Vitae, das Personenverzeichnis, der Fragebogen, das Begriffsregister, der Abzählvers, der Index des Verbotenen, die Bilanz, das Defilee der Namen und Titel, die Assoziationskette, die Chronik, die Anthologie, die Jeremiade, die Speisekarte, die Selektionsliste, das Manifest... All das sagt jedoch nur eines: Aufzählungen sind außerordentlich verbreitet. Sie haben viele Funktionen und kommen daher in allen möglichen Varianten und verschiedensten Zusammenhängen vor — bei der Alltagsbewältigung, in der Ökonomie, in der Wissenschaft, in Organisation und Verwaltung, im Bereich des Rechts, in der Didaktik, bei der Religionsausübung. Und es gibt sie eben auch in der Literatur. Erstaunlich ist so gesehen nicht die Rede
Einleitung
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von einer,Kunst des Aufzählens', sondern die Behauptung, dergleichen sei vergessen worden, ja, die Vorstellung, es könne überhaupt vergessen werden. Aber es wäre auch nicht das erste Mal, daß etwas allenthalben anzutreffen und trotzdem vergessen ist — nämlich gerade darum. Aufzählungen sind so ein Fall: Sie scheinen fast omnipräsent. Wir gehen mit ihnen ganz selbstverständlich um und nehmen sie kaum wahr, es sei denn, daß sie uns unangenehm auffallen und wir uns über sie ärgern: etwa über ein Durcheinander in einem Bibliothekskatalog oder darüber, daß auf dem Einkaufszettel das Öl fehlte, oder über die anzukreuzenden Antworten in einem Formular, die uns alle falsch erscheinen. Den gut geordneten Katalog, das vollständige Verzeichnis, die stimmige Einteilung usw. setzen wir als Normalität voraus, und selten verbinden wir mit diesen Dingen mehr als die Forderung, daß sie ihre jeweiligen Zwecke erfüllen; nicht mehr erwarten wir von ihnen, aber auch nicht weniger. Auf die Idee, daß sie z.B. Vergnügen oder Genuß böten, kommen wir nicht, und mit Recht. Wäre das nun der entscheidende Unterschied zwischen Aufzählungen außerhalb und innerhalb der Literatur? Letztere können langweilen, aber sie können auch komisch sein wie bei Rabelais und Jean Paul, sie können faszinieren wie das traumartig lose Beieinander Rimbaudscher Bilder, sie können aggressiv expandieren wie bei Swift oder einen zwingen, eine kombinatorische Reihe von Anfang bis Ende mitzuvollziehen wie bei Beckett. Vielleicht sind diese Aufzählungen nicht immer oder nicht für jeden ein Genuß, aber zumindest lassen sie einen nicht gleichgültig. Die anderen Aufzählungen wären dagegen funktional oder nicht und, wenn wir uns eine ästhetische Beurteilung überhaupt erlauben, im einen Falle dennoch eher langweilig als sonst etwas, im anderen Fall enervierend. Aber soll man wirklich sagen, es gibt Aufzählungen einerseits außerhalb, andererseits innerhalb der Literatur? Wenn sie dann überhaupt miteinander in Beziehung stehen, wie sieht diese Beziehung aus? Handelt es sich bei den einen ums Aufzählen und bei den andern um Kunst? Oder wäre das Verhältnis der Literatur zu den vielen Sphären, in denen Aufzählungen Verwendung finden, vielleicht doch anders zu bestimmen? Statt zu fragen ,Was ist Kunst?' und die des Aufzählens zu definieren, frage ich lieber mit Nelson Goodman ,Wann ist (es) Kunst?' Diese Frage soll der allgemeine Rahmen für die Untersuchungen hier sein.
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Einleitung
1) Zu den Wörtern Die .Aufzählung' in all den genannten Erscheinungen ist eine Abstraktion. ,Als solche' existiert sie nicht. Es gibt vielmehr immer nur spezifische Arten, und diese Spezifik bringen die vielen verschiedenen Bezeichnungen zum Ausdruck. Als vager und gerade nicht technischer Begriff aber können ,Aufzählen' als Tätigkeit und .Aufzählung' als ihr Produkt hier Leitbegriffe sein. In den deutschen Wörtern .Aufzählen' und .Aufzählung' ist der Bezug zur Welt der Zahlen, zur Idealität ihres Systems, weitgehend verschliffen und vor allem der auf den Akt des Zählens erhalten. Wer aufzählt, so scheint es, bietet - wie beim Zählen — eine Folge von gleichwertigen Elementen dar und schreitet an ihrem Faden gleichmäßig fort; das Verfahren verspricht Stetigkeit, aber es droht auch mit Endlosigkeit und Monotonie. .Aufzählen' meint oft auch ,nur aufzählen', also fehlenden Zusammenhang und Ungeordnetheit. In dieser Verwendung hat es sich von der Strenge der Zahlen ganz entfernt. Die Rhetorik hält die Begriffe enumeratio und accumulatio bereit. Accumulatio heißt „eine gedrängte Anordnung von Ideen und Aussagen durch Koordination, Subordination oder einfache Aneinanderreihung der Satzglieder, die sich gegenseitig ergänzen, ohne sich zu wiederholen". Als solche umfaßt sie die enumeratio, „eine aufzählende, wiederholende oder zusammenfassende Fügung gleichgeordneter Wörter oder Wortgruppen"; diese ist eine Form der koordinierenden' Variante der accumulatio.2 Lausberg spricht von „Figuren der Häufung' (Herv. S. M.). 3 Das deutsche Wort befremdet zunächst, ist im normalen Sprachgebrauch doch ein ,Haufen' eine Menge ohne innere Ordnung, und mit ,Häufung', .Akkumulation' und den entsprechenden Verben verbindet man Verdichtungen, Vermehrungen unstrukturierter Art und eine Tendenz zum Exzessiven; nur die Quantitätssteigerung, nicht die Qualität, ist entscheidend. Im technischen Gebrauch liegt der Akzent jedoch nicht auf der Absens von Ordnung, sondern auf deren Unbestimmtheit.,Häufung' meint einfach eine Vielheit, gleich welcher Art. Die übliche Verwendung von ,Haufen', .häufen', .Häufung' usw. erinnert indes daran, daß Aufzählungen mehr oder weniger
2 Vgl. M. S. Celentano: .Accumulatio', in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding, Tübingen 1992 ff. (HWR), Bd. 1, 3 6 - 3 9 (das Zitat 36), und K. Schöpsdau: .Enumeratio', in: HWR, Bd. 2, 1 2 3 1 - 3 4 (das Zitat 1232). Das Adjektiv .wiederholend' in der Defintion der enumeratio betrifft nicht die Form, sondern die rekapitulierende Funktion. 3 Vgl. Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 2
1973, §§ 6 6 5 - 6 8 7 , und Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der
klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, Ismaning
lo
1990, §§ 293 — 316.
Einleitung
5
geordnet und im Extremfall als bloße Anhäufungen erscheinen oder in ihrem Verlauf in einen solchen Zustand übergehen können. 4 Was in dieser Arbeit .Aufzählungen' heißt, deckt sich nicht mit enumeratio und accumulatio und überschneidet sich mit anderen rhetorischen Figuren. Denn gemeint sind sowohl die streng konstruierten, die etwa unter einem Begriff die Elemente der damit bezeichneten Klasse vollständig anführen, wie auch solche, die ihren Zusammenhang durch die Wiederholung einer sprachlichen Geste bekommen (die obsessiven Formen), Reihen, deren Teile gleichsam als Verwandte miteinander verbunden sind, Ketten, genetische Sequenzen u. v. a. Einzelne Termini der Rhetorik werden daher eine Rolle spielen, definieren aber nicht den Gegenstand. .Aufzählung' ist ein weiterer Begriff als ,Katalog' oder ,Liste': Das Wort ,Katalog' ist vom Zusammenhang mit Information oder/und Kommerz und literaturintern mit der epischen Tradition besetzt. Beide Kontexte aber verweisen auf ein hohes Maß an Ordnung. Der Wortgeschichte nach ist das griechische Verb καταλέγειν mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und klassifikatorische Darstellung verbunden. 5 Der epische Katalog mußte Namen vollständig und in der richtigen Reihenfolge aufzählen und wollte insofern wahr und verbindlich sein. Als sich eine literarische und wissenschaftliche Prosa entwickelte, wurde das Adverb καταλογάδην zur Bezeichnung für p r o saisch'.6 ,Liste' läßt vor allem an eine bestimmte Graphie denken, an eine nur im Medium der Schrift mögliche Visualisierung. Etymologisch kommt es laut Grimm vom althochdeutschen ,lista' und vom mittelhochdeutschen ,liste'; beide meinen einen schmalen, bandförmigen Streifen, letzteres auch Leiste, Saum, Borte, einen Rand also u. ä. 7 In Italien wird es zu einem Wort der 4 „... l'enumeration est un precede objectif, et l'accumulation un effet subjectif." S. Chisogne: Poetique de l'accumulation, in: Poetique, 115, Sept. 1998, (287-303) 289. 5 Näheres s.u. 179, Anm. 8. 6 Vgl. B. Gladigow: Mythologie und Theologie. Aussagestufen im griechischen Mythos, in: Theologen und Theologien in verschiedenen Kulturkreisen, hg. von H. v. Stietencron, Düsseldorf 1986, (70-88) 79. - Zum epischen Katalog s.a. M. Asper: .Katalog', in: HWR, Bd. 4, 915-922. 7 Im O E D finden sich insgesamt acht Einträge zum Substantiv ,list'. Der dritte hat die großen Unterpunkte: „I. Border, edging, strip"; und „II. Boundary", darunter „A limit, bound, boundary ..." und auch „A place or scene of combat or contest". Wissenschafder, die vom Englischen ausgehen, schlagen von da die Brücke zur Bildung von Klassen mittels Listen (Goody) bzw. durch In- und Exklusion und assoziieren Grenzziehung und Grenzüberschreitung (Chenetier). M. Chenetier ruft jedoch auch alle möglichen anderen Wörterbucheinträge auf, die von der Bedeutung ,Hören', ,Gehör' über ,List' bis zu ,Lust' und ,Gelüst' reichen. Vor allem die letztere ist ihm wichtig; vgl. Kyrielle et liaison. Propos profanes sur la liste en litterature, in: Suites