Irre Typen?: Männlichkeit und Krankheitserfahrung von Psychiatriepatienten in der Bundesrepublik, 1948–1993 3515121390, 9783515121392

Wie erfuhren psychisch kranke Männer, ihre Angehörigen und Ärzte seelisches Leiden im Kontext von Männlichkeit? Dieser F

122 105 1MB

German Pages 232 [234] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Tabellenverzeichnis
Vorwort
1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit
1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias. Zum Forschungsstand der psychischen Gesundheit von Männern in Medizin, Psychologie und Gesundheitswissenschaften
1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion
1.3 Im toten Winkel von Revisionismus und Apologetik. Die nie geschriebene Geschichte von Männern mit psychischen Störungen
1.4 Erkenntnisinteresse
1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten als Quelle für die Geschichte von Männern mit psychischen Störungen
1.6 Männlichkeit, Biopolitik und Medikalisierung
1.7 Methodische Anmerkungen
2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten
2.1 Psychopathologie, Soziales Funktionieren und Männlichkeiten
2.2 Harte Familienväter. Leitmännlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren
2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“
2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“
2.5 „Verletzter männlicher Stolz“ – Die vage Ahnung von der krankmachenden Männlichkeit
2.6 Neue Männer? Leitmännlichkeiten nach 1970
2.7 „Suchtkranke“, „Neurotisch-Delinquente“, „Hyperaktive“ – Die Therapeutisierung der externalisierenden Männer
2.8 „Homosexuelle“, „Neurotisch-Depressive“
2.9 Die Entdeckung der Krankheit Männlichkeit
3. Compliance
3.1 Vorbemerkungen
3.2 „Es muss etwas Organisches sein!“ – Krankheitseinsicht und männlicher Habitus
3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“ – Marginalisierung, Protest und Behandlungsbereitschaft
3.4 „Eine Zumutung!“ – Widerstand untergeordneter Männer gegen ihre Pathologisierung
3.5 War geringe Compliance männlich?
4. Bewältigung
4.1 Aneignung von Gesundheitswissen
4.2 „Kein Kochsalz aber viel Obst“ – Alternativ/Komplementärmedizin und Diätetik
4.3 „Das Leben dürfe er sich nicht nehmen, das verbiete die Religion“ – Spiritualität
4.4 „Mir ist Moment nur das Schreiben zum Abreagieren geblieben“. Gestalten und Philosophieren
4.5 „Wenn er Bier getrunken habe, könne er auch mit dem Bundeskanzler sprechen“ – Selbstmedikation
5. Soziale Beziehungsnetzwerke
5.1 „Er ist halt jetzt so krank, man muss sich um ihn halt kümmern“ – Mütter
5.2 „Die Kinder dürfen nicht merken, daß man sie lieb hat“ – Väter
5.3 „Warum habe ich keinen Papa, warum finde ich keine Frau?“ – Abwesende Väter
5.4 Brüder und Schwestern
5.5 „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner!“ – Am Arbeitsplatz
5.6 „Warum kommt das immer nur zu Hause? Das ist das sonderbare.“ – Partnerinnen
5.7 „Er hätte [es] gerne auf flüchtige erotische Kontakte beschränkt, dies aber nicht durchgehalten.“ – Sex zwischen Lustfeindlichkeit und Überforderung
5.8 „Darf nicht entweichen, Auslandsamt plant Ausweisung.“ – Migranten und Deutsche
5.9 „Ich hoffe, daß Sie sich dem Patienten etwas widmen können.“ – Soziale Herkunft und die feinen Unterschiede in der Klinik.
6. Resümee und Ausblick
7. Literatur- und Quellenverzeichnis
Recommend Papers

Irre Typen?: Männlichkeit und Krankheitserfahrung von Psychiatriepatienten in der Bundesrepublik, 1948–1993
 3515121390, 9783515121392

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Irre Typen? Männlichkeit und Krankheitserfahrung von Psychiatriepatienten in der Bundesrepublik, 1948–1993

von Christoph Schwamm MedGG-Beiheft 68 Franz Steiner Verlag Stuttgart

Irre Typen?

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 68

Irre Typen? Männlichkeit und Krankheitserfahrung von Psychiatriepatienten in der Bundesrepublik, 1948–1993 von Christoph Schwamm

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2018

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH

Coverabbildung: Anamnesegespräch, Quelle: IGM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Zugl.: Universität Mannheim, Diss. 2018 u. d. T. „Krankheitserfahrung männlicher Psychiatriepatienten in der alten Bundesrepublik 1948–1993“ Druck: Laupp & Göbel GmbH, Gomaringen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-12139-2 (Print) ISBN 978-3-515-12149-1 (E-Book)

Für Leoni Hellmayr. In Liebe und Dankbarkeit.

Es handelt sich bei dieser Arbeit um die überarbeitete Version meiner Dissertation, die am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart entstanden ist. Verteidigt wurde sie 2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim. Ich danke Prof. Dr. Martin Dinges für die teilnahmsvolle Betreuung meiner Arbeit sowie für viel entgegengebrachtes Vertrauen. Dem Zweigutachter Prof. Dr. Phillip Gassert verdanke ich zahlreiche produktive Anregungen. Ermöglicht hat dieses Buch die Robert Bosch Stiftung mit ihrer großzügigen Förderung.

Inhalt Tabellenverzeichnis .........................................................................................

9

Vorwort.............................................................................................................

11

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit....................................................................................... 1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias. Zum Forschungsstand der psychischen Gesundheit von Männern in Medizin, Psychologie und Gesundheitswissenschaften .................................................................................... 1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion ........................................................................... 1.3 Im toten Winkel von Revisionismus und Apologetik. Die nie geschriebene Geschichte von Männern mit psychischen Störungen ..................................................................... 1.4 Erkenntnisinteresse ............................................................................ 1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten als Quelle für die Geschichte von Männern mit psychischen Störungen............................................................................................ 1.6 Männlichkeit, Biopolitik und Medikalisierung ............................... 1.7 Methodische Anmerkungen .............................................................

17

17 33 42 47 49 59 67

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten ............................................................................. 70 2.1 Psychopathologie, Soziales Funktionieren und Männlichkeiten ... 70 2.2 Harte Familienväter. Leitmännlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren ............................................................................. 72 2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“ ......... 74 2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“ ................................ 85 2.5 „Verletzter männlicher Stolz“ – Die vage Ahnung von der krankmachenden Männlichkeit .......... 95 2.6 Neue Männer? Leitmännlichkeiten nach 1970 ............................... 99 2.7 „Suchtkranke“, „Neurotisch-Delinquente“, „Hyperaktive“ – Die Therapeutisierung der externalisierenden Männer................. 100 2.8 „Homosexuelle“, „Neurotisch-Depressive“ ..................................... 104 2.9 Die Entdeckung der Krankheit Männlichkeit ................................. 108 3. Compliance ................................................................................................ 3.1 Vorbemerkungen ............................................................................... 3.2 „Es muss etwas Organisches sein!“ – Krankheitseinsicht und männlicher Habitus ................................... 3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“ – Marginalisierung, Protest und Behandlungsbereitschaft..........................................................................................

112 112 113 116

8

Inhalt

3.4 „Eine Zumutung!“ – Widerstand untergeordneter Männer gegen ihre Pathologisierung .............................................................. 128 3.5 War geringe Compliance männlich?................................................ 132 4. Bewältigung ................................................................................................ 4.1 Aneignung von Gesundheitswissen ................................................. 4.2 „Kein Kochsalz aber viel Obst“ – Alternativ/Komplementärmedizin und Diätetik ............................ 4.3 „Das Leben dürfe er sich nicht nehmen, das verbiete die Religion“ – Spiritualität ............................................................... 4.4 „Mir ist Moment nur das Schreiben zum Abreagieren geblieben“. Gestalten und Philosophieren ...................................... 4.5 „Wenn er Bier getrunken habe, könne er auch mit dem Bundeskanzler sprechen“ – Selbstmedikation........................

135 135

5. Soziale Beziehungsnetzwerke ................................................................... 5.1 „Er ist halt jetzt so krank, man muss sich um ihn halt kümmern“ – Mütter ........................................................................... 5.2 „Die Kinder dürfen nicht merken, daß man sie lieb hat“ – Väter.................................................................................................... 5.3 „Warum habe ich keinen Papa, warum finde ich keine Frau?“ – Abwesende Väter............................................................................... 5.4 Brüder und Schwestern ..................................................................... 5.5 „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner!“ – Am Arbeitsplatz ................................................................................. 5.6 „Warum kommt das immer nur zu Hause? Das ist das sonderbare.“ – Partnerinnen.......................................... 5.7 „Er hätte [es] gerne auf flüchtige erotische Kontakte beschränkt, dies aber nicht durchgehalten.“ – Sex zwischen Lustfeindlichkeit und Überforderung .............................................. 5.8 „Darf nicht entweichen, Auslandsamt plant Ausweisung.“ – Migranten und Deutsche ................................................................... 5.9 „Ich hoffe, daß Sie sich dem Patienten etwas widmen können.“ – Soziale Herkunft und die feinen Unterschiede in der Klinik. ......................................................................................

162

140 146 148 156

162 170 176 179 181 188 196 204 209

6. Resümee und Ausblick.............................................................................. 214 7. Literatur- und Quellenverzeichnis ........................................................... 219

Tabellenverzeichnis Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6 Tab. 7 Tab. 8 Tab. 9 Tab. 10 Tab. 11 Tab. 12 Tab. 13 Tab. 14 Tab. 15 Tab. 16 Tab. 17 Tab. 18 Tab. 19 Tab. 20 Tab. 21 Tab. 22 Tab. 23 Tab. 24

Patienten mit externalisierenden- und substanzbezogenen Störungen 1948 bis 1970 ................................................................. 85 Nicht-cis-heterosexuelle Patienten und Patienten mit internalisierenden Störungen 1948 bis 1970 ................................. 95 Explizite Thematisierung von Männlichkeit als pathogen durch Ärzte bis 1970 ........................................................................ 99 Patienten mit externalisierenden- und substanzbezogenen Störungen 1970 bis 1993............................................................................. 104 Patienten mit internalisierenden Störungen und nicht-cis-heterosexuelle Männer 1948 bis 1970 ............................ 108 Explizite Thematisierung von Männlichkeit durch Ärzte 1970 bis 1993 .................................................................................... 111 Dokumentation von Männlichkeit als ursächlich für fehlende Krankheitseinsicht ........................................................................... 116 Dokumentation von Männlichkeit als Ursache für mangelnde Therapiebereitschaft ........................................................................ 127 Dokumentation von untergeordneter Männlichkeit als Ursache für mangelnde Therapiebereitschaft .............................................. 131 Dokumentation von mangelnder Therapiebereitschaft ohne Bezug auf Männlichkeit................................................................... 134 Dokumentation von Gesundheitswissen bei Patienten ................ 140 Dokumentation Selbstheilung und Alternativ/ Komplementärmedizin ................................................................... 146 Dokumentation von Religiosität und Spiritualität als Krankheitsbewältigung.................................................................... 148 Dokumentation von Gestalten und Philosophie als Krankheitsbewältigung.................................................................... 156 Dokumentation von Selbstmedikation .......................................... 161 Dokumentation von Müttern im sozialen Beziehungsnetzwerk der Patienten .................................................................................... 170 Dokumentation von Vätern im sozialen Beziehungsnetzwerk der Patienten .................................................................................... 176 Dokumentation von Vaterlosigkeit im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten................................................ 179 Dokumentation von Geschwistern im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten................................................ 181 Dokumentation von Erwerbstätigkeit im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten................................................ 187 Dokumentation von Partnerinnen im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten................................................ 196 Dokumentation von sexueller Aktivität im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten................................................ 203 Migration .......................................................................................... 204 Soziale Schichten ............................................................................. 211

Vorwort „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Die Abspaltung von unbequemen Tatsachen wird in dem Gedicht „Die Unmögliche Tatsache“ von Christian Morgenstern treffend dargestellt. Auch dieses Buch handelt von verdrängten Tatsachen. Denn erstens definiert sich eine psychische Störung ja geradezu durch die unterschiedlich ausgeprägte Verdrängung dessen, was die Umwelt als Realität wahrnimmt. Und zweitens: Auf welche Art und Weise das Thema dieses Buches wahrgenommen wird, lässt einen bisweilen an Palmström denken, den Protagonisten von Morgensterns Gedicht. Der ältere Mann wird von einem LKW überfahren. Er ist reichlich lädiert, eigentlich müsste er sogar schon tot sein. Doch irgendetwas in ihm wehrt sich dagegen, diese Tatsache anzuerkennen: „sich erhebend und entschlossen weiterlebend“ möchte er erst einmal auf rationalem Wege prüfen, ob das Unglück tatsächlich stattgefunden haben kann. Denn auf sein Körpergefühl allein möchte er sich nicht verlassen: „Ist die Staatskunst anzuklagen in Bezug auf Kraftfahrwagen?“, fragt er sich. […] Mitnichten, denn „Eingehüllt in feuchte Tücher, prüft er die Gesetzesbücher und ist alsobald im Klaren: Wagen durften dort nicht fahren!“ Das bringt ihn zu der Schlussfolgerung, dass er mitnichten gerade von mehreren Tonnen Gewicht überrollt wurde. Vielmehr „kommt [er] zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis.“ Ist Palmströms Wahrnehmung beispielhaft, um zu verdeutlichen, wie es den Akteuren dieses Buches ging? Es handelt sich um Männer, die sich zwischen 1948 und 1993 als Patienten in den psychiatrischen Universitätskliniken Heidelberg und Gießen aufhielten. Das Bild, das in der Öffentlichkeit in Bezug auf Männer und deren Umgang mit Gesundheit vorherrscht, ist mittlerweile zu so etwas wie einem humoristischen Topos geworden. Dieser ist tatsächlich Morgensterns „Unmöglicher Tatsache“ nicht unähnlich. Männer sind einer weit verbreiteten Meinung nach regelrecht größenwahnsinnig, wenn es um die Einschätzung der eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten geht. Warnsignale würden demnach bei ihnen selten auch nur in die Nähe der Bewusstseinsschwelle gelangen. Zur Belustigung unbeteiligter Außenstehender gehen sie auch dann nicht zum Arzt, wenn ihre Defekte längst für jedermann zu erkennen sind. Die meisten Klischees haben eine gewisse empirische Evidenz – so auch dieses. Um das, worum es in diesem Buch geht, zu veranschaulichen, böte sich die Dichtung daher auf den ersten Blick durchaus an: So wie Palmström ging es zweifellos auch dem einen oder anderen Patienten dieses Buches. Viele haben jahre- oder gar jahrzehntelang unbequeme Tatsachen nicht zur Kenntnis genommen: Dass ihre Ressourcen nicht unerschöpflich sind. Dass Hitlerjugend, Krieg und Gefangenschaft (oder Verfolgung) nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen sind. Dass sich Ängste und Kummer langfristig nicht ohne Konsequenzen mit Alkohol behandeln lassen. Dass sie zwar viele Männer kennen, die sie Freunde nennen, diesen aber nichts anvertrauen können, weil sie um ihren Status fürchten. Definitiv haben viele nicht kommen sehen, dass die Zeiten sich ändern würden. Sie fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, weil

12

Vorwort

ihre Frauen sich von ihnen abwandten, da diese nicht mehr „wie ein Möbelstück“ behandelt werden wollten; so drückte es jedenfalls die Ehefrau eines Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Gießen Mitte der 1970er Jahre aus. Es gab Männer, die Mittel und Wege fanden, derart unbequeme Tatsachen auf alle möglichen Arten und Weisen aus ihrem Bewusstsein abzuspalten. Manch einer dürfte seine Verletzungen ähnlich verkopft bewältigt haben wie Palmström. Der unerschütterliche Glaube an die Vorschriften und Gesetze der Staatsmacht mögen dabei zwar eher selten eine Rolle gespielt haben. Aber Rationalisierung und Intellektualisierung fanden sich bei den Patienten dieses Buches häufiger. Sie ermöglichten es, zu ignorieren, dass die eigene Psyche so ramponiert war wie der Körper eines Verkehrsunfallopfers. Die verkopften, emotionsfernen Abwehrmechanismen gelten nicht umsonst als typisch männlich. Dennoch greift diese Deutung nicht nur zu kurz. Sie führt auch massiv in die Irre, in vielerlei Hinsicht. Für zahlreiche Patienten waren die Tatsachen keinesfalls „unmöglich.“ Viele Patienten, die in diesem Buch vorgestellt werden, sahen sehr genau, dass männliche Allmachtsphantasien, Saufkumpanei und Konkurrenzfixierung ihnen zum Verhängnis wurden. Ändern konnten sie daran dennoch nichts. Dies lag nicht allein an ihnen selbst. Ebenso viele waren weitestgehend frei von diesen vielgescholtenen, als männlich geltenden Lastern. Sie schätzten die eigenen Fähigkeiten realistisch ein, konnten mit Alkohol nichts anfangen und hatten darüber hinaus keinerlei Interesse, sich in Rangkämpfen zu zerfleischen. Allzu oft half dies jedoch nicht im Geringsten. Die Umstände lagen weit außerhalb ihres Gestaltungsspielraumes. „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ taugt mit Sicherheit nicht als Beschreibung der subjektiven Krankheitserfahrung von Männern. Dennoch ist dieses Bild nahezu das einzige, das sich die Öffentlichkeit von Männern und ihrem Umgang mit Gesundheit zu machen vermag. Woran liegt das? Womöglich daran, dass „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ vielmehr die Wahrnehmung der Öffentlichkeit bezüglich dieses Themas strukturiert? Betrachtet man die Art und Weise, wie das Gesundheitsverhalten von Männern repräsentiert wird, dann neigt man dazu, diese Frage zu bejahen. Zu einer etwas differenzierteren Darstellung gelangt man lediglich, wenn man bestimmte Fachpublikationen liest. Diese stammen meist aus dem Bereich Public-Health, ansonsten aber von Menschen, die tatsächlich und täglich mit Männern arbeiten. Von Psychotherapeuten, Beratern, Sozialarbeitern, Ärzten und Erziehern. In anderen Disziplinen sieht es bedauerlicherweise nicht so gut aus. Es wäre Aufgabe der kulturwissenschaftlichen Geschlechter- und Psychiatrieforschung gewesen, sich dieses Themas differenziert anzunehmen. Dies wurde bislang in mittlerweile mehreren medizinhistorischen Arbeiten angegangen. Deren Autoren ist es gelungen, mit den oben genannten Praktikern in einen Dialog zu treten. Auf breiter Basis hat die kulturwissenschaftliche Forschung ihre Aufgabe jedoch nicht erfüllt. Im Gegenteil. Es haben sich im Laufe der vergangenen Jahre und Jahrzehnte Forschungstraditionen entwickelt, die eine Anbindung solcher Themen an den Forschungsmainstream deutlich erschweren.

Vorwort

13

Letzteres hat Konsequenzen für die Gestaltung dieses Buches. Die Diskrepanz zu diesen Forschungstraditionen ist groß. Vorannahmen, Fragestellung, Quellen, Methoden und Theorie müssen zunächst aufwendig rekonstruiert werden werden. Das ist der Grund, warum dieser Text nicht mit der Beschreibung von Begebenheiten beginnt. Stattdessen muss zunächst formuliert werden, was genau an diesem Thema so problematisch ist, dass es sich derart sperrig zur bisherigen Forschungslandschaft verhält. Der Ausgangspunkt dieses Problems lässt sich in folgendem Grundsatz zu zusammenfassen. Männer waren und sind in Bezug auf ihre psychische Gesundheit auf Hilfe angewiesen. Sie sind betroffen in einer Art und Weise, die sich deutlich von Belastungen unterscheidet, unter denen Frauen diesbezüglich leiden. Entscheidende Gründe hierfür liegen in der Geschichte der vier Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges begründet. Ein Buch wie dieses beginnt normalerweise mit einer Einleitung. Diese könnte zum Beispiel folgendermaßen strukturiert sein: Auf die Relevanz und den Aktualitätsbezug des eigenen Themas wird oftmals zu allererst hingewiesen. Gegenstand und Zeitraum werden auf diese Weise anschaulich definiert. Der oben formulierte Satz würde in diesem Buch diese Funktion übernehmen. Wäre als nächstes nicht ein Blick darauf angebracht, was genau diesbezüglich erarbeitet werden soll? Möglicherweise beginnend zunächst mit einigen allgemein geläufigen historischen Ereignissen und Entwicklungen: Wären nicht das Ende der Krankenmorde im Nationalsozialismus und das Hungersterben in der Nachkriegszeit die unvermeidlichen Ausgangspunkte? Sollte dann nicht der Beginn der modernen Psychopharmaka Anfang der 1950er erwähnt werden? Würde dann nicht die Rebellion gegen die Psychiatrie „um 1968“ folgen und die Reformen seither? Und wäre nicht der sogenannte „Psychoboom“ seit den 1970er Jahren und der Wandel der Geschlechterverhältnisse wichtig, um jüngere Entwicklungen ins Gedächtnis zu rufen? Derlei allgemeinverständliche historische Marksteine könnten so vom ersten Schritt jeder Einleitung, der Nennung eines relevanten Gegenstandes, zum zweiten Schritt überleiten, der Formulierung eines Erkenntnisinteresses und einer präzisen Fragestellung. Welche Rolle spielten männliche Betroffene dabei? Welche Konsequenzen hatten veränderliche Männlichkeitsideale für die Psychiatrie als Institution? Wie erlebten Männer ihren Aufenthalt in einer der beiden untersuchten psychiatrischen Universitätskliniken (Heidelberg und Gießen)? Wie versuchten sie, Krisen zu bewältigen? War ihnen ihr soziales Umfeld dabei eine Hilfe oder nicht? Ein Korpus geeigneter Quellen würde in einem nächsten Schritt vorgestellt. Daraus würde sich eine Diskussion der Methoden ergeben, mit denen man diese Quellen auswerten möchte. Ein übergeordnetes theoretisches Konzept würde dargelegt, in das die Ergebnisse der Arbeit am Ende integriert würden. Dann erst ließe sich im Hauptteil die Erarbeitung und Darstellung der Ergebnisse in narrativer Form angehen. Dies wird in diesem Buch jedoch erst in den Teilen zwei bis fünf geschehen. Der erste Teil wird sich eingehend mit den oben genannten Schritten befassen. Diese wären eigentlich Gegenstand einer Einleitung. Was gewöhn-

14

Vorwort

lich in einer solchen abgehandelt würde, erfordert in diesem Buch einen eigenen Abschnitt. Warum dies so ist, mag ein Blick auf die verschiedenen Implikationen des Grundsatzes verdeutlichen. Im Folgenden werden diese thesenartig formuliert, um daraufhin im ersten Kapitel ausführlicher belegt zu werden. Primärer Gegenstand dieses Buches sind Männer. Nicht Frauen und auch nicht die Geschlechterverhältnisse. Die Dekonstruktion von Männlichkeit ist nicht primäres Anliegen. Wie die meisten meiner Kollegen vertrete auch ich die Ansicht, dass Geschlecht das Resultat eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses ist. Subalterne Gruppen, allen voran Frauen, besitzen in der machtkritisch orientierten Geschlechterforschung nicht ohne Grund ein gewisses Vorrecht, unhinterfragt Akteure der Geschichte zu sein. Auch wenn Männerrechtler bisweilen in klassischer Täter-Opfer-Umkehr das Gegenteil behaupten: Männer sind in Hinsicht auf gesellschaftliche Machtverhältnisse auch heute keinesfalls unterprivilegiert. Reproduziert die Wahl „des Mannes“ als Subjekt und Akteur einer Darstellung dann nicht die binäre Geschlechterordnung und damit die soziale Ungleichheit? Warum also derart vorgehen? Verkürzt gesprochen lautet die Antwort: Macht zu haben oder nicht zu haben, entscheidet nicht über das Ausmaß an seelischen Leidens, das einen Menschen ereilen kann. Mannsein bedingt hingegen diesbezüglich spezifische Risiken und Ressourcen, die systematischen Charakter haben. In psychiatriegeschichtlichen Arbeiten über weibliche Patienten kann hinsichtlich der Vorbildung der potentiellen Leserschaft heute einiges vorausgesetzt werden. Weit über die Grenzen der kritischen Psychiatrieforschung hinaus ist bekannt: Die psychiatrische Klassifikation enthält bis zum heutigen Tage sexistische Strukturen, von vergangenen Zeiten ganz zu schweigen. Dass Konzepte wie Hysterie oder Penisneid einer männlichen Vorstellungswelt entspringen, weiß man ebenfalls. Ebenso, dass sie die Bedürfnisse einer patriarchalen Gesellschaft stützten. In entsprechenden Arbeiten muss man sich für die emanzipatorischen Grundtendenzen nicht mehr rechtfertigen, selbst wenn diese erkennbar nicht wertfrei sind. Ein Verständnis für derartige Hintergründe bei Männern existiert demgegenüber in der kritischen Psychiatrieforschung nicht. Dies liegt daran, dass ein solches überhaupt nicht formuliert worden ist. Männer gelten als Nutznießer der patriarchalen Ordnung, nach deren Bedürfnissen sich auch die psychiatrische Klassifikation richtet. In den helfenden Berufen hat demgegenüber jedoch schon seit den 1990er Jahren ein kritischer Reflexionsprozess eingesetzt. Männer sind in vielen Bereichen in der gegenwärtigen Gesundheitsversorgung benachteiligt. Dies geschieht entweder ungeachtet oder gerade wegen ihrer patriarchalen Privilegien. Gibt es in dieser Hinsicht etwa keine Benachteiligung von Frauen? Die gibt es zweifellos. Auch hier müssten entsprechende Einflüsse analysiert werden. Diese gälte es, im Anschluss mit den Erkenntnissen über Männer zu vergleichen und in Bezug zu setzen. Ansonsten bestünde die Gefahr, Alleinstellungsmerkmale zu sehen, wo in Wirklichkeit keine bestehen. In dieser Arbeit wird es einen

Vorwort

15

solchen Vergleich jedoch nicht geben. Dies hat zunächst einmal arbeitsökonomische Gründe. Es erschöpft den Rahmen eines Projektes wie diesem vollauf, die notwendigen Vorbedingungen für einen solchen Vergleich zu erarbeiten. Der bedeutendere Grund liegt jedoch in der bisherigen Forschungslandschaft. Die vorliegende Arbeit nähert sich Männern unter dem Aspekt ihrer Schwäche und Verletzlichkeit. Damit geht sie die Beseitigung gravierender Forschungslücken in der Geschlechtergeschichte an. Der allergrößte Teil der bisherigen Historiographie hat sich aus dem Bedürfnis von Männern gespeist, sich selbst in einer bestimmten Weise zu imaginieren. Dass nahezu die gesamte Geschichtsschreibung seit ihrem Entstehen von männlichen Akteuren bevölkert wird, ist kein Zufall. Bereits seit einigen Jahrzehnten besteht in der Geschlechtergeschichte jedoch eigentlich der Konsens, dass es sich bei diesen Figuren um Zerrbilder handelt. Individualität und Schwäche wurden und werden zu Gunsten von Abstraktion und Heldentum systematisch abgespalten. Arbeiten, in denen Männer realistisch dargestellt werden können, sind möglich. Im Gegensatz zu den Arbeiten zur Stärkung der Präsenz von Frauen ist von einer emanzipatorischen Geschichtsschreibung für Männer allerdings so gut wie nichts Wirklichkeit geworden. Dies liegt auch daran, dass Arbeiten mit ausschließlich männlichen Akteuren als sexistisch zurückgewiesen werden. Die moderne Geschlechtergeschichte hat mit ihrer dekonstruktivistischen Kritik an der reinen Frauengeschichte das heute vorherrschende Paradigma geschaffen. Die darin liegenden Chancen für eine realitätsnahe Repräsentation von Männern wurden jedoch nicht umgesetzt. Bücher wie das vorliegende tragen daher nicht zur Vergrößerung der Unausgewogenheit der sogenannten His-Story bei. Sie sind notwendiges Korrektiv, gleichzeitig aber auch geschichtswissenschaftliches Neuland. Vergleichende oder dekonstruktivistische Perspektiven sind dabei als Hintergrund unverzichtbar. Zur Strukturierung des Erkenntnisinteresses sind sie hingegen bis auf weiteres nicht geeignet. Das Forschungsinteresse an der psychischen Verletzlichkeit von Männern kollidiert also mit den machttheoretischen Pfadabhängigkeiten der Geschlechtergeschichte. Doch auch mit entsprechenden Traditionen der Psychiatriegeschichte ist es alles andere als kompatibel: Ein klassischer, das heißt bedingungslos psychiatriekritischer Zugang ist für diese Untersuchung nicht geeignet. Denn der psychiatrische Blick ist unverzichtbares Korrektiv zur gesellschaftlichen Verdrängung der Verletzlichkeit von Männern. Das Leiden ist letztlich der Fluchtpunkt des ärztlichen Blickes. Seine Bekämpfung legitimiert das oft problematische Handeln der Psychiatrie. Die Selbsteinschätzung von männlichen Patienten in Bezug auf ihre Gesundheit ist dagegen notorisch unzuverlässig. Zwar ist die Kritik des ärztlichen Blickes ebenfalls unverzichtbarer Bestandteil dieser Arbeit. Dabei darf es jedoch nicht nur bei der Offenlegung von Repression und Stigmatisierung bleiben, auf die sich die kritische Psychiatriegeschichte beschränkt. Die Einstufung von Menschen durch Psychiater als krank, wurde und wird in der Sozialgeschichte der Psychiatrie selten anders als ein gewalttätiger Akt aufgefasst. Dies liegt auch daran, dass die bevorzugten Akteursgruppen dieser Forschungsrichtung

16

Vorwort

stets subalterne waren. Bei solchen Menschen, die die meist männlichen bürgerlichen Psychiater als „die Anderen“ wahrnahmen, hat sich dieser Ausgangspunkt als ertragreich erwiesen. Bei Männern muss jedoch ergänzend folgende Frage beantwortet werden: Wie weit waren männliche Ärzte überhaupt in der Lage, ihre Geschlechtsgenossen zu pathologisieren? Zumindest für die Gegenwart ist ein derartiger Gender-Bias vielfach belegt. Krankheiten und Gesundheitsgefährdungen von männlichen Patienten wurden durch die männlich dominierte Psychiatrie vielfach und systematisch ignoriert. Es existiert in diesem Buch eine Fülle von Beispielen, an denen dies auch für die Vergangenheit gezeigt wird. Der Informationsgehalt der ärztlichen Subjektivität wird in dieser Arbeit trotzdem deutlich positiver veranschlagt als bei anderen psychiatriegeschichtlichen Untersuchungen. Dies resultiert auch in einem anderen Umgang mit den Hauptquellen dieser Arbeit: psychiatrischen Krankenakten. Psychiatrische Krankenakten enthalten plausible Beobachtungen, die alltagsgeschichtliche Tatsachen enthalten. Eine Dekonstruktion psychiatrischer Normativität muss nicht auf Schritt und Tritt erfolgen. Ebenso wenig muss die Faktizität solcher Texte verworfen werden, bloß weil sich mit ihnen wissenschaftsgeschichtlich relevante Diskurse nachvollziehen lassen. Der potentielle Erkenntnisgewinn ärztlicher Beobachtungen ist bei der Fragestellung dieser Arbeit hinreichend hoch. In jedem Fall übertrifft er den Erkenntniszuwachs, den eine weitere Arbeit über die Repressivität psychiatrischer Machtdynamiken zu Tage fördern würde. Wer dies hier vermisst, der sei auf die Ergebnisse aus 40 Jahren psychiatriekritischer Forschungstätigkeit sowie andauernde Untersuchungen verwiesen. Der detaillierte Beleg dieser Thesen ist Gegenstand des ersten Abschnittes. Um es nochmals zusammenzufassen: Er dient erstens dazu, darzulegen, dass es eine Forschungslücke gibt. Und zweitens, dass es zulässig ist, diese Forschungslücke auf die Art und Weise zu schließen, wie dies in diesem Buch geschehen wird. Angesichts dieses notwendigen Umweges wäre es nicht zielführend, bereits an dieser Stelle eine Fragestellung zu entwickeln oder eine detaillierte Vorschau zu schreiben. Daher nur so viel: Im zweiten Abschnitt wird gezeigt, wie im psychiatrischen Diskurs bis ca. 1970 die Hilfsbedürftigkeit von Männern systematisch unsichtbar gemacht wurde. Dies änderte sich im Zuge der Durchsetzung von Sozialpsychiatrie und Psychotherapie seit diesem Zeitpunkt, und zwar analog zum Wandel vorherrschender Leitmännlichkeiten. Im dritten und vierten Abschnitt werden die Krankheitserfahrung von Männern behandelt. In Abschnitt drei wird untersucht, ob Patienten die Behandlung im Kontext von Praktiken der Männlichkeit verweigerten. Abschnitt vier behandelt die Frage, welche Wege Männer abseits der ärztlichen Behandlungen fanden, um ihre Krankheit zu bewältigen. Im fünften und letzten Abschnitt wird untersucht, welche Rolle Angehörige für die Patienten spielten. Dabei geht es auch um Risiko und Ressourcen in sozialen Beziehungsnetzwerken, wie dem Arbeitsplatz oder dem sozialen Milieu.

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit 1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias. Zum Forschungsstand der psychischen Gesundheit von Männern in Medizin, Psychologie und Gesundheitswissenschaften Die Gesundheitsforschung widmet sich seit einiger Zeit geschlechtsspezifischen Phänomenen und seit neuester Zeit auch der seelischen Gesundheit von Männern. Darin orientiert sie sich an aktuellen Gesundheitsidealen und thematisiert Problemfelder in der Prävention und Behandlung von psychischen Beschwerden. Im folgenden Abschnitt sollen die wesentlichen Bereiche dieses jungen Forschungszweiges vorgestellt werden. Denn sie sind es, die in der vorliegenden Arbeit in einen historischen Kontext gestellt werden sollen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit muss hier der Fokus auf der Forschung im deutschsprachigen Raum liegen. Was bedeutet seelische Gesundheit von Männern, außer der seelischen Gesundheit der Hälfte der Bevölkerung, die biologisch-administrativ als männlich aufgefasst wird?1 Die Männergesundheitsforschung geht dieser Frage anhand von verschiedenen Schwerpunkten nach. Dazu gehören etwa die Fragen ob, warum und ggf. in welchem Maße Männer von bestimmten Störungen häufiger betroffen sind als Frauen.2 Es geht darum, wie ihr Geschlecht die Gesundheitsvorsorge, Bewältigungsstrategien und Behandlungsbereitschaft (Compliance) beeinflusst.3 Für Psychotherapeuten sind Männlichkeit und Weiblichkeit schon seit den psychoanalytischen Anfängen der Disziplin stets von Bedeutung gewesen.4 Medizinsoziologen und praktisch Tätige beschäftigen sich mit der Deutung männlichen Leidens und den Folgen solcher Deutungsmuster für die Betroffenen.5 Ein eigener Schwerpunkt ist die Erforschung von Gewalterfahrung in ihren Auswirkungen für die Psyche von Männern.6 Weiterhin spielt nicht erst seit Verbreitung des IntersektionalitätsParadigmas die Frage nach der sozialen und ethnischen Herkunft eine zentrale Rolle.7 Diese verschiedenartigen Ansätze auf einen Nenner zu bringen, ist schwierig. Es existiert allerdings ein Konzept, das sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie Verbreitung gefunden hat und in nahezu allen der oben genannten Problemfelder immer wieder zur Erklärung der Befunde herangezogen wird: Es handelt sich dabei um den Begriff der „Externalisierung“. Eine 1 2 3 4 5 6 7

Bardehle/Dinges/White (2016). Möller-Leimkühler (2005), S. 29–35. Möller-Leimkühler (2013), S. 63–83. Einen Überblick zur Geschichte und Gegenwart dieser Fragestellung in der Psychoanalyse findet sich bei: Franz (2011). Brandes (2001). Bogerts/Möller-Leimkühler (2013), S. 1329–1344. Starker/Rommel/Saß (2016), S 147–181; Möller-Leimkühler (2013).

18

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

wahrnehmungsorientierte Definition des Begriffes findet man bei dem Psychoanalytiker Stavros Mentzos:8 „Bei den Externalisierungsprozessen werden psychische Inhalte nach außen versetzt.“ Sie sind „ein normaler, notwendiger, universeller Prozess, der u. a. eminent wichtig für die Selbstkonstitution ist.“ Als Beispiel führt Mentzos einen Bildhauer an, der „einen Teil von sich selbst in eine äußere Form objektiviert“, aber auch den Fall eines Menschen, „der einen eigenen unerwünschten oder unerlaubten Wunsch, Impuls oder Selbstanteil externalisiert, das heißt einer anderen Person sozusagen [unterstellt].“ Auf der sozialpsychologischen und soziologischen Ebene versteht man unter Externalisierung auch die Übertragung der eigenen Werte, Vorstellungen und Meinungen auf die Umwelt. Der Begriff wird konträr zu „Internalisierung“ verwendet. Bei dieser integriert ein Mensch ursprünglich fremde Ideen und Zuschreibungen in die eigene Psyche, sodass er sie schließlich als seine eigenen wahrnimmt. Sozialisierung ist demnach letztlich ein Prozess der Internalisierung, bei dem die jeweilig gültigen gesellschaftlichen Werte nach und nach verinnerlicht werden. Diese wahrnehmungsorientierten Definitionen vermögen noch nicht auszudrücken, welche konkreten Handlungen ein stark externalisierender Denkstil zur Folge hat: Externalisierendes Verhalten richtet sich nach außen, ist praktisch-instrumentell, expansiv und daher immer auch potentiell aggressiv. Entsprechendes Problemlöseverhalten ist gelenkt durch die Überzeugung, dass Probleme außerhalb des eigenen Selbst liegen. Externalisierung wird von verschiedenen Autoren zur Erläuterung geschlechtsspezifischer Besonderheiten bei Häufigkeit und relativer Verteilung von Störungen herangezogen. Es gibt eine Reihe von Diagnosen, mit denen überwiegend, in einigen Fällen sogar fast ausschließlich, Männer diagnostiziert werden.9

8 9

Mentzos (2008) S. 189–191. Tabelle nach: Möller-Leimkühler (2005): S. 30. Bei all den offenkundigen Unterschieden (und der Wichtigkeit, auf diese hinzuweisen) sollte man die starken epidemiologischen Gemeinsamkeiten nicht unerwähnt lassen. Die DEGS Zusatzstudie „Psychische Gesundheit“ des Robert-Koch-Instituts geht etwa davon aus, dass im Laufe eines Jahres ungefähr gleich viele Männer wie Frauen an psychischen Störungen leiden (Männer 30,7 %, Frauen 35,9 %). Es erkranken also entgegen einer verbreiteten Ansicht nicht wesentlich weniger Männer als Frauen an psychischen Störungen. Siehe Wittchen/Jacobi (2012), S. 10. Auch bei der Auflistung typischer Männerkrankheiten ist relativierend anzumerken, dass sich hier mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede finden. Nahezu identisch sind etwa die am häufigsten auftretenden Störungen bei beiden Geschlechtern. Mit folgenden psychischen Störungen wurden Männer 2011 am häufigsten diagnostiziert, siehe Ebd.: S. 10: Alkoholstörungen, Angststörungen, Depression, Zwangsstörungen, Bipolare Störungen. Im Wesentlichen sind diese auch bei den Frauen die fünf häufigsten Diagnosen. Lediglich die Reihenfolge ist eine andere. Der 5. Platz wird von den Frauen mit somatoformen Störungen anstatt den Bipolaren Störungen gestellt, die dann jedoch sofort auf Platz 6 folgen. Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Häufigkeit bestimmter Diagnosen bzw. der Häufigkeit bestimmter Erkrankungen, in absoluten Zahlen betrachtet, sollten daher nicht überbewertet werden.

1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

19

Substanzbezogene Störungen Vorgetäuschte Störung Störungen der Sexualpräferenz Pyromanie Pathologisches Spielen Paranoide Persönlichkeitsstörung Schizoide Persönlichkeitsstörung Schizotypische Persönlichkeitsstörung Narzisstische Persönlichkeitsstörung Antisoziale Persönlichkeitsstörung Zwanghafte Persönlichkeitsstörung Bei Kindern und Jugendlichen: a. Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität (ADHS) b. Hyperkinetisches Syndrom c. Störung des Sozialverhaltens

Verschiedene Autoren erkennen eine wichtige Gemeinsamkeit dieser Krankheitskonzepte darin, dass ihre Symptome entweder übersteigerte externalisierende Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen sind, oder dass eben solche zu der Krankheit geführt haben.10 Damit verbunden ist die Frage, wie ein Mensch mit Konflikten umgeht. Ob er im Angesicht von Konflikten eher zu Externalisierung oder zu Internalisierung neigt, hat auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie er diese bewältigt. Ein Mensch, der externalisiert, nimmt die Ursache von Problemen als etwas wahr, das außerhalb von ihm liegt und demnach nicht durch ihn (oder etwas in ihm) verursacht wird. Versuche, diesen Konflikt zu bewältigen, richten sich bei solchen Menschen eher auf eine Veränderung der Umgebung und der Mitmenschen, als dass eigene Einstellungen und Verhaltensweisen geändert werden. Externalisierung erstreckt sich bis auf den eigenen Körper, der als Teil der Umwelt, mithin als Teil des jeweiligen Problems wahrgenommen wird. Dadurch kann der zum „eigentlichen Ich“ gehörige Körper externalisiert, als etwas Äußeres wahrgenommen und eventuell zur Lösung eines Konfliktes instrumentalisiert werden, als sei er ein Objekt.11 Hieraus erklärt sich beispielsweise die Selbstmedikation als ein wichtiger Faktor für die Entstehung von Störungen, die mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol einhergehen. Der Konsum wird etwa zur Stressbewältigung eingesetzt oder zur Überwindung sozialer Ängste.12 Solche Diagnosen kommen bei Männern mit Abstand am häufigsten vor. Externalisierung steht auch in einem Zusammenhang mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen, die bei Männern häufiger diagnostiziert werden als bei Frauen. Menschen mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen – dazu zählen 10 11 12

Thiels/Schmitz (2008), S. 118–125; Hopf (2012), S. 39 f.; Barnow (2012), S. 111–124. Möller-Leimkühler/Kasper (2010), S. 137, 140. Ein Reduzieren des Arbeitspensums oder die Auseinandersetzung mit eigenen Emotionen wird durch ein solches Verhalten umgangen.

20

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

weit überwiegend Männer – empfinden wenig Empathie für andere (und sich selbst) und haben eine geringere Kontrolle über ihre Impulse; sie sind aggressiv und expansiv. Straftäter erhalten am häufigsten diese Diagnose.13 Oft haben diese Menschen bereits in der Kindheit und Jugend externalisierend auf Belastungen reagiert und wurden mit einer Störung des Sozialverhaltens, mit ADHS oder beidem zugleich diagnostiziert. Diese Diagnosen werden ebenfalls weit überwiegend an Jungen vergeben. Auch Menschen mit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung instrumentalisieren ihre Mitmenschen und beuten sie emotional aus, um ein ebenso von Großartigkeit geprägtes wie fragiles Selbstbild aufrechtzuerhalten.14 Männer begehen in fast allen Industrienationen etwa dreimal häufiger Suizid als Frauen. Externalisierung wird dabei als einer von mehreren Ursachen für diese Tatsache mit angeführt. Suizidversuche haben bei Männern weniger häufig demonstrativen Charakter und zeugen von einem hohen Grad an Selbstobjektivierung.15 Die Männergesundheitsforschung beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Frage, warum bestimmte Diagnosen besonders häufig an Männer vergeben werden. Auch Diagnosen, die Männer auffällig selten bekommen, sind von Interesse. Hier spielt „Externalisierung“ wieder eine Rolle bzw. deren analytischer Komplementärbegriff, die Internalisierung. Internalisierung bezeichnet die Integration und Konsolidierung von Werten, Überzeugungen und Meinungen im eigenen Selbst. Internalisierte Werte und Normen zeichnen sich dadurch aus, dass ein Verstoß gegen sie zu Schuldgefühlen führt. Von internalisierendem Problemlösungsverhalten spricht man, wenn ein Mensch die Ursache von Konflikten im eigenen Verhalten, dem eigenen Selbst und im eigenen Körper auszumacht. Versuche, diese Konflikte zu lösen, zielen auf eine Veränderung der eigenen Handlungsweisen und Überzeugungen. Zu Forderungen nach Veränderung des Gegenübers oder dessen aktiver bzw. sogar gewaltsamer Instrumentalisierung kommt es hier nicht. Dass internalisierende Störungen bei Männern so viel seltener auftreten als bei Frauen, legt den Schluss nahe, dass Externalisierung für die psychische Verletzlichkeit von Männern eine Schlüsselrolle spielt. Störungen, die im Vergleich zu Frauen seltener bei Männern diagnostiziert wurden, sind zum Beispiel:16

13 14 15 16

Ebd., S. 143; Krueger/Hicks/Patrick/Carlson/Iacono/McGue (2002), S. 411. Möller-Leimkühler/Kasper (2010) S. 143; Akhtar/Thomson (1982), S. 12–20. Verona/Sachs-Ericsson/Joiner Jr (2004), S. 444–451.; Möller-Leimkühler/Kasper (2010), S. 154–155. Siehe für die vollständige Liste Möller-Leimkühler, Geschlechtsrolle (2005) S. 31. In der hier aus Gründen der Fokussierung wiedergegebenen Auswahl wird keine Aussagen über Häufigkeit der jeweiligen Störungen getroffen. Die Auswahl wurde so ausgewählt, dass sie die Kernaussage von Möller-Leimkühlers Aufsatz adäquat widerspiegelt, nämlich, dass auffällig viele Störungen, die bei Frauen vermehrt diagnostiziert werden, internalisierende Störungen sind.

1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

21

Depression Disthyme Störung Angststörungen Somatoforme Störungen Anorexia Nervosa Bulimia Nervosa Schlafstörung mit Alpträumen Trichotillomanie Borderline-Persönlichkeitsstörung Histrionische Persönlichkeitsstörung Dependente Persönlichkeitsstörung

Stark ausgeprägtes, internalisierendes Problemlösungsverhalten kann auf längere Sicht zu seelischem Leid führen. An erster Stelle zu nennen ist hier die Depression. Depressive Menschen klagen sich in wahnhafter Weise selbst an, halten sich der verschiedensten Vergehen für schuldig, glauben, sie sind unfähig oder nicht wert, geliebt zu werden. Werden mit Externalisierung die Persönlichkeitsstörungen erklärt, an denen Männer häufig leiden, so gilt hinsichtlich Internalisierung das gleiche für Frauen.17 Menschen mit Histrionischer Persönlichkeitsstörung, Dependenter Persönlichkeitsstörung oder BorderlinePersönlichkeitsstörung18 richten ihr Verhalten und ihre Wahrnehmung an anderen Menschen aus. Sie wollen sich so deren Fürsorge und Zuwendung, Begierde oder Aufmerksamkeit sichern. Ein anschauliches Beispiel für internalisierendes Problemlösungsverhalten sind Essstörungen. Anorexie und Bulimie stehen in Zusammenhang mit internalisierten Schlankheitsidealen, auch wenn dies nicht deren alleinige Erklärung ist.19 Störungen, mit denen Männer auffallend selten behandelt werden, werden also – konträr zur Externalisierung – häufig mit Internalisierung in Verbindung gebracht. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Verteilung sind zwar signifikant, dabei jedoch lediglich eine statistische Tendenz. Dass internalisierende Störungen als „Frauen17

18 19

An dieser Stelle ergibt sich eine Unstimmigkeit zur oben getroffenen Feststellung, dass die Unterschiede in der geschlechtsspezifischen Verteilung nicht überbetont werden sollten, da gerade bei den häufigsten Diagnosen wesentliche Übereinstimmungen bestehen. Dieser Widerspruch lässt sich folgendermaßen auflösen: Erstens sind bei epidemiologischen Daten von der Größenordnung der hierzu oben zitierten Untersuchung des Robert-Koch-Instituts auch die nicht an allerster Stelle der Häufigkeitsverteilung stehenden Erkrankungen immer noch von erheblicher Relevanz in Bezug auf public health. Zweitens sind die in der RKI-Studie aufgeführten Erkrankungen allgemein zu Gruppen zusammengefasst (Etwa Zwangsstörungen, Depressive Störungen). Diagnosen, die auf psychosoziale Ursachen verweisen und die häufig als Zweitdiagnose zu solch allgemeineren Befunden verteilt werden, sind zu zahlreich und fallspezifisch, als dass sie die Häufigkeitsverteilung beeinflussen könnten. Beide Sichtweisen sind für ein Verständnis der geschlechtsspezifischen Häufigkeit zu rezipieren. Im Falle der Borderline-Persönlichkeitsstörung, bei der eine Vielzahl von Symptomen auftreten kann, beobachtet man ein Wechselspiel von Externalisierung und Internalisierung: Kruger/Eaton (2011) S. 1041–1050. Derenne/Beresin (2006), S. 257–261.

22

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

krankheiten“ wahrgenommen worden sind, hat dennoch Konsequenzen. Es beeinflusst nicht nur die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht, sondern auch die Arbeitsweise der medizinischen Psychologie, der Psychotherapie und Psychiatrie. Ein Problem dabei ist die gesellschaftliche Stigmatisierung von Männern, die an sogenannten „Frauenkrankheiten“ leiden. Darüber hinaus stehen manche „internalisierende Störungen“, insbesondere Depression, im Verdacht, bei Männern systematisch unterdiagnostiziert zu sein. Darauf wird weiter unten in diesem Abschnitt eingegangen werden. Zunächst soll die Verbindung zwischen der medizinisch-psychologischen Verwendung des Externalisierungs-Internalisierungs-Begriffspaares mit seiner soziologischen Verwendung beschrieben werden. Denn Externalisierung und Internalisierung werden nicht bloß verwendet, um die geschlechtsspezifische Asymmetrie bei der Verteilung von Diagnosen zu beschreiben und nach Möglichkeit zu erklären. Es wird auch bei der Erforschung von gesundheitsrelevantem Alltagsverhalten eingesetzt und gehört zum analytischen Vokabular sowohl der Gesundheitswissenschaften als auch der Soziologie und der Gesundheitssoziologie.20 Externalisierung ist das strukturgebende Merkmal des „männlichen Habitus“ bei Pierre Bourdieu, der den Begriff, wie auch die medizinische Psychologie, unabhängig von ihr aus der Psychoanalyse entnommen hat. Der Soziologe Holger Brandes machte Bourdieus männlichen Habitus für die Erklärung des Gesundheitsverhaltens von Männern fruchtbar.21 Dieses geriet seit den späten 1990er Jahren in den Fokus der Forschung. Die Frage lautet seither, warum Gesundheitsangebote Männer wesentlich seltener erreichen als Frauen.22 Mit Externalisierung (verstanden als wesentlicher Bestandteil von „doing masculinity“) ist eine eingeschränkte Gefühls- und Körperwahrnehmung verbunden. Ein adäquates Körpergefühl ist jedoch notwendig, um den eigenen Zustand realistisch einzuschätzen. In Belastungssituationen ist es Voraussetzung für die Schonung der Gesundheit oder ggf. für die Inanspruchnahme von Hilfe.23 Ein weiteres Hindernis ist das verstärkte Bedürfnis nach subjektiver Unabhängigkeit. Die Unwilligkeit oder Unfähigkeit, dieses Gefühl aufzugeben, erschwert ebenfalls das Aufsuchen von Hilfe.24 Im ungünstigen Falle wird „doing masculinity“ auf diese Weise zum Behandlungshindernis und Gesundheitsrisiko. Die Männergesundheitsforschung betrachtet die psychische Gesundheit von Männern auch aus dieser Perspektive der Praxeologie der Geschlechter. Gesundheitsrelevante Wahrnehmung und Handlungsweisen werden auf ihren Zusammenhang mit Männlichkeit untersucht. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie die Compliance von

20 Einen Überblick über die Bourdieu-Rezeption in der Männergesundheitsforschung gibt: Balke (2009), S. 31 f. 21 Brandes (2001). 22 Möller-Leimkühler (2013), S. 68–69. 23 Ebd. S. 68–69, Brandes (2003), S. 10–13. 24 Möller-Leimkühler (2013): S. 68–69.

1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias

23

Männern, ihre Krankheitserfahrung und ihre Bewältigungsstrategien von ihren Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen beeinflusst sind. Die gesundheitsrelevanten Handlungen, die demnach zur gleichen Zeit Praktiken der Konstruktion von Männlichkeit sind, orientieren sich dabei an normativen Männlichkeiten. Diese Leitmännlichkeiten sind auf der gesellschaftlichen Makroebene präsent und schreiben geschlechtsspezifische Regeln und Tabus vor. Auch hier kollidiert normative Männlichkeit mit psychischer Gesundheit: Hilfe überhaupt in Anspruch zu nehmen, wird von vielen Männern als Widerspruch zur eigenen Unabhängigkeit gesehen. Letztere ist wiederum eine der Kerneigenschaften der sozial erwünschten Männlichkeit. Die Folge ist, dass betroffene Männer im Verhältnis zu Frauen häufiger dazu tendieren, ihre Leiden vor ihrem Umfeld und vor sich selbst zu verbergen.25 Die Bewältigung seelischer Belastungen gestaltet sich dann häufig maladaptiv: Symptome der Erkrankung werden durch übermäßige Arbeit oder Alkoholkonsum gelindert. Häufig nehmen Männer Beschwerden auch gar nicht erst als Teil von sich wahr, sondern suchen die Gründe für das Leiden bei den Mitmenschen. Bourdieus Modell des „männlichen Habitus“ leitet sich zum Teil aus psychoanalytischen Entwicklungstheorien her. Die Binarität der Geschlechter durchzieht die meisten Kulturen, Männlichkeit entsteht im Prozess der Abtrennung der biologisch männlichen Kinder von ihren Müttern und der Loslösung aus dem häuslichen, inneren und symbiotischen Bereich. Von einem Jungen wird erwartet, sich in Wahrnehmung und Verhalten als „nicht-weiblich“ zu identifizieren, sodass er auch von der Außenwelt als männlich erkannt werden kann.26 Initiiert wird diese Ablösung von den erwachsenen männlichen Angehörigen der Gemeinschaft. Was Bourdieu hier auf gesellschaftlicher Ebene schildert, wird auf psychodynamischer Ebene als Prozess der Triangulierung beschrieben. Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie erklärt männliche Spezifika bei psychischen Störungen im Kontext von Ablösungsprozessen. Untersucht werden Erfahrungen, die betroffene Männer mit ihren Eltern und anderen frühen Bezugspersonen im Kindesalter gemacht haben.27 Im Fokus steht dabei die Herausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität. Heranwachsende Jungen müssen diesen Theorien zufolge einen Wechsel von der Identifikation mit der Mutter zur Identifikation mit einer (oder mehreren) männlichen Bezugspersonen bewältigen. Nur so erlangen sie eine gesicherte männliche Geschlechtsidentität. Sehr viel stärker und umfassender als Frauen müssen sich Männer also aktiv (und häufig schmerzhaft) von ihren Müttern, den primären Bezugspersonen, disidentifizieren. Dies führt regelmäßig zu Komplikationen. Dieser Vorgang geht reibungsloser vonstatten, wenn eine männliche Bezugsperson die Trennung aktiv und fürsorglich unterstützt.28 Die Erklärungskraft des Tri25 26 27 28

Bevan (2010); Galdas (2009), S. 63–77. Bourdieu (1997), S. 174 f.; Böhnisch (2003), S. 21 f., S.193. Perron (2005), S. 1183–1187.; Franz (2011), S. 113–173.; Hirsch (2011), S. 172–190. Neubauer/Winter (2013), S. 103–139.; Abelin (1971), S. 229–252.

24

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

angulierungsmodells ist umstritten. Dies liegt vor allem daran, dass die Abweichung der Geschlechtsidentität vom dualen Schema männlich-weiblich heute seitens der klinischen Psychologie nicht mehr grundsätzlich als pathologisch aufgefasst wird. Unabhängig von solchen Einwänden lässt sich bislang eine ganze Reihe von Phänomenen kaum anders als mit problematischen Ablösungsprozessen erklären. Söhne von alleinerziehenden Müttern sowie Jungen aus Familien mit häufig abwesenden Vätern erkranken signifikant häufiger an verschiedenen psychischen Störungen. Ebenso gilt dies für Männer, die über ein gestörtes Verhältnis zu ihren Vätern berichten.29 Kinder, die im Zweiten Weltkrieg ihre Väter verloren hatten, litten und leiden gegenwärtig noch immer wesentlich häufiger als ihre Altersgenossen an depressiven sowie soziophoben Symptomen. Söhne von geschiedenen Müttern weisen doppelt so häufig alkoholbedingte Störungen auf und verhalten sich ebenfalls doppelt so häufig suizidal. Das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, ist für sie 2,5-fach, das Risiko für Drogenprobleme sogar 4-fach erhöht.30 Ihr Selbstwertgefühl ist geringer und sie werden häufiger delinquent.31 Dies deckt sich mit Erkenntnissen der Kriminologie, die bei Untersuchungen an männlichen Straftätern eine Häufung von ähnlichen Familienkonstellationen entdeckte.32 Ein ebenso wichtiger wie gesellschaftlich konfliktbeladener Aspekt der Triangulierungsproblematik ist der psychische Zustand der Mutter eines heranwachsenden Jungen. Witwen, geschiedene oder alleinerziehende Frauen sind selbst vermehrt belastet, vor allem Depression ist bei ihnen überdurchschnittlich häufig verbreitet. In dieser familiären Konstellation kann die Wahrnehmung der kindlichen Bedürfnisse und die Kommunikationsfähigkeit zwischen Kind und Mutter beeinträchtigt werden. Kinder verhalten sich entsprechend den Erwartungen ihrer Mütter und stehen diesen als Bindungsobjekt zur Verfügung. Jungen sind hierdurch in spezifischer Weise belastet. Es entstehen sogenannte entwicklungsinadäquate Abhängigkeitsverhältnisse. Sie sind der Nährboden für traumatisierende Grenzüberschreitungen, latent inzestuöse Beziehungen bis hin zum manifesten sexuellen Missbrauch.33 Psychoanalytiker, Psychotherapeuten und Soziologen haben diese Befunde dahingehend interpretiert, dass Triangulierungsprobleme instabile und fragile Geschlechtsidentitäten hervorbringen. Diese werden dabei als potentiell pathologisch eingestuft.34 Die Annahme von einem Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit und instabiler männlicher Geschlechtsidentität 29 30 31 32

Franz 2011, S. 116 f., S. 134, S. 139. Franz, S. 147. Franz S. 147. In diesem Zusammenhang ist für die Frage nach psychischen Störungen von Männern von Bedeutung, dass Diagnosen, die mit Kriminalität korrelieren, weit überwiegend bei Männern auftreten. 33 Haag (2006). Franz (2011); Neubauer/Winter (2013), S. 116. 34 Franz (2011), S. 147, Tyson (2013), S. 1–20; Siehe in Bezug auf verwandte, entwicklungsbedingte Erklärungsmodelle für Depression auch Teuber (2011), S. 172–180, die jedoch

1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias

25

hat eine lange Tradition. Sie erscheint allerdings aus heutiger Sicht höchst problematisch. So fand sie sich schon in der heute mehrheitlich abgelehnten Einordnung der Homosexualität und Transsexualität in die Liste der Störungen. Andere Zusammenhänge sind weniger umstritten: Ausgangspunkt ist häufig die Abwesenheit der männlichen Bezugsperson, die eigentlich in der Triangulierung dem Jungen als Objekt der Identifikation zur Verfügung stehen soll. Dies führt demnach dazu, dass der Heranwachsende keine Gelegenheit erhält, sich mit einer männlichen Person zu identifizieren. Es kommt infolgedessen zu Beginn der Pubertät zu schweren Identitätskonflikten, da Jungen ohne stabile männliche Geschlechtsidentität von der Gesellschaft massiv sanktioniert werden. Viele reagieren darauf mit Angst und Depression.35 Andere versuchen, ihrer prekären Lage durch eine sogenannte Umweg-Identifikation zu entgehen. Umweg-Identifikation beschreibt eine Art gezwungene Selbstkonstruktion über die Aneignung von Statussymbolen normativer Männlichkeit: Ausgeprägte Promiskuität, Konsum von Pornographie, betont „männliche“ Ausdrucks- und Verhaltensweisen, Konsum (Autos, Kleidung) und demonstrative Homophobie. Diese Art männlicher Selbstvergewisserung ist an sich durchaus nicht unüblich, insbesondere bei jungen Männern. Steht diese Hypermaskulinität jedoch in stetiger Spannung mit andersartigen Bedürfnissen, verursacht sie beträchtlichen seelischen Stress. Eine Umweg-Identifikation bedeutet zwar ebenfalls eine Abkehr von der Mutter. Diese Disidentifikation wird jedoch nicht durch eine männliche Bezugsperson in der Triangulierung aufgefangen. Solche Jungen haben nie gelernt, vertrauensvolle Bindungen zu anderen Männern einzugehen. Dies steigert ihre Abhängigkeit von der emotionalen Zuwendung von Frauen noch weiter, anstatt sie zu beenden, und erzeugt erhebliche Ohnmachtsgefühle. Diese werden im schlimmsten Fall wiederum durch Frauenfeindlichkeit, Eifersucht, aggressives Dominanzstreben und Gewalttätigkeit kompensiert.36 Das klassische Triangulierungsmodell, wie oben skizziert, wurde an neuere gesellschaftliche Entwicklungen angepasst. Es entstand zu einer Zeit, in der die traditionelle Kernfamilie noch die am weitesten verbreitete Form des Zusammenlebens darstellte. Zwar ist der Zusammenhang zwischen gescheiterter Triangulierung und psychosozialen Problemen durch umfangreiche Forschung belegt. Uneinigkeit herrscht jedoch bis heute bei der Frage, welche Konsequenzen aus diesen sehr weitreichenden Befunden gezogen werden sollen. Dem ursprünglichen Modell lagen einige Grundannahmen über Geschlecht zugrunde, die man unter der Bezeichnung duale oder bipolare Ordnung zusammenfassen kann. Die axiomatische Einteilung in Mann und Frau gilt heute selbst in den therapeutischen Wissenschaften nicht mehr als selbstverständlich. Erst recht abgelehnt wird sie von den machtkritischen Kulturwissenschaften. Teile der Gender Studies verwerfen die duale Einteilung vollstänmit Sigmund Freud, Nancy Chodorow und Luce Irigaray Psychoanalytiker zitiert, die nicht mit dem Mahlerschen Triangulierungsmodell arbeiten. 35 Franz (2011), S. 124–126. 36 Zur heutigen Auslegung des klassisch–psychoanalytischen Modells siehe Hirsch (2011).

26

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

dig. Zwar geht die psychoanalytische Entwicklungstheorie genau wie die dekonstruktivistische Geschlechterforschung37 davon aus, dass Geschlechtsidentität konstruiert ist. Denn schließlich beschreibt das Modell der Triangulierung genau einen solchen Prozess der Konstruktion von Männlichkeit. Ziel der Gender Studies ist es jedoch, eben solche Identitäten zu dekonstruieren – wenn nicht immer, dann doch zumindest da, wo man sie für Mitverursacher gesellschaftlicher Ungleichheit hält. Die psychodynamische Forschung hingegen hat in der Vergangenheit gerade in der Abwesenheit einer hinreichend stabilen Geschlechtsidentität ein psychopathologisches Symptom gesehen. Dabei war man sich durchaus bewusst, dass die bipolare Geschlechterordnung alles andere als naturgegeben ist. Obwohl klar war, dass sie in einem psychosozialen Konstruktionsprozess erst erzeugt wird, wurde in der Vergangenheit dennoch eben die hinreichend stabile Orientierung auf einen der beiden Pole38 als „gesunder“ oder zumindest „normaler“ Endpunkt dieses Konstruktionsprozesses betrachtet. Leiden wie Depressivität, Angst oder dissoziales Verhalten wurden ätiologisch mit „unpassenden“ Seelenanteilen erklärt, „weibliche“ bei depressiven Männern etwa, „männliche“ bei „hysterischen“ Frauen.39 In den letzten Jahrzehnten hat diese Sichtweise zunächst in der psychiatrischen Klassifikation, später auch in der Psychotherapie Schritt für Schritt an Einfluss verloren. Als deutlichste Konsequenz dieser Entwicklung folgte die Entpathologisierung der Homosexualität – 1973 in den USA, 1993 dann in Deutschland. Diese Neubewertung spiegelt nicht nur veränderte kulturelle oder gar ideologische Prägungen der Forscher wider. Sie ist auch als Reaktion auf neuere Forschungsergebnisse zu sehen. So ließ die Existenz einer Vielzahl offenbar kerngesunder homosexueller und transsexueller Menschen an der Pathogenität der unscharfen Geschlechtsidentität Zweifel aufkommen. Vielmehr geriet die Pathogenität der erheblichen gesellschaftlichen Repression in den Blick, die solche Menschen zu erleiden hatten und immer noch haben. Als Konsequenz auf die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen hat das Triangulierungsmodell eine Reformulierung erfahren. Der 37

Diese ist ja zugespitzt ausgedrückt gerade in ihrer heutigen Form so etwas wie poststrukturalistische Psychoanalyse, z. B. Irigaray (1979), die ihrerseits wiederum wesentlich von Jaques Lacan beeinflusst ist, der sowohl als Psychoanalytiker als auch als poststrukturalistischer Philosoph bezeichnet wird. Siehe dazu Connell (2006), S.38. 38 Und zwar möglichst auf den organischen Begebenheiten entsprechenden. 39 Das gesellschaftspolitische Missbrauchspotential eines solchen Modells ist offenkundig: Insbesondere kann eine als normativ betrachtete Männlichkeit dahingehend gedeutet werden, das einer „Feminisierung“ junger Männer Einhalt gebieten werden müsse. Hier wird das Triangulierungskonzept von politischen Kräften vereinnahmt, die eine „Remaskulinisierung“ von Männern im Sinne einer Wiederherstellung einer als universal verstandenen traditionellen Männlichkeit anstreben. Damit zusammen kommt es häufig zu kollektiven Schuldzuschreibungen an Mütter. Insbesondere alleinerziehende Mütter sind immer wieder Gegenstand öffentlicher Schuldzuweisungen, etwa in Debatten über Jugendkriminalität. Der Hinweis auf die vermeintliche Überforderung dieser Frauen zielt häufig kaum verhohlen auf die Wiederherstellung der traditionellen Kernfamilie und einer Einschränkung der Autonomie von Frauen ab. Ladd–Taylor (1998); Rush (1996), S. 304.313; Capps (2001), S. 147–149.

1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias

27

Prozess wird nicht mehr a priori an die Geschlechtsidentität der Akteure gebunden. Notwendige Voraussetzung ist folglich nicht mehr unter allen Umständen ein biologischer Mann (oder gar ein leiblicher Vater) als triangulierende Bezugsperson. Potentiell können Menschen egal welchen Geschlechts einen heranwachsenden Jungen aus der Symbiose mit der Mutter lösen.40 Auch alleinerziehenden Müttern traut man die Aufgabe, ihre Kinder loslassen zu können, ohne weiteres zu. Sie stehen nicht mehr unter Generalverdacht, ihre Kinder krank zu machen. Das Triangulierungsmodell wurde somit neueren gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst. Diese erweiterte Perspektive ändert freilich nichts an der Tatsache, dass die meisten Jungen in dieser Gesellschaft mit Mutter und Vater als ersten Bindungsobjekten heranwachsen. Von diesen Jungen bildet wiederum die Mehrheit eine heterosexuelle Geschlechtsidentität aus. Angesichts dessen hat die duale Vorstellung von Geschlecht in der anwendungsorientierten Forschung weiterhin ihren Platz. Konkrete Fragen zur Prävention und Behandlung psychischer Störungen werden dem dekonstruktivistischen Programm eines bedingungslosen „undoing gender“ nicht geopfert. Gesellschaftlich wird von Jungen erwartet, einen geschlechtsspezifischen, männlichen Habitus zu entwickeln. Dies verlangt ihnen eine beträchtliche Leistung ab. Die Psychotherapie fühlt sich nicht mehr verpflichtet, diese Jungen in eine cis-heterosexuelle41 Form zu pressen. Sie will sie aber auch nicht zulasten ihrer Gesundheit im gegenwärtigen Kulturkampf um Geschlecht instrumentalisieren, sondern sie in ihrer eigenen Lebenswelt unterstützen.42 Ausgehend von diesem Standpunkt soll in dieser Studie auch die psychische Gesundheit von Männern aus einer historischen Perspektive beleuchtet werden. Diese Perspektive steht in einem Spannungsfeld: Zum einen zu der Akzeptanz eines Begriffes von seelischer Gesundheit, der sehr wohl eine relative Stabilität von Geschlecht voraussetz; zum anderen zur kritischen Beleuchtung der gewaltsamen Durchsetzung der Cis-Heterosexualität durch die Psychiatrie und Psychotherapie gerade in den ersten Jahrzehnten des Untersuchungszeitraumes. Ein weiteres Problemfeld der Männergesundheitsforschung behandelt die Auswirkungen der kulturellen Deutungen des psychischen Leidens von Männern. Grundsätzlich ist es nahezu unmöglich, normativ verstandene („hegemoniale“) Männlichkeit mit Krankheit zu assoziieren. Dies ist bei psychischen 40 Heineman (2004), S. 99 f. 41 Ein Mensch ist cis-heterosexuell, wenn sein biologisches Geschlecht (sex) mit seinem sozialen Geschlecht (gender) übereinstimmt und seine sexuelle Orientierung auf das andere Geschlecht gerichtet ist. Nicht cis-heterosexuell sind also alle Menschen, die das eigene Geschlecht sexuell begehren und/oder deren biologisches Geschlecht nicht mit ihrem sozialen Geschlecht übereinstimmt. Also Schwule, Lesben, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Menschen. Diese werden im Folgenden mit der gebräuchlich gewordenen Abkürzung SBTI bezeichnet. „L“ für Lesben fällt in diesem Fall aus, da biologische Frauen nicht Gegenstand dieser Arbeit sind. 42 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2013).

28

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

Störungen nicht anders.43 Das Auftreten seelischen Leides bei Menschen, die erfolgreich einen männlichen Habitus verkörpern, provoziert eine gesellschaftliche Reaktion, die meist unbewusst abläuft. Die Forschung beschreibt in diesem Zusammenhang immer wieder zwei verschiedene Diskurse. Im ersten Diskurs wird die Verkörperung der Männlichkeit durch den betroffenen Mann aufrechterhalten. In diesem Falle wird das Leiden vom Krankheitsstatus dissoziiert, die psychische Störung wird somit als solche unsichtbar. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die Bagatellisierung übermäßigen Alkoholkonsums.44 Ein weiteres Beispiel für eine solche Dissoziierung ist die Verbrämung einer Störung als einer Art „Heroisierung des Irren“.45 Hierdurch wird die Wahrnehmung des Krankseins durch die positive Herausstellung bestimmter Krankheitsmerkmale überschattet. So werden bestimmte psychisch gestörte Männer häufiger als Frauen als besonders kreativ wahrgenommen. Viele inszenieren sich selbst mit einem gewissen Erfolg als grenzüberschreitende Genies. Bezeichnenderweise bleibt der Männlichkeitsstatus besonders bei externalisierenden Störungen erhalten. In diesem Fall werden die Symptome – exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum, Gewalt, sexuelle Übergriffe, Dissozialität – nicht als behandelbare Krankheit gedeutet, sondern ausschließlich als Gefahr oder moralische Verfehlung.46 Kulpisierung verdrängt die betroffenen Männer bzw. Täter aus dem Verweissystem „Krankheit“.47 43 Möller-Leimkühler (2013), S. 136.; Teuber (2010), S. 29. S. 81–101. siehe Brandes (2003), S. 11. 44 Schäfer (2006), S. 76. 45 Eine solche Transformation eines Phänomens vom seelisch-krankhaften ins Maskuline findet sich zum Beispiel im Bereich der Kunst und Literatur, siehe dazu die Projektbeschreibung von: „Affektive Maskulinität und Gesellschaftskritik: Deutsche Avantgarden an der Schnittstelle von Wahnwitz und Heterotopie. (DFG Forschergruppe 1120).“ 46 Möller-Leimkühler/Kasper (2010), S. 76. zur Unsichtbarkeit pathogener Gewalterfahrungen von Männern: Lenz/Jungnitz (2004), S. 113–122; Seifert (2014), S. 59–73. 47 Kulpisierung oder „Kulpabilisierung“: Der Begriff wird eher vereinzelt und unsystematisch in soziologischen und psychotherapeutischen Texten verwendet. Schwanitz (1998); Rauchfleisch (1995), S. 14; Schiffer (2005), S. 76, 123. Kulpisierung findet statt, wenn die Ursachen von unerwünschten Resultaten sozialen Handelns, an dem eigentlich verschiedene Akteursgruppen gleichermaßen beteiligt sind, einer bestimmten Akteursgruppe zugewiesen werden, sodass von dieser die Bringschuld zur Beseitigung des unerwünschten Zustandes erwartet wird. Charakteristisch ist erstens die Unsichtbarmachung der Verantwortung der restlichen Beteiligten und zweitens das Mittel, die Beschämung und Anklage der fokussierten Gruppe, deren Mitglieder so zu „Tätern“ werden. Ein mitunter im Kontext von Kulpisierung genanntes Beispiel ist die prekäre Lage vieler alleinerziehender Mütter, für die man diese in bestimmten Diskursen selbst verantwortlich macht. Für die Männlichkeitenforschung liegt die Bedeutung dieses Begriffes in der Tatsache begründet, dass Männer aufgrund der Struktur des gesellschaftlichen Diskurses vermehrt als Subjekte repräsentiert werden, was wiederum die notwendige Bedingung für eine Wahrnehmung als Schuldiger oder gar Täter ist. Täterschaft wird (genau wie Aktivität, Handeln, Aggression oder Dominanz), kulturell betrachtet, deutlich eher durch Männer verkörpert. Eine wissenschaftliche Beurteilung ihres Handelns muss jedoch die Mitwirkung struktureller Faktoren und die anderer Akteursgruppen miteinbeziehen. Unterbleibt dies, handelt es sich um einen kulpisierenden Diskurs.

1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias

29

Im zweiten typischen Diskurs über die psychische Gesundheit von Männern verliert der Betroffene durch die Einordnung seines Zustandes als Krankheit die Möglichkeit der Verkörperung von Männlichkeit. Dies geschieht wiederum häufiger, wenn diese Männer internalisierende Symptome wie Depressivität oder Ängste zeigen. Der Verlust der Männlichkeit ist sozusagen der Preis für die Anerkennung als hilfsbedürftiger Mensch. Psychisch gestörte Männer werden auf diese Art massiv stigmatisiert, ihr Zustand eher „als Ausdruck persönlichen Versagens“ gesehen als bei Frauen.48 Die Stigmatisierung psychisch kranker Männer erfolgt durch beide Geschlechter. Ähnlich wie bei anderen Formen von Gewalt an Männern erfolgt sie jedoch in stärkerem Maße durch andere Männer. Die Wahrnehmung als Kranker ist also tendenziell nur über den Verlust des Status der (hegemonialen) Männlichkeit zu erlangen. Das gesamte Spektrum des Verhaltens, das nicht zum Verlust der Fähigkeit zur Verkörperung eines männlichen Habitus führt, entzieht sich stetig der gesellschaftlichen (An) Erkennung als Symptom einer psychischen Störung. Dazu gehören Gereiztheit, aggressives Verhalten, riskanter (aber nicht exzessiver) Alkohol- und Drogenkonsum, Überarbeitung oder „Gefühlsblindheit“ (Alexithymie).49 Bei den oben geschilderten Mechanismen handelt es sich keineswegs nur um ein gesellschaftlich-kulturelles Problem, sondern auch um ein medizinisches. Zwar betreiben Ärzte und Therapeuten keine aktive Entpathologisierung von psychisch leidenden Männern. Dennoch können solche Deutungsmuster etwa in der Diagnostik in Form von gender-bias ebenfalls zu Fehldiagnosen und Unterdiagnostizierung führen. Verzerrungen beginnen schon auf der Ebene der Konzeptualisierung der Krankheitsbilder in den Diagnosehandbüchern. Mittlerweile findet sich auch in den Fachgesellschaften ein Bewusstsein für diese Tatsache. Symptome und Verhaltensweisen, die sich mit Eigenschaften von hegemonialer Männlichkeit überschneiden (gesteigerte Aggressivität, riskanter Alkoholkonsum, ausgeprägtes Dominanzstreben), werden systematisch als mögliche Symptome bestimmter Störungen ausgeschlossen. Deshalb dürfte der Männeranteil bei einigen Störungen auf dem Papier niedriger liegen, als es tatsächlich der Fall ist. Insbesondere Störungen, die als „Frauenkrankheiten“ gelten, wie die Depression und die Borderline-Persönlichkeitsstörung, sind hiervon betroffen.50 Sol-

48 Möller-Leimkühler (2013), S. 76. 49 Um ein historisches Beispiel zu nennen: Therapien für Alkoholiker werden erst seit 1968 von den Krankenkassen erstattet, weil die Anerkennung von Alkoholismus als behandlungswürdiger Erkrankung erst spät erfolgte. Die Zustimmung zur Praxis, psychisch kranke Gewalttäter in den Maßregelvollzug anstatt ins Gefängnis oder gar in eine Todeszelle zu bringen, hält sich in Teilen der Bevölkerung in Grenzen. Sobald Kinder mit ADHS zu erwachsenen Männern werden, können sie nicht mehr damit rechnen, für ihr Verhalten noch als hilfsbedürftig wahrgenommen zu werden. 50 Andrulonis (1991), S. 23–26; Rönfeldt (2010), S. 41 ff.

30

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

che Unter- und Fehldiagnostizierungen offenbaren ihre fatale Relevanz im Zusammenhang mit der vielfach höheren Suizidquote bei Männern.51 Die Definitionen bestimmter Persönlichkeitsstörungen sind einigen Psychotherapeuten zufolge zu einseitig auf weibliche Persönlichkeitseigenschaften und Ausdrucksweisen ausgerichtet. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Praktizierung und Verkörperung der Geschlechtsidentität, also sexuelle Aktivität im weiteren Sinne, zum Gegenstand der psychopathologischen Betrachtung wird. Einen „Narzissmus der Geschlechtsidentität“ gibt es in Form der „Histrionischen Persönlichkeitsstörung“ und als wichtigen Teilaspekt der „Borderline-Persönlichkeitsstörung“. Insbesondere erstere ist jedoch kaum verhohlen an Frauen ausgerichtet. Weiblich codierte Symptome wie „unangemessen verführerisches Verhalten“ und „übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen“ 52 finden keine hinreichende Entsprechung in Form von potentiell gesundheitsschädlichen Aspekten männlichen Paarungsverhaltens. Auch in der Behandlungspraxis spielt der gender-bias eine Rolle. Psychische Beschwerden werden bei Männern (und häufiger von Männern) mehr als bei Frauen als bloße Einbildung abgewertet. Als Folge wird Männern überdurchschnittlich häufig eine somatische Diagnose gestellt, wo eigentlich eine psychische angemessen wäre. Männliche Alkoholkonsumenten etwa werden seltener vor den Folgen des Trinkens gewarnt als Frauen. In einer Studie legte man Ärzten Krankenakten zur Diagnose mit Angaben zum Alkoholkonsum vor. Die Namen der Männer hatte man in den Akten durch Frauennamen getauscht. Die Ärzte empfahlen signifikant häufiger Maßnahmen gegen den riskanten Konsum, wenn sie die Akten dieser vermeintlichen Frauen in Händen hielten. Wenn sie vergleichbare, unveränderte Patientenakten von Männern bewerteten, intervenierten sie wesentlich seltener. Die höhere physiologisch bedingte Alkoholtoleranz von Männern spielte bei den Entscheidungen zur Intervention nur teilweise eine Rolle.53 Auch in der Prävention werden männliche Risikogruppen nicht gezielt mit geschlechtsspezifischen Angeboten erreicht. Die Ausrichtung ist nachgewiesenermaßen mit dafür verantwortlich, dass männliche Teilnehmer stark in der Minderheit sind.54 Gewalt ist in verschiedener Hinsicht von Interesse für die Erforschung der psychischen Gesundheit von Männern. Zunächst lässt sich feststellen, dass Männer grundsätzlich in höherem Maße von Gewalterfahrungen betroffen sind als Frauen. Und zwar gilt das in beiden Rollen – als Gewaltopfer und als Gewalttäter. Beides kann erhebliche Belastungen für die psychische Gesund51

Emslie/Ridge (2006), S. 2246–2257. Möller-Leimkühler/Kasper (2010), S. 147–153; Teuber (2011), S. 81 f., 276 f.; Winkler/ Heiden (2004), S. 96–102; Addis (2008), S. 153–158; Walinder/Rutz (2001), S. 21–24. 52 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013). ICD-10-GM Version 2013. F60,4. 53 Teuber (2011), S. 43. Allgemein zum gender-bias in der Psychodiagnostik, siehe ebd. S. 40–44. 54 Möller-Leimkühler (2013) S. 66, 68–70.

1.1 Triangulierung, Externalisierung, Gender-Bias

31

heit zur Folge haben. Die meisten Männer können sich der Gewalt zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens nur schwer entziehen. Jungen werden von ihren Eltern weit häufiger geschlagen als Mädchen, außerhalb des Elternhauses machen sie in der Gleichaltrigengruppe mehr Gewalterfahrungen. Welche Folgen dies für die Gesundheit der Betroffenen haben kann, fasst eine Studie des Robert-Koch-Institutes zusammen: Gewalterfahrungen sind mit erheblichen psychosozialen und gesundheitlichen Konsequenzen wie körperlichen und seelischen Verletzungen, Rückzug und Isolation, Depression, Angststörungen, sozialen Beeinträchtigungen bei den Opfern, aber auch Delinquenz, strafrechtlicher Verfolgung, Gefängnisaufenthalten, Persönlichkeitsstörungen, Depression, Substanzkonsum sowie schlechteren Berufs- und Bildungschancen bei Opfern und Tätern verbunden, wodurch eine erhebliche Public-Health-Relevanz begründet ist.“55

Psychische Störungen treten grundsätzlich bei Menschen in allen sozialen Milieus auf. Ihr Verlauf hängt allerdings erheblich von der sozialen Herkunft der Betroffenen ab: Viele Risikofaktoren für psychische Störungen bei Männern beispielsweise hängen mit einem niedrigen gesellschaftlichen Status zusammen. Zu nennen sind hier: „Niedriges Bildungsniveau, niedriger sozioökonomischer Status, soziale Desintegration, arbeitsbezogene Stressoren (Arbeitslosigkeit, chronische Belastungen am Arbeitsplatz) sowie psychosoziale Krisen infolge von Trennung und Scheidung.“56

Das Problem der sozialen Desintegration betrifft insbesondere sozialschwache junge Männer, Migranten und alte Männer. Ein niedriges Bildungsniveau macht vor allem junge Männer verletzlicher für psychische Störungen. Deren Risiko ist im Vergleich zu ihren Altersgenossen mit höherem Bildungsniveau um das 10-fache erhöht.57 Auch das problematische Gesundheitsverhalten von Männern, das in der Öffentlichkeit gerne naturalisiert wird, hängt deutlich vom sozialen Kontext ab: Riskantes Gesundheitsverhalten ist in niedrigeren sozialen Schichten sehr viel weiter verbreitet als in höheren. Von den Risiken einer sozial-schwachen Herkunft abgesehen existieren einige problematische Bereiche des sozialen Zusammenlebens, die für Männer spezifische Risiken darstellen. Insbesondere eine hinreichende soziale Integration ist für Männer nicht immer zu bewerkstelligen. Das Leben als Single führt beispielsweise bei Männern häufiger als bei Frauen zu Einsamkeit und Isolation. Dies gilt umso mehr für Männer, die chronisch erkranken. „Die soziale Unterstützung im Krankheitsfall […] ist bei Männern deutlich geringer als bei Frauen.“58 „Sowohl geschiedene, als auch verwitwete Männer weisen das höchste Suizidrisiko und die höchsten Suizidraten auf.“59

Männer verbringen auch heute noch sehr viel mehr Lebenszeit mit der Erwerbsarbeit als Frauen. Dementsprechend spielt das Arbeitsleben eine große 55 56 57 58 59

Schlack/Rüdel/et al (2013), S. 755. Möller-Leimkühler/Kasper (2010), S. 137. Ebd., S. 138. Stiehler/Tüffers/et al (2013), S. 176–179, besonders S. 179. Ebd.

32

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

Rolle hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit. Arbeitslos zu sein ist eine große Belastung, aber auch die Bedingungen am Arbeitsplatz entscheiden über Gesundheit und Krankheit.60 Risikofaktoren sind hier berufliche Gratifikationskrisen durch „hohen Leistungsdruck in Kombination mit fehlendem Entscheidungsspielraum, fortgesetzte Verausgabung ohne angemessene Belohnung und Anerkennung, ungerechte Behandlung durch Vorgesetzte und Mitarbeitende, sowie hohe Arbeitsplatzunsicherheit“.61 Gering Qualifizierte und Arbeitsmigranten bilden auffallende Risikogruppen. Ein besonderer Schauplatz der Entstehung von psychischen Störungen ist die Schichtarbeit.62 Im Zusammenhang mit solchen Problembereichen in der Lebenswelt werden auch die Auswirkungen normativer männlicher Geschlechtsidentitäten oder „Rollen“ auf die psychische Gesundheit von Männern erforscht. Gründet ein heterosexueller Mann mit seiner Partnerin eine Familie, so wird auch heute noch vielfach erwartet, dass er den größeren Teil des Haushaltseinkommens durch Erwerbsarbeit erwirtschaftet. Ist die Erfüllung dieses Anspruches – etwa durch drohende Arbeitslosigkeit – gefährdet, ist ein Mann, der sich mit der Rolle des Ernährers allzu sehr identifiziert, großem psychischen Druck ausgesetzt. Auch in der Sexualität kann die Identifikation mit normativen Männlichkeiten die psychische Gesundheit gefährden. Sexuell aktive Männer werden in der Regel als aktiv und leistungsstark repräsentiert. Wenn es Männern nicht gelingt, diesen Idealen gerecht zu werden, hat dies bisweilen negative Folgen für die sexuelle Gesundheit, etwa in Form von sexuellen Funktionsstörungen. Im Arbeitsleben ist Leistungsfähigkeit und – je nach Tätigkeit – auch Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit gefragt. Dies kann ebenfalls schnell überfordernd wirken. Riskanten homosozialen Praktiken, wie gemeinsamem Alkoholkonsum, liegen häufig Männlichkeitsvorstellungen zugrunde, die sich über Konkurrenz und Hierarchie definieren.63 Insbesondere für heranwachsende Männer ist die Frage der Identifikation mit Männlichkeitsleitbildern von zentraler Bedeutung. Junge Erwachsene kompensieren die Unsicherheiten, die in diesem Alter unvermeidbar auftreten, indem sie sich an hypermaskulinen Leitbildern orientieren. Beides kann ein Risiko für die psychische Gesundheit darstellen.64 In diesem Kapitel wurden bislang psychiatrische Krankheitsbilder, maladaptives Gesundheitsverhalten, problematische Entwicklungen im Kindesalter, die Belastungen von Gewaltopfern- und Tätern sowie Lebensbereiche, in denen Männer vermehrt Schaden davontragen, behandelt. Auch die Leitmännlichkeiten wurden lediglich als Gesundheitsrisiko beschrieben. Dies alles lässt sich auch unter der entgegengesetzten Fragestellung betrachten, also nicht „Wie werden Männer krank?“, sondern „Wie bleiben sie gesund?“. Die in diesem Abschnitt vorherrschende einseitige Bezugnahme auf die Pathogenese hat ver60 61 62 63 64

Zum Problem der Arbeitslosigkeit siehe Holleder (2013), S. 159–172. Siegrist (2013), S. 141, 151. Ebd, S. 146. Stöver (2015), S. 60–88. Buchinger (2004), S. 68–76.

1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion

33

schiedene Gründe. So sind an der Männergesundheitsforschung neben den Gesundheitswissenschaften, die meist die salutogenetische Perspektive im Auge behalten, vielfach auch therapeutische Disziplinen wie die Psychiatrie und die Psychotherapie beteiligt. Diese beschäftigen sich überwiegend kurativ mit Männergesundheit. Ein weiterer Grund liegt jedoch in der Herkunft dieses Forschungsgegenstandes. Während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens befassten sich hauptsächlich Anhänger der profeministischen Männerbewegung mit Fragen der Männergesundheit. Deren Intention war die gesellschaftliche Demontage der Leitbilder „traditioneller Männlichkeit“. Aus dieser Zeit stammt der Stereotyp des „männlichen Gesundheitsidioten“,65 der (im Gegensatz zum sogenannten „Neuen Mann“) aus bloßer Sturheit und männlicher Eitelkeit nicht zum Arzt geht und so geradewegs in sein Unglück läuft. Das Interesse an gesundheitsfördernden Eigenschaften von männlichen Geschlechtsidentitäten (seien sie nun „traditionell“, „hegemonial“ oder keines der beiden) ist jünger als das ebenfalls relativ neue salutogenetische Denken. Dennoch gibt es bereits einige Forschung hierzu, insbesondere im angloamerikanischen Raum.66 Viele der Protektivfaktoren ergeben sich leicht, da sie Gegenteile der oben beschriebenen Risikofaktoren darstellen: Ein hohes Bildungsniveau, hoher sozioökonomischer Status und gute soziale Integration sind Faktoren, die in positivem Zusammenhang mit psychischer Gesundheit stehen. Das gleiche gilt, wenn ein Mann keinen Migrationshintergrund besitzt.67 Das Führen einer intakten Partnerschaft sowie das Ausüben eines Berufes mit hinreichend gesunden Arbeitsbedingungen gehören grundsätzlich betrachtet durchaus zu den Protektivfaktoren, auch wenn es in diesen Bereichen unter ungünstigen Bedingungen zu vermehrten gesundheitlichen Belastungen kommen kann.68 Sogar traditionell-hegemoniale Männlichkeitsleitbilder wie das des Familienernährers und leistungsstarken Karrieristen, einst die Paradebeispiele für „männliches Gesundheitsversagen“, können gesundheitsfördernd sein, etwa für die Bewältigung einer depressiven Episode.69 1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion Im Folgenden soll eine Fragestellung entwickelt werden, die den im vergangenen Kapitel beschriebenen Forschungsbemühungen der Männergesundheitsforschung historische Tiefenschärfe zu verleihen vermag. Hierfür müssen zunächst einige Entwicklungslinien der Historiographie von Männern und Männlichkeiten skizziert werden. In weiten Teilen der bestehenden Historiographie der Männlichkeiten herrschen derart unterschiedliche Grundvoraussetzungen 65 66 67 68 69

Dinges (2009), S. 19–23. Emslie/Ridge (2006), S. 2246–2257; Connell (2012), S. 1675–1683. Möller-Leimkühler/Kasper (2010), S. 137–138. Stiehler/Tüffer/Seikowski (2013), S. 173–196.: Siegrist (2013). Emslie/Ridge (2006).

34

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

und Erkenntnisinteressen, dass sie für den gegebenen Gegenstand nicht ohne weitere Erläuterungen anschlussfähig sind. Ähnlich wie die Frauengeschichte, die Umweltgeschichte und andere geschichtswissenschaftliche Bereiche seit den 1970er Jahren hat auch die Geschichte der Männlichkeiten ihren Ursprung in einer zeitgenössischen sozialen Bewegung. Die Rede ist von der sogenannten Männerbewegung. Diese prägt die historische Erforschung von Männern und Männlichkeiten bis heute. Eine weitere Inkommensurabilität liegt in der Tatsache begründet, dass die heutige Geschlechtergeschichte zunehmend dekonstruktivistisch ausgerichtet ist. Sie hat an einer auch nur heuristischen Verwendung der dualen Geschlechterkategorien Mann und Frau grundsätzlich kein Interesse. Dennoch gibt es freilich Überschneidungen, die aber erst einmal freigelegt werden müssen. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen. Die Herkunft aus der Männerbewegung bestimmt weite Teile der Forschungsgeschichte der Historiographie der Männlichkeiten.70 Die Anfänge der Beschäftigung mit der Geschichte der Männer leisteten nicht Historiker, sondern Fachfremde, die sich dieser sozialen Bewegung zugehörig fühlten. Der Ausgangspunkt des Projektes orientierte sich stark an den identitätspolitisch motivierten Erzählungen dieser Bewegungen. Die frühe Männerbewegung war dezidiert pro-feministisch ausgerichtet. Das Erkenntnisinteresse an historischen Fragen war grundsätzlich das gleiche, wie das der zweiten Frauenbewegung. Lediglich die Akteure waren Männer. Dieses Interesse bestand unter anderem darin, die Präsenz von Frauen als Subjekte in geschichtlichen Darstellungen zu stärken. Die Männerbewegung sah es dementsprechend als ihre Aufgabe, kritisch über die Omnipräsenz männlicher Akteure in der Geschichte zu reflektieren.71 Die bevorzugte Wahl von Männern als historische Akteure ist in der Tat Resultat eines verzerrten Bildes der Vergangenheit, das bis in die Gegenwart sowohl wissenschaftliche Forschung als auch populäre Vorstellungen prägt. Die Subjekte in historischen Darstellungen waren zu diesem Zeitpunkt noch nahezu ausschließlich männlichen Geschlechts gewesen. Ein weiteres historisch-identitätspolitisches Interesse des Feminismus bezog sich auf das andauernde Machtgefälle zwischen den Geschlechtern. In Kritik hieran sollte die Unterdrückung von Frauen in der Vergangenheit sichtbar gemacht werden, um Befreiungsnarrative für die Gegenwart zu entwickeln. Die Männerbewegung übernahm diese repressionsgeschichtliche Perspektive und beschränkte sich darauf, das Wirken von Männern in der Vergangenheit als gewalttätig und unterdrückend zu beschreiben. Seit ein paar Jahren stelle die Frauenbewegung „die Frage nach dem Zusammenleben der Geschlechter aus der Perspektive einer Jahrtausende alten Unterdrückung neu.“ 72 schrieb Peter Schneider, ein früher Protagonist der Männerbewegung 1974. Diese Frage müsse auch aus männlicher Perspektive beantwortet werden. In die feministische Befreiungserzählung fügte sich dieses Bild folgender70 71

Lenz (2007), S. 41–77; Lücke (2013) S. 11–30. Männergeschichte wurde hier verstanden als „Entlarvung der History als His-Story“ Lücke (2013), S. 12. 72 Schneider (1974), S. 113; Fox-Genovese (1983), S. 658–696.

1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion

35

maßen ein: Der „traditionelle Mann“ würde im Zuge der fortschreitenden Emanzipation der Frau in eine Krise geraten und schließlich vom sogenannten „Neuen Mann“ abgelöst werden. Dieser „Neue Mann“ würde die repressiven Eigenschaften traditioneller Männlichkeit hinter sich lassen. Er wäre weicher und femininer und an der Gleichstellung der Frauen interessiert. Das Geschichtsbild der Männerbewegung (das bis in die 1990er Jahre noch keinerlei Niederschlag in geschichtswissenschaftlichen Publikationen fand) war einem feministischen Defizitdiskurs verpflichtet. Es war motiviert durch die Kritik an dem, was man stark zugespitzt, aber nicht ganz ohne empirischen Beleg, als Ausdruck von „Männlichkeit“ betrachtete: Machtgier, Gewalttätigkeit und Sexbesessenheit. Dieses moralische Defizit wurde schnell nicht mehr bloß als nachteilig für die darunter leidenden Frauen aufgefasst, sondern durchaus auch als Beeinträchtigung für Männer. „Soviel ist sicher: Eine sehr abschaffenswerte Seite der männlichen Kultur besteht darin, dass sie die Männer immer unfähiger macht, ihre emotionalen und sexuellen Bedürfnisse überhaupt zu äußern. Die Männer sind einfach im Schnitt weniger offen, sie verbergen mehr und sie haben auch mehr zu verbergen, vor allem voreinander.“73

Auch eine spezifische Wahrnehmung des Umgangs von Männern mit ihrer Gesundheit und ihrem Körper wurde in dieses Narrativ der Defizitüberwindung eingebracht: Der überkommene, traditionelle Mann war demnach inkompetent im Umgang mit seiner Gesundheit, verblendet durch die Privilegien seiner Macht, eitel und tumb. Nur, um sich keine Blöße zu geben, würde er eher zugrunde gehen, als im Krankheitsfall nach Hilfe zu fragen. Der „Neue Mann“ würde jedoch eingesehen haben, wie sehr das Mannsein seiner Gesundheit schade; er wäre immun gegen den Narzissmus der traditionellen Männlichkeit, wäre sich seines Körpers und seiner Gefühle wohl bewusst und würde Schwäche zeigen, wenn seine Gesundheit auf dem Spiel stünde. Als sich die akademische Historiographie in den 1990er Jahren der Inhalte der Männerbewegung annahm, war die Themensetzung zunächst noch erkennbar durch deren identitätspolitische Programmatik geprägt. Allerdings zeichneten die ersten wissenschaftlichen Arbeiten bald ein komplexeres Bild von der Vergangenheit der Männer.74 In diesen frühen Studien wurde im Wesentlichen beschrieben, wie Männer sich zu homosozialen Gruppen formten und welche Funktion dies in der Bildung repressiver Machtstrukturen einnahm. Im Gegensatz zu früheren historischen Darstellungen, in denen der Einfluss des Faktors Geschlecht auf die Akteure systematisch ausgeblendet wurde, erlaubten solche Arbeiten einen in dieser Hinsicht sehr viel differenzierteren Blick. Das Militär und paramilitärische Gruppen gehörten zu den 73 74

Schneider (1974), S. 117. Dieser Differenzierungsprozess fand auch in anderen historischen Teildisziplinen statt, die Impulse aus sozialen Bewegungen aufnahmen. Die Umweltgeschichte etwa beschreibt den Einfluss des Menschen auf die Natur in der Geschichte nicht mehr wie anfangs grundsätzlich als einen zielgerichteten Prozess der Zerstörung, sondern als ein komplexes Wechselspiel verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Radkau (2000), S. 7 ff.

36

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

beliebten Untersuchungsgegenständen.75 Ein weiteres Thema waren sogenannte Männerbünde,76 etwa Studentenverbindungen, berufsbezogene Seilschaften, Vereine aber auch Praktiken wie die Duelle77 und auch abstrakte Werte wie Ehre und die Kameradschaft.78 Sie alle zielten darauf, offenzulegen, wie Frauen systematisch von Machtpositionen ausgeschlossen wurden. Auch die mikropolitischen Unterdrückungsmechanismen in der Familie gerieten in den Fokus.79 Die Erzähltraditionen der Männerbewegung bieten bis heute Orientierung für die akademische Männergeschichte. Sie brachten eine Vielzahl an Forschungsergebnissen hervor und ermöglichten es der historischen Männerforschung, sich in der Geschichtswissenschaft zu etablieren, wenn auch auf vergleichsweise bescheidenem Niveau. Seit Ende der 1990er Jahre entstanden Arbeiten, in denen Männer nicht mehr lediglich als Instanzen der Repression von Interesse waren. Ihre Alltagswelt und ihre Erfahrungen wurden auch abseits der durch die Geschlechterdynamik entstehenden Machtungleichheiten untersucht.80 Seitdem befindet sich die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Männern in einem Spannungsfeld zwischen den Impulsen des wissenschaftlichen Feminismus bzw. der antisexistischen Männerbewegung und einem in seinem Erkenntnisinteresse eher heterogenen Rest. Dieses Spannungsfeld zeigt sich auch in der zeitgeschichtlichen Einordnung der Männer- bzw. Männlichkeitengeschichte in die Geschichte der Bundesrepublik – dem Zeitraum, in dem die wesentlichen Vorgänge geschehen waren, die zum gegenwärtigen Stand der Geschlechterverhältnisse geführt hatten. Zwar hatte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik zu einer gewissen Abkehr von den Fortschrittsnarrativen der Männerbewegung geführt.81 Der modernisierungsgeschichtliche Ansatz der damaligen Sozialgeschichte hatte unabhängig davon dennoch eine gewisse teleologische Richtung in den Darstellungen zu Folge. Dieser Effekt wurde verstärkt durch die Tatsache, dass die wesentliche Grundlagenforschung nicht durch die Geschichtswissenschaft, sondern durch die Soziologie betrieben wurde.82 Tiefgreifende Veränderungen des Lebens von Männern im Zuge des sozialen Wandels waren in der Tat empirisch wahrnehmbar. Sie konnten in bestimmten Kontexten durchaus mit einer Krisenmetaphorik beschrieben werden. „Nach 1968“83 veränderten sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und damit die Lebensperspektiven für Männer nicht unerheblich. Es gab also 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Seifert (1996), S. 69–87; Caplan (2000), S. 85–100. Blazek (1999). Als Teil einer allgemeinhistorischen Darstellung: Hoffmann (2000). S. 217–223; Kreisky (1995). Frevert (1991). Kühne (1996). Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive: Trepp (1996); Davidoff (2000). Dinges, (1998). Dinges, Sociologia (2013), S. 235 f. Zulehner/Volz (1998); King (2000). Zu „1968“ als „Symbol und Chiffre“ des sozialen Wandels. Kraushaar (2000); Stadler (2010); S. 9–20.

1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion

37

ein „vorher“ und ein „nachher“ der Männlichkeit. Dies war ein Sachverhalt, der narrativ vermittelt werden musste, dabei aber auf empirischen Befunden beruhte. Subjekte dieser Sozialgeschichte der Männlichkeiten waren größere Gruppen: „Die Männer“ als gesamtes Geschlecht, aber auch Untergruppen nach Alter oder Klasse unterteilt, so zum Beispiel der „Arbeitermann“, der „Bürgersmann“, „die männliche Jugend“. Die betreffenden Veränderungen, die solche Gruppen im Laufe der Zeit durchlebten, erlaubten wiederum eine zeitliche Gliederung:84 Der „autoritäre Vater“ der 1950er Jahre wurde vom „liberalen Vater nach 1968“ abgelöst. Der „Ernährer“ wurde zum „Erwerbstätigen“. Der „Junggeselle“ der alten Zeit wurde zum „Singlemann“. Obwohl der Wandel der Geschlechterverhältnisse seit den 1970er Jahren durch die Sozialgeschichte empirisch belegt worden war, geriet das Krisenwie auch das Modernisierungsnarrativ von anderer Seite in die Kritik. Kulturwissenschaftlich ausgerichtete Historiker fokussierten mehr auf die Funktion, die ein Diskurs über Männer (bzw. ihre Krisen) in einer Gesellschaft hat. Die Frage, ob es eine solche Krise tatsächlich gegeben hat (beziehungsweise noch gibt), tritt demgegenüber nicht bloß in den Hintergrund, sondern wird unter Umständen sogar als Teil eines repressiven Diskurses abgelehnt.85 Kritik am Krisenkonzept lag gerade aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive nahe: Zeitdiagnosen von „Männern in der Krise“ inklusive der sie stets begleitenden Forderung nach wie auch immer gearteten Konsequenzen finden sich mit nahezu universeller Regelmäßigkeit zu allen Zeiten. Klagen über „Männer, die nicht mehr sind, was sie einmal waren“, finden sich bei Plutarch86 ebenso wie im jakobinischen England,87 bei Druckern in den USA des 19. Jahrhunderts88 oder im Ersten Weltkrieg.89 Wenn Historiker auch die Zeitdiagnose von den tiefgreifenden Veränderungen im Geschlechterverhältnis eher bestätigt als abgelehnt hatten, wurde dennoch darauf hingewiesen, wie sehr die unreflektierte Betonung einer Krise „der Männlichkeit“ bestimmte normative Vorannahmen immer und immer wieder zu reproduzieren vermag.90„Die Krise“ war nun nicht mehr bloß ein Begriff, um zu beschreiben, wie Männer sich zeitgeschichtlich betrachtet verändert haben. Auch Historiker fassten sie nun vielmehr als strukturbildendes Element der Geschlechterverhältnisse zu bestimmten Zeiten auf und weniger als Tatsachenbeschreibung.91 Durch diese Konzentration auf die gesellschaftliche Funktion der Deutung von Männlichkeit, auf die Form des Diskurses und auf die Mechanismen der Konstruktion statt der empirisch gestützten Be84 Kühne (1996); Zum in dieser Hinsicht problemlos übertragbaren Fall der österreichischen Zeitgeschichte, siehe: Hanisch (2005); siehe auch King (2000), S. 93–107. 85 Connell (2013). S. 105 f. Martschukat/Hämmerle (2008); Poiger (2001), S. 227–263. 86 Plutarch/Kaltwasser (1783), S. 15. 87 Breitenberg (1996). 88 Baron (1991), S. 47–69. 89 Crouthamel (2014), S. 44 f. 90 Martschukat/Stieglitz (2008), S. 11–27. 91 Mackert/Krämer (2010). S.265–268.

38

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

schreibung größerer Gruppen von Männern kam auch eine neue Sichtweise auf Männlichkeitsbilder auf. Die Sozialgeschichte hatte mit abstrakten Männlichkeitstypen gearbeitet, die stets ein „vorher und ein nachher“ implizierten. So wurde z. B. der „autoritäre Familienvater“, vom „liberalen Vater nach 68“ abgelöst. Solche Idealtypen gerieten aus dem Sichtfeld. Der Grund hierfür lag in einem neuen antiessentialistischen Erkenntnisinteresse. Durch die bis dato gängige Sichtweise war Männlichkeit so beschrieben worden, als verändere sie sich über die Jahre lediglich in ihren Eigenschaften, behalte dabei aber eine Art „Wesenskern“ bei. Dies wurde durch die neuen Fragestellungen in den Hintergrund gedrängt, was durchaus beabsichtigt war. Die zumeist jüngeren Autoren kritisierten, dass ein solch unhinterfragter männlicher Wesenskern soziale Ungleichheit reproduziere. Dass eine derartige Analyse durchaus den hohen Grad der Veränderbarkeit dessen aufzeigte, was unter Männlichkeit verstanden wurde, änderte an dieser Kritik nichts. Sie verstelle den Blick auf die Dynamiken sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Kritik bezog sich jedoch nicht nur auf ein essentialistisches Verständnis der Verhältnisse zwischen Männern und Frauen: Auch die mann-männlichen Ungleichheiten seien in ihrer Funktion für die Herstellung patriarchalischer Strukturen zu betrachten und nicht als bloße Beschreibung männlicher Lebenswelten und ihrer Veränderungen. Letztere Position lässt sich auf die breite Rezeption von Raewyn Connells Modell hegemonialer Männlichkeit zurückführen.92 Bestimmte Leitmännlichkeiten legen Connell zufolge fest, was als männlich wahrgenommen wurde und was nicht. Idealtypisch gefasste Gruppen von Männern seien in Wirklichkeit Konstruktionen eben dieser Leitmännlichkeiten, Abweichler davon, wie etwa Schwule entsprechend als „die Anderen“ markiert. Die Lebensbedingungen der meisten Männer würden durch diesen Essentialismus überdeckt und unsichtbar gemacht, da nur sehr wenige Männer hegemoniale Männlichkeit verkörpern können. Vielleicht noch wichtiger sei jedoch, dass dadurch die Relationalität im Geschlechterverhältnis verborgen würde. Die eigentliche Funktion mann-männlicher Interaktion, die Herstellung von Differenz und Ungleichheit zu Frauen, würde verschleiert. Für die Erforschung der Geschichte von Männern in der Bundesrepublik bedeutete dies zweierlei: Erstens widmeten sich nun Arbeiten der machttheoretischen Funktion von (hegemonialer) Männlichkeit anstatt der Erforschung von definierten Gruppen von Männern, die als Akteure mit der Gesellschaft interagierten. In Anlehnung an Forschungen über den Männlichkeitsdiskurs in den USA nach dem Vietnamkrieg konnte man nun auch für die Geschichte der Männer in der frühen Bundesrepublik von einer Zeit der „Remaskulinisierung“ sprechen. Gedemütigt durch den verlorenen Zweiten Weltkrieg und machtlos gegenüber ihren Frauen, die ohne ihre Soldatenmänner stark und unabhängig geworden waren, sei schon nach 1945 öffentlich eine „Krise der 92 Connells „Masculinities“ erschien 1995, die deutsche Übersetzung „Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit“ erstmals 1999.

1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion

39

Männlichkeit“ konstatiert worden. Dieser Diskurs habe dann letztlich die konservative Politik der Adenauerzeit legitimiert, die zur Wiederherstellung traditioneller Geschlechterarrangements geführt habe.93 Die Betonung der Diskursebene hatte folglich Konsequenzen, nicht nur für das Thema „Männlichkeiten“ als Forschungsgegenstand, sondern auch für die Forschungspraxis selbst. Die Wahl von Männern als Objekt des Erkenntnisinteresses wurde nun selbst als eine Praktik der Erzeugung von Geschlechterdifferenz gedeutet. Dies lag auch an der neuen dekonstruktivistischen Ausrichtung von Teilen der Geschlechtergeschichte. Von Männern und Frauen zu sprechen, liefe auf eine unzulässige Verkürzung hinaus, es sei denn diese Position sei eindeutig als Resultat eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses gekennzeichnet.94 Dieses Erkenntnisinteresse entspricht einem wachsenden Bewusstsein für die Verzerrungen, die eine bipolare Repräsentation von Geschlecht mit sich bringt, sowie für die damit offenbar zusammenhängende soziale Ungleichheit. Die alte Männerforschung hatte nach Wegen gesucht, die repressive Rolle des „traditionellen Mannes“ in der Geschichte aufzudecken, um eine Negativfolie für den „Neuen Mann“ zu schaffen. Die poststrukturalistische Geschlechterforschung sah auch darin noch eine Praktik zur Herstellung von Geschlechterdifferenz und damit der sozialen Ungleichheit. Sie ist demnach zumindest vordergründig nicht mit der kritischen Aufarbeitung strukturell-gewalttätigen Handelns durch das gesellschaftliche Subjekt „Männer“ befasst. Primär hinterfragt sie die Annahme, dass Unterschiede zwischen Männern und Frauen tatsächlich natürlichen Ursprungs sind, oder, ob und wenn ja, wie sie gesellschaftlich konstruiert sind. Dass ein solches Vorgehen dort an seine Grenzen stößt, wo Historiker relativ stabile Strukturen rekonstruieren, ist bekannt. Struktur- und Mentalitätsgeschichtliche historiographische Ansätze setzen die längerdauernde Identität bestimmter kultureller Phänomene voraus. Nur dadurch lässt sich ihr Einfluss auf historische Prozesse analysieren. Dass es solche Strukturen auch im Bereich der Konstruktion der dualen Geschlechterordnung gibt, zum Beispiel bei Väterlichkeit und Kameradschaft,95 und dass sie sich über einen gewissen Zeitraum miteinander in Kontinuität setzen lassen, bestreitet auch die neuere Geschlechtergeschichte nicht. Sie bezieht in der Praxis an den Quellen aber dennoch kaum die Erforschung kollektiver Mentalitäten ein. Hierbei handelt es sich um eine bewusste Einschränkung. Sie wird zugunsten einer Vielzahl von Repräsentationen individueller Subjektivität, die nicht systematisch miteinander in Bezug zu setzen sind, getroffen.96

93 Poiger (2001); Poiger (1998), S. 147–162; Moeller (2001); Moeller (1998), S. 101–106; Moeller (1998); Fehrenbach (1998); Biess (2002). 94 Arnold/Brady (2011). S. 2 ff. 95 Hanisch (2005), S. 289–346; Dinges (1998). 96 Dinges (2013), S. 222 f.; „Das Verhältnis zwischen Elementen langer Dauer und historischem Wandel ist aber eine offene Forschungsfrage“, schreibt ebenfalls Dinges in Bezug auf Männlichkeiten. Dinges (2004), S. 86.

40

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

Zu solchen Strukturen zählen auch Leitmännlichkeiten. Diese fallen zwar je nach Ort und Zeit recht unterschiedlich aus. Dennoch haben diese verschiedenen „hegemonialen“ Männlichkeiten mehr gemeinsam als die Tatsache, dass sie stets Differenz zu Frauen herstellen und zu diesem Zweck die mannmännliche Hierarchie organisieren. Sie tun dies nämlich schon seit längerer Zeit in ähnlicher Weise: Mindestens seit der Industriellen Revolution bis zum sozialen Wandel der 1970er Jahre verlangen diese Ideale von Männern, dass sie 1. im Besitz von Kapital sind bzw. einer Erwerbstätigkeit nachgehen, 2. heterosexuelle Beziehungen pflegen und Oberhäupter der Familien werden, von denen erwartet wird, dass sie sie gründen, und 3. sich an homosozialen Aktivitäten außerhalb der häuslichen Sphäre beteiligen.97 Die meisten Männer wurden früher oder später mit Anforderungen konfrontiert, die sich durch diese Leitmännlichkeiten ergaben; und zwar über zahlreiche Generationen hinweg. Solche langdauernden Konstanten lassen sich mit poststrukturalistischen Ansätzen nicht erklären. Sie sind nicht erfassbar, wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass Männlichkeit in jedem Moment neu durch Praktiken oder „Performances“ erzeugt wird. Jahrhundertealte Pfadabhängigkeiten sind für solche dekonstruktivistisch angelegten Projekte unsichtbar. Die Dekonstruktion legitimiert die Ablehnung strukturalistischer Erklärungen (in diesem Fall der Struktur Geschlecht) explizit mit der Notwendigkeit des Abbaus von sozialer Ungleichheit. Dieses Desinteresse, Männlichkeit als etwas anderes zu betrachten als eine Fiktion, die der patriarchalen Machtsicherung dient, kreiert blinde Flecken der Wahrnehmung. Zwar kann man diese Engführung schwerlich als ideologisch bezeichnen, denn sie zielt ja nicht auf die Repression einer Gruppe, die man gesamtgesellschaftlich als unterprivilegiert bezeichnen kann. Dennoch tendiert sie dazu, Wissen über neuralgische Punkte in den Geschlechterbeziehungen zu blockieren, sodass Geschlechterforschung wesentliche Forschungslücken unbearbeitet lässt. Es gibt bei den Menschen, die aufgrund ihrer biologischen Merkmale im gesellschaftlichen Feld als Männer positioniert sind, statistisch betrachtet einige strukturelle Benachteiligungen. Diese sind kaum anders greifbar, als wenn man sie zunächst einmal „beim Namen“ nennt – das heißt, in den etablierten Begrifflichkeiten der dualen Geschlechterordnung. Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit maßgeblich ist folgende soziale Ungleichheit: Männern sterben in den meisten Industrienationen im Durchschnitt 6 Jahre früher als Frauen. Der gender-gap in der Lebenserwartung beschäftigt in erster Linie Gesundheitswissenschaftler. Dabei wurde die Art und Weise der Auseinandersetzung mit diesem Problem – was selten genug vorkommt – nicht unwesentlich durch die historische Forschung mitbestimmt. Die Impulse hierzu kamen jedoch nicht aus der universitären Männergeschichte oder gar von kulturalistisch arbeitenden Historikern. Ein Überblick zur Geschichte der historischen Erforschung der Männergesundheit ist bereits an anderer Stelle veröffentlicht 97

Zur historischen Konstanz einer europäischen Leitmännlichkeit und ab welchem Zeitpunkt man diese „hegemonial“ nennen kann, siehe Dinges (2005), S. 7–37.

1.2 Geschichte der Männlichkeiten zwischen Feminismus und Dekonstruktion

41

worden.98 Hier soll die Orientierung an Arbeiten erfolgen, die für die Fragestellung dieser Arbeit von Bedeutung sein werden. Zunächst konnten historische Demographen belegen, dass der gender-gap in der Lebenserwartung nicht zu allen Zeiten bestanden hat (selbst wenn man die geburtsbezogenen Risiken der Vormoderne bis ca. 1910 nicht mit einbezieht). Die Diskrepanz kann also somit nicht ausschließlich evolutionsbiologische Ursachen haben.99 In der Folge hat sich die historische Erforschung der Gesundheit von Männern darauf konzentriert, dieses „longue-duree Problem“ in verschiedenen Projekten mit meist entsprechend langen Untersuchungszeiträumen zu untersuchen. Dies ging freilich nur, indem man Gruppen von Männern als relativ stabile Subjekte dieser historiographischen Darstellungen zuließ.100 Ziel war es, Wege zu finden, wie die heute als mögliche Ursachen für den gender-gap diskutierten Problemfelder – männliche Sozialisation, Körper- und Gefühlswahrnehmung, mangelnde Compliance, maladaptive Bewältigungsstrategien – historisch kontextualisiert werden konnten. Eine dieser Ursachen ist, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, nach wie vor die Wirkung von Männlichkeitsidealen auf das Gesundheits- und Krankheitsverhalten von Männern sowie auf ihre Gesundheitsversorgung. Im Zuge dieser Fragestellung wurden bislang eher sozial- und alltagsgeschichtliche Analysen durchgeführt.101 Diese legten einen eher breiten Gesundheitsbegriff zugrunde. Damit beschränkten sie sich nicht darauf, medizinische Behandlungen zu beleuchteten, sondern auch die Rolle von Gesundheit im Alltag. Dadurch ergaben sich von Anfang an vielfältige Anknüpfungspunkte zu psychischen Erkrankungen. Diese sind ihrem Wesen nach mit verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens verbunden, da sie nicht bloß körperliche Ursachen haben. So sind etwa Alkoholkonsum102 und Stressbewältigung103 offensichtlich relevant für die psychische Gesundheit. Weniger häufig damit assoziiert, aber dennoch relevant, sind die Bereiche Gewalterfahrung,104 Bewegung,105 Ernährung106 sowie Wohn- und Arbeitssituation.107 Gesundheitswissen und Compliance108 bestimmen auch bei psychischen Störungen wesentlich die Genesungschancen. Pierre Pfütsch (für die Bundesrepublik) und Jenny Linek (für die DDR) behandelten den Bereich Gesundheitsvorsorge. Damit streiften sie wiederum mit den Unterthemen Alkoholismus- und 98 Dinges (2015). 99 Luy (2002). 100 In anderen Worten: Das hauptsächliche Erkenntnisinteresse konnte in diesen Untersuchungen nicht in der Frage liegen, wie Menschen ihre Männlichkeit stetig neu aktualisieren. 101 Hoffmann (2010); Schweig (2009). 102 Schweig (2009), S. 136–139; Hoffmann (2010), S. 373, Spode (2007), S. 191–210. 103 Schweig, (2009), 147, 149. 104 Schweig (2009), S. 70–83, Hoffmann (2010): S. 263–266. 105 Schweig (2009), S. 129–133.; Hoffmann (2010), S.186–194. 106 Schweig, S. 121–128., Hoffmann (2010), S. 133–144. 107 Schweig, S. 141–156., Hoffmann (2010), S. 248–266. 108 Schweig (2009), S. 185–232., Hoffmann (2010), S. 120–127, 329–382.

42

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

Drogenprävention,109 Stressvorbeugung und Förderung von Gesundheitssport110 das Thema psychische Gesundheit. Wichtige Impulse kamen fachfremd von der Seite praktisch tätiger Psychotherapeuten. Diese haben die gesundheitsbezogenen Folgen normativer Männlichkeit jeden Tag vor Augen. Zugleich aber haben zumindest die Psychodynamiker unter ihnen ein Interesse an der Erforschung der bundesdeutschen (und NS)-Vergangenheit. Denn diese ist auch heute noch die prägende Phase im Leben vieler ihrer Patienten. Im günstigen Fall konnten sie bei ihrer Forschung auf Studien mit jahrzehntelanger Laufzeit zurückgreifen.111 Diese Arbeiten betrafen fast notwendigerweise zeitgeschichtliche Themen, insbesondere den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen, aber auch die spätere Entwicklung, wie den Wandel der Familienstrukturen und die Verbreitung der Massenarbeitslosigkeit seit den 1980er Jahren. Eine Arbeit, die in größerem Umfang gezielt die Krankheitserfahrung von Männern mit psychischen Störungen untersucht, fehlt bislang, auch wenn kleinere Aufsätze durchaus existieren.112 1.3 Im toten Winkel von Revisionismus und Apologetik. Die nie geschriebene Geschichte von Männern mit psychischen Störungen Ein Erkenntnisinteresse speziell an der Geschichte von Männern mit psychischen Störungen hat es bislang kaum gegeben.113 Lediglich die alte Medizingeschichte mit ihrer Vorliebe für berühmte Patienten, wie etwa Julius Caesar114 oder Friedrich Nietzsche115, könnte man hier anführen. Solche Arbeiten haben jedoch lediglich das Klischee von den „großen Männern“ bedient und somit mehr über Männer verborgen als offengelegt. Dagegen hat sich die Psychiatriegeschichte Männern unter dem Gesichtspunkt einer möglichen sozialen Benachteiligung und den gesellschaftlichen Ursachen ihrer geringeren Lebenserwartungen bislang überhaupt nicht gewidmet. Wo kein Forschungsstand vorhanden ist, sollte zumindest skizziert werden, zu welchen Erkenntnisinteressen eine Arbeit wie die vorliegende eine Verbindung ziehen kann. Der Psychiatriehistoriker Edward Shorter hat die Geschichte der Psychiatrie in zwei Lager aufgeteilt: Auf der einen Seite sieht er die Psychiatriekritiker (bei ihm Revisionisten genannt), auf der anderen Seite stehen ihm zufolge die „Neoapologeten“. Letztere glauben im Gegensatz zu den Revisionisten an die reale Existenz psychischer Störungen. Sie stellen 109 110 111 112 113

Pfütsch (2017), besonders 18–29, 77 f., 153–160, 269 f.; Linek (2016), S. 87, 95, 159, 198 f.,. Pfütsch (2017), S. 147 f., 161 f., 282 f.; Linek (2016), S. 82, S. 155–162. Franz (2011); Liebertz/Franz/Schepank/Adamek (2011). Lindner (2007); Imboden (2007); Schmidt (2007); S. 343–358. Neben den beiden zuletzt zitierten Beiträgen erschien jüngst mit Coche (2017) eine weitere entsprechende Veröffentlichungen. 114 Kanngiesser (1913), S. 83–100. 115 Klopstock (2013), S. 573–578.

1.3 Im toten Winkel von Revisionismus und Apologetik

43

psychiatrische Behandlungen nicht grundsätzlich in Frage.116 Die „Apologeten“, zu denen Shorter sich selbst zählt, stammen, wie zu erwarten, eher aus dem Lager der Medizinhistoriker,117 die mit der wissenschaftlichen Disziplin Psychiatrie bzw. Psychotherapie befasst sind. Unter den Revisionisten sind vermehrt Sozialhistoriker, darunter heute wiederum viele kulturalistisch ausgerichtete Forscher.118 Ein Interesse für die geringere Lebenserwartung von Männern als Indikator für eine strukturelle soziale Benachteiligung würde man somit eher bei den sozial/kulturhistorischen Revisionisten vermuten. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass sich Vertreter dieser Teildisziplin traditionell vermehrt für Fragestellungen der Geschlechterforschung interessiert haben. Dass die entsprechende Forschung bislang nicht existiert, hat forschungsgeschichtliche Gründe. Sie sind ähnlich wie im Falle der allgemeinen Geschichte der Männlichkeiten. Genau wie diese hat auch die revisionistische Psychiatriegeschichte ihren Ursprung in einer der sozialen Bewegungen um 1970. Sie begann in den verschiedenen Ablegern der psychiatriekritischen Bewegungen, die man unter der Bezeichnung „Antipsychiatrie“ oder (in ihrer konservativeren Ausformung) „Psychiatriereformbewegung“ zusammenfassen kann.119 Die Männergeschichte entstand im Milieu studentischer Gruppen und Sozialarbeiter ohne nennenswerten Rückhalt in der akademischen oder gar breiteren Öffentlichkeit. Hingegen war mit Michel Foucault einer der maßgeblichen Exponenten der Antipsychiatrie nicht nur Philosoph, sondern auch Ideenhistoriker – und ein äußerst einflussreicher dazu.120 Dementsprechend wirkmächtig war dessen poststrukturalistisches Interesse an der Zerlegung von Diskursen für die spätere Forschung. Die neuere anti-essentialistische Geschlechtergeschichte forscht auf die Auflösung der Kategorien „Mann und Frau“ hin. Analog hierzu steht die Dekonstruktion der Bedeutungsstrukturen von psychischer Krankheit im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses der revisionistischen Psychiatriegeschichte.121 Dieses Erkenntnisinteresse fiel unmittelbar mit der politischen Zielsetzung zusammen – nämlich offenzulegen, wie Menschen durch solche psychiatrischen Diskurse von einer Gesellschaft abgesondert, isoliert und unterdrückt wurden.122 Unter einer solchen Programmatik war die epistemologische Verwendung schulpsychiatrisch gelehrter Konzepte von psychischer Krankheit als Ausgangspunkt einer Untersuchung schlichtweg ausgeschlossen. Eine Verwendung psychopathologischer Begriffe würde, sei sie auch noch so differenziert, auf eine Reproduktion der Isolation und Unterwerfung der betroffenen Men116 Shorter (1998), S. 8 f. 117 Siehe zum Beispiel: Schott/Tölle (2006); Hoff (2008), S. 3–27. 118 Klassisch sozialhistorisch: Dörner (1969); Blasius (1980); Blasius (1986); Eher kulturalistisch: Balz (2010); Ehrenberg (2015); Teuber (2011); Wernli (2012). 119 Bär (1998), S. 83 f., 159 f.; Schott/Tölle (2006), S. 200–213. 120 Foucault/Köppen (2003). 121 Siehe auch Szasz (1961). In jüngerer Zeit: Parker/Georgaca/Harper/McLaughlin/Stowell-Smith (1995); Micale (1993). 122 Siehe auch Goffman (1961).

44

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

schen hinauslaufen. Man konzentrierte sich daher auf die Offenlegung der Prozesse der kulturellen Konstruktion von psychischer Krankheit und ihrer Folgen für die Menschen. Für dieses Projekt kam der psychiatrischen Nosologie eine besondere Rolle zu. In der Nosologie würden, wie man annahm, die seelisch-sozialen Phänomene zu Scheinkrankheiten verdinglicht und als gesellschaftlich verbindlich kodifiziert. Die Frauengeschichte und später die Geschlechtergeschichte entdeckten relativ früh die Nosologiekritik. So entstanden zum Beispiel Arbeiten über die Zusammenhänge zwischen dem psychiatrischen Hysteriediskurs und der Unterdrückung von Frauen.123 Auch eine Vielzahl weiterer Arbeiten mit ähnlichen Themen hinterfragte die Pathologisierung von Frauen durch die Psychiatrie kritisch.124 Von Seiten der älteren Männergeschichte gab es wenig kritische Analysen einer pathologisierenden psychiatrischen Nosologie. Nicht zufällig handelte das wenige Vorhandene von Krankheitskonzepten, die Männer im Diskurs verweiblichten und in die Nähe von Frauen rückten: Homosexualität, Kriegshysterie oder Neurasthenie.125 Wenn es um Männlichkeit ging, dann wurde also vor allem die Konstruktion sogenannter „untergeordneter“ Männlichkeit angegangen. Andere Dimensionen des Mannseins, wie etwa die klassenbezogene Marginalisierung, waren bislang nicht von Interesse. Der Grund hierfür lag in der Diskursorientierung der Forschung, gepaart mit der Tatsache, dass die psychiatrische Klassifikation die längste Zeit ihres Bestehens deutlich heteronormativ strukturiert war. Die Markierung subalterner Gruppen ließ sich deutlich darin erkennen. Menschen, die einen männlichen Habitus im Sinne einer „hegemonialen Männlichkeit“ verkörperten, konnten in diesen Klassifikationen nicht vorkommen. Sie selbst bildeten ja die gesunde Kontrastfolie, gegenüber der die Psychiatrie Frauen, Schwule und Transgender pathologisierte. Hier wiederum entpuppte sich die revisionistische Ausrichtung dieser diskursorientierten Arbeiten für die Erforschung von Männern als Sackgasse. Denn auch eine Diskursanalyse hätte durchaus fruchten können. Die Frage hätte aber in diesem Falle nicht nur „revisionistisch“ lauten dürfen: „Welche Menschen werden durch psychiatrische Krankheitskonzepte pathologisiert und unterdrückt?“. Vielmehr hätte auch „apologetisch“ gefragt werden müssen: „Welche Menschen fallen (zu ihrem potentiellen Schaden) durch das Raster der psychiatrischen Klassifikation und warum?“. Ein weiterer Beitrag Foucaults ist die Bereitstellung eines Rahmens zur Deutung der Geschichte der Psychiatrie über die vergangenen Jahrhunderte. In diese lässt sich auch der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit einordnen. An Periodisierungen hat die poststrukturalistische Historiographie wegen ihrer Kritik an Meistererzählungen nur sehr eingeschränkt Interesse. Foucault selbst zeichnete jedoch nolens volens ein großes Panorama vom Beginn der frühen Neuzeit bis zur Entstehung der modernen Psychiatrie. Er selbst war 123 Showalter (1987); Lamott (2001); Nolte (2003); Tsapos (2012). 124 Brand-Claussen/Micheli, Viola (2004); Hähner-Rombach (1995); Hirshbein (2006). 125 Siehe hierzu die Abschnite 2.1.4 und 2.1.8 der vorliegenden Arbeit.

1.3 Im toten Winkel von Revisionismus und Apologetik

45

es, der von einem Wandel in der Geschichte des Wahnsinns sprach, der bis in die Gegenwart andauere. Foucault bemühte sich auch in seinen anderen Werken stets zu betonen, dass er keine eigentliche Geschichtsschreibung im Sinne einer Abfolge von Ereignissen betreibe. Ihm ging es seinerzeit eben darum, die Psychiatriegeschichte als Erzählung eines Fortschrittes zu demontieren.126 Dennoch hat sich seine Schilderung zumindest für die Revisionisten als maßgebliche Epocheneinteilung etabliert. Der vormoderne, eher strafende Umgang mit seelischen Auffälligkeiten habe sich demnach im Zuge der Aufklärung zur pathologisierenden modernen Psychiatrie entwickelt: Es ist die Geschichte vom Vordringen einer disziplinierenden Unterwerfung, der Subjektivierung unter das Denkregime einer normativ verstandenen seelischen Gesundheit. Diese habe sich seit dem 19. Jahrhundert ausgebreitet und nach dem Zweiten Weltkrieg in rasantem Tempo mehr und mehr Menschen Untertan gemacht. Psychische Krankheit sei seitdem immer weiter ausdifferenziert und für immer mehr Menschen verbindlich geworden. Diese richten sich im Sinne der foucaultschen Gouvernementalität nach diesen Normen aus und können dementsprechend leichter beherrscht werden. Im Rahmen dieses Prozesses wird auch die Geschichte der Psychiatrie, der Psychotherapie und anderer mit psychischen Phänomenen befassten Institutionen in der Bundesrepublik gedeutet. Wenn auch nicht alle Autoren die revisionistische Intention einer solchen Erzählung teilen, so können auch die Apologeten, freilich mit anderer Wertung, zustimmen, nämlich,127 1. dass die Zahl der psychiatrisch bzw. psychotherapeutisch betreuten Patienten durch Bevölkerungswachstum und massiven Ausbau entsprechender Angebote im öffentlichen Gesundheitswesens stark angestiegen ist,128 2. dass es seit den 1970er Jahren einen relativen Rückgang der Patientenzahlen in den großen Anstalten zugunsten einer zunehmenden Fragmentierung in spezialisierte Behandlungsbereiche, seien sie ambulant oder stationär, gegeben hat, 3. dass der Gesundheitsmarkt unter den Bedingungen der freien Wirtschaft zu einer gewaltigen Nachfrage nach Mitteln zur Selbsttherapierung bzw. psychischer Selbstoptimierung geführt hat.129 126 In diesem Sinne fasste Foucault selbst die Kernaussagen seines Werkes „Wahnsinn und Gesellschaft“ zusammen, siehe Miller (1995), S. 142. 127 Die psychiatriehistorische Erforschung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist noch relativ jung, sieht man einmal von den Arbeiten ab, die aus der Zeit der Psychiatriereform selbst stammen und in Bezug auf diesen Zeitraum eher Gegenwartsberichten ähneln, wie z. B. Blasius (1980) und Blasius (1986), sowie Dörner (1969); Rotzoll/Hohendorf (2007); Rotzoll (2012); Kersting (2003); Hanrath (2002); Brink (2010); Hofer (2010). 128 Um nur zwei Beispiele zu nennen: Ingenkamp (2012) für die jüngere systematische Ausweitung der Kriterien für eine Depressionsdiagnose unter Beteiligung der pharmazeutischen Industrie und Balz, Wirkung, (2010), die mit der Einführung der Psychopharmaka die Entstehung eines vollständig neuen Bereiches der psychiatrischen Versorgung seit Ende des Zweiten Weltkriegs beschreibt. 129 Zu letzterem Punkt: Siehe Maasen/Elberfeld/Eitler/Tändler (2011); Sammer (2015); Kardorff (2016).

46

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

Wie würde sich das vorhandene Wissen über Männer mit psychischen Störungen in diese Periodisierung einfügen? Der einzige diesbezügliche Versuch, eine Einordnung über größere Zeiträume vorzunehmen, ist das Konzept der „negativen“ oder „nachholenden“ Medikalisierung.130 Mit dem Aufkommen der modernen Geschlechterordnung seien Frauen wegen ihrer Reproduktionsfähigkeit, aus biopolitischen Gründen also, mehr und mehr durch das öffentliche Gesundheitssystem vereinnahmt worden. Das generative Prinzip der Relationalität der Geschlechter reproduziert die Geschlechterdifferenz auch unter sich wandelnden Bedingungen stets neu. Daher seien die noch kurz zuvor stärker medikalisierten Männer durch eine zunehmende Distanz gegenüber jeglichem, nun weiblich codierten Gesundheitsbewusstsein remaskulinisiert worden. Sie eigneten sich eine habituelle Ferne zu Gesundheitsangeboten an. Der Intensivierung der Biopolitik im 20. Jahrhundert – besonders in dessen zweiter Hälfte – hätten sie sich zwar nicht vollständig entziehen können, hinkten den Frauen in Sachen Medikalisierung und Psychiatrisierung dennoch stets hinterher. Tatsächlich ist bis heute eine geringere Inanspruchnahme bestimmter Angebote wie Beratungsgespräche, Gesundheitsratgeber, sowie Psychotherapie durch Männer bemerkbar – eine Diskrepanz, die zur Zeit der alten Bundesrepublik noch wesentlich ausgeprägter war als heute. Aus einem solchen Desinteresse oder gar Widerstandsverhalten wurde und wird implizit auf eine größere Resistenz von Männern gegen die psychiatrische Unterwerfung geschlossen. Revisionistisch argumentiert erscheint dies allerdings als Vorteil, geschlechtergeschichtlich als Privileg der patriarchalen Dividende. Eine im Shorter’schen Sinne apologetische Sichtweise auf dieses Problem, die die reale Existenz psychischer Störung bejaht und eine Behandlung von Patienten nicht grundsätzlich ablehnt, könnte dies jedoch eher als Nachteil interpretieren. Angesichts der grundsätzlich anderen Erkenntnisinteressen der Geschlechtergeschichte der Psychiatrie ist es nicht verwunderlich, dass die wenigen vorhandenen Ergebnisse solchen Forschungsvorhaben entstammen, bei denen der Aspekt Männlichkeit nicht explizit im Vordergrund steht. Es sind vielmehr Arbeiten, in denen es lediglich zahlenmäßig vorwiegend um Männer geht, meist ohne dass das Geschlecht überhaupt thematisiert würde. Arbeiten zur Kriegspsychiatrie, insbesondere des Ersten Weltkrieges, weisen über ihren Untersuchungszeitraum hinaus, da das damals produzierte psychiatrische Wissen noch bis in die jüngere Zeit hierzu eine Rolle spielte.131 Der jahrzehntelange Diskurs über die Einstufung von Traumata als einer behandlungswürdigen Krankheit mit Versorgungsansprüchen wurde damals eingeleitet. Svenja Goltermann hat diese Spuren aufgegriffen und in „Die Gesellschaft der Überlebenden“ zur Geschichte der deutschen Kriegsheimkehrer in Bezug gesetzt.132 Ebenfalls um Begutachtungen und Versorgungsansprüche geht es in einer Reihe von Arbeiten, die sich mit Berufsunfähigkeit aufgrund von psychischen 130 Bardehle/Dinges/White (2016); Dinges, Medikalisierung (2016), S. 925–931. 131 Hermes (2012), S. 15 f.; Neuner (2011); Wolters (2015), S. 143 f. 132 Goltermann (2011); Wolters (2015), S. 143–176.

1.4 Erkenntnisinteresse

47

Erkrankungen auseinandersetzen.133 Angesichts der höheren Erwerbsquote von Männern bis heute (und der sehr viel höheren in der alten Bundesrepublik) findet sich auch in diesen einiges über Männer.134 1.4 Erkenntnisinteresse Die Erforschung der Geschichte der psychischen Gesundheit von Männern ist bislang also ganz überwiegend revisionistisch unter den eher speziellen Prämissen diskursorientierter Fragestellungen erörtert worden. In den wenigen anderen Fällen ging es zwar bisweilen mehrheitlich um Männer, diese Tatsache wurde jedoch geschlechterhistorisch nicht reflektiert. Es fehlt somit eine Perspektive, die die gegenwärtige Geschlechtergeschichte der Psychiatrie mit ihrem Fokus auf der Geschichte der Herstellung sozialer Ungleichheit zu Lasten von Frauen ergänzt. Eine solche Geschichte psychisch kranker Männer müsste die vorhandenen machttheoretischen Erklärungsmuster aus der Geschlechtergeschichte der Psychiatrie nicht aufgeben. Gerade angesichts des voluntaristischen Defizitdiskurses in der Männergesundheit könnten letztere durchaus dazu beitragen, herauszufinden, ob auch Männer den Machtdynamiken, von denen sie in bestimmten Situation profitieren, im Ganzen nicht weitestgehend hilflos ausgeliefert sind. Connells hegemoniale Männlichkeit hat in dieser Hinsicht, aber zumeist bezogen auf andere Kontexte, gegenüber früheren Repressionsmodellen einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt erbracht. Andererseits stellt sich angesichts bisheriger Forschungsergebnisse die Frage, ob die etablierte machttheoretische Engführung in der Lage ist, den Gegenstand hinreichend zu erfassen. Viele einzelne gesundheitsrelevante Praktiken, die ein „hegemonialer“, „komplizenhafter“ oder auch „marginalisierter Mann“ in seinem Leben begeht, haben zwar offenbar etwas mit der Teilhabe an der patriarchalen Dividende zu tun. Dies bedeutet jedoch nicht, dass solch ein Verhalten damit vollständig erklärt ist. Verweisen diese Handlungen nicht auch auf andere Zusammenhänge, die es wert sind, beschrieben zu werden, nicht anstatt ihrer Funktion im Getriebe der Macht, sondern zusätzlich zu diesen? Die geringere Lebenserwartung von Männern und ihr vielfach als problematisch beschriebener Gesundheitshabitus ist auch Leid, das in gesellschaftlichen Strukturen erzeugt wird. Es ist jedoch noch nicht möglich, den systematischen Charakter dieses Leidens adäquat zu beschreiben, wie es etwa im Falle des Sexismus ist. Dennoch ist zu prüfen, ob und, wenn ja, in welcher Form Erklärungsansätze der heutigen Männergesundheitsforschung auch für 133 Hierfür von wesentlicher Bedeutung ist die Entwicklung der Konzepte seelischer Traumata. Siehe hierzu Kloocke/Schmiedebach/Priebe (2010) und Roelcke (2012), S. 25–48. 134 Was die Geschichte der forensischen Psychiatrie betrifft (deren Insassen nahezu ausschließlich aus Männern besteht), so fehlt eine Patienten- geschweige denn geschlechtergeschichtliche Arbeit vollständig. Ähnliches gilt für die Suchtmedizin, bei der der Männeranteil ebenfalls sehr hoch ist.

48

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

eine historische Analyse fruchtbar gemacht werden können. Hierbei kann es nicht darum gehen, mit dem positivistischen Anspruch einer epidemiologisch arbeitenden Gesundheitswissenschaft zu arbeiten. Dies würde bedeuten, einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen den Lebensumständen von Männern und ihrer Gesundheit nachzuweisen. Wohlbemerkt müsste sich ein solcher auf das gesamte Gebiet der alten Bundesrepublik sowie über den gesamten Zeitraum ihres Bestehens erstrecken. Sehr wohl jedoch lassen sich mit einem solchen Versuch ein sinnvoller Erwartungshorizont für die Beantwortung dieser Frage festlegen und für einzelne Bereiche entsprechende Zusammenhänge aufdecken. Bestanden von der Angebotsseite, also der Erfassung von Männern durch die medizinische Versorgung, geschlechtsspezifische Gegebenheiten, die psychische Störungen von Männern überhaupt angemessen auffangen konnten? Gab es, etwa bei der Konzeption der Diagnosen sowie deren Anwendung in der Praxis, Mechanismen, die eine Wahrnehmung von Männern als hilfsbedürftig verhinderten? Ein anderer Fragekomplex betrifft den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Gesundheitsverhalten. Teile der Gesundheitsforschung,135 vor allem aber publizistische Diskurse haben echte oder vermeintliche Gesundheitsdefizite von Männern, die „traditionelle“ (bzw. „marginalisierte“, „komplizenhafte“ oder „hegemoniale“) Männlichkeit verkörpern, als selbstverschuldet repräsentiert. Aber ließe sich nicht auch fragen, ob und, wenn ja, wie und unter welchen Umständen Männer zumindest versuchten, sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern, Vorsorge zu betreiben oder Behandlungsangebote in Anspruch zu nehmen (oder sie bewusst abzulehnen)? Waren solche Männer im Alltag tatsächlich nicht um ihre Selbstheilung bemüht? Lässt sich zum Beispiel etwas zum Alltag psychisch gestörter Männer herausfinden, das Licht auf das Problem der (vermeintlich) „mangelnden“ Behandlungsbereitschaft von Männern wirft? Was hatten männerspezifische soziale Umfelder mit der psychischen Gesundheit von Männern zu tun? Wie sahen in der bundesrepublikanischen Vergangenheit die sozialen Schauplätze der psychischen Gesundheit von Männern aus? Welche Rolle hat beispielsweise die kindliche Entwicklung, die Beziehung zu Vätern und Müttern? Wie interagierten Männer mit anderen Männern, zum Beispiel im Erwerbsleben mit Chefs und Kollegen oder in der Freizeit? Welche Rolle spielte mann-männliche Gewalt bei der Entstehung von seelischem Leiden? Lässt sich aus der Beantwortung dieser Fragen der gegenwärtige Stand der psychischen Gesundheit von Männern relativieren, bzw. der Diskurs zur Gesundheit von Männern ergänzen? Unbestritten ist, dass die soziale Herkunft von Menschen Auswirkungen auf ihre Gesundheit hat. Welche Auswirkungen hat jedoch Männlichkeit in Zusammenwirkung etwa mit niedrigem Einkommen und geringem Bildungsstand? Lassen sich Daten zum sozialen Hintergrund von Männern mit psychi135 Bründel/Hurrelmann (1999); zur Kritik an kontrastiver, defizitorientierter Forschung, siehe Dinges (2009), S. 19–23.

1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten

49

schen Störungen ermitteln, die das voluntaristische Erklärungsmuster im Defizitdiskurs ergänzen oder möglicherweise sogar relativieren können? Und schließlich, was die Einordnung in die größeren historischen Entwicklungslinien anbelangt: Welches Bild ergibt sich, wenn man diese Fragen über den Zeitraum der vergangenen Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkrieges angeht? Wurden Männer in geschlechtsspezifischer Weise von der zunehmenden biopolitischen Intensivierung seit Ende des Zweiten Weltkrieges erfasst? Lassen sich Indizien dafür finden, dass die Pluralisierung der Männlichkeit bzw. die Subjektivierung von Männern unter Gesundheitsideale,136 wenn auch verzögert, möglicherweise eine Rolle bei dem wahrnehmbaren Rückgang des gender-gaps in der Sterblichkeit spielt? 1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten als Quelle für die Geschichte von Männern mit psychischen Störungen Zunächst sollen die gewählten Hauptquellen, die psychiatrischen Krankenakten, vorgestellt werden. Dies dient der allgemeinen Charakterisierung der Krankengeschichte als Quellengattung. Im Anschluss daran sollen im Rahmen einer kurzen Geschichte der beiden Kliniken, aus denen die Stichprobe stammt, die Spezifika der Universitätspsychiatrie dargestellt werden. Anhand dessen soll erörtert werden, inwiefern sie für die Beantwortung der Fragestellung repräsentativ ist. Die Analyse von Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten aus Universitätskliniken soll dazu beitragen, eine Fragestellung zu formulieren, sodass das Erkenntnisinteresse präzisiert werden kann. Das Korpus an Krankenakten stammt aus den psychiatrischen Universitätskliniken Heidelberg (Altarchiv der Universitätskliniken Heidelberg, 420 Akten) und Gießen (Universitätsarchiv Gießen, 261 Akten). Die Dokumente wurden nicht, wie in der Psychiatriegeschichte häufig üblich, nach bestimmten Diagnosen, sondern weitestgehend zufällig ausgewählt. Lediglich Männer, die mit neurologischen bzw. eindeutig hirnorganischen, „exogenen“ Krankheits-

136 Mit Subjektivierung ist hier und im Folgenden die Foucaultsche Lesart gemeint. In der heutigen Forschung findet er sich zusammen mit der Präposition „unter“ eher selten, z. B. bei Budde/Hummrich (2016), S. 35.; Supik (2014), S. 18. Meist wird Subjektivierung „von“ verwendet, gefolgt von einem abstrakten gesellschaftlichen Konzept, zum Beispiel Subjektivierung von Arbeit oder auch von Körpern. Die Verwendung der Präposition „unter“ betont einen der beiden Aspekte des Begriffes, der von Foucault bewusst zweideutig gefasst wurde, den der „Subjektivierung“ als „Unterwerfung“ ohne die zweite Bedeutung (die Subjektwerdung) auszulassen. Für die vorliegende Arbeit bietet sich diese Verwendung an, da eine Diskursanalyse gerade nicht wesentliches Erkenntnisziel ist. Sie ermöglicht es, weiterhin von Menschen als Akteuren zu sprechen, nicht von Abstrakta, nutzt dabei aber auch das Instrumentarium, das beschreibt, wie deren individuelle Motivation und Erfahrungswelt mit kollektiven Kräften zusammenhängt.

50

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

bildern diagnostiziert wurden, fielen aus der Stichprobe heraus.137 Im Falle von Gießen konnten, abgesehen von diesen Einschränkungen, alle Akten des Bestandes des Universitätsarchivs in das Sample aufgenommen werden, da das Universitätsarchiv bereits eine statistisch repräsentative Auswahl getroffen hatte.138 Die verschiedenen Akten verteilen sich daher gleichmäßig auf die Jahre von 1948 bis 1978. Der Bestand in Heidelberg war zum Zeitpunkt der Auswertung noch nicht verzeichnet; Akten waren noch nicht kassiert worden, was auch daran liegt, dass der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit in die gesetzliche Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren für stationäre Krankenakten hineinreicht. Die Menge der vorhandenen Akten war dort also beträchtlich größer als in Gießen, sodass eine Eingrenzung getroffen werden musste. Für Heidelberg wurden fünf Stichjahre gewählt, nämlich die Jahre 1953, 1963, 1973, 1983 und 1993. Aus diesen Stichjahren wurden jeweils wiederum 84 Akten139 zufällig ausgewählt. Grundsätzlich sind in Akten wie diesen verschiedene Arten von Dokumenten enthalten, die jeweils unterschiedliche Zwecke erfüllen: verwaltungstechnische, wissenschaftliche, juristische aber auch solche, die dem Zweck dienen, den Umgang mit den Patienten im Behandlungsalltag zu organisieren. Es besteht eine rege Forschungstätigkeit über diesen Quellentyp, auf den an dieser Stelle verwiesen werden soll.140 Um die Reichweite und die Grenzen dieser Quellen in Hinsicht auf das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit einzuschätzen, sollen zunächst die verschiedenen Dokumententypen grob kategorisiert werden. Eine erste Einteilung lässt sich treffen, indem man sie nach ihrer Urheberschaft in ärztliche und nicht-ärztliche Dokumente unterteilt. Zu den ärztlichen Dokumenten gehören zunächst einmal die Anamnese und der Krankheitsverlauf, außerdem zusätzliche Protokolle diagnostischer und therapeutischer Verfahren – dazu zählen beispielsweise Intelligenztests, Elektroschock-Protokolle und Pflegeprotokolle. Die Ergebnisse dieser Proto137 Beide Krankenhäuser waren in den Anfangsjahren des Untersuchungszeitraumes noch neurologische und psychiatrische Kliniken zugleich. Hirnorganisch bedingte Erkrankungen wären zwar auch aus männlichkeitsgeschichtlicher Perspektive sehr vielversprechend, etwa im Zusammenhang mit Kriminalität oder Obdachlosigkeit. Für das eher im psychosozialen Bereich verortete Erkenntnisinteresse jedoch erschienen Patienten mit „psychischen“ Diagnosen in Hinsicht auf den Ertrag der Quellen aussichtsreicher. 138 Der Bestand enthält alle überlieferten Akten der Klinik mit den Anfangsbuchstaben O, D und T der Familiennamen der Patienten. 139 Insgesamt also 420 Akten. Aus ursprünglich 500 für die Auswertung geplanten Akten fielen aus den frühen Jahren maximal 16 pro Jahrgang aus, da sich erst während der Auswertung herausstellte, dass es sich bei den Männern um Neurologie-Patienten handelte. Um eine gleichmäßige Anzahl an Akten über den Untersuchungszeitraum verteilt zu erhalten, und aus arbeitsökonomischen Gründen wurde das Sample auch für die restlichen Stichjahre auf 84 gesenkt. 140 Hoffmann-Richter/Finzen (1998); S. 280–297; Ledebur (2011); Sammet (2006); Borck/ Schäfer (2014); Siehe auch die verschiedenen Forschungsvorhaben des Projektes „Papertechnology: Wege des ärztlichen Wissens. How do physicians know, 1550–1950.“ Am Institut für Geschichte und Ethik in der Medizin der Charité.

1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten

51

kolle wurden in der Regel im Krankheitsverlauf zusammengefasst oder zumindest erwähnt. Darüber hinaus gibt es ärztliche Korrespondenz: Diese reicht von Arztbriefen bis hin zu vollständigen Kopien von Krankenakten aus früheren Behandlungen in anderen Kliniken. In der Anamnese wurden der Patient und ggf. auch Angehörige zu Vorerkrankungen, Behandlungen, Begleitumständen und Auslösern der akuten Krise sowie generell zu ihrer Biographie befragt. Der Patient selbst sollte Informationen zu seiner biographischen Vorgeschichte und den Umständen seines gegenwärtigen Zustandes geben. Wenn vorhanden, wurden die Schilderungen überweisender Ärzte oder auch ggf. der Polizei in dieser Anamnese berücksichtigt. Im Behandlungsverlauf wurden in individuell verschiedenen zeitlichen Abständen Beobachtungen zum Zustand des Patienten und Ereignisse wie erfolgte Therapiemaßnahmen, Konflikte, Besuche von Angehörigen etc. festgehalten. Am Ende des Krankheitsverlaufes wurden die Umstände vermerkt, unter denen der Aufenthalt beendet wurde. Die Anamnese schloss in der Regel schon mit einer vorläufigen Diagnose ab. Wenn der Patient eine bekannte Vorerkrankung hatte und mit einer Diagnose überwiesen worden war, wurde diese ggf. übernommen und es wurden Empfehlungen dokumentiert, welche weiterführenden Maßnahmen zu ergreifen seien: Wurde ein Patient als „geheilt“ oder „gebessert“ nach Hause entlassen, oder weil er aufgrund seines Verhaltens für die Station „untragbar“ wurde? Wurde er an eine andere Einrichtung oder in eine ambulante Betreuung überwiesen? Wenn keine abschließende Diagnose gestellt werden konnte, musste die Bestätigung oder Widerlegung einer Verdachtsdiagnose im Krankheitsverlauf dokumentiert werden. Im Anschluss an den Krankheitsverlauf wurden weitere medizinische Dokumente in die Akten eingefügt. Häufig zu finden sind psychiatrische Gutachten oder gutachterliche Stellungnahmen. In diesen ging es meist entweder darum, zu klären, ob ein Patient berufsunfähig war und, falls ja, bis zu welchem Grad. Oder aber es handelte sich um forensische Gutachten zur Zurechnungsfähigkeit bei Straftaten und ggf. für eine kriminalprognostische Beurteilung. Nicht ärztliche Dokumente wurden von anderen Institutionen über Patienten angefertigt und lagen den Patientenakten dann auszugsweise bei. Seit Aufkommen der Fotokopiergeräte existierten aber auch immer mehr vollständige Kopien solcher Akten. Die Dokumente, darunter Gerichtsprotokolle, Schulzeugnisse, polizeiliche Führungszeugnisse usw., stammen aus Schulen, Einrichtungen der Heimerziehung und Justizvollzugsanstalten sowie von Bewährungshelfern und Sozialarbeitern. Insbesondere in früheren Jahren des Untersuchungszeitraumes forderten Ärzte von Bürgermeistern und Gemeindepfarrern oder sogar von Mitschülern anamnestische Berichte an. Diese Kategorie umfasst auch Briefe von Angehörigen, die sich etwa bei Ärzten nach dem Zustand der Patienten erkundigten, Behandlungsvorschläge machten, um vorzeitige Entlassung baten (oder darum, den Angehörigen bitte möglichst lange dazubehalten), oder nach Bescheinigungen fragten. Die wichtigsten nicht-ärztlichen Dokumente, die die ärztliche Perspektive ergänzen können, sind jedoch Selbstzeugnisse von Patienten, die aus verschiedenen Gründen in den Akten überliefert sind. Ein verhältnismäßig häufig auf-

52

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

tauchendes Selbstzeugnis ist die Korrespondenz von Patienten. Meist handelt es sich dabei um Briefe an die Angehörigen, bisweilen auch an Arbeitgeber. Warum diese ausgehende Korrespondenz in die Hände des Klinikpersonals gelangte anstatt an ihre vorgesehenen Adressaten, konnte verschiedene Gründe haben, die nicht immer geklärt werden können. Andere Patienten schrieben nach ihrem Klinikaufenthalt Briefe an ihre ehemaligen Ärzte; manche, um sich zu beschweren, andere, um sich zu bedanken. Viele von ihnen baten auch um ärztlichen Rat. Ebenfalls verhältnismäßig oft sind Lebensläufe zu finden, die Patienten auf Aufforderung ihrer Ärzte hin anfertigten. Eine Sonderform dieser Lebensläufe gibt es von Patienten, die in der Klinik forensisch begutachtet wurden. Diese sollten mitunter aufschreiben, wie es ihrer Ansicht nach dazu gekommen war, dass sie strafffällig geworden waren. Dies geschah, um die „Einsichtsfähigkeit“ der Delinquenten zu testen und ggf. eine Kriminalprognose im Gutachten zu treffen. Manche Patienten führten Tagebuch über ihren Aufenthalt oder schrieben Notizen, in denen sie ihre Sorgen festhielten oder Pläne zur Bewältigung ihrer Situation machten. Auch in diesem Fall ist häufig unklar, wie und weshalb diese Schreiben den Ärzten in die Hände fielen. Eine besondere Form von Patientenselbstzeugnissen gehört zu einer Kategorie, die etwas schwerer zu beschreiben ist, da sich ihr Zweck nicht unmittelbar erschließt. Es handelt sich dabei um Artefakte, Zeichnungen, Skulpturen, Sammlungen von Gegenständen, Gedichte, fiktive Erzählungen, aber auch grundsätzlich faktuale, autobiographische Texte, die jedoch Elemente literarischer Texte aufweisen.141 Diese Artefakte sind den alltäglichen zweckgebundenen Deutungen entzogen. Für Psychiater waren sie interessant als materialisierte Symptome der Krankheit ihrer Patienten. Selbstzeugnisse repräsentieren die Subjektivität der Patienten, sie geben im besten Fall unmittelbare Einblicke in ihre Wahrnehmungen und Deutungen. Dies kann in der Form der schriftlichen Fixierung von Erlebnissen oder Gefühlen geschehen. Andere Selbstzeugnisse wiederum sind, ähnlich wie Kunstwerke, hermeneutisch offener. Die Anamnese und der Krankheitsverlauf hatten in verschiedener Hinsicht die Funktion, die Diagnose und die damit einhergehenden Behandlungsempfehlungen zu begründen und zu legitimieren. Diese Tatsache ist wichtig, um Reichweite und Grenzen der Aussagekraft der ärztlichen Quellen zu beur141 Die Attribute faktual und literarisch sollen an dieser Stelle diese Texte zumindest rudimentär literaturwissenschaftlich charakterisieren, da dies insbesondere in Abschnitt 2.3.4 von Bedeutung sein wird. Faktual ist eine Text, wenn er nicht fiktional ist, in ihm wird grundsätzlich die Vermittlung von Fakten und die Beschreibung der realen Welt intendiert. Autobiographische Texte der Patienten sind somit faktual. In den Akten weisen sie darüber hinaus jedoch auch literarische Elemente auf, indem sie sich rhetorischer Figuren, poetischer Stilmittel und einem expressiven Ausdruck bedienen. Sie werden dadurch nicht fiktional, nähern sich der Fiktion und der poetischen Sprache jedoch insofern an, als der Text neben der reinen Denotation eines Sachverhaltes auch auf sich selbst verweist.

1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten

53

teilen. Die Notwendigkeit der dokumentierten Begründung der Behandlung war, wie bei anderen Arten der medizinischen Dokumentation, auch juristischer Art, zumal die „Freiwilligkeit“ einer psychiatrischen Behandlung stets eine umstrittene Angelegenheit war und ist. Darüber hinaus diente jedoch gerade in Universitätskliniken die ärztliche Dokumentation der Forschung. Sie sollte Datenmaterial zur Prüfung von Forschungshypothesen verfügbar machen und das Rohmaterial liefern, anhand dessen die Ärzte Fallgeschichten erstellen und publizieren konnten. Auch musste ggf. gegenüber der Klinikverwaltung anhand der Dokumentation Rechenschaft über die Tätigkeiten abgegeben werden, wobei die eigentliche Verwaltungsdokumentation meist getrennt von der medizinischen geführt wurde. In jedem Fall galt jedoch, dass die letztlich verschriftlichte Anamnese sich aus dem persönlichen Gedächtnis und den Notizen des aufnehmenden Arztes zusammensetzte. Die anamnestisch erhobenen Ereignisse und Verhältnisse wurden dabei vom dokumentierenden Arzt so gefiltert und angeordnet, dass sie den gestellten Befund stützten. Es finden sich in verschiedenen Akten deutlich ähnliche narrative Strukturen bei Patienten, die eine gleiche Diagnose erhalten. Aus dem Rohmaterial einer Anamnese, den Schilderungen von Patienten und Angehörigen zu den Lebensumständen, dem Verhalten, den sozialen Beziehungen, den Beobachtungen von Ärzten zum Betragen des Patienten in der Klinik, seinem Schlafrhythmus, der Beteiligung an Aktivitäten etc. – aus all diesen potentiell unzähligen möglichen Informationsstücken über den Patienten wurde eine kohärente „Krankengeschichte“ erstellt, die deutlich anders ausgefallen wäre, wenn ein Arzt zu einer anderen Diagnose gekommen wäre. In der Anamnese eines Patienten, der beispielsweise einer affektiven Psychose, einer „Endogenen Depression“ verdächtig ist, wurden Schilderungen wie Lebensumstände, Verhältnis zu Menschen des sozialen Umfeldes und Kindheit stärker ausgeblendet, als bei einer „Neurotischen Depression“; denn nur bei letzterer werden die wesentlichen Ursachen der Krise in psychosozialen Faktoren vermutet. In anderen Worten: Eine Krankengeschichte ist nicht identisch mit einem Ereignisbericht über das Leben oder Leiden eines Patienten. Auch ist die Summe der in den Akten zitierten Aussagen eines Patienten keinesfalls eine adäquate Zusammenfassung seiner Äußerungen während des Aufenthaltes (ganz zu schweigen von einem repräsentativen Querschnitt seiner Ansichten und Meinungen). Es werden zwar Tatsachen und Aussagen notiert, doch nach welchen Kriterien diese selektiert werden, welche nicht berücksichtigt werden und in welcher Reihenfolge etwas aufgeschrieben wird, ist von einer mehr oder minder vorstrukturierten Matrix abhängig. Diese stellt sicher, dass die Akten am Ende ihren Zweck als Verwaltungsdokument, wissenschaftliches Protokoll, Diagnose-Dokumentation etc. erfüllen. Die Information über die Patienten ist also nicht nur durch die ärztliche Subjektivität gebrochen, sondern ein zweites Mal durch die Struktur der medizinischen Dokumentation. Verhältnismäßig unbeeinflusst von solchen quellenkritischen Einwänden bleibt die sozialstatistische Erhebung. Das Alter der Patienten ist zuverlässig auf dem Aktendeckel erfasst, während alle weiteren Informationen in den ein-

54

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

zelnen Dokumenten verstreut sind. Der Grad der sozialen Integration lässt sich in etwa aus den in der Sozialanamnese geschilderten Familien- und Wohnverhältnissen herauslesen. In der Regel sind Angaben über den Beruf des Patienten verzeichnet. In Verbindung mit Angaben zum Bildungshintergrund und ggf. näheren Angaben über die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit (leitende Tätigkeit, eventuell auch der von Angehörigen) lassen sich in der Mehrheit der Akten die Patienten hinreichend zuverlässig sozialen Schichten zuordnen.142 Unmittelbarer als die ärztlichen Dokumente führen freilich Selbstzeugnisse von Patienten an Subjektivität und Intentionen heran. Insbesondere für die Tradition der Psychiatriekritik, die in dem Schreiben der Ärzte über Patienten einen repressiven Gewaltakt sieht, sind solche Selbstzeugnisse eine wichtige Quelle. Tatsächlich geben sie den Betroffenen eine Stimme und vermögen die Vereinnahmung durch die Psychiatrie als „totaler Institution“ zu durchbrechen. Welche Möglichkeiten bieten die Patientenakten angesichts dieser Einschränkungen noch für die Erforschung der Geschichte der Gesundheit von Männern? Im Folgenden soll die Aussagekraft dieser Quellen in Hinblick auf das im vorangegangenen Abschnitt formulierte Erkenntnisinteresse erörtert werden. Für die revisionistische Psychiatriegeschichte können die Akten lediglich ein Zerrbild wiedergeben, entstanden durch eine gewaltsame Objektivierung und eine noch gewaltsamere Subjektivierung der Patienten durch ihre Ärzte. Bestenfalls können sie, gegen den Strich gelesen, Auskunft über Techniken der Unterwerfung geben. Aus der Sicht einer im Shorter’schen Sinne behutsam „apologetischen“ Psychiatriegeschichte der Männlichkeiten stellt sich dies allerdings etwas anders dar. Ohne den selektiven Informationsgehalt der Dokumente zu leugnen, stellt sich die Frage, ob nicht gerade der ärztliche Blick auf Männer mehr als der gesamtgesellschaftliche in der Lage ist, den blinden Fleck in ihrer Repräsentation, nämlich ihre Hilfsbedürftigkeit, zu erkennen. Aus welchen Motiven auch immer dies geschieht, sei dahingestellt. Umgekehrt können sie, ebenfalls gegen den Strich gelesen, Auskunft darüber geben, ob und, falls ja, weshalb Ärzte daran scheitern, eben diesen blinden Fleck zu erkennen. Schwieriger wird es jedoch bei der Beurteilung des Handelns der Patienten. Kann man etwa anhand der ärztlichen Dokumentation herausfinden, ob Patienten sich eigenständig um ihre Selbstheilung bemüht haben? Die Antwort lautet nein, wenn man von der Annahme ausgeht, dass Ärzte daran interessiert waren, dies bei ihren Patienten routinemäßig zu dokumentieren. Eigenständige Bemühungen zur Selbstheilung zu fördern war nur nachrangig Teil der therapeutischen Ressourcenmobilisierung. Es gab jedoch zwei Bedingungen, unter denen dies in den Akten dokumentiert wurde. 1. Selbstheilung lief den Behandlungsvorstellungen der Ärzte zuwider. Wenn ein Patient beispielsweise anstatt der Einnahme von Psychopharmaka lieber Sport treiben wollte, um zu einer Besserung seines Zustandes zu gelan142 Siehe Abschnitt 2.4.9 in der vorliegenden Arbeit.

1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten

55

gen, dann konnte im Zuge der Dokumentation der Verweigerung der Medikamenteneinnahme auch so etwas erhoben werden. 2. Wenn Selbstheilung von Ärzten nicht als Gesundheitsressource, sondern als pathologisches Symptom notiert wurde. Wenn ein Mann beispielsweise versuchte, sich mit psychoaktiven Substanzen von Angst und Stress zu befreien, wurde dies so vermerkt, um eine Diagnose wie beispielsweise „Sucht“ zu stützen. Die Inanspruchnahme alternativer Heilmethoden hingegen tauchte regelmäßig als Indiz für eine „neurotische“ Diagnose wie „Hypochondrie“ auf. Weiterhin finden sich zahlreiche Selbstzeugnisse, etwa Diätpläne, schriftlich festgehaltene Zukunftspläne, selbst verfasste Gebetstexte von Patienten oder ausgeschnittene Artikel aus Gesundheitspublikationen, die das ärztliche Bild ergänzen. Insgesamt lässt sich dadurch kein kohärentes oder gar vollständiges Panorama männlicher Selbstheilung gewinnen, gewiss aber eine Vielzahl von Fakten, die möglicherweise die auch in wissenschaftlichen Arbeiten vorausgesetzte Repräsentation von Männern als gesundheitsfern relativieren kann. Noch diffiziler ist der Aussagegehalt der Quellen in Bezug auf die Behandlungsbereitschaft von Männern. Anmerkungen darüber, dass sich Patienten aktiv und engagiert an ihrer Behandlung beteiligten, kamen zwar durchaus vor, lassen jedoch keinerlei Schlüsse auf die tatsächliche Intention, insbesondere die Freiwilligkeit dieses Verhaltens zu. Hier lässt sich selten ein sicherer Einblick gewinnen, gerade in einem so heiklen Bereich wie der Fügsamkeit unter eine potentiell repressive psychiatrische Behandlungsroutine. In aller Regel wurde ohnehin eher der gegenteilige Fall notiert, nämlich dass Patienten sich der Behandlung verweigerten. Sind nicht gerade Selbstzeugnisse vorhanden, so ist man bei der Schilderung dieser Verweigerung auf die ärztliche Sicht zurückgeworfen. Die Begleitumstände dieser Konflikte wurden jedoch in vielen Fällen recht detailliert beschrieben. Die Fragen, ob Ärzte eine geringe Compliance ihrer Patienten mit der Geschlechtsidentität ihrer „aufsässigen“ Patienten in Verbindung brachten und ggf. an welchen konkreten Beobachtungen sie dies festmachten, ließen sich anhand der Akten durchaus untersuchen. Auch in diesem Fall existieren zahlreiche Selbstzeugnisse, die solche Vorgänge aus Patientenperspektive beleuchten. So fanden sich zum Beispiel ein Drohbrief eines Patienten an das Klinikpersonal, selbst verfasste Gesundheitszeugnisse, in denen sich Patienten in spöttischer Absicht für verrückt erklärten, obszöne Briefe an Mitpatientinnen oder Ärztinnen und weiteres. Eine Analyse ist trotz der geschilderten Probleme hinreichend ertragreich. Ähnliches gilt für Informationen, die das soziale Beziehungsnetzwerk der Patienten vor oder zwischen solchen Aufenthalten betrafen und die zeigen, wie Männer sich unter den Bedingungen ihrer „Krankheit“ als Männer imaginierten. Konzentriert finden sich Beobachtungen zum Sozialleben der Patienten in der Sozialanamnese. Hier wurden in aller Regel Angaben zum Familien- und Erwerbsleben notiert. Je nachdem, wie ausführlich so eine Anamnese erhoben wurde, waren Informationen zu anderen Tätigkeiten, etwa der Freizeitgestaltung vorhanden. Auch an dieser Stelle besteht das Quellenmaterial aus Berichten von Ärzten über die Gespräche mit Angehörigen. Ohne weiteres lässt

56

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

sich beispielsweise die Frage beantworten, wer aus dem sozialen Umfeld der Männer in der Situation der Krise mit ihnen Kontakt hielt. Brachte sie ein Angehöriger in die Klinik oder begleitete sie bei der Aufnahme? Wer stand den Ärzten für die Fremdanamnese zur Verfügung? Wer besuchte die Patienten, wer korrespondierte mit Ärzten? Auch schwerwiegende soziale Ereignisse, wie etwa Trennungen von der Partnerin oder der Verlust des Arbeitsplatzes, sind häufig dokumentiert. Insgesamt war auch das Interesse der Ärzte am Sozialleben ihrer Patienten der Stützung der Diagnose und der Planung der Therapie, ggf. auch Forschungsinteressen geschuldet. Und wie beim Rest der medizinischen Dokumentation galten zwei Dinge: Entweder begründeten Ärzte mit der aufgeschriebenen Information ihre Diagnose – so lag es nahe, dass man sich zum Beispiel im Fall eines Mannes mit der Diagnose „Eifersuchtswahn“ ausführlich mit dessen Beziehung zu seiner Ehefrau befasste. Oder aber sie betrachteten, wie bei der Dokumentation von Selbstheilungsbemühungen, Angehörige als Störfaktor für die Therapie. Häufig kam es z. B. vor, dass Angehörige die Patienten vorzeitig mit nach Hause nehmen wollten. Bisweilen forderten sie mit Nachdruck bestimmte Behandlungen, die die Ärzte selbst als ungeeignet betrachteten. Briefe von Angehörigen bieten die Perspektive der Gegenseite auf die geschilderten Vorgänge. Solche Schilderungen nahmen häufig, aber in unterschiedlicher Direktheit und Ausführlichkeit auf Aspekte verschiedener Männlichkeiten Bezug. Deutlicher als anderswo war diese Bezugnahme, wenn es etwa um Paarbeziehungen oder Konflikte mit Arbeitskollegen ging. Was Angaben zur Kindheit und Jugend der Patienten anbelangt, so wurden diese ärztlicherseits retrospektiv erhoben. Trotz der entwicklungspsychopathologischen Vorstrukturierung dieser Schilderungen erfährt man einiges über die Lebensbedingungen und die Sozialisation von Jungen und Männern. In anderen Worten: Es existierte ein Fragenraster, das auf bestimmte Aspekte fokussierte. Obwohl dieses nur eine reduzierte Sichtweise bereitstellte, verlieren bestimmte Fakten dadurch nicht ihre Plausibilität und tragen zur Beantwortung der Fragestellung bei. So wurden zum Beispiel ggf. schlimme Prügelexzesse durch Eltern erwähnt. Auch Schilderungen von sexuellem oder schwerem emotionalen Missbrauch und Parentifizierung verlieren nicht ihre Relevanz für die Erklärung der psychischen Gesundheit von Männern, bloß weil sie in erster Linie eine ärztliche Diagnose stützten und Patienten diesbezügliche Schlussfolgerungen ihrer Psychiater möglicherweise nicht teilten. Des Weiteren sind auch hier wieder Selbstzeugnisse von Kindern oder Kindheitserinnerungen erwachsener Patienten in den Akten vorhanden. Zum Zeitpunkt der Erstellung der Psychiatrieenquete Anfang der 1970er Jahre befanden sich nur etwa 2 % der stationären Patienten in einer Universitätsklinik. Der weit überwiegende Teil war in Anstalten, also Großkrankenhäusern untergebracht.143 Unterscheiden sich die hier untersuchten Krankenakten formal und inhaltlich von Akten, die über die restlichen Patienten ange143 Sachverständigenkommission der Deutschen Bundesregierung (1975), S.87.

1.5 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Krankenakten

57

fertigt wurden? Universitätskliniken waren und sind hauptsächlich Akutkliniken. Viele der Patienten waren zuvor noch nicht psychiatrisch auffällig gewesen oder waren nur im Rahmen einer kurz andauernden Krise da. Die Kliniken dienten also häufig erst einmal der Abklärung. Es wurde entschieden, ob Patienten wieder entlassen oder ggf. für einen längerfristigen Aufenthalt in eine der Heil- und Pflegeanstalten, bzw. psychiatrischen Landeskrankenhäuser überwiesen werden sollten. Die Anamnesen der Universitätspsychiatrien enthalten daher mehr zeitnah erhobene Informationen über den Alltag der Patienten vor der Erkrankung, als dies etwa in den Akten von Patienten mit mehrjährigen Aufenthalten in Anstalten der Fall gewesen war. Denn bei letzteren waren alltägliche und konkrete Ursachen für den Ausbruch einer Krise als diagnoserelevante Fakten nicht mehr von Interesse. Die beiden Kliniken, aus denen die Quellen für das Sample stammen, insbesondere die heutige Klinik für Allgemeine Psychiatrie Heidelberg, sind für die Geschichte der Psychiatrie als wissenschaftlicher Disziplin wie auch als sozialer Institution von großer Bedeutung. Mit der Erwähnung dieser Tatsache sollen hier nicht etwa ärztliche Pionierleistungen gewürdigt werden. Wichtiger für die Beurteilung des Aussagewertes des Quellenkorpus ist vielmehr, dass in den Akten ein Krankheitsverständnis und ein Behandlungsalltag dokumentiert wurden, die sich in vielen Fällen in den Anstalten erst Jahre oder gar Jahrzehnte danach durchsetzten. In Heidelberg waren schon seit der Jahrhundertwende die Grundlagen der modernen systematischen Psychopathologie entstanden, auf der die psychiatrische Nosologie des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus im Wesentlichen aufbaute.144 Ebenso zukunftsweisend wie in der Ausführung menschenverachtend war die Arbeit Carl Schneiders, der die Heidelberger Klinik während der NS-Zeit leitete. Er sah in seiner „Arbeitstherapie“ einen Beitrag zur Überwindung des „therapeutischen Nihilismus“, eine Forderung, an die die Reformer in den 1960er Jahren, allerdings ohne rassenhygienische Ausrichtung, wieder anknüpften.145 In den ersten Jahren des Untersuchungszeitraumes waren die Universitätskliniken sowohl in Heidelberg als auch in Gießen in bisweilen demonstrativer Abgrenzung zur Anstaltspsychiatrie von der phänomenologischen Psychiatrie geprägt. Deren Innovation war weniger unmittelbar therapeutischer Natur. Sie beinhaltete im Kontrast zur noch maßgeblichen biologischen Psychiatrie eine stärkere Berücksichtigung personaler und biographischer Aspekte.146 Dies hatte zur Folge, dass Krankenakten, die im Zuge dieser Ausrichtung entstanden waren, eine Fülle von Informationen über die Patienten enthalten, die in den zeitgenössischen 144 Emil Kraepelin, dessen Arbeit heute wieder breit rezipiert wird („Neokraepelianismus“) arbeitete in den 12 Jahren, in denen er die Klinik leitete, die Zweiteilung der Psychosen aus, in „Dementia Praecox“ (heute Schizophrenie) und das „Manisch-depressive Irresein“ (Heute Affektive Störungen). Siehe Hoff (2013), besonders die Abschnitte über dessen Heidelberger Zeit. S. 89–215. 145 Zu Carl Schneider in Heidelberg Rotzoll/Hohendorf (2012), S. 311–320. Zur SchneiderRezeption durch die Sozialpsychiatrie um 1970, siehe ebd., S. 311 und Dörner (1986). 146 Schott/Tölle (2006), S. 154–161.

58

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

Verwahranstalten niemals dokumentiert worden wären. Bezüglich der Gießener Klinik bringt man die phänomenologische Psychiatrie mit dem Namen ihres langjährigen Leiters Albrecht Derwort in Verbindung, in Heidelberg mit Kurt Schneider.147 Später waren es dann die Sozialpsychiatrie und die Einbeziehung der Psychotherapie in die psychiatrische Behandlung, die in den Universitätskliniken wesentlich schneller, zum Teil aber auch experimenteller etabliert wurden als anderswo. Kurt Schneiders Nachfolger in Heidelberg Walter Ritter von Baeyer war mit seinem Werk „Psychiatrie der Verfolgten“ maßgeblich am wissenschaftlichen Nachweis beteiligt, dass lang dauernde psychische Störungen durch belastende Lebensereignisse bedingt sein können.148 Mit traumatisierten ehemaligen KZ-Häftlingen beispielsweise, die man in den ersten beiden Jahrzehnten nach Kriegsende noch in anderen Kliniken als Hysteriker oder gar Simulanten betrachtete, wurde in Heidelberg entsprechend anders umgegangen. Unter von Baeyer war die Universitätspsychiatrie in Heidelberg mit ihrer sozialpsychiatrischen Abteilung auch das maßgebliche Modellprojekt der Psychiatriereform, bevor die Abteilung 1973 als Zentralinstitut für Seelische Gesundheit unabhängig wurde.149 Auch in Gießen war die Sozialpsychiatrie in den 1970er Jahren vertreten.150 Die Krankenakten aus diesen Jahren spiegeln deutlich all diese neuen Ansätze wieder: Sozialarbeiter und Psychologen arbeiteten mit den Psychiatern schon um 1970 zusammen und dokumentierten diese Arbeit auch. Andernorts sollte dies noch bis zu 20 Jahre und länger dauern.151 Für das Quellenkorpus bedeutet dies, dass der Entstehungskontext der Akten eine für den Untersuchungszeitraum untypische Situation darstellt. In einigen Belangen war das Erkenntnis- und Behandlungsinteresse der Ärzte und damit die Struktur der Krankenakten kaum repräsentativ für die zahlenmäßig dominierende Anstaltspsychiatrie der alten Bundesrepublik. Dies war zum Beispiel der Fall bei der hochtheoretischen phänomenologischen Psychiatrie oder bei der experimentellen Frühphase der Sozialpsychiatrie. In Bezug auf wesentliche Entwicklungen (sozialer Wandel und Psychiatriereform) war sie zwar zeitlich vorgezogen, aber in wesentlichen Bereichen repräsentativ für die folgende Entwicklung auch der restlichen Kliniken. Der Aussagewert des Quellenkorpus ist vor diesem Hintergrund der Universitätskliniken als psychiatrischer Avantgarde in Bezug auf den nachziehenden Restbereich einerseits zu relativieren. Andererseits ist festzuhalten, dass es sich bei den Universitäts147 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges leitete Kurt Schneider die Heidelberger Klinik, der wieder an die psychopathologische Tradition der Klinik anknüpfte. Auf Schneider geht nicht nur das Konzept der „psychopathischen Persönlichkeiten“ zurück, das die Grundlage für die Typologie der Persönlichkeitsstörungen bildete, sondern auch die sogenannten Erstrangsymptome der Schizophrenie, die wiederum beispielhaft für die Durchsetzung der operationalisierten Diagnostik seit den 1980er Jahren war. Zu Derworts phänomenologischen Arbeiten siehe: Zybowski (2009), S. 42 f., 63–67, 108, 123, 151. 148 von Baeyer/Häfner/Kisker (2013). 149 Häfner/Martini (2011), hier: S. 125 f. 150 So etwa in der Arbeit Erich Wulffs, siehe: Wulff (1977). 151 Bühring (2001).

1.6 Männlichkeit, Biopolitik und Medikalisierung

59

kliniken keinesfalls um isolierte Sonderbereiche gehandelt hat, sondern dass sie richtungsweisend auch für die restliche Psychiatrie waren. Folgende konkrete Fragen können unter den Vorbehalten, die sich aus den oben genannten quellenkritischen Einschränkungen ergeben, an das Material gestellt werden: 1. Lagen der diagnostischen und therapeutischen Arbeit der Psychiater im wissenschaftlichen Diskurs und aus den untersuchten Kliniken Männlichkeitsbilder zugrunde, die eine adäquate Versorgung der Männer behinderte? 2. Deuteten Psychiater Widerstand von Patienten gegen ihre Behandlung als Verkörperung bestimmter Arten von Männlichkeit? Geben die Akten darüber hinaus Auskunft über das Verhältnis von Therapietreue und Geschlechtshabitus der Patienten? 3. Bemühten sich die Patienten, die in diesen Kliniken behandelt wurden, grundsätzlich nicht eigenständig um ihre seelische Gesundheit? Welche Formen der Selbstheilung praktizierten sie andernfalls und wie wurde dies wiederum von Psychiatern gedeutet? 4. Spielten die Personen in den sozialen Beziehungsnetzwerken der Patienten eine Rolle als gesundheitliche Ressource oder als Risiko? Wie deuteten Ärzte in dieser Hinsicht das soziale Umfeld ihrer Patienten? 5. Sprechen die Ergebnisse aus den oben skizzierten Untersuchungen dafür, dass sich der Grad der Medikalisierung bzw. Psychiatrisierung von Männern im Untersuchungszeitraum erhöht hat? 1.6 Männlichkeit, Biopolitik und Medikalisierung Eine kohärente Theorie der Gesundheit von Männern – zu der man die psychische Gesundheit zählen müsste –, zumal eine, die Veränderungen im Laufe der Zeit beschreibt, existiert nur in Ansätzen. So wurden Teilstränge verschiedener Theorien zusammengeführt und unter der Bezeichnung „nachholende Medikalisierung“ als Arbeitsmodell zur Diskussion gestellt.152 Während gesamtgesellschaftlich betrachtet die Reichweite des öffentlichen Gesundheitswesens und gesellschaftlicher Gesundheitsnormen im Untersuchungszeitraum zunahm, haben die Spezifika der Konstruktion männlicher Geschlechtsidentität die Erfassung von Männern durch diese Prozesse im Vergleich zu Frauen verzögert. Seit ca. Mitte der 1980er Jahre (also gegen Ende des Untersuchungszeitraumes der vorliegenden Arbeit) schwindet der Rückstand, und das „Medikalisierungsdefizit“ der männlichen Bevölkerung beginnt, sich aufzulösen. Ein solches Modell ist im Grundsatz komparativ, die relationale Kategorie Mann-Frau ist elementarer Bestandteil. Eine Untersuchung müsste gleichermaßen Männer und Männlichkeit als auch Frauen und Weiblichkeit in Hinsicht auf Medikalisierung analysieren, um nachzuweisen, dass Männer im 152 Dinges (2016).

60

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

Vergleich zu Frauen „nachgeholt“ haben. Die vorliegende Arbeit kann unmittelbar also keinen Beitrag zur Überprüfung dieser Hypothese leisten. Mittelbar ist dies jedoch durchaus möglich. Die Arbeitshypothese lautet daher nicht, ob Männer im Vergleich zu Frauen aufgeholt haben, sondern, ob sich der Grad ihrer Medikalisierung bzw. Psychiatrisierung überhaupt erhöht hat. Im Folgenden sollen die in der vorliegenden Arbeit den verschiedenen Untersuchungsbereichen zugrundeliegenden theoretischen Konzepte beschrieben werden. Diese sollen dann in Hinsicht auf die verschiedenen Fragestellungen und auf das Medikalisierungskonzept einschließlich der foucaultschen Biopolitik miteinander in Bezug gesetzt werden. Im Wesentlichen wird es darum gehen, 1. die Männlichkeitstheorien von Bourdieu und Connell in ihrer körperpraxeologischen Dimension als geeignetes Erklärungsmodell für die alltagsgeschichtlichen Befunde der vorliegenden Arbeit darzulegen; 2. Connells Theorie der hegemonialen Männlichkeit als repressionstheoretisches Erklärungsmodell dahingehend zu erweitern, dass Männer trotz ihrer machtbezogenen Privilegierung im sozialen Feld der psychischen Gesundheit als Opfer struktureller Benachteiligungen beschrieben werden können, und 3. darzulegen, wo Männlichkeit zum Gegenstand der beiden großen historischen Gesundheitstheorien, namentlich Biopolitik und Medikalisierung, werden kann. Aufgrund der grundsätzlichen Körpernähe des Komplexes „Gesundheit“ wurde Männlichkeit durch die Männergesundheitsforschung bislang in dieser Hinsicht vor allem (körper)praxeologisch gedeutet, wie oben bereits beschrieben. Dies ermöglichte die Analyse von Alltagshandlungen, wie sie für eine patientenorientierte Perspektive unerlässlich ist. Darüber hinaus verband sie diese alltags- und körpernahe Ebene mit Beschreibungen des kollektiv vermittelten Sinns von Männlichkeit, wie er in der öffentlichen Kommunikation, in Medien, Erziehung oder Wissenschaft erscheint und von dort aus wiederum Einfluss auf gesundheitsbezogene Alltagspraktiken nimmt. Die theoretische Erfassung der psychischen Gesundheit hat sich bislang gerade im deutschsprachigen Raum eher in Rezeption der Arbeiten zu Männlichkeit des französischen Soziologen Pierre Bourdieu entwickelt.153 Angewandt wurde dessen Habituskonzept zunächst von praxisorientierten Forschern und für die Lehre in der Ausbildung von Sozialarbeitern, wie etwa durch den Soziologen Holger Brandes.154 Die Theorie der Männlichkeiten lehnt sich heute dagegen im Allgemeinen und insbesondere im angloamerikanischen Raum überwiegend an Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeiten an. Bordieu entwickelte das Habituskonzept, um eine theoretische Verknüpfung von objektiv beobachtbaren sozialen Strukturen und subjektiven Wahrnehmungen zu schaffen. Der Habitus ist bei Bourdieu Vermittlungsinstanz zwischen diesen beiden Ebenen. Menschen verkörpern durch ihren Habitus ihre jeweilige Position in der Gesellschaft; der Habitus ist der Teil des Körpers, der, obwohl er zu einer individuellen Person gehört, einen kollektiv erfahrba153 Bourdieu, Pierre (2005). 154 Brandes (2001); Brandes (2003), S. 10–13.

1.6 Männlichkeit, Biopolitik und Medikalisierung

61

ren Sinn ausdrückt.155 Ursprünglich beschrieb das Konzept die Verkörperung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, zum Beispiel zur Arbeiterklasse oder zum Bürgertum. Eine solche Zugehörigkeit wird Bourdieu zufolge durch körpernahe Praktiken wie Körperhaltung, Gesten oder auch durch die Kleidung an die Umwelt kommuniziert. Als Reaktion auf die wichtiger werdende Geschlechterforschung formulierte Bourdieu sein Habituskonzept in diese Richtung weiter aus. Auch das Geschlecht eines Menschen wird durch einen Habitus verkörpert. Ethnologische Beobachtungen zeigen, dass nicht bloß in Europa Männlichkeit und öffentliche Herrschaft in einem engen Zusammenhang zueinanderstehen. Dies veranlasste Bourdieu, zu zeigen, dass diese Macht durch einen spezifischmännlichen Habitus (der allerdings je nach Kontext sehr verschieden sein kann) gesellschaftlich kommuniziert und ermöglicht wird. Da auf der mikropolitischen Ebene die familialen Machtverhältnisse durch habituelle Verhaltensweisen von Männern und Frauen körpernah erzeugt werden, erwirbt der Inhaber eines männlichen Habitus auch öffentlich eine gewisse Autorität. Die Ausübung von Macht durch Menschen mit einem männlichen Habitus wird so auf kollektiver gesellschaftlicher Ebene, z. B. in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft naturalisiert. Der männliche Habitus besteht also aus verinnerlichten körpernahen Praktiken, die die Ausübung von Macht ermöglichen. Individuen in gesellschaftlichen Gruppen lesen diese Praktiken als „spezifisch-männliche“ Eigenschaften. Auch wenn sie sich je nach Kultur erheblich unterscheiden können, entstammen sie kulturübergreifend vergleichbaren tiefenpsychologischen Strukturen. Eigenschaften wie Konkurrenzorientierung, Explorationsdrang, körperliche Kraft oder Dominanz in der Gruppe gelten in vielen Kulturen als Bestandteile eines männlichen Habitus.156 Michael Meuser arbeitete das Konzept in jüngerer Zeit für die Männlichkeitenforschung aus, die auch im deutschsprachigen Raum entstand. Er identifizierte einige grundlegende Praktiken der Männlichkeit und ordnete diese ihrer Funktion nach folgendermaßen an: 1. Aktive Disidentifikation mit Frauen zur Herstellung von Geschlechterdifferenz, 2. Identifikation mit Leitmännlichkeiten und homosozialer Konkurrenzkampf um die Ressourcen zur Verkörperung der jeweils dominierenden Männlichkeiten, 3. Emotionale Distanz zu Männern und daraus resultierende Abhängigkeit von emotionaler Zuwendung von Frauen, 4. Externalisierung von Wahrnehmung und Verhaltensweisen.157 Meuser teilte die Praktiken der Männlichkeit entlang von zwei Ebenen auf, der heterosozialen und der homosozialen Ebene. Auf der heterosozialen Ebene der Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zielen diese Praktiken auf die Herstellung und Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Differenz

155 Fuchs-Heinritz/König (2011), S. 112 ff. 156 Bourdieu (2005), S.156. 157 Meuser (2010), S. 121.

62

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

zwischen Männern und Frauen. Weiterhin sollen sie durch ebendiese Differenz die Macht von Männern über Frauen erzeugen. „Eine Konzeption des männlichen Geschlechtshabitus muß mithin sowohl berücksichtigen, wie Mannsein in Abgrenzung von Frausein sich konstituiert (Dimension der Differenz), als auch, wie in der Herstellung der Differenz männliche Dominanz entsteht (Dimension der Ungleichheit).“158

Beide Dimensionen – Differenz und Ungleichheit – sind kaum zu trennen, denn Dominanz wird durch Differenz hergestellt. Hierbei tritt ein weiteres Strukturelement auf: Um als männlicher Habitus wirksam zu sein, muss die Tatsache verborgen werden, dass die Ausübung der Macht erst durch die Herstellung der Geschlechterdifferenz möglich wurde. Es bleibt festzuhalten, „daß die Invisibilisierung des Geschlechtlichen im Handeln von Männern ein entscheidendes Merkmal und mithin Bestimmungselement des männlichen Habitus ist.“ 159 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist nun von Bedeutung, dass Menschen sich auch gesundheitsbezogener Handlungen bedienen, um Geschlecht zu verkörpern. Wenn etwa eine gute Behandlungsbereitschaft, Gesundheitspflege und das Annehmen von Hilfe durch Freunde und Angehörige gesellschaftlich als weiblich codiert sind, lässt sich Männlichkeit hierdurch schwer verkörpern. Da sich die Verkörperung von Männlichkeit zudem teilweise im Rahmen eines mann-männlichen Konkurrenzkampfes abspielt, können viele männliche soziale Kontakte als Gesundheitsressource entfallen. Die verschiedenen Arten und Weisen der Beziehungen zwischen Männern während der Herstellung der Geschlechterdifferenz waren für Bourdieu dabei weniger von Interesse als für Raewyn Connell. Deren Konzept der hegemonialen Männlichkeit stellt die mann-männlichen Machtverhältnisse in den Mittelpunkt. Die komplexen Vorgänge innerhalb der männlichen Binnenhierarchie sind für Connell das generative Prinzip, durch das letzten Endes auf gesamtgesellschaftlicher Ebene verbindliche Leitbilder von Männlichkeit entstehen. Wie bei Bourdieu haben diese Vorgänge auch auf der individuellen Ebene eine körpernahe, also praxeologische Dimension.160 Die stetige habituelle Reproduktion der Differenz und Ungleichheit zu den Frauen erzeugt laut Connell auch die gerade erwähnten Hierarchien innerhalb der Gruppe der Männer. Männer, die die jeweils akzeptierten männlichen Praktiken am konsequentesten ausüben, verkörpern dadurch bestimmte Leitmännlichkeiten, die sie in Anlehnung an den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci „Hegemoniale Männlichkeiten“ nannte. Die Bourgeosie bei Gramsci sichert sich trotz offensichtlicher Ungleichheit und Ausbeutung die Legitimität und Akzeptanz der restlichen Bevölkerung durch eine Art kulturell vermittelte Manipulation. Für Connell sind es bestimmte Männer, die es kraft der Verkörperung der jeweiligen Männlichkeitsleitbilder, also der „hegemonialen Männlichkeiten“, schaffen, dass ihre Dominanz von den restlichen Männern und 158 Meuser (2010), S.121 f. 159 Meuser (2010), S. 122. 160 Connell/Messerschmidt (2005), besonders S. 851 f.

1.6 Männlichkeit, Biopolitik und Medikalisierung

63

Frauen trotz offenkundiger Ungerechtigkeiten nicht hinterfragt wird.161 Connells Hegemonie bezieht ihre Überzeugungskraft dabei wesentlich aus der Heterosexualität.162 Die Partizipation an hegemonialer Männlichkeit ermöglicht Macht durch sexuelle Attraktivität, die zur (knappen) Ressource all der Männer wird, die Frauen begehren. Wer diese Ressourcen nicht dauerhaft, sondern nur partiell erlangen kann, der beteiligt sich „komplizenhaft“ an dem Machterhalt der hegemonialen Männer, um, wenn schon nicht die Hegemonie, so dann wenigstens partielle Teilhabe an der Macht zu erlangen. Völlig ausgeschlossen von der Partizipation an dieser Form der Macht sind „untergeordnete Männer“. Diese können (oder wollen) nicht hinreichend die Praktiken der Geschlechterdifferenz verkörpern, weil sie beispielsweise offen sexuell an Männern orientiert sind oder sich in ihrer Geschlechtsidentität nicht als Männer fühlen. Der vierte Connell’sche Männlichkeitentyp wird von den „marginalisierten Männern“ gebildet. Diese besitzen den Willen, jedoch nicht die Ressourcen, um an hegemonialer Männlichkeit zu partizipieren, sind aber auch nicht in der Position, sich wie die „komplizenhaften Männer“ teilweise daran zu beteiligen. Zum Ausgleich behaupten sie dennoch einen Anspruch auf männliche Herrschaft. Sie legen selbst einen eigenen Referenzrahmen für attraktive Männlichkeit fest und versuchen, diesen protestartig und in Opposition zur etablierten männlichen Hierarchie zu behaupten.163 Connells Modell ermöglicht es, die Ebene der einzelnen Praktiken der Herstellung von Männlichkeit auf der Ebene der Körper mit anderen Bereichen zu verbinden, in denen Männlichkeit eine Rolle spielt. Insbesondere wenn es um kulturelle Repräsentation von Männlichkeit in Medien, Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft geht, trägt es. Dies war zwar schon in Ansätzen bei Bourdieu der Fall, jedoch berücksichtigte dieser nicht hinreichend die Dynamik der Verhältnisse zwischen Männern und das Wirken verschiedener Männlichkeiten im größeren gesellschaftlichen Gefüge. Gerade zur Analyse des Diskurses um gesunde und kranke Männlichkeit in der Psychiatrie ist Connells Typologie der Männlichkeiten ein wichtiges Analyseinstrument. Dies gilt umso mehr, als im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit die Repräsentation von Gesundheit und Männlichkeit, Krankheit und Weiblichkeit weit überwiegend in der Hand einer Gruppe hegemonialer, bürgerlicher Männer, nämlich der Psychiater, lag. Zwar herrscht heute vielfach die funktionalistische Lesart des Konzeptes der hegemonialen Männlichkeit vor, die annimmt, dass diese sich in jedem Kontext neu konstituiert. Es gibt demzufolge also eine unbegrenzte Anzahl von Männlichkeiten, die sich lediglich in ihrer Funktion, der Herstellung von Ungleichheit, entsprechen. Dagegen hat Connell selbst eine Theorie der historischen Entstehung hegemonialer Männlichkeit formuliert, in der diese seit Jahrhunderten identische Kerneigenschaften besitzen soll.164 Trotz einer scheinbaren Bevorzugung 161 162 163 164

Meuser (2010), S. 101, 107. Meuser (2010), S. 102. Connell/Messerschmidt (2005), S. 843. Siehe Dinges (2005), S. 14–35.

64

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

der Funktionsdimension setzt Connells Konzept also auch eine historische Einordnung der Geschichte von Männern voraus. Auch deshalb ist es für die vorliegende Arbeit relevant. In Hinsicht auf die Einordnung dieser Arbeit bestehen allerdings einige Eigenschaften des Connell`schen Modells, die einer Einschränkung bedürfen, die über die Kritik an einzelnen Aspekten hinausgeht. Wie im vorangegangenen Abschnitt zum Forschungsstand der Männlichkeitengeschichte ergeben sich diese Vorbehalte im Wesentlichen daraus, dass die „Hegemoniale Männlichkeit“ ein machttheroretisches Konzept ist, das sich in Pfadabhängigkeit repressionsorientierter Geschlechtertheorien bewegt. Diese sind für zahlreiche Bereiche, gerade in den Diskussionen um politische Macht, eine geeignete Herangehensweise. Auch für die vorliegende Arbeit ist die Connell’sche Terminologie unabdingbar. Untergeordnete Männlichkeit erklärt Aspekte der Repräsentation von Schwulen, Bi- und Transsexuellen (SBT). Auch das Konfliktpotential im Zuge männlichkeitsbezogener Marginalisierung von Jungen, Migranten oder sozial Schwachen, wie sie – und dies ist wesentlich – ebenso in der Psychiatrie erfolgte, lässt sich damit in einen übergeordneten Zusammenhang bringen.165 Die machttheoretische Engführung vermag jedoch wesentliche Dimensionen der Gesundheit von Männern nicht zu erfassen. Anders als etwa Bourdieu schließt Connells Modell schon durch die Typologie der männlichen Binnenhierarchie diejenigen Aspekte des Verhaltens von Männern aus, die nicht durch geschlechtsbezogene Macht erklärbar sind. In Abschnitt 2.2.5 der vorliegenden Arbeit werden z. B. Belege dafür vorgelegt, dass Männer sich aus völlig anderen Gründen als wegen ihrer Geschlechtsidentität gegen Behandlung wehrten. Möglicherweise verwendeten eine Vielzahl von Männern beträchtliche Energie darauf, selbstständig nach Wegen zur Gesundung zu suchen, ohne dabei nach der patriarchalen Dividende zu streben. Umgekehrt wurde möglicherweise eine beträchtliche Anzahl von Männern trotz aller Insignien der hegemonialen Männlichkeit Opfer von Missbrauch und Gewalt in manchen Fällen durch Frauen. Dass letzteres keineswegs selten vorkommt, ist, wie oben gezeigt, keine Tatsache, die im Rahmen der Männlichkeitenforschung übersehen wird. Die Connell’schen Männlichkeitstypen bedienen sich – wie andere praxeologische Modelle auch – Metaphern, die eine bewusste und individuelle Intention derjenigen Akteure suggerieren, die die jeweiligen sozialen Praktiken ausüben. Gerade die ist damit jedoch nicht gemeint. Praktiken sind vielmehr mehrheitlich unbewusst und häufig Fehlleistungen, da sie ihrer ursprünglichen bewussten Intention nach völlig andere Dinge bezwecken. Connells Modell schließt dies alles nicht aus. Das Problem besteht also nicht darin, dass hegemoniale Männlichkeit die Komplexität und Vielfalt männlicher Erfahrung grundsätzlich nicht zu erfassen vermag. Dennoch geraten über dem machttheoretischen Erkenntnisinter165 Gerade die als Abweichungen wahrgenommen, nicht-hegemonialen Männlichkeiten ermöglichen durch ihre Subalternität Aussagen über Männer und Männlichkeit im Allgemeinen. Siehe auch Dinges (2004), S. 81 f.

1.6 Männlichkeit, Biopolitik und Medikalisierung

65

esse diejenigen Eigenschaften von Männern aus dem Blick, die sie nicht zu Rädern im Getriebe der männlichen Herrschaftssicherung machen. In seiner gegenwärtigen Verwendung wird der Untersuchungsgegenstand außerhalb der Analysekategorien von Herrschaft und Komplizentum nicht erfasst.166 In ihrer klassischen Form würde hegemoniale Männlichkeit keinen hinreichend differenzierten Rahmen bieten, in dem die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit in eine Theorie der Männergesundheit einfließen könnten. Nun dürfte es, wenn überhaupt, nur sehr wenige Männer geben, die „hegemoniale Männlichkeit“ in Reinform verkörpern. Die Anzahl „untergeordneter“ Männer dürfte viel größer sein, ebenso gibt es stets „marginalisierte Männer“. Den zahlenmäßig bei weitem größten Anteil von Männern in einer modernen Gesellschaft bilden jedoch „komplizenhafte Männer“. Die Frage, ob „hegemoniale Männlichkeit“ etwas mit dem Zustand der Gesundheit von Männern (der während des Untersuchungszeitraumes nachgewiesenermaßen noch schlechter war als heute) zu tun hat, liegt zweifellos nahe. Aber es ist fraglich, ob die überwiegende Mehrheit von Männern (Mit)täter an einem Gewaltakt sind, der sich hauptsächlich gegen den weiblichen Teil der Bevölkerung wendet, solange letzterer in eben dieser Hinsicht nach gegenwärtigem Forschungsstand strukturell begünstigt ist. Der Einwurf, dass durch die Terminologie lediglich Konnotationen evoziert, keine tatsächlichen Intentionen der Akteure behauptet werden, vermag diesen Kritikpunkt nicht zu widerlegen. Denn diese Tatsache hat offenbar keinerlei Einfluss auf die Arbeiten, in denen Connells Konzept zur Anwendung kommt. Diese verbleiben weiterhin in einseitigen Fragestellungen. Diese Widersprüche erfordern eine Revision des Vokabulars, die Connells Modell erst für die vorliegende Arbeit verwertbar macht. „Hegemoniale Männlichkeit“ wird im Folgenden nicht vorrangig in ihrer Verwendung als generatives Prinzip von sozialer Ungleichheit verstanden, also als Repression, sondern als historisch gewachsene Kern-Leitmännlichkeit der europäischen Moderne verwendet, wie sie etwa dem psychiatrischen Diskurs zugrunde liegt. Als solches kann es mit den medizinischen Normen, den psychiatrischen Klassifikationssystemen aber auch den Vorstellungen von normaler Männlichkeit in Bezug gesetzt werden, die Psychiater alltäglich in eine Behandlung mit einbrachten. Für die Frage nach dem Gesundheitshabitus von Männern bietet sich jedoch eine Anlehnung an Bourdieus Körperpraxeologie an. Der männliche Habitus wiederum vermag auf der Ebene der Körper bis hin zu den Wahrnehmungen und Gefühlen erklären, wie Männlichkeit unter den Bedingungen 166 Dinges kritisiert in diesem Zusammenhang zu Recht Connells, ans Mechanistische grenzendes Körperverständnis, das die emotionale und psychische Aspekte solcher Prozesse nicht zu repräsentieren vermag. Auch wenn sie, wie Bourdieu auch, zur Erklärung der Genese der Männlichkeit auf psychoanalytische Vorstellungen zurückgreift, bleibt die Einbeziehung sozialpsychologischer Faktoren ohne Konsequenzen für Connell, die eine durchwegs sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Theorie der Männlichkeit entworfen hat. Zur Kritik an der Nichtbeachtung psychologischer Grundlagen im Sozialverhalten von Männern durch die Soziologie und Kulturwissenschaften, siehe Dinges, Sociologia (2013), S. 232.

66

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

der Erkrankung bzw. der Psychiatrisierung oder Internierung in einer Klinik erzeugt wird. Werden Gesundheitstheorien in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang diskutiert, der auch dynamische, prozesshafte Veränderungen thematisiert, dann kommt häufig Foucaults Konzept der Biopolitik oder Biomacht ins Spiel – zumindest, solange das Erkenntnisinteresse vornehmlich ein diskursanalytisches ist. Sozialhistorisch wird das mehr strukturgebundene Konzept der Medikalisierung hinzugezogen.167 In beiden Konzepten spielt Geschlecht eine wichtige Rolle. Sexualität und Geschlechtsidentitäten beispielsweise bilden das Dispositiv für die biopolitischen Prozesse.168 Heteronormativität ist genuines Interesse der Biomacht, die so bis in die jüngere Zeit das Wachstum der Bevölkerung vorangetrieben hat, indem sie die bipolare Geschlechterordnung zur verbindlichen Norm machte. Die Erfassung möglichst großer Bevölkerungsteile unter die effizienz- und produktivitätssteigernde Logik ist auch im Konzept der Medikalisierung wesentliche Triebkraft.169 Daher erfolgt eine umfassende Medikalisierung auch zunächst durch die Erschließung des Potentials der Frauen unter dem Aspekt der Reproduktion.170 Diese Prozesse erzeugen spezifische Gesundheitsnormen, die die Geschlechter in verschiedenem Ausmaß betreffen. Die forcierte Medikalisierung der Frau bewirkt, dass Gesundheitsnormen auf sie einen besonderen Druck ausüben, sich gesundheitsbewusst zu verhalten. Dies hat auch zur Folge, dass Frauen als besonders schwach, gefährdet und potentiell krank repräsentiert werden.171 Die Repräsentation im Diskurs ist hier somit das subjektive Korrelat der sozialen Strukturen. Das Konzept der Biopolitik erklärt die Geschlechterspezifik bei der Verfügbarmachung von Individuen anders, nämlich ausgehend vom Gesundheitsdiskurs. Die Gesundheitsnormen sind ihrem Ursprung nach bürgerlich, männlich und cis-heterosexuell, konstituieren können sie sich nur in Abgrenzung vom Subalternen, durch das sie sich kontrastiv definieren, nämlich als weiblich und von niederer Herkunft. Dieser Diskurs materialisiert sich etwa in bildlichen Repräsentationen von Gesundheit, die bis in die jüngere Vergangenheit zuverlässig die Form weißer männlicher Körper angenommen haben.172 Diese binäre Opposition im Gesundheitsdiskurs bestimmt vor allem auch die Gestalt der psychischen Gesundheit. Das Bild des arbeitsfähigen, bürgerlichen, cis-heterosexuellen Mannes setzt die Grenze für den Bereich eines als gesund definierten Geistes und Gemütes fest, jenseits der die unkontrollierten Affekte, die Irrationalität und die Hysterie beginnen. Dies bedeutet 167 168 169 170

Bliemetsrieder (2016), besonders S. 277–301; Eckart/Jütte (2007), S. 312–318. Kuhlmann/Kollek (2002), S. 155–168. Frevert (1984), 13, 24 ff., 116 ff. Hierzu gibt es eine Vielzahl von Arbeiten, siehe zum Beispiel: Metz-Becker (1997); Dinges (2007), S. 295–322; Maschewsky-Schneider (1996), S. 7–18; Seidel (1998). 171 Fischer-Homberger (1979); Honegger (1991). 172 Hartmann/Klesse/Wagenknecht/Fritzsche/Hackmann (2007); Anhorn/Bettinger/Stehr (2007).

1.7 Methodische Anmerkungen

67

jedoch, dass im biopolitischen Diskurs kranke hegemoniale Männlichkeit im Gegensatz zur kranken Weiblichkeit nicht repräsentiert werden kann. Als krank kann nur der Mann wahrgenommen werden, dem die Differenz zur Weiblichkeit abhandenkommt und der daher eine untergeordnete Männlichkeit verkörpern muss. Wer marginalisierte Männlichkeit verkörpert, der gilt im besten Falle als pathologischer Gesetzesbrecher oder moralisch Schwachsinniger, in jedem Fall behält die Strafjustiz die Hauptzuständigkeit, nicht die Medizin. Diese Diskurse hatten sicherlich auch Konsequenzen für die Realität, sowohl für die Versorgung als auch für den realen Gesundheitszustand von Männern. Hierzu kann eine Diskursanalyse freilich nichts beitragen, im Gegensatz zu sozialhistorischen Zugriffen. Diese vermögen die Tatsache abzubilden, dass neben dem Diskurs auch das reale Ausmaß der Erfassung von Männern durch die Psychiatrie seit Beginn der Industrialisierung zunächst geringer gewesen ist als das der Frauen. Diese Tatsache mit Daten zu Gesundheitszustand und Lebenserwartung in Bezug zu setzen, vermögen diskursanalytische Ansätze nicht zu leisten.173 Im Gegensatz zum Modell der Biopolitik, das Gesundheit als normatives Produkt eines repressiven Diskurses zu dekonstruieren versucht, hält das Medikalisierungskonzept also am Gesundheitsbegriff fest. Dadurch ergibt sich auch ein anderer Blick auf mögliche soziale Ungleichheiten. Für die Diskursanalyse ist das Subalterne das unterdrückte Wesen, der Mann also per definitionem nicht. Mit dem Medikalisierungskonzept kann hingegen die Tatsache, dass Männer früher sterben, als soziale Ungleichheit verstanden werden. Durch den geringeren Grad an Medikalisierung erhalten sie auch eine schlechtere Gesundheitsversorgung. 1.7 Methodische Anmerkungen Bis auf den Abschnitt 2.1 über den psychiatrischen Diskurs werden, von punktuellen Ergänzungen abgesehen, die Fragen anhand des Quellenkorpus der Patientenakten untersucht. Methodisches Instrument ist hier die qualitative Inhaltsanalyse. Zur Beantwortung der Frage nach Partizipation oder Widerstand an der psychiatrischen Behandlung werden Textstellen identifiziert und analysiert, in denen Widerstand gegen die Behandlungsroutine in der Klinik dokumentiert wurde. Dabei wurden Dokumententypen ärztlicher und nicht ärztlicher Provenienz aus den Akten einbezogen. Die Passagen wurden daraufhin untersucht, ob und ggf. welche Praktiken der Männlichkeit als wesentlicher Be-

173 Zu Möglichkeiten und Grenzen der Diskursanalyse für die Erforschung der Geschichte der Gesundheit von Männern, siehe Dinges (2004), S. 71–96. Zur zeitlichen Differenz der Erfassung von Männern durch die öffentliche Gesundheitsfürsorge im Vergleich zu Frauen siehe: Dinges, Entdeckung (2017, Im Druck).

68

1. Grundlagen der Geschichte von psychischer Gesundheit und Männlichkeit

standteil der Widerstandshandlungen notiert wurden.174 Unter Widerstand wurden alle Verhaltens- aber auch Wahrnehmungsweisen175 von Patienten verstanden, die die Wiederherstellung des (ärztlich verstandenen) Zustandes der psychischen Gesundheit behinderten oder die Behandlungsroutine störten. Als Beispiele seien hier genannt: 1. Die offen geäußerte, teilweise oder vollständige Ablehnung der psychiatrischen Zuschreibung des eigenen Zustandes als „abnorm“ oder „krank“.176 2. Die Verweigerung der Teilnahme von therapeutischen Maßnahmen, Medikamenten und Therapiesitzungen. 3. Verstöße gegen die Aufenthaltsbestimmungen und Stationsregeln in der Klinik, z. B. gegen die Abwesenheitsvereinbarungen, Nachtruhe, Alkohol- oder Drogenverbote. Als Praktiken der Männlichkeit galten solche Ereignisse dann, wenn sie erkennbar a) auf die Aufrechterhaltung der Verkörperung von hegemonialer Männlichkeit zielten, b) der protesthaften Bekräftigung eines Anspruches auf hegemoniale Männlichkeit dienten (marginalisierte Männlichkeit).177 Zur Beantwortung der Frage nach den Bewältigungsstrategien wurde folgende Definition für Beschreibungen von Handlungen der Selbstheilung in den Akten zugrunde gelegt: Eine solche gilt als gegeben, wenn in der medizinischen Dokumentation oder in Selbstzeugnissen von Patienten oder Angehörigen erwähnt wurde, dass ein Patient unabhängig von Psychiatern Handlungen beging, die der Bewältigung seelischen Leides dienten. Als seelisches Leid wurden nicht bloß die psychiatrisch beschreibbaren Symptome aufgefasst. Es fallen darunter alle in einem Zusammenhang mit Wahrnehmung und Verhalten stehenden Zustände, die der Patient als Leid empfand und durch die er einen Leidensdruck verspürte, der ihn zu den Handlungen bewegte, die der Selbstheilung dienen sollten. Die Untersuchung der Bedeutung des sozialen Umfeldes richtete sich nach folgenden Kriterien: Analysiert wurden Textstellen in der ärztlichen Dokumentation sowie in den restlichen Dokumenten, die beschreiben, wie Akteure im sozialen Umfeld das seelische Leid ihrer Angehörigen beeinflussten. Ob es sich um eine Beeinflussung der seelischen Gesundheit handelte, hing von der Perspektive des jeweiligen Akteurs ab – sei es des dokumentierenden Arztes, der Angehörigen oder der Patienten. Diese Untersuchung wurde ergänzt durch eine Analyse der Häufigkeit, in der bestimmte Angehörige, etwa Ehepartner, Geschwister etc. als Verbindungspersonen fungierten. 174 Praktik der Männlichkeit richtet sich hier nach dem Verständnis von Michael Meuser, wie im Theorieabschnitt beschrieben. 175 Die (sofern möglich ärztlich beobachtete) Subjektivität eines Patienten kann in diesem Kontext Widerstand sein, zum Beispiel bei anhaltender „fehlender Krankheitseinsicht“. 176 Insbesondere dieser Punkt zeigt: Gemeint ist hier auch der Widerstand, der von Ärzten als Teil der Behandlung, vielleicht sogar der Diagnose betrachtet wurde, also gewissermaßen mit eingeplant war. 177 Hinreichendes Kriterium ist nicht, dass eine Intention eines Patienten nachgewiesen war, mit seinem Widerstand männlich zu sein. Die Handlungen werden praxeologisch aufgefasst, entscheidend ist die kollektiv sinnstiftende Funktion als Männlichkeitspraktik, die als solche in der Mehrheit der Fälle vielmehr nicht bewusst ist.

1.7 Methodische Anmerkungen

69

Die Bearbeitung des ersten Fragekomplexes nach Männlichkeitskonzepten im psychiatrischen Diskurs beruht auf anderen Quellen und ist auch methodisch verschieden. Zunächst wird anhand der einschlägigen männlichkeitshistorischen Sekundärliteratur ein Idealtyp der hegemonialen Männlichkeit zu Beginn der Bundesrepublik rekonstruiert. Daraufhin werden verschiedene Informationsquellen, namentlich Sekundärliteratur, zeitgenössische Publikationen aus der Psychiatrie und verwandten Disziplinen, psychiatrische Klassifikationswerke und Statistiken auf ihre Beeinflussung durch Vorstellungen von hegemonialer Männlichkeit analysiert. Dies soll im wechselseitigen Bezug zu quantitativen Daten sowie anhand von Fallbeispielen aus dem Korpus der Patientenakten erfolgen. Im Gegensatz zu den restlichen Kapiteln, die alle den gesamten Untersuchungszeitraum behandeln, gliedern sich die Unterkapitel hier in zwei Zeitabschnitte, erstens vor 1970 (2.1.2 bis 2.2.5) und zweitens 1970 bis 1993 (2.1.6 bis 2.1.9). Dies bezieht sich auch auf das Quellenkorpus. Bis 1970 enthält dieses 362-, nach 1970 bis 1993 319 Patientenakten. In den restlichen Abschnitten wurden alle 681 Krankengeschichten einbezogen. Die quantitativ darstellbaren Ergebnisse der Inhaltsanalyse werden jeweils am Ende der Kapitel in einer Tabelle zusammengefasst. Die Gesamtzahl aller Akten in den Tabellen, die eine bestimmte Aussage belegen, setzen sich zusammen aus der Anzahl der Akten, die im Text in den entsprechenden Passagen in den Fußnoten stehen sowie weiteren Akten, die lediglich in aggregierter Form erhoben wurden. Um ein Beispiel zu nennen: Am Ende des Abschnittes 2.3.5 wird in einer Tabelle aufgeführt, dass bei insgesamt 65 von 681 Patienten pathogene Arbeitsbedingungen im Beruf dokumentiert wurden. 35 dieser Fälle wurden an verschiedenen Stellen in den Fußnoten mit der Aktennummer aufgeführt. Die restlichen 30 Fälle sind lediglich in summierter Form aufgeführt. Von den 35 in den Fußnoten zitierten Akten dienen wiederum lediglich 16 zum Nachweis konkreter Zitate im Fließtext. Diese Dreiteilung ist der Tatsache geschuldet, dass es einerseits weder aus arbeitsökonomischennoch aus Gründen der Lesbarkeit sinnvoll wäre, den Fußnotenapparat mit umfangreichen Aktenlisten zu belasten. Auf der anderen Seite soll mit der Nennung einer Vielzahl von Verweisen auf weitere konkrete repräsentative Beispiele ein zusätzliches Element der Nachvollziehbarkeit geschaffen werden. Dieses ist auch angesichts der Tatsache sinnvoll, da beide Bestände, sowohl der Heidelberger als auch der Gießener, Gegenstand andauernder Forschungstätigkeit ist.

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten 2.1 Psychopathologie, Soziales Funktionieren und Männlichkeiten Die Texte der psychiatrischen Nosologie sind in der Vergangenheit diskursanalytisch untersucht worden, der Fokus lag dabei auf der Pathologisierung von Weiblichkeit. Im folgenden Abschnitt soll diese Sichtweise anhand einer kursorischen Lesart von Geschlecht in den verschiedenen Klassifikationstexten ergänzt werden. In den 45 Jahren des Untersuchungszeitraumes zwischen 1948–1993 waren zur statistischen Erhebung der in den psychiatrischen Universitätskliniken Heidelberg und Gießen behandelten Fälle vier Klassifikationssysteme in Geltung. Nach Kriegsende blieb zunächst der 1933 verabschiedete sogenannte „Würzburger Schlüssel“ in Gebrauch. Der Würzburger Schlüssel spiegelte konzeptionell die klassische deutsche Psychiatrie wider und bestand aus einer eher groben Auflistung von Grundkategorien ohne differenzierte Aufschlüsselung.1 Er wurde 1971 in Westdeutschland durch die 8. Version der International Classification of Diseases (ICD-8) ersetzt. 1979 folgte die 9. Version der ICD, 1991 die 10. Version.2 Die Klassifikationen erhoben damals wie heute im Wesentlichen den Anspruch, ein universell anwendbares Hilfswerk für die Diagnose zu sein. Es sollte also für Angehörige beider Geschlechter (sowie Angehörige aller Klassen) gelten. Explizit tauchte Männlichkeit in den Texten der Klassifikationssysteme daher lediglich in Ausnahmen auf. Eine dieser Ausnahmen war, dass die Kataloge Störungen auflisteten, deren Wesen durch die gewählten Bezeichnungen und den weiteren assoziativen Kontext mögliche Informationen über den Aspekt Geschlecht liefern können. Es überraschte nicht, dass dies vor allem bei solchen Einträgen der Fall war, die Sexualität und Geschlechtsidentität betrafen. Tendenziell ließ sich dabei feststellen, dass im Laufe der Zeit mit der Geschlechterdifferenz auch die Männlichkeit mehr und mehr aus den Begriffen verschwand. Von den Begriffen, die direkt durch ihre Namen auf Männlichkeit verweisen, ist heute nur noch die „Ejaculatio Praecox“, der vorzeitige Samenerguss, übrig. Die noch bis zur ICD-9 allein auf Männer bezogene „Impotenz“ 3 wurde im ICD-10 zum „Versagen genitaler Reaktion“,4 das sowohl Männern als auch Frauen diagnostiziert werden kann. 1 2

3 4

Balz (2010), Wirkung, S. 506. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013). Das „DIMDI“ hat auf seiner Internetpräsenz die historischen Klassifikationssysteme unter einer eigenen Adresse veröffentlicht: https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/ historie/icd-vorgaenger/index.htm. Diese Adresse sowie alle folgenden einschließlich der im Literatur- und Quellenverzeichnis verzeichneten wurden zuletzt erfolgreich aufgerufen am 21.06.2017. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-9: 302,7. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2016), ICD10-GM: F52,2

2.1 Psychopathologie, Soziales Funktionieren und Männlichkeiten

71

In den früheren Klassifikationssystemen wurde Devianz im Sexualverhalten bzw. in der Geschlechtsidentität für die beiden Geschlechter ebenfalls unterschiedlich bezeichnet. So nannte man mann-männliche sexuelle Aktivität in der ICD-8 „Uranismus“ oder „Sodomie“ 5, in der ICD-9 „Sodomie“.6 Mit der „Päderastie“ 7 (ICD-8) existierte auch eine eigene Bezeichnung für das Begehren von Jungen durch erwachsene Männer. Für eine als krankhaft angesehene gesteigerte sexuelle Aktivität von Männern gab es ebenfalls einmal ein eigenes Wort, die „Satyriasis“ (ICD-8).8 Spätestens mit der weitgehenden Entpathologisierung der Homosexualität seit dem ICD-10 waren die spezifisch auf Männer bezogenen Störungsbilder verschwunden. Auch die „Päderastie“ wurde unter die geschlechtsneutrale „Pädophilie“ 9 gefasst. Die anderen Krankheitsbegriffe waren also geschlechtsneutral konzipiert. Sie gaben nicht über ihr Denotat, die nosologischen Konzepte, preis, dass ein bestimmtes Geschlecht eindeutig eher gemeint war als ein anderes – sehr wohl jedoch über die Konnotate und evozierten Assoziationen ihrer Begriffe und die in den Symptomlisten aufgeführten Verhaltensweisen. Die gesundheitlichen und sozialen Probleme, die durch den Konsum psychoaktiver Substanzen, allen voran des Alkohols, entstanden, wurden von jeher mit Männern assoziiert. Das gleiche gilt für die sogenannten Kriminalitätsdiagnosen, „Asozialer Defekt“ (ICD-8),10 „Persönlichkeitsstörung mit vorwiegend soziopathischem oder asozialem Verhalten“ (ICD-9)11 sowie „Dissoziale Persönlichkeitsstörung“ (ICD–10).12 Auch die sogenannte „Haftreaktion“, psychische Ausnahmezustände unter Strafgefangenen13 fällt darunter. Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes, als Militärdienst vollständig, Erwerbsarbeit und Prozessieren vor Gericht größtenteils Männersache war, mussten auch die „Kriegsneurose“, die „Rentenneurose“ und der „Querulantenwahn“ auf Männer bezogen sein. Ähnliches gilt für die meisten Diagnosen, die strafrechtlich verbotene Sexualpraktiken pathologisierten, wie „Exhibitionismus“,„Voyeurismus“ und praktizierte „Pädophilie“ bzw. „Päderastie“.14 Ebenso wie solche scheinbar geschlechtsneutralen Männerkrankheiten existierten auch Krankheitskonzepte mit ausgesprochen weiblichen Konnotationen. Diese dienten wiederum der Herstellung hegemonialer bzw. marginali5 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-8 West, S. 239. 6 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013) ICD-9: 302,1. 7 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-8 West, S. 239. 8 Ebd. 9 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2016), ICD10-GM: F65,4. 10 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-8 West, S. 238. 11 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-9: 301,7. 12 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2016), ICD10-GM: F60,2. 13 Würzburger Schlüssel nach Balz (2010), S. 506. 14 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-8 West S. 239, sowie: ICD-9: 302,3 f.

72

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

sierter Männlichkeit durch „Othering“, nicht nur von Frauen, sondern auch ex negativo von bestimmten Männern. Offenkundig diente z. B. die Hysterie diesem Zweck, die ihre ursprüngliche konzeptuelle Verbindung mit Weiblichkeit noch durch Verweise auf die Gebärmutter im Namen trug, aber dennoch auch bei bestimmten Männern zur Anwendung kam. Es ist also nicht der Fall, dass sich in der nosologischen Konzeption der verschiedenen „Störungen“ auf der semantischen Ebene keinerlei Pathologisierung von Männlichkeit findet, auch wenn die Psychiatrie sich größtenteils universal gab. Wenn Männer sich als Patienten in psychiatrischen Kliniken befanden, dann fanden sich geschlechtsspezifische Aspekte jedoch selten in der psychiatrischen Klassifikation, sondern in den Vorgängen, die überhaupt zu ihrer Behandlung führten, genauer gesagt in den Gründen für eine Einweisung, ob freiwillig oder zwangsweise. Stephanie Coché hat sich mit der Einweisungspraxis in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Für Männer kommt sie zum Schluss, dass deren Unterbringung in Kliniken in der Regel zwei Ursachen hatte: Am häufigsten war zum einen der Verlust der Fähigkeit zur Erwerbsarbeit, zum anderen ausuferndes externalisierendes Verhalten, also Gewalt gegen Menschen und Sachen, insbesondere im familiären Umfeld.15 Diese beiden Einweisungsursachen verweisen deutlich auf wesentliche Aspekte der Konstruktion von Männlichkeit, nämlich die Erwerbstätigkeit und das Familienleben. Die hinreichende Ursache für die Einweisung eines Mannes in eine Psychiatrie war offenbar mitnichten die Erfüllung bestimmter geschlechtsneutraler diagnostischer Kriterien. Vielmehr existierte ein Kriterium des „sozialen Funktionierens“ bzw. „Versagens“, das ganz wesentlich durch Geschlecht strukturiert war – in diesem Fall durch die jeweils aktuelle Leitmännlichkeit bzw. hegemoniale Männlichkeit. 2.2 Harte Familienväter. Leitmännlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging für Männer allmählich eine lange Phase der Prägung durch den Militarismus zu Ende. Seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht Anfang des 19. Jahrhunderts waren immer größere Teile der männlichen Bevölkerung soldatisch sozialisiert worden. Die beiden Weltkriege hatten den militaristischen Wertehorizont männlicher Geschlechtsidentitäten bis lange nach dem Krieg zementiert.16 Dies hatte bis dahin zunächst einmal bedeutet, dass Männer innerhalb rigider Hierarchien funktionieren sollten. Befehl und Gehorsam behielten in der neuen Bundesrepublik eine wichtige Rolle. Ob als Söhne, Schüler, Soldaten oder Angestellte: Männer sollten ihren Vätern, Leh15 16

Coché (2017), S. 114–126. Für das vergleichbare Österreich Hanisch (2005), 17–99; Für eine Einordnung der Gesundheit von Männern in den Horizont der Geschichte moderner Staaten seit 1800 siehe: Dinges (2007), S. 9–22.

2.2 Harte Familienväter. Leitmännlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren

73

rern und Vorgesetzten gehorchen; waren sie selbst in einer übergeordneten Position, sollten sie Untergebenen befehlen können. Dies wurde jedoch nicht mehr durch offene Gewalt durchgesetzt und legitimiert, sondern machte einem zivileren Verständnis von Autorität Platz. Die von Männern erwartete Fähigkeit zur Aggressivität sollte sich nun ebenfalls weitgehend im Rahmen der Zivilgesellschaft entfalten.17 Aggression und Gewalt waren im Krieg grundsätzlich legitimiert und auch gefordert worden, solange diese im Namen der Befehlsgewalt vollzogen wurden.18 Nach dem Krieg bestand sie teilweise weiter, etwa im Rahmen der körperlichen „Züchtigung“ in den Schulen, Heimen und in den Familien selbst. Männer erlitten in der Jugend den größeren Teil dieser körperlichen Gewalt und übten diese auch als Erwachsene aus.19 Mit Ende des Zweiten Weltkrieges, zu Beginn des Untersuchungszeitraumes, bildete Gewalterfahrung für einen Großteil der Männer in Deutschland einen wesentlichen Baustein der eigenen Geschlechtsidentität. Gewalt wurde auch in der Kindererziehung häufiger angewendet als heute: Physische Gewalt in der Erziehung war noch lange Zeit nicht nur gesetzlich erlaubt, sondern wurde auch von einem großen Teil der Gesellschaft gutgeheißen und praktiziert. Noch 1977 billigten laut einer Allensbacher Umfrage ca. 70 % der westdeutschen Eltern Prügel als Erziehungsmethode.20 Im Nationalsozialismus war die Partizipation an Militär und paramilitärischen Organisationen die wichtigste homosoziale Praktik gewesen.21 In Friedenszeiten übernahm die Ausübung einer Erwerbsarbeit einen Teil dieser Funktion.22 Während nahezu alle Männer (ca. 90 %) zwischen 15 und 65 Jahren meist in Vollzeit arbeiteten, lag die Erwerbsquote von Frauen bis 1970 noch unter 50 % und dies zudem überwiegend in Teilzeit.23 Dadurch war das Erwerbsleben in weit höherem Maße männlich geprägt, als es heute der Fall ist, wenn es auch keine reine homosoziale Tätigkeit war. Die Arbeit 17 18

Dinges, Wandel (2013), Moeller (2001), Hanisch (2005), S. 118. Werner (2013); Zur Wirkmächtigkeit von Erziehung in der NS und Nachkriegszeit auf Psyche und politische Einstellung siehe auch (allerdings geschlechterübergreifend) Kiess/ Decker/et al. (2014), S. 147–159, besonders 155 ff. 19 Dies lässt sich hinreichend plausibel argumentieren, indem man Befunde aus der heutigen Gewaltforschung, die hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse auf die damalige Zeit übertragbar sind, mit Zeitzeugenberichten in Bezug setzt, die in der jüngeren Vergangenheit auch vermehrt publiziert wurden. Siehe etwa Müller-Münch, Ingrid (2012); Chamberlain (1998). Ausmaß und Intensität der körperlichen Gewalterfahrung dürfte jedoch noch um einiges höher gelegen haben als heute. Eine systematische Auswertung steht noch aus. Als Hinweis für die besondere Betroffenheit von Jungen mag die Tatsache in Erinnerung gerufen werden, dass in einigen Bundesländern das sogenannte Züchtigungsrecht sogar ausdrücklich nur bei Jungen angewendet werden durfte. Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren (2010). S. 15. 20 Müller-Küppers (1977), S. 50; Zu den allgemeinen Folgen des Krieges für die Entwicklung der Kriegs- und Nachkriegskinder aus psychotherapeutischer Sicht siehe Franz (2011), S. 113–160, sowie Müller-Hohagen (2014) und Müller-Hohagen (1994). 21 Kühne (2006). 22 Dinges, Wandel (2013), Hanisch (2005), S. 353–379. 23 Grunow (2010).

74

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

sowie andere Praktiken wie Vereinstätigkeiten24 wurden unterstützt und ergänzt durch den Konsum psychoaktiver Substanzen, vor allem Alkohol, daneben Nikotin. Der Durchschnittskonsum befand sich in den Nachkriegsjahrzehnten auf einem bis zu diesem Zeitpunkt unerreichten Niveau.25 Die Erwerbsarbeit bildete auch die Voraussetzung für die Ausübung der zentralen Aufgaben heterosexueller Männlichkeit, nämlich der Gründung einer traditionellen Familie, der die Männer als Familienväter vorstehen sollten.26 Als offen gelebte Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung des Mannes duldete die Gesellschaft ausschließlich die Cis–Heterosexualität. Auf die verschärfte Verfolgung homosexueller Männer in der frühen Bundesrepublik wird im Abschnitt 2.1.4 noch eingegangen. Auch für die Psychiatrie lässt sich die Verbindlichkeit dieser Leitmännlichkeit in vielen Bereichen nachweisen, wie in den folgenden Abschnitten gezeigt werden soll. 2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“ Auf den Männern und Jungen dieser Jahre lastete also ein je nach Situation mehr oder weniger starker Druck, sich den im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Leitmännlichkeiten anzupassen. Die traditionelle hegemoniale Männlichkeit erforderte bestimmte Leistungen, die für viele nicht zu stemmen waren, ein Versagen, das auch als Gesundheitsdefizit aufgefasst werden konnte und daher das Interesse der Psychiatrie weckte. Dies lag, wie man vermuten könnte, nicht immer nur daran, dass diese Männer unmännlich im Sinne von durchsetzungsschwach, weich oder expressiv waren. Im Gegenteil, die Männer und Jungen, um die es in diesem Abschnitt gehen wird, schossen eher über das Ziel hinaus. Überspitzt formuliert lässt sich feststellen, dass viele Männer aufgrund der Bemühungen, Männlichkeit zu praktizieren, in eine psychiatrische Klinik gekommen waren, weil sie durch ebendiese Bemühungen ihre Erwerbsfähigkeit, seltener auch ihre Freiheit und damit ihren Spielraum zur Praktizierung von Männlichkeit verloren hatten. Es handelt sich um Patienten mit Alkohol- und substanzbezogenen Störungen, um Straftäter, die im Kontext ihrer Delikte in die Klinik gekommen waren, sowie um Jungen und 24 Hanisch (2005), S. 387–413. 25 Tappe (2002), S. 213–218. Was der Frankfurter Suchtexperte Heino Stöver hierzu in Bezug auf die heutige Situation beschreibt, lässt sich mit Einschränkungen auf die vergangenen Jahrzehnte übertragen. „Der Drogenkonsum ist ein traditionelles und hoch besetztes Medium, um Männlichkeiten herzustellen. [Er] ermöglicht homosoziale Kollektivität, ist „integraler Bestandteil männlicher Initiationsrit[en], Kommunikationsenklave bei Männerbünden“ (Stöver (2015), S. 66.) Schon allein um sich als Mann zu produzieren war die Teilnahme am gemeinsamen riskanten Alkoholkonsum für Männer aller Schichten sozial erwünscht. „Die Substanzen […] setzen etwas frei, das zur Herstellung und öffentlichen Äußerung von Männlichkeiten genutzt werden kann: Unverletzlichkeitsphantasien, Größenwahn,[…] Demonstration und Ausleben von Stärke und Macht.“ (Ebd.) Eine weitere Funktion von Alkohol und anderen Substanzen war die der Selbstmedikation. 26 Paulus (2003), S. 107–120; Biess (2002); Poiger (2001).

2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“

75

Jugendliche, die durch „aggressives Störverhalten“ auffällig geworden waren.27 Riskanter Substanzkonsum war und ist für sich genommen schon eine Praktik der Männlichkeit und erfüllt in dieser Hinsicht gleich mehrere Funktionen.28 Daher überrascht es nicht, dass die Anzahl der Substanzabhängigen zu dieser Zeit beträchtlich war und es bis heute geblieben ist. Unmittelbar nach dem Krieg war der Alkoholkonsum zwar zunächst niedrig, stieg jedoch bis Mitte der 1970er Jahre auf ein Rekordhoch.29 Mit dem Alkoholkonsum erhöhte sich auch die Zahl der als „alkoholkrank“ eingestuften Menschen. Die überwiegende Mehrheit von diesen waren wiederum Männer.30 Der Konsum illegaler Drogen war in diesem Zeitraum im Vergleich zu späteren Jahren sehr gering.31 Ein spürbares Problem müssen dennoch die Männer dargestellt haben, die unmittelbar durch den Krieg iatrogen substanzabhängig geworden waren, auch wenn deren Anzahl bislang noch unbekannt ist. Die Wehrmacht hatte wie keine Armee zuvor ihre Soldaten mit psychoaktiven Substanzen versorgt. Viele Soldaten hatten während ihres Einsatzes Methamphetamin („Pervitin“) deklariert als „Wachhaltemittel“ erhalten.32 Erst nach dem Krieg stellte sich heraus, dass die Substanz ein erhebliches Abhängigkeitspotential besaß und ihre Konsumenten vermehrt Psychosen ausbildeten.33 Wie schon im Ersten Weltkrieg wurden in den Kriegslazaretten hohe Mengen an konzentrierten Opiaten verabreicht, die viele Kriegsversehrte zu Abhängigen werden ließen.34 Ähnliche Zusammenhänge wie bei Alkohol- und Substanzkonsum lassen sich für das Verhältnis von Kriminalität und Männlichkeit beschreiben. Der hohe Männeranteil unter den Straftätern allgemein und den Patienten der forensischen Psychiatrie ist kein Zufall. Die Zusammenhänge zwischen Straffäl-

27 28 29 30

31 32 33 34

Insgesamt waren es 96 von 362 Patientenakten, also mit rund 27 % ein gutes Viertel aller Patienten. Stöver (2015). Tappe (2002), S. 214. So fassten die Autoren der Psychiatrie-Enquete die bestehenden epidemiologischen Studien zusammen und schätzten ihre Zahl auf „2 bis 3 %“ der Gesamtbevölkerung (Sachverständigenkommission der Deutschen Bundesregierung (1975), S.266.) Angesichts des weit höheren Verbrauchs an Alkohol im Vergleich zu heute, wo diese Zahl mit 3,4 % (2 % Frauen, 4,8 % Männer) angegeben wird (Deutsches Ärzteblatt (2014)), ist dies sicher keine übertriebene Zahl. Diese hohe gesamtgesellschaftliche Relevanz spiegelt sich auch in den Patientenzahlen der untersuchten Kliniken in den Quellensamples wider: Bis 1970 waren in Heidelberg 19 Männer (etwa 10 %), in Gießen 14 (etwa 7 %) mit substanzbedingten Störungen in Behandlung; die meisten (12 in Heidelberg, 10 in Gießen) wegen der Folgen von Alkoholkonsum. Für das Jahr 1972 zählten die Autoren der Psychiatrie-Enquete in einer Sondererhebung 3578 stationär aufgenommene Drogenkonsumenten, 47354 waren es laut Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik im Jahr 2013. Steinkamp (2006), S. 61–72. Bonhoff/Lewrenz (1954). Ullmann (2001), S. 20–27.

76

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

ligkeit und männlicher Sozialisation sind genauso unbestritten, wie die Funktion krimineller Handlungen als marginalisierte Form der Herstellung von Männlichkeit. Fast ausschließlich männlich waren Personen, die durch die forensische Psychiatrie behandelt, bzw. begutachtet wurden.35 Ähnlich verhielt es sich bei aggressivem Störverhalten von Jungen und Heranwachsenden. Zumeist noch zu jung für die Strafjustiz, war die Fürsorgeerziehung die für sie zuständige Institution. Solche „Verhaltensauffälligkeiten“, wie man heute sagen würde, bildeten in den Nachkriegsjahren ebenso ein gesellschaftliches Problem wie auch gegenwärtig. Es war und ist vorwiegend ein Phänomen, von dem Jungen betroffen sind, und es kann genau wie die erhöhte Substanzkonsum- bzw. Kriminalitätsrate bei Männern nicht ohne Rekurs auf die männliche Sozialisation und die Mechanismen der Konstruktion von Männlichkeit erklärt werden.36 Einen Eindruck von der Größenordnung dieses Bereiches bietet die Anzahl der Jungen, die in den Nachkriegsjahren zwischen 1949 und 1975 in Heimen „fremdplatziert“ wurden, insgesamt etwa 400.000.37 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie war als Institution an dem gesellschaftlichen Umgang mit den Problemkindern insofern beteiligt, als sie im Zweifelsfall38 Gutachten und Stellungnahmen zur Unterbringung und Behandlung der betroffenen Jungen erstellte. Bis 1970 wurden in Heidelberg 10 Jungen (ca. 2 %) begutachtet, in Gießen waren es 6 (1 %). Zu den Gießener Jungen fanden sich in den Akten keine regelrechten Gutachten, sondern lediglich formlose Empfehlungen für Fremdplatzierungen, die im Zuge eines regulären Aufenthaltes die gleiche Funktion wie die sonst obligatorischen empfohlenen Anschlussbehandlungen einnahmen. Die Gesamtzahl der Personen in der Bevölkerung, die zu einer der drei oben aufgeführten Gruppen (den Männern mit substanzbezogenen Störungen, den Straftätern und den jugendlichen Delinquenten) gehörten, war hinreichend hoch, dass man von weit verbreiteten gesellschaftlichen Problemen 35 Etwa 90 % der Menschen, die laut Kriminalstatistik zwischen 1953 und 1973 von der Polizei als Straftäter „festgestellt“ wurden, waren Männer (ca. 800.000 insgesamt Bundeskriminalamt (1953–1973). So befanden sich kriminelle Männer meist zur Begutachtung auf Zurechnungsfähigkeit in den Universitätskliniken. 13 % aller Patienten bis 1970 waren im Zusammenhang mit einer begangenen Straftat in eine der Universitätskliniken gekommen. 36 Dies schien, freilich ohne emanzipatorische Absicht, auch den Verantwortlichen für die Heimerziehung klar zu sein. Während Mädchen vornehmlich aufgrund von sogenannter „sittlicher-“, also „sexueller Verwahrlosung“ in die Heime gebracht wurden, war es bei Jungen „Ungehorsam“, „Unflätigkeit“, „Kriminalität“ oder „Vagabondage“. Runder Tisch Heimerziehung (2010). S. 9. 37 Schon seit Einführung der Statistik 1963 stellten Jungen mit ca. 60 % die Mehrheit in den Erziehungsheimen, bis Mitte der 1970er Jahre stieg ihr Anteil auf fast 70 %. Statistisches Bundesamt, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe 2016. Daten kompiliert durch die Behörde nach eigener Anfrage. 38 Bis ca. 1970 wurden solche Gutachten jedoch schon allein aufgrund der schieren Masse der Einweisungen nicht standardmäßig angefertigt, sondern lediglich in Fällen, in denen der Sinn einer Fremdunterbringung angezweifelt wurde oder das Gutachten Stellungen dazu nehmen sollte, in welchem Typ Heim ein Junge untergebracht werden sollte.

2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“

77

sprechen kann. Auch innerhalb der untersuchten Kliniken stellte diese Gruppe zahlenmäßig eine bedeutende Fraktion. Rechnet man Überschneidungen heraus (manche strafrechtlich Begutachteten hatten zum Beispiel auch eine substanzbezogene Diagnose) beläuft sich ihr Anteil auf etwa 25 %. Ein Viertel aller Patienten war also aufgrund von Verhaltensweisen in ein psychiatrisches Krankenhaus gelangt, die letztlich auf die Verkörperung von normativer Männlichkeit gezielt hatten. Wie sah die damalige Psychiatrie diese Männer? Inwiefern waren sie für die Ärzte krank? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich mit dem Krankheitsbegriff der klassischen deutschen Psychiatrie beschäftigen. In der klinischen Psychopathologie Kurt Schneiders, für die man hier aufgrund ihres großen Einflusses auf die psychiatrische Klassifikation eine gewisse Repräsentativität annehmen kann, gab es zwei Oberkategorien: Erstens „Abnorme Spielarten menschlichen Wesens“ und zweitens „Seelisch Abnormes in Folge von Krankheiten“.39 Nur letztere Diagnosen waren in diesem System als psychiatrische Krankheiten vorgesehen. Im Falle der „Abnormen Spielarten“ herrschte bis in die jüngere Zeit ein dezidierter therapeutischer Nihilismus. Es endete nach der Diagnosestellung die Zuständigkeit der Psychiatrie, und andere helfende oder strafende Institutionen übernahmen die Zuständigkeit, namentlich die Strafjustiz, die Fürsorgeerziehung, die Kirchen oder die Familien. Die strikte Trennung zwischen Krankem und lediglich Abnormen leitete sich von einem somatischen Krankheitsverständnis her. Die hier aufgeführten Patientengruppen erhielten im Wesentlichen Diagnosen aus der Kategorie der lediglich „Abnormen Spielarten“. Substanzabhängige bekamen beispielsweise eine Diagnose, die auf die jeweilige Substanz verwies, etwa „Alkoholsucht“, oder „Morphinismus“. Zwar seien, so Schneider, letztlich die Folgen der Sucht „Intoxikationen“ und somit Krankheiten, die Sucht selbst jedoch sah Schneider als bloßen Ausdruck von „abnormen Triebregungen“ und „abnormen Persönlichkeiten“.40 „Abnorme Persönlichkeiten“ (oder deren Steigerungen, die „Psychopathen“) waren Diagnosen, die nicht nur im Kontext von Suchtverhalten vergeben wurden, sondern auch für die meisten Straftäter. Auch den Jungen mit aggressivem Störverhalten wurde zumindest in den untersuchten Kliniken am häufigsten eine Psychopathie oder „kindliche Psychopathie“ diagnostiziert. Die Psychopathen waren „abnorme Persönlichkeiten, […] die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet.“ Der therapeutische Nihilismus, der eine solche Krankheitseinteilung mit sich brachte, war auch Konsequenz der sozialhygienischen Vorstellungen, die eine solche Psychopathologie erst hervorgebracht hatten. Kurt Schneider selbst hatte bei der Frage nach der „Vererbbarkeit“ des „Psychisch Kranken“ und des „Abnormen“ eher vorsichtig argumentiert und sich während der NSZeit nicht auf den erbbiologischen Enthusiasmus seiner Kollegen eingelassen. Auch aus diesem Grund galt Schneider nach dem Krieg als eine der wenigen 39 Schneider (2007), S. XI. 40 Schneider (2007), S. 2.

78

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

Figuren der westdeutschen Psychiatrie, die nicht kompromittiert waren.41 Dennoch war die praktische Konsequenz einer solchen Psychopathologie, dass Menschen mit derlei Diagnosen wenig medizinische Hilfsbedürftigkeit zugestanden wurde, während sie zur gleichen Zeit durch die Ärzte markiert und infolge dessen für diverse disziplinierende Institutionen freigegeben wurden. Für das Verhältnis der deutschen Psychiater gegenüber den problematischeren Implikationen „traditioneller“ hegemonialer Männlichkeit ergaben sich angesichts einer solchen Psychopathologie gewisse Dissonanzen: Es bestand eindeutig ein mehr oder weniger ausgeprägter Anspruch auf Zuständigkeit, wenn bei Männern diese Folgen gelebter Männlichkeit aus dem Ruder liefen. Alkoholkonsum, Straffälligkeit, Delinquenz – es existierten eine ganze Reihe von Diagnosen, die einen Mangel von Gesundheit suggerierten, wenn auch nicht als Krankheit, sondern nur als „Abnormität“. Gleichzeitig zielten diese Diagnosen jedoch sorgsam darauf ab, diese Männer aus dem Kreis der Menschen auszuschließen, die einen Anspruch auf eine psychiatrische Behandlung besaßen. Dies gelang über einen Diskurs der Schuldzuschreibung, der sich wissenschaftlich über die Fixierung der klassischen Psychiatrie auf das Somatische legitimierte. Für die alkoholbezogenen Störungen fasste der Medizinhistoriker Heinz Schott die Situation folgendermaßen zusammen: „Die Alkoholiker wurden im Kontext von (Sozial)Darwinismus und Rassenhygiene gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Minderwertige stigmatisiert. Die erbbiologische Betrachtung beherrschte das Feld, die schließlich im NS-Staat auch zur Zwangssterilisation von Alkoholikern gemäß dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ führte. Der Alkoholismus erschien als Analogon der Geisteskrankheit und wurde deshalb vor allem zum Gegenstand der Psychiatrie.“

Die Folgen übermäßigen Substanzkonsums wurden, solange sie noch nicht deutliche körperliche Effekte zeigten, nicht unter der Kategorie „Krankheit“ subsumiert. Auf dieses fortgeschrittene Stadium bezogen sich die vier alkoholbezogenen Störungen im „Würzburger Schlüssel“: „10. Alkoholismus a. Rauschzustände b. Chronischer Alkoholismus (Eifersuchtswahn usw.) c. Delirium tremens und Halluzinose d. Korsakowsche Psychose (polioencephalitis haemorrhagica)“42

Der therapeutische Zuständigkeitsbereich der Psychiater begann also in der Regel erst, wenn deutliche somatische Symptome auftraten: etwa im akuten Fall, bei einem schweren Rauschzustand mit psychotischen Symptomen oder aber bei einem Delirium Tremens. In diesen Fällen wurden die Betroffenen nach Abklingen der Symptome, nach der „Ausnüchterung“ oder dem Abklingen des Deliriums ohne Weiterbehandlung entlassen. Bei schwerer Alkoholabhängigkeit, wenn die körperlichen und sozialen Folgen nicht mehr tragbar 41 Rotzoll/Hohendorf (2007), S. 307–314. 42 Balz, Wirkung (2010), S. 506.

2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“

79

waren, kamen die Männer in sogenannte „Trinkerheilstätten“, die noch mehr als andere Anstalten gefängnisähnlichen Charakter hatten. Die therapeutischen Maßnahmen beschränkten sich auf äußerliche Disziplinierung: „durch Einhaltung eines strikten Tagesablaufes und einer ‚sinnvollen‘ Beschäftigung“, sollten sie „zur Abstinenz und in ein geregeltes Leben“ zurückfinden.43 Die Ursache der Probleme, die bei übermäßigem Alkoholkonsum über eine längere Zeit schon lange vor derlei Extremzuständen auftreten, war im eigenverantwortlichen Handeln der „Trinker“ zu suchen. Abnormen Persönlichkeiten und Psychopathen sollte die Psychiatrie demnach nicht helfen. Abgesehen von den oben geschilderten Fällen lag die Zuständigkeit für die „Trinker“ bei anderen Stellen. Die „Trinkerfürsorge“ etwa wurde vor allem von kirchlichen Stellen betrieben. Solche Einrichtungen besaßen einen ausgesprochen wertenden Blick auf die betroffenen Männer. Im Konzept der „Trunksucht“ offenbarte sich ein tief verwurzelter Hang zur Opferbeschuldigung. In ihren wissenschaftlichen Beschreibungen mischten sich moralisierende und abwertende Bezeichnungen. Der Autor eines in den 1950er Jahren in Deutschland weit verbreiteten Handbuches für die „Trinkerfürsorge“ nahm etwa folgende Typisierung von Alkoholikern vor: • • • •

„Der Entartungstrinker: glaubt aufgrund von Verwöhnung und falscher Einstellung zum Leben, Alkohol zu brauchen, um sein Stimmungsgleichgewicht zu halten; Der Stumpfsinntrinker: der Alkoholrausch stellt ihm die bequemst erreichbare Genußform dar; Der Leidenschaftstrinker: benutzt den Alkohol, um sich vorübergehend zu betäuben und Spannungsgefühle zu beseitigen, die aus Nichtbewältigung der Persönlichkeitsreifung entstanden waren; Der Selbstwertungstrinker: sucht im Rausch eine Erfüllung des persönlichen Geltungstriebes und entschädigt sich für Minderwertigkeitsgedanken. […]“44

Der Zustand von Gleichgültigkeit seitens der klassischen Psychiatrie auf der einen Seite sowie inadäquater Abwertung und Schuldzuweisungen auf der anderen Seite wurde während der ersten beiden Jahrzehnte ihres Bestehens selten hinterfragt. Deutsche Psychiater hätten, so erinnerte sich 1997 der Psychiater Max Glatt, unter Alkoholismus „nur die körperlichen und geistigen Spätkomplikationen der Trinkerkrankheit betrachtet und Prävention oder Frühsymptome nicht beachtet. […] Ebenso wenig hätten sie zur Kenntnis genommen, „daß körperliche Komplikationen nur bei einer Minderheit und dann nur im Spätstadium des Alkoholismus erschienen“ und dass die entscheidenden Krankheitszeichen eben nicht die körperlichen seien, sondern dass „Symptome im häuslichen und im sozialen Bereich (Familie, Arbeit, Verkehr)“ viel häufiger aufträten und den körperlichen Symptomen oft viele Jahre vorausgingen.45 Da solche psychosozialen Symptome in der deutschen Psychiatrie nicht zum Verständnis von Krankheitsdynamik gehörten, fühlten sich auch die 43 Hauschildt (1995), zitiert nach Wieneman (1999), S. 194; Zu den Trinkeranstalten siehe: Schott/Tölle (2006), S. 346–349; Zum Weiterbestehen solcher traditioneller Anstaltsbehandlungen in der frühen Bundesrepublik siehe: Brink (2010), S. 360–371. 44 Zitiert nach Wienemann (1999), S. 396. 45 Zitiert nach Wienemann (1999), S 398.

80

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

Krankenversicherungen nicht veranlasst, Interventionen oder langfristige Entwöhnungen zu erstatten. Frühbehandlungen, psychosoziale Betreuung und langfristige Therapien existierten vereinzelt, waren für die meisten Männer jedoch unerschwinglich, da sie selbst bezahlt werden mussten. Noch 1968 konnte ein Funktionär der Versicherungswirtschaft diesen Zustand folgendermaßen rechtfertigen: „Wenn ein Mensch vorsätzlich säuft – ein Grund findet sich hinterher immer – ist er nicht krank, sondern haltlos, genauso wie ein Sexualverbrecher. Ich halte es für absurd, Trunksucht noch mit einer Versicherungsleistung z. B. einem Tagegeld während der Entziehungskur im Krankenhaus zu belohnen.“46

Ähnlich gestalteten sich die Bedingungen für Männer, die von anderen Substanzen abhängig waren. Auch die Suchtpsychiatrie war in den 1950er und 1960er Jahren im Wesentlichen durch eine im Vergleich zu heute somatische Engführung geleitet. Die Geschichte von substanzabhängigen Menschen im Nachkriegsdeutschland ist noch nicht erforscht. Die Auswertung des Quellensamples ergab jedoch, dass in den Kliniken auch in diesen Jahren eine große Anzahl an substanzbezogenen Fällen auftauchte, darunter viele Männer, deren Sucht sich direkt von Ereignissen im vorangegangenen Zweiten Weltkrieg Krieg herleiten lässt. Dabei spielten zwei Substanzen die Hauptrolle, Opiate wie Morphium und zweitens Methamphetamin. Der 42-jährige Sparkassenangestellte Karl B. zum Beispiel kam im Frühjahr 1953 mit der Diagnose „Polamidonabusus“ in die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg.47 Er hatte im Krieg ein Bein verloren und war durch die Schmerzbehandlung abhängig von Opiaten geworden. Wie bei anderen Patienten auch war die Opioidabhängigkeit iatrogen induziert worden und Karl B. musste in Folge auf eigenen, meist illegalen Wegen an die Substanz kommen. Ein weiteres Erbe der Wehrmacht war Pervitin (Methamphetamin), das als Wachhaltemittel hundertausendfach an Wehrmachtssoldaten verteilt worden war. Nach dem Krieg nahmen einige der Kriegsheimkehrer das Mittel weiterhin. So auch Karl B., der an seiner Arbeitsstelle im Schichtdienst Bargeld zählen und sortieren musste. Seine Krankenakte zitierte ihn: „Mit der Arbeit kam er nicht mehr zurecht, dem Einzelnen würde mehr […] Arbeit zugemutet als früher. […] Sein Beruf mit der sturen bürokratischen Tätigkeit sei ihm verhasst, er habe einen Ekel vor der Arbeit, nichts sei ihm mehr möglich, er sei ganz apathisch und niedergeschlagen.“

Um die monotone Arbeit während der Nachtschichten zu überstehen, begann er vermehrt Pervitintabletten einzunehmen. Wie damals üblich, wurde Karl B. auf kalten Entzug gesetzt und im Anschluss ohne Überweisung an eine Nachbetreuung und ohne dokumentierte Thematisierung längerfristiger Suchtdynamiken nach Hause entlassen.48 Ähnlich erging es einem Gießener Patien46 Himmel-Lehnhoff (1987). Ohne Seitenzahlen, da Online-Version. Für Hyperlink, siehe Literaturverzeichnis. 47 PUH 53/66. 48 Ullmann (2001), S. 20–27.

2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“

81

ten,49 der angab, er leide seit dem Krieg an einer permanenten Müdigkeit, die so schlimm sei, dass er seinen Beruf als Marmorschleifer nur mit Hilfe von Pervitintabletten habe bestreiten können; mittlerweile ginge es überhaupt nicht mehr. Am schlimmsten seien jedoch die Anfälle, „öfter Benommenheit, Brausen im Kopf und Schwindel. Die Beschwerden steigern sich bei körperlicher Anstrengung. Wenn er sich dann nicht zu Bett lege, komme es zum Anfall. […] Erst bekomme ich [sic] ein Gefühl der Schwäche, dann wird der Körper steif, dann kann er sich nicht mehr bewegen, liegt dann 5–10 Minuten da, ohne sich rühren zu können“. Der Marmorschleifer aus Gießen erhielt die Diagnose „psychogene Anfälle“, die jedoch sehr wahrscheinlich einem Versorgungsamt vor Gericht dazu dienen würde, einen Antrag des Mannes abzuwehren. Darüber hinaus wurde der problematische Methamphetamin-Konsum zwar als solcher dokumentiert, die Zuständigkeit der Psychiater für den Mann endete jedoch mit dieser Feststellung. Was für Substanzabhängige galt, betraf erst recht den psychiatrischen Umgang mit Straftätern. Wenn Versuche, Männlichkeit zu verkörpern, in Kriminalität endeten, bestand durchaus das Interesse, dies zu pathologisieren. Die Delinquenz diente jedoch gleichzeitig wiederum dazu, eine medizinische Behandlungsbedürftigkeit zu negieren. Straftäter fanden sich aus zwei Anlässen in den Universitätskliniken wieder. In den meisten Fällen (31 von 37) wurde ein laufendes Strafverfahren gegen sie geführt, und ihre Verteidiger oder Richter hatten ein psychiatrisches Gutachten entweder über die Schuldfähigkeit ihres Mandanten oder die Erstellung einer Kriminalprognose erbeten. In den beiden untersuchten Kliniken wurden beide Fragestellungen meist gleichzeitig beantwortet. Die restlichen Patienten waren unabhängig von einem anstehenden Strafprozess in der Klinik, weil sie in Haft oder innerhalb der Bewährungsfrist psychiatrisch auffällig geworden waren. Für die insgesamt 31 Straftäter, die in Heidelberg und Gießen bis Ende der 1960er Jahre begutachtet wurden, galt gleichermaßen: So gut wie jeder (außer einem einzigen)50 erhielt eine psychiatrische Diagnose.51 Von den insgesamt sechs schizophrenen Patienten abgesehen wurde all diesen Männern lediglich eine „Abnormität“ diagnostiziert. Solche waren weder im psychiatrischen Sinne eine Krankheit, noch für die Frage nach der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit von Bedeutung. Darüber hinaus implizierten die Abnormitätsdiagnosen jedoch nahezu eine grundsätzliche Therapieunmöglichkeit. Die Straftäter verblieben ausschließlich im Zuständigkeitsbereich der Strafjustiz. Die jährlich ca. 40.000 inhaftierten westdeutschen Männer erhielten in aller Regel keine therapeutische Begleitung.52 49 UAG 52/1796. 50 PUH 63/320. 51 Die Restlichen wurden in Reihenfolge der Häufigkeit mit „Psychopathien“ (15 in Heidelberg, 3 in Gießen) diagnostiziert, einige weitere mit suchtbezogenen Störungen (4 in Heidelberg, 2 in Gießen), ebenso viele mit Schizophrenien (6 in Heidelberg). 52 Statistisches Bundesamt (2015), S. 11.

82

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

Doch auch die Anerkennung der Schuldunfähigkeit bedeutete keinesfalls die Gleichstellung mit anderen psychiatrischen Patienten. Wenn Schuldunfähigkeit tatsächlich attestiert wurde, konnte dies wiederum bedeuten, dass die Voraussetzungen für eine Sicherheitsverwahrung gegeben waren. Vor der Strafrechtsreform von 1969 waren lediglich exogene Einflüsse oder schwere Psychosen anerkannte Befunde für die Anwendung des damaligen § 42e StGB, der die Unterbringung von schuldunfähigen Straftätern regelte“.53 Die psychiatrische Anerkennung des Krankseins bedeutete für die betroffenen Männer (ca. 3500 im Jahr 1973) keinesfalls einen qualitativen Unterschied gegenüber einer konventionellen Haftstrafe. Die Lebensbedingungen in den dafür vorgesehenen Einrichtungen waren selbst für die damaligen Zustände in der Anstaltspsychiatrie ausgesprochen schlecht. Die Sicherheitsverwahrung fand selten in Krankenhäusern, sondern meist in einem abgetrennten Bereich innerhalb einer Justizvollzugsanstalt statt, der sich auch funktionell kaum vom Rest des Gefängnisses unterschied. Dazu kam die verstärkte Stigmatisierung, die jemand erfahren musste, der aus psychiatrischen Gründen vermindert schuldfähig erklärt worden war: „Ich lege keinen Wert auf den § 51“, betonte ein Straftäter in der Gießener Klinik. „Meine Ehe würde allein aus diesem Grund auseinanderfallen. Die Wochen Gefängnis würde man mir verzeihen, aber niemals die Anstalt, in welcher ich jetzt bin. Für meine Bekannte bin ich verrückt.“ Die Autoren der Psychiatrieenquete konstatierten, im Bereich der stationären forensischen Psychiatrie gälte es zunächst einmal, „dem heutigen Justizvollzug vergleichbare Mindestbedingungen einer menschenwürdigen Unterbringung zu gewährleisten.“ 54 Die stationäre forensische Psychiatrie war, wie es in der Enquete ausgedrückt wurde, das „Schlusslicht“ in der ohnehin sanierungsbedürftigen Psychiatrie. Aber auch für die schuldfähigen Straftäter sah man keine Möglichkeit oder auch keinen Anlass für therapeutische Hilfestellung, obgleich man sie durchaus pathologisierte. Ähnliche Fragen über das Verhältnis von Krankheit und Abnormität, Straftat, Vergeltung und Disziplinierung waren im Falle der minderjährigen Patienten der Kliniken Gegenstand der ärztlichen Arbeit. Diese Tatsache hatte auch institutionelle Gründe. So war die erst wenige Jahre zuvor in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus etablierte junge Subdisziplin der „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ entstehungsgeschichtlich untrennbar mit der forensischen Psychiatrie verbunden.55 Auch fast alle der in dem Sample in dieser Zeit untersuchten Jungen waren delinquent oder zumindest aggressiv und „verhaltensauffällig“. In den untersuchten Kliniken wurden in den 1950er und 1960er Jahren ausnahmslos alle auf die Frage hin untersucht, ob sie angesichts ihres Verhaltens in ihren Familien verbleiben oder in eine Einrichtung der Heimerziehung „fremduntergebracht“ werden sollten. Im Quellensample wurde in jedem einzelnen Fall eine solche Fremdunterbringung empfohlen. Wie die erwachsenen Straftäter wurden auch die auffälligen Jungen häufig mit 53 Vollbach (2006), S. 165. 54 Sachverständigenkommission der Deutschen Bundesregierung (1975), S. 282. 55 Kölch (2002); Rose/Fuchs/Beddies (2014).

2.3 „Trinker“, „asoziale Psychopathen“, „verwahrloste Jungen“

83

der Diagnose „Psychopathie“ (bisweilen mit dem Zusatz „Jugendliche“) verteilt. In „weniger schweren“ Fällen wurde lediglich eine „Erziehungsschwierigkeit“ diagnostiziert. Mit Diagnose erfolgte meist auch eine Empfehlung, in was für eine Art Einrichtung, Pflegefamilie, Internat, „Kinderheim“ oder „Erziehungsheim“ die Jungen vorzugsweise zu geben seien. Mit dieser Empfehlung endete die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ihre Aufgabe bestand darin, die Jungen zu pathologisieren, zugleich aber wiederum eine Therapierbarkeit im medizinischen Sinne abzuwehren und sie dann anderen disziplinierenden Einrichtungen zu übergeben. Die Einrichtungen der Heimerziehung, in die die Jungen von den Kinder- und Jugendpsychiatern geschickt wurden, waren ihrem Wesen und Selbstverständnis nach auch genauso wenig „therapeutisch“ wie die Zuchthäuser und Gefängnisse, dafür aber von den damaligen pädagogischen Vorstellungen geleitet. So wurden die meisten Einrichtungen der Heimerziehung in der Bundesrepublik durch die beiden christlichen Konfessionen, insbesondere die Katholische Kirche, betrieben.56 Die Lebensbedingungen in den Heimen sind seit kurzem Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschung. Sie wurde durch die öffentliche Aufarbeitung der Erlebnisse ehemaliger Heimkinder der 1950er und 1960er Jahre angeregt. In den bisherigen Untersuchungen wird besonders die Unprofessionalität der damaligen Erzieher hervorgehoben: Sie arbeiteten mit einer aus heutiger Sicht äußerst problematischen, grenzüberschreitenden Zuneigung auf der einen Seite, die sie mit dem Zufügen körperlicher und psychischer Schmerzen auf der anderen Seite abwechselten.57 Heimkinder sollten auf diese Art für das Leben in der konservativ-autoritären Gesellschaft der Adenauerzeit sozialisiert werden.58 Diese doppelgesichtige Grenzüberschreitung, einmal hin zur „Liebesbekundung“, dann wieder zur harten Bestrafung, verdeutlicht folgendes Zitat eines evangelischen Funktionärs: Die Heimkinder seien „aus der Gerechtigkeit gefallen“, Sünder voller „Lügen und Leichtsinn, […] Stehlen und Wollüstigkeit.“ Die „Erlösung“ gelinge nur noch durch das „Heraustreiben des Sündigen […] vor allem durch die annehmende Liebe eines Erwachsenen […] aber auch durch die Zucht und die Strafen, die durchaus Demütigung bezwecken.“ 59 Der Status der Hilfsbedürftigkeit war bei den minderjährigen Jungen im Gegensatz zu den erwachsenen Straftätern unbestritten, aber nicht, weil sie als therapiebedürftig galten, sondern weil sie Kinder waren. Dementsprechend stellte sich auch nicht die Frage nach der Notwendigkeit professioneller, psy56 Abschlussbericht des runden Tisches Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren. Zur Trägerschaft der Heime, in denen ehemalige Heimkinder untergebracht waren, die mit der Informationsstelle des runden Tisches Kontakt aufgenommen haben: Katholisch 45 %; Evangelisch 29 %; staatlich 19 %; k. a. 6 %. „Die Meldungen entsprechen ungefähr der bisher bekannten Verteilung der Trägerschaft in der Gesamtheit der Heime.“ Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, Abschlussbericht (2010), Anhang S.2. 57 Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, Abschlussbericht (2010), S. 14–19, 25. 58 Kuhlmann (2010). 59 Ebd, S. 6; Hähner-Rombach (2013).

84

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

chologisch geschulter Betreuer, auch wenn es solche durchaus bereits gab. Die fehlende wissenschaftliche Fundierung der Ausbildung hatte gemeinsam mit anderen Faktoren ausgesprochen gewalttätige und demütigende Erziehungsmethoden zur Folge. „In der Regel handelte es sich bei den Erzieherinnen und Erziehern um unausgebildetes oder angelerntes Personal und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Diakonissen, Diakone, Diakonenschüler, Angehörige kirchlicher Orden), die zumeist eine kirchliche, oft aber keine ausdrücklich pädagogische Fachausbildung absolviert hatten. […] Da die Heimerziehung in den 50er Jahren im Wesentlichen an restriktiven Einstellungen festhielt und Reformbewegungen der Weimarer Zeit nicht aufgriff, waren restriktive, gewaltvolle und demütigende Erziehungsmethoden weit verbreitet. Andere, in den 60er Jahren auch durch Aus- und Fortbildungen erworbene Fachkenntnisse konnten von den Erzieherinnen und Erziehern in den Einrichtungen oft nicht gegen die leitenden restriktivkonservativen Erziehungsvorstellungen behauptet werden, so dass moderne und repressionsarme Methoden schwer durchzusetzen waren.“60

Die Zustände in den Heimen waren in der Regel nicht Gegenstand der psychiatrischen Dokumentation, doch in Einzelfällen ließen sie sich auch dort nicht verschweigen.61 In einem Fall befand sich ein Heimerzieher62 zur Begutachtung in einem Strafprozess in der Klinik in Gießen, der seine Schutzbefohlenen schwer misshandelt und sexuell missbraucht hatte. Die Anklage stützte sich unter anderem auf Aussagen einer Reinigungsfrau der Einrichtung, dass der Mann „die Kinder so geschlagen hätte, dass sie am Gesäß dicke Striemen gehabt hätten. Sie mussten ihr Gesäß entblößen und wurden mit einem Stock geschlagen.“ Verschiedene Ärzte hatten die Folgen der Schläge dokumentiert: „mit groben Schlägen durch Rohrstock, zum Teil auf das nackte Gesäß, die Schläge hinterließen blutunterlaufene Stellen […].“ Es wurde festgehalten, „daß die Gewalteinwirkung, die die Hämatome hervorrief, erheblich gewesen seien.“ Unter verschiedenen Vorwänden hatte der Mann die Jungen sexuell belästigt, so griff er etwa bei seinen abendlichen Kontrollgängen unter deren Bettdecke. Dies versuchte er folgendermaßen zu rechtfertigen: „Bei seinen abendlichen Kontrollen ziehe er die Hände der Kinder, wenn sie diese unter der Schlafanzughose hätten, heraus, da auch bei einem schlafenden Kind die Hände nicht an das Geschlechtsteil gehörten.“ Zu den Schlägen behauptete der Mann: „Er sei dazu berechtigt, da er das Erziehungsrecht nach § 1631 übertragen bekommen habe von den Eltern. H. [,eines der mutmaßlichen Opfer], sei ein Bummler und Herumtreiber und Bettnässer, der nach Weisung seiner Mutter hart behandelt werden sollte. S. und V. [weitere mutmaßliche Opfer] hätten sexuelle Schweinereien mit einem anderen Jungen getrieben“, dies stelle ihre Glaubwürdigkeit in Frage. Zusammenfassend lässt sich sagen: Es existierten in der deutschen Psychiatrie Konzepte, die problematische Folgen der Praktizierung von Männlichkeit bei einer Vielzahl von männlichen Patienten pathologisierten, namentlich bei Alkohol- und Substanzkonsumenten, bei Straftätern und bei Minderjährigen mit Verhaltensauffälligkeiten. Dies geschah jedoch in einer Art und Weise, 60 Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren (2010), Zwischenbericht S. 17. 61 PUH 63/218, PUH 73/201. 62 UAG 59/1376.

85

2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“

die einer Medikalisierung, bzw. biopolitischen Erfassung von Männern enge Grenzen setzte, da sie die sozialen und psychologischen Ursachen der Leiden zugunsten von sozialhygienisch motivierten Erkenntniszielen bevorzugte sowie die Therapieansätze, die an sozialen und psychologischen Faktoren ansetzten, kaum in Betracht zog. Obwohl die Psychiatrie die betroffenen Männer als Patienten ansah, nicht krank im eigentlichen Sinne, aber doch im Sinne von psychisch abnorm, hatte diese Sichtweise Konsequenzen für die Bewertung der geschlechtsspezifischen Erwartungen und Verhaltensweisen, die diese Männer überhaupt erst in ihre Lage gebracht hatten. Das Streben nach hegemonialer Männlichkeit wurde auf diese Art und Weise entpathologisiert und zur gleichen Zeit sowohl normalisiert als auch kulpisiert. Dies ermöglichte es auch, die Therapiebedürftigkeit solcher Männer nicht ernsthaft in Erwägung ziehen zu müssen. Die Bringschuld für eine Besserung ihres Zustandes wurde im Wesentlichen bei den Männern selbst gesehen. Tab. 1 Patienten mit externalisierenden- und substanzbezogenen Störungen 1948 bis 1970 Anzahl Patienten 1948 bis 1970 gesamt Patienten mit externalisierenden- und substanzbezogenen Störungen, davon:

362 96

Patienten mit alkohol- und substanzbezogenen Diagnosen

33

Straftäter

47

Jugendliche mit aggressivem Störverhalten

16

2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“ Der vorangegangene Abschnitt behandelte Gruppen von Männern, deren Erfassung durch die Psychiatrie ohne Einbeziehung des Faktors Leitmännlichkeit nicht erklärt werden kann. Im Folgenden geht es dagegen um Patienten, denen es aus Sicht der Psychiater an den Fähigkeiten zur Verkörperung eines männlichen Habitus mangelte, und die eben aufgrund dieser Tatsache pathologisiert wurden. Klar umreißbare Gruppen von Patienten zu bilden, war in dieser Hinsicht komplizierter als bei den Beispielen des vorangegangenen Abschnittes. Dies liegt daran, dass „Unmännlichkeit“ (also die Abwesenheit traditioneller Männlichkeit) selten ausdrücklich in einer Diagnose pathologisiert wurde. Wichtige Ausnahme von dieser Regel waren die Diagnosen, die Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle als Kranke klassifizierten, also per definitionem alle Männer, die nicht cis-heterosexuell positioniert waren und die demnach im Connell’schen Modell als „untergeordnete Männer“ zu bezeichnen sind. Neben diesen „Untergeordneten“ gab es jedoch auch cis-heterosexuelle „unmännliche Männer“, denen die Ressourcen zur Verkörperung der Leitmännlichkeit in unterschiedlichem Ausmaß fehlten. Auch dieser „Mangel“ an Leitmännlichkeit konnte pathologisiert werden, wenn auch nicht in dem kategorischen Maße, wie es bei den SBTI der Fall war. Eindeutig zuweis-

86

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

bare Diagnosen hatten diese Männer im Gegensatz zu letzteren nicht. Die Pathologisierung zeigte sich hier subtiler, in bestimmten gängigen Symptomen der Krankheitsbilder, die eine mehr oder weniger ausgeprägte Inkompatibilität mit erwünschten Eigenschaften traditioneller Männlichkeit implizierten. Dies war bei der Depressivität mit ihrer passiven Hilflosigkeit und ihren Insuffizienzgefühlen der Fall, und deren Unvereinbarkeit mit hegemonial-männlichen Attributen, was wiederum die schon bestehende Forschung über „Das Geschlecht der Depression“ auch am historischen Beispiel bestätigte.63 Ebenfalls „unmännlicher“ Bestandteil der Depression sowie diverser weiterer Krankheitsbilder war das Symptom der unkontrollierbaren Angst. Doch auch bei vollständig formal (und damit geschlechtsneutral) konzipierten Störungen wie der Schizophrenie konnten Psychiater die Unmännlichkeit der Patienten markieren. Solche Fälle offenbarten ihre Zugehörigkeit zu den in diesem Abschnitt untersuchten Akten nur in den konkreten Aufschrieben der Ärzte, die formale Symptome (z. B.) „Stimmenhören“ mit geschlechtsspezifischem Inhalt füllten, wie im Falle eines Heidelberger Patienten: „Hört Stimmen, die ihm sagen, er sei kein richtiger Mann, er habe eine Vagina.“ 64 Das gesamte Spektrum des Begehrens, das nicht heterosexuell orientiert war, jegliche Geschlechtsidentität, die nicht mit dem biologischen, bzw. dem zugewiesenen Geschlecht übereinstimmte, war bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes als krankhaft klassifiziert und durch entsprechende psychiatrische Diagnosen pathologisiert. Hiervon betroffen waren Schwule, alle anderen Männer, die Sex mit Männern hatten, oder Männer sexuell begehrten und zudem biologische Männer, die sich in ihrer Geschlechtsidentität ganz oder teilweise als Frauen betrachteten. Die entsprechenden „Krankheitsbilder“ waren Negative der hegemonialen Männlichkeit, an der sich die Gesundheitsleitbilder orientierten. Die Eigenschaften, aufgrund derer diese Männer als krank, bzw. abnorm galten, liefen der Kerneigenschaft der traditionellen hegemonialen Männlichkeit zuwider, der Heteronormativität. Sie verletzten die Dualität der zulässigen Geschlechtsidentitäten. Schwule und bisexuelle Männer konnten grundsätzlich nur als etwas „halb-weibliches“ betrachtet werden. Dies gilt natürlich noch viel mehr für die sogenannten „Transvestiten“ (Transgender, Transsexuellen). Häufig damit zusammenhängend verletzten Männer, die Männer begehrten, das Primat der Heterosexualität als einzig zugelassene Form der sexuellen Orientierung. Diese Männer galten als krank, weil sie öffentlich verbindliche Normen des Geschlechtslebens verletzten – Normen, die sich auch außerhalb der Psychiatrie immer wieder durch Vorstellung von idealer Gesundheit legitimierten. So hieß es in einem Regierungsentwurf für eine Reform des Strafrechts der Adenauer-Regierung aus dem Jahr 1962, eine Abschaffung des Paragraphen 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, würde „eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke“ darstellen.65 Noch 1969 anlässlich der Reform des Sexualstrafrechts 63 Teuber (2011). 64 PUH 63/418. 65 Zitiert nach Finger (2015), S. 45.

2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“

87

fasste das Magazin „Der Spiegel“ Umfragen zu Einstellungen der Westdeutschen gegenüber „homosexuellen Männern“ folgendermaßen zusammen: „Der ‚echte‘ Mann, das ist der Harte, Klare, weniger Triebhafte, Starke, weniger Gefühlvolle, Laute, Ausgeglichene, Sympathische, Gesunde, Angenehme. Und jene anderen? Sie sind weich, verschwommen, triebhaft, schwach, gefühlvoll, leise, unausgeglichen, unsympathisch, krank und ekelhaft, sie bewegen sich weibisch, sprechen affektiert und mit hoher Stimme; ihr Tun ist lasterhaft, ihre Art abstoßend. Man straft sie zu Recht, und man soll sie strafen, wo man sie nur antrifft.“66

Der Anteil der durch die gesellschaftliche Ächtung und der damit einhergehenden Pathologisierung Betroffenen war keinesfalls marginal und nur Angelegenheit einer unbedeutenden Minderheit.67 Die Position der Psychiatrie gegenüber diesen Männern ist nur im Kontext ihrer Kriminalisierung zu verstehen. Seit dem 1. Januar 1872 galt der Paragraph 175, der von 1935 über die gesamte Nachkriegszeit bis 1969 wie folgt lautete: „(1) Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.“68

Transsexuelle wurden oftmals pauschal als Homosexuelle betrachtet oder wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ angeklagt.69 Wegen der Strafbarkeit 66 Ohne Verfasser (1969), S. 55–76. 67 Im Quellensample war insgesamt von 16 Patienten bis 1970 in den Akten vermerkt, dass sie nicht cis-heterosexuell waren. Dies entspricht mit ca. 4,2 % der Akten einer Zahl, die innerhalb der Bandbreite der Schätzungen über die Anzahl der SBTI-Menschen in westlichen Gesellschaften liegt. Kinsey (1965); S. 600 ff.; Schmidt (1993), S. 35; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2010), S. 84. Lässt man die Tatsache außer Acht, dass psychische Beschwerden bei SBTI weitaus häufiger vorkommen als in der Allgemeinbevölkerung, dann wurde die Orientierung dieser Männer, so sie bekannt war, offenbar mit einiger Zuverlässigkeit in den Krankenakten dokumentiert. In der Vergabe der Diagnosen spiegelt sich dies jedoch nicht. Eine Erstdiagnose („Pseudohermaphroditismus“) erhielt diesbezüglich nur ein einziger Patient (PUH 53/53). Auch unter den Mehrfachdiagnosen war Entsprechendes nur sehr selten genannt. Insgesamt nur vier Männer erhielten eine entsprechende Zweit- oder Drittdiagnose, die zudem alles andere als einheitlich war. Sie lauteten: „Variation des Sexualverhaltens“, „Pseudohomosexualität“, „Polymorph-Perverse Veranlagung“, sowie „Homosexuelle Neigungen“. Bei den restlichen waren entsprechende Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen lediglich in der Krankengeschichte mehr oder minder ausführlich beschrieben. Deren Befunde waren recht disparat. Am häufigsten wurden „Psychopathie“ bzw. „Abnorme Persönlichkeit“ vergeben, darüber hinaus Suchten, aber auch „Schizophrenie“. 68 Reichsministerium des Inneren (1935), S. 839. 69 Herrn (2012), S. 41–48. Wurde untergeordnete Männlichkeit ausgelebt, so machten sich die betroffenen Männer strafbar und wurden verfolgt. Die Psychiatrisierung und Kriminalisierung dieser Männer arbeiteten bald Hand in Hand, bald gegeneinander. Im Nationalsozialismus gab es eine harte Strafverfolgung, die im Nationalsozialismus in die Ermordung einiger tausend Männer mündete. Siehe hierzu Dinges (2017), S. 25. Im NS waren Männer, die untergeordnete Männlichkeiten verkörperten, unbarmherzig verfolgt worden. (siehe Jellonnek/ Lautmann (2002). Nach einem kurzen Stop, der durch das Kriegsende bedingt war, stieg die Zahl der nach § 175 StGB verurteilten schon 1946 wieder auf ca. 1000 Personen und

88

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

mann-männlicher homosexueller Aktivität gehörten die betroffenen Männer auch in den Untersuchungsbereich der forensischen Psychiatrie. Die vorangegangenen Jahre während des Nationalsozialismus hatten in diesem Kontext von Kriminalisierung, Verfolgung und Vernichtung eine „kurative“ Richtung entstehen lassen. Sogenannte „Reparativtherapien“ hatten eine Blüte erlebt. Psychiater und Psychotherapeuten, aber auch Hormonforscher versuchten, wirksame Methoden zur „Behandlung“ von Homosexualität zu entwickeln. Solche Ansätze wurden in der Bundesrepublik weiter verfolgt.70 Die klassische deutsche Psychiatrie behandelte die SBTs, wie andere straffälligen Patienten auch. Kurt Schneider sah die „Perversionen“, zu welcher Homo- und Transsexualität gezählt wurde, wiederum nicht als „Krankheit“ im eigentlichen Sinne, sondern lediglich als die „Abnormität eines leiblichen Triebes“. Diese Abweichung der „Geschlechtstriebe“ von einer nicht weiter explizierten Norm waren für ihn wiederum mögliche Kennzeichen „abnormer Persönlichkeiten“, in den schlimmeren Fällen Symptome von „Psychopathie. […] Eine sexuelle Intention, eine Begierde, eine Handlung [ist] umso abartiger, je unmöglicher aus ihr letzten Endes Zeugung werden könnte. Blickt man nur auf den ‚Lustgewinn‘, bleibt nur eine endlos fortsetzbare nivellierende Sammlung von Kuriositäten.“ 71 In den Akten der Universitätskliniken spiegelt sich diese Haltung zwar in gewisser Hinsicht in der Tatsache, dass die meisten schwulen und bisexuellen Männer als diagnostizierte „abnorme Persönlichkeiten“ bzw. „Psychopathen“, eher selten dagegen explizit als „Homosexuelle“ in den Kliniken weilten. Von den 13 in Heidelberg als SBTI charakterisierten Männern waren dies gerade einmal 4, von den 3 in Gießen ein einziger. Auch wurden bei den Patienten des Samples offenbar keine Konversionstherapien somatischer Art, also mittels Hormongabe durchgeführt. Dennoch endete in Heidelberg bei den SBTs der therapeutische Nihilismus, mit dem man andere „abnorme Persönlichkeiten“ in aller Regel weiter empfahl. Umpolungsversuche „gesprächstherapeutischer“ Art waren hier üblich. Vielen Männern wurde mehr oder weniger eindringlich nahegelegt, daran zu arbeiten, eine Beziehung zu Frauen eingehen zu können. Waren sich Patienten ihrer homosexuellen Orientierung bewusst und zeigten sich offen uninteressiert an den Reparativbehandlungen ihrer Psychiater, dann wurde dies in den Krankengeschichten dokumentiert, zusammen mit den vergeblichen Versuchen, die Patienten umzustimmen.72 Die Psychiater versuchten nicht bei jedem Patienten eine Konversion; häufig spielte die „Homosexuelle Veranlagung“ außer ihrer Erwähnung (die freilich durch ihre bloße danach jedes Jahr stärker bis auf knapp 3500 Personen um 1960. Von 1950 bis 1965 wurden schätzungsweise 45.000 Männer nach Paragraph 175 StGB verurteilt. Hoffschildt (2002), S. 140–149. Männer, die homosexuelle Handlungen begingen, bildeten damals wie heute einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft. Sie waren als solche jederzeit von Strafverfolgung bedroht. Die Stigmatisierung und Gewalterfahrung durch weite Teile der Gesellschaft, die sie erfuhren, lässt sich nicht quantifizieren. 70 Mildenberger (2008), S. 99 ff.; Brunner/Steeger (2006); Voß (2013). 71 Schneider (2007), S. 75. 72 Siehe Abschnitt 2.2.4 sowie 2.4.7.

2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“

89

Existenz auf eine Pathologisierung hinauslief) kaum eine Rolle in der weiteren Krankengeschichte.73 Abgesehen von den Konversionstherapien blieb auch für die untersuchten Unikliniken bis 1970 mann-männliches Begehren ein forensisches Problem. Insgesamt 8 der 16 schwulen und bisexuellen Männer waren im Zusammenhang mit einer Straftat in der Klinik, entweder zur strafrechtlichen Begutachtung oder weil eine seelische Krise in zeitlichem Zusammenhang mit einer Anklage oder einem Verfahren aufgetreten war. Fünf von ihnen wurden wegen ihrer sexuellen Orientierung strafrechtlich verfolgt. Vier Verfahren nach § 175 StGB, sowie einmal nach § 183a wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“. Die restlichen drei waren wegen kleinkriminellen Delikten mit der Strafjustiz in Berührung gekommen. Wurden Patienten in einem Gerichtsverfahren nach § 175 in einer Klinik auf ihre Schuldfähigkeit oder für eine Kriminalprognose begutachtet, entfielen Reparationsversuche. Für die Prognose wurde freilich bereits eruiert, ob es eine Chance auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft gäbe, was dann freilich die Einsicht des zu Begutachtenden in das „verwerfliche“ seines Tuns voraussetzte, sowie die Bereitschaft, ggf. mit therapeutischer Hilfe einen „Rückfall“ zu verhindern. Schwieriger zu eruieren ist die Anzahl der Männer, die cis-heterosexuell war, aber dennoch in den Fokus der Psychiater geriet, weil sie die gewünschten Leitmännlichkeiten nicht in gewünschter Weise verkörpern konnten, einen Anspruch auf diese jedoch auch nicht hinreichend geltend machten. Über die gesamtgesellschaftliche Relevanz dieses Phänomens der „unmännlichen Männer“ lässt sich ebenfalls nur Allgemeines sagen. Für den öffentlichen Diskurs waren und sind sie unsichtbar. Ausgehend von den bisherigen Erkenntnissen der Geschlechterforschung muss aber davon ausgegangen werden, dass der größte Teil der Männer der Gesellschaft hegemoniale Männlichkeit nicht verkörperte und dieser Teil dafür einen erheblichen Geschlechtsrollendruck erlitt, der umso stärker wurde, je mehr sich der Habitus der Betroffenen vom Ideal der Hegemonie weg und hin zu einer untergeordneten Männlichkeit bewegte. Wie viele dieser cis-heterosexuellen Männer in einem Maße ängstlich, unsicher, weich oder passiv waren, dass sie wiederum sich selbst oder der Gesellschaft zur Zumutung oder Last wurden, lässt sich bei dem gegenwärtigen Forschungsstand nicht feststellen. Ihre Zahl kann auch nicht anhand der psychiatrischen Statistik rekonstruiert werden. „Unmännliche“ cis-heterosexuelle Patienten stellten durchaus ein gängiges psychiatrisches Problem dar. Allerdings drückte sich das Interesse der Psychiater daran selten direkt in Form bestimmter Diagnosen aus, sondern erstens in einzelnen Symptomen bestimmter Krankheitskonzepte wie Ängstlichkeit, Passivität, Unterwürfigkeit, Initiativlosigkeit, Schutz- und Anlehnungsbedürfnis, „schwache Nerven“, 73

Zudem war sich in Heidelberg die Ärzteschaft offenbar uneinig über das richtige Vorgehen. In einem Fall aus dem Jahr 1963 bemühte sich der behandelnde Psychiater sogar explizit darum, seinem Patienten klarzumachen, dass seine Gefühle eine Variation, keine Erkrankung seien und er von Konversionstherapien Abstand nehmen solle. PUH 63/463.

90

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

Klagsamkeit, Insuffizienzgefühle oder Selbstunsicherheit und übersteigerter Expressivität, sowie zweitens: in den Charakterisierungen der Ärzte, die das Verhalten und die Wahrnehmung der Patienten in den Krankenakten in einem konkreten geschlechtsbezogenen Kontext beschrieben. Entsprechende Attribute fanden sich zum Beispiel in den Klassifikationen und Lehrbüchern häufig vermehrt bei Störungen mit depressiver Symptomatik. Dies wäre erstens in damaliger Terminologie des Würzburger Schlüssels die „Depressive Phase“, (beziehungsweise nach Schneiderscher Bezeichnung die „Endogene Depression“) und zweitens die „depressive Reaktion“ sowie die „depressiven Psychopathen“. Ohne dieses Krankheitsbild vollständig abzubilden, ließen sich die oben beschriebenen unmännlichen Attribute problemlos auch in den Konzeptionen der „Asthenie“ finden. Die (Neur)Asthenie, bzw. „Asthenische Psychopathie“, wurde von jeher als Krankheit der gefährdeten Männlichkeit gedeutet, wofür es ähnlich wie für zur Depressivität schon eine Reihe von Untersuchungen gibt, die den jeweiligen Diskurs beschreiben.74 Anhand der Krankenakten des Quellensamples zeigte sich, dass sich diese Geschlechterdiskurse auch im Behandlungsalltag manifestierten. Über einen jungen Arzt, der die Diagnose „Asthenische Psychopathie“ erhielt, schrieb der behandelnde Psychiater: „Schon seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft seien des öfteren Spannungen zwischen ihm und seiner Frau aufgetreten. Er habe durch Krieg und Gefangenschaft viel Zeit verloren und 1946 erst im 4. Semester sein Studium fortsetzen können, während seine Frau schon 1944 Staatsexamen gemacht habe und seit 1949 ihre eigene Praxis betreibe. […] Es sei durch den beruflichen Vorsprung der Frau für ihn nicht leicht gewesen, da er ganz von ihr abhing. […] So versucht er auch alle ungünstig zusammentreffenden Umstände sehr geschickt auszuschlachten und für das Zustandekommen des Abusus verantwortlich zu machen, so z. B. den beruflichen Vorsprung seiner Frau und seinen dadurch verletzten männlichen Stolz, die durch das lange Getrenntsein wenig harmonische Ehe. […] In seiner Verzweiflung über sich selbst, habe er sich gestern das Leben nehmen wollen mit einer Unzahl von Euphilin-Injektionen.“75

Um die Diagnose „Asthenische Psychopathie“ zu begründen, ging der Arzt in der Krankenakte nicht nur auf den Umstand der Berufstätigkeit der Frau ein, den er deutlich mit der Arbeitsunfähigkeit seines Patienten kontrastierte. Er schilderte auch den Charakter der Frau als „übermäßig dominierend“. Ähnliches galt auch für einen anderen Heidelberger Astheniker, von dem der Arzt notierte: „Leidet, weil er das Gefühl hat, unter den Weibern zu stehen.“76 Ein weiterer Patient wurde von seiner Frau geschlagen, was als Beleg für dessen asthenische Psychopathie dokumentiert wurde.77 Siegfried L., ein Angestellter, war am Arbeitsplatz geschlagen worden.

74

Zur Depression, siehe Teuber (2011), zur Neurasthenie, siehe: Erhart (2001) S. 253 ff.; Palm (2002), S. 95–108.; Zum gesellschaftlichen Diskurs der Neurasthenie: Radkau (1998), S. 127; 390 ff. 75 PUH 53/3. 76 PUH 63/355 Siehe auch UAG 54/1691. 77 PUH 63/370.

2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“

91

„Im November sei ihm von einem Kollegen, einem Grobian vom Land, der einem nur schmerzhaft die Hand drücken könne […] eine Papprolle ins Gesicht geschlagen worden. Er habe es aus Spaß gemacht. Ref. habe jedoch Schmerzen gespürt und vor allem habe ihn empört, daß jener das getan habe, als er mit dem Sachbearbeiter, einem Oberinspektor im Gespräch gestanden habe. Er habe jenen einen Simpel genannt, der habe ihn dann am Halse hochgehoben wie ein Tier. Er habe ihn noch ‚Du Grobian‘ genannt, dann habe jener ihn von einer Ecke [sic] geschmissen und ihn ins Gesicht geschlagen.“78

Der behandelnde Psychiater begründete mit dem Verhalten des Patienten in diesem Konflikt seine Diagnose „asthenische Persönlichkeit“. Die „Unmännlichkeit“ seines Patienten unterstrich er dabei mit karikierenden Schilderungen über dessen Verhalten auf der Station. So sei der Mann immer wieder zu ihm gekommen und habe gesagt: „Sehen Sie nur, meine Hände, wie zart die sind.“ 79 Auch mangelnde Durchsetzungsfähigkeit am Arbeitsplatz hielten die Ärzte der Dokumentation für würdig.80 Gegenderte Krankheitskonzepte wie Depression und Asthenie allein waren allerdings unzureichend für die Erfassung des Problems. Die Unmännlichkeit cis-heterosexueller Männer konnte nämlich von ärztlicher Seite bei Männern mit den verschiedensten Diagnosen konstatiert werden, für die überhaupt kein Geschlechtsbezug erkennbar ist, wie etwa bei der Schizophrenie. Über einen jungen psychotischen Mann wurde dokumentiert, er sei verspottet worden wegen seiner dürren Statur, weine viel und klage immer wieder „Ich finde keine Frau“.81 Eine sozialhistorisch wie auch für die damalige Psychiatrie besondere Gruppe „unmännlicher Männer“ bildeten Patienten, die aus eigener Sicht nicht mehr fähig waren, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sehr wohl jedoch aus der Sicht ihrer Psychiater. Sehr viele von ihnen befanden sich zur psychiatrischen Begutachtung im Zuge eines laufenden Verfahrens vor einem Sozialgericht in der Klinik. Dazu gehörten wiederum viele, die eine Schädigung durch den vorangegangenen Krieg vermuteten. Die betroffenen Männer waren in dreifacher Hinsicht einem Entzug der Ressourcen zur Verkörperung hegemonialer Männlichkeit ausgesetzt: Erstens hatten sie sich als unfähig erwiesen, eine soldatische Männlichkeit zu verkörpern, zweitens galten sie als arbeitsscheu und drittens litten sie an internalisierenden Störungen mit Angst, Depressivität und Somatisierungen. Eine der wichtigsten männlichkeitskonstituierenden Tätigkeiten seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es, zumindest eine Zeit lang Soldat zu sein. In dem hier behandelten Zeitraum hatten die meisten erwachsenen Männer im Zweiten Weltkrieg gekämpft und viele sogar schon im Ersten Weltkrieg, einige sogar in beiden. Insgesamt 18,2 Millionen Männer waren wenige Jahre zuvor Soldaten der Streitkräfte Hitlerdeutschlands gewesen. Von den Überlebenden geriet der weit überwiegende Teil, nämlich 11 Millionen, in alliierte Gefangenschaft. Zwischen dem Beginn 78 79 80 81

PUH 53/144. PUH 53/144. PUH 63/335 und PUH 63/355. PUH: 63/373/1.

92

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

des Zweiten Weltkrieges 1939 und der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus sowjetischer Gefangenschaft im Jahr 1956 hatte ein großer Teil der erwachsenen deutschen Männer Gewalterfahrungen durchlebt, die heute kaum noch vorstellbar sind. Nicht jeder dieser Männer hat durch diese Erlebnisse bleibende seelische Schäden davongetragen. Aber sowohl die Zeitzeugen als auch die historiographischen Rückblicke auf diese Zeit belegen die Vielzahl der apathischen, von Albträumen und Flashbacks geplagten Heimkehrer. Psychisches Leiden durch das Soldatensein kam nicht vereinzelt vor, sondern war weit verbreitet.82 Dennoch galt es in aller Regel nicht als etwas Krankes, es erforderte keine Therapie und erst recht keine Sozialleistungen, da es aus psychiatrischer Sicht keine vollständige oder auch nur eine teilweise Erwerbsunfähigkeit verursacht hatte. Der medizinische und öffentliche Diskurs um die Leiden der Kriegsheimkehrer ist von Svenja Goltermann aufgearbeitet worden.83 Die Psychiatrie in Deutschland war schon durch die Auseinandersetzung mit psychisch auffälligen Soldaten im Ersten Weltkrieg zu einer Haltung gelangt, die noch lange nach 1945 Gültigkeit besitzen sollte. In den Kriegslazaretten hatten die dort tätigen Psychiater die Beobachtung gemacht, dass manche Männer nach lebensbedrohlichen Situationen schwere psychiatrische Symptome zeigten wie Angstzustände, Verwirrtheit oder auch somatische Beschwerden wie Herzrasen und Lähmungen bis hin zum sogenannten Kriegszittern. Diese Beschwerden entwickelten sich bei den Männern jedoch unterschiedlich. Manche von ihnen blieben, unabhängig von den äußeren Umständen, langfristig psychisch auffällig – so sehr, dass sie nicht mehr im Krieg eingesetzt werden konnten. Bei anderen hingegen verschwanden die Symptome nach einer Weile wieder von alleine. Bei einer dritten Gruppe von Männern hörten die Symptome auf, jedoch nicht von alleine, sondern unter bestimmten äußeren Umständen. Wenn die kampfunfähigen Soldaten nicht von der Front zurückgezogen wurden, sondern stattdessen direkt vor Ort in Lazaretten elektrischen Stromschlägen, Nahrungsentzug oder auch vorgetäuschten chirurgischen Operationen ausgesetzt wurden – kurz, wenn ihnen der Aufenthalt im Lazarett nicht angenehmer als der Einsatz an der Front gemacht wurde, verschwanden die Symptome, und die Soldaten konnten wieder im Kampf eingesetzt werden. Daraus schloss man, dass psychiatrische Beschwerden, die im Anschluss an lebensbedrohliche Situationen auftreten konnten, in solchen Fällen 82 In der Nachkriegszeit wurden zwischen 1948 und 1970 in den Akten des Quellensamples 5 Männer (3 %) in Heidelberg, sowie 18 (9,3 %) in Gießen daraufhin begutachtet, ob sich ihre seelischen Leiden auf Ereignisse im Krieg zurückführen ließen. Dies sind also etwa 6 % der Patienten insgesamt. Im Falle eines positiven Bescheids hätte dieser in dem jeweiligen Verfahren bei den zuständigen Ämtern zur Einforderung von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (Kriegsgeschädigtenleistungsgesetz vor 1950) geltend gemacht werden können. Nicht nur für das Sample ist dies eine ernstzunehmende Größe. Dazu kamen in Heidelberg 4 (2,4 %) kriegsbedingt substanzabhängige Männer. Potentiell kriegsgeschädigte Männer befanden sich also bis 1970 insgesamt 27, das entspricht etwa 7,5 % der Gesamtheit in den Kliniken. 83 Goltermann (2009).

2.4 „Perverse“, „Astheniker“, „Rentenhysteriker“

93

von einem „Willen zur Krankheit“ 84 geleitet seien. Die Diagnosen, die man stellte, waren dann in diesem Fall „psychogene Reaktion“, oder auch „hysterische Zweckreaktion“, beziehungsweise „Kriegshysterie“. In den anderen Fällen jedoch hätten sie lediglich eine bereits latent vorhandene psychiatrische Krankheit oder „Abnormität“ zu Tage gebracht. Wer eine solche Rosskur wie die Behandlung durch die Kriegspsychiater durchlebt hatte, konnte noch mehr als ein halbes Jahrhundert danach leidvolle Erinnerungen daran haben, wie ein Gießener Patient:85 „Im ersten Weltkrieg verschüttet gewesen und habe einen Nervenschock mit Beinlähmung davongetragen. Er habe danach kaum noch laufen können. […] Eine Kriegsbeschädigtenrente sei ihm […] schließlich abgesprochen worden, so dass er dann gar keine Entschädigung bekommen habe. […] Er beginnt dann spontan von seiner Beinlähmung zu erzählen und berichtet […] weiterhin von einem Dr. [E.], der ihn im Psychiatrischen Krankenhaus Gießen seinerzeit hypnotisiert habe und angeblich auch beschimpft habe und ihn schließlich auch in den Hintern getreten habe. Er ist voller Anklage gegen diesen Arzt und fühlt sich zu Unrecht beurteilt, da man ihn ja nach dieser Hypothese seine bis dahin gewährte 100 %ige KB-Rente entzogen hätte […] („keinen Dank vom Vaterland!)“

Nach dem Ersten Weltkrieg wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Soldaten psychisch auffällig, hatten Albträume und Schlafstörungen, zogen sich zurück, litten an Übererregbarkeit und Angstzuständen. Etwas mehr als fünf Jahre nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands trat am 1. Dezember 1950 das Gesetz zur Versorgung der Opfer des Krieges (Kurz: Bundesversorgungsgesetz, oder BVG genannt) in Kraft. Viele psychisch verletzte Männer beantragten Leistungen. Fanden sich jedoch keine körperlichen Verletzungen, die die psychopathologischen Symptome erklären konnten, etwa Schussverletzungen am Schädel, wurden solche Forderungen in aller Regel abgelehnt. Hierbei zeigte sich eine explizite Kontinuität zu den Praktiken der Kriegspsychiatrie, sowie zu der Erstattungspraxis nach dem Ersten Weltkrieg:86 Wer keine somatischen Verletzungen aufwies, hatte dieser zu Folge entweder einen angeborenen Defekt oder aber er zog aus seinem Zustand einen Nutzen – nämlich die Hoffnung auf Sozialleistungen. Sogar der Psychiater Ulrich Ventzlaff, einer der Begründer der Psychotraumatologie in Deutschland, konnte das Leiden der Kriegstraumatisierten 1959 nur im Sinnhorizont der Kriegspsychiatrie deuten. So sprach auch er von einer „Flucht in die Krankheit“, die in solchen Fällen stets der eigentliche Hintergrund der beklagten Störung sei: Im Krieg, um „der Gefahrensituation zu entgehen (Beispiel Kriegszitterer), [in Friedenszeiten, um] als Sozialrentner den Anforderungen des Alltags auszuweichen, seine Lebensuntüchtigkeit hinter einem unschuldig erlittenen Schicksal zu verbergen oder einfach, um aus der Tatsache des Versichertsein materielle Vorteile zu ziehen.“ 87 Diese Sichtweise hatte jedoch nicht nur zur Folge, dass psychisch verletzte Männer im Gegensatz zu körperlich versehrten 84 85 86 87

So der Berliner Psychiater Karl Bonhoeffer, zitiert nach Goltermann (2009). S. 170. UAG 70/339. Neuner (2011). Ventzlaff (1959) zitiert nach Goltermann (2009), S. 331.

94

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg kaum entschädigt wurden.88 Sie wurden trotz teilweise massivsten Beschwerden aus der gleichen Logik heraus auch in Bezug auf therapeutische Maßnahmen diskriminiert; denn solche, so die Argumentation, würden die „Kriegshysteriker“ lediglich in ihrer Fehlhaltung bekräftigen. Es verbot sich auch folglich, wenn schon nicht monetär zu entschädigen, die Betroffenen wenigstens psychotherapeutisch zu behandeln. Denn obwohl diese „Fehlhaltung“ eine Diagnose besaß, ob nun „Psychopathie“, „Hysterische Zweckreaktion“, oder „Rentenneurose“, sei die medizinische Anerkennung des Leidens Wasser auf den Mühlen der Männer, die sich in „ihren Zustand hineinsteigerten“.89 Die psychogenen Diagnosen dienten also der klassischen Psychiatrie lediglich als Versicherung dafür, dass es sich dabei keinesfalls um Krankheiten handle. Die Verantwortung für die Leiden der Männer und für ihre Genesung wurde somit bei den jeweiligen Männern selbst verortet. Dies lief auf eine Kulpisierung von Vorgängen hinaus, was sich auch in wertenden Bezeichnungen wie „simulatorische Tendenzen“ widerspiegelt. Es geschah vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Kriegsheimkehrer öffentlich nicht immer ohne weiteres als Opfer der Geschehnisse des Krieges dargestellt werden konnten. Tatsächlich dürfte sowohl die Tatsache, dass die Soldaten „den Krieg nicht gewonnen hatten“, als auch später die Berichterstattung über die Kriegsgräuel, die deutsche Soldaten verübt hatten, in den sozialrechtlichen Auseinandersetzungen nicht unbedingt dazu beigetragen haben, ein (auch juristisch wirksames) Verständnis für eine moralische Verpflichtung zur Versorgung der Heimkehrer zu etablieren, wie es sich selbst für die NS-Verfolgten nur gegen erhebliche Widerstände durchsetzte.90 Nicht nur die Männer, die durch kompensatorische Praktiken zum Erreichen hegemonialer Männlichkeit psychisch auffällig geworden waren, standen im Fokus der Psychiater. Auch Männer, die diesen Anspruch nicht (oder nicht mehr) erhoben und daher für die Psychiatrie eine in Teilen oder vollständig untergeordnete Männlichkeit verkörperten, wurden psychiatrisiert. Reichweite und Konsequenzen dieser ärztlichen Aneignung ähnelten partiell dem der erstgenannten Gruppe. Da zum Beispiel SBT-Männer Straftäter waren, kulpisierte die Psychiatrie durch ihre Beteiligung am System der Strafverfolgung diese Männer in erheblichem Maße, genau wie andere delinquente Patienten auch. Unterschiede ergaben sich jedoch, zumindest in den Heidelberger Fällen, was die Durchführung von Therapien solcher Männer betraf. Hier behandelten Psychiater schwule und bisexuelle Männer regelmäßig mit Konversionstherapien. Männer mit Kriegstraumata und anderen psychogen bedingten Leiden mit internalisierender Symptomatik wurden kulpisiert, in88 Wolters (2015). 89 Goltermann (2009) S. 333. 90 Zu der Dynamik zwischen Psychiatrie und Gerichten in Hinsicht auf die Versorgung von Kriegsheimkehrern im Verhältnis zu NS-Verfolgten, siehe: Goltermann (2009), S. 319– 344. Zur öffentlichen Repräsentation von Heimkehrern in dieser Hinsicht, siehe ebd. 403–418.

95

2.5 „Verletzter männlicher Stolz“

dem man ihnen kategorisch jegliche Einschränkung der Erwerbsfähigkeit absprach und Therapien kontraindizierte. Von den SBT und den internalisierenden Männern mit Versorgungsansprüchen abgesehen existierte eine von den Diagnosen her betrachtet sehr heterogene Gruppe aus Depressiven, Asthenikern, selbstunsicheren, aber auch schizoiden Psychopathen und Schizophrenen, deren einzige Gemeinsamkeit es war, dass sie für Psychiater an der Verkörperung hegemonialer Männlichkeit gescheitert waren und nun eine untergeordnete Männlichkeit kommunizierten, die als pathologisch beschrieben wurde. Eine systematische therapeutische Remaskulinisierung, eine Behandlung der Unmännlichkeit, ließ sich in bestimmten Fällen nachweisen, in anderen nicht. Die Konstatierung des fehlenden männlichen Habitus hatte in letzteren Fällen, wo sie über die bloße Begründung der Diagnose hinausging, offenbar lediglich eine markierende Funktion. Sieht man von den Fällen von Begutachtung ab, wurde bei den tendenziell untergeordneten Männern jedoch eine andere Art der Pathologisierung angewendet als bei den externalisierenden Männern. Überwog bei diesen deutlich die kulpisierende Intention der Deutung, zeigten sich bei den internalisierenden Männern und den SBTI auch deutliche therapeutische Impulse im ärztlichen Krankheitsverständnis. Tab. 2 Nicht-cis-heterosexuelle Patienten und Patienten mit internalisierenden Störungen 1948 bis 1970 Patienten 1948 bis 1970 gesamt

362

Nicht-cis-heterosexuelle Patienten und Patienten mit internalisierenden Störungen, davon:

118

Nicht-cis-heterosexuelle Männer

16

Nicht cis-heterosexuelle Männer mit Diagnosen, die direkt auf die Orientierung bzw. Geschlechtsidentität verwiesen

5

Nicht-cis-heterosexuelle Männer, die im Kontext einer Straftat in der Klinik waren

8

Dokumentierte ärztliche Konversionsversuche von nicht-cis-heterosexuellen Männern

8

Ehemalige Soldaten der deutschen Streitkräfte in Verfahren um Versorgungsleistungen

23

Männer mit Depressiven und (Neur)asthenischen Störungen

79

2.5 „Verletzter männlicher Stolz“ – Die vage Ahnung von der krankmachenden Männlichkeit Die vorangegangenen Abschnitte haben gezeigt, dass Männlichkeit durchaus eine strukturgebende Kategorie in der Psychopathologie und im klinischen Alltag war. Internalisierendes und Externalisierendes Bewältigungsverhalten wirkte als doing masculinity, wenn Psychiater Krankheitskonzepte entwarfen, Patienten beobachteten, ihre Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen beschrie-

96

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

ben und diese dann pathologisierten, entweder mit einer kulpisierenden Intention oder um sich diese Ideen therapeutisch anzueignen. Das Resultat der klinischen Diskurse waren jedoch wiederum weitestgehend geschlechtsneutrale Deutungen vom Ursprung und Verlauf der psychischen Krankheiten und Abnormitäten. Geschlechtsspezifische Unterschiede waren am Ende des wissenschaftlichen Abstraktionsprozesses wieder unsichtbar gemacht. Männlichkeit als manifest und systematisch beschriebener pathogener Faktor war in diesem System nicht vorgesehen. Dabei taucht ein implizites Verständnis dessen, was man heute mit dem sehr allgemeinen Überbegriff „Hypermaskulinität“ bezeichnet, auch schon in den 25 Jahren nach Kriegsende auf. Der Terminus, der erst seit den 1980er Jahren existiert, bezeichnet eine Reihe von Persönlichkeitseigenschaften, eine Übersteigerung von stereotypisch-männlichen Verhaltensweisen wie physischer Stärke, sexueller Aktivität und Aggressivität.91 Hypermaskulinität wird heute als Kompensationsmechanismus von Männern für ein reales oder subjektiv wahrgenommenes „Männlichkeitsdefizit“ interpretiert. Praxeologisch betrachtet handelt es sich dabei um die demonstrative Praktizierung von Männlichkeit; Hypermaskulinität ist daher ein häufig vorkommendes Phänomen überall dort, wo Männer von der Verkörperung hegemonialer Männlichkeit ausgeschlossen sind.92 Bei Heranwachsenden ist sie häufig Ausdruck der Unsicherheit im Übergang vom Jungen zum erwachsenen Mann. Bei marginalisierten Männern kann sie Mittel zur Behauptung des eigenen Hegemonieanspruches gegen die etablierte hegemoniale Männlichkeit sein, oder aber eine Art verzweifelter Versuch der unbefugten Aneignung von deren Statussymbolen.93 Bei älteren Männern, die mit ihrer schwindenden sexuellen Attraktivität und dem Ende des Berufslebens zahlreiche Männlichkeitsressourcen verlieren, tritt Hypermaskulinität ebenfalls vereinzelt wieder gehäuft auf. Da traditionelle hegemoniale Männlichkeit deutlich zu externalisierenden Wahrnehmungs- und Bewältigungsverhalten tendiert, bedeutet Hypermaskulinität immer eine Übersteigerung externalisierender Praktiken, wodurch das sozial erwünschte Maß in unterschiedlichem Ausmaß überschritten wird. Die im Abschnitt 2.1.7 geschilderten Motive von Straftätern und jugendlichen Delinquenten würden in einem heutigen klinischen Setting nicht ohne Rückgriff auf Hypermaskulinität oder verwandte Konzepte gedeutet werden. Ähnliches gilt für viele Fälle von riskantem Alkohol- und Substanzkonsum gerade unter jungen Männern.94 In den 1950er und 1960er Jahren erschienen sie im psychiatrischen Diskurs noch selten als kompensatorisch und demonstrativ, im hier untersuchten Klinikalltag allenfalls zufällig. Eben diese demonstrative, ich-fremde, in vielen Fällen auch gespielt wirkende Dimension der Hypermaskulinität war der klassischen Psychiatrie dieser Zeit nahezu fremd. Dies mag daran liegen, dass für die Erklärung solcher 91 92 93 94

Mosher/Sirkin (1984), S. 150–163. Meuser (2010), S. 51, S. 118. Meuser (2010), S. 126 ff. Kersten (1997), Stöver (2015), S. 60–88.

2.5 „Verletzter männlicher Stolz“

97

Mechanismen ein deskriptiv-phänomenologisches Krankheitsverständnis, wie es etwa Kurt Schneiders Psychopathologie ist, nicht ausreicht. Dennoch kam auch dieser nicht ganz um dynamische Erklärungen herum, die allerdings bemüht geschlechtsneutral formuliert waren. So konzipierte Schneider beispielsweise den Typus des „geltungssüchtigen Psychopathen“: „Unter geltungssüchtigen Psychopathen verstehen wir Persönlichkeiten, die mehr scheinen wollen als sie in Wirklichkeit sind, also eitle, unechte Persönlichkeiten. […] Dieses Geltungsbedürfnis kann sich einerseits in exzentrischem Wesen zeigen; […] Ferner kann der Weg des selbstgefälligen Renommierens gewählt werden und endlich werden, um die eigene Persönlichkeit zu heben, phantastische Märchen erzählt oder vorgespielt. […] In der Sucht, eine Rolle zu spielen, die ihm das wirkliche Leben versagt, spielt der Pseudologe anderen und sich selbst Theater vor.“95

Schneider nahm also quasi en passant die Insuffizienzgefühle der Geltungssüchtigen als Ursachen des „abnormen“ Verhaltens an. Ähnlich schrieb er über bestimmte sogenannte „selbstunsichere Psychopathen“: Diese seien zwar einerseits Menschen, die ständig „an sich herumgrübeln, sich wenig zutrauen und andere, meist viel weniger wertvolle Menschen mit der Fähigkeit, etwas aus sich zu machen und sicher aufzutreten, bewundern.“ Andererseits würde „die innere Unfreiheit und Schüchternheit Selbstunsicherer […] manchmal nach außen krampfhaft ausgeglichen durch allzu sicheres, ja anmaßendes Auftreten.“ Andere Psychopathen, deren Verhalten man heute als hypermaskulin bezeichnen könnte, sind bei Schneider wiederum komplett statisch konzipiert. Weniger als Kompensation eines Insuffizienzgefühls, sondern vielmehr als natürlichen Bestandteil des eigenen Wesens, sieht Schneider etwa das externalisierende Verhalten sogenannter „hyperthymische[r] Psychopathen, die durch heitere Grundstimmung, lebhaftes Temperament und eine gewisse Aktivität gekennzeichnet sind“, und die „in Folge ihres lebhaften Temperaments und ihres meist gehobenen Selbstgefühls häufig in Streitigkeiten hineingezogen werden.“ Es seien „namentlich jugendliche Hyperthymiker, die […] gerne über die Stränge schlagen, häufig Umgebung und Stellung wechseln und so sozial mitunter das Gesicht des Haltlosen bekommen.“ 96 Eine Pathodynamik der Männlichkeit war kein Bestandteil der klassischen Psychopathologie. Etwas häufiger fanden sich entsprechende Passagen in den Patientenakten.97 Hypermaskulinität tauchte als Kompensationsmechanismus in den Krankengeschichten häufiger auf, als man es wegen ihrer statischen Konzeption in der Psychopathologie eigentlich erwarten würde. Einen Patienten (Diagnose: Abnorme Persönlichkeitsentwicklung) zitierten Heidelberger Psychiater folgendermaßen:

95 Schneider (2007), S. 13. 96 Schneider (2007), S. 11. 97 Insgesamt sind es in etwa 16 Akten bis 1970, die sich aufgrund der hier häufig vorkommenden Thematisierung für eine eingehendere Betrachtung eignen, da man tatsächlich von Hypermaskulinität sprechen kann und nicht von vereinzelt dokumentierten hypermaskulinen Verhaltensweisen.

98

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten „Er sei damals stark von dem Gerede anderer Jungen beeindruckt gewesen, die mit ihren sexuellen Leistungen geprotzt hätten. Er habe sich in sexueller Hinsicht dauernd mit den anderen verglichen und habe Angst gehabt, er könne sich bei den Mädchen blamieren, daß er nicht (wie die Anderen) auf GV dränge. […] Pat. berichtet über sein Ideal der Lässigkeit, das ihn veranlasse, möglichst ebenso zu sein wie die anderen Jugendlichen seiner Gruppe. Er habe allerdings das Gefühl, daß er seinem Wesen nach gar nicht geeignet sei, sich ebenso zu verhalten wie die recht kühlen Burschen in seiner Umgebung. Er habe früher in Zeitschriften, Illustrierten u. drgl. mit Eifer nachgelesen, wie man sich in Kleinigkeiten, z. B. dem Halten von Zigaretten usw. benehmen müsse, um ja auch männlich zu wirken. Seine große Angst sei, weiblich zu wirken […].“98

Auch bei einem weiteren Patienten aus diesem Jahr erkannten Psychiater in der hypermaskulinen Kompensation eines Mannes ein Symptom tiefergehender Ängste: Befragt nach der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs mit seiner Frau, habe diese eine wesentlich geringere Häufigkeit angegeben, als der Patient selbst in Abwesenheit seiner Gattin wenige Stunden zuvor.99 Ein anderer Patient mit zerrütteter Ehe (Diagnose: Eifersuchtswahn) bekräftigte: „Er habe jetzt erst bemerkt, dass er seine Frau überhaupt falsch behandelt habe, dass nicht er hätte den Eifersüchtigen spielen müssen, sondern dass er sie habe vielmehr eifersüchtig machen müssen. Dies sei ihm eigentlich schon etwas gelungen. So habe ihn am letzten Wochenende seine frühere Sekretärin besucht, dies sei ein 21-jähriges Mädchen, ein Rasseweib, hübsch, elegant, begehrenswert.“100

Solche Schilderungen von Männlichkeitspraktiken als internalisierend, ichfremd und histrionisch waren allerdings in der Minderzahl. Meist erklärten forensische Psychiater die verschiedenen Straftaten ihrer delinquenten Patienten als Teil von deren Persönlichkeit, wobei sexuelle Aggressivität als Kompensation für gesellschaftliches Scheitern eine wichtige Rolle spielte: Unzufriedenheit mit seinem Status als Mann habe einen Patienten auch einige Jahre zuvor dazu bewegt, mit einem neunjährigen Mädchen „Unzucht“ zu treiben, wofür er verurteilt worden war.101 Ein weiterer Patient, ein Junge aus einem Erziehungsheim, war neben Diebstählen, Körperverletzung und Fahrens ohne Führerschein ebenfalls aufgrund eines Vergewaltigungsversuches angeklagt. Der junge Mann hatte, so sein Gutachter, eine Vielzahl von Eigentumsdelikten begangen, um sich einen Volkswagen kaufen zu können, der ihm wiederum als männliches Statussymbol dienen sollte.102 Die Akte belegt ein ausgeprägtes Interesse des zuständigen Psychiaters an Schilderungen des Patienten, der sich ausgiebig mit seinen vielfältigen sexuellen Erfolgen gebrüstet habe. Der Arzt ging davon aus, dass die „Promiskuität“ des Jungen eine Ersatzhandlung für seine Unfähigkeit, gesellschaftlich zu partizipieren, sei – eine Interpretation, zu deren Stützung er den Delinquenten mit der Aussage: „Mädchen sind mein einziger Erfolg“ zitierte.103 Es existierte also sowohl auf der Ebene der 98 99 100 101 102 103

PUH 63/353. PUH: 63/454. PUH 63/368. PUH 63/242. PUH 63/242. PUH 63/448.

2.6 Neue Männer? Leitmännlichkeiten nach 1970

99

Psychopathologie als auch im klinischen Alltag ein vages Verständnis von krankmachender Männlichkeit. Dieses war jedoch noch nicht erkennbar ausgearbeitet, geschweige denn standardmäßig angewendet.104 Tab. 3 Explizite Thematisierung von Männlichkeit als pathogen durch Ärzte bis 1970 Patienten bis 1970 insgesamt Patienten bei denen Ärzte wiederholt und explizit Männlichkeit als mitursächlich für die Beschwerden charakterisierten

362 16

2.6 Neue Männer? Leitmännlichkeiten nach 1970 Mit dem sozialen Wandel seit den späten 1960er Jahren veränderte sich auch die Leitmännlichkeit, wobei es zu Überlappungen zwischen traditioneller und moderner Männlichkeit kam. Das militaristische Erbe verflüchtigte sich weiter, ohne jedoch vollständig zu verschwinden.105 Anstatt des Gehorsams in einer festgelegten gesellschaftlichen Ordnung wurde nun vom idealen Mann verlangt, in einer freien Marktwirtschaft hinreichend souverän agieren zu können, die schon seit den 1970er Jahren mehr und mehr transnational funktionierte. Dies setzte eine gewisse Unempfänglichkeit für die traditionellen autoritären Strukturen voraus, zumal der ideale Mann sich nun nicht zuletzt über den Konsum definierte und seine Männlichkeit über den Erwerb von Statussymbolen praktizierte.106 Offene physische Aggression und Gewalttätigkeit wurden weiter delegitimiert.107 Neben seiner Durchsetzungsfähigkeit sollte er ein gewisses Maß an Weichheit und Expressivität zulassen; zudem sollte er die zunehmende Unabhängigkeit seiner Partnerin akzeptieren und seinen Kindern mehr Freiheiten als zuvor zugestehen.108 Im Zuge der fortgeschrittenen Subjektivierung unter Gesundheitsnormen wurde nun auch eine gewisse Gesundheitskompetenz verlangt, die eine Abwendung von den Tugenden traditioneller Männlichkeit voraussetzte. Waren feminine Eigenschaften zwar immer noch nicht wirklich bei Männern erwünscht, so wurde zumindest die Lebensführung schwuler und bisexueller Männer weitestgehend entkriminalisiert.109 Dennoch war der „Neue Mann“ zumindest in Reinform niemals ein breitenwirksames Leitbild.110 Der Familienvater sollte weiterhin wirtschaftlich den überwiegenden Teil des Familieneinkommens verdienen. Deshalb lässt sich eher von einer gewissen Pluralisierung akzeptabler Männlichkeitsentwürfe sprechen.111 Unverändert blieb auch 104 105 106 107 108 109 110 111

Siehe für Gießen: UAG 54/1870; UAG 55/1096; 59/728; UAG 59/1714; UAG 52/1853. Schmale (2003), S. 250. Dinges, Wandel (2013), S. 41–44; Hanisch (2005), S. 242; Connell (1998). Hanisch (2005), S. 118. Dinges, Wandel (2013), S. 44. Hanisch (2005), S. 272 f. Cornelißen (1992), S. 53–69; Schmale (2005), S. 246, 256. Schmale (2003), S. 233–267.

100

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

die Praktik, Männlichkeit über den Konsum von psychoaktiven Substanzen zu konstruieren. 2.7 „Suchtkranke“, „Neurotisch-Delinquente“, „Hyperaktive“ – Die Therapeutisierung der externalisierenden Männer Externalisierendes Verhalten wie vermehrter Substanzkonsum, Aggressivität und Delinquenz brachte Männer auch in den folgenden Jahren in die Kliniken. Doch im Zuge der Reformen änderte sich die Art und Weise, in der sie dort pathologisiert wurden. Die Konzepte der „Abnormität“ hatten vor allem den Zweck gehabt, solche Männer aus dem Bereich des Krankseins und der Therapie in den Bereich der Schuld vor der Gemeinschaft und an deren disziplinierende Institutionen zu verweisen: Kirche, Heimerziehung und Strafjustiz. Diese Haltung änderte sich erheblich als reformorientierte Kräfte innerhalb der Psychiatrie begannen, ihre Pläne in die Tat umsetzen. Die sozialpsychiatrischen Reformen sowie die Etablierung der psychodynamischen Schulen in Psychotherapie und Psychosomatik führten zu Änderungen der Krankheitskonzepte und damit auch zu einem Wandel in der Sicht auf das psychische Leiden von Männern. Die psychodynamischen Schulen kämpften im Zuge der Auseinandersetzungen um ihre Anerkennung als medizinische Disziplin zwangsläufig dafür, dass auch solche Zustände, die keinen erkennbaren somatischen Ursprung besaßen, versicherungsrechtlich als „echte“ Krankheiten anerkannt würden.112 Die klassische Psychiatrie beharrte hingegen auf dem Primat des Somatischen.113 Mit Einführung des ICD-8 wurde die „Seelische Störung“ institutionalisiert. Diese Erweiterung erschloss eine Reihe von externalisierenden Verhaltensweisen von Männern für die ärztliche (und psychologische) Intervention und Behandlung, die zuvor zwar pathologisiert, größtenteils aber dem therapeutischen Nihilismus oder der Degenerationslehre mit ihren Auswüchsen überlassen worden waren. In diesem Kontext zu nennen sind vor allem die moderne Suchtmedizin und die Behandlung von „Neurosen“, „Persönlichkeitsstörungen“ (wie man die „Psychopathien“ nun nannte), „sexuellen Verhaltensabweichungen“ sowie „Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter“. Deutlich zeigten sich diese Vorgänge am Beispiel der Suchtmedizin. Das Problem war in der Zwischenzeit nicht geringer geworden. Der Alkoholkonsum in der Bundesrepublik befand sich 1975 auf dem höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen.114 In Bezug auf Fallzahlen weit weniger virulent, dafür medial umso präsenter war die sogenannte zweite Drogenwelle, die

112 Rudolf/Rüger (2016), S. 62–70; Roelcke (2008); Waldherr (2003), S. 150–151; Lohff (2014); Stöckel (2014), S. 309–324. 113 Ebd., S. 314. 114 Tappe (2002), S. 214.

2.7 „Suchtkranke“, „Neurotisch-Delinquente“, „Hyperaktive“

101

ebenfalls Ende der 1960er viele Substanzabhängige in die Kliniken brachte.115 Zu diesen gehörten viele Jugendliche und junge Erwachsene, deren Alkoholund Drogenkonsum im Kontext eines Generationenkonfliktes gedeutet wurde, der zu diesem Zeitpunkt gerade in Universitätsstädten tatsächlich verhältnismäßig lautstark ausgetragen wurde. Der vermehrte Konsum bei Männern ließ sich weiterhin nur im Kontext von Praktiken der Männlichkeit erklären. Männer nutzten Alkohol als Selbstmedikation, um für das Erwerbsleben funktionsfähig zu bleiben.116 Nach wie vor bildete der Konsum von Alkohol einen festen Bestandteil verschiedenster homosozialer Aktivitäten. Während die WHO bereits 1952 empfohlen hatte, die „Typology of Alcoholism“ des amerikanischen Psychiaters Elvin Morton Jellinek zu adaptieren, das die psychosoziale Dimension des Problems mit einbezog und Frühbehandlungen vorsah, verblieben die suchtkranken Männer zunächst in ihrem sonderbaren Status zwischen Krankheit und „Nicht-Krankheit“.117 1964 fand in Frankfurt am Main der „27. Internationale Kongress ‚Alkohol und Alkoholismus‘“ statt. Bis dahin, so erinnerte sich Max Glatt, habe es „kaum einen deutschen Arzt oder Sozialarbeiter mit besonderem Interesse oder halbwegs moderner internationaler Sachkenntnis an Alkoholproblemen“ gegeben. Vier Jahre später, 1968, stellte das Bundessozialgericht in Kassel fest, dass „Trunksucht“ eine Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung sei. Ähnlich wurde kurze Zeit später für die Abhängigkeit von anderen Substanzen entschieden. Damit wurden die finanziellen Voraussetzungen der modernen Suchtmedizin geschaffen. Aufbauend auf diesen wissenschaftlichen Initiativen und Gerichtsentscheidungen konnten die Autoren der Psychiatrie-Enquete Vorschläge für die weitere Entwicklung machen. Zum Thema Alkoholkrankheit hieß es dort: „Das heutige Behandlungsangebot erfordert angesichts der multikonditionalen Entstehung des Alkoholismus ein komplexes therapeutisches Programm, das nur durch Zusammenarbeit mehrerer Therapeuten verschiedener Fachrichtungen (insbesondere Psychiater, Neurologen, Internisten, Psychologen und Sozialarbeiter) ermöglicht werden kann. In der Regel beginnt die Therapie des Alkoholkranken mit einer Behandlung der akuten Intoxikationserscheinungen (Entgiftungsbehandlung). Hieran schließt sich die Entwöhnungsbehandlung an, die durch die gleichzeitige Anwendung medikamentöser, sozialtherapeutischer und psychotherapeutischer Verfahren gekennzeichnet ist. Die besten Resultate versprechen gegenwärtig Gruppentherapien, die konfliktzentrierte Einzelberatung, sozialtherapeutische Aktivitäten, sowie vor allem die Beteiligung an Selbsthilfeorganisationen.“

Für die Behandlung der Drogenabhängigen sah man kein wesentlich anderes Vorgehen angezeigt. „Die Prinzipien der Therapie von Alkoholabhängigen und die dort herausgestellten Einschränkungen gelten grundsätzlich auch bei Drogenabhängigkeit. […] Wie bei den Alkoholkranken ist eine Behandlungskette angezeigt.“

115 Die Psychiatrie-Enquete schätzte die Zahl der „suchtkranken“ Konsumenten illegaler Rauschmittel Anfang der 1970er Jahre auf 10.000, die der Alkoholkranken auf 600.000. Sachverständigenkommission der Deutschen Bundesregierung (1975), S. 267. 116 Siehe Abschnitt 2.3.5. 117 Bowman/Jellinek (1941).

102

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

Die differenziertere Herangehensweise spiegelte sich auch in den Krankheitskonzepten der psychiatrischen Klassifikation wider. Das ICD-8 unterschied nicht nur zwischen „Alkoholpsychosen“, also dem eher somatischen Bereich und Alkoholismus, dem psychosozialen Bereich des Phänomens. Letztere Kategorie differenzierte zudem auch zwischen den Diagnosen „Episodisches Trinken im Übermaß“, „Gewohnheitsmäßiges Trinken im Übermaß“ und der eigentlichen „Alkoholsucht“ – verschiedene Erscheinungsformen und Stadien, die unterschiedliche therapeutische Ansätze erforderten.118 Der übermäßige Alkoholkonsum war damit weitestgehend pathologisiert worden, die Kulpisierung trinkender Männer war zumindest unter Berufung auf den psychiatrischen Diskurs nicht mehr möglich. Für Straftäter ergaben die Reformen ebenfalls Änderungen. Auch sie genossen mehr als zuvor den Status der Therapiebedürftigkeit. Kriminelles Verhalten wurde also zunehmend pathologisiert, was de facto bedeutete, dass es ein Stück weit der Sphäre der Schuld mit ihrer Institution der Strafjustiz entzogen und der Sphäre der Krankheit und den Therapeuten zugeteilt wurde. Dies betraf zum einen Straftäter, die für schuldunfähig erklärt und in sogenannter Sicherheitsverwahrung untergebracht wurden. Dazu gehörten 1973 knapp 4000 Männer und (einige wenige Frauen).119 Im Falle dieser Personen materialisierte sich eine solche zunehmende Pathologisierung auch in der Art und Weise ihrer Unterbringung. Sicherheitsverwahrung hatte bis dahin meist in Gefängnissen stattgefunden; die dafür vorgesehenen Bereiche unterschieden sich in baulicher Hinsicht kaum vom restlichen Gefängnis. Personell war der einzige Unterschied ein mehr oder minder häufig anwesender Arzt. In den kommenden Jahrzehnten sollten die Abteilungen für forensische Psychiatrie häufiger auf den Geländen psychiatrischer Krankenhäuser eingerichtet werden.120 Von größerer Bedeutung für die Ausweitung von Therapieangeboten war jedoch die Bereitstellung psychotherapeutischer Angebote für reguläre, also schuldfähige Gefängnisinsassen – jedes Jahr immerhin einige Zehntausend. Die früheren „Psychopathen“ konnte man nun als „Persönlichkeitsgestörte“ oder „Neurotiker“ dem medizinischen Komplex einverleiben und mit ihnen „Sozialtherapien“ durchführen. Das psychoanalytische Konzept der Neurose bot auf der ätiologischen Ebene die Möglichkeit, die Handlungen von Straftätern aus deren Biographie zu erklären. Da die Neurosen im Gegensatz zu den statischen (oder gar erblichen) „Psychopathien“ als psychogene Störungen konzipiert waren, eröffneten sie die Möglichkeit, Straftäter psychotherapeutisch zu behandeln. Folglich wurden sogar die Männer, die schuldig gesprochen geworden waren, durch die Psychotherapie bzw. die Sozialpsychiatrie in gewisser Hinsicht exkulpiert, dabei jedoch mehr als zuvor pathologisiert. 118 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013): ICD-8West: S. 229 f., 239 f. 119 Sachverständigenkommission der Deutschen Bundesregierung (1975). 281 f. 120 Leygraf (1989), S. 16–17; Schöch/Arzt/Baumann/Brauneck/Calliess/Kaufmann/et al. (1982), S. 207–212.

2.7 „Suchtkranke“, „Neurotisch-Delinquente“, „Hyperaktive“

103

„Kurz gesagt: eine Tendenz gewinnt an Boden, die delinquentes Verhalten vorwiegend in therapeutischen Begriffen bewerten will. Zweifellos nicht nur philanthropisch begründetes Resozialisierungsinteresse liebäugelt mit dem Gedanken, daß der Krankheitsbegriff den Strafbegriff verdrängen möge, und dies mit der guten Absicht, daß eine vergeltende, rigide Praxis endlich einer therapieverpflichteten Zuwendung weichen solle.“121

Ähnlich wie bei den Vorgängen um die Straftäter entwickelte sich die Rolle der Ärzte in der Heimerziehung. Im Zuge der sogenannten Heimreform wurden in den 1970er Jahren die Weichen gestellt für eine erhebliche Verringerung der Anzahl der Kinder- und Jugendlichen, die in Heimen lebten. Anfang der 1970er Jahre waren ca. 26.000 Minderjährige in Heimen untergebracht, zehn Jahre später hatte sich ihre Zahl mit ca. 13.500 fast halbiert, um 1990 waren es sogar nur noch ca. 8000. Insbesondere für Jungen blieben die Heime jedoch von Bedeutung, ihr relativer Anteil stieg sogar von ca. 58 % Anfang der 1960er Jahre bis 1980 auf etwa 70 %.122 Gleichzeitig wurde das Heimwesen professionalisiert. Traditionelle Moralvorstellungen sollten nicht mehr die Leitlinien der Erziehung bilden, sondern das Personal sollte psychologisch geschult und die Kinder entsprechend betreut werden. Therapeutische Perspektiven sollten die Arbeit der Heimerziehung leiten, das Personal entsprechend ausgebildet und die „Schwarze Pädagogik“, wie sie nun in Fachkreisen genannt wurde, der Vergangenheit angehören.123 Für die vielen Jungen mit aggressivem Störverhalten bedeutete dies jedoch – wie für die Straftäter –, eine Exkulpierung bei gleichzeitiger intensivierter Pathologisierung. Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die über den weiteren Lebensweg der Kinder durch ihre Gutachten entschied, ließ sich dieser Wandel ausmachen. Zumindest in Heidelberg wichen autoritäre und sozialhygienische Argumentationen einer eher einfühlend-therapeutischen Sprache, wie folgendes Beispiel illustrieren mag:124 Der 16-jährige Thomas E. (Diagnose „Pubertätskrise“) beispielsweise ließ seiner behandelnden Ärztin einen obszönen Brief zukommen: „Kurz und gut / in der Kürze liegt die Würze / du hast sexuelle Reize für mich – wie jede schöne Frau. […] Wäre es für dich als Frau [Hervorhebung im Original, C. S.] peinlich, wenn ich mir dich vor dem Einschlafen als Onaniephantasie vorstellen würde? Als Frau hab ich geschrieben – weil ich denke, dass Frauen vor Scham erröten, oder überhaupt […] sich mehr zieren.“ Es folgten explizite Schilderungen der Phantasien des Jungen, die in der imaginierten Vergewaltigung der Psychiaterin gipfeln: „Helft! Hilfe!, das du schreist, wenn ich dich zu vergewaltigen versuchen sollte! Würdest du dich wehren, wenn ich das versuchen würde? (Sau)“ Die Adressatin des Briefes sah in dem Brief eine Chance, in einen therapeutischen Dialog zu kommen, wie sie in der Dokumentation der auf den Brief folgenden Gesprächssitzung mit Thomas E. schrieb: „mir wird sein Bedürfnis nach einer Mut121 Kargl (1976), S. 135. 122 Deutsches Statistisches Bundesamt (2016). Kinder- und Jugendhilfestatistik. „Heimerziehung und Geschlecht“. Daten kompiliert durch die Behörden nach eigener Anfrage. 123 Kuhlmann (2010), 51 f., 58; Wolf (2003), S. 19–36. 124 Zu den sich wandelnden Wertungen in der Sprache vergleiche die Beispiele im Abschnitt 2.1.3 sowie 2.4.3 aus dem frühen Untersuchungszeitraum.

104

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

terfigur deutlich […] Als wir darüber [über den Brief, C. S.] sprechen ist der Patient sichtlich entlastet, als ihm diese Phantasien zugestanden werden, bzw. als nicht abnorm dargestellt werden.“ Episoden wie diese hätten nur wenige Jahre zuvor eine deutlich andere, nämlich abwertende Beschreibung in der Akte hinterlassen, sowie vermutlich auch Strafmaßnahmen nach sich gezogen. Die Diagnose „kindliche Psychopathie“, die neben ihrem sozialhygienischen Ballast dem Patienten zugleich eine vererbte, also unabänderlich, mithin lebenslange „abnorme Persönlichkeit“ bescheinigte, wich im ICD-8 dem weniger endgültigen „Verhaltensstörungen im Kindesalter“.125 Als Altlast der überkommenen Ansätze, die im Ton immer auch moralisierten, waren hier als Unterkategorie noch „Eifersucht, Launenhaftigkeit, Masturbation (Onanie), Pflichtvergessenheit (Bummeln, Schwänzen)“ aufgeführt worden. Das ICD-9 schließlich kannte dann nur noch die neutrale „Störung des Sozialverhaltens“.126 Dadurch sowie durch das Hinzufügen der Diagnose „Hyperkinetisches Syndrom“ (Unterdiagnose „Hyperkinetisches Syndrom mit Störung des Sozialverhaltens“) wurde Problemverhalten von Jungen weiter exkulpiert, dabei aber gleichzeitig in immer größerem Ausmaß pathologisiert. Insgesamt wurden Handlungen externalisierender Männer (Alkohol- und Drogenkonsum, Aggressivität, jugendliche „Aufsässigkeit“) also deutlich von einem Phänomen der Schuld zu einem der Krankheit. Tab. 4 Patienten mit externalisierenden- und substanzbezogenen Störungen 1970 bis 1993 Patienten zwischen 1970 und 1993 gesamt Patienten mit externalisierenden- und substanzbezogenen Störungen, davon:

319 75

Alkohol- und Substanzbezogene Störungen

42

Straftäter

41

Jugendliche mit aggressivem Störverhalten

32

2.8 „Homosexuelle“, „Neurotisch-Depressive“ Auch die Therapeutisierung der „unmännlichen Männer“, die schon in den Nachkriegsjahren etwas weiter fortgeschritten war als bei den „Externalisierern“, wurde ab den 1970er Jahren intensiviert. Das allgemein erweiterte sozialpsychiatrische bzw. psychotherapeutische Angebot stand auch Männern zur Verfügung, die niedergeschlagen und initiativlos waren oder auf die verschiedensten Arten an ihren Ängsten litten. Ambivalent jedoch waren die Folgen dieser Entwicklung für die SBTMänner. Nach der Reform des Sexualstrafrechtes 1969 zählten diese nicht mehr zu den Kriminellen.127 Im Gegensatz zu den anderen „Delinquenten“, 125 ICD-8, S.244. 126 ICD-9: 314, 314,2. 127 Moeller (1993).

2.8 „Homosexuelle“, „Neurotisch-Depressive“

105

die zuvor bereits in irgendeiner Form Objekte psychiatrischen Interesses gewesen waren, wurden sie auch juristisch bis auf die diskriminierende Schutzalter-Regelung vollständig exkulpiert.128 Grundsätzlich war ihr ungestörtes Zusammenleben mit dem Rest der Gesellschaft zumindest vom Gesetzgeber und auch von immer größeren Teilen der Bevölkerung erwünscht. Dennoch schien es eine Weile so, als ob der Preis für diese Exkulpierung auch bei ihnen eine intensivierte Pathologisierung gewesen wäre. Für SBT-Männer in Westdeutschland änderte sich nämlich zumindest auf dem Papier, das heißt auf der Ebene der psychiatrischen Klassifikation nicht viel. Während die amerikanischen Psychiater 1973 gegen den heftigen Protest der Psychoanalytiker Homosexualität aus ihrem Diagnosehandbuch, dem DSM, ausgeschlossen hatten, folgte man in Deutschland dieser Entscheidung zunächst nicht.129 1967, gerade einmal fünf Jahre zuvor, waren ausgewählte psychotherapeutische Schulen gesetzlich ermächtigt worden, ambulante Therapien von der Kasse erstatten zu lassen. Neben den drei Verfahren der Kategorie „Analytische Psychotherapie“, also Psychoanalyse, Analytische Psychologie (nach C. G. Jung) und Individualpsychologie (nach Alfred Adler) gehörte noch die sogenannte Tiefenpsychologisch Fundierte Psychotherapie dazu. Die Krankheitskonzepte und Therapieverfahren all dieser Schulen basierten vereinfacht gesprochen auf der Vorstellung, dass die Seele eines Menschen sich im Laufe ihrer Kindheit und Jugend im Normalfall zu einer stabilen cis-heterosexuellen Geschlechtsidentität entwickelt.130 Homosexualität und erst recht Transsexualität blieben demnach zumindest implizit Entwicklungsstörungen. Bestenfalls waren sie harmlose infantile Wünsche und Verhaltensweisen; wenn sie jedoch ausgelebt wurden, waren sie ungesunde perverse Fixierungen – wenn sie verdrängt wurden, dann verursachten sie Neurosen. In jedem Fall aber galten sie als Zustände, deren Folgen therapiert werden sollten, wenn auch nicht mehr zwangsläufig die Neigung selbst. Dabei darf nicht in Vergessenheit geraten, wie progressiv diese Haltung zu jener Zeit noch anmutete. Im Selbstverständnis dieser Therapeuten stellte ihre Arbeit eine neue Stufe des menschlichen Umgangs mit SBT-Männern dar, die nicht auf Kriminalisierung aufbaute, wie es bislang in der forensischen Psychiatrie oder gar bei den Menschenversuchen mit Hormongewebe in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten der Fall gewesen war.

128 Von 1969 bis 1994 galt ein Verbot für jegliche sexuelle Handlungen zwischen volljährigen und jugendlichen Männern. Sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen Männern und jugendlichen Mädchen ab 14 Jahren waren hingegen nicht grundsätzlich verboten. 129 Mendelson (2003), S. 678 f.; Mildenberger (2008); Steger (2008). Zudem wurden bis in jüngste Zeit Schwule und Lesben an analytischen Ausbildungsinstituten nicht aufgenommen, siehe Braun (2016). Die neuen verhaltenstherapeutischen Schulen, die in den USA schon seit Ende der 1960er Jahre den Analytikern (unter anderem durch die Forderung nach Depathologisierung der Homosexualität) Konkurrenz machten, hatten in Deutschland bis 1987 keine Kassenzulassung und setzten sich erst ab den 1990er Jahren durch. 130 Adler (1930); Zu C. G. Jungs Individualpsychologie: Hopcke (1993).

106

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten „Vollends als Irrweg endlich hat sich die – oft mit moralisierendem Anspruch einhergehende – Annahme erwiesen, der Homosexuelle, als der „Krankhafte“ oder zumindest „Abnorme,“ müsse doch wohl nur zu einem Arzt oder Psychiater gehen, um sich von seinem gesellschaftsbedrohenden Leiden kurieren zu lassen.[…] Die Therapeuten sehen denn auch immer mehr von dem Versuch ab, die homosexuellen Patienten in ihrer Triebrichtung zu ändern, sondern versuchen vielmehr, ihnen die Anpassung in der heterosexuellen Umwelt zu erleichtern.“131

Die Dominanz der analytischen Psychotherapie sicherte die Pathologisierung der SBT-Männer, wenn auch mit verändertem Ziel, für gute weitere 30 Jahre. Zumindest in den untersuchten Kliniken kamen die Pathologisierung, vor allem aber die Reparativtherapien bereits im Laufe der 1970er Jahre zum Erliegen. Aus dem Stichjahr 1963 stammt in Heidelberg mit Ulrich F.132 der letzte Fall einer Konversionstherapie, 1973 wurde Homosexualität zuletzt als Abschlussdiagnose gestellt und dies auch lediglich als Drittdiagnose.133 Danach wurde Homosexualität zwar noch in Anamnese und Krankheitsverlauf geschildert, jedoch nicht mehr als in irgendeiner Art zu behandelnde Krankheitsentität. Auch Männer, die unter Berufung auf seelische Leiden versuchten, Versorgungsleistungen in Anspruch zu nehmen, wurden nicht mehr für ihre Einschränkungen selbst verantwortlich gemacht. Ihr Zustand wurde als therapiebedürftig anerkannt, was ebenfalls einer Exkulpierung gleichkam. Ursächlich für diesen Wandel war nicht die klassische deutsche Psychiatrie gewesen, sondern westdeutsche Sozialgerichte. Nachdem diese gegen den Willen der Mehrheit der deutschen Psychiater die seelischen Leiden der Opfer der Verfolgten des Nationalsozialismus als entschädigungsberechtigt anerkannt hatten, wurde zunächst langjährigen deutschen Kriegsgefangenen ebenfalls eine Gesundheitsschädigung zugestanden. Im Kontext dieses Wandels in der Spruchpraxis und der Debatte, die dadurch innerhalb der wissenschaftlichen Psychiatrie ausgelöst wurde, entwickelte sich die Disziplin der Psychotraumatologie.134 Im Zuge des Vietnamkrieges schließlich wurden in den USA die Zusammenhänge von traumatischen Kriegserlebnissen und längerfristigen psychischen Leiden systematisch belegt.135 Betroffene konnten nun schwerer mit der Begründung, sie seien lediglich „Begehrensneurotiker“ und „Rentenhysteriker“, abgewiesen werden. Mit einer neuen Generation von Psychiatern und der Verbreitung der Psychosomatik/Psychotherapie in Deutschland fiel auch das Paradigma der strikten Abwehrhaltung gegenüber anderen „psychogen Gestörten“. Diese Öffnung wäre ohne die vorangehende Auseinandersetzung über die Verfolgten und die Kriegsheimkehrer nicht denkbar gewesen.136 Auch gewöhnlichen Männern, deren Erwerbsfähigkeit eingeschränkt war, die dabei jedoch nicht an schweren Krankheiten wie Psychosen litten, standen 131 132 133 134 135 136

Ohne Verfasser (1969), S. 70. PUH 63/213. PUH 73/51. Seidler (2013), S. 3–12. Zur Entwicklung in Westdeutschland siehe Goltermann (2009). Hendin/Hass (1984); Lehmacher (2013). Waldherr (2003), S. 150–151.

2.8 „Homosexuelle“, „Neurotisch-Depressive“

107

nun anderen Perspektiven offen. Dies betraf nicht bloß die therapeutisch begründete konsequente Abwehr von finanziellen Leistungen im Falle der Berufsunfähigkeit, die nach gängiger Lehrmeinung wahre Epidemien von Zweckreaktionen verhindern sollte. Auch die Kontraindikation für jegliche Form der Therapie, die wie zuvor behauptet worden war, eine Verschlimmerung des Zustandes betroffener Männer durch Schaffung eines „sekundären Krankheitsgewinns“ verhinderte, wurde abgeschafft. Mit den neuen therapeutischen Indikationen entstanden neue Krankheitsbilder. Mit den „Angstneurosen“, „Depressiven Neurosen“ oder den „Hypochondrischen Neurosen“ etwa waren im ICD-8 nun psychogene Krankheitsbilder vertreten, die eine Zweckgebundenheit der Symptome bzw. einen „sekundären Krankheitsgewinn“ nicht leugneten, die betroffenen Männer aber nicht als unbewusste Simulanten oder gar Degenerierte begriff, sondern Perspektiven für eine Therapie schufen.137 Auch die Patienten mit körperlichen Symptomen, die seelischen Ursprungs waren, konnten nun ernst genommen werden. Die Kategorie im ICD-8 „Körperliche Störungen vermutlich psychogenen Ursprungs“ bezog psychosomatische Leiden, wie man sie nun nannte, ein, unter anderem aus den Bereichen „Atmungsorgane[n] […] Herz- und Kreislaufsystem […] Sinnesorgane[n]“.138 Auseinandersetzung über die Arbeitsfähigkeit konnten so von der Ebene der Opferbeschuldigung auf eine medizinische Ebene verlagert werden. Was die restlichen „unmännlichen Patienten“ betraf, so wurde deren Zustand nach wie vor an den Gesundheitsidealen der neuen hegemonialen Männlichkeit gemessen, womit auch weiterhin sichtbar verkörperte Selbstunsicherheit, Angst und Depressivität Gegenstand der Pathologisierung blieben. Offene Abwertung durch Ärzte unter Bezug auf den mangelnden männlichen Habitus der Patienten fand sich indes zumindest in den Akten des Quellensamples der vorliegenden Arbeit nicht mehr. Der therapeutische Nihilismus gegenüber diesen Leiden endete auch in diesem Fall mit der Verbreitung der Psychotherapie. In den psychiatrischen Akten spiegelt sich ein vermehrtes Interesse von Ärzten bzw. klinischen Psychologen, die nun mit den Ärzten an den inneren Vorgängen zusammenarbeiteten, die den Symptomen zugrunde lagen. Psychoanalytiker beispielsweise konnten Symptome von Angst und permanenter Selbstbeobachtung statt mit dem statischen Konzept einer „asthenischen Psychopathie“ nun als „Angstneurosen“, „depressive“ oder „hypochondrische Neurosen“ erklären, die dynamisch und damit veränderbar waren. Deren Ursprung konnten sie in frühkindlichen Verlustängsten verorten, die bis ins Erwachsenenalter auf innerpsychische Repräsentationen der Mutter bezogen waren.139 Depressive, die sich passiv verhielten und konstant selbst erniedrigten, hatten der Psychoanalyse zufolge den Verlust der Mutter 137 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-8-West: S. 237. 138 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013), ICD-8-West: S. 241 f. 139 Lantheri-Laura (2005), S. 1135 f.

108

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

als Liebesobjekt nicht verarbeiten können. Aggressionen, die aus Frust über diesen Verlust entstanden waren, richteten sich nun gegen die eigene Person.140 Derartige psychodynamische Erklärungsansätze für die „Unmännlichkeit“ gab es mit verschiedenen Schwerpunkten auch bei den anderen gängigen Psychotherapieschulen.141 Im Gegensatz zu Homosexualität war „unmännlich sein“ nie ein kriminelles Delikt gewesen. Dennoch wirkten solche Ansätze exkulpierend gegenüber den früheren Jahrzehnten, in denen Männer für ein „Versagen“ vor den Aufgaben des Lebens wegen Ängstlichkeit, Selbstunsicherheit und Depressivität ärztlicherseits nicht viel Verständnis zu erwarten gehabt hatten. Auf der anderen Seite hatte auch dies eine viel tiefgreifendere Pathologisierung und Therapeutisierung von unmännlichen Männern zur Folge. Noch deutlicher zeigte sich dieses neue pathologisierende Verhältnis zu Männern durch Psychiatrie und Psychotherapie anhand der zunehmenden Verbreitung des Konzeptes der Hypermaskulinität. Tab. 5 Patienten mit internalisierenden Störungen und nicht-cis-heterosexuelle Männer 1948 bis 1970 Anzahl Patienten seit 1970 bis 1993 gesamt Nicht-cis-heterosexuelle Patienten Dokumentierte ärztliche Konversionsversuche nicht-cis-heterosexueller Patienten

319 21 0

2.9 Die Entdeckung der Krankheit Männlichkeit Mit Aufkommen der an der Innenwelt der Patienten orientierten psychodynamischen Diagnose und Therapieverfahren in der Psychiatrie änderten sich auch deutlich die Einstellungen gegenüber „hypermaskulinem“ Verhalten. Neu waren die dem zugrunde liegenden Erkenntnisse nicht: Alfred Adlers Minderwertigkeitskomplex etwa beschrieb unter anderem, dass Männer sich übersteigert männlich verhielten, um ein eigentliches Grundgefühl der Unterlegenheit zu verbergen. „Als […] Ziel des Nervösen dient dann die schematische Formel: ‚ich will ein voller Mann sein!‘, ein kompensierender Ausgang für das zugrundeliegende Gefühl einer als weiblich gesetzten Minderwertigkeit.“142

Selbst Kurt Schneider glaubte, wie im vergangenen Kapitel gezeigt, an entsprechende Kompensationsmechanismen, auch wenn er der Psychodynamik sehr kritisch gegenüber stand. Die freudsche Psychoanalyse hatte „übermäßig männliches Verhalten“, Respekt- und Empathielosigkeit, Gewalt, Risikover-

140 Jenneau (2005), S. 1037 f. 141 Siehe entsprechende Lehrbücher wie beispielsweise Adler, Praxis (1930); Dieckmann (2013). 142 Adler, Praxis (1930).

2.9 Die Entdeckung der Krankheit Männlichkeit

109

halten und sexuelle Grenzüberschreitungen schon lange als Ausagieren nicht bewältigter ödipaler Konflikte gedeutet.143 Die flächendeckende Kenntnisnahme, therapeutische Nutzbarmachung und systematische Erforschung solcher Dynamiken machte sich jedoch erst seit den 1970er Jahren bemerkbar.144 Diese Entdeckung der krankmachenden Männlichkeit hatte dann allerdings auch Einfluss über die Grenzen des medizinischen Bereiches hinaus. Im Laufe der 1970er Jahre erschienen einige Publikationen, die sich auch mit der Sozialisation von Männern in kritischer Weise befassten, wobei vor allem die Gewalterfahrung von Männern durch die direkten und indirekten Folgen des Militarismus im Vordergrund standen. Auch wenn diese Abhandlungen eher politischer als medizinischer Natur waren, so beriefen die Autoren sich doch auf psychoanalytische Erkenntnisse, die einen durchaus klinischen Ursprung hatten. Theodor Adornos Theorie der „Autoritären Persönlichkeit“ beispielsweise ging auf die Arbeiten der Psychoanalytiker Erich Fromm und auf Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ zurück.145 Klaus Theweleit, dessen Dissertation über soldatische Männlichkeit in der Freikorpsliteratur weite Verbreitung fand, war wiederum wesentlich von der Auseinandersetzung mit der klinischen Psychoanalyse geprägt.146 Eine der theoretischen Grundannahmen des Buches stützte sich auf die Publikation der amerikanischen Psychoanalytikerin Margaret Mahler „On Human Symbiosis and the Vicissitudes of Individuation“. Auch der Leiter der Gießener Psychosomatik Horst Eberhard Richter beschäftigte sich in seinem Werk „Eltern, Kind und Neurose: Psychoanalyse der kindlichen Rolle“ mit den Auswirkungen autoritärer Erziehung; die Männlichkeitsperspektive blieb dabei jedoch, anders als in seinen späteren Publikationen, lediglich implizit.147 Gemeinsam war diesen Werken, dass sie traditionelle hegemoniale Männlichkeit dezidiert pathologisierten und eine Vielzahl von Wegen nachzeichneten, wie diese seelisch krank machen konnte. Damit war Männlichkeit zum ersten Mal selbst als pathogener Faktor in die klinische Diskussion gelangt und nicht bloß deren Folgen. Es wurde nun eine Reihe von Attributen traditioneller hegemonialer Männlichkeit pathologisiert, die zuvor de facto als Bestandteile des Ideals gesunder Männlichkeit gegolten hatten. Das Ideal der Härte wurde zur mangelnden sozialen Kompetenz, die Gefühlsferne konnte in Form des Konzeptes der Alexithymie zur Quelle vielfacher psychosomatischer Beschwerden rekonzipiert und pathologisiert werden. Bemerkenswert war, dass damit die alte Polarisierung, die die Psychopathologie zwischen „untergeordnet“ und „marginalisiert“, zwischen unmännlich-krank und männlich-krank getroffen hatte, 143 Aichhorn (1925). 144 Zur allgemeinen Einordnung dieser Vorgänge, siehe: Dinges, Medikalisierung (2016), S. 925–931. 145 Adorno (1973); Fromm (1994); Reich (1933). 146 Theweleit (1995). 147 Richter (1972). Zur späteren Auseinandersetzung mit Männlichkeit siehe beispielsweise Richter (2006).

110

2. Die psychiatrische Sicht auf Männer im Wandel der Leitmännlichkeiten

aufbrach. Nicht nur externalisierende Männer waren durch ihre eigene Männlichkeit erkrankt. Auch internalisierende Patienten, wie etwa Depressive, konnten nun als Opfer ihrer eigenen unbewussten gewalttätigen Wünsche betrachtet werden. Umgekehrt wiederum konnten Gewalttäter als im Grunde zarte und sensible Menschen wahrgenommen und therapiert werden. Nicht die Männer waren dieser Lesart zu Folge krank, sondern die Männlichkeit. Mit Beginn der 1970er Jahre musste man in den Akten nicht lange suchen, um eine Vielzahl von Einträgen zu finden, die belegten, welche Aufmerksamkeit Ärzte Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen widmeten, die von der Verkörperung traditioneller Männlichkeit herrührten. Diese wurden nun als mitursächlich bzw. symptomatisch für die Leiden ihrer Patienten dokumentiert. In der soldatischer Vergangenheit eines Gießener Patienten,148 eines äußerst „rigiden“ Mannes, der seine Familie mit einer Vielzahl von Verhaltensregeln tyrannisiert habe, fand dessen Arzt eine Ursache für seine Leiden. „Im Januar 43 erfroren ihm nach 4 Wochen in vorderster Front bei Stalingrad die Füße nach einem Regen und anschließend -30* Frost ab.“ […] Dem Mann war das Bein abgenommen worden, eine Amputation „die wir als Kastrationserlebnis deuten. Daher erklärt sich für uns sein scheuer Umgang mit Frauen, insbesondere, daß er sich nicht hat binden lassen.“ […] „Der Pat. ist in seiner aktuellen Situation offenbar durch die Konfrontation mit expansiven, erfolgreichen Männern beunruhigt worden […] Er entwickelte den unbewussten Anspruch, daß er […] das strenge Polizeiregime, mit dem er seine eigene patriarchale Innenwelt in Zaum hält [auch seinen Mitmenschen aufdrängen müsse]“ Sogar Gewaltverbrechern konnte nun ein gewisses Verständnis für die schmerzhaften Triebmächte ihres Seelenlebens entgegengebracht werden, die zu ihren Taten geführt hatten und deren Ursache man wiederum in der neu entdeckten emotionalen Verletzlichkeit von Männern verortete. Über eine Person,149 die versucht hatte, eine Frau mit einem landwirtschaftlichen Erntegerät in Stücke zu hacken (wiederum als „Kompensation von mangelndem Selbstwertgefühl“) schrieben Heidelberger Psychiater, dessen Vater sei „emotional wenig verfügbar“ gewesen. Auf Station könne er sich zudem „durchaus sozial“ verhalten und bei den sportlichen Aktivitäten „tolle [er] mit den anderen Patienten im Schwimmbecken.“ 150 Wie bereits erwähnt wurden nicht nur Patienten mit externalisierenden Symptomen als Opfer ihrer Hypermaskulinität gedeutet. Auch bei depressiven oder ängstlichen Patienten wurde die Männlichkeit als krankmachender Faktor entdeckt. Ein Gießener Arzt sah die Leiden eines Soziologiestudenten151 als eine Art kompensatorische Reaktion auf den Stress beim Zusammentreffen mit anderen Männern. Auf die Konfrontation habe dieser nicht mit nach außen gerichteter Aggression reagiert, sondern mit Rückzug in eine Innenwelt voller Grandiosität und Gewalt. Der Mann hatte sich für sein Studi148 149 150 151

UAG 74/204. PUH 83/169. PUH 83/166. PUG 78/333.

111

2.9 Die Entdeckung der Krankheit Männlichkeit

enfach an einer Universität eingeschrieben, deren soziologisches Seminar sogar für die Verhältnisse der 1970er Jahre politisch außerordentlich linksgerichtet war. Nach einiger Zeit habe er jedoch „provokativ anmutende wissenschaftliche Neigungen im Kreis der andersdenkenden Kommilitonen“ entwickelt, sei „ein Antimarxist [geworden], was in [Name der Universitätsstadt]152 nicht Usus sei. […] Mehr in seinen Fantasien entwickelte er eine Affinität zur Person Hitlers. Er identifiziere sich mit einer solchen Gestalt, die Ordnung bringe. […] In einer großen Halle als einer von vielen [zu sein], so etwas wie eine große Maschine, die nicht mehr fragt.“ Die Behandlung zielte offensichtlich darauf ab, dem Studenten seine unbewussten Aggressionen zu Bewusstsein zu bringen, die durch die Internalisierung eines rigiden hypermaskulinen Männlichkeitsleitbildes zustande gekommen war, das ihn daran hinderte, Bindungen zu anderen Männern aufzubauen. Der Mann selbst habe bei seiner Entlassung gesagt: „Es sei überhaupt sehr wichtig, dass er jetzt dabei sei, die Männer zu entdecken. Ihre Gefühle etwas besser zu verstehen. Früher habe er die Situationen, die mit Männern zusammenhingen, als Sit.[uation] der Konkurrenz aufgefasst. […] Er versuche sich vorzustellen, er sei etwas Höheres, etwas besseres […] er versuche immer die anderen Männer zu deklassieren.“ Dass Männlichkeit pathologisch überfordernd sein konnte, wurde nun auch bei zahlreichen alltäglichen Begebenheiten festgestellt. Ein Heidelberger Patient153 verschuldete sich hoch, um eine Fassade des Erfolges aufrechtzuerhalten, „um seine Freundin nicht zu verlieren“, wie er angab. 1983 wurde in einer Heidelberger Akte zum ersten Mal das Wort „Machotyp“ getippt, als Bezeichnung für einen Patienten,154 der viel Geld darauf verwendet hatte, „möglichst stark und unabhängig“ zu erscheinen. 1983 und 1993 wurden in Heidelberg zwei Männer behandelt, die als Hobby Bodybuilding betrieben, was in beiden Akten mehrfach als Beleg für ein verzerrt-hypermaskulines Selbstbild gewertet wurde.155 Tab. 6 Explizite Thematisierung von Männlichkeit durch Ärzte 1970 bis 1993 Patienten zwischen 1970 und 1993 gesamt Patienten, bei denen Ärzte wiederholt die Praktizierung von Männlichkeit als mitverantwortlich für die Beschwerden charakterisierten1

152 153 154 155 156

319 45

Aus Gründen des Datenschutzes bleibt der Name der Stadt ungenannt. PUH 73/422. PUH 83/372. PUH 93/33; PUH 83/51. In den Jahren vor 1970 waren es bei 362 Patienten lediglich 16 entsprechende Fälle.

3. Compliance 3.1 Vorbemerkungen In diesem Kapitel wird anhand der Krankenakten aus Heidelberg und Gießen untersucht, wie sich Männlichkeiten auf die Behandlungsbereitschaft der Patienten, die Compliance, auswirkten. Compliance wurde unter zwei Gesichtspunkten analysiert. Erstens: die sogenannte Krankheitseinsicht, also die Bereitschaft eines Patienten, die von seinem Arzt nahegelegte Deutung seines psychischen Zustandes zu akzeptieren. Und zweitens: Die Fähigkeit, an der Behandlung zu partizipieren, an Therapiesitzungen teilzunehmen, Medikamente einzunehmen etc. Konkreter gefasst sollte untersucht werden, ob und wie sich die bestehende oder geringere „Therapietreue“ der Patienten mit gegenwärtigen Modellen der Männergesundheitsforschung erklären lässt, wie sie im ersten Abschnitt der Einleitung skizziert wurden. Diesen Erklärungsansätzen zufolge haben Männer zumindest partiell eine aus medizinischer Sicht deutlich „schlechtere“ Compliance, nehmen also weniger und später Gesundheitsleistungen in Anspruch. Dies wird häufig als Resultat geschlechtsspezifischer Rollenanforderungen interpretiert.1 Aus quellenkritischen Gründen wird dabei in allererster Linie Widerstand behandelt, also die aus Ärztesicht bestehende fehlende Krankheitseinsicht und die Behandlungsverweigerung. Mit dieser Einschränkung war auf die medizinische Dokumentation insofern Verlass, weil zumindest heftige und kontinuierliche Akte des Widerstands gegen die Behandlung recht zuverlässig aufgezeichnet wurden.2 Im Gegensatz dazu war die gegenteilige Aussage, also eine dokumentierte vorhandene Krankheitseinsicht oder Berichte über bereitwillige Partizipation an der Behandlung, nie aussagekräftig. Mögliche undokumentierte Gewalteinwirkungen konnten nämlich nie ausgeschlossen werden und die Freiwilligkeit der Behandlungsbereitschaft ließ sich grundsätzlich nicht mit Sicherheit belegen. Es bleibt also bei der deutlich häufigeren Nennung von Widerstandshandlungen, dem „Leugnen“ der Krankheit, sowie dem Widerstand gegen die therapeutischen Maßnahmen in der Klinik. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich die „Therapieunfähigkeit“ eines Teils der Patienten tatsächlich nicht anders als im Kontext von Mechanismen der Konstruktion von Geschlecht erklären lässt. Dies zeigt sich auf drei Ebenen. Erstens: Für alle Patienten schränkte das bloße Kranksein die Mög1

2

Als Beispiel sei hier die Verdrängung von Krankheitszeichen genannt. Demnach akzeptieren Männer in geringerem Maße, dass sie an einer Erkrankung leiden. Auch suchen sie bei psychischen Leiden gehäuft nach technisch-instrumentell begreifbaren Ursachen. Introspektive, emotionsbezogene und damit fast alle psychologischen Erklärungen werden von Männern weniger bereitwillig akzeptiert, was wiederum als Konsequenz identitätsstiftender externalisierender Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen gedeutet wurde. Siehe Abschnitt 1.1. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man über die tieferliegenden Ursachen dieser Widerstandshandlungen, etwa vorangegangene Schikanen durch das Klinikpersonal, durch die Akten selbst kein unparteiisches Bild bekommt.

3.2 „Es muss etwas Organisches sein!“

113

lichkeiten, an hegemonialer Männlichkeit (sei sie nun traditionell oder modern) zu partizipieren, massiv ein, was vielfach dazu führte, dass Patienten Probleme hatten, sich ihren Zustand einzugestehen. Zweitens: Die Bedingungen in der Klinik selbst verstärkten diese Situation, da sie in ihrem Wesen darauf ausgerichtet war, ihre männlichen Patienten systematisch zu marginalisieren, sofern diese sich nicht unterordneten. Drittens: Bestimmte Männer versuchten unter diesen Bedingungen, Männlichkeit zu verkörpern, indem sie demonstrativ protestierten und dem Klinikpersonal die Autorität absprachen. Das Streben nach männlicher Herrschaft war keinesfalls der einzige Impuls für Widerstand gegen die Kliniken, wenn auch zahlenmäßig der am häufigsten dokumentierte. Es existierte jedoch auch ein Widerstand „untergeordneter“ Männer, der nicht auf die Wiederherstellung eines hegemonialen Status zielte, sondern weitgehend unabhängig davon seine Motivation aus anderen Quellen schöpfte. „Schlechte Compliance“ fand sich etwa bei Schwulen, die sich gegen Pathologisierung und Konversionstherapien wehrten. Zudem wehrten sich Männer auch ohne erkennbaren geschlechterpraxeologischen Bezug, vielfach aus alltäglichen Motiven heraus. 3.2 „Es muss etwas Organisches sein!“ – Krankheitseinsicht und männlicher Habitus Männer, die leugneten, krank zu sein, gab es über den gesamten Untersuchungszeitraum. Sie kamen aus allen Schichten und erhielten alle nur denkbaren Diagnosen. Dies verwundert insofern nicht, da „fehlende Krankheitseinsicht“ bei den meisten psychischen sowie bei vielen Verhaltensstörungen geradezu im Krankheitskonzept impliziert waren. Realitätsverlust und Realitätsverzerrung, die sich leicht auch auf den eigenen Gesundheitszustand beziehen können, waren und sind schließlich wesentliche Merkmale bei den verschiedensten Symptomen wie etwa bei Paranoia, Manie, Wahn oder Narzissmus. Die Leugnung oder Bagatellisierung der eigenen Abhängigkeit z. B., etwa bei Alkoholikern, war besonders seit den 1970er Jahren programmatischer Bestandteil des Phasenmodelles der Alkoholkrankheit. Jegliche Schilderung eines Therapieverlaufes irgendeiner Diagnose kam schwerlich ohne die Erwähnung der Widerstände aus, die Patienten der Einsicht in die Schädlichkeit ihrer „pathologischen“ Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen entgegensetzten. Die „Besserung“ oder gar Heilung, aufgrund derer ein Patient aus der Klinik entlassen wurde, bestand zu einem nicht geringen Teil aus eben der Tatsache, dass dieser Mensch im Gegensatz zum Beginn seines Aufenthaltes nun Einsicht in die Krankhaftigkeit seiner Wahrnehmungen und Handlungen erlangt hatte. Bei 45 Patienten3 wurde eine solche „fehlende Krankheitseinsicht“ wiederholt im Kontext von Praktiken der Männlichkeit thematisiert. Diese ge3

Eine auffallende häufig vorkommende Diagnose ließ sich dabei wiederum nicht ausmachen.

114

3. Compliance

schlechtsspezifische Dimension der „fehlenden Krankheitseinsicht“ äußerte sich meist als Abwehr der bzw. als Reaktion auf den Verlust von Ressourcen zur Partizipation an hegemonialer Männlichkeit durch Marginalisierung und Unterordnung. Am häufigsten erschien der Widerstand gegen die ärztliche Deutung im Kontext von Befürchtungen, die Arbeitsfähigkeit zu verlieren bzw. der Angst vor einer Verringerung des Einkommens. Ein zweites gängiges Motiv, das häufig zusammen mit dem ersten auftrat, war die Leugnung der seelischen Ursachen eines durchaus wahrgenommenen Leidens, das stattdessen mit einem körperlichen Defekt erklärt wurde. Eine solche „Gefühlsblindheit“ und technisch-instrumentelle Wahrnehmung des eigenen Körpers haben Forscher in Anlehnung an Pierre Bourdieu als Bestandteil eines männlichen Gesundheitshabitus beschrieben.4 Die Patienten leugneten in beiden Fällen ihre Befunde also auch vor sich selbst. Es handelte sich folglich nicht bloß um die Rettung eines Bildes von Männlichkeit nach außen, sondern um die unbewusste Aufrechterhaltung des männlichen Habitus auf der Ebene des Selbstbildes. 1953 kam der Viehhändler Otto R.5 mit manischen Symptomen in die psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg und wies die typischen Größenideen auf, die bei ihm deutlich auf die Herstellung seiner Männlichkeit durch Erwerbsarbeit geprägt waren. In rasender Betriebsamkeit widmete er sich Geschäftsabschlüssen, die er angebahnt hatte und durch die er glaubte, reich zu werden. Diese Perspektive wollte er sich durch die Einweisung in die Psychiatrie nicht nehmen lassen. „Pat. folgt nur mit großem Sträuben auf Station, will sich auf keinen Fall ausziehen u. ins Bett legen. Polternd behauptet er, er sei völlig gesund, man habe ihn nur heimtückischerweise u. mit einer Spritze hierhergebracht. […] Während der Pat. dies wütend u. aufgeregt vorbringt, hält er die Hand des Untersuchers fest umklammert, behauptet immer wieder, „der [Otto] ist der vernünftigste Mann der Welt, sowas Vernünftiges habt ihr noch nie in eurem Narrenhaus gehabt.“

Otto R. konnte in der Leugnung seines Zustandes den in seinen Augen greifbar nahen ökonomischen Gewinn (und damit eine Aufwertung seiner Männlichkeit) nicht aufgeben. Dies war nicht bloß die Beobachtung seiner Ärzte. Er brachte es auch selbst in einem von der Klinik abgefangenen Brief an seine Schwiegermutter zum Ausdruck: „Ich habe lange genug den Handwerksburschen gespielt.“ Auch Alfred M.,6 Chefarzt einer chirurgischen Klinik, wollte seine Diagnose („Abnorme Persönlichkeitshaltung, schwere Dolantinsucht“)7 nicht akzeptieren, weil diese womöglich eine längere Abstinenz oder gar das Ende seiner Tätigkeit bedeutet hätte. Die Ärzte konstatierten, dass er in „geradezu erschreckender Weise eingeengt [sei], auf sein reines Leistungsmotiv.“ Seine Arbeit übersteige „bei weitem das, was ein Mann in den 50igern überhaupt leisten kann.“ Alfred M. war 4 5 6 7

Brandes (2001), Brandes (2005). PUH 53/137. PUH 63/338. Dolantin: Opioidhaltiges Schmerzmittel.

3.2 „Es muss etwas Organisches sein!“

115

sich durchaus bewusst, dass sein Zustand bedenklich war, er entpathologisierte jedoch selbst sein Handeln, indem er auf die Funktion der Substanz für seine Arbeitsleistung hinwies und bekräftigte, „daß er das Dolantin nur zur Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit genommen habe, niemals zur Erzielung von Euphorie.“ […] Er hatte, so sein Arzt, „nicht die Spur einer Einsicht in die absolute Notwendigkeit seiner hiesigen Behandlung. […]. Das einzige, was immer wieder erreicht werden kann, ist ein recht scheinheiliges Zugeständnis, dass er ‚gesündigt‘ habe.“ Ähnlich hieß es über Ernst K.8 („Eifersuchtswahn“), dessen Leben sich laut seiner Akte nur noch darum drehte, beweisen zu können, dass seine Frau mit anderen Männern schlafe. Er „gab zu verstehen, er möchte auf keinen Fall hierbleiben, er fühle sich nicht krank […] Gelegentlich bekommt man den Eindruck, dass er verschiedene Ereignisse und ihre Bedeutung bagatellisiert.“ Bei dem Patienten spielte auch das zweite Motiv männlich-habitueller Krankheitsleugnung eine Rolle, nämlich die Negierung der psychischen Ursachen seiner Leiden zugunsten eines angenommenen körperlichen Befundes. Es war bei diesen Männern also die Einsicht, „krank“ zu sein, durchaus vorhanden, nicht jedoch die Einsicht in die psychische Natur ihres Zustandes. Ernst K. beispielsweise war vor seiner Einweisung in die Psychiatrische Universitätsklinik aufgrund von „Herzanfälle[n]“, wie er es nannte, immer wieder in Allgemeinkrankenhäusern gewesen. Nach der vierten Notfallbehandlung wollte man ihn dort neurologisch untersuchen, was er kategorisch ablehnte. Stattdessen ließ er sich in ein anderes Klinikum einweisen. Das Abstreiten psychischer Ursachen konnte also eine beträchtliche Eigeninitiative der Patienten hervorrufen, sich eingehend mit ihren Symptomen auseinanderzusetzen, dann aber lediglich nach Lösungen zu suchen, die somatisch begründbar waren. Wie Ernst K. wich auch der ehemalige SS-Mann Hubert A. („Neurotische Fehlhaltung“) auf körperliche Erklärungen für sein Elend aus. Er gab, wie seine Frau dem behandelnden Arzt klagte, einen beträchtlichen Teil seines Einkommens für Tabletten und andere Heilmittel aus, die er sowohl von Ärzten als auch von Heilpraktikern bezog. Sein Psychiater notierte gegen Ende seines Aufenthaltes: „In den letzten Tagen hatte Pat. einen regelrechten „Rückfall“: er verlangte Schlafmittel, Medikamente, Spritzen, Hypnose gegen seine Anfälle, […]. Eine seelische Ursache und eine Beteiligung der eigenen Person an den Anfällen wehrt er ab. […] „Es kann nichts seelisches sein, es ist so schrecklich.“9

Dass bestimmte Männer eine psychische Diagnose mit aller Macht aus dem Wege gehen wollten, änderte sich im Verlauf des Untersuchungszeitraumes nicht. An dem Ausweichen vor der introspektiven Konfrontation mit seelischen Konflikten zugunsten eines instrumentellen Körperverständnisses konnte auch die Verbreitung psychotherapeutischen Wissens im Zuge des „Psychobooms“ seit den 1970er Jahren nicht automatisch etwas ändern, wie folgende Beispiele illustrieren sollen. Michael S.10 litt an Depressivität und 8 PUH 63/368. 9 PUH 73/313. 10 PUH 83/366.

116

3. Compliance

Angstzuständen, deren Ursachen seine Ärzte schon vor dem Aufenthalt in Heidelberg in „neurotischen Konflikten“ verorteten. Er selbst war jedoch überzeugt davon, dass eine Therapie direkt und massiv auf seinen Körper einwirken müsse, weshalb er von sich aus zu einem Nervenarzt gegangen und dort eine Elektroschockbehandlung verlangt hatte. Der Nervenarzt, der ebenfalls psychogene Ursachen der Beschwerden sah, hatte natürlich von der Schockbehandlung abgeraten. Michael S. bestand jedoch mit Nachdruck darauf, sodass er schließlich einwilligte, den Mann jedoch im Anschluss an die Behandlung nach Heidelberg überweisen ließ. In dem Arztbrief an die psychiatrische Universitätsklinik schrieb er, dass das notwendige Scheitern dieser Behandlung den Patienten in Zukunft von der Suche nach allzu brachialen Therapien abhalten würde. Diese Hoffnung sollte enttäuscht werden. Auch nachdem sich seine Symptome mit der Elektroschockbehandlung nicht gebessert hatten, ließ sich Michael S. nicht auf eine psychologische Deutung seiner Leiden ein. Bei Ankunft in der Heidelberger Klinik weigerte sich Michael S., auf der Station „von Baeyer“ aufgenommen zu werden, da er im Bilde war, dass dort vorwiegend psychotherapeutisch behandelt wurde. Stattdessen bekräftigte er weiterhin nur vehement: „Es muss organische Ursachen haben.“ Walther P., der ebenfalls wegen Depressivität und Angstsymptomen in der Klinik war, stieß laut Aussagen seiner Ärzte einen Seufzer der Erleichterung aus, als er erfuhr, dass man ihn wegen des Verdachtes auf einen Hirntumor untersuchen müsse: „Dann bin ich also nicht verrückt?“ Tab. 7 Dokumentation von Männlichkeit als ursächlich für fehlende Krankheitseinsicht Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Patienten, bei denen Ärzte wiederholt die Praktizierung von Männlichkeit als mitursächlich für fehlende Krankheitseinsicht dokumentierten

45

Dabei dokumentierte Praktik: Abwehr des Verlustes der Erwerbsfähigkeit

33

Dabei dokumentierte Praktik: Verneinung seelischer Ursachen für Beschwerden

15

3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“ – Marginalisierung, Protest und Behandlungsbereitschaft Heidelberger und Gießener Psychiater dokumentierten bei knapp einem Viertel aller Patienten, dass diese sich während ihres Aufenthaltes wiederholt und intensiv gegen ihre Behandlung wehrten.11 Etwa die Hälfte dieser Männer tat dies in einer Weise, die ohne das Konzept „doing gender“ nicht vollständig erklärt werden kann. Die Tatsache, dass sich so viele Widerstandshandlungen in geschlechtsspezifischem Verhalten manifestierten, steht in engem Be11

Freilich lässt sich keinesfalls daraus schließen, dass es bei den restlichen Patienten keinen Widerstand gegeben hatte, oder gar dass diese Männer freiwillig an ihrer Behandlung partizipiert hätten.

3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“

117

zug zu den besonderen Bedingungen des „therapeutischen Settings“. Denn Männer, die sich in einer psychiatrischen (Universitäts)Klinik aufhielten, konnten auf eine ganze Reihe von alltäglichen Möglichkeiten des doing-masculinity nicht mehr zurückgreifen. Alle Patienten waren akut erwerbsunfähig, viele wussten nicht, ob sie jemals wieder in ihre Berufe zurückkehren würden. Der Verlust der Erwerbstätigkeit beinhaltete wiederum auch den Verlust des Kontaktes zu männlichen Arbeitskollegen. Weitere homosoziale Praktiken der Männlichkeit wie der gemeinsame Kneipenbesuch, der Sportverein oder andere gesellige Hobbies, waren den Patienten ebenfalls verwehrt, bzw. der Zugang zu ihnen war erschwert.12 Das männliche Klinikpersonal besaß einen Machtvorsprung über die Patienten, der so groß war, dass er letztere in der mann-männlichen Hierarchie des Klinikraumes eine niedrigere Position zuwies. So etwas wie die Verkörperung „hegemonialer Männlichkeit“ war für einen männlichen Patienten einer psychiatrischen Klinik praktisch unmöglich. Erhebliche Einschränkungen hatten Männer auch in ihren heterosozialen- bzw. sexuellen Beziehungen zu Frauen auszuhalten. Beziehungskrisen lösten häufig seelische Krisen aus, viele Männer hatten gerade ihre Partnerinnen verloren oder einen unklaren Beziehungsstatus.13 Bis zur Aufhebung der Geschlechtertrennung auf den Stationen um 1970 sahen Männer während ihres Aufenthaltes in der Psychiatrie nicht viele Frauen. Intime Kontakte zu Therapeutinnen waren verboten, doch auch sexuelle Aktivität mit Mitpatientinnen war häufig reguliert. Viele Männer nahmen Psychopharmaka, die die Libido und Erektionsfähigkeit zumindest für die Dauer der Einnahme reduzieren konnten. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Behandlungsbereitschaft in einer psychiatrischen Klinik für Männer nur um den Preis des Verzichtes auf die gewohnten Ressourcen zur Herstellung der eigenen Geschlechtsidentität zu haben war. In anderen Worten wurden in einer psychiatrischen Klinik aus regulär an Männlichkeit partizipierenden Männern, Marginalisierte und tendenziell Untergeordnete. Die Patienten, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden, wehrten sich gegen diesen Zustand. Die Gefährdung des beruflichen Status spielte bei einigen von ihnen eine wichtige Rolle. So auch bei dem Viehhändler Otto R.14 Dessen „fehlende Krankheitseinsicht“ hatte zur Folge, dass er unbedingt zurück an die Arbeit wollte. „Er verlangt sofort 6 Telefongespräche führen zu dürfen, es würde sich der ganze Verein am nächsten Tag versammeln, um das Haus, das er vom Nachbarn ersteigert habe, zu betrachten. Außerdem habe er noch 70 Stück Rindvieh in einem Ort stehen, die sofort abgeholt werden müßten.“

Bei Manikern wie ihm war der Drang zur Leistung symptomatisch. Solche hypermaskulinen Größenideen mussten einer Behandlung im Weg stehen. 12 13 14

Die Klinik- bzw. Stationsregeln waren dabei unterschiedlich restriktiv. Dies traf auf insgesamt 82 Patienten zu, oder ca 12 % des Gesamtbestandes. PUH 53/137.

118

3. Compliance

Ein Musiklehrer15 sagte, er müsse an die Arbeit, er arbeite an einer „Startbasis, um später die Nachfolge Karajans zu übernehmen.“ Ein Berufspolitiker16 fasste mitten im Wahlkampf den Entschluss, Tennisprofi zu werden. Für das Turnier in Wimbledon hatte er bereits Zuschauerkarten besorgt („ich will mitspielen“). Sein Plan war es, mitten während eines Spiels auf den Platz zu stürmen und sein Können unter Beweis zu stellen. In der Psychiatrie wollte er daher nicht bleiben. Ein Jurist17 hatte seit Jahren wegen einer Eigentumssache etliche Prozesse durch alle denkbaren Instanzen angestrengt. Die Behörden versuchten, ihn nun für prozessunfähig zu erklären, da er ihrer Ansicht nach die Arbeit der Gerichte über Gebühr belastete. Der Mann willigte ein, sich in der Heidelberger Klinik begutachten zu lassen. Dies scheiterte aber an seiner Forderung, dass eben diese Untersuchung nicht zu dem Schluss kommen dürfe, dass er kein Anrecht mehr habe, für die Wiedererstattung seines Eigentums zu kämpfen: „Sehr geehrter Herr Prof. Dr. [A.]! In meiner Begutachtungssache wird sich j e d e Gutachtensabgabe, soweit geordnet, nach folgenden Einzelheiten einleitend zu richten haben […] Es ist bei behaupteten querulatorischen und paranoiden Gedankengängen in keinem Fall vertretbar, in Rechtsangelegenheiten u. bei Beurteilungen dieser, die Prätention vom Kernstück, nämlich dem danebenstehenden Beweis, abzuspalten, um so – u. hier dann wieder über psychiatrisch abwegigen Betrieb – neu zu nicht geistig gesunder Haltung zukommen. [sic] […] Im Rechtshandel […] ist Resignation keine gesunde geistige Haltung.“

Der Gutachter sah sich angesichts der Forderungen und Einwände des Juristen nicht in der Lage, seine Arbeit durchzuführen: „Er versucht die Führung des Gesprächs an sich zu bringen, erklärt offen, daß es von ihm abhänge, wie die Untersuchung sich gestalte, und daß er bestimmen wolle, was besprochen wird und was nicht.“

Er verließ nach einiger Zeit gegen ausdrücklichen ärztlichen Rat die Klinik vor Abschluss der Untersuchung. Nach anfänglicher Weigerung unterschrieb er folgenden Revers: „Ich verlasse heute die Klinik, obwohl ich ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wurde, daß die Begutachtung noch nicht abgeschlossen ist.“

Er fügte handschriftlich hinzu: ´ „Es bestehen Differenzen über Art und Umfang der Begutachtung und insbesondere darüber, dass die Prozeßakten, Anfechtungsakten, nach neuestem Stand das Ursächliche für alles, nicht zum Gegenstand der Besprechung gemacht sind.“

Doch nicht nur Männer mit speziellen Diagnosen wie Manie oder Wahn aller Arten begründeten ihre Ablehnung der Behandlung mit ihrer Erwerbsarbeit. Häufig erwähnt und dabei nicht an spezielle Krankheitsbilder gebunden waren Ängste, dass der Aufenthalt in einer Psychiatrie dem Arbeitgeber bekannt 15 16 17

PUH 83/22. PUH 83/33. PUH 53/196.

3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“

119

werden könnte. Vor allem Beamte und andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst dachten, kaum angekommen, darüber nach, die Klinik auf schnellstem Wege wieder zu verlassen, da ihre Dienstherren über die Erstattungsleistungen der medizinischen Kosten von der psychischen Störung erfahren konnten. Ein Polizeiobermeister18 hatte schon Jahre zuvor seine körperlichen Schmerzen mit Alkohol selbst behandelt und war darüber abhängig geworden. Erst ein Delirium Tremens vermochte ihn, wenn auch unfreiwillig, in eine psychiatrische Klinik zu bringen. Sobald dem Mann jedoch bewusst geworden war, wo er sich befand, drängte er heftig auf Entlassung. Doch auch regulär beschäftigte Angestellte machten sich ähnliche Sorgen und wollten daher weg. Ein Versicherungskaufmann19 glaubte 1993, er müsse „dem Arbeitgeber bei einer Neuanstellung den Aufenthalt in einer Psychiatrie angeben.“ Die Sorge um den Arbeitsplatz blieb bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes ein wichtiger Grund, die Behandlung zu verweigern. Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes war die Erwerbsarbeit, zumal in Vollzeit, noch eine nahezu exklusivmännliche Betätigung. Doch auch die im Laufe der Jahre stetig steigende Erwerbsquote von Frauen änderte an der Bedeutung des Arbeitsplatzes für die männliche Geschlechtsidentität nichts. Viele Patienten versuchten, den Verlust der Männlichkeitsressourcen auszugleichen, indem sie sich den Klinikraum zum Zwecke des doing masculinity aneigneten. Dies lief häufig auf eine Verweigerung der Behandlung hinaus, die die Ärzte wiederum als Insubordination werteten. Solche Handlungen wurden als Verstoß gegen die Klinikordnung dokumentiert. Patienten verstießen gegen die Klinikregeln, die sie an der Verkörperung von Männlichkeit hinderten, entweder alleine oder zusammen mit anderen Patienten. Letzteres, die Bildung einer homosozialen Allianz gegen die Autorität der Ärzte, kompensierte neben der krankheitsbedingten Unterordnung auch den Verlust der homosozialen Bindungen außerhalb der Klinik. Die häufigsten dieser Akte der Aneignung waren die demonstrative Infragestellung der Autorität von Ärzten und Pflegern, das Nichtbeachten der Bett- und Ausgangszeiten sowie der Konsum psychoaktiver Substanzen, vor allem von Alkohol während des Klinikaufenthaltes.20 Otto R. fand in der Klinik offenbar schnell Anschluss an einen Mitpatienten. Die beiden bereiteten zusammen dem Klinikpersonal eine unruhige Nacht. „[…] hat sich sofort mit einem anderen Maniacus zusammengetan. Sie singen unentwegt Lieder und reißen die zotigsten Witze. Sie haben einen Skatclub gegründet und hauen von früh bis spät Karten auf den Tisch. […] Oftmals steigt er mit dem ande18 PUH 73/65, siehe auch: PUH 63/368. 19 PUH 93/208. 20 Meist ist lediglich die parteiische Erzählung solcher Begebenheiten überliefert, nämlich die der Ärzte und Pfleger, die solche Männer als „aufsässig“ charakterisierten. Ob die Konflikte, von denen man hier las, geschahen, weil Patienten bewusst versuchten, die Autorität der Klinik zu untergraben, oder ob die Ärzte dies lediglich als intendierten Angriff auf ihre Souveränität betrachteten, oder ob es die Interaktion zwischen beiden Akteursgruppen war, die solche Konflikte erst außer Kontrolle geraten ließen, ist praxeologisch betrachtet nicht von Belang.

120

3. Compliance

ren Maniacus ins Bett, um dort Karten zu spielen. […] Gestern abend veranstalteten die beiden Patienten eine ‚Kabarettvorstellung‘ – wie sie selbst sagten. Sie produzierten schmutzige humoristische Vorträge. Pat. spart nicht mit den übelsten Schimpfworten. […]“ Die Ärzte dokumentierten das Verhalten der beiden als Provokation gegenüber der ärztlichen Autorität. Als solches war es auch intendiert, was sich an Einträgen wie dem folgenden zeigt, in dem die beiden Patienten ihre Ärzte nachäfften: „Beide stellen sich gegenseitig Attest [sic] aus u. bescheinigen sich darin, daß sie verrückt seien.“ Episoden wie diese fanden sich in den Krankenakten über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Über den jungen Heinz S.21 und seinen Zimmernachbarn las man: „bestärken einander in ihrem Fehlverhalten. Gehen abends nicht zu Bett, machen der Nachtschwester Schwierigkeiten, lassen das Radio laut laufen, trotz mehrmaligem Appell keine Besserung.“ Auch Gießener Ärzte mussten bisweilen Versuche von Patienten ertragen, die sie abwerten wollten: Ein Patient22 „[s]chimpft zunächst auf den Chef, er müsse ganz schnell behandelt werden, es geschehe nichts, er sei schon von ganz anderen Leuten behandelt worden von [Namen mehrerer Professoren der Medizin]. [V]. habe auf 8 m gesehen, dass er ein Sportherz habe.[S.], das sei ein Kerl gewesen, der habe auf die Klingel gedrückt u. dann habe das ganze Haus die Visite begonnen. Ganz anders sei dies gewesen. Er sei Nervenkrank, aber von der Seele habe man hier ja keine Ahnung. […] Erzählt was er für eine ‚Kanone‘ sei. Alle anderen sind kümmerliche Pinscher. Bezeichnet dann Dr. [Name des einweisenden Arztes], der ihn eingewiesen hat, als Bettnässer.“ 23 Männer, die psychoaktive Substanzen konsumierten, begingen ebenfalls Regelüberschreitungen. Wenn die Verbote und Einschränkungen auch je nach Klinik, Station und Zeitpunkt unterschiedlich streng waren, so war ihre Überschreitung ein immer wiederkehrender Anlass, den Insassen eine grundsätzliche Verweigerungshaltung zu attestieren. Insbesondere der regelwidrige Alkoholkonsum fand häufig in der Männergruppe statt.24 Manche verließen die Klinik, um Bekannte zu treffen. Aber auch Gruppen von Mitpatienten gingen häufig zusammen in die Kneipen Gießens oder der Heidelberger Altstadt. Solche Ausflüge wurden immer wieder als Insubordination registriert, was dadurch verstärkt wurde, dass die Männer sich häufig nicht abmeldeten, vereinbarte Ausgangszeiten überschritten oder für den Kneipenbesuch gänzlich unerlaubterweise die Klinik verließen. Einer dieser Patienten war Friedrich Wilhelm von B.25 Dessen Vater war hoher Offizier in der Wehrmacht gewesen. Der Sohn hatte zunächst selbst vorgehabt, Offizier zu werden. In der Ausbildung war er jedoch wiederholt mit seinen Vorgesetzten aneinander geraten, so dass sein Dienstverhältnis un21 PUH 73/66. 22 UAG 54/1870. 23 Siehe auch: PUH 73/201; PUH 63/214; PUH 53/248; PUH 63/323; UAG 73/144; UAG 59/1714; UAG 63/319; UAG 61/400. 24 UAG 49/707; PUH 73/318; PUH 73/202; UAG 59/1714; PUH 73/319; PUH 73/402; PUH 73/66, PUH 73/201. 25 PUH 63/214.

3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“

121

freiwillig beendet worden war. Kurz danach war er aufgrund einer „depressiven Reaktion“ in Heidelberg. Er kümmerte sich dort laut Akte wenig um Ausgehzeiten und unternahm viele Touren in die Stadt und das Umland. Die Ausflüge samt der dazugehörigen Verletzung der Klinikordnung machte er nicht alleine. Dies war unter anderem aus der Krankenakte seines Mitpatienten, des Gerichtsreferendars Ulrich F.26 zu erfahren, in der ein Brief von dessen Stiefmutter an einen der Heidelberger Psychiatrieprofessoren enthalten war. Das Schreiben bot eine ungewöhnliche, nichtärztliche Perspektive auf derartige Trinkbekanntschaften unter Patienten. Ulrich F. hatte sich kurze Zeit nach seiner Entlassung aus Heidelberg das Leben genommen, woraufhin die Frau sich an die Klinik gewendet hatte. In dem Schreiben beklagte sie, dass ihrem Adoptivsohn nicht die in ihren Augen angemessene Behandlung zugekommen sei. Dabei bezog sie sich auch auf dessen Bekanntschaft zu dem feierfreudigen Friedrich Wilhelm: „Was uns allerdings vollkommen unverständlich war, ist die Tatsache, daß er fast täglich bis Mitternacht in Heidelberg unterwegs war, er rief uns auch oft noch nach 23 Uhr an von unterwegs. Wir glaubten, er würde mit Schlafkuren behandelt, was doch in seiner Gemütsverfassung das beste [sic] gewesen wäre, dabei war er viel unterwegs im Auto mit [von B.]. Von B. ist, wie wir erst hinterher erfuhren, nicht von bestem Ruf, mit 15 Jahren habe er unmoralisch gelebt, habe in keinem Beruf etwas geleistet und [sei] obendrein sehr verschuldet. Und ausgerechnet ist unser Sohn mit diesem Herrn am meisten zusammen.“

Zur allgemeinen Insubordination sowie durch unerlaubten Substanzkonsum kam ab den späten 1960er Jahren noch eine weitere Praktik der Männlichkeit hinzu, die Psychiatern Probleme bereitete: Die politische Agitation. Regelverletzungen, die sich in einer autoritätskritischen Sprache äußerten, häuften sich mit Beginn des gesellschaftlichen Wandels „um 1968“. Dieser fand statt im Kontext der verschiedenen Psychiatriekritik- und Reformbewegungen der Zeit, die eine öffentliche Debatte um die Institution Psychiatrie entfacht hatte. Vertreter aller Akteursgruppen, Patienten, Psychiater und Psychosomatiker/ Psychotherapeuten wie auch Pfleger, äußerten sich kritisch zu der Übermacht, die das Klinikpersonal über eingewiesene Menschen auszuüben vermochte, selbst wenn eine solche Haltung keinesfalls mehrheitlich vertreten wurde. Universitätsstädte wie Gießen und vor allem Heidelberg waren selbst wichtige Zentren dieser Bewegungen.27 Patienten konnten protesthafte Verweigerung 26 PUH 63/213. 27 Forsbach (2010) S. 87–103. Heidelberger Ärzte bauten das bedeutende sozialpsychiatrische Modellprojektes, das spätere „Zentralinstitut für Seelische Gesundheit“ in Mannheim auf und stellten mehrere Autoren der Psychiatrie-Enquete. Ebenfalls in Heidelberg bildete sich mit dem Sozialitischen Patientenkollektiv eine antipsychiatrische Gruppierung, die internationale Bedeutung erlangte. Häfner/Martini (2011), vor allem S. 92.; Brink (2010), S. 424 f., S. 434–443. Aus Gießen erhielt das Heidelberger Sozialistische Patientenkollektiv wiederum mit dem Engagement Horst-Eberhard Richters eine seiner wichtigsten Stützen. Auch die Gießener Studentenschaft unterstützte das Kollektiv und gab in zwei Bänden die Nachdrucke von deren gesammelten Flugblättern, die sogenannten „Patienten-Infos. Dokumentation zum

122

3. Compliance

nun politisch legitimieren. Solche Begründungen waren zuvor nur in Einzelfällen dokumentiert worden. So warf zum Beispiel ein Patient aus dem Jahr 1953 seinen Heidelberger Ärzten deren eigene Verwicklung in die NS-Krankenmorde vor, über die er offenbar informiert war.28 Der junge Friedrich Wilhelm von B. soll zu seinem Mitpatienten Ulrich F. gesagt haben: „mindestens einmal im Leben muss man im Gefängnis gewesen sein.“ Die Patienten Ulrich F. und Friedrich Wilhelm von B. kamen aus der oberen Mittelschicht bzw. Oberschicht. Aus der Zeit vor 1968 ist kein explizit politischer Protest von Patienten aus der Unterschicht bzw. unteren Mittelschicht überliefert worden. Breitere Bevölkerungsschichten erhielten durch die Öffnung der Universitäten Zugang zur marxistisch geprägten Autoritätskritik der studentischen Protestbewegung. Diese fand bekanntlich ungeachtet ihres antikapitalistischen Selbstverständnisses nahtlos Anschluss an die Massenkonsumkultur US-amerikanischer Prägung. Nach „1968“ war antiautoritärer und damit antipsychiatrischer Protest kein Privileg einer Bildungselite mehr. Nicht nur die neuen studentischen Bildungsaufsteiger protestierten politisch, sondern im weiteren Sinne auch die aus allen Schichten stammenden Konsumenten der Jugendkultur. Die Aktivistinnen der Frauenbewegung, die 1968 das Podium der SDSGeneralversammlung stürmten, haben nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass ein Großteil der Praktiken des 68er-Protestes nicht bloß politischer Natur war, sondern dabei zur gleichen Zeit der Konstruktion einer Männlichkeit diente, die sich trotz aller sozialistischen Bekenntnisse zu Frauenrechten vom Anspruch der Hegemonie alles andere als verabschiedet hatte.29 Die Studenten und Kommunarden im Straßenkampf und an den Universitäten artikulierten ihren Protest als Praktiken der Protestmännlichkeit. Gleiches ließ sich für die politisch bewussten Patienten in den psychiatrischen Universitätskliniken beobachten. Viele lasen in der Klinik kritische Literatur aus dem Kanon der 68er Bewegung und erklärten die Diskussion über diese Werke zum Hauptinhalt der therapeutischen Gespräche, was viele Psychiater besonders in den Gruppensitzungen als ausgesprochen lästig empfanden. Patienten wurden in Übertragung der marxistischen Klassenlehre zu den „Proletariern“ der Anstalt. Die protestierenden Männer konnten sich so in der Rolle der „Arbeiterführer“ geben.30 Der Heidelberger Student Uwe T.31 war zunächst wenige Tage in die dortige Universitätsklinik, dann aber in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Wiesloch gekommen. Von dort schickten ihn die Psychiater nach einiger Zeit Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg“ heraus. Mit Erich Adalbert Wulff war in Gießen darüber hinaus auch einer der Protagonisten der sozialpsychiatrischen Reformbewegung tätig. Siehe auch Abschnitt 1.5. 28 PUH 53/171. 29 Bendkowski (1999); Haug (2010), S. 52–58. 30 Siehe auch: PUH 73/71a; PUH 83/41; PUH 83/50; PUH 83/66; PUH 73/186; PUH 73/323; PUH 73/356; PUH 73/422; PUH 73/202; PUH 73/426. 31 PUH 73/181.

3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“

123

mitsamt einem Arztbrief wieder zurück nach Heidelberg. In dem Schreiben wurde beklagt, Uwe T. habe nicht an seiner Behandlung partizipiert, sondern vielmehr versucht, „immer wieder das Gespräch auf ideologische und scheinphilosophische Themen zu bringen, um dadurch die psychiatrische Behandlung bezw. die psychiatrische Klinik überhaupt in Frage zu stellen. […] Völlig unmotiviert brachte er meist in loser, manchmal läppisch-flegelhafter Art nicht angebrachte Kritik an der Einrichtung, an der Behandlung und an den Therapeuten vor“, erst die Androhung von „Maßnahmen, die hier zur Verfügung stehen“, hatte dieses Verhalten korrigiert, so dass sie am Ende immerhin einen bescheidenen Behandlungserfolg sahen: „Die anfangs beherrschenden […] politisch angehauchten Hirngespinste waren nicht mehr festzustellen“, sodass nach einiger Zeit „durchaus vernünftige Gespräche möglich“ gewesen seien. In Heidelberg hatte man zwar mehr Verständnis für die psychiatriekritischen Argumente des Studenten als in Wiesloch. Doch auch die hiesigen Ärzte hatten mit Widerständen gegen die Behandlung zu kämpfen, die der junge Mann selbstbewusst antipsychiatrisch legitimierte. Zwar gab es in Heidelberg im Gegensatz zu Wiesloch keinen „30-Betten-Saal [wie im] PLK Wiesloch“, wo man „wie Vieh“ behandelt würde. In Bezugnahme auf die Teilnahmebereitschaft Uwe T.s an der Gruppentherapie musste jedoch auch der behandelnde Heidelberger Arzt vermerken: „spricht […] nicht über sich und vermeidet es, seine eigenen Probleme zu erwähnen. Stattdessen macht er sich zum Anwalt aller anderen Patienten, die unter der Isolation leiden.“ Kurze Zeit später fanden Klinikmitarbeiter eine kleine handgeschriebene Nachricht des Studenten an seinen behandelnden Arzt, die der Krankengeschichte beigelegt wurde. Darauf stand: „Sollte sich die Einstellung des Personals gegenüber den Patienten nicht ändern, garantiere ich für nichts mehr!“ Doch auch über junge Männer aus bildungsfernen Milieus las man in vielen Akten etwas über autoritätskritische Haltungen als Behandlungshindernis. Das verbindende Element zwischen diesen beiden Gruppen war der Substanzkonsum sowie die zeitgenössische populäre Jugendkultur, vor allem die Rock- und Popmusik. Uwe T. spielte Gitarre und sang zu seinen LSD-Trips. Der junge Arbeitslose Heinz S.,32 der aus prekären Verhältnissen stammte, wollte bei seiner Aufnahme „einen Schallplattenspieler“ sowie „mehrere Tabletten Captagon“ 33 mit auf sein Zimmer nehmen, ließ dann mit seinem Zimmernachbarn „das Radio die ganze Nacht laufen“. Sein behandelnder Arzt trug immer wieder Sätze wie den folgenden in seine Akte ein: „[…] flegelhaftes Gebahren. Pat. stellt sich bewußt außerhalb der Normen unserer Gemeinschaft hier auf der Station.“ Aber auch die populärkulturellen Insignien des Protestes hielt er für aufzeichnungswürdig, über das äußere Erscheinungsbild seines Patienten vermerkte der Arzt: „Bei Herrn [S.] handelt es sich um eine schon äußerlich betrachtet auffallende Persönlichkeit. Er hat schulterlanges, welliges Haar, ein flaumiges Schnurrbärtchen, zwischen den Augenbrauen ein [Motiv] eintätowiert. Außerdem finden sich sehr zahlreiche und intensive Tätowierungen an beiden Unterarmen und den Handrücken. […] Gekleidet ist er im 32 PUH 73/66. 33 Captagon: Amphetaminartiges Stimulans.

124

3. Compliance Westernstil, trägt einen Jeansanzug, hat um den Hals ein eisernes Kreuz und eine Uhr hängen, trägt übereinander zwei Gürtel.“34

Regelbruch und Agitation gegen Ärzte (ob alleine oder in der homosozialen Allianz) waren jedoch nicht das einzige Mittel, mit dem Patienten versuchten, sich in der Klinik zu Lasten ihrer Therapietreue einen größeren Spielraum zur Verkörperung von Männlichkeit zu erarbeiten. Häufig beklagten Psychiater auch Aggressionen und Rangstreitigkeiten der Patienten untereinander.35 Beispiele dafür fanden sich über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Dies reichte von Schlägereien über Rangstreitigkeiten bei der Verteilung von Essen oder Betten, bis zu abwertenden Kommentaren. In späteren Jahren gaben die Dokumentationen der Gruppentherapien Aufschluss über Männer, die in den Gruppentherapien versuchten, den Gesprächsverlauf zu dominieren.36 Über einen Patienten las man: „Herr A. verhielt sich zu Anfang arrogant und besserwisserisch und war kaum bereit mitzuarbeiten oder Ratschläge anzunehmen. […] Innerhalb der Gruppe versuchte er vor allem durch laute, schrille Diskussionen, dominant zu sein und im Mittelpunkt zu stehen.“37

Und im Laufe seines Aufenthaltes: „Herr P. wirkt zur Zeit insgesamt etwas strukturierter, weniger infantil und anklammernd, ich habe aber den Eindruck, daß er sich über die aggressive Abwertung seiner Mitpat. stabilisiert hat. Er geht immer wieder mit anderen Pat. sehr verächtlich um, bezeichnet sie als den letzten Dreck oder ähnliches.“

Nicht bloß der Status in der homosozialen Hierarchie war durch den Klinikaufenthalt gefährdet. Auch der Spielraum für heterosexuelles doing masculinity war eingeschränkt. Die Patienten konnten während ihres Aufenthaltes ihre Beziehungen, so sie denn welche geführt hatten, kaum wie gewohnt weiterführen. In der Klinik selbst gab es trotz Besuchsregelung nicht wirklich Gelegenheiten zu Intimitäten. Der Zugang zu Mitpatientinnen war mehr oder minder streng reguliert. Wer seine Männlichkeit durch heterosexuelle Praktiken herstellen wollte, musste also in unterschiedlichem Ausmaß gegen die Klinikordnung verstoßen. Die Krankenakten aus der Zeit vor ca. 1970 waren in dieser Hinsicht von denen aus späteren Jahren grundsätzlich verschieden. Bis dahin herrschte auf den Stationen Geschlechtertrennung. Die Ärzte, aber auch die Pfleger auf den Männerstationen waren ganz überwiegend männlichen Geschlechts. Wem der Ausgang aus der Klinik verboten war und wer keine Besuche empfangen konnte, dem war also grundsätzlich auch jegliches heterosexuelles doing gender verwehrt. Doch auch wer ausgehen, bzw. empfangen durfte, hatte Einschränkungen zu erdulden.

34 PUH 73/202; PUH 73/426. 35 PUH 93/410; PUH 83/272; PUH 83/52; PUH 83/15; PUH 83/56; PUH 83/343; PUH 63/330; PUH 83/48; PUH 83/168; PUH 83/41; PUH 93/112; UAG 74/26. 36 PUH 53/86, UAG 61/400, PUH 73/71a. 37 PUH 83/41.

3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“

125

Friedrich Wilhelm von B. zum Beispiel durfte ausgehen und machte von dieser Möglichkeit auch Gebrauch. Das unfreiwillige Ausscheiden aus der Bundeswehr war nur einer der Gründe für dessen besorgte Mutter gewesen, gewisse freundschaftliche Kontakte zur Klinikleitung zu bemühen, um den jungen Mann für eine Weile aus seiner gewohnten Umgebung zu entfernen. Der andere Grund war eine gegenwärtig noch andauernde Liaison des begüterten Patienten mit der „Tochter eines einfachen Postbeamten“. Die junge Frau besuchte Friedrich Wilhelm zwar noch einige Male in der Klinik, die Ärzte befanden jedoch ihre Präsenz für die Genesung des jungen Mannes eher nachteilig. Er wurde „entsprechend unterrichtet, dass weitere Besuche des Mädchens für die Dauer seines Aufenthaltes hier nicht gewünscht sind.“ Er war daher gezwungen, sie außerhalb der Klinik zu treffen, was er auch noch eine Weile tat; dabei aber kam und ging er, wann er wollte. In Fällen wie diesen behinderten Ärzte die heterosexuelle Aktivität ihrer Patienten. Wie Friedrich Wilhelm nutzten zahlreiche Patienten ihren Ausgang, um sich mit Frauen zu treffen. Viele entfernten sich unerlaubterweise, auch Bordellbesuche wurden dokumentiert. In den Krankengeschichten tauchten diese Handlungen meist als Insubordination auf, zumindest jedoch als ein Hindernis in der psychiatrischen Behandlungsroutine.38 Mit Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Kliniken hatten sich die Bedingungen für die Männlichkeitskonstruktion über Heterosexualität in der Klinik bereits grundlegend geändert – dies gilt auch für die Protestdimension dieses Verhaltens: Männer waren noch bis in die 1960er in der Klinik fast ausschließlich auf andere Männer gestoßen, seien dies nun Mitpatienten, Ärzte oder Pfleger. Jetzt gab es häufiger Psychiaterinnen und Psychologinnen; außerdem war der Kontakt zu Mitpatientinnen zumindest in den untersuchten Kliniken sehr viel einfacher möglich. Für Männer lag es nun nahe, ob erfolgsversprechend oder nicht, durch Annäherungsversuche den durch die Einweisung erlittenen Mangel an Männlichkeitsressourcen zu kompensieren. Zwar wurden solche Annäherungsversuche vom Klinikpersonal nicht immer als Behandlungswiderstand aufgefasst, sondern manchmal auch als Chance gesehen, einen Kontakt zu dem Patienten herzustellen. Trotzdem lasen sie sich in den Akten der entsprechenden Patienten als Teil einer ganzen Reihe von Grenzüberschreitungen, nicht bloß sexueller Natur, die schließlich zum „Scheitern“ der Behandlung führten.39 Die weiter oben beschriebenen Vorgänge um den Jugendlichen Thomas E. und seinen obszönen Brief sind ein Beispiel hierfür. Auch die Bereitschaft von Uwe T., sich überhaupt in psychiatrische Behandlung zu begeben, ging auf die Beziehung zu einer Therapeutin zurück, zu der er sich sexuell hingezogen fühlte und der er sich auch entsprechend näherte. Die Psychologin der Erziehungsberatungsstelle seiner Heimatstadt hatte ihn persönlich in die Klinik gebracht, von wo es ihm nach drei Tagen gelang, „trotz strengster Bewachung […], den Klinikhof zu verlassen“ und in seine Heimatstadt zu flüchten, woraufhin 38 PUH 63/214; siehe auch UAG 49/707; PUH 63/289. 39 Neben den folgenden Beispielen siehe: PUH 93/435; PUH 83/153.

126

3. Compliance

er noch in der gleichen Nacht die Privatadresse der Psychologin aufsuchte „und [dort] völlig nackend unter ihrem Fenster stand.“ Von solchen Beispielen sexuell motivierter therapeutischer Bindung abgesehen, tauchen die Annäherungsversuche von Patienten an weibliche Therapeuten eher als Behandlungshindernisse auf. Anhand des Beispiels von Heinz S. (Diagnose: „Neurotische Entwicklung bei selbstunsicherer, zu auto- und heteroaggressiven Durchbrüchen neigende Persönlichkeit) ist dies exemplarisch zu sehen. Dieser versuchte, in der Klinik eine Beziehung zu einer Medizinstudentin zu knüpfen, die dort gerade ihre Famulatur absolvierte. Auch dies hatte erkennbar schlechte Auswirkungen auf seine Partizipation an der Behandlung: „Im meeting deutete Herr [S.] heute an, er würde aus persönlichen Gründen nicht mehr an der Stationsbesprechung teilnehmen können. […] er stürzt panikartig davon, läuft zum Horten,40 stürzt in einer halben Stunde 11 Bier und 7 Underberg hinunter und kommt in stark angetrunkenem und unberechenbarem Zustand auf die Station zurück, randaliert. Offenbart jetzt, daß er sich seit einiger Zeit unsterblich in die Famula verliebt habe, daß er unbedingt und sofort mit ihr sprechen müsse. Die Famula ist der Situation nicht gewachsen. Nach einer halben Stunde kommt sie verstört und ängstlich zum Ref. Herr S. habe ihr gedroht, (alte Masche!), er würde sich umbringen, wenn er sie nicht erhöre [sic, gemeint ist‚ sie ihn nicht erhöre‘].“

Ebenfalls eher unerwünscht war das Verhalten Peter F.s, der Mitpatientinnen und Pflegerinnen ununterbrochen sexuell belästigte und die gesamte Gruppentherapie zum Stillstand brachte, da er das Gespräch immer wieder auf Sex lenkte. Dieses Problem war auch in Gießen nicht unbekannt. Zu einem Patienten hieß es dort: „Habe sich mit der Therapeutin nicht verstanden (habe mit ihr schlafen wollen!).“ 41 Die Möglichkeit, sich dem weiblichen Behandlungspersonal zu nähern, endete also für die Behandlungsbereitschaft der Patienten eher unvorteilhaft. Ein ähnlich ambivalentes Bild ergibt sich hinsichtlich der Kontakte von Patienten zu Mitpatientinnen. Es gab in den Akten durchaus Fälle, in denen solche Begegnungen als vorteilhaft für die Patienten geschildert wurden. Thomas E. beispielsweise, der trotz seines obszönen Briefes im Alltag laut Akte ausgesprochen soziophob war und sehr darunter litt, dass es ihm nicht gelang, Kontakte zu Mädchen herzustellen, fand seine erste Freundin in einer Mitpatientin auf seiner Station, was seine Psychiaterin als Erfolg ihrer Behandlung dokumentierte. Es sind einige weitere Fälle überliefert, in denen junge Männer unter den besonderen Bedingungen des Psychiatrieaufenthaltes, so zumindest die dokumentierenden Psychiater, zum ersten Mal in ihrem Leben Zugang zu Frauen fanden.42 Auf der anderen Seite konnten sich ähnliche Problematiken ergeben, wie in den Fällen, in denen Patienten das weibliche Personal begehrten, insbesondere, wenn solche Beziehungen in den Augen der Ärzte den Therapieerfolg 40 Kaufhaus Horten, damaliger Name eines nahe der Klinik gelegenen Heidelberger Kaufhauses. 41 UAG 73/1385. 42 PUH 73/185; PUH 93/153; PUH 93/88.

3.3 „Querulatorische Gedankengänge und politische Hirngespinste“

127

von einem der beiden Beteiligten gefährdete.43 Ein Gießener Patient44 wurde beispielsweise in seinem Krankenbett von seinem behandelnden Arzt beim Geschlechtsverkehr mit einer Mitpatientin überrascht. Der Arzt machte seinen Patienten noch am Ort des Geschehens darauf aufmerksam, dass er damit gegen die Klinikregeln verstieße und trennte die beiden. Der Patient war, so notierte der Psychiater über die folgenden Tage, über die Einmischung derart aufgebracht, dass das Vertrauensverhältnis nicht wieder herzustellen gewesen sei. „Auch seine Muskeln lässt er gerne bewundern, […] dann beginnt er jedoch Kontakte mit Patienten meist averbaler Art. Meist sind es schwer psychotische, distanzlose Patientinnen, es kommt zum Austausch von Zärtlichkeiten. Einmal finde ich ihn mit einer hebephrenen Patientin in seinem Bett eng umschlungen. Ich schicke die Patienten aus dem Zimmer heraus. Er ist böse, brüllt mich an, ich solle verschwinden. Auch noch Tage danach ist er missmutig, […] ich würde ihm seine Sexualität nicht gönnen.“45

Beruhte das Interesse der Patienten an einer Mitpatientin nicht auf Gegenseitigkeit, konnte dies freilich, wie im Falle des weiblichen Personals, zu unerwünschten Reaktionen kommen, die wiederum aus ärztlicher Sicht den Therapieverlauf beeinträchtigen konnten. Klaus R. beispielsweise (Diagnose: „Erregbare Persönlichkeit“) verliebte sich in eine Mitpatientin, machte ihr schließlich einen Heiratsantrag und geriet, nachdem die Frau diesen abgelehnt hatte, in einen ähnlichen Zustand wie Heinz S. nach dessen Begegnung mit der Famulantin.46 Tab. 8 Dokumentation von Männlichkeit als Ursache für mangelnde Therapiebereitschaft Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Patienten, bei denen Ärzte wiederholt mangelnde Behandlungsbereitschaft dokumentierten, davon:

184

43 44 45 46

Patienten, bei denen Ärzte die Praktizierung von Männlichkeit als mitursächlich für mangelnde Behandlungsbereitschaft dokumentierten

82

Dabei dokumentierte Praktik: Verstoß gegen die Klinikregeln ohne sexuelle Motivation

77

Dabei dokumentierte Praktik: Verstoß gegen die Klinikregeln mit sexueller Motivation

20

PUH 83/343; PUH 83/346; PUH 83/322; PUH 73/342; PUH 73/422. UAG 73/656. UAG 73/656. PUH 73/411.

128

3. Compliance

3.4 „Eine Zumutung!“ – Widerstand untergeordneter Männer gegen ihre Pathologisierung Behandlungsverweigerung konnte also in vielen Fällen nicht ohne die Mechanismen der Marginalisierung im Zuge der Konstruktion von Männlichkeit erklärt werden. Bildete hegemoniale Männlichkeit nun die Hauptursache für den Widerstand von Patienten? Der Widerstand gegen den zwangsweisen Entzug von Männlichkeitsressourcen war ein bedeutsamer Anlass, sich der Behandlung zu entziehen, aber es war bei weitem nicht der einzige derartige Beweggrund, der mit Männlichkeit zu tun hatte. Immer wieder beispielsweise kam auch das genaue Gegenteil vor. Schwule und bisexuelle Männer, in einem Falle auch eine administrativ als Mann aufgeführte Transgender-Frau,47 wehrten sich gegen ihre Pathologisierung und die daraus abgeleiteten Therapiemaßnahmen. Hieronymus F.48 (Diagnose: „Trunksüchtiger Psychopath, Polymorph-Perverse Veranlagung“) kam Ende der 1940er Jahre in die Gießener Klinik; gegen ihn lief ein Verfahren wegen „versuchter Unzucht“. Er hatte sich auch auf Druck seiner Ehefrau eingefunden, die ihn „als Onanisten bezeichnet habe“. Er selbst gab an, er sei „streng religiös erzogen worden. [In seinem] Kadettenkorps sei er erstmalig zur Onanie verführt worden, auch gegenseitige Onanie habe man dort betrieben.“ Zwar habe „ein Student ihm mal erzählt, die Onanie sei der Anfang zur Paralyse und jeder Lustmörder beginne mit Onanie.“ Er selbst hatte sich durchaus Gedanken gemacht als er bemerkt hatte, „dass er sexuell nicht normal sei“. Er habe dann aber „viel Literatur wie Magnus Hirschfeld gelesen“.49 Zumindest vor den Gießener Ärzten verteidigte Hieronymus F. also seine Orientierung und gab bereitwillig Auskunft, etwa „von seiner großen Sammlung pornographischer Bilder“ und dass er durchaus auch gerne mit Frauen verkehre, „dabei auch Cunnilingus praktiziere“.50 Voraussetzung für Sex sei für ihn jedoch generell, dass er betrunken sei, er trinke dann immer viel Schnaps, „dann seien das Handlungen, wo ich einen Jungen nicht von einem Mädchen unterscheiden kann“. Genau diese Unterscheidungsfähigkeit wiederherzustellen, nicht etwa, um den Patienten vor den gesundheitlichen Folgen des riskanten Alkoholkonsums zu bewahren, darauf zielten die Bemühungen der Ärzte, die Hieronymus F. zu einer „Trinkerkur“ zu überreden versuchten, wogegen sich der Patient unter diesen Umständen jedoch wehrte und daraufhin entlassen wurde. Ulrich F.,51 der junge Gerichtsreferendar, der Friedrich Wilhelm von B. auf dessen spätabendlichen Touren begleitete, schilderte seinen Psychiatern hauptsächlich „depressive Beschwerden“. Die Ärzte beschrieben als den 47 PUH 53/53. 48 UAG 49/1530. 49 Magnus Hirschfeld 1868–1935: Pionier der Sexualwissenschaft und Mitbegründer der frühen Homosexuellen-Bewegung. 50 Pornographiekonsum und Oralverkehr galten ebenfalls als Symptome der Perversion. Siehe z. B: Loewenfeld (1922), S. 109, Weygandt (1912), S. 955. 51 PUH 63/213.

3.4 „Eine Zumutung!“

129

„eigentliche[n] Teil seiner Problematik“ nicht die Niedergeschlagenheit, sondern seine homosexuelle Orientierung. Die folgenden Äußerungen Ulrich F.s erstrecken sich über zweieinhalb Seiten in wörtlicher Rede und sind offensichtlich ein überarbeitetes Transkript einer stenographischen Aufzeichnung: „mir sagen Frauen gar nichts, ich werde dabei eiskalt, ekele mich geradezu, finde es meiner unwürdig, mit einer Frau zusammen zu sein. […] Sie glauben gar nicht, wie man darunter leiden kann, unsere Gesetzgebung, unsere ganze Einstellung ist ja derartig, dass Menschen mit meiner Veranlagung abgestempelt und verdammt werden, dass wir schief angesehen werden, dass wir als Ferkel und als unmoralisch bezeichnet werden. […] Es ist auch völlig sinnlos, dass ich mich hier beherrsche und mit Absicht zum anderen Geschlecht zwinge, ich glaube auch nicht, dass eine Psychotherapie, von der ich schon gehört habe, irgendeinen Zweck hätte, denn es ist ja schon immer in mir drin und es ist ja nicht erst bei der Pubertät aufgetreten und ich bin ja auch nicht verführt worden. […]

Der junge Mann war also durchaus der Ansicht, wegen seiner Orientierung nicht behandlungsbedürftig zu sein. Dass er ärztliche Hilfe in Anspruch nahm, geschah für ihn unter der Bedingung, nicht aufgrund seiner sexuellen Orientierung therapiert zu werden, sondern aufgrund seiner Niedergeschlagenheit und seiner Insuffizienzgefühle. Lediglich der starke Leidensdruck hatte ihn dazu gebracht, sich überhaupt erst jemandem zu offenbaren, denn zuvor, so Ulrich F., habe er „es auch nie einem Arzt oder Fremden gesagt, den ich nicht ebenfalls als homosexuell erkannt habe.“ Er äußerte bei der Anamnese ausdrücklich den Wunsch, dass niemand außer dem aufnehmenden Arzt etwas davon erfahren solle und „geriet in starke Unruhe und Erregung, als ihm mitgeteilt wird, dass es der Stations- und Oberarzt zumindest erfahren müsste und dass es auch unbedingt nötig sei, im Krankenblatt fixiert zu werden.“ Er erklärte sich einverstanden, setzte jedoch durch, dass auf dem Aktendeckel seiner Akte in roter Farbe geschrieben wurde „Darf nie ausgeliehen werden!“, sowie an das untere Ende des Stammblattes: „ K R A N K E N G E S C H I C H T E DA R F I N K E I N E M FA L L E A U S G E L I E H E N W E R D E N “, mit roter Farbe unterstrichen und mit großem roten Ausrufezeichen am Rand. Im weiteren Verlauf der Behandlung versuchte er, mit den Ärzten zu kooperieren, widersetzte sich jedoch jeglichen Konversionstherapien schon im Ansatz: „Ein Hauptthema für den Pat. war die Entrüstung über die „Zumutung“ des Stationsarztes, sich doch einmal mit dem Gedanken zu befassen, ein heterosexuelles Verhältnis zu beginnen und das homosexuelle etwas zu überwinden. Darüber könne man doch nur lachen, ein „Normaler“ hätte da eben gar keine Ahnung, wie das Gefühl und die Zuneigung bei ihm homosexuell ausgerichtet seien. […] Das ginge doch einfach nicht. Hier fruchteten auch alle Einwände nicht, dass der Rat aus ärztlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Lehre erteilt wurde, dass es doch wenigstens mal auf einen Versuch ankäme.“

Auch sein Bedürfnis nach Diskretion versuchte er, nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten: „Er weigert sich, in Gegenwart des O. A.s dreier Ärzte und einer Psychologiestudentin über seine Veranlagung zu sprechen und bagatellisiert diese stark.“52 52 Weitere Fälle derartiger Selbstbehauptung: PUH 63/218; PUH 73/202.

130

3. Compliance

1953 gab es in der Heidelberger Klinik einen Fall, der für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Compliance und männlicher Geschlechtsidentität zu dieser Zeit bedeutsam und aufschlussreich zugleich war, der Fall von Werner/ Helena G.s,53 die als intersexuelle Person geboren, zunächst als Mann sozialisiert und sich dann gegen Ende der Pubertät zur Frau wandelte. Wie viele homo- und bisexuelle Männer auch, wurde die „untergeordnete Männlichkeit“, die sie für die Ärzte verkörperte, pathologisiert. Der Unterschied war bloß, dass sie sich gegen diese Pathologisierung nicht wehrte, weil sie ihr Begehren zur Krankheit machte, sondern weil die Diagnose „Homosexueller“ oder „gewöhnlicher Transvestit“54 sie zu einem Mann machte, der sie nicht war. Werner/Helena, die sich als Frau sah, wehrte sich gegen eine solche Pathologisierung also nicht, weil sie Pathologisierung mann-männlichen Begehrens an sich ablehnte, sondern weil eine solche Diagnose die Annahme implizierte, dass es sich bei ihr um einen Mann handelte. Nachdem sie im Vorfeld ihres Aufenthaltes in Heidelberg zwei Jahre lang mit Androgenen behandelt worden war, beging sie ihren ersten Suizidversuch („Maiglöckchen und Schierling ausgekocht und getrunken“), den sie überlebte. Daraufhin entschied sie sich endgültig, die Versuche, zum Mann zu werden, aufzugeben und offen als Frau zu leben. Das Gesundheitsamt gestattete ihr nach mehreren aufwendigen Begutachtungen, „sich als Frau zu geben“, auch bei ihrer Aufnahme in Heidelberg betonte sie ausdrücklich „dass sie unter keinen Umständen als Mann gelten wollte“. Für eine rechtmäßige Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister musste Werner/Helena G. in Heidelberg untersucht werden. „Vor einigen Tagen wurde G. im Ärztekolleg vorgestellt, von Herrn Dr. A. Die Meinungen der Ärzte gingen auseinander; dem einen Teil erschien sie mehr weiblich, dem anderen mehr männlich.“ Im Laufe des Aufenthaltes wurde befunden, dass Werner G. sich von nun an Helena G. nennen durfte, die Psychiatrie erledigte die entsprechenden Formalitäten mit dem Amt. Eine geschlechtsangleichende Operation hingegen lehnte der behandelnde Psychiater ab, da „dies kein Chirurg unternehmen würde.“ Aus Werner G. wurde also auch administrativ Helena G. Mehr als 20 Jahre später kam sie wieder aufgrund eines Suizidversuches mit Tabletten nach Heidelberg, allerdings zunächst in die Medizinische Klinik (Ludolf-Krehl-Klinik). Sie hatte eine Affäre mit einem Bekannten begonnen, der nicht wusste, dass sie „transsexuell“ war und sie, als er es schließlich erfuhr, unter Beschimpfungen von sich stoß. Helena G. verweigerte in der Krehl-Klinik die Mitarbeit bei ihrer Behandlung („lehnte jede weitere Kontaktaufnahme ab“), weil ein Mitarbeiter der Klinik sie als homosexuell bezeichnet hatte. Sie schrieb einen Beschwerdebrief an ihren behandelnden Arzt, in dem sie ein Schriftstück für nichtig erklärte, dass diesen Arzt von der Schweigepflicht entband: „Meine Gründe hierzu sind folgende: Es wurde Populär, dass ich doch ein Mann sein soll? Selbst darf ich Sie fragen, was geht diess einen Ausenstehenden an? Oder wird über diese Angelegenheit, die nur für meine Person intym ist, vielleicht öffentlich diskutiert?“ 53 PUH 53/53, siehe auch: UAG 50/806. 54 Zur Geschichte der Transsexuellen siehe Herrn (2012).

3.4 „Eine Zumutung!“

131

Doch neben Selbstbehauptung waren es auch Angst und Scham, die Patienten wie z. B. den 44-jährigen Familienvater Joseph M.55 davon abhielten, mit ihren Psychiatern zu kooperieren.56 In solchen Fällen versuchten die Männer schon zu vermeiden, überhaupt darüber zu sprechen, dass sie sich eindeutig mehr zu Männern hingezogen fühlten als zu Frauen; ein stummer Widerstand also. In dem Arztbrief an den Hausarzt Joseph M.s las man von „einer Homosexualitätsproblematik, die sich auch stark auf die Beziehung zum Ehepartner auswirkte. Da Herr [M] offenbar nicht in der Lage war zu introvertieren, sondern die Ursache seiner Konflikte ausschließlich in der Umwelt sah, fehlten die Voraussetzungen für eine Psychotherapie.“ Tatsächlich ließ sich M. nicht auf Versuche ein, seine sexuelle Orientierung zur Diskussion zu stellen, sei es nun im Rahmen von Konversionsversuchen oder, um „ein Arrangement“ mit seiner Ehefrau [i. e. eine Scheinehe] zu finden. Er beschrieb in seinem Lebenslauf lediglich seinen Ekel vor körperlichem Kontakt mit seiner Frau, nicht jedoch sein Begehren, das so zum Gegenstand der Therapie geworden wäre. „Die Zärtlichkeit mit meiner Frau (Kuss, Umarmung, Beischlaf) nahmen immer mehr ab. Ich empfinde sie als notwendiges Übel in der Ehe […] Wollte meine Frau (in einem Hotelbett) auf der Hochzeitsreise Geschlechtsverkehr, wollte ich nicht […] zuhause habe ich dann selbstverständlich mitgemacht, nachdem sie mich überrumpelt hatte (wegen der Tage mich anlog), so kam unser erster Sohn […] zur Welt. […] Dann zieht sich meine Frau immer nackt im Schlafzimmer vor mir aus, was mich stört. […] Mich ekelt schon bald (vielleicht nur deshalb) jedes Bild einer nackten Person.“

Joseph M.s Akte stammt aus dem Jahr 1973. In den meisten Akten nach der Strafrechtsreform 1969 und der Entpathologisierung durch die Revision des DSM fanden sich jedoch keine Erwähnungen mehr von Widerstand gegen die Pathologisierung „untergeordneter Männlichkeit“, auch wenn diese freilich grundsätzlich noch nicht aus der Welt war.57 Tab. 9 Dokumentation von untergeordneter Männlichkeit als Ursache für mangelnde Therapiebereitschaft Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Patienten, bei denen Ärzte wiederholt mangelnde Behandlungsbereitschaft dokumentierten, davon:

184

Nicht cis-heterosexuelle Patienten

42

Nicht cis-heterosexuelle Patienten, bei denen Ärzte wiederholt Widerstand gegen Pathologisierung und Therapeutisierung ihrer Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung dokumentierten

10

55 PUH 73/410. 56 PUH 53/66; UAG 52/908. 57 Die Patienten, deren Homosexualität nach dem kulturellen Wandel überhaupt noch ausführlicher beschrieben wurde, berichteten offen über ihre Orientierung, ohne dass Pathologisierungs- bzw. Konversionsversuche explizit Erwähnung fanden. PUH 83/70; PUH 83/12.

132

3. Compliance

3.5 War geringe Compliance männlich? Doch auch weitere Punkte sprachen gegen eine Überbewertung der Rolle von hegemonialer Männlichkeit, wenn Patienten sich gegen ihre Behandlung wehrten. Im folgenden Abschnitt sollen einige dieser Anlässe Erwähnung finden, ohne das Ziel, hierbei ein vollständiges Bild zu vermitteln. Die schiere Angst war beispielsweise ein häufig genannter Grund; viele Patienten weigerten sich deshalb, überhaupt psychiatrisch behandelt zu werden. Solche Ängste waren für den gesamten Untersuchungszeitraum belegbar. Angesichts von NS-Krankenmorden und Hungersterben in den Anstalten waren sie noch zu Beginn der 1950er Jahre durchaus nicht völlig unbegründet. Ein Patient aus Gießen58 sagte, als er in eine Anstalt verlegt werden sollte, „Da komme ich nicht mehr lebend raus.“ Dieses düstere Bild von der Psychiatrie war kein Einzelfall: „Er sollte ursprünglich in der geschlossenen Abteilung aufgenommen werden, habe jedoch einen schweren Schrecken bekommen, als er die Station sah. […] Zu Hause habe er in den letzten Tagen fast nicht mehr schlafen können, es sei ihm dauernd in den Kopf gegangen, daß er in eine ‚Verrücktenanstalt‘ komme.“59

Patienten wie diese mochten von den Vorgängen der unmittelbaren Vergangenheit noch Kenntnisse haben. Wie oben bereits beschrieben, identifizierte ein Patient60 sogar unter den Heidelberger Psychiatern Mitwirkende an den NS-Krankenmorden, die zu diesem Zeitpunkt bereits wieder unbehelligt dort arbeiteten. Die Täter offen zu benennen, hielt man in der Akte für eine „Unverschämtheit“ des Patienten und dokumentierte den Vorfall als Symptom seiner Abschlussdiagnose „Psychopathie“. Die Patienten in späteren Jahrzehnten des Untersuchungszeitraumes konnten wissen, dass die Zustände in den Psychiatrien sich seitdem geändert hatten. Trotzdem fürchteten sich auch diese häufig vor Stigmatisierung und Kontrollverlust, den ein Psychiatrieaufenthalt unweigerlich mit sich brachte.61 Viele Patienten wehrten sich bereits während des Aufenthaltes heftig: „Wie man weiter von dem Pat. erfährt, hat er sich schon mit einem Rechtsanwalt in Verbindung gesetzt und will sich bei der zuständigen Stelle beschweren, daß eine Behandlung in unserer Klinik erfolgte. Er ist der Ansicht, daß das Geld, das man für ihn ausgeben würde besser einem ‚armen Schwein‘ zu Gute kommen müsse.“62

Bisweilen erreichten die Kliniken noch Jahre nach dem Aufenthalt Briefe, in denen Patienten zum Ausdruck brachten, dass ihnen ein Unrecht geschehen sei: So schrieb beispielsweise ein Patient an die Gießener Klinik einen Brief, mit dem er noch einmal auf die seiner Ansicht nach ungerechtfertigte Behand-

58 59 60 61

UAG 52/1640. UAG 58/39. PUH 53/171. PUG 64/584; PUG 52/241; PUH 73/428; PUH 83/156; PUH 83/278; PUH 93/331; PUH 93/438; PUH 63/362; PUH 63/368; PUH 73/337; PUH 83/349. 62 UAG 63/278.

3.5 War geringe Compliance männlich?

133

lung hinwies: „Der Vorsteher der DAK hat sich bei mir auf meine Beschwerde hin über die Einweisung sehr höflich entschuldigt.“ 63 Psychopharmaka und ihre Nebenwirkungen waren ein weiterer häufig dokumentierter Anlass für Behandlungsverweigerung.64 Ein Gießener Patient schrieb an seinen Arzt „Entsprechend unserer Verabredung möchte ich Ihnen mitteilen, daß mir das Einnehmen der Neuro-Philin65 Pillen gar nicht gut bekommen ist. Erstens hat der Spuk nicht nachgelassen und zweitens bekam ich starke Stuhlverstopfung, Appetitlosigkeit und dergl. So sehr, daß ich die teuren Pillen seit gestern abend nicht mehr genommen habe.“ Was für Psychopharmaka galt, betraf auch die noch bis in die 1960er Jahre verbreitete Elektroschocktherapie.66 Ein Gießener Patient berichtete über seine Zeit in der Anstalt in Herborn: „Die Schockbehandlung habe ihn körperlich und seelisch sehr mitgenommen.“ 67 Patienten wie dieser klagten auch über die generellen Bedingungen des Aufenthaltes, über Kommunikationsprobleme und den Tagesablauf in der Klinik: „Er bemängelt einige Dinge, hat sich anscheinend auch mit einem Arzt nicht verstanden, behauptet in der ersten Hälfte der Herborner Krankengeschichte stünden nur unwahre Dinge, man habe ihn immer nicht zu Wort kommen lassen. […]. Von Stimmenhören und Wahnideen sei ihm nichts bekannt, das sei alles ‚Quatsch‘. Erst nach seiner Verlegung auf eine andere Abteilung sei es sehr schnell besser gewesen mit ihm. Er habe Verständnis gefunden, man habe ihm gleich Ausgang gewährt. In der dortigen Schlosserei habe er einen ordentlichen Arbeitsplatz bekommen.“

Schließlich waren viele Patienten offenbar verletzt über die Art und Weise, wie Ärzte den Patienten kommunizierten, dass ihre Beschwerden psychogener Natur waren.68 „Sehr geehrter Herr Prof. / Leider muss ich sie noch einmal mit Schreiben belästigen. / Habe 6 Wochen in der Nervenklinik gelegen, bin aber schlechter hinaus, als ich gekommen bin. Nehme an, daß ich durch die Liebe meiner Frau zu Hause wieder genesen werde, hoffentlich. Hatte mich in der Klinik über nichts zu ärgern. Die Fürsorge der Schwestern war großzügig. Auch Herrn X. ist für seinen Beruf gut geeignet, nur dass er mir einmal gesagt hatte, ich wäre ein Simulant. Ich hatte es halt tragisch aufgenommen. Am meisten hatte mich getroffen, wie Dr. Y mir ins Gesicht sagte, ich würde mich verstellen. Daraufhin hatte ich mich bei Ihnen beschwert. Am Montag bei der Visite sagte ich dem Assistenzarzt wie er nach meinen Beschwerden frug: Ich hätte ein Zittern in den Händen und wäre so taumelig beim laufen. Daraufhin musste ich wieder hören, daß ich auch das nur vortäuschen könnte. Dies traf mich wie ein Keulenschlag. Wo soll man da Vertrauen finden auf dieser schlechten Welt. Anschließend habe ich gleich meine Frau angerufen und sie hat mich unter diesen Umständen sofort nach Hause geholt, obwohl ich immer noch taumelig fühlte […] Gegen Sie und den Oberarzt habe ich nichts, mit lieben Worten kann man bei diesen Krankheiten mehr erreichen.“ 63 Ebd. 64 UAG 51/2030; UAG 53/313; UAG 64/501; UAG 60/1158; UAG 58/1180; UAG 74/354; UAG 52/1887; PUH 73/404. 65 Neuro-philin: Das Medikament konnte nicht identifiziert werden. 66 UAG 55/1478. 67 UAG 50/1374. 68 UAG 53/818; UAG 54/1691; UAG 68/853; PUH 53/56.

134

3. Compliance

Schließlich kollidierten häufig religiöse Überzeugungen mit einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, dies wird im Kapitel über die Bewältigungsstrategien im Abschnitt 2.3.3 noch genauer beschrieben werden. In all diesen Fällen existierten andere Gründe als der Faktor Männlichkeit oder gar hegemoniale Männlichkeit. Dies bedeutet nicht, dass die Geschlechtsidentität marginal für die Frage nach der Compliance der Patienten gewesen war; in vielen Fällen spielte sie ganz offensichtlich eine Rolle. In etwa ebenso vielen jedoch nicht. Es bedeutet, dass es eine Vielzahl anderer Motive gab, aus denen heraus Männer ihre Behandlung teilweise oder vollständig verweigern konnten. Tab. 10 Dokumentation von mangelnder Therapiebereitschaft ohne Bezug auf Männlichkeit Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Gesamtzahl Patienten, bei denen Ärzte wiederholt Widerstand gegen die Behandlung dokumentierten, davon:

184

Patienten, bei denen Ärzte Motive für Widerstand gegen die Behandlung dokumentierten, die in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Praktizierung von Männlichkeit standen

94

Dabei dokumentiertes Motiv Angst

62

4. Bewältigung 4.1 Aneignung von Gesundheitswissen Gesundheitswissen, das sich die Männer aneigneten, reichte von Empfehlungen zur allgemeinen Lebensführung wie Disziplin im Alltag, Ernährung und Bewegung über Kenntnisse von Kompetenzen und Renommee bestimmter Ärzte und Kliniken und spezifischen Behandlungsmethoden bis hin zu Risiken und Nebenwirkungen von Psychopharmaka. Eine gehäufte Aneignung bestimmter Wissensbereiche fand sich nicht, mit folgender Ausnahme: Zahlenmäßig mit Abstand der am häufigsten vorkommende Bereich entfiel auf Wörter, Begriffe, Konzepte und Theorien aus den psychodynamischen Disziplinen, allen voran aus der Individualpsychologie Alfred Adlers und aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds.1 Dass Patienten sich Gesundheitswissen angeeignet hatten, wurde aus verschiedenen Gründen vermerkt. Die Dokumentation therapierelevanter individueller Gesundheitsressourcen der Patienten gehörte nicht dazu. Vielmehr verdankt sich die Überlieferung einer Vielzahl von Informationen über diese Form der Krankheitsbewältigung paradoxerweise gerade der pathozentrischen Ausrichtung der Psychiatrie und ihrer Dokumentation. Beschreibungen des Gesundheitsverhaltens konnten etwa eine Diagnose begründen, am offensichtlichsten war dieser Zusammenhang natürlich im Falle der „Hypochondrien“ und anderer psychogener Beschwerden, wie der „Asthenischen Psychopathie“ mit ihrer charakteristischen „ängstlichen Selbstbeobachtung“, die sich auch auf den Gesundheitszustand erstrecken konnte. Bei bestimmten Patienten, die sich Gesundheitswissen angeeignet hatten, wurde dies in der Krankengeschichte als ein Beleg für solche „Persönlichkeitsabnormitäten“ dokumentiert, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass bei solchen Patienten die Aneignung von Gesundheitswissen stets überliefert worden wäre. Umgekehrt lässt sich auch keinesfalls sagen, dass eine solche Erwähnung auf diese Diagnosen beschränkt gewesen wäre, im Gegenteil. Patienten aller Diagnosen besaßen Gesundheitswissen, das die Ärzte in ihren Akten dokumentierten. Dies zeigten auch die überlieferten Selbstzeugnisse. Patienten ließen hierin den Stand ihres Gesundheitswissens erkennen, ohne dass dieses Wissen irgendeinen Bezug zur Diagnose ihrer Ärzte hätte. Warum Psychiater es wiederum für relevant hielten, dieses zu dokumentieren, wo es doch offensichtlich nicht der Untermauerung einer Diagnose diente, ist nicht immer rekonstruierbar. Bei vielen Patienten jedoch, auch bei den Asthenikern und Hypochondern, tauchte Gesundheitswissen als erkennbar lästiges Behandlungshindernis auf – etwa, wenn Psychiater einen „Eigenwillen“ oder eine „Anspruchshaltung“ des Patienten feststellten, die der vorgesehenen Behandlung im Weg stehen konnte. 1

Zur Verbreitung psychologischen Wissens seit ca. 1970 siehe auch: Tändler (2016), sowie Eitler (2015), S. 49–84.

136

4. Bewältigung

Gesundheitswissen wurde also keinesfalls immer gerne gesehen. Im Gegenteil: Wurde es dokumentiert, hatte es damit häufig ein Problem gegeben. So lässt sich erklären, dass ein Heidelberger Psychiater es nicht etwa als die Handlung eines mündigen Patienten, sondern als Zeichen der Krankhaftigkeit dokumentierte, wenn ein Patient, „sich alle Kliniken, in die er ginge, vorher genau ansehe“.2 Ein Gießener Arzt notierte 1963 über seinen Patienten „besitzt sogar ein eigenes Blutdruckmessgerät“, in seinen Augen eine Skurrilität, die als anschaulicher Beleg für dessen „hypochondrische Fixierung“ diente.3 Auch bei anderen Patienten fanden sich immer wieder Klagen über Patienten, die sich medizinisches oder psychologisches Wissen aneigneten und dabei eigene Vorstellungen entwickelten, die ihrer vorgesehenen Behandlung im Wege standen. So klagte ein Gießener Arzt 1951 über seinen Patienten, der einen Handel mit Kleintieren betrieb, dieser fühle sich in der Psychiatrie fehl am Platz und habe ständig nach somatischen Behandlungsformen verlangt, wobei er sich, wie es der Arzt ausdrückte, auf seine „Pseudomedizinische[n] Kenntnisse als Zoohändler“ berief.4 In dessen überweisenden Arztbrief stand: „Die vor mir behandelnden Ärzte, die mir in größter Freude zu dem Pat. gratulierten, sagten mir, daß es in der weiteren Umgebung [des Heimatortes] wohl kaum eine Klinik gäbe, in der der Pat. noch nicht gewesen sei. Verzeihen Sie den sehr subjektiven Ton des Briefes, er entspricht meiner Stimmung in Hinsicht auf diesen Mann.“

Psychische Störungen verlaufen häufig über einen längeren Zeitraum. Daher verwundert es nicht, dass sich manche Patienten in der langen Zeit ihrer Behandlung zwangsweise einiges an Gesundheitswissen angeeignet hatten. Einige taten dies nach Ansicht ihrer Ärzte zu gründlich. Ein Mann, der in Gießen Patient war,5 hatte umfangreiche und detaillierte Notizen über seine vorherigen Therapieversuche angefertigt, die er seinem Psychiater aushändigte und die sich in seiner Akte befanden. Unter anderem hatte er eine Liste angefertigt, die alle Psychopharmaka enthielt, die er schon einmal genommen hatte, samt einem kurzen Vermerk über deren Wirkung auf ihn, sowie ggf. über aufgetretene Komplikationen und Nebenwirkungen. Diese Liste war so umfangreich, dass der Arzt zumindest ohne erkennbare Übertreibung notierte, der Patient habe schon alle erhältlichen Psychopharmaka ausprobiert und noch weitere, da er als Testperson bei einer Medikamentenstudie teilgenommen hatte. Das vorläufige Fazit des Mannes über die langwierigen medikamentösen Behandlungsversuche lautete: „Auf Evipan6 spreche ich jedenfalls an, […] Nach drei Wochen Insidon-Spritzen7 kam ich jedenfalls in einen erträglichen Zu2 3 4 5 6 7

PUH 63/430. UAG 63/278 Blutdruckmessgeräte für den privaten Gebrauch waren zu diesem Zeitpunkt in der Tat noch selten, der Eintrag gibt dennoch Aufschluss über damalige Vorstellungen von Patientenmündigkeit. UAG 55/1518. UAG 69/289. Evitan: Barbiturathaltiges Schlafmittel. Insidon: Frühes Antidepressivum.

4.1 Aneignung von Gesundheitswissen

137

stand. Später ebenfalls nach einer Reihe E-Schocks mit anschließenden Phenergan-Infusionen.“ 8 Durch Selbstbeobachtung hatte sich der Patient nicht nur die Namen von Medikamenten und Behandlungsverfahren, sondern auch ein umfangreiches Vokabular aus psychopathologischen Begriffen angeeignet. In einem weiteren Selbstzeugnis, einem Schreiben an den behandelnden Arzt, hatte er einen Selbstbefund über seine gegenwärtigen Symptome angefertigt, die der Psychiater noch vor der Anamnese lesen solle: „Dann brauchen wir uns nicht lange mit der Beschreibung meines Zustandes aufzuhalten und können gleich mit der Therapie beginnen. Von Gruppentherapie allein verspreche ich mir nichts. Eine Analyse könnte vielleicht weiterhelfen. […] Symptome / permanenter extremer Angstzustand […] extreme Unruhe […] Zwangsgedanken […] Lösung durch Selbstmord, aber Wissen, zu feige zu sein, um es zu tun. Schlaf 1–3 Stunden in der Regel […] Schwere Kontaktarmut […] Konzentrationsschwäche, erhebliche Verluste an Gedächtnis […], geringe Merkfähigkeit, Verständnisschwierigkeiten. Völlige Initiativlosigkeit, Verlust des Selbstbewusstseins, kein eigener Wille, […] Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung. […] Puls 90–110, […] häufig Angstschweiß, oft erhöhte Temperatur […] unregelmäßiger Stuhl, Essen befriedigend, Erschöpfung […] Beeinträchtigung der Sehnerven, Unterdruck.“

Patienten wie dieser benutzten ihren Ärzten gegenüber mehr oder weniger die kanonisierte Sprache der etablierten wissenschaftlichen Medizin. Nicht immer war dieses Wissen lediglich das Resultat vergangener Behandlungsversuche. Häufig war auch belegt, dass sich die Männer eigenständig Literatur über psychische Krankheiten besorgten. Häufig genannt wurden Ratgeber oder Gesundheitslexika für Laien. Die Erwähnung der Lektüre dieser Lexika hatte bisweilen offen den Zweck, die Anstrengungen der Patienten abzuwerten. Ein Gießener Patient wurde in seiner Akte wie folgt zitiert: „Er sei medizinisch gut gebildet, er habe das Gesundheits-Lexikon durchgelesen […] blüht auf, wenn er in narzisstischer Weise seine medizinischen Kenntnisse und besonderen Fähigkeiten darstellt.“9

Bei anderen Patienten brachten Ärzte die Sorge zum Ausdruck, dass ihr Gesundheitswissen ihnen unnötige Sorgen oder gar Schlimmeres bereiten könne. Ein Patient10 las sich auch in entsprechende Literatur ein, stand dann jedoch, wie es in der Akte hieß, infolgedessen unter „ständiger ängstlicher Selbstbeobachtung wegen bloß halb verstandener Dinge.“ Unter anderen Vorzeichen las man Ähnliches über den schwulen Gymnasiasten Hans A.11 Dieser informierte sich in einem solchen Gesundheitslexikon über Homosexualität, was ihn in seinen Ängsten bestärkte, an einer Krankheit zu leiden. Er fragte daher seinen behandelnden Arzt, der selbst überhaupt nicht dieser Ansicht war, „ob es denn stimme, dass man bei Homosexuellen mit Hormonspritzen gute Besserungen erreichen könne?“ 8 Phenergan: Neuroleptikum. 9 UAG 72/554, siehe auch: PUH 53/165, PUH 53/171, PUH 73/189, PUH 83/168, UAG 62/703, Das Medium Fernsehen nutzte PUH 83/366. 10 PUH 73/210. 11 PUH 63/463.

138

4. Bewältigung

Die Lebensläufe, die Patienten bisweilen zu Beginn ihres Aufenthaltes verfassen sollten, boten einen individuellen Einblick, inwiefern sich Patienten medizinisches und psychologisches Wissen angeeignet hatten. So auch bei Herbert S.:12 „Juni 1956 drei Tage Krankenhausaufenthalt wegen ‚nervöser Erschöpfung‘ […] 1956– 1967 ständige ambulante Behandlung wegen ‚vegetativer Dystonie‘ (Kreislauf und Magen, Herzjagen,- Stolpern Beklemmungsgefühle, Übelkeit). Verlauf der Depression Zuerst für Reaktion auf Tetanus-Schutzimpfung gehalten […] vegetative Beschwerden nahmen immer weiter zu. […] Überweisung an die Univ. Nervenklinik in [Name der Stadt] (Prof Dr. [B.]) am 2.3.1967. Neurologische Untersuchung, EEG, Blutsenkung und zweimal Radio-Jodtest, Röntgen Schädel und Lunge o. B. Schnelle Besserung durch Insidon. […] Medikamentöse Behandlung über 16 weitere Wochen ohne jeden Erfolg (Valium, Laroxyl,13 Phenergan, Sandolept-Versuchspräparat,14 Distraneurin)15 […] 6 E-Schocks (ohne Wirkung) und tägliche Infusionen mit hohen Dosierungen an Phenergan. […] Glaube an Wunderpille immer noch nicht ganz verloren. Durch Beschäftigungstherapie (Malen, Keramik, Batik) keine Ablenkung […].“

Was die Aneignung medizinischen Wissens auf dem Gebiet des eher Somatischen und Pharmakologischen anbelangt, war über den Verlauf des Untersuchungszeitraumes keine wesentliche Änderung zu erkennen. So lässt sich nicht feststellen, dass immer mehr Patienten in verstärkter Weise unter psychiatrisches Wissen subjektiviert worden wären. Neben der oben geschilderten, eher somatisch orientierten Wissensaneignung war jedoch schon eine frühe weitere Form des medizinischen Wissens aufgetaucht, die sich in der Tat im Laufe der Jahre stetig verstärkte: Die Suche nach Ereignissen in der Vergangenheit, die die derzeitigen seelischen Beschwerden verursacht hatten und die gelindert oder gar geheilt werden könnten durch die Aufarbeitung der eigenen Biographie. Schon 1953 nahm der Waldarbeiter Ernst T.16 die ärztlicherseits verordnete Aufgabe, seinen Lebenslauf zu schreiben, zum Anlass, über seine Biographie als Ursache seiner Leiden zu reflektieren. Dabei bediente er sich der Konzepte aus Alfred Adlers Individualpsychologie. Gewalt und Freiheitsentzug, die er als Kind durch seinen Stiefvater erfahren hatte, hätten, so der Patient, bei ihm zu einer Labilität geführt, durch die er dann als Erwachsener Minderwertigkeitskomplexe bekommen hätte. „Durch meine uneheliche Geburt u. die [unleserlich] zwischen Mutter u. Stiefvater wurde ich schon früh durch ungerechte Schläge u. Schikanen beunruhigt. Dies steigerte sich nach der Desertion des Stiefvaters von der ehemaligen Wehrmacht ins Unerträgliche. Er hielt sich 2 Jahre zu Hause verborgen. Diesem Einfluss des Elternhauses war ich bis Anfang 1949 ausgesetzt. Dadurch aufgetretene Schäden: Ungünstige Einwirkung auf die Nerven, mangelhafte Ernährung, Hemmungen u. Kontaktstörungen, da ich meist im Haus gehalten wurde. 2. Im Herbst 1949 besuchte ich ein Spezialsemester der Fachschule. Trotz der schon vorhandenen leichten Labilität strengte ich mich übermäßig an. 12 13 14 15 16

UAG 69/289. Laroxyl: Frühes Antidepressivum. Sandolept-Versuchspräparat: Substanz konnte nicht identifiziert werden. Distraneurin: Beruhigungsmittel. PUH 53/240.

4.1 Aneignung von Gesundheitswissen

139

[…] Der Zusammenbruch Mitte 1950 war von folgenden Erscheinungen gekennzeichnet: Fast völliger Verlust des Selbstbewußtseins, Versagen des Gedächtnisses, fast völliger Verlust der Konzentrationsfähigkeit, Beginn d. Herzbeschwerden. Da ich nicht die Tragweite dieses traumhaften [sic] Zustandes erkennen konnte, schleppte ich mich weiter durch den Alltag, aß nur das Notwendigste und verrichtete nur die unumgänglich notwendigen Dinge. Zwangsläufig mußten in diesem Zustand der stark verringerten Leistungsfähigkeit laufend Kollisionen auftreten. Zu jeder Stunde war die Differenz zwischen Leistung und Anforderung spürbar. Dadurch entstanden die unterschiedlichsten Komplexe. Allgemeine Minderwertigkeitskomplexe wurden vermehrt durch Zwangsvorstellungen, die in ihrem Inhalt abwechselten. Ihren Stoff entnahmen sie vielfach dem philosophischen [unleserlich], das die meisten jungen Menschen als Aufgabe vor sich sehen. Nur durch die geschilderte körperliche Verfassung konnten sie ihre zermürbende Wirksamkeit erlangen. Zu weiteren Zwangsvorstellungen gaben die Menschen Anlaß. Sie wurden immer entfremdeter, schemenhafter, seelenlos, schließlich als Roboter gesehen. Es bestand auch oft im Zwang zu Handlungen, wie Schreien im Theatersaal, oder Hineinhalten von Kindern in laufende Maschinen. Sie wurden aber nie ausgeführt. Der augenblickliche Zustand ist gekennzeichnet durch einen Wechsel der Stimmungen. Bei relativ gutem Allgemeinbefinden werden plötzlich die körperlichen Beschwerden empfunden. Sie veranlassen einen Stimmungsumschlag, nach dem dann die Komplexe wirksam werden. Ein wesentlicher Komplex entsteht aus dem negativ empfundenen Bewußtsein, das ich, körperlich nicht genügend entwickelt bin (leicht, schmal). Sehr störend machen sich die Hemmung des Antriebs, die leichte Erregbarkeit und Überempfindlichkeit bei verringerter Reaktionsfähigkeit (z. B. Schlagfertigkeit) bemerkbar. Der Ärger über Versagen in dieser Richtung löst immer wieder das beklemmende Gefühl in der Herzgegend aus.“

Alfred Adlers Begriff des „Minderwertigkeitskomplexes“ blieb bei den Männern nicht bloß ein plausibles Erklärungsmuster für ihre erlittenen seelischen Leiden; darüber hinaus war auch ein Zuwachs an „Adler-Rezipienten“ zu verzeichnen. Ein Mann17 hatte nach einer Prostata-Operation einen „völligen Libido- und Potenzverlust“ erlitten und war daraufhin auf seinem Arbeitsplatz mit seinem Vorgesetzten und verschiedenen Kollegen aneinandergeraten. In der Klinik erklärte er sich laut Akte diesen Vorfall damit, dass er sich immer zu klein gefühlt habe und daher auch schon seit jeher Probleme mit Autoritäten gehabt habe. Auch der Schüler Thomas E.,18 der trotz des Begehrens nach seiner Psychiaterin die nagende Befürchtung hatte, er könne schwul sein, untermauerte diese Angst mit seinen Adler-Kenntnissen: „Vielleicht bin ich deshalb homosexuell, habe das in einem Buch von Adler „Sinn des Lebens“ gelesen.“ Auch das Vokabular der Psychoanalyse hatten sich einige Patienten schon lange vor der Popularisierung Freuds Ende der 1960er Jahre angeeignet.19 Ein spanischer Gastarbeiter20 habe 1963, so der herangezogene Dolmetscher, lauthals verlangt: „Man müsse mit ihm eine Psychoanalyse machen. Der untersuchende Arzt sei sehr jung, habe keine Erfahrung, keine Kultur. Der Pat. könne mit ihm nicht über sexuelle Sachen sprechen. Habe er das Buch von Dr. Arlei gelesen?“ Gemeint war ein Buch psychoanalytischer Provenienz, dessen Titel der Dolmetscher mit

17 18 19 20

PUH 73/193. PUH 73/414. UAG 61/1081; PUH 63/256; PUH 63/249. PUH 63/240.

140

4. Bewältigung

„Das gesunde sexuelle Leben“ übersetzte.21 Spätestens mit dem Aufkommen der Studentenbewegung wurde Freud zum festen Bestandteil des Gesundheitsvokabulars vieler Heidelberger und Gießener Patienten. Auch Thomas E. mutmaßte, neben dem Minderwertigkeitskomplex, der seine homosexuellen Tendenzen fördere, „habe [er auch] einen Ödipuskomplex“.22 Der Patient Aloys R.23 listete in seinen Lebenslauf nicht, wie die meisten anderen Patienten, allgemeine Lebensereignisse (wie Schulabschlüsse, berufliche Stationen) auf, sondern potentiell traumatische Begebenheiten während seiner psychosexuellen Entwicklung; wobei seine Erinnerungen an seine ersten 5 Lebensjahre einen breiten Raum einnahmen. Wegen Horst-Eberhard Richter war er, wie er sagte, überhaupt erst nach Gießen gekommen. Anstatt bei dem berühmten Psychoanalytiker und Autor des Werkes „Eltern, Kind und Neurose. Die Rolle des Kindes in der Familie“ in dessen psychosomatischer Klinik in Behandlung zu kommen, musste er jedoch mit den Psychiatern einige hundert Meter entfernt in der Psychiatrischen Universitätsklinik vorliebnehmen. Tab. 11 Dokumentation von Gesundheitswissen bei Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt Patienten, bei denen Ärzte wiederholt eigenständig erworbenes medizinisches Wissen dokumentierten, davon: Psychodynamisches Wissen

681 31 14

4.2 „Kein Kochsalz aber viel Obst“ – Alternativ/Komplementärmedizin und Diätetik In einer Vielzahl der Akten wurde angemerkt, dass Patienten alternativ/komplementärmedizinisches Gesundheitswissen und Behandlungsverfahren anwendeten. Entsprechende Erwähnungen fanden sich häufig in der Anamnese bei der Erhebung der Behandlungsvorgeschichte. Ähnlich wie in den Fällen, in denen Ärzte bei Patienten selbst erworbenes Gesundheitswissen konstatierten, erhielten Patienten, die berichtet hatten, dass sie alternativmedizinische Behandlungen in Anspruch genommen hatten, überwiegend psychogene Diagnosen wie „Psychopathie“, „neurotische Fehlhaltung“ oder „Hypochondrische Ent21

Weder Buch noch Autor konnten identifiziert werden. Möglicherweise handelt es sich dabei um graues unveröffentlichtes Material, da die Psychoanalyse nach dem Spanischen Bürgerkrieg verboten worden war. Der Patient selbst gab sich während seines Aufenthaltes in Heidelberg als überzeugter Antifrankist. Selbst für den Fall, dass der Patient sich diese Publikation selbst ausgedacht hätte, würde dies dennoch bedeuten, dass er sich zumindest rudimentär mit dem Konzept der Psychoanalyse auseinandergesetzt hatte und sie als für ihn geeignetes Behandlungskonzept ansah. 22 PUH 73/414. Siehe auch: PUH 73/71a; PUH 83/1; UAG 73/660; UAG 71/359; PUH 93/92; PUH 83/32; PUH 73/356; UAG 70/174. 23 UAG 73/392.

4.2 „Kein Kochsalz aber viel Obst“

141

wicklung“. Den übrigen wurden meist schizophrene Psychosen diagnostiziert. Die Erwähnung dieser Verfahren in der Anamnese diente den Ärzten nicht im eigentlichen Sinne der Dokumentation vorangegangener Behandlungen, sondern meist eher als diagnostisches Indiz, etwa um sogenannte „Hypochonder“ als solche erkennbar zu machen. Deutlich wurde dies an der expliziten Kennzeichnung alternativ/komplementärmedizinischer Verfahren als pseudomedizinisch, in Worten wie „psychoneurotische Spritzen und andere pflanzliche Mittel“ 24 oder „Reformdiäten und übertriebene Waldläufe.“ 25 Nicht immer wurden die konkreten Verfahren namentlich genannt. Dies gilt sowohl für den Fall, dass Patienten Eigenheilverfahren anwendeten, als auch dann, wenn sie Hilfe bei alternativ/komplementärmedizinisch arbeitenden Ärzten, anerkannten Heilpraktikern oder „inoffiziellen“ Heilern suchten. Am häufigsten wurde die Homoöpathie explizit erwähnt,26 die mit ihr assoziierte Disziplin der anthroposophischen Medizin am dritthäufigsten.27 Den zweiten Platz der namentlich erwähnten Heilverfahren belegt die Hypnose bzw. Trancebehandlung.28 Die Chiropraktik fand zweimal,29 die Spagyrik einmal Erwähnung.30 In der Mehrheit der Fälle wurde jedoch lediglich allgemein die Inanspruchnahme einer alternativ/komplementärmedizinischen Therapie konstatiert, was sich in Einträgen wie „war schon bei diversen Heilpraktikern“ 31 oder „bei Wunderheiler gewesen“ 32 niederschlug. Wenn die Patienten keine Ärzte oder Heiler in Anspruch nahmen, sondern sich selbst behandelten, ging es dabei meist um Entspannungsverfahren oder, im weitesten Sinne des Begriffes, diätetische Maßnahmen. Auch Selbstmedikation, etwa die autonome Anwendung homöopathischer Mittel, fällt darunter, wird jedoch in einem späteren Abschnitt gesondert behandelt. Auch bei all diesen selbstständig angewandten Verfahren waren die konkreten Maß24 PUH 93/146. 25 PUH 83/351. Bezeichnenderweise wurden die komplementärmedizinischen Methoden, die die Kliniken selbst zumindest zeitweise anboten, nicht Gegenstand dieser ärztlichen Kritik. Im Gegenteil, die Weigerung etwa an der klinikeigenen (anthroposophischen) Maltherapie teilzunehmen, konnte als mangelnde Therapiebereitschaft ausgelegt werden, wie etwa im Falle von PUH 73/68. Mangels anderer Möglichkeiten behandelte die psychiatrische Universitätsklinik Gießen ihre Patienten unmittelbar nach Kriegsende in zumindest einem Fall mit einem Aderlass. UAG 49/686. 26 UAG 54/1?09, vollständige Kennnummer unleserlich. Aufnahme des Patienten am 29.11.1954; UAG 52/290; UAG 66/35; UAG 72/50; PUH 83/32; PUH 83/367; PUH 83/322; PUH 93/135. 27 PUH 63/411; UAG 74/354; UAG 73/660. Möglicherweise ist der Grund für die häufige Erwähnung dieser beiden Schulen die Tatsache, dass verhältnismäßig viele zugelassene Ärzte homöopathisch bzw. anthroposophisch behandelten, sodass sich die Psychiater zumindest annähernd einen Begriff über die Behandlungsweisen ihrer Standesgenossen machen konnten. 28 PUH 73/189; UAG 66/649; PUH 73/313; UAG 54/994; UAG 61/1081; PUH 83/180. 29 UAG 64/403; UAG 70/17. 30 PUH 83/322. Spagyrik: Heilmethode, die sich auf die Alchemie beruft. 31 PUH 63/430. 32 PUG 78/333. Siehe auch: PUH 73/313; UAG 70/17.

142

4. Bewältigung

nahmen nicht immer identifizierbar. Yoga wurde mit einigem Abstand am häufigsten dokumentiert.33 Einige Erwähnungen fanden sich auch unter dem etwas schwammigen Oberbegriff „Reformdiät“.34 Die große Mehrheit der Einträge bezog sich jedoch auf diverse Nahrungsmittel und Phytotherapeutika, die keiner übergreifenden Praktik zugeordnet werden konnten.35 Eine verhältnismäßig häufig dokumentierte diätetische Maßnahme bestand zudem darin, mehr bzw. weniger häufig sexuell aktiv zu sein, womit nicht nur Geschlechtsverkehr mit Partnerinnen und Partnern gemeint sein konnte, sondern auch Selbstbefriedigung.36 Ein Kriegsheimkehrer37 („1941 rechter Oberschenkel amputiert“), der seit seiner Verletzung als Schaffner arbeitete, kam 1952 nach Gießen. Seine Charakterisierung in der Akte (Diagnose Psychopathie) ähnelt den „Hypochondern“ des vorangegangenen Abschnittes und ihrer Beschäftigung mit (schulmedizinischem) Gesundheitswissen. „Pat. geht stets in gebückter Haltung auf Station umher und erzählt viel von seiner Krankheit, äußerte u. a. wenn man bei ihm nichts finden würde, dann wolle man nichts finden […] er gäbe demjenigen 500 Mk, der ihn in 4 Wochen gesund machen würde.“

Neben zahlreichen Besuchen bei „schulmedizinischen Ärzten“ hatte der Mann versucht, anderswo Hilfe zu bekommen. „War dann bei sämtlichen Ärzten und Heilpraktikern in [Stadt], […] insgesamt bei 40 Ärzten, Homöopathen, Heilpraktikern und Fachärzten usw. gewesen.“ An anderen Stellen diente die Erwähnung der homöopathischen Vorbehandlung offenbar dazu, das Befremden der Psychiater über die Praktiken ihrer Kollegen zum Ausdruck zu bringen, ohne einen weiteren Bezug zum Patienten selbst, außer wenn es den Weg nachzeichnete, der diesen schließlich in die Anstalt geführt hatte. „Ein Homöopath habe aufgrund zweier Urinproben (!) gesagt, es sei die höchste Zeit für ihn in eine Nervenheilanstalt zu gehen!“ 38 Ebenso beiläufig wie abwertend äußerte sich der aufnehmende Psychiater über die früheren Konsultationen eines Installateurs (Diagnose: „Endogene Depression“). „Durch eine Bekannte sei er wegen seiner Kopf und Nackenbeschwerden (42 in Russland 3× verwundet, am li. Knöchel, Durchschuss am Hals, wo noch ein Splitter steckt, drei Splitter im Rücken) zum Chiropraktiker gegangen. […] Dieser Chiropraktiker habe ihm beim Eintritt in die Praxisräume ins Gesicht zugesagt. ‚Sie haben Nierenschrumpfung‘ Schließlich sei er dann noch zu einem Homöopathen gegangen […] Über die medizinische Poliklinik, wohin er vom H.[omöopathen] geschickt worden sei, sei er dann hier in die Ambulanz gekommen.“

33 PUH 83/32; PUH 73/71a; PUH 63/456; PUH 83/180; UAG 62/1144. 34 PUH 73/71a; PUH 83/351; UAG 58/1180; UAG 60/1158. 35 UAG 70/590; PUH 83/51; UAG 60/1158; UAG 74/204; PUH 63/249; PUH 83/322; UAG 70/590. 36 PUH 83/48; PUH 83/326. Siehe auch Abschnitt 2.4.7. 37 UAG 52/290. 38 UAG 54/1?09, Kennnummer teilweise unleserlich. Aufnahme am 29.11.1954.

4.2 „Kein Kochsalz aber viel Obst“

143

Verschlug es einen Vertreter der Alternativ/Komplementärmedizin einmal selbst als Patienten in eine Klinik, konnte ein solches Befremden sich in der Pathologisierung der Männer äußern, deren Ausführung in der Akte dann jedoch die Information lieferte, dass diese selbst auch an die Wirksamkeit ihrer Therapien glaubten. Über einen homöopathischen Arzt39 (Diagnose: „Neurasthenisch-depressiver Versagenszustand“) notierten die Gießener Psychiater: „Bei Fachdiskussionen (Thema Schulmedizin und Homöopathie) diffuses, z. T. etwas mystisch anmutendes Denken.“ Die Dokumentation der Affinität mancher Patienten zu Alternativ/Komplementärmedizinischen Behandlungen hatte auch den Zweck, Behandlungshindernisse zu illustrieren, und zwar immer dann, wenn sie während des Aufenthaltes lästig wurde. Gießener Psychiater notierten etwa, dass ein junger Mann nachdrücklich verlangt habe, zu „seinem Chiropraktiker im Schwarzwald“ gehen zu dürfen, „er wisse selbst, was seiner Gesundheit zuträglich sei.“ 40 Der Wunsch nach einer alternativmedizinischen Behandlung wurde im Kontext einer generellen Ablehnungshaltung des Patienten gesehen. So hieß es über ihn in seiner Akte: „Der Pat. zeigte sich in der PT als höhnisch überlegen, […] spricht herabsetzend über den ärztlichen Beruf.“ So habe er unter anderem gerufen: „Diese Schweine von Ärzten mit ihren Medikamenten.“ In vielen Fällen erfuhr man wiederum nichts über die konkrete Art der alternativen Behandlung. Horst W. (geboren 1925) wurde 1973 als Patient wegen Zitteranfällen ungeklärter Herkunft in die Heidelberger Universitätsklinik gebracht. W. war 1943 „auf der SS-Schule in Krakau gewesen“, ein Umstand, den seine Psychiater in der Akte relativ ausführlich beschrieben. In den 1950er Jahren erhielt er eine leitende Position bei der neugegründeten Bundeswehr. Seine Psychiater in Heidelberg hielten Probleme an seinem Arbeitsplatz (unter Tage in einer Bunkeranlage, zudem schlechtes Verhältnis zu einem Vorgesetzten) für die Ursache seiner Anfälle und diagnostizierten ihn mit einer „Neurotischen Fehlhaltung“. Horst W. selbst hatte, zum Leidwesen seiner Ehefrau, die sich bei den Ärzten in der Fremdanamnese darüber beklagte, seit Jahren „allerlei Heilpraktiker aufgesucht […], es gäbe kaum ein Präparat, das er noch nicht genommen habe.“ So „gäben sie einen Großteil ihres Geldes für seine Medikamente aus […] vor allem seitdem er einem [bestimmten] Heilpraktiker in die Hände gefallen sei.“ Neben der Konsultation alternativer/komplementärer Therapeuten suchten die Männer vielfach Hilfe in diversen Eigenheilverfahren. Diätetische Maßnahmen fanden sich über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Viola Balz hat in ihrer Untersuchung über die Anfänge der Psychopharmaka in Deutschland den Fall eines Heidelberger Patienten mit Diagnose Schizophrenie geschildert, der zu den ersten Empfängern des Neuroleptikums Chlorpromazin (Handelsname „Megaphen“) in Deutschland zählte. Dieser Patient gelang zufällig auch in das Quellensample der vorliegenden Arbeit. Während seine Psychiater auf eine Wirkung des Präparats warteten, ließ der Mann sich 39 UAG 66/35. Siehe auch PUH 93/435. 40 UAG 70/17.

144

4. Bewältigung

einen naturheilkundlichen Aufsatz mit dem Titel „Nervöse sind heilbar“ zukommen. Der Artikel argumentierte, dass psychische Beschwerden durch gesunde Lebensführung und Ernährung erfolgreich behandelt werden könnten. Der hier schon in Ansätzen erkennbare Kontrast „natürliche Lebensweise versus schädliche Psychopharmaka“ fand sich immer wieder in Aussagen der Patienten, wie im abschließenden Abschnitt des Compliance-Kapitels bereits belegt wurde. Überliefert wurden diese als Nachweis für mangelnde Therapiebereitschaft der Patienten. „Die Tabletten machen mich ja ganz fertig“, sagte ein Gießener Patient,41 und erläuterte seine eigenen diätetischen Maßnahmen „er trinke keinen Alkohol und rauche nicht […], er esse kein Kochsalz, aber viel Obst.“ Auch ein anderer Gießener Patient42 wehrte sich in einem Beschwerdebrief gegen seine Pharmakotherapie, die an ihm im Rahmen einer Versuchsreihe getestet wurde, und verlangte stattdessen alternative, diätetische Mittel. Über den Mann hatte es im Vorfeld in der Anamnese geheißen: „Vor einem Jahr habe er sich die Haare lang wachsen lassen und streng vegetarisch gelebt. Auch keine Maggi-Würfel, keine Milch, keinen Honig, keine Eier zu sich genommen. Trug selbst keine Lederschuhe. [An seinem Arbeitsplatz] sei ihm schließlich nahegelegt worden, seine Haare schneiden zu lassen.“ In seinem Schreiben forderte er nun: „An den Herrn Stationsarzt [Name des Arztes], an die Leitung der Nervenklinik Gießen: Hiermit gebe ich meinen Willen betreffs der Behandlung […] bekannt. Ich habe während der 6 Wochen langen „La Roche“- Kur hier in der Klinik das Empfinden gehabt, daß meine leibseelischen Funktionen […] von mir unbekannten Personen und Kräften beeinflusst und geführt werden. […] Ich habe Angst und bin nicht willens, länger eine Behandlung in dieser Klinik mitzumachen. Ich verlange sofortige Überweisung […] an meinen Hausarzt […] Ich bin nicht willens für wissenschaftliche Versuche als Versuchsobjekt zu dienen.“

Aus anderen Gründen wurde der Wert dokumentiert, den Patienten der sexuellen Aktivität für ihre Gesundheit einräumten. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg wurde sowohl ein in den Augen der Ärzte übermäßig skrupulöses, ängstlich-distanziertes Verhältnis zum Sex, als auch ein „Zuviel“ an Unbefangenheit bzw. an Beschäftigung mit der eigenen Lust pathologisiert. Hin und wieder machten Patienten diesbezüglich Aussagen über sich selbst, indem sie sexuelle Aktivität als gesundheitsschädlich bzw. förderlich einstuften. Dabei konnten sie bei den Ärzten auf Zustimmung oder Ablehnung treffen. Gerade in den frühen Jahren des Untersuchungszeitraumes sorgten sich viele Patienten, wenn sie Selbstbefriedigung betrieben. So hielt der Waldarbeiter Ernst T. die Masturbation für einen Mitverursacher seiner Beschwerden. In seinem Lebenslauf schrieb er: „Deprimiert wurde ich zu der Zeit durch einige Rückfälle in die Onanie, die ich damals bekämpfte.“ 43 Auch einen Gießener Patienten44 trieb die Angst vor den vermeintlichen gesundheitsschädlichen Auswirkungen der autoerotischen Betätigung um: „Den Boden [für seine Beschwerden] gibt 41 42 43 44

UAG 60/1158. UAG 58/1180. PUH 53/240. UAG 54/994.

4.2 „Kein Kochsalz aber viel Obst“

145

auch eine heute noch eifrig betriebene Onanie ab, gegen die der Kranke wie gewöhnlich ankämpft, aber nicht davon loskommt.“ Der Mann selbst gab an, er habe sogar versucht, „durch das Lesen von Büchern z. B. ‚Mein Erfolgssystem‘ von Oscar Schellbach Gewalt über seinen Körper zu bekommen.“ Es sei bei dem Mann, so seine Ärzte, dringend die „Aufklärung über die körperliche Unschädlichkeit der Onanie“ geboten. Ein weiterer Patient45 hielt es angesichts des Ausbruches seiner depressiven Beschwerden für ratsamer, bis auf Weiteres keinen Geschlechtsverkehr mehr mit seiner Frau zu haben: „das ist vielleicht nicht so gut bei Nervenkrankheiten, das schwächt wohl so.“ Im Stellenwert der sexuellen Aktivität für die Diätetik zeigte sich eine der wenigen gravierenden Änderungen im Laufe des Untersuchungszeitraumes. Zwar fanden sich auch ab den 1970ern noch Männer, die Onanie tunlichst vermeiden wollten und denen die sogenannte sexuelle Befreiung eher lästig erschien. Insgesamt jedoch schien sexuelle Aktivität eine deutliche Aufwertung erfahren zu haben. Ärzte verzeichneten Selbstbefriedigung nicht mehr als pathologisch auffällig; auch von Patienten sind kaum noch entsprechende Selbsteinschätzungen überliefert. Im Gegenteil wurde nun der Wunsch nach mehr sexueller Aktivität medizinisch begründet.46 Neben der Aufwertung der sexuellen Aktivität für die Gesundheit war eine weitere inhaltliche Änderung das Aufkommen der westlichen Versionen fernöstlicher Heilpraktiken, namentlich des Yoga, buddhistischer Meditation, sowie der Akkupunktur.47 Dies bedeutete jedoch nicht, dass die etablierten Verfahren hierdurch verdrängt wurden. Homöopathie und Chiropraktik tauchten bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes weiterhin regelmäßig auf. Der ärztliche Blick gab, ob nun beabsichtigt oder nicht, vielfach Auskunft darüber, wie Patienten sich alternativ/komplementärmedizinischen Behandlungen unterwarfen, Eigenheilverfahren anwendeten oder versuchten, mit Hilfe von diätetischen Maßnahmen etwas an ihrem Zustand zu verändern. Qualitativ änderte sich hieran nur wenig. Ob die Inanspruchnahme bzw. Eigenanwendung von alternativen/komplementärmedizinischen Verfahren bei Psychiatriepatienten im Laufe der Zeit zahlenmäßig zunahm, etwa im Zuge verstärkter Individualisierungs- oder Subjektivierungsprozesse, war anhand des vorliegenden Materials nicht abschließend zu klären.48

45 46 47 48

UAG 62/1144. Siehe dazu Abschnitt 2.4.7. Siehe den folgenden Abschnitt. Tatsächlich fanden sich für die 1950er Jahre weniger Erwähnungen als später. Spätestens seit den frühen 1960er Jahren verdoppelten sich die Erwähnungen von Selbstheilungsverfahren in den psychiatrischen Universitätskliniken nahezu. Dieser Wandel war also einige Jahre früher, als die Individualisierungsprozesse im Zuge der verschiedenen „Gesundheitswellen“ gemeinhin datiert werden. Andererseits stieg auch der Umfang der Akten in exakt diesem Zeitraum beträchtlich an, was mehr Raum für die Dokumentation solcher Eigenheiten in der Anamnese ließ. Sicher ist, dass viele Männer auch lange vorher eine Vielzahl an alternativ/komplementärmedizinischen Angeboten in Anspruch nahmen und diverse Eigenheilverfahren anwendeten.

146

4. Bewältigung

Tab. 12 Dokumentation Selbstheilung und Alternativ/Komplementärmedizin Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt Anwendung von Alternativ/Komplementärmedizin und diätetischen Maßnahmen, davon:

681 49

Homöopathie

8

Diverse Phytotherapeutika und Nahrungsmittel

7

Hypnose/Trancebehandlung

6

Yoga

5

„Reformdiät“

4

Anthroposophische Medizin

3

Chiropraktik

2

Spagyrik

1

4.3 „Das Leben dürfe er sich nicht nehmen, das verbiete die Religion“ – Spiritualität Es überrascht nicht, dass religiös bzw. spirituell veranlagte Männer auch versuchten, ihre Leiden mithilfe ihres Glaubens zu bewältigen. Sie wurden aus ähnlichen Gründen in den Akten erwähnt, wie die Anwender von alternativ/ komplementärmedizinischen Verfahren; bisweilen handelte es sich sogar um dieselben Personen. Entweder wurden Glauben und Frömmigkeit, oder mystisches Denken und Wahrnehmen im Angesicht von Problemen als mögliche schizophrene bzw. manische Symptome aufgefasst.49 Was für die Ärzte lediglich Symptom war, muss jedoch aus demselben Grund wie bei den gestalterisch tätigen Psychotikern (siehe kommender Abschnitt) ebenso als eine Abwehr- und Bewältigungsstrategie gegenüber der vollständigen seelischen Desintegration der Patienten interpretiert werden.50 Wie in den vorangegangenen Kapiteln trat die Religion jedoch auch als Behandlungshindernis in Erscheinung. Das war insbesondere dann der Fall, wenn Patienten sogenannten „religiösen Sondergemeinschaften“51 oder „neuen religiösen Bewegungen“52 angehörten, deren Lebens- und Glaubensvorschriften sich aus Sicht der Ärzte oder der Patienten nicht mit einer stationären psychiatrischen Behandlung vereinbaren ließen. Einen Sonderfall bildet dabei die Evaluierung einer Suizidgefährdung, wo religiöse Überzeugungen bisweilen als offensichtlich günstiger 49 UAG 54/661; UAG 50/1391; PUH 63/306; PUH 73/71a; PUH 93/435; PUH 93/417; PUH 83/70; PUH 93/152. 50 Schmid-Kitsikis (2005), S. 374–377. 51 Christliche Abspaltungen, wie die Zeugen Jehovas oder die Neuapostoliker: PUH 73/418; PUH 93/152; PUH 93/146; PUH 93/152. 52 Nichtchristliche Bewegungen wie z. B. „New Age,“ Esoterik, Scientology oder westlicher Buddhismus, Hare-Krishna etc.: PUH 63/411; PUH 73/71a; PUH 93/183; PUH 73/404.

4.3 „Das Leben dürfe er sich nicht nehmen, das verbiete die Religion“

147

prognostischer Faktor notiert wurden.53 Schließlich existieren auch einige Beispiele von Patienten, die die Bibel lasen oder Pfarrer – von inner- und außerhalb der Klinik – zu sich kommen ließen.54 Religiosität als Ganzes betrachtet gab es bei den Patienten ohne zeitliche Schwerpunkte über den gesamten Untersuchungszeitraum verteilt. So hatte schon unmittelbar nach dem Krieg ein Patient gesagt: „Am liebsten wäre er tot. Aber das Leben dürfe er sich nicht nehmen, das verbiete die Religion.“ 55 Mehr als 20 Jahre später gab ein anderer Patient56 an, er sei bei der Bundeswehr „beinahe in die Versuchung gekommen, sich zu erschießen, er habe zu diesem Zweck immer eine Patrone in der Tasche mit sich herumgetragen.“ Er habe jedoch dann „im Evangelium einen neuen Sinn gefunden“, habe das Neue Testament gelesen und „danach nie wieder Suizidgedanken gehabt.“ 1993 schließlich gab ein Anhänger der HareKrishna-Bewegung,57 der mit einer „schweren depressiven Episode mit psychotischer Symptomatik“ in die Heidelberger Universitätsklinik kam, an, es trieben ihn keine Suizidgedanken um, er „glaube an die Seelenwanderung.“ In der Bibel lasen Patienten58 1953 ebenso, wie sie59 1993 den Rosenkranz beteten. Häufiger traten jedoch ab den 1970er Jahren die religiösen Sondergemeinschaften und neuen religiösen Bewegungen in Erscheinung. Dies war umso auffälliger, da sie für die Ärzte offenbar bis dato unbekannte Widerstände mit sich brachten. Deshalb las man über Religion auch bei diesen Patienten am meisten. So habe der oben erwähnte Hare-Krishna-Anhänger geklagt, „alles hier sei nicht Hare-Krishna-gerecht, Hare-Krishna verbiete eigentlich Medikamente.“ Auch andere Anhänger der aufkommenden westlichen Hinduismus/Buddhismus-Rezeption (in den Akten meist pauschal als „Yoga“ notiert) gaben an, dass sie ihre eigenen Glaubenspraktiken, etwa die Yoga-Übungen, den Psychopharmaka der Ärzte vorziehen. Ein junger Mann60 habe bemerkt, dass ihn seine verschriebenen Antipsychotika impotent gemacht hätten. „Daraufhin habe er die Tabletten durch Yoga-Übungen ersetzt.“ Ein anderer floh gar aus der Klinik auf direktem Wege nach Indien, wo es ihm, so sagte er bei der Wiederaufnahme, „eine Weile sehr gut gegangen sei.“ Die Ärzte vermerkten wiederum, dass sich die „New-Ageler“ zu sehr von der Stationsgemeinschaft absonderten. Dieses Fernbleiben wurde auch immer wieder bei Patienten bemängelt, die den „religiösen Sondergemeinschaften“ angehörten, also christlichen Abspaltungen. So hieß es über ein Mitglied der Neuapostolischen Kirche,61 er sei „wegen seiner religiösen Bindungen nicht für eine Psychotherapie geeignet.“ Über ein

53 PUH 93/183; UAG 74/358; 50/1291; UAG 62/1144. 54 PUH 53/53; PUH 83/41; PUH 53/22; PUH 63/379; PUH 73/410; UAG 75/515; UAG 72/269. 55 UAG 50/1291. 56 UAG 74/358. 57 PUH 93/183. 58 PUH 53/53. 59 PUH 93/417. 60 PUH 73/404. Siehe auch Abschnitte 2.2.5 und 2.3.2. 61 PUH 93/146.

148

4. Bewältigung

Mitglied der Zeugen Jehova62 las man „fügt sich sozial nicht ein, weil er Zeuge Jehowa [sic] ist.“ Angehörige der großen Konfessionen gerieten mit ihrem Glauben seltener in den Fokus der Psychiater. Wenn überhaupt, dann geschah dies meist bei streng katholisch sozialisierten Männern:63 Ein Gießener Patient64 hatte die Klinik, in der er behandelt worden war, vorzeitig verlassen, weil „viele Mitpatienten [auch verheiratete] mit anderen Patientinnen Bekanntschaften angeknüpft, und in seiner Gegenwart über sexuelle Dinge gesprochen hätten, was er nicht ertragen habe.“ Der therapeutische Kontakt zu einem pädophilen Sexualstraftäter aus dem katholischen Milieu65 gestaltete sich zunächst schwierig, da auch dieser aus purem Unbehagen „sofort das Thema änderte“, wenn Dinge angesprochen wurden, die die Sexualität betrafen. Tab. 13 Dokumentation von Religiosität und Spiritualität als Krankheitsbewältigung Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt Patienten, deren Religiosität oder Spiritualität im Kontext ihrer Krankheitsbewältigung beschrieben wurden, davon: Angehörige religiöser Sondergemeinschaften und neuer religiöser Bewegungen

681 22 7

4.4 „Mir ist Moment nur das Schreiben zum Abreagieren geblieben“. Gestalten und Philosophieren Viele Patienten verarbeiteten ihre Leiden, indem sie darüber schrieben. Andere wiederum zeichneten, malten, bastelten oder beschäftigten sich mit philosophischen Fragen. Diese gewissermaßen musische Form der Krankheitsbewältigung gab unmittelbare Einblicke in die subjektive Krankheitserfahrung der Patienten, denn sie wurde meist nicht bloß von Ärzten als Beobachter notiert, sondern ist auch in einer Vielzahl von Selbstzeugnissen überliefert. Wie in den bereits behandelten Themenbereichen war jedoch auch hier die Überlieferung dieser Betätigungen allzu oft ein ungewolltes Nebenprodukt des ärztlichen Blickes. Als Bewältigungsversuche tauchen die Berichte und Selbstzeugnisse über das kreative Schaffen von Patienten in aller Regel nicht auf. Im Gegenteil, solche Betätigungen wurden häufig lediglich dann in den jeweiligen Akten überliefert, wenn sie als Beleg für einen pathologischen Befund oder aber zur Dokumentation von Behandlungswiderständen dienen konnten. Am deutlichsten unter den Patienten zeigte sich die diagnostische Funktion dieser Überlieferung bei Männern mit schizophrenen Psychosen. Damit 62 63 64 65

PUH 73/418. Siehe auch PUH 93/152. PUH 93/417. UAG 70/590. PUH 73/410.

4.4 „Mir ist Moment nur das Schreiben zum Abreagieren geblieben“.

149

einhergehende Wahrnehmungs- und Denkstörungen wie Halluzinationen, verzerrte Körperwahrnehmungen und Aufhebungen der Grenzen zwischen „Ich“ und Umwelt wurden von vielen Betroffenen gestalterisch zum Ausdruck gebracht.66 Die Verwandtschaft dieses Schaffens zu der Arbeit von bildenden Künstlern war auch Psychiatern nicht unbekannt. Insbesondere in Heidelberg war schließlich schon lange vor Beginn des Untersuchungszeitraumes die größte Sammlung der Kunst von psychisch Kranken in Deutschland, die Sammlung Prinzhorn entstanden, die sich mit eben diesem Zusammenhang beschäftigte.67 Über die ästhetische Wertschätzung hinaus, die den Werken zumindest einiger dieser Kranken von ärztlicher Seite zukam, bestand jedoch erst spät ein Bewusstsein für eine gewisse „stabilisierende“ Wirkung der psychotischen Wahrnehmung im allgemeinen und ihrem künstlerischen Ausdruck im Besonderen. Sie hatte also die Funktion für die Patienten in einer Situation absoluter und potentiell lebensgefährlicher seelischer Desintegration, in einer Art Notfallmodus einen kohärenten Sinn aufrechtzuerhalten.68 Eine solche, gewissermaßen salutogenetische Herangehensweise an Psychosen war freilich während des Untersuchungszeitraumes eine radikale Position: Heute ist im Eingangsbereich der Sammlung Prinzhorn folgendes Zitat des italienischen Psychiaters Giovanni Jervis zu lesen: „[…] daß der Wahn eine Abwehr ist, und zwar manchmal eine wirkungsvolle: Er verhindert die psychotische Auflösung, ermöglicht es zu leben, den Dingen eine Ordnung zu geben, eine untragbare Situation zu ertragen.“69

In dem psychiatrischen Therapieverständnis, das der Widerherstellung von normierten und intersubjektiv kommunizierbaren Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen verpflichtet war, blieb die Psychose in erster Linie eine Krankheit und die Kunst des Psychotikers ein materialisierter Beweis für dessen Krankhaftigkeit. Dieses pathozentrische Verständnis von Kreativität galt indes nicht nur für die „Kunst der Geisteskranken“, also der Menschen mit schizophrenen Psychosen, sondern auch für die übrigen Patienten; nicht bloß für Wahn und Paranoia, sondern auch für jegliche kreative Betätigung, die der Herstellung der Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen im Weg stand, die als normal bzw. gesund galten. So wurden aus intensiven Phantasien der Patienten, politischer Begeisterung oder Spiritualität ebenfalls psychopathologische Auffälligkeiten abgeleitet. Sogar „übertriebene Rationalität“ gehörte in diese Kategorie: Bei vielen Männern auch mit „weniger schweren“ Störungen, Psychopathien oder „Neurosen“ trat beispielsweise die intensive Beschäftigung mit abstrakten Themen insbesondere mit Philosophie als Hindernis für eine adäquate Krankheitseinsicht in den Akten auf. Die schriftlichen Zeugnisse solcher philosophi66 PUH 53/202; PUH 63/225; PUH 73/50; PUH 73/212; PUH 73/181; PUH 73/426; PUH 83/27; PUH 93/91; UAG 58/1446; UAG 73/660; UAG 51/1212; UAG 58/1180. 67 Prinzhorn (1994), S. 3 f., 353 f.; Brand-Claussen (1997), besonders S. 6 ff. 68 Müller-Braunschweig (1974); Kraft (2015), S. 3–13. 69 Jervis (1978), S. 277.

150

4. Bewältigung

scher Betätigung konnten dann wiederum eine entsprechende Diagnose stützen oder das Scheitern einer Behandlung erklären. Für die Patienten selbst hatten die gestalterischen Betätigungen aber zweifellos eine bewältigende Funktion, auch wenn es nicht jeder Patient so deutlich zu Papier brachte wie ein Heidelberger Patient,70 der 1983 schrieb: „Mir ist im Moment nur das Schreiben zum abreagieren geblieben, was ich selbst auch als den besten Weg halte. Ein anderer greift zur Flasche oder schlägt um sich ich jedoch schreibe u. schaffe mir somit Erleichterung sonst drehe ich durch.“

Oder schon Jahre zuvor ein Gießener:71 „Er habe das Gefühl, wenn er sich die Sache einmal von der Seele geschrieben habe, daß es ihm dann besser gehe.“

Gestalterische Zeugnisse wie Zeichnungen und Bastelarbeiten sowie beschreibende bzw. erzählerische Texte aller Art und Lebensläufe fanden auf verschiedenem Wege Eingang in die Krankenakten.72 Im Zwischenraum von der Produktion literarischer Selbstzeugnisse zur Bewältigung seelischen Leides und ärztlichen Therapiemaßnahmen lagen die Lebensläufe. In den meist handschriftlich überlieferten Texten sollten die jeweiligen Patienten darstellen, wie es aus ihrer Sicht zu ihrer gegenwärtigen Situation gekommen war. Ärzte versprachen sich davon neben zusätzlichen Informationen über das Leben der Patienten (und Schriftproben zur sogenannten „graphologischen Diagnostik“), dass bei diesen ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt würde, der die „Krankheitseinsicht“ und so die eigenständige Behandlungsmotivation steigern würde. Die Texte sind zwar bisweilen rein faktisch und knapp, ebenso häufig tendieren sie jedoch ins Literarische hinein, etwa durch die Verwendung figurativer Sprache. Darüber hinaus zeugen sie trotz der Initiation des Schreibprozesses durch die Behandelnden durchaus von eigenständiger Motivation, das eigene Leid zu reflektieren; dies bisweilen in einer Weise, die eine kritische Distanz auch gegenüber der Behandlung in der Psychiatrie aufwies. Bei Zeichnungen, Basteleien und fiktionalen Texten ist ohne Weiteres ersichtlich, dass es sich hierbei um Produkte gestalterischer Tätigkeit handelte. Bei den Lebensläufen und Selbstberichten handelte es sich zwar um faktionale Texte, häufig ist aus ihnen darüber hinaus jedoch eine gewisse stilistische Elaboriertheit und Steigerung des Ausdrucks zu finden, was sich formal in erzählerischen Strukturen und dem Gebrauch figurativer Sprache zeigte. Damit rückten diese Texte also in die Nähe von künstlerischer Produktion.73 70 71 72

PUH 83/42. Siehe auch PUH 53/27. UAG 67/96. Eine quellenkritisch nicht ganz unwichtige Unterscheidung musste zwischen solchen Dokumenten getroffen werden, die ohne erkennbare Aufforderung durch die Klinik entstanden waren und solchen, die Patienten angefertigt hatten, weil ihre Psychiater sie aus anamnestischen oder therapeutischen Gründen dazu aufgefordert hatten. Mit letzteren sind Lebensläufe gemeint, die manche Ärzte als Teil der Anamnese von ihren Patienten verlangten. 73 Bisweilen kennzeichneten Patienten diesen literarischen Status auch wie ein Heidelberger Ingenieur, der seinen sprachlich recht ausgeschmückten Bericht „Lebenslauf als Beichte“ betitelte. PUH 73/54.

4.4 „Mir ist Moment nur das Schreiben zum Abreagieren geblieben“.

151

Der Schüler Bernd H.74 fertigte Zeichnungen von Raumschiffen und Figuren in fremdartig anmutenden Kleidern an. Um diese Zeichnungen herum schrieb er auf das Blatt einen Text, in dem er sich selbst in dieser Welt verortete. Die Erzählung, die er verfasste, spielte sich im Universum der Perry Rhodan Romane75 ab, war aber gleichzeitig Ausdruck seiner gegenwärtigen Situation, in der er auf der Schwelle zur Schizophrenie stand. In dem Text trat Bernd als „Großadministrator“ in Erscheinung: „Der Mensch von früher ist weg. Meine Persönlichkeit ist weg. Der Mensch ist total weg, tot, aus. […] Ich bin nichts halbes und nicht ganzes mehr. […] Eine Erlösung dieser Vernichteten Existenz wäre der Tod. Schuld: Der schlimmste irdische Donnerstag seit Jahrhunderten. […] Major Salzkammer, 11. Mann im Reich und 1. Der Feuerbüffel-Organisation vergrößerte die Geschwindigkeit des Lichts, indem er die Zeit mit seiner Kraft umformte, in qualvollen 4–9–6-Phasen im [unleserlich]-Sektor, den Raum zwischen den Sternen anhielt. […] Die Lage ist so: Der Fall vom schlimmsten Donnerstag meines Lebens ist abgeschlossen, das wißt ihr ja.“

Für Patienten wie Bernd H. diente die gestalterische Aktivität dazu, Sinn zu stiften angesichts der Desintegration seiner Persönlichkeit und der gewohnten Realität.76 Traumatischen Erlebnissen einen kohärenten Sinn zu geben, war auch das Anliegen von Maximilian T.77 Er gehörte zu den letzten Kriegsheimkehrern, die 1956 aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrten. Die Anamnese gab Aufschluss darüber, was er durchgemacht hatte: „Im Russlandfeldzug Verwundung durch zwei Granatsplitter. […] Im Winter sei er dort mit einem Boot auf einem Fluss gekentert und habe sich schwer unterkühlt, schwimmend an Land gerettet.“

Wenige Monate darauf sei er „mit einem Panzerwagen auf eine Mine gefahren, was er als einziger seiner Gruppe überlebt, was ihn aber sein rechtes Bein gekostet habe.“ Von da an habe er noch während des Krieges „ständige ‚Nervenzusammenbrüche‘“ mit „Angst“, „Beklemmung“, „Herzjagen“ und „Bewusstlosigkeit“ erlitten. Nach dem Krieg sei er vom US-Amerikanischen Counter Intelligence Corp (CIC) als Spion rekrutiert worden. Schon 1948 sei er jedoch durch die sowjetische Geheimpolizei GPU verhaftet und inhaftiert worden. Dort berichtete er, sei er „öfter schwer verprügelt“ worden, durch „Mißhandlungen mit kaltem Wasser“ gequält und danach in Kaltzellen eingesperrt worden. Daraufhin wurde er in ein Kriegsgefangenenlager gebracht, wo er insgesamt zweimal eine „Hungerdystrophie“ erlitten habe. Als Folge der Unterernährung sei sein Gewebe derart geschwächt gewesen, dass ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Eingeweide aus dem Körper gequollen seien; seit dieser Zeit litt er an einem Analprolaps. Noch in der Gefangenschaft hatte Maximilian T. mit dem Schreiben angefangen. Es handelte sich um zeitgeschichtliche Betrachtungen über

74 75 76 77

PUH 73/50. Seit 1961 wöchentlich als Heftroman erscheinende Science-Fiction-Serie. Siehe auch PUH 93/435. UAG 57, Akte ohne Kennnummer, Aufnahme des Patienten am 18.11.1957.

152

4. Bewältigung

das „Wesen des Totalitarismus“, Reflexionen über das eigene Leid, „er habe nächtelang geschrieben, ohne Ruhe und Rast.“ 1956 war er mit der „Heimkehr der Zehntausend“ über den hessischen Grenzübergang Herleshausen in die Bundesrepublik gekommen. Seitdem litt er an Atemnot, Herzrasen, „wahnsinnige[n] Kopfschmerzen, Tinitus und chronische[r] Schlaflosigkeit“, zudem „trinke [er nun] aus Verzweiflung“. Auch nach seiner Heimkehr schrieb er weiter, sogar während seines Aufenthaltes in der Gießener Universitätsklinik (Diagnose: „Psychopathie, Nervöser Erschöpfungszustand“). Dort fand sich, datiert auf einen der Tage seines Aufenthaltes, ein Blatt Papier, auf das er geschrieben hatte: „Zweieinhalb Stunden habe ich – wie so oft – vergeblich um meinen, für mich so notwendigen Schlaf gerungen, bei allem guten Willen gelingt es mir nicht wieder zur Ruhe zu kommen, noch mich von meinen Gedanken losreißen zu können. […] Die Angst der „Massen-Psychose-Extase“ hat die Menschen ergriffen. Die Epoche des Massenwahns droht die Vernunft zu überwuchern wie das Unkraut die Früchte.“

Maximilian T. wollte dem Erlebten einen Sinn geben, darüber hinaus war es ihm jedoch auch wichtig, das Erlebte an andere zu kommunizieren. Laut Akte verlangte er von seinen Ärzten, seine Aufzeichnungen zu lesen, die mittlerweile ein vollständiges Manuskript umfassten. Für das Werk fand er, offenbar auch aufgrund der politischen Brisanz des Inhaltes, keinen Verlag, worunter er litt.78 Das Bedürfnis nach Ausdruck verband sich bei einem jungen Gießener79 ebenfalls mit der Möglichkeit, in einer schwierigen Situation überhaupt noch kommunizieren zu können. Diese Ansicht vertrat jedenfalls sein behandelnder Arzt, der mit dem beharrlichen Schweigen seines Patienten kämpfte, der gerade einen Suizidversuch überlebt hatte. Der „kontaktarme“ Junge, der laut eigenen Angaben der Mutter „viele Schläge bekommen habe (Sie könne das gut)“, fand in der Musik eine Möglichkeit, die Folgen der erlittenen Gewalt zumindest zeitweise abzumildern. Lediglich über das Thema Musik, so zumindest der Psychiater, sei es gelungen, mit dem Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. „Wenn das Gespräch auf seine Beatplatten kommt, taut er auf und erzählt bereitwillig über seine Lieblingsschlager.“ Die Bedeutung der Musik für ihn übertrug der Junge vom Klanglichen ins Bildnerisch-gestaltende. In seiner Akte fanden sich mehrere Blätter mit den Namen Dutzender zeitgenössischer Bands und Musikern, die der Junge beschriftet hatte, wobei er die Buchstaben im Stil der psychedelischen Kunst aufwendig in allen Farben ausgeschmückt hatte: 78

Die philosophisch-literarische Verarbeitung der Leidensgeschichte war motiviert und eingerahmt von einer antikommunistisch/antirussischen Stoßrichtung, die offenbar sogar für das damalige politische Klima während des Kalten Krieges zu viel war. Auf unbekanntem Weg gelangte das Manuskript noch während des Aufenthalts an einen Arzt, der selbst aus einer Familie von Verlegern stammte und der das Manuskript selbst auf seine Tauglichkeit zur Veröffentlichung begutachtet hatte. Dieser teilte Maximilian T. seine Ablehnung in einem Brief an die Klinik wie folgt mit: „Ich bin selbst erst 1956 aus der Sowjetunion nach Hause gekommen und kenne das von Ihnen Geschilderte aus eigenem Erleben. […] Ich möchte Sie als Arzt und Kamerad aus der Gefangenschaft bitten, nicht zu überstürzen und Geduld zu haben mit Menschen, die nicht durch eigene Anschauung den wahren Charakter unseres „Freundes“ im Osten erkannt haben.“ 79 UAG 68/801.

4.4 „Mir ist Moment nur das Schreiben zum Abreagieren geblieben“.

153

„Rolling Stones, Bob Dylan,Tommy James and the Shondells, Small Faces, The Marmelade, Jimmy Hendrix, Easybeats, John Lennon, Spencer Davis Group, Canned Heat, Ohio Express, Kinks, Mick Jagger, Doors, Garry Pucked [sic] and the Union Gap, Bee Gees, Cream, Dion [and the Belmonts], Beatles, Amen Corner, Donovan, Mamas and Papas, Manfred Mann, Jefferson Airplane, Beach Boys, The Petards, The Who.“

Auch Werner/Helena G.80 betätigte sich in einer Weise künstlerisch-expressiv, die der Kommunikation diente. Bei ihr lagen jedoch darüber hinaus besondere Umstände vor, die ihre Kunstwerke für das Quellensample einzigartig machen. In der Heidelberger Klinik war die junge Transfrau zum ersten Mal auf Menschen getroffen, die ihre Geschlechtsidentität grundsätzlich bejahten. Werner/Helena G. war auf einer Frauenstation untergebracht und konnte vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben aktiv Weiblichkeit verkörpern, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Noch kurz vor der Einweisung in die Klinik war sie auf offener Straße beschimpft und mit Steinen beworfen worden. Während ihr behandelnder Arzt zunächst auf dem Standesamt die Änderung ihres administrativen Geschlechts hatte erreichen können und nun gegen den Widerstand der Heidelberger Frauenklinik („Es handelt sich bei G. um einen gewöhnlichen Transvestiten“) versuchte, eine operative Geschlechtsangleichung durchzusetzen, schrieb G. an ihren Arzt aufwendig gestaltete Liebesbriefe. Diese können als Ausdruck des Umgangs mit einem Umbruch in ihrem Leben gelesen werden, der nun in greifbarer Nähe lag. Die Schreiben waren mit Blüten, Tierfiguren, Symbolen und Ornamenten bemalt und enthielten meist Passagen aus zeitgenössischen Chansons, mit deren lyrischen Ichs sie sich identifizierte. So schrieb sie: „An Herrn Dr. [A.] Es kann zwischen Heute und Morgen So unsagbar viel gescheh’n?! Du kannst zwischen Heute und Morgen eine andere viel schönere seh’n. Drum sollst Du mir heut nicht erzählen, ‚Ich liebe Dich so wie Du bist,‘ Man soll sich mit Lügen die Stunden nicht stehlen, in denen man glücklich ist. Gez. G.“ (aus „Zwischen heute und morgen“81).

In Anlehnung an den Titel „Mein Herz hab ich gefragt … und es hat leise ‚ja‘ gesagt.“ 82 In einem anderen Schreiben: „Wir können’s offt [sic] nie zeigen, was unser Herz verschwiegen spricht. Muss dann mein Mund auch schweigen, sagt doch mein Blick vergiss mich nicht.“83 „Der Schleier fiel von meinen Augen / Durch den ich dich bis heut gesehen! Der Schleier fiel und auch mein Glaube / und mein Glück muss stille vergeh’n. Und seh ich Rosen blühn / möchte ich von hier dann zieh’n / kann hier nie glücklich sein / bin so allein.“84

Über den reinen Kommunikationscharakter hinaus dienten diese gestalterischen Erzeugnisse neu gewonnene Möglichkeiten auszuloten, Geschlechtsidentitäten zu erproben.

80 81 82 83 84

PUH 53/53. Kreuder/Beckmann/Keller (1935). Keller (1935). Schuricke (1950). Kosma (1945).

154

4. Bewältigung

Eine ressourcenorientierte, also nicht auf das Pathologische fixierte positive Bewertung der künstlerischen Erzeugnisse von Männern war eher selten.85 Umso auffälliger war der Fall von Erwin G.86 (Diagnose: „Haltloser Psychopath“), der in Gießen wegen wiederholten Betruges auf seine Schuldfähigkeit begutachtet wurde. Bei Gutachten dieser Art ging es um eine Einschätzung der Rückfallgefahr. Diese Prognosen stützten sich unter anderem auf eine Art Lebenslauf, in dem die Begutachteten aufschreiben sollten, wie es ihrer Ansicht nach zu den Straftaten gekommen war und manchmal auch, wie sie sich vorstellten, solche in Zukunft zu vermeiden. Bei Psychopathie-Diagnosen wurde in aller Regel weder eine Schuldminderung festgestellt, noch gelang es den Straftätern, die Psychiater zu überzeugen, dass sie in Zukunft in der Lage straffrei bleiben würden. Auch Erwin G. konnte mit seinem Lebenslauf seine Ärzte von seiner Schuldunfähigkeit nicht überzeugen – wohl aber von seinen erzählerischen Qualitäten. Diese seien, so der Gutachter, „bemerkenswert“. Ein solches Urteil der meist aus bildungsbürgerlichen Verhältnissen stammenden Psychiater über einen unehelich geborenen Kleinkriminellen aus sozial schwachen Verhältnissen wie G. war schon für sich genommen ungewöhnlich. Mit den erzählerischen Fähigkeiten einhergehend sah der Gutachter auch ein gewisses Reflexionsniveau. Dieses sei wiederum so ausgeprägt, dass er eine vorsichtig-günstige Prognose verantworten konnte. Erwin G. schrieb über seine Kindheit, die mit der unehelichen Geburt begann. „Meine Mutter wurde durch mich aus dem Elternhaus ausgestoßen […] ich hegte als Kind eine starke Abneigung gegen meinen richtigen Vater, wie er so gemein gehandelt hatte und meine Mutter hat sitzen lassen. Ich versprach ihr daraufhin in meinem Kinderwort, niemals im Späterleben eine Frau so zu behandeln. Mir war in der Minute sehr feierlich zumute, denn ich erkannte mich als den Beschützer meiner Mutter […] ich wollte beweisen, dass ich nicht so bin wie mein Vater. Mein Stiefvater [den sie inzwischen geheiratet hatte, C. S.] kam jetzt nicht nur Tage oder Monate, sondern Jahre betrunken nach Hause […] Er betitelte meine Mutter mit unanständigen Wörtern wie Hure, Mistweib, Satansvieh. Er räumte den Küchenschrank aus und schmiss alles hin […] und plötzlich wollte er [dann immer, C. S.] zu mir.“

Erwin G. fuhr fort zu schildern, wie seine Mutter sich vor seine Tür stellte, um dem Stiefvater den Weg zu seinem Zimmer zu versperren, wie sie dann geschlagen wurde und wie die beiden sich oft stundenlang vor seiner Tür anschrien, während er vor Angst nicht einschlafen konnte. Seine Loyalität zur Mutter habe von einem Tag auf den anderen aufgehört, als er sie eines Abends beim Geschlechtsverkehr mit dem gewalttätigen Stiefvater sah. „Ich [liebte] bis 85 Dass solche Werke auch auf der ästhetischen Ebene wertvoll sein könnten, wurde trotz des Erbes von Prinzhorn in Heidelberg weder dort noch in Gießen erwähnt. Dies lag jedoch offenbar nicht an ihrer Irrelevanz für Ärzte, denn abwertende ästhetische Urteile konnten durchaus vorkommen. So vermerkte beispielsweise ein Gießener Psychiater, sein Patient „verspinnt sich in quasi-literarischen Produktionen sehr unterschiedlicher Qualität.“ UAG 70/17. 86 UAG 55/1096.

4.4 „Mir ist Moment nur das Schreiben zum Abreagieren geblieben“.

155

dahin meine Mutter über alles, konnte ich bis dahin meine Geschwister nicht verstehen, wenn meine Mutter mit blauen Flecken herum lief und sie [dem Stiefvater trotzdem] einen Kuss gaben. Und nun tat meine Mutter das selbe [dem Stiefvater trotz der Gewalttätigkeiten Zärtlichkeit zu geben C. S.]. Hier verlor ich den einzigen Menschen, den ich über alles liebte.“ Zum Betrügen sei Erwin G. einige Jahre später im Krieg gekommen. „Besonders in Russland, wo ich war gab es keinen Betrug, man nannte es ‚organisieren.‘“ Die Betrügereien beging er, um seine Kompanie mit Lebensmitteln zu versorgen. „War ich kein Held in Manneskraft, so wollte ich wenigstens auf diesem Gebiet zeigen, dass ich nicht ganz unbrauchbar war.“ Ähnlich versuchte ein weiterer straffällig gewordener Patient, seinen bisherigen Lebenslauf zu erklären.87 „Nach dem Tod der Mutter konnte ich als kleiner HJ-Führer machen, was ich wollte. Wenn ich nachts nach Hause kam, ob es 11 oder 2 Uhr war, es hat niemand nach mir gefragt. […] Im März 1942 hat mein Vater geheiratet, deutsche Trauung, mit Hitlerfahnen und der ganze SA-Sturm war angetreten. Da ich mich mit meiner Stiefmutter nicht vertragen konnte, habe ich mich freiwillig gemeldet. […] Als ich im Dezember 1946 von Russland aus Gefangenschaft kam, bin ich nach [Heimatort]. Ich wog noch 98lb. Nach drei Tagen sagte meine Stiefmutter, ob ich nicht bald arbeiten wolle.“

Übernimmt man die ärztliche Deutung von der Kriminalität des Erwin G. als Folge einer, auch durch seine Lebensumstände krankhaft gewordenen Persönlichkeit – eine Deutung, der zu Folge die Reflexion über diese Lebensumstände eine „Besserung“ der „Krankhaftigkeit“ seiner Person nach sich ziehen könne –, diente seine erzählerische Begabung sicherlich der Bewältigung seelischen Leides. Schließlich gab es eine Reihe von Patienten, deren Lebensläufe literarische Elemente aufwiesen und Bewältigungscharakter hatten, da eben diese Literarizität durch ein Heilverfahren inspiriert war, das selbst mit den Mitteln der Narration, mit Symbolen, poetischer Verdichtung und anderen bedeutungsvollen Assoziationen arbeitete: Mit der Psychoanalyse. Die Verwendung metaphorischer Sprache, um dem eigenen Leiden einen Sinn und eine Geschichte zu geben, konnte in diesen Fällen88 eindeutig auf die zunehmende Popularisierung psychoanalytischen Wissens zurückgeführt werden. So wie im Fall des ehemaligen Studenten der katholischen Theologie Aloys R.,89 der spätestens über sein, wie er in seinem Lebenslauf schrieb, „extrem starkes Engagement in marxistischen Basisgruppen“ mit Sigmund Freud in Berührung gekommen sein dürfte. Anstatt seine Biographie, wie sonst üblich, nur durch wichtige äußere Ereignisse wie etwa Geburt, Einschulung, Beginn der Lehre etc. zu gliedern, nahmen die Einträge Bezug auf Erinnerungen an die eigene psychosexuelle Entwicklung und potentielle Traumata. „Jahr 1 Auf dem Topf / Jahr 2 Abends alleingelassen, Blick durchs Fenster, pechschwarze Nacht / […] Jahr 4 Die schwarzen Augen meiner Mutter … (könnt mich daran berauschen … es wimmelt von Bildern in mir) Jahr 5: Sexuelles Spiel [… da] stand ein riesen87 UAG 59/1105. 88 Siehe neben den folgenden Beispielen auch Abschnitt 2.3.1. 89 UAG 73/392.

156

4. Bewältigung großes Holzkreuz. Schuldgefühle. 6. Jahr. Traum. Ich halte Kreuz in Händen, Massen von Menschen ziehen an meinen Füßen, ich recke ganz hoch das Kreuz, oben ist Licht … wate durch den Sumpf […] 19. Jahr Immer mehr in den Händen der Schweinepriester [gemeint ist die Katholische Kirche, C. S.] 22. Jahr erste sexuelle Kontakte zu verheirateten Frauen (ohne Ficken!) neurotisierende Gefühlsduseleien mit tastendem Griff an Busen und Oberschenkel […] 24. Jahr Irgendwann folgende Gedanken: Hier Erde, Weltall, doch was dahinter? Was hinter Sternen?

In den meisten Fällen sind die Versuche der Bewältigung durch philosophische Reflexion nicht durch Selbstzeugnisse überliefert, sondern durch die Beobachtung der Ärzte, in denen die pathozentrische Beurteilung deutlich vorherrscht.90 Ein Patient in Gießen91 berichtete über seinen Aufenthalt im Sanatorium Wiesneck: „[Es sei eine] Behandlung nach anthroposophischen weltanschaulichen Gesichtspunkten gewesen, von der er sehr angetan sei [… mit] Musik, Bibliothek, Konzerte[n], Vorträge[n] […]. Bei der Visite fällt außerdem noch auf, dass Herr Dr. D., ginge es nach ihm, stundenlang reden könne, über große griechische Philosophie, Anthroposophie etc. Damit will er offensichtlich von seinen eigentlichen schwerwiegenden Problemen ablenken.“

Auch der aktive Widerstand gegen die Behandlung tauchte in diesem Kontext wieder auf. „Der Patient zeigte sich in der PT als höhnisch-überlegen, äußert verschwommene pseudo-philosophische Ansichten nihilistischer Färbung“.92 Über einen Gießener Patienten93 las man: „ging nicht auf Fragen ein, sondern meinte, er müsse mich von der Philosophie Hegels überzeugen.“ Tab. 14 Dokumentation von Gestalten und Philosophie als Krankheitsbewältigung Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt Patienten, bei denen gestalterische oder philosophische Betätigung als Teil der Krankheitsbewältigung dokumentiert wurden

681 23

4.5 „Wenn er Bier getrunken habe, könne er auch mit dem Bundeskanzler sprechen“ – Selbstmedikation Mit dem Konsum von Substanzen versuchten viele Männer, ihren Alltag zu bestehen. Es ist naheliegend, dass ein solcher Gebrauch häufig bei Patienten dokumentiert wurde, die aufgrund einer substanzbezogenen Krankheit, also einer „Sucht“ oder einem „Missbrauch“ in der Klinik waren. Aber auch bei Patienten mit völlig anderen Diagnosen wurde Substanzkonsum notiert und zusätzlich bisweilen der Grund, den Patienten für den Gebrauch angaben. In diesem Abschnitt werden nicht alle Patienten mit suchtbezogenen Störungen behandelt, sondern nur solche, die laut ihren Akten Alkohol und Sub90 91 92 93

PUH 93/443. UAG 68/853. UAG 70/17. UAG 73/660.

4.5 „Wenn er Bier getrunken habe, könne er auch mit dem Bundeskanzler sprechen“ 157

stanzen zur Bewältigung ihres Alltags benutzten; darunter konnten ebenso Patienten mit anderen Diagnosen fallen. Diese Bewältigungsform tauchte in den Akten fast ausnahmslos als pathologische Handlung auf. In einem einzigen Fall schien eine gewisse ambivalente Bewertung durch: Ein Gießener Konsument von LSD94 war offenbar zumindest zeitweise so zufrieden mit sich, dass Teile des Klinikpersonals (nicht jedoch der dokumentierende Arzt) an ihrer Arbeit zweifelten: „Mit Vorliebe tut er sich mit anderen Pat. zusammen, um dann über Kunst und Lyrik zu sprechen“, an einem Tag habe er im Garten „stundenlang eine Blume beschaut“, es sei eine „Verführung für das ganze therapeutische Team, sich auf seine Traumwelt einzulassen“. Dabei erkläre „er ausdrücklich, dass er auf seine Traumwelt nicht verzichten wolle und höchstens dann zur Arbeit bereit sei, wenn sich beides miteinander verbinden lasse.“ Alkohol war mit großem Abstand die am häufigsten genutzte Substanz.95 Darauf folgten selbstständig beschaffte Medikamente – Substanzen also, die lediglich rezept- oder apothekenpflichtig waren, oder solche, deren Abgabe durch das Betäubungsmittelgesetz (bis 1971 Opiumgesetz) strenger reguliert, nicht jedoch untersagt waren. Zu ersteren zählen handelsübliche Stimulantien, Tranquilizer und Schlafmittel, mit letzteren sind im Wesentlichen für den medizinischen Gebrauch als Schmerzmittel bestimmte Opioide gemeint. Im Vergleich zu diesen beiden Gruppen gab es nur sehr wenige Fälle, in denen Patienten illegale Drogen konsumierten. Dazu gehörten Substanzen, die spätestens mit Verabschiedung des Betäubungsmittelgesetzes 1971 als nicht verkehrsfähig eingestuft waren, also weder gehandelt, noch abgegeben werden durften. Solche Stoffe, die grundsätzlich in der Illegalität konsumiert wurden, waren Opiate wie Heroin, Kokain, psychedelische Substanzen wie LSD und Cannabis. Die Gründe für den Konsum änderten sich im Untersuchungszeitraum nicht. Verschiedene primäre Motive zum Alkohol- und Substanzkonsum tauchten in den Akten auf, die sich nach folgendem groben Raster gliedern lassen (wobei sich die Beweggründe durchaus überschneiden konnten): Zur Arbeit gehen zu können, führten die Männer mit Abstand am häufigsten als übergeordneten Grund für ihren Substanzgebrauch an. Sehr häufig behandelten sie mit den Mitteln ihre Schlafprobleme, die ihnen ansonsten die Arbeit unmöglich gemacht hätten;96 etwas weniger häufig nahmen sie die Mittel, um die Arbeitsbedingungen selbst aushalten zu können.97 Ebenfalls gaben zahlreiche Männer an, die Substanzen gegen Angstzustände einzunehmen.98 Etwa ebenso viele taten dies, um mit Insuffizienz-und Minderwertigkeitsgefühlen 94 UAG 73/323. 95 Siehe Tabelle am Ende dieses Abschnitts. 96 UAG 59/1714; PUH 83/281; PUH 63/367; PUH 63/368; PUH 73/356; PUH 73/43, PUH 93/223; PUH 83/180; PUH 83/66; PUH 83/367; PUH 93/151; PUH 83/350. 97 UAG 52/1796; UAG 66/680; UAG 74/129; PUH 73/52; PUH 83/69; PUH 73/70; PUH 63/338; PUH 55/66; PUH 73/313; PUH 53/113; PUH 53/114. 98 PUH 63/454; PUH 73/61; UAG 60/166; PUH 83/164; UAG 63/255; PUH 73/186; UAG 63/255; PUH 93/129.

158

4. Bewältigung

zurechtzukommen.99 Weitere Gründe waren die Bewältigung von Belastungen in der Beziehung oder Trennungen100 und allgemein die Bekämpfung von Gefühlen wie Traurigkeit und Kummer.101 Erst dann folgte die Selbstmedikation aufgrund von körperlichen Schmerzen102 und zuletzt die „Entspannung bei Unruhe“.103 Nicht bloß die Anlässe, auch die Menge der Patienten, die Alkohol- und Drogen zur Selbstmedikation einnahmen, änderte sich im Laufe des Untersuchungszeitraumes nicht. Selbst mit Ausbruch der sogenannten „Drogenwelle“ um 1970 gaben nicht mehr Patienten an, dass ihr Konsum illegaler Drogen ihnen zur Selbstmedikation diente. Welche Substanzen hingegen konsumiert wurden, unterlag durchaus Veränderungen. Von Ärzten ausgegebene Opiate tauchten in der Nachkriegszeit aufgrund der Kriegsversehrten häufiger auf. Die illegalen Drogen wie Heroin und Kokain kamen vor ca. 1970 so gut wie gar nicht vor, dafür wurden in der Zeit danach zahlreiche, zuvor frei verkäufliche Substanzen, hauptsächlich Stimulantien, Schlaf- und Beruhigungsmittel, entweder rezeptpflichtig oder vollständig aus dem Verkehr gezogen. Im Gegensatz dazu stieg zur gleichen Zeit bundesweit der Konsum von Alkohol auf ein Allzeithoch und mit ihm der relative Anteil von Patienten des Quellensamples, die versuchten, ihre Probleme mit Alkohol zu bewältigen.104 Das Beispiel Karl B.s aus dem Abschnitt 2.1.3 zeigt, wie sehr das Erbe des Krieges die Selbstmedikation der Männer prägte. Viele Patienten waren seit ihrer Zeit in den Kriegslazaretten auf Opiate oder auch Stimulantien wie Pervitin angewiesen; nicht nur die Patienten waren offenbar von den großen Mengen frei verfügbarer Substanzen betroffen, sondern auch die Ärzte, die mit den Drogen ihren Arbeitsalltag aushalten wollten. So war noch 1966 ein Chirurg105 Patient in der Gießener Klinik, der „die Verwendung von Betäubungsmitteln […] mit einer Steigerung seiner Leistungsfähigkeit begründet[e].“ Unterstützung erhielt er hierbei von seinen Kollegen, die verhindern wollten, dass der Mann seine Zulassung verliert: „Bisher sei kein Fall bekannt geworden, in dem Dr. D. infolge seiner Sucht unfähigk [sic] gewesen sei, während oder ausserhalb der Sprechstunde fachärztliche Hilfe zu leisten.“ Der Chefarzt einer Klinik, in der der Mann als Honorararzt tätig war, beteuerte ebenfalls „dass Dr. [Name] bei ihm operiere und zwar gut operiere, er sei nur unzuverlässig und habe die Pat. oft tagelang auf sich warten lassen.“ In die Klinik war er nicht aus einem medizinischen Anlass gekommen, sondern durch die Polizei: Im selben Haus, in dem er offenbar gut 99 100 101 102 103 104

PUH 63/362; PUH 83/349; PUH 93/127; PUH 73/206. PUH 83/47; UAG 69/81. PUH 53/67; PUH 83/162; PUH 83/22; PUH 93/127; PUH 83/350; PUH 93/108. PUH 73/65; PUH 53/103; PUH 53/104. PUH 83/281; UAG 63/585; PUH 83/60; PUH 53/96; PUH 93/323. Gaben in den 1950er und 1960er Jahren noch etwa gleich viele Männer im Quellensample an, sich selbst mit Alkohol wie mit Tabletten zu behandeln, waren es ab den 1970er Jahren bereits doppelt so viele Alkoholanwender. Dies bedeutet nicht, dass es zwischen dem bundesweiten Anstieg der konsumierten Alkoholmenge und dem in der Klinik einen Zusammenhang geben muss. 105 UAG 66/680.

4.5 „Wenn er Bier getrunken habe, könne er auch mit dem Bundeskanzler sprechen“159

funktionierend seine Praxis betrieb, lebte er mit seiner Familie, und seine Frau hatte nach einer von vielen gewalttätigen Eskalationen die Polizei gerufen. Der Polizist hatte angegeben, bei seinem Eintreffen sei die „Kleidung der Mutter zerrissen und mit Blut beschmiert, ein Auge geschwollen und blau gefärbt [gewesen].“ Die Mutter selbst klagte, „Die Kinder seien Zeugen der nächtlichen Auseinandersetzungen, riefen um Hilfe, beschwörten den Vater, die Mutter nicht zu schlagen.“ Häufig schlössen sich die „Kinder […] aus Angst vor Strafe nachts im Badezimmer ein.“ Doch man musste kein Arzt sein, um sich im Berufsleben zu überfordern. So hatte der Besitzer des Blutdruckmessgerätes aus dem Abschnitt 2.3.1 an seiner Arbeitsstelle Konkurrenz durch jüngere Kollegen bekommen und glaubte, dieser nur mit Drogen standhalten zu können:106 „1963 war ich durch wirtschaftliche und finanzielle Sorgen, zusätzlich zu meinen Leiden, einem Zusammenbruch nahe, was ich durch den Genuß von Schmerz- und Schlafmitteln zu lindern suchte.“

Ein Mann107 arbeitete teils schwarz bis zu 280 Stunden im Monat und behandelte die Folgeerscheinungen vollständig legal mit „Nervolitan,108 Dolostan,109 10 Tassen Kaffee und 4–8 Fl. Cola täglich. […] Damals sei ihm [als er auf der Arbeit wegen eines grippalen Infektes nach Hause gehen wollte] gesagt worden, er wolle sich nur vor der Arbeit drücken, das habe ihn schwer getroffen“, er habe in diesem Zustand eine „Baumaschine mit offenem Führerhaus bei eiskaltem Wetter und Schneetreiben von Gießen nach [Name eines Ortes im Landkreis Gießen] überführt (ohne Kopfbedeckung)“. Seine Frau hatte einen Bandscheibenvorfall mit Kuraufenthalt, worauf er unbezahlten Urlaub nahm, „um die Kinder zu versorgen. Das habe zu einer Verstimmung mit seinem Arbeitgeber geführt.“ Als seine Frau sich in Kur noch ein Bein brach, „musste er wieder unbezahlten Urlaub nehmen, um Frau und Kinder zu versorgen. Das habe zu einer weiteren Verschlechterung geführt. [Der Arbeitgeber] habe ihm unberechtigterweise 50 DM vom Weihnachtsgeld abgezogen und hatte ihn auch widerrechtlich bei der Krankenkasse abgemeldet, so dass er die KV selbst zahlen musste.“ Nachdem ihm gekündigt wurde, war er arbeitslos und „kam sich dabei völlig nutzlos vor.“ Neben der Bewältigung des Berufslebens gaben Männer vor allem an, dass sie sich mit Alkohol gegen Angstzustände behandelten. Andere Substanzen spielten zu diesem Zweck bemerkenswerterweise kaum eine Rolle. Ein Gießener Patient,110 der alleine lebte, gab an, „er trinke aus Angst und weil er es in seinem leeren Zimmer nicht aushalte.“ Ein anderer Gießener Patient,111 der „als 9-jähriger bei der Flucht aus Pommern schlimme Dinge erlebt habe, […] Drei Tage ohne Essen und Trinken in Eisenbahnwaggon eingesperrt, beschossen worden [war]“, trank gegen seine „Angstneurose mit phobischen Erscheinungen“ zur Beruhigung 16 Flaschen Bier am Tag. 106 107 108 109 110 111

UAG 63/278. UAG 74/129. Nervolitan: Barbiturathaltiges Schlaf- und Beruhigungsmittel. Dolostan: Schlafmittel. UAG 60/166. UAG 63/585.

160

4. Bewältigung

Als weitere Begründung für Substanzkonsum nannten Männer häufig, dass sie etwas gegen geringes Selbstwertgefühl tun wollten. Auch hier war Alkohol das Mittel der Wahl; lediglich ein junger Mann aus Heidelberg112 bevorzugte für diesen Zweck LSD. So berichtete ein Bauarbeiter:113 „Er habe 1958 Untermieter gehabt. Mit diesen habe er dauernd Krach gehabt, weil sie nie hätten richtig bezahlen wollen; damals habe er zum ersten Mal in seinem Leben angefangen zu trinken, 3–4 Flaschen Bier täglich; nach dem Alkoholgenuss habe er sich stark gefühlt.“

Ein Mann in Gießen,114 der an einem Sprachfehler litt, gab an, dass er häufig Demütigungen zu ertragen habe: „Seine Frau sage oft, dass er blöd sei und dass er ein Versager sei. Das habe sie schon 100 mal zu ihm gesagt. […] wegen der ständigen Hänseleien [durch Mitschüler] habe er [sogar] nicht mehr zur Handelsschule gehen können.“ Hingegen „gehe es ihm besser, wenn er Bier getrunken hätte, dann könne er auch mit dem Bundeskanzler sprechen“.

Verhältnismäßig selten gaben Männer an, Substanzen zu konsumieren, um Belastungen in Beziehungen zu bewältigen. So klagte ein Gießener Patient:115 „Er brauche Alkohol zum schlafen und um den ganzen Jammer seines Lebens zu überwinden. […] Sein Verhältnis zur Frau [sei] unmöglich, diese Frau, unförmig und dick, eine Mussheirat.“

Eine Kombination aus Pervitin und Alkohol bevorzugte hingegen Willi K., ein Arzt,116 der ebenfalls mit starken Eheproblemen zu kämpfen hatte. Der Mann war aufgrund seines regelmäßigen Methamphetaminkonsums mit paranoiden Symptomen in die Klinik gekommen und war überzeugt davon, dass seine Frau ihn aus dem Weg räumen wolle. Von der Paranoia abgesehen bestätigten mehrere fremdanamnestische Quellen die problematische Beziehung des Ehepaares. So gab der Pfarrer des Heimartortes an, „den Patienten habe [dessen Frau] unter der Vorspiegelung geheiratet, sie sei von ihm schwanger.“ Die Sprechstundenhilfe seiner Praxis gab an, die Frau habe „ihn in Gegenwart seiner Patienten mit den übelsten Ausdrücken (Hurenbock, Arschficker und dgl.) beschimpft.“ Der Pat. selbst klagte, „in sexueller Hinsicht sei seine Frau merkwürdig. Meist sei sie kalt. Mitunter gäbe sie sich aber so, wie sie es in 4 Wochen nicht habe lernen können. Während des Orgasmus nenne sie mitunter fremde – nicht seinen – Namen.“ Ein junger Gießener Schüler117 gab an, erst nach einer Auseinandersetzung mit seiner Freundin habe er aus Kummer seinen ersten Joint geraucht. Die meisten Patienten nahmen also Substanzen, um mit seelischen Belastungen umzugehen. Das Erwerbsleben spielte dabei eine zentrale Rolle, weniger wichtig, aber dennoch deutlich präsent war der Wunsch nach Selbstsicherheit und Bewältigung von Beziehungsproblemen. Damit war die Selbstmedi112 113 114 115 116 117

PUH 73/206. PUH 63/362. UAG 75/522. UAG 59/1714. UAG 55/602. UAG 69/81.

4.5 „Wenn er Bier getrunken habe, könne er auch mit dem Bundeskanzler sprechen“ 161

kation die erste Bewältigungsstrategie, bei der der Faktor Männlichkeit deutlich hervortrat. Tab. 15 Dokumentation von Selbstmedikation Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt Patienten, die Alkohol und andere Substanzen zur Selbstmedikation nutzten, davon: Motiv Erhaltung der Arbeitsfähigkeit Motiv Bekämpfung von Angstzuständen Motiv Bekämpfung von Kummer

681 62 23 8 6

Alkohol

41

Arzneimittel

18

Illegale Drogen

10

5. Soziale Beziehungsnetzwerke 5.1 „Er ist halt jetzt so krank, man muss sich um ihn halt kümmern“ – Mütter Die Mütter der Patienten wurden in den psychiatrischen Krankenakten oft nicht besonders positiv geschildert. Sogenannte „Inadäquate Abhängigkeitsverhältnisse“ wie Überfürsorglichkeit, Parentifizierung bis hin zum Missbrauch heranwachsender Männer als Partnerersatz oder gar Sexpartner weckten schon vor der Verbreitung der auf frühkindliche Traumata fokussierten psychodynamischen Schulen ab den späten 1960er Jahren die Aufmerksamkeit der Psychiater. Bei insgesamt 46 Patienten notierten die Ärzte, dass sich die Mütter der Patienten in einem solch engen Verhältnis zu ihren Söhnen befänden oder befunden hätten, dass dies einen mehr oder weniger bedeutsamen pathogenen Faktor darstelle. Bei 31 wurde dies eingehender in den Akten thematisiert.1 Inadäquate Abhängigkeitsbeziehungen spielten vor allem eine Rolle bei der Erklärung von Diagnosen bei akuten Krisen, Neurosen und Psychopathien/Persönlichkeitsstörungen, und zwar bei solchen, die mit Symptomen von Angst und Depressivität einhergingen. Am häufigsten waren Diagnosen wie Depressive Reaktion oder Neurotische Depression, Neurasthenie oder hypochondrische Entwicklung. Zu dieser Gruppe lassen sich auch die sogenannten „Hysteriker“ unter den Patienten einordnen. Mit großem Abstand folgten drei etwa gleich starke Gruppen: 1. Männer mit diversen anderen Neurosen/Psychopathien, 2. Männer mit substanzbezogenen Störungen und 3. einige Männer mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Daher spielten postulierte „Maskulinitätsdefizite“ als Konsequenz der Mutterbindung eine deutlich hervortretende Rolle. Dies zeigte sich am deutlichsten an der relativ hohen Zahl von schwulen oder bisexuellen Patienten unter diesen Fällen, die sich auf alle möglichen vorkommenden Diagnosen verteilten. Doch auch bei der Mehrheit der als heterosexuell eingestuften Männer spielten Ängstlichkeit, Depressivität oder „Hysterie“, Eigenschaften also, die tendenziell auf untergeordnete Männlichkeit bzw. „Weiblichkeit“ verwiesen, die größte Rolle, wenn die Ärzte den Einfluss von Müttern auf die seelische Gesundheit ihrer Söhne taxierten. Darüber hinaus tauchten die Mütter nicht bloß als Risikofaktoren für die seelische Gesundheit ihrer Söhne auf, sondern auch oft noch gleichzeitig als Behandlungshindernis.2 Ebenso wie andere Angehörige traten sie nämlich 1

2

UAG 53/313, UAG 65/585, UAG 61/1081, PUH 63/367, PUH 63/206, PUH 63/463, PUH 63/343, PUH 63/401, PUH 63/249, PUH 63/456, PUH 63/213, PUH 73/210, PUH 73/54, PUH 73/181, PUH 73/50, PUH 73/384, PUH 73/351, PUH 83/367, PUH 83/29, PUH 83/50, PUH 83/164, PUH 83/366, PUH 83/322, PUH 83/180, UAG 65/585, UAG 70/174, PUH 93/443, PUH 93/339, PUH 93/410, PUH 93/123, PUH 73/318. PUH 63/213, PUH 63/463, PUH 83/322, PUH 73/185, PUH 93/410, PUH 93/88, PUH 83/50, PUH 83/29, PUH 73/343, PUH 83/70, PUH 73/351, PUH 73/185, PUH 83/322.

5.1 „Er ist halt jetzt so krank, man muss sich um ihn halt kümmern“

163

nach Abschluss der Anamnese meist nur noch in Erscheinung, wenn sie aus Sicht der Ärzte versuchten, die Behandlung zu beeinflussen bzw. zu verhindern. Schließt man sich der ärztlichen Sicht auf psychische Gesundheit an, so gewinnt man aus den Akten also eine Fülle von Informationen über die potentiellen Risiken, denen ein Mann als Sohn einer Mutter in der Bundesrepublik ausgesetzt war. Ob Mütter auch Gesundheitsressourcen sein konnten, ist aus den Akten wesentlich schwerer zu rekonstruieren. Am ehesten gelingt dies, wenn man sich auf ihre Rolle als Bezugsperson der Männer außerhalb der Klinik konzentriert. Anamnestische Daten über die Patienten beispielsweise lieferten die Mütter häufiger als die Väter, wenn die Söhne noch minderjährig waren; dann waren es sogar fast ausschließlich die Mütter. Von 681 Patienten waren in 111 Fällen Mütter bereit, um den Psychiatern benötigte Informationen zur Biographie und zur Vorgeschichte der akuten Krise ihrer Söhne zu geben. Die ersten beiden Jahrzehnte des Untersuchungszeitraumes blieben Patienten (im Gegensatz zu ihren Ärzten) eher stumm, wenn es um ihre Mütter ging. Dies änderte sich deutlich mit der Popularisierung der Psychoanalyse.3 1963 kam der 34-jährige Ingenieur Paul D.4 mit depressiven Symptomen in Begleitung seiner Ehefrau und seiner Mutter in die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg. Der aufnehmende Arzt befragte zunächst die Ehefrau des Patienten. Diese gab an, dass ihre Ehe sehr darunter leide, dass ihre Schwiegermutter sie ständig mit Vorwürfen traktiere. Früher sei der Gegenstand der Kritik hauptsächlich ihre Haushaltsführung gewesen. Seitdem ihr Mann sich nicht mehr im Stande gesehen hatte, seine Arbeit auszuführen, habe sie ihr die Schuld an dem Zustand des Patienten gegeben. Der Arzt beschrieb die Schwiegermutter, mit der er im Anschluss sprach, als „eine sehr impulsive, mitteilungsfreudige und etwas dominant wirkende Frau.“ Im Laufe der drei Monate, die Paul D. in der Klinik verbrachte, meldete sich seine Schwester per Post an die Klinikleitung ebenfalls zu Wort und berichtete, ihre Mutter hätte schon im Vorfeld des Aufenthaltes auch ihr und ihrem Mann eine Mitschuld am Zustand des Bruders zugeschrieben. Daraufhin wurden die Ärzte in einen Familienstreit mit einbezogen, der durch zahlreiche Briefe, Kopien von Briefen und Postkarten zwischen der Mutter und der Schwester, zwischen dem Psychiater und der Schwester, sowie zwischen diesem und der Mutter in der Krankenakte überliefert wurde. Die Schwester und ihr Mann vertraten die Ansicht, dass Paul D. in seinem jetzigen Beruf als Ingenieur von Anfang an überfordert gewesen sei – eine Einsicht, gegen die sich die Mutter wehre, indem sie ihn zum Kranken erkläre, dessen Zustand gleichermaßen durch ungünstige Umstände wie durch die Missgunst der Schwester einerseits und die Pflichtvergessenheit der Ehefrau auf der anderen Seite zu erklären sei. Ein überlieferter Brief der Mutter bestätigte, dass diese sich vor allem um den Statuserhalt des Sohnes Sorgen zu machen schien und dass, wenn dieser schon nicht mehr in der Lage sei, seine Arbeit auszuüben, dies auf keinen Fall an 3 4

Siehe Abschnitt 2.3.1. PUH 63/401.

164

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

ihm selbst liegen könne und man daher auch nicht über andere Berufsperspektiven zu diskutieren habe. „Bis die HJ begann alles schön und gut [… dann] sehr viel Dienst, fast 100 % Zeitvergeudung- Gleichzeitig Landarbeitseinsatz (reichsbeste Stadt!), der geradezu in schamloser Weise betrieben wurde. Nicht etwa im Wechsel Landarbeit und Schule, sondern die Kinder waren 4 Jahre lang von Frühjahr bis Herbst Tag für Tag abrufbereit von der Schulbank weg.“ Nach dem Krieg seien sie unter Strapazen „aus der Ostzone“ entkommen. Daraufhin habe es „wieder [ein] andres Schulsystem gegeben. […] Schwer Anschluss zu finden für [P.] […] Alle die ja nur kurz gestreiften Anstrengungen (und Ablenkungen vom Lernen) über Jahre hinaus ohne Pausen zur Neukräftigung führten meines Empfindens nach mit zu [P.’s] jetziger Erschöpfung. Ich bin es [sic] nicht imstande gewesen, meine Ansichten und Vorschläge in Richtung Nachholbedarf an Lernen und Wieder-kräftigen durchzusetzen […]. Sehr ungünstig beeinflusst hat P. ein viertägiger Aufenthalt im Mai bei seinem Schwager in [Ortsname] (wir dachten uns diesen als wohltuende Abwechslung und Ablenkung!), der ihn in seinen Wahnvorstellungen (Schuld) bestärkte unter Hochspielen eigener Leistungen (Dipl. Handelslehrer, Studienrat). Auch seine Schwester erkennt ein Kranksein von P. nicht an. Wie mein Mann und ich später erst erfahren haben, haben ihm beide Versagen, Faulheit, Unselbstständigkeit vorgeworfen.“

Der Arzt kam während des 90-tägigen Aufenthaltes, nach einer zusätzlichen psychologischen Untersuchung mit Intelligenztest, zu dem Schluss, dass Paul D. tatsächlich auffallend unbegabt für seinen Beruf sei. Laut Akte zeigte sich dieser sehr erleichtert über die Perspektive, nun beruflich etwas anderes machen zu können. Angesichts der Tatsache, dass „doch recht beträchtliche Spannungen zwischen den Eltern und der Ehefrau bestanden zu haben [schienen, versuchten wir] vorsichtig, besonders die recht dominante Mutter des Pat. auf die pathogenetische Bedeutung dieses Sachverhaltes hinzuweisen.“ Und nochmals: „[es] wird insbesondere der Mutter ans Herz gelegt, ihre bis dato sehr enge Beziehung zu ihrem Sohn doch etwas zu lockern und diesem etwas mehr Freiheit zu gewähren, was diese auch zusagt.“ Ein weiteres Beispiel für eine Mutter, die ihren Sohn in einem inadäquaten Abhängigkeitsverhältnis hielt, fand sich in einem forensischen Gutachten aus dem gleichen Jahr. Der Prokurist Dr. Jur. Adalbert F.5 wurde 1963 „von seiner früheren Freundin […] beschuldigt, sie […] in seinem Auto mit Gewalt zur Duldung des außerehelichen Beischlafs gezwungen zu haben [nachdem sie angekündigt hatte, sich von ihm zu trennen …]. Zweifel an seiner strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit […] entstanden, weil F. vor einigen Jahren wegen einer seelischen Störung in einem Nervensanatorium behandelt wurde.“ Damals war er „in Anschluss an einen seelischen Konflikt (er hatte sich von einer Freundin nach 8-jähriger Bekanntschaft getrennt) in zunehmende ängstliche Unruhe [geraten]“, er war schlaflos und äußerte Selbstmordgedanken. Das Verhältnis mit dem Mädchen damals hatte er „auf Anraten seiner Mutter gelöst.“ Der damalige behandelnde „Nervenarzt“ war der Ansicht, der Zustand F.s sei „durch das überängstliche Verhalten der Mutter ungünstig beeinflusst worden. Zur Mutter habe er eine überstarke Bindung [gehabt].“ Schilderungen wie diese, in denen Mütter eine Mitschuld für die Angst und Depressivität (seltener Gewalttätigkeit, wie im letztgenannten Fall) von Patienten gegeben wurde, fanden sich zwar immer wieder, waren jedoch alles 5

PUH 63/343.

5.1 „Er ist halt jetzt so krank, man muss sich um ihn halt kümmern“

165

andere als eine notwendige Bedingung für die Stellung einer solchen Diagnose. Auch Ulrich F.s6 Depression erklärten die Ärzte auf diese Weise. Bei dem jungen Gerichtsreferendar kam, wie bei vielen anderen schwulen Patienten, aber hinzu, dass die Mutter noch zusätzlich als Ursache für dessen sexuelle Orientierung betrachtet wurde. Die Mutter, so der Arzt, „lässt den Untersucher kaum zu Wort kommen, auch auf mehrmalige Aufforderung hin erzählt sie die wildesten Dinge, verharmlost alles und nimmt den Pat. derartig in Schutz, dass eine längere Exploration völlig sinnlos ist. Sie ist insbesondere völlig uneinsichtig darüber, dass sie den Sohn aus ihrer Fürsorge und Obhut entlassen müsse, sie meint, dass diese überhaupt nicht stattfinde und in einem erneuten Wortschwall wird dem Untersucher bedeutet, warum er so im Irrtum ist. Man sei halt eine Mutter, er sei halt jetzt so krank, man müsse sich um ihn halt kümmern.“ Die Mutter bestätigte den Eindruck des Arztes in dem Brief, den sie nach dem Suizid ihres Sohnes an die Klinik schrieb. Sie warf den Ärzten eine Fehlbehandlung vor. Sie hätten ihn von den Dingen abgelenkt und entfernt, die ihrer Ansicht nach gut für ihn gewesen seien, Dinge, die im Wesentlichen aus Äußerlichkeiten bestanden. Die Ärzte hätten ihm „immer wieder gesagt, er müsse sich von zu Hause trennen. […] Es gefiele ihm daheim sehr gut, denn wir haben eine nette Wohnung, die unser Sohn erst Ende vorigen Jahres nach seinen Wünschen im Wesentlichen einrichten durfte. […] Was unseren Sohn sehr mutlos machte war, daß ihm von den dortigen Ärzten immer wieder gesagt wurde, er würde es immer schwerer im Leben haben als andere. […] Wir versuchten ihm das immer auszureden und ihm vor Augen zu führen, daß er ja bis jetzt bewiesen habe, daß ihm alles sehr leicht gefallen sei. Das Abitur, wo viele zuvor unsagbar lange daran arbeiten, schaffte er als Bester […] und ohne lange Vorbereitung. Das Staatsexamen machte er in [Name einer Universitätsstadt], in [Universitätsstadt] wird bekanntlich am meisten verlangt und dafür auch entsprechend bewertet, trotzdem bestand er es mit Prädikat.“ Auch die Mutter von Hans A.,7 der wegen einer „Depressiven Entwicklung“ stationär aufgenommen werden sollte, wurde dementsprechend charakterisiert. Die „neurotisch und wenig empathisch wirkende Mutter [habe sich] in einem theatralisch anmutenden Aufschrei und Stampfen mit den Beinen gegen die Aufnahme [ihres Sohnes] gewehrt.“ Die dominanten und überfürsorglichen Mütter traten häufig mit eigenen Vorstellungen darüber, wie die Behandlung ihrer Söhne auszusehen habe, in den Vordergrund. Auch die Mutter Ulrich F.s hielt offenbar andere Methoden, als die von den Ärzten angewandten, für zielführender. „Wir glaubten, er würde mit Schlafkuren behandelt, was doch in seiner Gemütsverfassung das beste [sic] gewesen wäre.“ Die Mutter eines arbeitslosen Facharbeiters8 verhinderte aus Sicht der Ärzte die Krankheitseinsicht ihres Patienten. Sie sei die Ursache dafür, dass dieser nicht bereit war, eine psychogene Deutung seiner depressiven Beschwerden zu akzeptieren. Die Mutter, die den Patienten „wie ein kleines Kind“ behandelt habe, sei überzeugt gewesen, er leide an einer körperlichen Krankheit. Sie habe ihrem Sohn daher zu Heilbehandlungen wie 6 7 8

PUH 63/213. PUH 63/463. PUH 83/322.

166

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

„Akkupunktur“ und „Massagen“ gebracht. „Homöopathische Ohrenstäbchen“, „Vitamine“ sowie das spagyrische Präparat „Psy-Stabil“ hatte die Frau gegen den Willen der Psychiater sogar in die Klinik mitgebracht. Wie die Mütter von Ulrich F. und Hans A. waren auch andere Mütter alles andere als begeistert, wenn Ärzte ihren Patienten nahelegten, etwas Distanz zu ihren Kindern zu halten oder gar diese zu unterstützen, von zu Hause auszuziehen. Die Mutter eines 25-jährigen soziophoben Patienten9 habe den Sinn des Klinikaufenthaltes grundsätzlich bezweifelt und auf die Ratschläge der Ärzte hin gefragt, „ob er denn wirklich ausziehen müsse.“ In einigen Fällen entfernten Mütter ihre Söhne auch vorzeitig aus der Klinik. In dem Fall eines siebenjährigen Jungen,10 dessen Mutter ihn vorzeitig aus der Klinik holen wollte, initiierten die Psychiater gar zusammen mit dem Jugendamt, dass der Mutter das Sorgerecht entzogen wurde. Meist waren die Grenzen dieser „Überfürsorglichkeit“ zum emotionalen Missbrauch fließend. Gerade die psychodynamischen Schulen fokussierten auf den in solchen Fällen mehr oder weniger manifesten inzestuösen Hintergrund. Fürsorglichkeit und Erziehung diente hier den Frauen als Vorwand, um eigene Bedürfnisse nach Zärtlichkeit, Partnerschaft und schlimmstenfalls sogar Sex11 oder sadistischer Lust zu befriedigen. Eine Psychologin der Erziehungsberatungsstelle des Heimatortes von Uwe T.12 schrieb über dessen Mutter, dass er an ihr „mit zärtlicher Liebe hing und von [ihr] emotional stark abhängig war und ist, was [sie] wohl von sich aus immer sehr befördert hat.“ Der Psychiater von Bernd H.13 versuchte, dessen Mutter klarzumachen, „daß wohl der vorausgegangene körperliche Kontakt bei dem pubertierenden Jungen bezüglich der Ablösung des Kindes von den Eltern zu großen Schwierigkeiten führen könne. Diese Ablösung sei sicherlich nicht nur schwer für den Jungen, sondern auch für die Eltern, besonders die Mutter. Die Mutter fängt daraufhin an zu weinen.“ Mit dem körperlichen Kontakt war unter anderem gemeint, dass Bernd „immer sehr unselbstständig geblieben [sei]. Bis zuletzt habe die Mutter ihn gewaschen, gebadet, geduscht und gekämmt.“ Der Jugendliche schlief auch im Alter von 15 Jahren noch neben der Mutter im gleichen Bett. Ein anderer Patient14 tat dies noch im Alter von 24 Jahren, ähnlich wie der folgende Gießener Patient:15 „So würde der Pat. auf den Bericht der Mutter sich […] nicht einmal regelmäßig waschen, wenn sie ihn in dieser Hinsicht nicht regelmäßig streng beaufsichtigen würde.“ Eine andere Gießener Mutter „sei sehr vorsichtig mit dem Kind umgegangen, damit ihm ja nichts passiere. Sie hätte ihn nicht aus dem Haus gelassen, ihn nie allein gelassen. Er habe kaum Kontakt mit anderen Kindern gehabt.“ 16 9 10 11 12 13 14 15 16

PUH 73/185. PUH 73/351. UAG 58/1044. PUH 73/181. PUH 73/50. PUH 63/206. UAG 56/1114. UAG 73/723.

5.1 „Er ist halt jetzt so krank, man muss sich um ihn halt kümmern“

167

Gerade in der Zeit nach dem Krieg fanden sich auch Schilderungen von Parentifizierung, etwa bei Halbwaisen: „Mutter schwerkrank […] Er sei der Älteste gewesen und habe früh die Aufgaben des Vaters übernehmen müssen.“17 Der Patient „wurde im wesentlichen von der Mutter großgezogen […] Er selbst habe sich aber um die Mutter, die früher häufig unter Asthmaanfällen litt, mehr gekümmert als der ältere Bruder. Nachts bei ihren Anfällen sei er immer als erster bei ihr gewesen.“18

Seltener als inadäquate Abhängigkeitsverhältnisse berichteten die Akten über körperliche Übergriffe.19 Zum Teil spiegelt dies wohl schlicht die historische Tatsache wider, dass die Körperstrafe als Erziehungsmethode zu diesem Zeitraum weiter verbreitet war als heute: „seit Januar diesen Jahres sei er häufig nachts nicht nach Hause gekommen. Nachdem seine Mutter ihn [in solchen Fällen] dann verprügelt hatte, sei er noch verstockter geworden.“ 20 Ein Gießener Patient, der die Monatskarte seines Verkehrsverbundes verloren hatte, wurde von seiner Mutter gezwungen, „2–3 Wochen lang jeden Tag 60 km mit dem Fahrrad zur Lehrstelle zu fahren.“ Ein Mann21 erinnerte sich, dass seine Mutter ihn nackt ausgezogen und prügelnd durch das Dorf getrieben habe, zur Strafe dafür, dass er das Bett genässt hatte. Eine andere Mutter22 „mißhandelte ihren Sohn regelmäßig mit extra dafür ersonnenen Methoden. So goß sie Maiskörner auf den Boden, ließ den Sohn darauf knien und peitschte ihn aus. Wenn er dann anfing zu weinen, musste er in eine Art Dunkelkammer. Auch verbal wurde er gedemütigt. Später wurden die Erinnerungen an diese Situation ihm als Hirngespinste und Märchen eines zu „sensiblen Kerlchen“ ausgelegt.“ Informationen darüber, wie Patienten selbst ihr Verhältnis zu ihren Müttern betrachteten, ließen sich vor allem zu Beginn des Untersuchungszeitraumes aus den Akten kaum entnehmen. Entsprechende Zitate sollten die vorhandene bzw. abwesende „Krankheitseinsicht“ der Patienten belegen, also deren Bereitschaft, die ärztlicherseits an sie herangetragene „Notwendigkeit der Distanz“ zu ihren Müttern als wesentliche therapeutische Maßnahme zu akzeptieren. Der Patient Claus S.23 beispielsweise habe eingesehen, „dass er in den vergangenen Jahren alle wichtigen Entscheidungen weggeschoben habe, dass es nun an der Zeit sei, dass er sich auch selbst entscheide. […] Er sei sich auch völlig im Klaren darüber, dass er sich allmählich in vielen Dingen von seiner Mutter freimachen müsse, dass er sich hier nicht bevormunden lassen dürfe. So wisse er wohl auch, dass er sein Verhältnis zu [der Freundin] vielleicht aus dem Grund nicht klar entschieden habe, weil die Familie dieses Mädchens seiner Mutter nicht angenehm war.“ Doch auch unabhängig von direkter ärztlicher Gesprächsführung thematisierten Patienten das Verhältnis zu ihrer Mutter immer wieder. Claus S. führte während seines Aufenthaltes ein ausführliches Tagebuch über seine Träume, in denen 17 18 19 20 21 22 23

UAG 61/1081. Zur Parentifizierung in der Nachkriegszeit siehe Franz (2011). UAG 65/585. UAG 73/392; PUH 83/327. PUH 73/372. PUH 83/32. PUH 93/339. PUH 63/401.

168

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

auch seine Mutter immer wieder vorkam und die möglicherweise Ausdruck der Autonomiekonflikte waren, die die Ärzte bei ihm diagnostizierten. „2./3. Oktober Ich klettere auf einen Hochsitz, der knackt und ist am Zusammenbrechen; drunten stehen meine Mutter u. a., sie warnen mich, aber ich lache und klettere weiter da oben rum. Plötzlich kann ich verstehen, was Mut ist, wie mir ein Onkel aus dem Kriege erzählte […] 5./6. Okt. Ich werde gesucht; will abhauen nach [unleserlich], und nicht nach Heidelberg fahren. Aber der Weg ist versperrt, wohl Polizei. Taschenlampe leuchtet mich an, ich will mich stellen, aber es ist meine Mutter. 09. Okt. Im Wohnzimmer, meine Schwester sitzt am Tisch mir gegenüber; ruht vor mir, undeutlich, meine Mutter. Meine Schwester hat oberhalb der Gürtellinie nichts an. Ich sehe hin, als sie das bemerkt, sagt sie: ‚bist du denn verrückt?!‘ Aber es ist gar nicht mehr meine Schwester, es ist eine klassisch schöne weibliche Plastik, gut gebaut. […] 13. Okt Dann kommt meine Mutter, wir gehen per Arm im Arm durch eine Wirtschaft am Wald; ich schüttele sie ab. […] 19./20. [Oktober 1963] Ich bin mit Mutter in Heidelberg; auf dem Weg zum Bahnhof – sie hat etwas vergessen, und will selbst zurück, aber ich setzte durch, daß ich gehe“

Ab ca. 1970 taucht die Mutter in den Akten jedoch deutlich häufiger auf. Grund hierfür war in vielen Fällen erkennbar die Popularisierung psychoanalytischen Wissens bei den Patienten (sowie die Verbreitung dieser Therapieschule bei den Ärzten), wie sie oben schon in den Abschnitten 2.3.1 und 2.3.4 beschrieben wurde. Entsprechende Aussagen und Selbstzeugnisse stammten meist aus bildungsnahen Milieus. Seit den 1970er Jahren häuften sich die Patienten, die sich selbst – völlig unabhängig von Ärzten bzw. Therapeuten und bei den verschiedensten Beschwerden – einen „Ödipuskomplex“ diagnostizierten. Ein schizophrener Patient,24 der seiner Mutter, nach eigenen Angaben inspiriert von dem US-amerikanischen Kommunenführer Charles Manson, ein Messer in den Bauch gerammt hatte, meinte, „daß seine Erkrankung mit einem negativen Odipuskomplex [sic] zusammenhänge. Er erinnere sich noch gut daran, wie er als kleiner Junge im Bett der Mutter habe schlafen wollen. Er habe das Bedürfnis, über seine Jugend zu sprechen, da er glaube, daß zu diesem Zeitpunkt die Grundlage für sein jetziges Verhalten gelegt wurde.“ Über die Popularisierung der Schriften Freuds, aber auch durch die Verbreitung analytischer Psychotherapie seit der Anerkennung als Kassenleistung 1967 wurde es vor allem im akademischen Milieu, aber auch weit in andere Schichten hinein üblich, über die Rolle der eigenen Mutter, und damit auch über den Vater, für den eigenen Leidensweg zu reflektieren, bzw. zu spekulieren. Für viele Ärzte, auch psychodynamisch orientierte, war das verbreitete Interesse der Patienten an ihrer Psychosexualität ein zweischneidiges Schwert. Patienten, die hierüber spekulierten, hatten aus ihrer Sicht Probleme, die mit einer gescheiterten psychosexuellen Entwicklung nicht direkt etwas zu tun hatten; lange Zeit lehnte die Mehrheit der Psychiater die Psychoanalyse ohnehin ab. Es häuften sich auch kritische Einträge von Ärzten über Patienten, die keine andere Deutung ihrer Beschwerden mehr zuließen, als dass ihre Mutter 24 PUH 73/71a.

5.1 „Er ist halt jetzt so krank, man muss sich um ihn halt kümmern“

169

(oder die Eltern generell) für ihren gegenwärtigen Zustand verantwortlich zu machen seien.25 An solchen Stellen wurden die Mütter dann entlastet, die, zumindest wenn Ärzte über sie schrieben, selten anders geschildert wurden als „pathogen“ oder eben als Behandlungshindernis (und häufig beides zugleich). Gegen den Strich gelesen zeigen die Akten auch noch eine andere Seite. Von allen Einzelpersonen, die als Angehörige mit den Patienten in der Klinik in Kontakt standen – das heißt, die die Männer zur Aufnahme begleiteten, den Ärzten die objektive Anamnese gaben und die Männer in der Klinik besuchten – wurden Mütter in der Häufigkeit der Nennung lediglich von den Ehefrauen übertroffen. Bei minderjährigen Patienten – im Untersuchungszeitraum waren dies immerhin bis 1974 auch die bis 21-jährigen – übernahmen gar fast ausschließlich Mütter diese Funktion, sofern es sich nicht um Heimkinder handelte. Schließlich kooperierten viele Mütter auch bei der Behandlung ihres Sohnes: „Legen Sie ihm bitte nah, seine Pillen zu nehmen, ohne die geht er uns nicht so recht“, schrieb eine Frau26 an die Psychiater in der Gießener Klinik. Die Mutter eines anderen Patienten27 händigte den Ärzten folgenden Brief aus, den sie laut ihrem Sohn hätte frankieren und einwerfen sollen: An die Koblenzer Staatsanwaltschaft: Sehr geehrte Herren! / Schicken Sie bitte eine Untersuchungsgruppe von Staatsanwälten zur Ermittlung folgender Delikte: Freiheitsberaubung ohne Anlaß mit Erpreßung. Justizbehörde Korbach: Ungenießbares Essen Psychiatrische Anstalt Gießen. Zwang zur Einnahme von Pillen, die Quatsch sind und ohne jegliche Wirkung. Außerdem in Haina: Anwendung von Zwang zur Einnahme von Tabletten, die wirkungslos sind. Verletzung der persönlichen Freiheit seitens des Herrn [A.]. Ferner ist zu ermitteln gegen Herrn [B.], psychiatrische Klinik Marburg. Delikt: Anwendung v. Tabletten, die Schmerzen erzeugen.

Bei der Mehrheit der Mütter dokumentierten Psychiater zudem keinerlei übergriffige Beziehungen. Dies heißt natürlich nicht, dass es solche nicht auch dort gegeben haben könnte, aber es zeigt, dass die „pathogene Mutter“ selbst für Psychiater ein Faktor unter vielen war. Auch der oben zitierte Brief der Mutter von Ulrich F. offenbarte nicht lediglich, dass diese mit ihrem Sohn in einem offensichtlich problematischen Verhältnis stand. Angesichts der Tatsache, dass der junge Mann, von seiner Familie isoliert, sich über Wochen gegen 25 Ohne im Folgenden die Leiderfahrung der Opfer inadäquater Abhängigkeitsverhältnisse in Abrede zu stellen, haben feministische Autoren und Autorinnen nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Mütter durch den therapeutischen Diskurs, aber weit über diesen hinaus, die Funktion des Sündenbockes eingenommen haben, ohne dass dabei über die Mitverantwortung anderer Beteiligter und gesamtgesellschaftlicher Strukturen gesprochen wird. „Im Bild der bösen Mutter sammelt sich inzwischen alles, was wir an negativen Eigenschaften aufzubieten haben: Es kommt in den Therapien auf, in Lebensberichten, in theoretischen Abhandlungen, in den Massenmedien: Sie ist besitzergreifend, uneinfühlsam, kindersüchtig, klammernd, krallend, fressend, dominant, sich selbst mit dem Kind stopfend, lebensneidisch, wütend, aggressiv, überfürsorglich, symbiotisch. Sie ist die Neidmutter, die Mordmutter, der Inbegriff der Lebensbehinderung und der Missgunst, die Klebemutter, die dogmatische Herrin ihres Weltbildes, das sie wie eine Käseglocke noch weit bis ins erwachsene Leben hinein über ihre Abhängigen zu stülpen versucht.“ Rohde-Dachser (2013), S. 205. 26 UAG 70/17. 27 UAG 72/521.

170

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

aggressive Konversionstherapien zur Wehr setzen musste, deren Suizidogenität heute belegt ist, muss man freilich fragen, ob diese nicht doch schlimmer als die Behandlungsvorstellungen der Mutter waren. „Als ich unseren Sohn seinerzeit zur Klinik brachte […] wurde mir auch gesagt, daß viel Gymnastik gemacht würde, denn darauf lege ich größten Wert, denn durch körperliche Bewegung wird viel erzielt. […] Leider wurde dies nur ganz am Rande getan, mein Sohn meinte, es sei kaum der Rede wert gewesen.“ Tab. 16 Dokumentation von Müttern im sozialen Beziehungsnetzwerk der Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Mütter als Behandlungshindernis

12

Inadäquate Abhängigkeitsverhältnisse, davon:

31

Patienten mit vermehrter Symptomatik von Angst und Depressivität

25

Mütter als Bezugspersonen für Ärzte und Patienten

111

5.2 „Die Kinder dürfen nicht merken, daß man sie lieb hat“ – Väter Was Väter anbelangt, so waren die Anlässe für ihr Auftauchen in den Akten ähnlich wie bei den Müttern. Nicht viel seltener als die Mütter waren sie Bezugspersonen, also zumindest bei der Anamnese ihrer Söhne zugegen: 96 mal bei 681 Patienten (Mütter 111 mal). Tendenziell galt, je älter die Söhne waren, desto häufiger kamen Väter mit ihnen in die Klinik. Bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen also häufte sich die Präsenz der Väter. Wenn diese Väter jedoch selbst durch Psychiater beschrieben wurden, dann erschienen sie eher in ihrer Eigenschaft als pathogene Faktoren, genau wie die Mütter. Auch hier handelte es sich überwiegend um Patienten mit Neurosen und Psychopathien/Persönlichkeitsstörungen, bei denen der väterliche Einfluss weitergehend, aber, wie bei den Müttern, keinesfalls ausschließlich thematisiert wurde. Und auch hier spielte die psychoanalytisch geprägte Neurosenlehre seit den 1960ern eine immer wichtigere Rolle, wenngleich die Väter in anderer Form auch zuvor als bedeutsam für die seelische Gesundheit ihrer Söhne betrachtet und thematisiert wurden. Ob im Falle von leiblichen Vätern oder von Stiefvätern: Viele Patienten berichteten von unerträglichen Zuständen während ihrer Kindheit, die sich durch Alkoholkonsum oder Gewalttätigkeit ihrer Väter – oft durch beides – ergeben hätten. Die heutigen Erlebnisberichte von Kriegskindern vorwegnehmend, setzten viele Patienten diese Vorgänge schon damals mit der Zeit in Verbindung, die ihre Väter als Soldaten verbracht hatten. Nicht nur Ernst T.,28 der mit seinem desertierten Stiefvater auf engstem Raum leben und zwei Jahre lang Prügel einstecken musste, berichtete von 28 PUH 53/240.

5.2 „Die Kinder dürfen nicht merken, daß man sie lieb hat“ – Väter

171

solchen Vorgängen. Äußerungen wie die eines jungen Gießener Patienten,29 der seinen Ärzten mitgeteilt hatte, sein Vater sei ein richtiger „Familiendiktator. Er sei auch Spieß bei der Wehrmacht gewesen“, gehen in die gleiche Richtung. Dass die kriegsbedingte Brutalisierung bestimmter Väter von Patienten etwas mit deren Gewalttätigkeit zu tun hatte und diese wiederum mit dem psychischen Zustand ihrer Söhne, hielten viele Ärzte auch schon vor dem Eskalieren des Generationskonfliktes um 1968, in dem die autoritäre Prägung der Elterngeneration ein Kernthema wurde, für durchaus plausibel und dokumentierungswürdig. So bemerkte ein Arzt 1963, dass ein Vater emotional keinen großen Anteil am Schicksal des Sohnes nähme, er spräche lieber von sich selbst, „und was er selbst so alles nach dem 1. Weltkrieg geleistet habe, in welchem Korp [sic] er war, etc.“ Zur Genesung seines Sohnes fiel ihm nur noch ein, „dass der Junge zu gefühlvoll sei, […] man solle ihm eine Schockbehandlung geben, es gehe so nicht weiter.“ 30 Die Veteranen, die wegen ihrer Verletzungen iatrogen süchtig geworden waren, fanden sich nach einigen Jahren nicht mehr bloß als Kranke in den Kliniken ein, sondern auch als Väter junger Patienten. Uwe T.s Vater „erlitt im Krieg eine Hirnverletzung mit Steckschuss, wonach er wegen Schmerzen Morphium über längere Zeit gespritzt bekam, süchtig wurde und [dann aber wieder] völlig davon wegkam. […] Trinke [nun jedoch] übermäßig viel Alkohol.“ Der Vater sei durch die Abhängigkeit „aggressiv und unbeherrscht“ geworden, weshalb es zur Scheidung mit der Mutter gekommen sei. Die Zugehörigkeit zur SS (nicht jedoch die zur Wehrmacht oder zur NSDAP) wurde in Heidelberg schon früh im Zusammenhang mit diversen pathogenen Eigenschaften dokumentiert. Dies galt nicht nur für Patienten selbst, sondern auch ggf. für deren Väter. Ein Patient31 hatte, nach seinem Verhältnis zu seinem Vater befragt, angegeben, „Mein Vater ist eine Nazi-Sau“, worauf die Ärzte dann auch den Lebenslauf des Vaters genauer als bei anderen Patienten erhoben und dokumentierten, dass dieser beim „Sicherheitsdienst in Posen“ gewesen sei. Als Angehörige der Generation der Kriegs- bzw. Nachkriegskinder und Babyboomer erwachsen geworden waren, machten einige bekanntlich ihren Vätern deren Verhalten im Nationalsozialismus wie auch ihr gegenwärtiges autoritäres Verhalten der jungen Generation gegenüber zum Vorwurf.32 Diese Thematisierung griffen neben dem oben geschilderten Fall auch weitere Patienten auf. So berichtete einer,33 sein „Vater sei ein altes Nazischwein, er habe auch schon versucht, seinen Vater anzuzeigen, habe schon einen Brief an die israelische Botschaft geschrieben, damit sie ihn vor ein Gericht stellen. Sein Vater müsse sterben. In diesem Moment, wo der Pat. über seinen Vater spricht, springt er plötzlich auf und brüllt Sätze wie ‚er oder ich, einer von uns muß ins Gras beißen‘ und Ähnliches. […] 29 30 31 32

UAG 65/701. PUH 63/341. PUH 73/186. Zu den Forschungen der Frankfurter Schule über den autoritären Charakter, die auf wissenschaftlicher Ebene Ausgangspunkt dieser Kritik gewesen sein dürften, sowie deren Beurteilung aus heutiger Sicht, siehe: Kiess/Decker et al. (2014). 33 PUH 83/41.

172

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

‚ich bringe das Schwein um‘ Er müsse jetzt wieder mehr, nachdem er aus der Isolation draußen sei, im Hof sich bewegen, müsse Muskeltraining machen, damit er die nötige Kraft habe, um es dem Vater zu zeigen.“ Für Ärzte waren Fälle wie dieser wiederum zu viel der Vergangenheitsbewältigung. Sie arrangierten ein Treffen zwischen Sohn und Vater, damit der Sohn sich überzeuge, dass seine Wut einem „Wahnbild“ gelte, nicht jedoch dem „eigentlichen“ Vater. „Der Vater selbst macht dagegen geltend, er habe zwölf Jahre Kriegsgefangenschaft hinter sich, sei eigentlich nicht freiwillig zur SS, sondern um das väterliche Bäckergeschäft zu unterstützen, er habe früher als Akkordarbeiter am Abend zu Hause seine Ruhe gebraucht, deswegen habe er wohl auch gelegentlich geschlagen, er selbst sei von seinem Vater auch geschlagen worden, das schade nichts, insgesamt bittet er den Sohn mehrfach um Vergebung, macht eher einen geknickten und nervösen Eindruck, meint, er habe versucht, für die Familie durch Arbeit zu sorgen, habe den Kindern auch immer Geld gegeben.“

In der Aussage des Vaters zeigte sich eine weitere Dimension des Problems solcher gewalttätiger Väter. Wenn man auch sicher nicht so weit gehen kann, zu behaupten, eine ganze Generation von Jungen sei durch regelmäßige Prügel erzogen worden, so war es doch mit Sicherheit vielen der Patienten so ergangen.34 Dies betraf auch nicht bloß die Söhne der Väter, deren Nähe zum Nationalsozialismus in den Akten vermerkt war. Ein Fremdenlegionär berichtete, er sei schon früh von zu Hause weggelaufen, „da sein Vater ihn häufig so geschlagen habe, dass er bewusstlos war. […] [er] habe ihn einmal im Holzstall mit den Beinen nach oben aufgehängt und verprügelt.“ 35 „Die Kinder dürfen nicht merken, daß man sie lieb hat.“ 36 Schon 1955 notierten Gießener Ärzte eine solche Aussage als Auffälligkeit, wenn sich auch die Problematisierung von Prügeln als Erziehungsmethode erst ab den späten 1960er Jahren zeitgleich zur gesamtgesellschaftlichen Kritik an autoritären Strukturen stark häufte. Der pädophile Sexualstraftäter Joseph M.37 berichtete seinem Psychiater: „Vater sei sehr autoritär gewesen. Er habe nichts spielen, nichts selbstständig machen dürfen. Wenn er anstatt Hausaufgaben zu machen, ein Buch gelesen oder mit Laubsäge [sic] gearbeitet habe, habe er Schläge bekommen. Typisch sei gewesen, wenn der Vater die Märklin-Eisenbahn aufgebaut habe. Die Kinder hätten mit den Händen im Schoß brav außen herumsitzen müssen und der Vater habe die Bahn bedient. Täglich, spätestens um ½ 5 Uhr nachmittags hätten sie gestriegelt oben sitzen müssen, damit es keinen Krach gegeben habe, wenn der Vater nachhause gekommen sei.“

Der Patient selbst bestätigte diese Angaben nochmals in seinem selbst verfassten Lebensbericht: „Mein Vater war sehr streng und schlug gleich. […] Mein Bruder

34 UAG 64/464; UAG 71/366; UAG 71/649; UAG 63/213; PUH 73/56; PUH 73/66; PUH 73/318; PUH 83/168; PUH 73/404; PUH 83/169. Siehe dazu auch: Müller-Münch (2012) sowie Müller-Hohagen (2014) und Müller-Hohagen (1994). 35 UAG 57/1393. 36 UAG 55/1478. 37 PUH 73/410.

5.2 „Die Kinder dürfen nicht merken, daß man sie lieb hat“ – Väter

173

legte sich unter das Lateinbuch einen Karl-May, da hatte ich viel zu große Angst entdeckt zu werden.“ Ebenso klagte der „renitente“ Jugendliche Thomas E. in einem persönlichen Brief an seine behandelnde Ärztin: „Pubertätskrise / bin damit [mit der Diagnose] nicht einverstanden, weil es so eine Verniedlichung ist, ich halts bei meinen Eltern nicht aus, habe Angst vor meinem Vater (Schläge) […] werde immer sensibler, angepasster.“38 Verhaltensweisen, die heute weitestgehend als psychische Probleme anerkannt sind, wie Bettnässen und Magersucht, behandelten manche der Väter (und Mütter) als Aufsässigkeiten. So auch im Falle des anorektischen Jungen Detlev H.:39 „Ergänzend erfahren wir, dass beide Eltern, speziell aber der Vater, den Jungen mit Schelten und Schlägen traktiert haben, als er vor einem halben Jahr begann nur noch unregelmäßig oder gar nichts zu essen. […] Der Vater berichtet jedoch, daß er umso weniger gegessen habe, je mehr er geschlagen worden sei. […] Der KV macht einen pathologisch sehr auffälligen Eindruck, er berichtet von sich, daß er stark auf Sauberkeit achte und z. B. kontrolliere, ob seine Frau auch sauber genug putze. Er habe seine Kinder früher versucht durch Schläge zu erziehen, damit aus ihnen anständige Menschen würden. Es handelt sich um einen zwanghaften, kontaktgehemmten, introvertierten Mann, der mit bleicher Gesichtsfarbe und im schweren Anzug einen insgesamt sehr starren, dabei gleichzeitig depressiven Eindruck macht, der nur, wenn er direkt angesprochen wird, scheu versucht, Blickkontakt aufzunehmen.“

Dieses Bild bestätigte der Junge selbst auch nochmals in einer handgeschriebenen Notiz in einem kleinen Lebenslauf: „Es kam dazu, daß ich Schläge bekam. Seit dem habe ich immer Angst wenn ich nach Hause komme. Mein Zimmer, sogar das ganze Haus erinnert mich immer an das Lernen und die Schläge, darum halte ich es daheim nicht mehr aus.“

In vielen Fällen war diese Gewalttätigkeit begleitet vom Alkoholismus der schlagenden Väter: „Die häuslichen Verhältnisse waren ziemlich schlecht. Der Vater kam sehr oft betrunken nach Hause und es gab jedesmal einen großen Streit mit der Mutter. Wenn der Vater nicht betrunken gewesen sei, konnte man gut mit ihm auskommen. Das geschah aber nicht oft.“40

Konflikte zwischen Vätern und ihren Söhnen gerieten immer wieder ins Blickfeld der Psychiater, nicht nur, wenn es sich um Väter mit NS-Vergangenheit oder Gewalttäter handelte. Insbesondere um 1968 häufen sich die Akten über renitente Jugendliche im Streit mit ihren Vätern, die mit Berichten über konflikthafte Ereignisse wie dieses belegt wurden: „Er hatte sich eine Beatles-Mähne wachsen lassen, doch hat ihn sein Vater gezwungen, sie beim Friseur schneiden zu lassen.“ 41

38 39 40 41

PUH 73/414. PUH 73/384. PUH 73/404. UAG 68/219.

174

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

Dies kann die realen Generationenkonflikte jener Zeit widerspiegeln; es könnte aber genauso gut sein, dass die Psychiater lediglich die öffentliche Debatte dieser Jahre in ihrer Zeit aufgriffen. Ein junger Mann42 kam in Begleitung seines Vaters 1969 in die Psychiatrische Universitätsklinik Gießen, wo letzterer dem Arzt klagte „Seit etwa 1 Jahr bemerkte der Ref., daß der Sohn sich ständig in Opposition befinde […] der Junge habe es ständig darauf angelegt zu zeigen, daß er selbstständig sei und das tue, was ihm passe. […] Er habe sich der Beatmusik gewidmet. Er sei sehr häufig etwa 3 bis 4 mal wöchentlich in den Beat-Schuppen gegangen.“ Dem Vater war das Verhalten und Aussehen des Sohnes zuwider, er „war gegen lange Haare“, es „kam zu Auseinandersetzungen wegen der Studentenunruhen.“ Zudem hatte der Vater ein Problem damit, „daß sein Sohn ein Mädchen mit nach Hause gebracht habe (‚Was bringste denn da für ne Zimtziege mit‘)“. Andere Patienten sprachen ihren Vätern die Legitimation für den in den Wirtschaftswunderjahren erarbeiteten Wohlstand ab, was sie politisch begründeten. So las man über Uwe T.: „Mit 18 ½ J. habe er dem Vater gesagt, er könne nicht in die Fa. eintreten. Er habe damals eine ausgesprochene Verachtung gegenüber dem Geld des Vaters entwickelt, habe nie Interesse für die Erfolge des Vaters gezeigt, diese vielmehr geschmälert.“

Ein anderer junger Mann habe als Zeuge in einer Eigentumssache völlig unerwartet zuungunsten seines Vaters ausgesagt und diesen im Gerichtssaal öffentlich als einen Ausbeuter beschimpft.43 Wie bei der Beurteilung der Mütter durch die Patienten betrachteten diese ab ca. 1970 auch ihre Väter unter (populär)psychoanalytischen Gesichtspunkten. Einigen Ärzten ging dies dann aber auch in eine etwas zu verkopfte Richtung, so etwa bei einem jungen Gießener Patienten: „In dieser Zeit nach dem Physikum sei ihm erstmals ein Buch von Freud in die Hand gekommen.“ Schon zuvor hatte der Mann „heftige Schmerzen in Kopf […] und Bauch [gehabt], die er [nun] dem Vater anlastete. […] Er glaubte, dass es notwendig sei, sich ödipal mit seinem Vater auseinanderzusetzen. […] Er habe [darauf] dem Vater gesagt, dass [dieser] ein Versager sei“,44 wodurch die Schmerzen aber auch nicht besser geworden seien. Über Aloys R.45 vermerkte der behandelnde Arzt eher befremdet: „Gestern Abend habe er mit einem Mitpat., der ähnliche Probleme habe, sadistische Phantasien über ihre Eltern ausgetauscht. Sie hätten sich ausgemalt, wie sie ihre Väter umbringen würden“. Genau wie die Mütter hatten auch die Väter eigene Vorstellungen von der adäquaten Behandlung ihrer Söhne, was immer wieder zu Problemen führte, die in den Akten vermerkt wurden. Diese ähneln im Wesentlichen den Konflikten, die Ärzte mit Müttern hatten, etwa, wenn sie ihre Söhne vorzeitig aus der Klinik holten oder überhaupt keinen Kontakt zu ihnen wollten. Auffallend häufig finden sich Aussagen von Vätern, die verneinten, dass es sich bei dem 42 43 44 45

UAG 69/81. Siehe auch UAG 68/229. PUH 93/88. UAG 71/359. UAG 73/392.

5.2 „Die Kinder dürfen nicht merken, daß man sie lieb hat“ – Väter

175

Zustand ihrer Söhne um eine behandlungsbedürftige Störung handle,46 wie im Falle von Detlev H.:47 „Für die Eltern, vor allem für den Vater scheint eine psychosomatische Genese der Symptomatik des Jungen nur schwer einsehbar. Auffallend im Gespräch war auch, dass er versuchte mich zu beeinflussen, den Bericht recht positiv abzufassen, damit man [Detlev] aus der Kinderklinik möglichst schnell entlasse und sie ihre Ferien nicht verschieben müssen.“ Aussagen wie „Unser Sohn faulenzt doch nur“,48 „Ich bin mir nicht sicher, ob er sich nicht verstellt“ 49 oder „Denk halt positiver“ 50 fanden sich deutlich häufiger bei Vätern. Auf der anderen Seite las man bei vielen Vätern auch über ein aktives Engagement für ihre Söhne, von dem in dieser Form bei anderen Angehörigen nicht die Rede war.51 So versuchte ein Vater die Überweisung seines Sohnes52 in eine psychosomatische Klinik in Königstein im Taunus durchzusetzen, weil er das Krankenhaus von einem eigenen Aufenthalt kannte und schätzte. Mehrere Väter erkundigten sich schriftlich nach dem Befinden ihres Sohnes;53 einer bot an, dass die Klinik eine solche Berichterstattung notfalls auf seine Kosten anfertigen solle.54 Uwe T.s Vater kümmerte sich in der Klinik um ihn. Glaubt man den Akten, so hatte sich dadurch das „Verhältnis zum Vater sehr gebessert. […] [Dieser] habe ihm wieder angeboten, in [seinem] Betrieb zu arbeiten, bestehe aber nicht drauf und lasse ihn frei entscheiden.“ Insgesamt standen die Väter auch nicht wesentlich weniger häufig als die Mütter bei der Anamnese zur Verfügung – und dies, obwohl es so viele Patienten gab, die allein von ihren Müttern erzogen wurden. Väter sahen sich also durchaus als kompetent an, ihren Söhnen in der Krise beizustehen. Mütter hatten auf die Zuständigkeit im Krankheitsfall keinesfalls ein Monopol.55

46 UAG 50/259; PUH 73/202; PUH 83/66; PUH 93/410; PUH 93/407. Bisweilen wurde auch lediglich die Psychogenität einer Störung in Abrede gestellt, wie UAG 74/354: „Sein Vater habe gesagt, seine Aminosäuren im Kopf müssten medikamentös in Ordnung gebracht werden“. 47 PUH 73/384. 48 PUH 73/384. 49 PUH 93/410. 50 PUH 93/407. 51 UAG 68/229, PUH 93/438, PUH 83/41, PUH 73/71a. 52 PUH 83/180. 53 PUH 73/414. 54 UAG 54/1933. 55 Zur Entwicklung von Väterlichkeit und sogenannter aktiver Vaterschaft, siehe Scholz (2015), S. 111., die die Diskrepanz zwischen Einstellungswandel und konkreten Möglichkeiten der Verhaltensänderung bei Vätern beschreibt. Als Hindernis für ein stärkeres Engagement von Männern in der Reproduktionsarbeit hat in diesem Zusammenhang Patrick Ehnis das Konzept der „hegemonialen Mütterlichkeit“ geprägt, unter der er „Formen geschlechtsbezogener Praxen und Zuschreibungen“ versteht, „welche die Präsenz von Müttern (statt von Vätern) bei der Kinderbetreuung sichern und für die Unterordnung und Hierarchisierung abweichender Erziehungspraxen auch von anderen Müttern genutzt werden können. Hegemoniale Mütterlichkeit sorgt in diesem Sinne auch für Ausschlüsse von Männern aus der ‚privaten Sorgearbeit‘.“ Ehnis (2008), S. 64.

176

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

Tab. 17 Dokumentation von Vätern im sozialen Beziehungsnetzwerk der Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Gewalttätige Väter

57

Väter als Bezugspersonen für Ärzte und Patienten

96

Patienten unter 18 Jahren

9

5.3 „Warum habe ich keinen Papa, warum finde ich keine Frau?“ – Abwesende Väter In die Vermutung eines pathogenen Einflusses von Müttern mischte sich bei den Ärzten häufig die Charakterisierung einer schädlichen Abwesenheit von Vätern. Die psychoanalytisch inspirierten Psychiater sahen im abwesenden Vater das fast notwendige Gegenstück zur überfordernden Mutter im Narrativ der gescheiterten männlichen Individuation.56 Doch auch die der Psychodynamik völlig unverdächtigen, klassischen Psychiater beschäftigten sich mit abwesenden Vätern. Insbesondere bei den Jungen alleinerziehender Mütter, seien es Uneheliche oder Halbwaisen, wurden häufig sogenannte „Millieuschädigungen“ diagnostiziert, die eine Überstellung in die Fürsorgeerziehung legitimierten.57 Mit der Generation der Babyboomer kamen zu den altbekannten „Unehelichen“ mehr Scheidungskinder als zuvor hinzu. Die Vorstellung, dass ein Mann dem Einfluss der Mutter entgegenwirken solle, weil diese die Jungen entweder verweichlicht, ängstlich-depressiv oder gar homosexuell mache, oder aber ihrem „Ungestüm“ keinen Einhalt bieten könne, fand sich bereits in den frühen Akten; und zwar nicht bloß bei Ärzten, sondern auch bei besorgten Familienangehörigen. Insgesamt tauchte die reale Abwesenheit von Vätern über den gesamten Untersuchungszeitraum als Belastung auf. Jeder vierte Junge wuchs in Nachkriegsdeutschland ohne Vater auf. Norbert P.58 war einer von ihnen, sein „Vater [war] vor der Heirat [im Krieg gefallen].“ Seine Mutter musste sich in der Not des Hungerwinters 1946 prostituieren, erkrankte daraufhin an Syphilis und wurde alkoholabhängig. Sie zog mit ihrem Sohn von Berlin nach Heidelberg, wo sie bald den Behörden auffiel. Man sperrte sie für mehrere Monate in die nahegelegene Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch („Aktenauszug: „1946 erstmalig wegen L. behandelt […] 1948 wegen Trunksucht und Prostitution dem Gesundheitsamt gemeldet […] Der Luessanierung unterzog sie sich unvollständig […] Ihre letzte Arbeitsstelle verlor sie wegen häufigem Zuspätkommens […] Es handelt sich um eine haltlose psychopathische Persönlichkeit“). Als der Junge etwa 10 Jahre alt war, begann er, so vermerkte es später sein Psychiater in Heidelberg, „dumme Sachen zu machen“. Er schwänzte die Schule und fing an, öffentliches Eigentum zu zerstören: So schlug er in der Schule mit 56 Abelin (1971); Greenacre (1963); Mitscherlich (1963); Franz (2011). 57 Siehe Abschnitt 2.1.3. 58 PUH 53/208.

5.3 „Warum habe ich keinen Papa, warum finde ich keine Frau?“

177

einem Hammer Löcher in die Wände. Zu einem anderen Delikt vermerkte die Kriminalpolizei in seiner Akte: „[N.] hat an einer offentlichen [sic] Strassenbeleuchtung […] eine Plombe entfernt, den Deckel geöffnet, die Panzersicherung herausgenommen und Zuleitungsdrähte gewaltsam zerrissen.“ Zu der Tat, die ihn schließlich in die Universitätsklinik brachte, war in der betreffenden Meldung der Kriminalpolizei zu lesen: „[N.] ist am Abend in die Wohnung […] eingebrochen. Dort habe er die Bilder aus dem Rahmen gerissen, adas [sic] Glas zertrümmert, die Bettlacken [sic] zerrissen den Inhalt einer Sardinenbüchse an die Wand geworfen, die Glühbirne einer Stehlampe zertrümmert, ein Ei an die Wand geworfen und den Boden als Toilette benutzt. Er staht [sic] ferner im Verdacht eine kleine goldenen [sic] Uhr gestohlen zu haben.“

Um weiterer „Verwahrlosung“ bei der Mutter vorzubeugen, die als mit der Situation überfordert charakterisiert wurde, empfahlen die Psychiater, Norbert in ein Kinderheim zu bringen. Zumindest in den Akten des Quellensamples hatte der Krieg mit seinen vielen toten Familienvätern nicht zu Heerscharen Vagabundierender geführt, die man Psychiatern zur Begutachtung vorlegte.59 In den zehn entsprechenden Fällen aus den Jahren bis 1970 hatten lediglich zwei Patienten ihre Väter vor Kriegsende verloren.60 Die meisten Kriegs(halb)waisen waren demnach nicht als jugendliche Delinquenten in der Psychiatrie. Sie kamen vielmehr, wie alle anderen Patienten, erst als Erwachsene in die Klinik, wobei sie über den gesamten Untersuchungszeitraum verteilt anzutreffen waren. Unter den 82 Kriegskindern gab es 22 Patienten, deren Väter gefallen waren. Von diesen waren zwar wiederum einige delinquent, die Mehrheit (nämlich 14) waren jedoch mit diversen depressiven und angstbezogenen Diagnosen in der Klinik. Die gefallenen Väter konnten sogar durch die klassisch ausgebildeten Psychiater schon früh unter psychodynamischen Gesichtspunkten in der Therapie thematisiert werden. Dies geschah jedoch tendenziell eher bei Patienten mit einem gehobenen sozialen Hintergrund. Auch der Vater des renitenten Friedrich Wilhelm war gefallen. Nun hatte es sich bei diesem jedoch um einen hochrangigen Offizier in der Wehrmacht gehandelt. Die Ärzte hielten fest: „Besondere Anpassungsschwierigkeiten erwachsen ihm aus einer stärker ausgeprägten seelischen Verletzlichkeit, Weichheit und Anlehnungsbedürftigkeit, als seinem männlichen Leitbild entspricht. Das Letztere scheint als Ich-Ideal nach dem Bilde des Vaters entwickelt worden zu sein, die Diskrepanzen zu den realen Möglichkeiten verunsichern und belasten [den Pat.]“.

Der junge Mann hatte also nicht bloß ein Vorbild, dem nachzueifern er nicht fähig war, dieses Vorbild war zudem auch noch tot. Er hatte also keine Chance, es mit der Realität abzugleichen. Darüber hinaus war Friedrich Wilhelm wäh59 Der Grund hierfür könnte jedoch auch sein, dass die entsprechenden Kinder- und Jugendlichen gar nicht erst als unklare Fälle betrachtet, sondern ohne Begutachtung direkt zur Fremdplatzierung freigegeben wurden. 60 Neben PUH 53/208 noch PUH 63/218. Auch uneheliche Söhne gehörten zu der Minderheit; lediglich einer war darunter. Die anderen sieben Jungen waren allesamt vor ihrer sogenannten Fremdplatzierung bei Vater und Mutter aufgewachsen.

178

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

rend seiner Zeit als Offiziersanwärter in Schwierigkeiten geraten. Er war „in einer Diskussion sehr angegriffen worden, weil er sich für die Teilnehmer des 20. Juli eingesetzt habe. Man habe ihm vorgeworfen, sein Vater sei ja auch so ein Kriegsverbrecher gewesen (sein Vater stand mit dem Widerstandskreis in Verbindung, wurde aber nicht verurteilt).“ Friedrich Wilhelm sah seinen Vater als Helden des Widerstandes, was eine kritische Distanzierung im Zuge seiner Individuation in den Augen der Ärzte noch schwerer machte. Auch Claus S.` Vater war „1943 gefallen, war Bürgermeister in [Ort].“ 61 Der junge Jurist stammte ebenfalls aus gehobenen Verhältnissen; wie im Fall von Friedrich Wilhelm wurde auch seine Vaterlosigkeit unter psychodynamischen Gesichtspunkten aufgearbeitet, was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass er ein Traumtagebuch führte. Bei anderen Patienten, deren Väter gefallen waren, wurden solche, durch die gestorbenen Väter erschwerten Trennungs-Individuationsproblematiken zunächst nicht weiter ausgeführt, obgleich sie durchaus zuverlässig in den Akten erwähnt wurden. Neben den Söhnen gefallener Väter gab es die Söhne alleinerziehender Mütter. „Unehelich geboren“ hieß zumindest im Quellensample, dass es keinen oder wenig Kontakt zum leiblichen Vater gab. Nicht nur in den frühen Jahren klagten Patienten62 über die damit einhergehende Stigmatisierung: „Er sei als Sohn eines anderen Mannes von der Mutter 6 Jahre vor der Eheschließung geboren worden. Er habe Zeit seines Lebens sehr unter dieser Unehelichkeit gelitten“,63 oder „Er komme aus schlechten Verhältnissen, seine Mutter habe drei uneheliche Kinder von verschiedenen Vätern gehabt, er sei der zweitgeborene. […] Zum [leiblichen] Vater sage er ‚Sie‘, wenn er ihn manchmal sehe; er habe sich bei ihm auch nie heimisch gefühlt.“64

Eine Zeiterscheinung waren die Söhne amerikanischer Besatzungssoldaten:65 „Pat. wurde 1954 als uneheliches Kind in [Ortsname] geboren. Seinen Vater habe er nie gesehen, er wisse nur, daß er in Amerika lebe. Er reagiert sehr abwehrend bei der Frage nach dem Vater, möchte nicht darüber reden.“

In einem anderen Fall gab die Mutter eines Patienten an: „Thomas Vater sei ein Amerikaner, der keinen festen Beruf hatte und mehr die Funktion eines Playboys ausübte. Die Mutter habe ihn ½ Jahr gekannt, als ihr aber ein Freund von ihr sagte, sie solle zum Frauenarzt gehen, weil er syphilitisch sei.“66

Wenn die Mütter sich neue Partner suchten, gab es mit den Stiefvätern oft erhebliche Probleme, wie sich bereits in den Lebensläufen von Ernst T.67 und Erwin G.68 gezeigt hat. Ähnliches berichtete ein junger Heroinabhängiger:

61 62 63 64 65 66 67 68

PUH 63/401. PUH 53/240; PUH 63/355; PUH 83/168. PUH 63/353. PUH 83/168. PUH 73/318; PUH 93/176 PUH 73/318. PUH 53/240. UAG 55/1096.

5.4 Brüder und Schwestern

179

„Er habe zunächst sehr große Hoffnungen in den Stiefvater gesetzt, habe sich riesig gefreut, endlich einen Vater zu bekommen. Jedoch sei er in seinen Erwartungen furchtbar enttäuscht worden. Der Stiefvater habe ihn gehasst, es habe nur Streit gegeben. […] Es wird offenbar, daß für [den Patienten] das Fehlen eines Vaters den zentralen Konflikt darstellt, der reaktiviert und verstärkt wurde durch das Auftauchen eines anscheinend recht inadäquaten Stiefvaters. Für seinen Rückzug in die Drogenabhängigkeit spielt abgesehen von situativen Momenten sicher diese Enttäuschung über den fehlenden Vater eine große Rolle.“69

Scheidungskinder, die ohne Vater aufwuchsen, gab es ebenfalls schon ab Beginn des Untersuchungszeitraumes. Ihre Anzahl wuchs im Laufe der Zeit.70 Unabhängig davon, ob es sich um uneheliche Kinder oder Scheidungskinder handelte, führten die Ärzte seit den 1970er Jahren immer häufiger psychodynamische Erklärungen der Folgen väterlicher Abwesenheit in den Akten aus, anstatt letztere lediglich als Problem zu dokumentieren, das keiner weiteren Erklärung bedürfe; ähnlich, wie es im Falle von Friedrich Wilhelm von B. und bei Claus S. der Fall gewesen war. Über einen Gießener Patienten notierte dessen Arzt:71 „Wenn sein Vater bei der Familie geblieben wäre, wäre sicher vieles anders geworden. […] Sicher hat dies einen großen Anteil an seiner ungereiften, auf der analen Stufe fixierten Charakterstruktur, die durch das fehlende Vorbild einer gesunden Dreiecksbeziehung nicht hat reifen können.“ Tab. 18 Dokumentation von Vaterlosigkeit im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt Kriegskinder, davon: Kinder im Krieg gefallener Väter Davon delinquent

681 82 22 3

5.4 Brüder und Schwestern Brüder und Schwestern konnten ebenfalls wichtige Bezugspersonen sein. Sie wurden etwa gleich häufig als solche genannt.72 Auffällig war, dass die Patienten, die ihre Schwester als Bezugsperson hatten, fast ausschließlich mit schweren chronischen Psychosen diagnostiziert waren. Bei den Brüdern entsprach die Verteilung der Diagnosen dem Durchschnitt. Dies kann man als Hinweis darauf werten, dass sich Schwestern bei längerfristigen Erkrankungen an der Pflege ihrer Brüder beteiligten. Offenbar verhielten sich die Brüder zudem insgesamt passiver als die Schwestern; über letztere wurde in den Akten häu69 PUH 73/318. 70 PUH 73/51; PUH 73/66; PUH 73/210; PUH 73/181; UAG 74/204; PUH 83/345; PUH 73/186; PUH 93/153; PUH 93/123; PUH 73/351; PUH 83/160. 71 UAG 74/204. Siehe auch PUH 73/66; PUH 73/181; PUH 73/312; PUH 93/220. 72 Brüder 48 mal, Schwestern 54 mal.

180

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

figer berichtet, dass sie sich aktiv in die Behandlung einmischten.73 Das Eingreifen in den Behandlungsablauf wurde wie bei den anderen Angehörigen meist wiederum als Behandlungshindernis beschrieben. Im Fall von Paul D.74 gestaltete sich die Sache etwas komplizierter: Wie bereits im Abschnitt 2.4.1 beschrieben, hatte dessen Schwester die Meinung der Mutter, dass ihr Bruder krank sei, nicht akzeptiert. Demzufolge protestierte sie auch gegen die Vergabe der Diagnose „Endogene Depression“, die ihr Bruder zunächst von seinen Psychiatern erhalten hatte. Sie gab den Anstoß zur psychologischen Untersuchung ihres Bruders, die schließlich dazu führte, dass dessen Beschwerden auf seine mangelnde Eignung für seinen Beruf zurückgeführt wurden und die Diagnose in „Endogene Dekompensation einer neurotischen Entwicklung“ geändert wurde. Die Schwester hatte in einem Brief an die Klinikleitung geschrieben: „Als Sohn eines Professors wurde er beruflich glatt überfordert. Mein Vater ließ nicht zu, daß er beruflich in eine bescheidenere Stellung hinüberwechselte. Auch seine Frau stand ihm in seiner Notlage in keiner Weise bei, weil sie auf das hohe Anfangsgehalt meines Bruders nicht verzichten wollte. Sie waren gerade in eine teure Neubauwohnung eingezogen und mussten dafür bei der Firma meines Bruders ([Name der Firma]) ein Arbeitnehmerdarlehen aufnehmen. Aus dieser effektiven Notlage entwickelte sich dann das ‚klassische Krankheitsbild einer endogenen Depression‘. Fast ‚trimphierend‘ teilten mir mein Vater und die Frau meines Bruders mit, daß mein Bruder krank sei und von einem natürlichen Versagen meines Bruders keine Rede sein könne. Nun wird von meinen Angehörigen meinem Bruder täglich eingehämmert, daß er krank sei, daß diese Krankheit vorbei gehen werde und daß er dann da anfangen könne, wo er aufgehört habe.“

Das Risiko des Hospitalismus bei einer längeren Anschlussbehandlung mit einer solch schwerwiegenden Diagnose mochte der Schwester auch deutlicher vor Augen gestanden haben als den Eltern. Noch offensichtlicher wurde die Angst vor einem langen Anstaltsaufenthalt bei der Schwester eines anderen Patienten, die sich gegen die Überweisung ihres Bruders in eine „Reha-Klinik“ wehrte, die sie, was die Ärzte ein Missverständnis nannten, für eine „Irrenanstalt“ hielt.75 Über die Schwester eines weiteren Patienten zeigten sich Heidelberger Psychiater tatsächlich verärgert: Diese habe für sinnvoll erachtet, zusammen mit ihrem Bruder76 bei einem Besuch in der Klinik über mehrere Stunden hinweg die gemeinsame „traumatische Kindheit aufzuarbeiten“. Hier stellte sich die mittlerweile weit verbreitete Vulgärpsychoanalyse wirklich als massives Behandlungshindernis heraus, denn nach dem Gespräch hatte der Bruder offenbar einen neuerlichen psychotischen Schub bekommen. Nicht ganz so sicher waren sich die Ärzte in einem anderen Fall schwesterlicher Intervention: Die Schwester eines Patienten,77 der zu Alkoholmissbrauch neigte, habe diesen „wegen seiner Trinkerei ständig drangsaliert“. Dies geschah wohl mit einem gewissen Erfolg, wie man fand, sodass die Psychiater sich fragten, ob sich 73 74 75 76 77

PUH 63/401; PUH 63/379; PUH 83/171; PUH 83/338; PUH 93/208; PUH 93/220. PUH 63/401. Siehe auch PUH 93/208. PUH 73/68. PUH 83/171. PUH 93/220.

5.5 „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner!“

181

diese Art der Einmischung für den Mann nicht doch noch günstig ausgewirkt habe. Insgesamt schienen die Schwestern also aktiver und traten keinesfalls immer nur als Behandlungshindernis auf. Die Brüder gaben sich in den Akten hingegen eher unauffällig, brachten ihre Geschwister in die Klinik, halfen bei der Anamnese und gingen wieder. Nur in wenigen Fällen war anderes überliefert. So hatte sich in einem Fall der Bruder eines Gießener Patienten78 maßgeblich an dessen Behandlung beteiligt. Der Bruder hatte ihn wegen Potenzproblemen in die Klinik gebracht, nachdem er schon zuvor immer wieder in denkbar übergriffiger Weise versucht hatte, das Problem des Patienten zu lösen. „In der Familie des Bruders seien seine Probleme vor den Kindern und den Gästen und praktisch vor jedem, der zuhören wollte diskutiert worden. Man habe auch seine Frau quasi jeden morgen ausgefragt, ob es denn heute Nacht endlich geklappt hätte.“

Hintergrund war, dass der Bruder, bei dem der Patient mit seiner Frau lebte, sehr an dem Fortbestand der Ehe interessiert war, da seine Schwägerin gleichzeitig seine Haushälterin war, die zudem den leicht intelligenzgestörten Patienten in Zukunft betreuen sollte. Tab. 19 Dokumentation von Geschwistern im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt Brüder als Bezugsperson für Ärzte und Patienten, davon: Eingriffe in die Behandlungsroutine durch Brüder Schwestern von Patienten als Bezugsperson außerhalb der Klinik, davon: Schwestern von Patienten mit chronisch verlaufenden Psychosen als Bezugsperson für Ärzte und Patienten Eingriffe in die Behandlungsroutine durch Schwestern

681 48 1 54 37 6

5.5 „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner!“ – Am Arbeitsplatz Arbeitskollegen und Chefs interagierten so gut wie nie mit ihren kranken Kollegen, sobald und solange diese in der Klinik waren. Traten sie dennoch in Erscheinung, konnte dies verschiedene Gründe haben. Bisweilen unterstützten sie ihre Mitarbeiter, wenn diese selbst keine Angehörigen hatten. So brachte der Leiter eines Restaurants seinen Angestellten in die Gießener Klinik:79 „Er berichtet, dass Herr [D.] alle drei Monate so ‚seine Tour‘ bekäme. Er sei dann betrunken und würde zwei Tage herumkrakeelen. Wenn das vorbei sei, schliefe er etwa zwei Tage, ginge in sein Bett und dann sei alles wieder gut. So auch diesmal, „es hätten [schon 78 79

UAG 63/213. Siehe auch PUH 83/22; PUH 73/411; PUH 83/343; PUH 73/42. UAG 68/51.

182

5. Soziale Beziehungsnetzwerke die] Blumen [für ihn] auf dem Tisch gestanden und eigentlich hätten alle auf ihn gewartet. […] Er sei [während seiner ‚Tour‘] eben so, wie wenn jemand voll sei. Er würde dann herumschimpfen und nörgeln.“ Er toleriere das, „obwohl sein Betrieb einen derartigen Ausfall kaum verkraften könne. […]“

Ebenfalls mit einer alkoholbezogenen Diagnose kam ein Arbeiter80 in die Heidelberger Klinik. Dessen Ehefrau sagte über ihn: „Er ließe sich rasch verführen, vor allem im Betrieb seien mehrere, die ihn gern mitnehmen würden.“ Diese Kollegen besuchten ihn dann jedoch auch in der Klinik und versicherten den Ärzten, er sei „als Arbeiter sehr geschätzt.“ Arbeitskollegen waren also durchaus wichtig für die Fremdanamnese, insbesondere, wenn es Konflikte am Arbeitsplatz gab, wie bei folgendem Patienten:81 „Nach Aussagen eines Arbeitskollegen […] habe er vor allem personelle Schwierigkeiten gehabt. Er habe weder mit Arbeitern, noch mit Meistern auskommen können. Er habe nie den richtigen Ton gefunden. Den Vorgesetzten gegenüber habe er sich häufig eigensinnig gezeigt. Andererseits sei sein Vorgesetzter ein ebenso eigensinniger Mann. Umstellungen und Förderung und Zurückversetzung hätten ihn ganz durcheinander gebracht.“

Allerdings lassen sich in den Akten Fälle, in denen Chefs oder Kollegen derart unterstützend in Erscheinung traten, an einer Hand abzählen. Häufig bedeutete die Anwesenheit der Kollegen vielmehr nichts Gutes. Der Vorgesetzte eines Gießener Patienten82 etwa hatte seinen Mitarbeiter nach einem gescheiterten Suizidversuch aufgefunden und ihn pflichtbewusst in die Klinik gebracht. Er erzählte den Ärzten, was er wusste, kündigte jedoch an, dass er den Mann wegen dieses Vorfalls entlassen würde. Wenn Arbeitgeber oder Kollegen von außerhalb der Klinik über die psychischen Probleme der Patienten erfuhren, konnte dies ebenfalls Probleme mit sich bringen. Ein Gießener Patient erhielt noch in der Klinik seine Kündigung,83 ein anderer wurde auf einen wesentlich schlechteren Posten versetzt.84 In solchen Fällen bestanden Interessenskonflikte. Als sich ein Mann85 in Gießen im Zuge eines Verfahrens vor dem Sozialgericht begutachten ließ, ging ein Schreiben der „Bergleute der Grube [XY]“ in der Klinik ein. Angeblich hatten sie den Brief verfasst, in jedem Fall aber hatten sie ihn unterschrieben. Darin stand, „daß [Pat.] seine Rente zu Unrecht erstrebe“. Verständnis für seine psychogenen Beschwerden suchte der folgende Heidelberger Patient86 ebenfalls vergeblich von seinem Arbeitgeber. Das von seinem Psychiater angefertigte Gutachten, das seine Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz befürwortete, war von dem zuständigen Bearbeiter nicht akzeptiert worden, wie der Mann enttäuscht nach Heidelberg schrieb: „Sehr geehrter Herr Dr. [Name]. [Datum] war ich, meine Frau und mein Schwiegersohn in [Name des Ortes] beim Regierungsamtsmann Herrn S. um Auskunft zu erhalten, ob 80 81 82 83 84 85 86

PUH 63/370. PUH 73/54. UAG 57/730. UAG 75/515. UAG 50/1386. UAG 53/1050. Siehe auch UAG 63/246. PUH 73/313.

5.5 „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner!“

183

meine Versetzung in die Wege geleitet wurde. Dabei hat sich nach einem kurzen aber aufschlussreichen Personalgespräch herauskristallisiert, dass Ihr Gutachten überhaupt keinen Anklang gefunden hat. Diese Tatsache lässt uns darauf schließen, daß weder ihre Diagnose noch mein gesundheitlicher Zustand in der Standortverwaltung [O.] respektiert oder anerkannt wird. Mit Laienworten ausgedrückt, ich bin nur eine Akte und kein Mensch noch ein Mitarbeiter der seiner Genesung zustrebt. Es ist leider in der Bundeswehr üblich dass ein Beamter das letzte Wort hat und somit über Tot [sic] oder Leben entscheiden kann.“

Meist erfuhr man über die Arbeitsstellen der Patienten nur dann, wenn die Patienten, ihre Angehörigen oder ihre Ärzte diese für relevant in Bezug auf die Beschwerden hielten. Dabei spielte es keine Rolle, ob Ärzte ihren klagenden Patienten mit einer psychogenen Diagnose eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verweigerten, oder ob sie Patienten glaubten, die sich über zermürbende Arbeitsbedingungen beschwerten, oder gar eine Überlastung sahen, die den Männern überhaupt nicht bewusst war. Aus verschiedenen Perspektiven erhielt man so Einblick in berufliche Gratifikationskrisen, Ärger mit Vorgesetzten, Überforderung und Selbstüberforderung, Gewalt am Arbeitsplatz aber auch in schädlichen Alkoholkonsum. Obwohl es sich um psychiatrische Patienten handelte, spielten körperliche Belastungen am Arbeitsplatz von Anfang an eine Rolle. Ein Heidelberger Schriftsetzer87 klagte, „er müsse in seinem Beruf schwer heben, z. B. grosse Bretter mit ausgelegten Druckstöcken mit zusammen 90 kg zu zweit heben. Das habe er noch bis zum Schluss, aber nur unter größten Schmerzen gemacht.“ Weil der Mann arbeitsunfähig geworden war, wurde dies zu einer seelischen Belastung. Kurz darauf kam er mit depressiven Symptomen in die Klinik. Ein ehemaliger Landarbeiter und Bäckerlehrling88 aus der Nähe von Gießen hatte in beiden seiner Berufe kein Glück: Auf dem Hof habe er sich, „dauernd […] mit der Sense die Fersen aufgeschnitten.“ Später machte er seine Bäckerlehre, wo er in der Backstube wegen des Mehlstaubs kaum atmen konnte. Um die Lehre dennoch absolvieren zu können, habe er sich an der Nase operieren lassen, eine Prozedur, von der sein Gießener Psychiater erkennbar bestürzt notierte, man habe ihm „die Scheidewand herausgemeißelt“. Vom Schleppen der Mehlsäcke habe der Mann dann jedoch „Rippen und Wirbelsäulendefekte“ davongetragen. Männer klagten nicht nur über schwere körperliche Belastung, sondern auch aus anderen Gründen über ihre Arbeitsbedingungen.89 Schichtarbeit sowie Arbeit unter Tage mit dem hohen Risiko des Entzugs von Tageslicht waren dabei häufig ein Thema. Horst W.90 klagte über „Albträume von seiner Arbeit, […] von der „beengende[n] Situation im unterirdischen Bunker, nachts würde das dann alles herauskommen im Anfall.“ Andere Patienten klagten über zu starke Kontrolle, ein Mann war „als Handelsvertreter verschiedener Firmen bis 1966 tätig. 87 PUH 63/361. 88 UAG 63/213. 89 PUH 53/66; UAG 66/649; PUH 73/70; UAG 74/403; PUH 83/345; UAG 54/473; UAG 54/1870. 90 PUH 73/313; siehe auch: UAG 57/730; PUH 93/437; UAG 68/698.

184

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

Er vertrat meist Firmen, die Friseurartikel und Kosmetik vertrieben. […] Durch entsprechende technische Einrichtungen an seinem Fahrzeug sei von der Firma seine Fahrtstrecke genau kontrolliert worden.“ 91 Die häufigsten Probleme im Beruf waren allerdings zwischenmenschlicher Natur. Meist ging es dabei in irgendeiner Weise um Statusverlust. Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes hatten einige Patienten damit zu kämpfen, dass sie wegen ihrer NS-Vergangenheit nicht mehr in ihren alten Berufen arbeiten konnten. „Herrn A.“, der Patient, über den Viola Balz in ihrer Publikation „Nervöse sind Heilbar“92 schrieb, hatte innerhalb der NSDAP eine höhere Position inne. Nun musste er nach dem Krieg einfache Arbeiten in der Hotellerie verrichten.93 Ein Technischer Zeichner94 berichtete: „Während des Krieges habe er in einem Signalbüro gearbeitet und sei 1945 aus politischen Gründen entlassen worden. Dann 4 ½ Jahre arbeitslos. Das habe ihn ruiniert. Er habe stempeln gehen müssen, um die Kinder durchzubringen. […] Nach dem Krieg habe er 4 Wochen die entwürdigende Schipperei mitgemacht. […] 1949 wieder im Bahndienst angefangen, sei nach einem Jahr eine Gruppe höher gestiegen, stehe jetzt aber noch eine Stufe niedriger als vor seiner Entlassung.“

Ähnliches erzählte ein Gießener Patient:95 „Steckschuss im Fuß, Steckschuss im Oberschenkel“, in Folge politischer Belastung (Unterbannführer), vorübergehend sei er auch in einem [Konzentrations]Lager tätig gewesen, habe er nach dem Kriege froh sein müssen, überhaupt noch was zu kriegen.“

Die 1940er und 1950er Jahre waren auch bei den Patienten der Kliniken eine Zeit vermehrter Arbeitslosigkeit. Neben den erwähnten politischen Ursachen gehörten nicht anerkannte Kriegsverletzungen und anfangs auch noch die wirtschaftliche Lage zu den Gründen hierfür. Während der Vollbeschäftigung in den 1960er und 1970er Jahren fanden sich kaum Arbeitslose unter den Patienten. Ab Beginn der Massenarbeitslosigkeit in den späten 1970er Jahren gab es dann wieder viele Arbeitslose in den Kliniken.96 Die Zahl der arbeitslosen Patienten folgte also grob dem historischen Verlauf der Arbeitslosenquote insgesamt. Degradierungen bereiteten Patienten jedoch über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg Probleme.97 Einen Angestellten98 „habe man von Amt zu Amt versetzt. Das sei [ihrem] Mann sehr nachgegangen“, berichtete dessen Ehefrau, „er fühle sich seitdem immer zurückgesetzt“. Klagen über krankmachende Arbeitsbedingungen verbanden sich häufig mit Berichten über Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten. Gerade in den Akten früherer Jahre las man häufig über körperliche und verbale Gewalt. Die Ehefrau gab weiter an: 91 92 93 94 95 96

PUH 73/70. PUH 53/6; Balz, Nervöse, (2010). Siehe auch PUH 53/90; PUH 73/209. PUH 53/144. UAG 71/649. PUH 93/443; UAG 76/324; PUH 93/437; PUH 93/431; PUH 73/342; PUH 83/261; UAG 78/37. 97 UAG 63/444; UAG 53/3; PUH 73/54; PUH 83/350. 98 PUH 53/89.

5.5 „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner!“

185

„Vor 1 Jahr habe er in seinem Geschäft durch den Dienststellenleiter der ihm die Aufgabe gestellt habe, bestimmte Geldbeträge ausfindig zu machen. – was eine schwere Aufgabe gewesen sei – was ihm dann nicht gelang eine ungerechte Zurechtweisung erfahren.“

Der Patient selbst klagte: „Er habe aber ihn vor der versammelten Mannschaft niedergebrüllt: ‚Bis Samstag ist die Sache in Ordnung! Sie sind eine Null.‘ Nun komme er sich wie ein Aussätziger den Geschäftskollegen gegenüber vor. Er fühle sich ungerecht behandelt, bloßgestellt und schäme sich, wenn auch die Arbeitskollegen seine Partei ergriffen hätten und über den Chef geschimpft hätten.“

Auch ein Gießener Patient99 sagte, „daß er um [den Chef] am liebsten einen Bogen gemacht hätte, weil dieser so rumgebrüllt hätte.“ Neben solch verbalen Demütigungen kam es in den ersten Jahren des Untersuchungszeitraumes auch durch die Vorgesetzten häufiger zu körperlichen Übergriffen, die jedoch im Laufe der Zeit immer seltener auftraten. Ein junger Mann erinnerte sich an seine Lehrzeit100 und gab an, „der Meister sei sehr streng gewesen, habe ihn häufig geschlagen.“ 101 Auch der oben erwähnte ehemalige Landarbeiter und Bäcker aus Gießen berichtete Schlimmes von seinem früheren Arbeitsplatz: „Der Bauer warf ihn auf einen Misthaufen und trampelte auf ihm herum.“ Körperliche Beschwerden anderer Art bereiteten die Vorgesetzten von Friedrich Wilhelm von B.102 ihren Untergebenen: „In der Bundeswehr habe er wieder aufgehört, wegen mehrerer unerquicklicher Auftritte. Ein […] Mal habe [der Patient] sich beschwert, weil während des normalen Kasernendienstes Manöverbrot ausgegeben worden sei. Dies sei in Frischhalteverpackungen aufbewahrtes Brot, teilweise etwas wässrig, weshalb es auch zu Durchfällen gekommen sei. Dieser [sic] Brot soll nur während der Übungen oder der Mannöver [sic] ausgegeben werden. Hier habe man es aber zum normalen Dienst ausgegeben und das Geld für die Anschaffung des normalen Brotes anscheinend in Alkohol umgesetzt. [Auch] habe es Ärger mit einem Offizier gegeben. Der sei nachts mit einer Gruppe der er angehörte zur Übung ausgerückt, sei dabei betrunken gewesen. Weiter habe er Anstoss an der Tafel an einem Denkmal genommen, worauf etwas vom siegreichen deutschen Heer stand. Er habe um die Entfernung der Tafel gebeten, als ausländischer Besuch gekommen sei. Deshalb sei er angegriffen worden und man habe ihm vorgeworfen, er habe kein Gefühl für die Tradition.“

Schlimmer hatte es einige Jahre zuvor einen Gießener Patienten103 getroffen: Dieser berichtete, er „wurde aus Unwissenheit über Luxemburg nach [Ort in Frank99 UAG 68/229. 100 UAG 68/26. 101 Bis 1951 lautete der Paragraph 127a der Gewerbeordnung (GewO): „(1) Der Lehrling ist der väterlichen Zucht des Lehrherrn unterworfen und dem Lehrherrn sowie demjenigen, welcher an Stelle des Lehrherrn die Ausbildung zu leiten hat, zur Folgsamkeit und Treue, zu Fleiß und anständigem Betragen verpflichtet. (2) Übermäßige und unanständige Züchtigungen sowie jede die Gesundheit des Lehrlinges gefährdende Behandlung sind verboten.“ Die Schläge hatte der 1943 geborene Patient also schon in gesetzeswidriger Weise erhalten. Bundesministerium der Justiz zu Bonn (1951), S. 1007. 102 PUH 63/214. 103 UAG 57/1393.

186

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

reich] gelockt und musste dort anscheinend einen Arbeitsvertrag unterschreiben, der sich dann als Eintrittsvertrag zur Fremdenlegion herausstellte. […]“ Im Algerienkrieg unternahm er einen „Fluchtversuch 1956 von Mascara in die Berge zur Armee de Liberation, dort [Verletzung durch] Granatsplitter“. Patienten, die als Wehrdienstleistende von der Bundeswehr in die Klinik kamen, berichteten häufig von beträchtlichen Gewalterfahrungen: „Lieber einige Jahre Gefängnis als Bundeswehr“, bekräftigte ein Patient,104 der schon zuvor „seine Einheit unerlaubt [verlassen hatte], weil er ‚das ganze repressive System‘ nicht habe ertragen können und […] über Frankreich, Schweiz, Italien, nach Jugoslawien [geflohen war].“ Zurück in Deutschland „schwankten seine bizarr anmutenden Pläne, diese Situation zu meistern [und der Bundeswehr zu entgehen], zwischen einem Strichjungendasein an der Cote D’Azur einerseits oder einer vorgetäuschten Vergewaltigung [um ins Gefängnis zu kommen].“ Probleme mit den Vorgesetzten gab es nicht bloß in Ausbildungsverhältnissen oder beim Militär. Sie mussten auch nicht notwendigerweise körperlicher Natur sein:105 Ein Patient,106 Glaser von Beruf, gab in der Anamnese an: „Im Oktober 1962 sei er in einer Konservenfabrik in [Name des Ortes] tätig gewesen. Er hätte sich nicht sehr gut einarbeiten können, da er immer Schwierigkeiten mit dem Personal gehabt hätte. Es sei zu einem Streit mit dem Lagerführer gekommen. Er hätte seinen Ärger aber in sich reingefressen.“

Ein Lehrer107 klagte, er sei „zum Studiendirektor befördert, das sei eine ungünstige Situation, da er zwischen dem Kollegium und dem Direktor und dessen Stellvertreter stünde. […] der frühere Direktor ist zwischenzeitlich in Pension gegangen, es ist unklar, ob dessen Stellvertreter, mit dem der Pat. sehr große Konflikte hatte, aufrücken wird, auch unsicher, in welchem Bereich er selbst eingesetzt werden wird.“ Auch mit Kollegen konnte es Konflikte bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen geben, wie etwa bei Siegfried L., dem technischen Zeichner, der auch wegen der passiven Reaktion auf seine Gewalterfahrung eine Astheniediagnose bekommen hatte.108 Insgesamt wurden die Kollegen jedoch häufiger aus einem anderen Grund erwähnt, als wegen Konflikten mit den Patienten. Der Arbeitsplatz tauchte immer wieder als Ort des Alkoholmissbrauchs auf und die Kollegen als „Verstärker“ dieses Missbrauchs.109 Der gemeinsame Alkoholkonsum mit den Kollegen wurde mit den harten Arbeitsbedingungen gerechtfertigt:110 „Er trinke aber nicht zuviel“ bekräftigte ein Dreher.111 „Er habe eine sehr schwere Arbeit und müsse täglich 50 bis 60 Zentner Eisen im Betrieb herumschleppen und brauche deshalb ein gewisses Quantum.“ Ähnliches wurde über einen 104 105 106 107 108 109

PUH 73/56. PUH 83/50; PUH 53/202; PUH 83/345. PUH 63/355. PUH 83/156. Siehe Abschnitt 2.1.4. Neben den folgenden Beispielen, siehe: PUH 73/183; PUH 83/350; PUH 73/402; PUH 83/173; PUH 73/183. 110 Siehe auch Abschnitt 2.3.5. 111 PUH 63/370.

5.5 „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner!“

187

Gießener Patient geschrieben:112 „Arbeitet in Papierfabrik, wo es sehr trocken und staubig ist und deshalb alle trinken.“ Letzteres Argument, nämlich, dass die Kollegen ebenfalls trinken, tauchte noch mehrfach auf. Ein Polizist aus Südhessen113 rechtfertigte seinen Alkoholkonsum folgendermaßen: „Ich bin bei der Polizei, da saufen alle!“ Ein Angehöriger der Bundesbahn hatte laut seinen Ärzten gar gesagt: „Selbstverständlich saufe ich, ich bin Eisenbahner.“ 114Auch die Bundeswehr erwies sich hier abermals als riskanter Arbeitsplatz. Ein Student115 erzählte, „Vor dem Studium habe er noch 2 Jahre bei der Bundeswehr verbracht, wo er bei den Panzergrenadieren gewesen sei. In diese Zeit fällt wohl auch ein größerer Alkoholkonsum des Patienten, er auch selbst meint, daß er bis zu einer 0,7 Liter-Flasche Kirschwasser vertragen habe, ohne viel davon zu merken.“ Das fortgeschrittene Berufsleben und dessen Ende brachten schließlich noch einmal für viele Patienten schwer auszuhaltende Belastungen mit sich.116 Ein Patient gab an,117 er „denke auch daran, seinen Beruf aufzugeben. […] Er sehe das an den älteren Kollegen, die dann auch von den jüngeren ausgelacht würden, weil sie nicht mehr mitmachen könnten. Das wolle er sich ersparen.“ Häufig fielen seelische Krisen mit dem Eintreten in den Ruhestand zusammen.118 Dabei spielte immer auch das Problem des damit einhergehenden Statusverlustes mit hinein: „Früher war ich König, heute werde ich zum Hampelmann gemacht“, klagte ein berufsunfähig gewordener Handelsvertreter über seinen unfreiwilligen Vorruhestand.119 Tab. 20 Dokumentation von Erwerbstätigkeit im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Gesamtzahl erwerbstätiger Patienten

397

Patienten, deren Arbeitskollegen mit ihnen während des Klinikaufenthaltes interagierten

11

Arbeitsbedingungen als pathogener Faktor, davon:

65

112 113 114 115 116 117 118

Gewalt am Arbeitsplatz als pathogener Faktor

10

Alkohol am Arbeitsplatz als pathogener Faktor

20

Militär als gesundheitsbelastende Arbeitsstelle

9

UAG 73/746. UAG 69/101. UAG 66/661. PUH 83/180. UAG 63/278; PUH 83/368; PUH 63/207. UAG 64/527. PUH 93/220; PUH 73/390; PUH 73/193; PUH 63/220; PUH 63/249; PUH 63/466; PUH 63/296; PUH 53/116; PUH 53/130; PUH 63/360; PUH 73/71; PUH 83/69; PUH 83/48. 119 PUH 73/70.

188

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

5.6 „Warum kommt das immer nur zu Hause? Das ist das sonderbare.“ – Partnerinnen Wie die anderen Angehörigen auch, tauchten die Partnerinnen der Patienten in drei Funktionen in den Akten auf, erstens: als belastende Umweltfaktoren,120 zweitens: als „typisches Beuteschema“ von Männern mit bestimmten Diagnosen, also gewissermaßen als wandelndes Symptom der Erkrankung ihrer Partner, oder drittens: als Behandlungshindernisse.121 Psychiater sahen in den Partnerinnen ihrer Patienten also zunächst häufig ein belastendes Element. Manche der dabei virulenten Problemfelder wurden von Psychiatern über den gesamten Untersuchungszeitraum thematisiert, bei anderen ergaben sich zeitliche Besonderheiten. In den ersten zwei bis drei Jahrzehnten des Untersuchungszeitraumes beispielsweise fanden sich deutlich mehr Schilderungen von „zu dominanten Partnerinnen“ sowie von Frauen, die ihren Männern gegenüber körperlich gewalttätig waren. Ebenfalls zu Beginn des Untersuchungszeitraumes häuften sich Berichte über Frauen, die verlangten, dass ihre Männer möglichst bald wieder die Versorgung der Familie leisten sollten und sich der Psychiatrieaufenthalt demnach nicht allzu lang hinziehen sollte. Frauen, die aus Sicht der Ärzte ihre erwerbstätigen Partner mit überzogenen Ansprüchen an Vermögen und Status belasteten, fanden sich hingegen eher in den letzten beiden Jahrzehnten des Untersuchungszeitraumes. Auch die Veränderungen der Geschlechterordnung seit den 1970er Jahren spiegeln sich in den Akten wieder; Frauen, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit eine Karriere vorantrieben oder ihre Männer verließen, fanden sich nun häufiger und wurden nicht mehr grundsätzlich abwertend geschildert. Zu jeder Zeit beklagten Psychiater auch bei manchen Frauen ein fehlendes Verständnis für die Behandlungsbedürftigkeit ihrer Männer oder eine ihrer Ansicht nach unangebrachte Einmischung in die psychiatrische Behandlung. Ebenfalls zu jeder Zeit präsent war die Partnerin als Opfer der Gewalttätigkeit ihres Mannes. Doch Psychiater bemaßen mit solchen Schilderungen offenbar nicht nur den Einfluss der Partnerinnen auf die seelische Gesundheit der Patienten (und auf den Behandlungserfolg in der Klinik). Sie dienten auch der Begründung für die Diagnose ihrer Männer. Die Dominanz einer Partnerin konnte wie gezeigt als Hinweis auf die „asthenische Persönlichkeit“ eines Patienten gewertet, die sich in dessen mangelnder Durchsetzungsfähigkeit offenbarte. Die Erwähnung einer ängstlich-eingeschüchterten Ehefrau half hingegen dabei, die Diagnose bei einem sadistischen Gewalttäter plausibler begründen. Schließlich wurden in späteren Jahren die zunehmend unabhängigen Partnerinnen zum

120 Neben den Beispielen in diesem Abschnitt siehe: PUH 63/214; PUH 93/339; PUH 73/66; UAG 51/358; UAG 69/591; UAG 59/728. 121 Neben den Beispielen in diesem Abschnitt siehe: UAG 73/144; PUH 93/407; PUH 93/336; PUH 83/350; PUH 83/21; PUH 53/199; PUH 73/342; PUH 83/165; PUH 73/70; PUH 93/183; PUH 93/336; PUH 83/27; PUH 63/355.

5.6 „Warum kommt das immer nur zu Hause? Das ist das sonderbare.“

189

Indikator für eine emotionale Unselbstständigkeit ihrer kranken (Ex)Partner, die mit der neuen Situation nicht zurechtkamen. Dies alles mag über die vielen potentiell gesundheitsfördernden Eigenschaften von Partnerinnen für die betroffenen Patienten hinwegtäuschen. Partnerinnen, insbesondere Ehefrauen, traten von allen Angehörigen mit Abstand am häufigsten als Bezugspersonen für die Patienten in den Kliniken in Erscheinung. Von dieser Tatsache abgesehen, wurde wiederum nicht viel überliefert, was eine aktive, unterstützende Rolle dieser Frauen belegen würde. Dies ist, wie auch in den vorangegangenen Abschnitten, dem Pathozentrismus der psychiatrischen Dokumentation geschuldet. Einträge, die die Unterstützung der Partnerinnen eingehender beschreiben, waren selten zu finden. Dazu gehört auch der folgende in einer Heidelberger Akte: „Macht gemeinsam mit seiner Frau autogenes Training.“ 122 Hinweise darauf, dass Partnerinnen die Behandlung befürworteten, wurden meist aus einem konkreten Anlass vermerkt. Die Ehefrau eines zur Gewalt neigenden Patienten123 schrieb beispielsweise an den behandelnden Arzt: „Ich muss ehrlich gestehen, ich habe Angst, trotz der vielen Briefe und Versprechungen, die mein Mann gemacht hat.“ Sie bat darum, ihren Partner bitte „nicht zu früh [zu] entlassen“. Wie auch bei den Patienten selbst oder ihren Müttern wurden Heilungsbemühungen der Partnerinnen eher dann dokumentiert, wenn sie von der Behandlungsroutine abwichen.124 Die Frau eines Patienten125 gab bei der Anamnese an, „Vor 14 Tg. habe Ref. dem Pat. gesagt, er sollte in seinem Zustand einen Seelenarzt aufsuchen.“ Damit meinte sie jedoch mitnichten einen Psychiater, „sondern einen katholischen Priester, einen Pater.“ In der Akte eines Patienten126 las man: „Die Ehefrau weist wiederholt darauf hin, daß sie durch ihre Abwesenheit von zuhause nicht so auf ihren Mann achten könne, daß man ihn bisher sicher nicht richtig behandelt habe, daß er zu viele Tabletten habe schlucken müssen, daß man ihm zu wenig persönliche Zuwendung habe angedeihen lassen. ‚Da muß es ein Problem geben, daß man nicht mit Tabletten beseitigen kann.‘ Herr [Pat.] ging zunächst mit seiner Frau auf Station. Bereits 30 Minuten später wünscht Frau [Pat.] ihren Mann sogleich wieder mit nach Hause zu nehmen. Auf der hiesigen Station sei nicht die richtige Atmosphäre für ihn, man habe sich nicht gleich in der notwendigen Weise dem Mann zugewandt.“

Bisweilen traten die Partnerinnen, die die Behandlung blockierten, auch als Erfüllungsgehilfinnen für die Wünsche ihrer Männer auf, denen der offene Widerspruch gegen die Ärzte offenbar unangenehm war. Wiederholt kam es vor, dass Patienten unangekündigt die Klinik verließen und ihre Frauen in der Klinik anrufen ließen, damit diese dort bekanntgaben, dass sie nicht wieder dort hingehen wollten.127 In einem Fall hatte die Frau eines Landwirts128 in 122 PUH 73/193. Siehe auch PUH 63/362; PUH 83/282; PUH 83/15; PUH 93/179; PUH 73/393; PUH 83/15; PUH 83/367. 123 UAG 65/628. 124 PUH 93/135; PUH 73/393; PUH 73/65; PUH 83/151. 125 PUH 63/355; siehe auch PUH 83/151. 126 PUH 73/43; PUH 83/151. 127 PUH 93/408; PUH 83/35. 128 UAG 51/2144.

190

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

der Nähe von Gießen dem Wunsche ihres Mannes entsprechend wiederholt gesagt, sie möchte keine Elektroschockbehandlung für ihren Mann.129 Die intervenierende Partnerin mischte sich in solchen Schilderungen von Widerstand gegen die Behandlung mit einem anderen Typ der Repräsentation von Frauen in den Akten: Mit dem der anspruchsvoll-überfordernden Frau. Einige Male charakterisierten Ärzte die Partnerinnen, die sich in die Behandlung einmischten, damit ihre Männer möglichst bald wieder arbeiten könnten, als überfordernd. Die Ehefrau eines Patienten130 holte diesen vorzeitig aus der Klinik nach Hause; zuvor hatte dieser laut Akte noch die Befürchtung geäußert, seine Frau würde ihn verlassen, wenn er durch seine Erkrankung nicht mehr arbeiten könne. Auch die Ehefrau eines Amtsträgers holte diesen vorzeitig aus der Klinik. Vor dessen Einweisung hatte sie bereits versucht, die Unruhezustände des Mannes eigenständig zu behandeln, indem sie ihm heimlich Beruhigungsmittel (die damals noch frei erhältlich waren) in das Essen und in den Kaffee getan hatte. Dahinter sowie hinter dem letztendlichen Abbruch des Klinikaufenthaltes hatte die Sorge der Frau gestanden, ihr Mann könne Probleme mit dem Amtsarzt bekommen, wenn die zuständige Behörde etwas von seiner Alkoholerkrankung mitbekäme. Insbesondere in den frühen Jahren thematisierten die Akteure häufig, wenn eine Partnerin in ihren Augen zu dominant im Umgang mit ihrem Mann war.131 Dies galt interessanterweise sowohl für die Ärzte als auch für die Patienten und sogar für die Partnerinnen selbst. Die Frau eines Gießener Patienten132 erklärte in der unmittelbaren Nachkriegszeit dem Psychiater, die Ursache für das „Depressive Zustandsbild im Praesenium“ ihres Mannes folgendermaßen: „Er musste in der Hauswirtschaft mitarbeiten, das [ist] die Wurzel seiner Leiden.“ Auch die Frau von Kurt F., dem opioidabhängigen Arzt, sah in der vermeintlich widernatürlichen ehelichen Machtverteilung die Ursache für den schlechten Zustand ihres Mannes. So sei die Frau in Tränen ausgebrochen und habe sich selbst bezichtigt, „ihren Mann zu sehr unter die Knute genommen und vor seinen eigenen Patienten gedemütigt zu haben.“ Der Mann selbst wie auch die Psychiater teilten diese Sichtweise.133 Aussagen wie: „Sie ist ein Herrschaftstyp, der Mann 129 Den Ärzten, die diese Behandlung gegen den Willen des Mannes durchführen wollten, gelang es schließlich, von der Ehefrau dennoch eine Einverständniserklärung zu erhalten. Sie schickte das unterschriebene Formular an die Klinik mit der Anmerkung: „Ich möchte höflichst bitten, wenn es irgend möglich sein sollte, meinen Mann von diesem Schreiben nicht in Kenntnis zu setzen.“ Ihr Ehemann erlitt daraufhin durch die Behandlung mehrere Knochenbrüche. 130 PUH 73/393. Mehr Fälle der Überforderung durch Ehefrau und Familie siehe auch UAG 61/1081; PUH 83/32; PUH 93/407. 131 PUH 53/58; PUH 63/330; PUH 63/368. 132 UAG 49/686. 133 Zwar betrachteten die Ärzte in diesem Fall das Klagen des Mannes über die Übermacht seiner Gattin als Versuch des asthenischen Psychopathen, als den sie ihn diagnostizierten, sich der Verantwortung für seinen Morphiummissbrauch zu entziehen. Dennoch teilten sie das Unbehagen des Ehepaars über die geschlechteruntypische Machtverteilung insofern, dass der Charakter der Frau über weite Strecken der Akte als Belastung für den Patienten beschrieben wurde.

5.6 „Warum kommt das immer nur zu Hause? Das ist das sonderbare.“

191

steht wahrscheinlich unter ihren Pantoffeln“ 134 oder gar „Potenz seit 1,5 Jahren praktisch erloschen. Frau verdient mehr als er“ 135 fanden sich in den ersten Jahrzehnten des Untersuchungszeitraumes immer wieder. Der Konflikt mit der Frau, „die ihren Platz nicht kennt“, wurde also auch auf sexuellem Gebiet ausgetragen. Im Falle von Ernst K.,136 der wahnhaft eifersüchtig war, zweifelten die Psychiater auch nach der Eigen- und Fremdanamnese noch, ob der Mann sich die Untreue seiner Frau wirklich nur einbildete. Anlass zu diesem Zweifel war offenbar, dass sich die Frau beim Sex aktiver verhielt, als es dem Patienten und seinen Psychiatern geheuer war: „Der Pat. ist weiterhin in seinem Verhalten geordnet. Bei den Gesprächen lässt er nun deutlich werden, dass seine Frau ihn wirklich betrüge; er habe zwar keine Beweise dafür, aber verschiedene Zeichen, die Pat. erzählt und die glaubhaft wirken.“

Ernst K. hatte nämlich Folgendes angegeben: „So habe seine Frau nach 14monatiger Ehe plötzlich beim GV eine neue Stellung gebracht, habe sich auf ihn gelegt, habe gesagt, dass sie so an der Klitoris besser erregt werde, dass sie so mehr spüre. Natürlich habe er sich gleich fragen müssen, woher das Wissen seiner Frau stamme, da doch er über das ganze Geld verfüge und sie sich z. B. auch kein Buch habe kaufen können, in ihrem Bücherschrank auch kein entsprechendes Aufklärungswerk gestanden habe. So habe er doch annehmen müssen, dass ihr das gezeigt worden sei, vermutlich von einem Freund. Besonders betroffen sei er bei der ganzen Sache gewesen, dass seine Frau plötzlich ganz kategorisch gesagt habe: ‚So wird geliebt.‘“

Dementsprechend hielt man die Frau, nicht ihren Ehemann, bei der Entlassung an, „alles zu tun, die Situation zu Hause so neutral und liebevoll wie möglich zu gestalten. Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass sie jetzt in der Lage sei, sich ihrem Ehemann ohne begleitende Zärtlichkeiten sexuell hinzugeben.“ Tatsächlich wurde der Patient nach einiger Zeit wieder aufgenommen. Nichts habe sich gebessert: „Er sei oft sehr reizbar, behauptete, sie sei schuld an seiner Krankheit, sie wolle ihn nur loshaben, damit sie schon morgens mit ‚vögeln‘ anfangen könne.“ Dem Wunsch ihres Ehemannes nach Sex habe sie deshalb nicht mehr nachkommen können. „Sie habe sich nur geekelt, habe die Augen schließen müssen, um das Gesicht ihres Mannes nicht zu sehen. So ginge es aber nicht […] So habe sie denn am 3. Tag zu ihm gesagt, sie habe die Regel, seitdem hätten sie nicht mehr verkehrt.“ Auch die Pervitin- und Alkoholsucht von Dr. Willi K.137 hatte ihre Ursache laut Gießener Ärzten in den sexuellen Problemen des Ehepaares; diese wurden ebenfalls an den Vorlieben der Ehefrau festgemacht, die man für pathologisch hielt. Willi K. versuchte, seiner „aufsässigen“ Ehefrau mithilfe der zu diesem Zeitpunkt noch neuartigen Psychotherapie Herr zu werden. Anlass war, dass die Frau den aus heutiger Sicht vergleichsweise harmlosen Wunsch äußerte, neben den schon erwähnten sexuellen Eigenarten auch noch expli-

134 135 136 137

UAG 67/221. UAG 64/301. PUH 63/368. UAG 55/602.

192

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

zite Fotografien von sich anfertigen zu lassen. Er schickte sie zu einem renommierten Professor für Psychosomatik: „Bei dem vorjährigen Psychotherapie-Kongress in Lindau habe seine Frau [mit] Herrn Prof. [D.] aus [S.] vier Stunden lang gesprochen. Dieser habe ihn dann zu sich bestellt und gesagt, dass seine Frau zwar Kinder, aber keinen Mann haben wollte, dass sie außerdem ihn zur Brutalität herausfordern werde, weil sie der Meinung sei, dass alle Männer brutal seien. Das stehe im ursächlichen Zusammenhang mit einem frühkindlichen Erlebnis. Als sie 12 Jahre alt gewesen sei, habe sich einmal ein Mann vor sie gestellt und sie aufgefordert, seinen Penis in die Hand zu nehmen.“

Machtasymmetrien zugunsten der Partnerinnen wurden regelmäßig pathologisiert, sowohl bei den Männern, denen mehrheitlich Diagnosen wie Asthenie oder angstbezogene Störungen gestellt wurden, als auch bei ihren Frauen, wenn die Akten es denn erwähnten – wie im vorangehend geschilderten Fall. Beides war auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Männer, dass diese in der Lage sein sollten, ihre Partnerinnen mit fester Hand zu führen. Die Überzeugung, dass Männer ein Bedürfnis oder gar Recht hatten, sich von einer solchen Erwartungshaltung freizumachen, fand man bei keinem der Akteure. Nur Erwin G.138 gestand, als er in seinem Lebenslauf auf seine gescheiterte Ehe zurückblickte, dass er durch die Rollenverteilung maßlos überfordert gewesen sei; das Befehlen habe ihm schließlich keiner beigebracht. „Dann lernte ich durch Jungvolk, HJ, Arbeitsdienst und Wehrmacht Gehorsam kennen. ‚Sie sind nicht zum denken hier, sondern zum Gehorchen‘ […] „In dieser unvollkommenen Reife zum Leben, wurde meine sexuelle Reife zur Erotik zum Verhängnis. Denn ich heiratete. Und hier sollte ich auf einmal das Oberhaupt sein.“

Angesichts neuerer Resultate der Erforschung häuslicher Gewalt sowohl aus Deutschland als auch aus anderen Industrienationen, die zeigen, dass Männer zumindest annähernd so häufig Opfer körperlicher Gewalt seitens ihrer Partnerinnen wie Frauen werden,139 wenn auch der Schweregrad und die Folgen der Übergriffe durch Männer gravierender sind als umgekehrt,140 fanden sich auffallend wenige Einträge über Frauen, die körperlich gewalttätig waren. Die einzigen entsprechenden Fälle von häuslicher Gewalt sind aus den Jahren vor 1970 dokumentiert.141 Die prügelnde Frau nahm hier eine ähnliche Funktion ein, wie die übermäßig dominante Frau – als belastender Umweltfaktor und als Erkennungszeichen für bestimmte Diagnosen. Ein Patient gab an, seine Frau „habe ihm schon des Öfteren mit harten Gegenständen an den Kopf geschlagen.“ 142 Die Partnerin selbst gab ebenfalls an, sie habe ihm in dem Konflikt, der zur Einweisung ihres Mannes geführt hatte, mehrfach „eine runtergehauen“. Die Ärzte schlossen am Ende der Akte:

138 139 140 141 142

UAG 55/1096. Schlack/Rüdel/Karger/Hölling (2013), S. 758–762. Schröttle (2013). PUH 63/306; UAG 66/661; UAG 70/732 und die im Folgenden zitierten. PUH 63/370.

5.6 „Warum kommt das immer nur zu Hause? Das ist das sonderbare.“

193

„Ehefrau wichtigtuerisch, hält immer wieder den Arzt an, um irgendetwas Wichtiges zu erfahren. […] Sehr primitive, geltungsbedürftige Frau, unter der der asthenische Mann sicher sehr leiden dürfte. Hier heraus ist wohl die diagnostische Ansicht von Prof. [Name] auch zu verstehen, der nicht ans Vorliegen einer alkoholischen Triebhandlung […] glaubt, sondern an eine Demonstration eines Schwächlings gegenüber seiner Frau, der imponieren wollte.“

Über einen Gießener Patienten143 las man: „Dann schlage sie auf ihn ein, werfe auch nach ihm mit dem nächsten greifbaren Gegenstand ganz gleich welcher Art. […] Ein Pfleger, der die Verhältnisse im Hause des Pat. kennt bestätigt, daß der Pat. von seiner Frau häufig verprügelt werde.“

Im Gegensatz zu den Gewalttäterinnen tauchten Frauen weitaus häufiger als Gewaltopfer ihrer Partner auf.144 In diesem Fall erhielten die Männer meist marginalisierende Diagnosen, wie z. B. dissoziale Persönlichkeitsstörung, „geltungssüchtige“ Psychopathie oder substanzbezogene Störungen. Die in diesen Akten beschriebene Gewalt spielte sich auch im sexuellen Bereich ab. So auch im Falle von Adalbert F.,145 dem Vergewaltiger, der sich nicht gegen seine Mutter hatte durchsetzen können: „Nach dem Bericht des Polizeibeamten erschien Frl. S. gegen 24.00 Uhr auf der Wache, sie machte einen erregten Eindruck, hatte Schürfwunden am Hals und am Rücken und eine blutunterlaufene Stelle am linken Oberarm. […] sie habe vor ihrem Freund Angst gehabt. Sein Verhalten ihr gegenüber sei ihr unverständlich gewesen, er habe ihr gedroht […]. Er habe sie kaum alleine gelassen, habe sie manchmal im Zimmer eingeschlossen, damit sie nicht weglaufe. Er habe ihr vorgeworfen, sie würde mit sämtlichen Männern, deren Adressen in ihrem Notizbuch stehen, zusammen schlafen. […][Im Wald] habe er sie in auffälliger Weise beschimpft, habe sie Nutte und Hure genannt […]Herr Dr. P. habe sie gewürgt und sie habe dann ihren Widerstand aufgegeben. Sie habe nur noch geschrien, als er gewaltsam mit ihr den Verkehr ausgeübt habe. Daraufhin habe er ihr die Hand auf den Mund gepresst, während er ihr mit der anderen Hand den Hals drückte.“

In diesem Fall war die Trennungsabsicht der Partnerin der auslösende Faktor für die seelische Krise. Trennungen gab es natürlich über den gesamten Untersuchungszeitraum. In den frühen Jahren146 ging es bei Beziehungsbrüchen jedoch meist um echte oder vermutete Untreue der Partnerinnen. Selten wurde dokumentiert, dass diese selbst ein Ende der Beziehung wünschten. In den späteren Jahren des Untersuchungszeitraumes änderten sich einige Dinge, die offensichtlich den sozialen Wandel in den Geschlechterverhältnissen widerspiegelten. Mehr und mehr Frauen waren sozioökonomisch unabhängig von ihren Partnern. Dominierende Frauen wurden nun nicht mehr als pathogen geschildert; auch offen wertende Urteile der Ärzte über sie fanden sich nicht mehr. 143 UAG 67/387. 144 PUH 83/162; PUH 83/351; UAG 76/209; PUH 73/402; UAG 66/680; PUH 73/189; PUH 83/168; UAG 64/464; PUH 73/399; PUH 83/281; PUH 93/423; PUH 73/389; PUH 93/121; UAG 65/628; UAG 49/707. 145 PUH 63/343. 146 PUH 53/3; PUH 63/251; PUH 63/214; UAG 57/730; UAG 50/1386; UAG 50/1098; UAG 52/1886.

194

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

Ein Angestellter der Bundeswehr,147 der kurz nach der Geburt seines ersten Kindes wegen Angstzuständen, „starke[m] Herzstechen“ sowie einem „starken Ziehen im Unterleib bis in die Hoden“ in die Universitätsklinik Gießen kam, war emotional in hohem Maße von seiner Frau abhängig. Dies wurde zwar auch als problematisch dokumentiert, die Frau dabei jedoch nicht als übermäßig dominant geschildert. Die Psychiater schlossen sich vielmehr den Schilderungen der Ehefrau an, „er sei wie ein kleiner Junge […] Sie selbst arbeite als Sekretärin auch bei der Wehrmacht [sic], in der Nähe der Arbeitsstelle ihres Mannes, sie werde oft gerufen, wenn ihr Mann Angstzustände habe, er würde durch ihre Gegenwart beruhigt.“ Auch Männer wurden ab diesem Zeitpunkt seltener pathologisiert, wenn sie in Beziehungen nicht dominant erschienen. Stattdessen häuften sich Schilderungen über Männer, die mit der neuen Freiheit der Frauen nicht zurechtkamen.148 Eine andere Sichtweise auf die Machtdynamiken in Paarbeziehungen war entstanden, die für einige Positionsänderungen sorgten. So häuften sich etwa auch Einträge über Frauen, die aus Sicht der Ärzte ihre Männer mit Ansprüchen an Verdienst und Status überforderten.149 So wie der Frau mehr Unabhängigkeit und Dominanz zugestanden wurde, gestand man Männern auch zu, dass ihre Partnerinnen sie in ihren Forderungen überstrapazieren konnten: „Wie bei seinem ersten Aufenthalt ist Herr [Pat.] auch jetzt wieder im Zwiespalt zwischen dem großen Leistungsanspruch, den er an sich selbst stellt und in dem er von seiner Frau bestärkt wird und der Erkenntnis der Überforderung in seiner beruflichen Situation.“

Dies gab auch die Stieftochter zu Protokoll, die über ihre Mutter sagte, diese sei ziemlich gefühlsarm. Es sei unbedingt zu befürworten, dass ihr Vater eine ihn weniger belastende Tätigkeit ausübe, aber „die Mutter arbeite selbst in der gleichen Firma […] und empfände eine ‚Degradierung‘ ihres Mannes als Makel.“ Solche statusorientierten Überforderungen hatten einen deutlichen Geschlechterbezug: Ein Mann,150 der im Zuge der wirtschaftlichen Turbulenzen nach dem Ölpreisschock arbeitslos geworden war, plante, sich zum Krankenpfleger umschulen zu lassen. Den Gießener Psychiatern fiel auf, dass seine Frau sich aus Renommee-Gründen nachdrücklich gegen dieses Vorhaben aussprach. Nach seiner Entlassung nahm sich der Mann das Leben. Der Frau eines Arbeiters,151 der nach jahrzehntelanger Schichtarbeit berufsunfähig geworden war („Endogene Depression“), sei als Erklärung für den Zustand ihres Mannes lediglich eingefallen, „er habe sich gehen lassen“. Einstellungen wie diese wurden in der Folge vermehrt als belastende Umweltfaktoren dokumentiert. Ein junger Monteur bekam immer nur dann Angst und Schwindel, wenn er zu Hause war. Seine Frau klagte gegenüber dem Psychiater: „Wenn ich sehe, 147 UAG 72/554. Siehe auch PUH 83/165; PUH 83/52; PUH 83/60; PUH 83/372; PUH 83/367. 148 Neben den Beispielen in diesem Abschnitt: PUH 73/428; PUH 83/372; PUH 83/51; PUH 83/162. 149 PUH 73/43. 150 UAG 73/144. 151 PUH 93/437.

5.6 „Warum kommt das immer nur zu Hause? Das ist das sonderbare.“

195

wie die anderen vorankommen. Wir hingegen bleiben auf dem Fleck stehen.“ Der Mann selbst konnte sich keinen Reim auf seine Beschwerden machen: „Warum kommt das immer nur zu Hause, das ist das sonderbare. Ich habe doch keinen Ärger, ich habe doch ein Kind.“ Frauen, die in den Beziehungen mit den Patienten dominant waren, kamen hingegen immer noch hin und wieder vor; allerdings waren sie nicht mehr so deutlich als deviant markiert wie in den Anfangsjahren. Eine gewisse Unabhängigkeit dieser Frauen wurde mehr und mehr zur Normalität. Frauen, die nicht auf Gedeih und Verderb ihren Partnern ausgeliefert waren, wurden von Psychiatern nun nicht mehr als Problem dokumentiert. Dass Männer damit bisweilen nicht zurechtkamen, wurde hingegen sehr wohl problematisiert und dies war offenbar mehr als nur ein Wertewandel in Bezug auf Geschlechterrollen. Dies zeigt sich an der Menge von Trennungsereignissen, die nun auch vermehrt von Frauen aus initiiert wurden.152 Ein Mann153 wurde mitten in der Zeit, als er für seine Familie ein Haus baute, von seiner Frau verlassen, die zu ihrem neuen Freund zog. „Was ich gemacht habe zählt nicht mehr“ habe der Mann seinem Arzt geklagt. In diesem wie auch in vielen anderen Fällen war häusliche Gewalt im Spiel. Gewalttätige Frauen verschwanden dabei vollkommen aus den Akten, die Zahl der prügelnden Männer hingegen blieb in etwa gleich. Ging es um häusliche Konflikte, trat die Frau von nun an nur noch als Opfer in Erscheinung, der Unterschied zu früher bestand lediglich darin, dass die erlittene Gewalt nun auch als Reaktion der Männer auf die Unabhängigkeit der Frauen auftrat. Eine Frau, die ihren Mann154 kurz zuvor verlassen hatte, gab, von dem behandelnden Arzt nach den Gründen gefragt, an: „Er würde sie oft als dumm bezeichnen […] sie fühle sich minderwertig behandelt und hat immer den Eindruck, sie sei ein Möbelstück, über das man jederzeit verfügen könne. […] er habe ständig von ihr verlangt, dass sie pünktlich den Haushalt bestelle. Wenn irgendwas nicht klappte, wurde er jähzornig, schimpfte und schlug die Frau.“

Doch nicht nur bei Trennungen, sondern auch in stabilen Beziehungen machten die neuen Verhältnisse vielen Männern zu schaffen. Dies empfand auch der oben erwähnte Mann so,155 der seinen Beruf als Handelsvertreter verloren und daraufhin im Vorruhestand auf den Verdienst seiner Frau angewiesen war. Manche Männer empfanden die Macht, die sie über Frauen noch bis vor kurzem ausüben sollten, keinesfalls als Privileg, sondern entweder als naturgegeben oder sogar als ihre Pflicht. Wenige Jahre zuvor hätten die Psychiater ihnen noch recht gegeben. So begründete ein Patient156 seine Krise damit, dass er es versäumt hatte, seine Ehefrau unter Kontrolle zu halten. In seinem Lebenslauf stand:

152 PUH 93/435; PUH 83/47; PUH 93/339; PUH 73/49; PUH 73/334; PUH 73/316; PUH 83/162; PUH 73/66; PUH 93/438. 153 PUH 83/168. 154 UAG 72/466. 155 PUH 73/70. 156 PUH 83/42.

196

5. Soziale Beziehungsnetzwerke „Am Anfang war eitel Sonnenschein wie wohl in jeder Ehe, doch mit den Jahren, es sind inzwischen 29 errang durch meine Schuld und Nachlässigkeit meine Frau immer mehr die Oberhand […] so wurde ich wie ich selbst feststellte durch eigene Selbstkontrolle immer unruhiger u. nervöser“.

Auch Männer wie Peter O.,157 die sich selbst ausgesprochen progressiv und emanzipiert fanden, litten unter stark ambivalenten Gefühlen ihren Partnerinnen gegenüber und kamen zu dem Schluss, dass die Ursache ihrer Leiden in der neu erworbenen Stärke ihrer Partnerinnen liegen müsse. Der Patient berichtete, er habe „in der ersten Ehe eine mütterliche Frau gehabt, welche Eigenschaften er schwer ertragen konnte. Die zweite Ehe wäre glücklich, wenn seine Frau nicht so intellektuell wäre. Sie sei zynisch, emanzipiert. […][Der Patient] hat das Gefühl, seine Frau sei ihm haushoch überlegen. […] Er glaube, dass alles angefangen habe, weil seine Frau sich emanzipiert habe. Man habe Partnertausch gemacht und seine Frau habe schließlich wieder mit dem Studium begonnen. Er habe sie dazu gedrängt aus dem Hause zu anderen Männern zu gehen. Er habe aber doch gemerkt, dass es ihn sehr ärgere, dass er eifersüchtig sei. Sie habe schließlich einen Professor zum Freund gehabt und er habe sich minderwertig gefühlt.“ Die Haltung der Psychiater den Männern gegenüber, die offenbar an der Unabhängigkeit ihrer Partnerinnen litten, schwankte in den letzten beiden Jahrzehnten des Untersuchungszeitraumes zwischen therapeutischem Nihilismus und der Pathologisierung traditioneller Männlichkeit.158 Die betroffenen Patienten erschienen nun als unfähig, sich von traditionellen Geschlechtsrollen zu lösen, und liefen durch ihre fatale emotionale Unselbstständigkeit in ihr Verderben, sobald sie ihre Frauen nicht mehr unter Kontrolle hatten. Tab. 21 Dokumentation von Partnerinnen im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Partnerinnen als Bezugspersonen für Ärzte und Patienten

191

Partnerinnen als in pathogener Weise dominant charakterisiert

18

Partnerinnen als Behandlungshindernis

15

Gewalttätige Partnerinnen

6

5.7 „Er hätte [es] gerne auf flüchtige erotische Kontakte beschränkt, dies aber nicht durchgehalten.“ – Sex zwischen Lustfeindlichkeit und Überforderung Auch die Art und Weise, in der das über den vergangenen Abschnitt hinausgehende, konkrete Sexualleben von Männern in den Akten repräsentiert wurde, gibt Aufschluss über veränderliche Anforderungen an „gesunde Männlichkeit“ und wie diese Patienten und Ärzte betrafen. Und auch in diesem Bereich war es 157 UAG 76/324. 158 Siehe Abschnitt 2.1.9.

5.7 Sex zwischen Lustfeindlichkeit und Überforderung

197

der Beginn des kulturellen Wandel seit ca. den späten 1960er Jahren, durch den sich der Untersuchungszeitraum in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gliedern ließ. Die Auswirkung veränderter Sexualmoral auf die Psychopathologie und psychiatrische Praxis, sowie neue Arten der Krankheitserfahrungen von Patienten ließen sich deutlich erkennen, wie in diesem Abschnitt anhand einiger Fallbeispiele sowie dem Verweis auf entsprechende Akten gezeigt werden soll.159 Die sozialhygienisch verbrämte, offen restriktive Sexualmoral der klassischen Psychiatrie machte einem deutlich permissiveren Verständnis Platz. Und auch Patienten berichteten seit dieser Zeit von ihrer Sexualität innerhalb eines deutlich gewandelten Wertehorizonts. Trotz dieser Änderungen bestanden deutliche Kontinuitäten im ärztlichen Verständnis von gesunder Sexualität und wie man therapeutisch auf ein solches Ideal hinwirken sollte. Eine liberalere Neubewertung der Sexualität alleine war offenbar noch keinesfalls hinreichend, pathozentrische Zugänge zu den Problemen männlicher Sexualität durch eine realitätsnahe Herangehensweise zu ersetzen. Auch nach dem Abgang der „Sozialhygieniker“ galt bis Ende des Untersuchungszeitraumes in den Kliniken, dass gesunde, zumindest jedoch „normale“ männliche Sexualität im Wesentlichen drei Dinge bedeutete: 1. Das Begehren von Frauen, 2. Der Primat der genitalen Erotik mit Vaginalverkehr und Ejakulation als Regelfall des sexuellen Kontakts, 3. Der aktiv bis dominante Part des Mannes während dieser Kontakte. Die Unfähigkeit, Sexualpartnerinnen zu finden oder, sofern diese vorhanden waren, mit diesen regelmäßig Geschlechtsverkehr zu haben, wurde über den gesamten Untersuchungszeitraum als Auffälligkeit in den Akten notiert und zwar bei Patienten mit den verschiedensten Diagnosen,160 nicht nur also bei Patienten mit dezidierten „Funktionsstörungen“ wie „Potenzschwierigkeiten“, Lustlosigkeit oder Erektionsproblemen.161 In jedem Fall waren die Probleme für die betroffenen Patienten, insbesondere für junge Männer ebenfalls zu allen Zeiten eine schwere Belastung. In den frühen Jahrzehnten, also den 1950er und 1960er Jahren ließen sich aus den Akten zwei häufig genannte Hindernisse für Ärzte, die Patienten in Bezug auf ihre Sexualität therapieren wollten, herauslesen. Das erste war die oben erwähnte gesellschaftlich verbreitete restriktive Sexualmoral, der sich die Psychiatrie zumindest indirekt, nämlich in ihrer Funktion als gesellschaftlicher Ordnungsmacht als Behandlungsziel verpflichtet sah. Diese Sexualmoral setzte einer unbefangenen Kommunikation über Sexualität, ganz zu schweigen von einem permissiven Umgang mit dieser, deutliche Grenzen, über die sich die Ärzte auch nicht hinwegsetzten. Andererseits konnte die Moral ein 159 Siehe auch Dinges (2017), S. 27–30. 160 Siehe PUH 53/253; PUH 63/373/1 und die folgenden Nachweise dieses Abschnittes. 161 Die Vielfalt der Kontexte, in denen in den Akten über Sexualität berichtet wurde, erklärt sich aus den Eigenheiten der ärztlichen Dokumentation. Entsprechende Beschwerden konnten als Symptome unterschiedlicher Krankheitsdynamiken interpretiert werden. Dies konnte auf sehr indirektem Wege vonstattengehen. Sexuelle Probleme konnten etwa als Indikator für eine gestörte Beziehung eines Patienten zu seiner Partnerin dienen und dies wiederum als Zeichen für eine bestimmte psychische Störung.

198

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

Hindernis darstellen, denn auch für die Psychiater war offensichtlich, dass es bei bestimmten Patienten geboten schien, den Auswirkungen der sozial erwünschten Lustfeindlichkeit entgegenzuwirken, die von diesen Männern sichtlich auf Kosten ihrer psychischen Gesundheit internalisiert worden waren.162 Im Fall von Ernst K. geriet zwar zunächst primär die Ehefrau in den psychiatrischen Blick, da den Ärzten deren Wusch nach klitoraler Stimulation, und sei es durch den eigenen Ehemann, verdächtig erschienen war. Doch auch die offenkundige massive Gehemmtheit des eifersüchtigen Ehemannes wurde schnell als Teil des Problems anerkannt: „Vielmehr sei er noch als Mann von 20 oder 22 Jahren viel mit Pfarrern verkehrt, habe der Sexualität wenig Bedeutung zugemessen, vielleicht auch deshalb, weil er sich geschämt habe, wenn er dann hätte unkeusches beichten müssen.“

Auch bei anderen Männern notierte man, wenn Prüderie das „gesunde Maß“ an sexueller Aktivität verhinderte: „In der gemischten Volksschule sei er manchmal rot geworden, wenn ein Klassenkamerad eine Mitschülerin nur angesehen habe. […] Sexuelle Kontakte hatte er zu seinen Freundinnen nur wenige Male. Sie waren ihm überhaupt erst möglich, sobald er eine menschliche Beziehung zu ihenn [sic] aufgebaut hatte.“

Auch die aus der sexuellen Gehemmtheit resultierende Frauenfeindlichkeit, bei der weibliche Personen anhand der jeweils begehrten bzw. abgelehnten Eigenschaften in „Heilige“ und „Huren“ aufgespaltet werden, war als Teil des Problems durchaus bekannt: „Kontakt zu Dirnen163 hat er nie aufgenommen, da er dies verabscheut und er sich unrein vorkäme. Wegen gelegentlichen Masturbierens macht er sich Selbstvorwürfe.“ Bei einem Gießener Patienten164 schrieb man: „Er sagte nur einmal konkret, daß er Dirnen gegenüber impotent sei. Wir hatten den Eindruck, daß er auf sexuellem Gebiet auch Probleme hätte, er bat jedoch, daß man ihm den Bericht darüber ersparen möchte.“

Bisweilen berichteten die Ärzte in dieser Zeit von ausgesprochener Unwissenheit, sowohl über den eigenen Körper wie auch über den der Sexualpartnerin. Ein Mann165 gab beispielsweise an, er habe seine Bekanntschaften stets nach kurzer Zeit verlassen, weil er glaubte, „die Regelblutung sei ein Zeichen verlorener Jungfräulichkeit.“ 166 Wie oben bereits beschrieben waren SBT als Patientengruppe ein fester Bestandteil der diagnostischen und therapeutischen Arbeit der Psychiatrie. Die „Homosexualität“ war für die Psychiatrie in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraumes (und weit darüber hinaus) die gescheiterte männliche Sexualität schlechthin. Dies betraf nicht nur schwule Männer, sondern auch Ju162 Neben den im Folgenden aufgeführten Fallbeispielen siehe: UAG 59/1376, PUH 53/107; PUH 63/466. 163 Hier und im folgenden Beispiel meinten die Patienten mit „Dirnen“ sexuell aktive Frauen im Allgemeinen, nicht bloß Prostituierte. 164 UAG 67/96. 165 PUH 63/333. 166 Siehe auch Bänzinger (2015).

5.7 Sex zwischen Lustfeindlichkeit und Überforderung

199

gendliche und Erwachsene, deren Begehren nicht oder noch nicht auf Frauen fixiert war. Die Vehemenz und detektivische Gründlichkeit, mit der die Ärzte versuchten, in uneindeutigen Fällen die Ursachen für das explizit als „Versagen“ bezeichnete Verhalten ausfindig zu machen, die Versuche herauszufinden, ob sich dahinter nicht doch ein „normaler und gesunder Mann“ verberge, offenbart den therapeutischen Horizont, in dem sich die Psychiatrie dieser Zeit bewegte. Der Fall eines jungen bisexuellen Mannes,167 der 1963 Patient in Heidelberg war, ist aufschlussreich, nicht nur in Bezug auf den Umgang mit SBT, sondern vor allem auf die Art und Weise, in der Psychiater in solchen „Grenzfällen“ männliche Heterosexualität als Leistungsziel auffassten, das zu verfehlen keine Charaktereigenschaft war, sondern ungenügendes Ergebnis einer Anstrengung. Bei der Entlassung dokumentierten die Ärzte: „Es handelt sich wahrscheinlich nicht um eine homosexuelle Fehlentwicklung, sondern um eine umgreifende neurotische Störung bzw. um eine abnorme Persönlichkeitsentwicklung.“

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hatten Ärzte minutiös die Biographie des Mannes nach sexuellen Begegnungen durchstöbert, die belegen sollten, dass der Mann trotz seiner gelebten Homosexualität im Grunde genommen heterosexuell sei: „Pat. hat in der Zeit vor der Pubertät durchaus Affinität zu Mädchen gehabt. Er habe sogar recht gern mit Mädchen gespielt, gelegentlich sei es auch zu sexuellen Manipulationen gekommen. Im Alter von 13 Jahren habe er GV mit einem etwa 9jährigen Mädchen versucht. Dieser Versuch sei jedoch misslungen, da sein Glied zu groß gewesen sei, als daß er es hätte einführen können.“

Das Erlebnis mit dem 9-jährigen Mädchen (das nebenbei bemerkt nicht als Übergriff dokumentiert wurde) diente als erster Hinweis dafür, dass der Patient zu Beginn seiner sexuellen Aktivität heterosexuell begehrt und damit primär entsprechend orientiert sei. Das Verlangen nach Männern sei erst daraufhin durch äußere Einflüsse, eine sogenannte Verführung, aufgetreten. „In das 14. Lebensjahr fällt eine Verführung durch einen 35jährigen Mann. […] Als der andere Mann das Glied des Pat. berührt habe, habe er einerseits Scheu andererseits aber auch ausgesprochene geschlechtliche Lust verspürt. Auf Drängen des Anderen habe er sich seinerseits bei diesem manipulatorisch betätigt. Bei dem Anderen sei es relativ bald zum Samenerguss gekommen, beim Pat. jedoch nicht. […]“

Letztere Tatsache wurde als weiterer Hinweis auf die eigentlich heterosexuelle Orientierung des Patienten gedeutet. Denn, zwar habe der Patient „nach dem Verführungserlebnis […] immer mit Samenerguss masturbiert, und zwar ungefähr 3 Mal in der Woche.“ Jedoch habe er sich beim Masturbieren neben Männern auch „Szenen mit Mädchen“ vorgestellt. Da, so die Psychiater, offensichtlich keine homosexuelle Fixierung vorliege, sei es in der Folge lediglich Versagensangst vor dem sexuellen Kontakt mit Frauen und Unbedarftheit gewesen, die den jungen Mann immer wieder den Sex mit anderen Männern habe suchen lassen: 167 PUH 63/353; für weitere Beispiele siehe die Abschnitte 2.1.4, 2.1.8 und insbesondere 2.2.4.

200

5. Soziale Beziehungsnetzwerke „Pat. betont, daß es ihm immer recht leicht gefallen sei, Mädchen zu finden. […] Er habe die Beziehungen [jedoch] immer wieder abgebrochen, weil er sich nicht getraut habe, es zum GV kommen zu lassen.“

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, welch unbedingten Stellenwert Erektion und Ejakulation in der Betrachtung sowohl der Psychiater als auch des Patienten einnahm. Für beide stellte es bereits ein Scheitern dar, wenn im sexuellen Kontakt nicht sofort eine Erektion eintrat. „Er berichtet, daß er nie GV versucht habe, und zwar, weil er nicht fähig dazu gewesen sei. Bei genauer Befragung stellt sich heraus, daß Pat erwartete, im engen körperlichen Kontakt mit Mädchen eine Erektion zu kriegen. Da dies nicht eintrat glaubte er, den GV gar nicht versuchen zu müssen. Dieser Sachverhalt liegt auch seiner Vorstellung der Nichtansprechbarkeit auf heterosexuelle Reize zugrunde. […]“

Hatten die Psychiater den im homosexuellen Kontakt ausbleibenden Samenerguss des Patienten als Zeichen einer primär heterosexuellen Orientierung gedeutet, so sah man umgekehrt in der ausbleibenden Erektion bei den heterosexuellen Begegnungen nicht etwa, wie dies der Patient tat, den Beleg für eine homosexuelle Ausrichtung, sondern schloss auf das Vorliegen einer Erektionsstörung bei einem Mann, der sich im Grunde genommen für Frauen interessiere. Dieser Zusammenhang erschien so klar, dass man sich in der Akte verwundert zeigte, dass der Patient darauf nicht schon selbst gekommen war: „Als Versagen im Sinne der Impotenz hat er es eigenartigerweise nie aufgefasst.“ Die zahlreichen weiteren sexuellen Kontakte, von denen der Patient berichtete, wurden nach demselben Muster interpretiert. Sowohl ausbleibende Ejakulation bei männlichen als auch ausbleibende Erektion bei weiblichen Sexualpartnern wurden als Ausdruck von Heterosexualität gedeutet. „Der nächste homosexuelle Kontakt war mit etwa 16 Jahren, als er nachts mit einem etwa 2 Jahre jüngeren Knaben baden ging. Auch bei dieser Gelegenheit sei die Aktivität von dem anderen ausgegangen. Noch im Wasser habe dieser seinen Körper mit dem Fuss abgetastet. Danach kam es zur wechselseitigen Masturbation. Pat. hatte eine Erektion, bekam jedoch im Gegensatz zu dem anderen Jungen keine Ejaculation [sic].“

Eine Begegnung mit einer Frau, bei der es dem Patienten im Vollrausch „gelungen war“, Geschlechtsverkehr mit Penetration und Ejakulation durchzuführen, untermauerte die Position der Psychiater in deren Augen zusätzlich: Vor rund einem Jahr habe er den ersten gelungenen GV mit einer älteren und verheirateten Frau gehabt. Es sei nach einer Tanzveranstaltung gewesen und er sei wohl auch ziemlich betrunken gewesen. […] Er habe […] auch wieder starke Angst und Unsicherheit gehabt, er würde versagen. Es sei dann auch nicht zur Erektion gekommen. Diese habe sich dann, nachdem er sein Glied in Berührungskontakt mit dem Geschlechtsorgan der Frau gebracht hatte, sich doch nach einiger Zeit noch eingestellt. Er habe auch den GV richtig durchführen können, es sei auch zum Samenerguss gekommen.“

An dieser Interpretation änderte für die Ärzte auch die Tatsache nichts, dass es sich offenbar um eine besondere Situation gehandelt habe. „Einen Tag später habe er (in nicht betrunkenem Zustand) noch einmal den GV mit der Frau versucht. Dieser sei aber gänzlich missraten, es sei nicht zur Erektion gekommen. Dies habe er sich sehr zu Herzen genommen und dann eigentlich erst ganz fest geglaubt, daß er nicht normal veranlasst sei.“

5.7 Sex zwischen Lustfeindlichkeit und Überforderung

201

Die Tatsache, dass der Patient lediglich im betrunkenen Zustand in der Lage war, mit einer Frau Geschlechtsverkehr zu haben, wurde also nicht als Zeichen dafür gewertet, dass er sich zu diesem Zeitpunkt möglicherweise mit Männern wohler fühlte. Vielmehr diente die Tatsache, dass er prinzipiell mit einer Frau schlafen konnte, als Beleg dafür, dass seine ureigentliche Orientierung heterosexuell und durch den Alkohol („in vino veritas“) erst zum Vorschein gekommen sei. Bei den restlichen Sexualkontakten mit Frauen hätte demnach lediglich ein „Versagen im Sinne [einer psychogenen] Impotenz“ vorgelegen. Die Qualität der sexuellen Beziehung, zwischenmenschliche Nähe, Vertrauen und spezifische Bedürfnisses spielte nicht die geringste Rolle in der Beurteilung. Die Tatsache, dass der Mann berichtete, bei seinen mann-männlichen Kontakten nicht zum Orgasmus zu kommen, wurde hingegen als Zeichen dafür gewertet, dass er im Grunde nicht homosexuell sein konnte. „Fazit des Versagens: „Nach wie vor bleibt eigentlich völlig unklar, warum Pat. bei seinen homosexuellen Kontakten niemals eine Ejaculation [sic] gehabt hat.“ Die Vorstellung, dass es sich bei all den verschiedenen Arten, in denen der 21-jährige Sexualität lebte, ob mit Mann oder Frau, ob mit bzw. ohne Erektion oder Ejakulation um vollkommen gesunde Spielarten des Verhaltens handeln könne, blieb außerhalb der Vorstellungskraft der meisten zeitgenössischen Psychiater und möglicherweise auch außerhalb derjenigen des Patienten, der selbst den Ärzten gegenüber die feste Überzeugung vertrat, er sei nicht normal. Nach der sogenannten sexuellen Revolution waren offene Lustfeindlichkeit und soziale unerwünschte sexuelle Orientierungen nicht mehr die meistdokumentierten sexuellen Probleme. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass Menschen in dieser Hinsicht keine Probleme mehr hatten, auch wenn es naheliegt, anzunehmen, dass der kulturelle Wandel in dieser Hinsicht für viele Menschen eine gewisse Befreiung bedeutet hat. In jedem Fall ging auch das Interesse der Ärzte in den untersuchten Kliniken an der sozialhygienisch motivierten Pathologisierung abweichenden sexuellen Verhaltens zurück. Stattdessen beobachteten Ärzte in der zunehmenden gesellschaftlichen und medialen Wertschätzung von permissiver Sexualität neue Formen der Überforderung für Männer, die zuvor entweder eher selten aufgetreten waren168 oder nicht die Aufmerksamkeit der Ärzte auf sich gezogen hatten. Vermehrt wurde seit ca. 1970 von Männern berichtet, die die neue gesellschaftliche Wertschätzung der sexuellen Freizügigkeit nicht nur als Möglichkeit, sondern als Pflicht internalisierten.169 Solche Männer litten offenbar daran, dass sie die Ideale der ungebundenen Sexualität nicht zu verwirklichen in der Lage waren, die jedoch schon fester Bestandteil ihres Selbstbilds geworden waren. Im Vergleich zu den medial vermittelten hyperpotenten Idealmännern musste sich eine wachsende Anzahl insbesondere junger Männer unzulänglich vorkommen. Sich diesen neuen hedonistischen Imperativen durch Rückzug zu lustfeindli168 UAG 53/1377; PUH 53/255; PUH 63/368. 169 PUH 83/153; PUH 83/346; PUH 93/187; PUH 93/401; PUH 83/366; UAG 67/96; PUH 83/52; PUH 73/410; PUH 93/224; PUH 73/48; PUH 73/342; PUH 73/356; PUH 73/193.

202

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

chen Moralvorstellungen wie etwa der katholischen Sexuallehre zu entziehen, entfiel, da diese mehr und mehr an Prestige und Legitimität verloren. Insbesondere junge Männer klagten in den Akten vermehrt darüber, zu leiden, dass sie gar keine oder nicht ausreichend sexuelle Kontakte fänden.170 Scham und Insuffizienzgefühle bezüglich der eigenen Attraktivität fand man in den Akten nun häufiger als zuvor. Selbstzweifel, Angst und Depressivität wurden von den Ärzten im Kontext solcher Überforderungen erklärt, wenn auch eher als Symptom der jeweiligen Störungen und nicht als deren Ursache oder gar als das Hauptproblem des Patienten. Dies gilt sowohl für solche eher „internalisierenden“ Störungen,171 als auch in den Fällen, in denen Männer gewissermaßen die Flucht nach vorne antraten. „Übersteigertes“ oder demonstrativ-sexualisiertes Verhalten konnten Psychiater bei Frauen (und wenigen, meist schwulen Männern) als Hysterie pathologisieren. Entsprechendes Verhalten von heterosexuellen Männern verteilte sich in den Akten auf diverse Persönlichkeits-, Suchtbezogene- und Affektive Störungen.172 Der Patient, der von seiner Mutter gefoltert und als „sensibles Kerlchen“ verspottet worden war, hatte durch die langjährigen Misshandlungen laut seinen Ärzten eine Haltung gegenüber Frauen entwickelt, die es ihm innerlich unmöglich machte, die Ideale männlicher Sexualität auf kohärente Art und Weise in sein Ich zu integrieren. Dennoch hatte der Mann diesbezüglich Vorbilder internalisiert, die direkt der zeitgenössischen Pornographie entnommen schienen und die er in möglichst vielen äußeren Aspekten imitierte: „Der Patient ist betont modisch gekleidet, „sonnenstudiogebräunt“ und mit Statussymbolen versehen (goldene Halskette und goldenes Armband, Rolex Armbanduhr).“ Bekannt ist bei Herrn [Pat.] ein langjähriger Anabolikaabusus im Rahmen seiner Bodybuildingaktivität. […] (‚alle tun es, ohne Anabolika hat man keine Chance‘).“

Er führte zwar eine Partnerschaft, „litt“ dabei jedoch, wie es in seiner Akte in diesem Fall wohl treffend hieß, an „Chronische[r] Promiskuität. […] Parallel zu dieser Beziehung hätte es immer andere – bis zu 4/5 – Frauen gegeben.“ Das Bedürfnis nach „bedingungslose[r] Selbstbestätigung“ als sexuell begehrenswerter Mann sollte dem Patienten als Kompensation der konstanten Demütigungen der Kindheit und Jugend dienen. Die pornographischen Ideale kollidierten jedoch mit seinem Bedürfnis nach sexueller Unterordnung und seiner Aggressionshemmung gegenüber Frauen. „Er hätte diese Kontakte gerne auf flüchtige erotische Kontakte beschränkt, dies aber nicht durchgehalten. […] Schwierigkeiten entstanden, wenn er sich von den Frauen nicht lösen konnte. Grund dafür waren die massiven aggressiven Vorwürfe der sich getäuscht gefühlten Partnerinnen. Als Reaktion versuchte er ihnen zu beweisen, daß er doch nicht so schlecht wäre, wie sie ihm vorwarfen. […]“

170 PUH 83/322; PUH 73/314; PUH 73/66; PUH 73/54; PUH 73/202; PUH 73/206; PUH 73/61; PUH 83/41; PUH 73/185. 171 PUH 83/346; PUH 83/366; UAG 67/96; PUH 83/52; PUH 93/224; PUH 73/356, PUH 73/193 172 PUH 73/48; PUH 73/342; PUH 83/153; PUH 93/339.

5.7 Sex zwischen Lustfeindlichkeit und Überforderung

203

Bei solchen Männern herrschte eine erkennbare Diskrepanz zwischen den verinnerlichten Idealen der Gesellschaft, die auch oberflächlich verkörpert wurden und Wünschen und Bedürfnissen, die hierdurch nicht artikuliert werden konnten. Erst gegen Ende des Untersuchungszeitraumes wurde dies auch von der Psychiatrie wahrgenommen. Die Symptome der „männlichen Hysterie“ – demonstrative Darstellung maskuliner Ideale wie beruflicher Erfolg, Dominanz und Kontrolle über Frauen, körperliche Stärke, viele verschiedene und häufige weibliche Sexualkontakte – spiegelten genau die gesellschaftlichen Anforderungen an Männer wieder. Offenbar deshalb wurden sie von Ärzten nicht in Frage gestellt, sondern lediglich in der Therapie versucht, in gesellschaftsfähige Bahnen zu lenken. Es hatte den Anschein, dass die Orientierung an beschränkten Formen männlicher Sexualität nicht an sich als das Problem galt, sondern lediglich die Tatsache, dass eben diese Formen durch das „Irresein“ der Patienten nicht verwirklicht werden konnten – ob nun dieses Irresein in „haltloser Psychopathie“, „neurotischer bzw. narzisstischer Fehlentwicklung“, „Perversion“, sexuellem Größenwahn oder manisch-uferloser erotischer Aktivität bestand. Genau dieser Sachverhalt erklärt wiederum auch, warum die Pathologisierung solcher Verhaltensweisen eher begrenzt war und die Psychiatrie sich die Zuständigkeit zu einem erheblichen Teil mit der Staatsanwaltschaft teilte; Letztere übernahm das Ruder, wenn entsprechende Männer ohne das Einverständnis ihres Gegenübers sexuell aktiv wurden oder gar zur Gewalt griffen, wobei der Psychiatrie die Aufgabe der Begutachtung und ggf. Sicherheitsverwahrung, später auch der Therapie zukam. Patienten, die in ihrer sexuellen Aktivität gewalttätig waren, fanden sich immer wieder in den Akten, dies allerdings über den gesamten Untersuchungszeitraum.173 Tab. 22 Dokumentation von sexueller Aktivität im sozialen Beziehungsnetzwerk von Patienten Patienten im Untersuchungszeitraum gesamt

681

Patienten, bei denen sexuelle Probleme dokumentiert wurden (ohne Schwule und Transsexuelle), davon:

49

Patienten, bei denen sexuelle Gehemmtheit als pathologisch dokumentiert wurde

18

Patienten, deren Orientierung an Idealen der permissiven Sexualität als pathologisch dokumentiert wurde

22

Sexuell gewalttätige Patienten

18

173 Siehe etwa PUH 73/202; PUH 83/157; UAG 78/525; UAG 68/26; PUH 73/410; PUH 83/48; PUH 83/28; PUH 93/104; PUH 83/41, PUH 73/312; PUH 63/343; PUH 63/236; PUH 63/472; UAG 52/1853; UAG 57/1120; UAG 59/1376; PUH 73/426; UAG 59/1714 Eine Zunahme sexuell gewalttätiger Patienten seit der „sexuellen Revolution“ und der darauf folgenden medialen Verbreitung der Pornographie ließ sich nicht beobachten.

204

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

5.8 „Darf nicht entweichen, Auslandsamt plant Ausweisung.“ – Migranten und Deutsche Nicht nur für den späteren Teil des Untersuchungszeitraumes stellten ausländische Männer und solche mit Migrationshintergrund einen großen Teil der im Quellensample untersuchten Patienten.174 Tab. 23 Migration Migration176

50er

60er

60er in %

70er

70er in %

Gesamt

26,2 22 27 (21) (19,3) (18)

32,1 (21,7)

15 (6)

18,5 (9)

Heimatvertriebene

20 (16)

23,8 (14,4)

12 (6)

14,3 (7,2)

5 (3)

Angehörige 1 (0) ethnischer Minderheiten, die außerhalb Deutschlands geboren wurden, sowie deren Nachkommen

1,2

6 (5)

7,1 (6,0)

9 (4)

Geboren auf dem 3 (5) Gebiet der SBZ/ DDR (auch vor 1945)

3,6 (4,5)

9 (7)

10,7 (8,4)

Auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland (bis 1990) geboren (k. a. inklusive)

73,8 (78,3)

57 (63)

67,9 (76)

68 (59)

62 (87)

50er in %

80er 80er 90er in %

90er in %

Gesamt

Gesamt in %

14

16,7

29

34,5

108 (45)

25,7 (19,9)

6,2 (4,5)

7

8,3

8

9,5

52 (31)

12,4 (11,9)

11,1 (6)

5

5,6

15

17,6

36 (9)

8,6 (3,4)

2 (0) 2,5 (0)

2

2,4

6

7,4

20 (12)

4,8 (4,6)

81 (88,1)

70

83,3

55

65,5

312 (209)

74,3 (80)

Insgesamt traf dies auf 20 % (Gießen) bis 25 % (Heidelberg) zu. Etwa die Hälfte gehörte zu denen, die mit dem juristischen Terminus als „Heimatvertriebene“ bezeichnet wurden. Diese waren in den beiden Jahrzehnten nach dem Krieg verhältnismäßig häufiger vertreten als später. Einige weitere stammten aus dem Gebiet der damaligen Ostzone bzw. der DDR – vor dem Bau der Mauer 1961 174 Mit „Ausländer“ sind im Folgenden Angehörige nicht-deutscher Ethnien gemeint, also auch Touristen und Austauschstudenten. Migrationshintergrund besaßen alle Menschen, die dauerhaft ihren Wohnsitz änderten, wobei der hier verwendete Bezugsrahmen das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bis 1990 ist. 175 In Klammern aufgeführt sind die Zahlen des Samples aus der Psychiatrischen Klinik Gießen. Die Gießener Daten werden gesondert aufgeführt, da sich die Anzahl der Akten nicht wie im Heidelberger Sample gleichmäßig auf die Jahre verteilt.

5.8 „Darf nicht entweichen, Auslandsamt plant Ausweisung.“

205

deutlich mehr als danach. Das restliche Drittel bestand aus Angehörigen anderer Ethnien, die sich in drei Kategorien einteilen lassen: 1. Flüchtlinge und Asylsuchende. Diese machte einen wesentlichen Anteil aus. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren handelte es sich dabei meist um Männer aus dem europäischen Ausland, die wegen Kollaboration mit den NS-Besatzern nach dem Krieg in die Westzone hatten fliehen müssen.176 Daraufhin kamen nach einer längeren Pause nach 1979 iranische Exilanten,177 am Ende des Untersuchungszeitraumes schließlich zwei Flüchtlinge aus dem gerade zerfallenden Jugoslawien.178 2. Gaststudenten aus dem Ausland. Diese fanden sich schon ab den 1950er Jahren und über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in den Universitätsstädten Heidelberg und Gießen und wurden mit den Jahren zahlreicher.179 3. Sogenannte Gastarbeiter. Diese bildeten mit ihren Nachkommen seit den 1960er Jahren immer wieder einen Teil der Patientenschaft. Die Akten der Heimatvertriebenen und der Männer aus der SBZ/DDR unterschieden sich nicht wesentlich von denen anderer Deutscher – mit der Ausnahme, dass sich die Fluchterfahrungen in den biographischen Anamnesen bisweilen durch die Schilderungen der häufig sehr drastischen und brutalen Fluchterlebnisse von den Lebensläufen der Alteingesessenen abhoben.180 Über die politischen Zustände und den Verlust ihres Eigentums klagten bisweilen Patienten aus der SBZ/DDR,181 kulturelle Differenzen wurden in den Akten bei beiden Gruppen selten thematisiert. Anders verhielt es sich bei den Gastarbeitern, den ausländischen Studenten und den Flüchtlingen. Zu den augenfälligsten Unterschieden gehörten die meist vorhandenen Sprachprobleme. Meist wurde ein Dolmetscher organisiert. Doch mit der Überwindung der Sprachschwierigkeiten endeten die kulturell bedingten Verständnisschwierigkeiten nicht. So konnte man sich eine Weile lang nicht entschließen, ob einem spanischen Patienten182 eine Schizophrenie diagnostiziert werden solle. Zwar schien der Mann die entsprechenden Symptome zu haben, nämlich Stimmen zu hören und Erscheinungen wahrzunehmen, doch schrieb der Arzt in die Akte: „In Nordwest-Spanien sind die Erzählungen im Volke über Gespenster, Spuk und sonstige Erscheinungen geläufig“, möglicherweise sei dies bei diesem Mann überhaupt nicht Ausdruck einer Schizophrenie, sondern lediglich seine spezifische Art, sich auszudrücken. Außerdem sei „diese Gegend […] bekannt wegen großer Sparsamkeit, Bescheidenheit und Fleiß der dort geborenen Männer. Man sagt allenfalls, daß die Einwohner zu Depressionen neigen, wenn sie fern der Heimat arbeiten müssten.“ Die Art und Weise, mit der die Psychiater mit solchen transkulturellen Herausforderungen bei der Be176 177 178 179 180

PUH 63/251; PUH 63/473; PUH 63/232; PUH 53/55; PUH 63/356. PUH 93/98; PUH 93/200; PUH 93/407; PUH 93/187. PUH 93/147; PUH 93/105. PUH 63/216; PUH 73/214; PUH 83/172; PUH 83/347. Siehe exemplarisch: PUH 63/279; PUH 63/418; PUH 73/63; PUH 83/165; UAG 68/385; UAG 51/2144; UAG 50/833; UAG 50/806; UAG 50/1096; UAG 56/736. 181 Siehe exemplarisch: PUH 63/213; PUH 63/456; PUH 63/370. 182 UAG 65/134.

206

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

handlung ausländischer bzw. migrantischer Männer umgingen, ließ jedoch erkennen, wie häufig sich das Vorwissen der Ärzte in Stereotypen erschöpfte. Dies machte es schwer zu beurteilen, wann tatsächlich kulturelle Prägungen die Krankheitserfahrung migrantischer bzw. ausländischer Patienten mitgestalteten und Einfluss auf die Krankheitsdynamik nahmen, und wann dies lediglich Ausdruck eines „Othering“ der Patienten durch ihre Psychiater war. Ein anderer spanischer Gastarbeiter183 verweigerte beispielsweise vehement einen Einlauf gegen seine Verstopfungen. War dies Ausdruck spezifischer kultureller Sensibilitäten, wie in der Akte behauptet wird, oder wurde dieses (vermutlich nicht das erste Mal auftretende) Ereignis bei deutschen Patienten schlichtweg nicht dokumentiert? Ein türkischer Patient184 klagte darüber, dass die Röcke seiner Tochter zu kurz seien. Wäre dies auch bei Einheimischen, etwa gläubigen Katholiken, als zentral für eine pathogene Familiendynamik gewertet worden? Diese Fragen lassen sich im Einzelfall schwer beantworten, Tatsache ist jedoch, dass sich Klischees bei der Schilderung ausländischer Patienten eindeutig häuften. Über einen italienischen Gastarbeiter185 in Gießen dokumentierte man: „begrüßt zunächst alle dastehenden Pfleger durch Handschlag, stellt sich dann an jedem Bett vor. Er begrüßt die Pat. nicht nur, sondern umarmt sie auch nach italienischer Sitte und küsst sie. […] Gegen 18 Uhr [erhielt der Patient ein] Reinigungsbad, das dringend nötig war.“ Eine Psychotherapeutin, die einen jungen, zeugungsunfähigen Türken186 in die Gießener Klinik überwies, konstatierte im Überweisungsschreiben, dieser habe „bedingt durch seine kulturelle Herkunft […] besondere Schwierigkeiten [mit der Zeugungsunfähigkeit].“ Die Kenntnisse der Frau über die kulturellen Hintergründe ihres Patienten schienen jedoch zumindest einigermaßen fragwürdig, denn in dem Schreiben glaubte die Frau offenbar, es handle sich bei dem türkischstämmigen Mann um einen Iraner, was in der Klinik zunächst für einige Verwirrung sorgte. Bisweilen schienen Psychiater selbst überrascht, wenn sich ihre Erwartungen an kulturelle Eigenheiten nicht bestätigten. Von der Ehefrau eines anderen türkischstämmigen Patienten187 holten Gießener Ärzte Informationen für eine Sexualanamnese ein. Die Frau gab bereitwillig und ohne Scham Auskunft. Dies vermerkte die Akte explizit, was bei Sexualanamnesen bei Partnerinnen deutscher Herkunft nie der Fall war. Offenbar hatte man von der Frau bei diesem Thema eine ausgeprägte kulturell bzw. religiös bedingte Verschlossenheit erwartet. Noch 1993 schrieb man über einen Patienten der Kinderund Jugendpsychiatrie, dessen Vater italienischer Herkunft war: „[Rosario] hat eine sehr südländische Art, dominieren zu wollen.“ Über die Erfahrung, die Patienten mit Rassismus im Alltag gemacht hatten, erfuhr man in den Akten so gut wie nichts. Dies stellt einen blinden Fleck 183 184 185 186 187

PUH 63/240. UAG 74/345. UAG 64/197. UAG 72/353. UAG 74/345.

5.8 „Darf nicht entweichen, Auslandsamt plant Ausweisung.“

207

dar, denn dass es diese Erfahrungen gegeben hat und dass sie für die psychische Gesundheit vieler ausländischer und migrantischer Patienten von Bedeutung war, daran besteht kein Zweifel. Erst 1993 ließen die Akten einen iranischen Exilanten188 zu Wort kommen, der sich bitter enttäuscht zeigte über die zu dieser Zeit grassierende ausländerfeindliche Stimmung – wenige Monate nach den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und wenige Wochen nach dem Brandanschlag von Solingen. „Wo ich doch so hart gearbeitet habe“, habe der offenbar gut integrierte Mann in „starkem kurpfälzischen Dialekt“ geklagt. Nicht nur die sprachliche Verständigung und die realen oder konstruierten kulturellen Unterschiede bis hin zu Rassismus erschwerten die Deutung der Krankheitserfahrung von ausländischen bzw. migrantischen Patienten. Auch organisatorisch konnte ein Aufenthalt im fremden Deutschland, zumal für jemanden mit psychischen Problemen, ein anstrengendes Unterfangen sein. So kam ein junger Westafrikaner189 „nach Deutschland um hier […] zu studieren. Da seine Schulausbildung nicht ausreichend sei [was ihm zuvor nicht klar gewesen war] habe er sich nicht immatrikulieren können. […].“ Jetzt sei er „in einer sehr schwierigen Situation, denn er habe kein Geld mehr. Der Bruder des Pat. habe in Nigeria eine gewisse Geldsumme für ihn hinterlegt, diese jedoch nun, da er selbst während eines politischen Umsturzes gefangengenommen worden war, wieder abgehoben.“ Grundsätzlich bedeutete der Verlust der Arbeitsfähigkeit bzw. der Fähigkeit, als Student selbstständig für seinen Unterhalt zu sorgen, mit großer Wahrscheinlichkeit das Ende des Aufenthaltes in der Bundesrepublik. Auch der junge Westafrikaner musste Deutschland verlassen, selbst als die Botschaft seines Landes bestätigte, dass er wahrscheinlich, wie sein Bruder auch, nach der Rückkehr in sein Heimatland von den Putschisten verfolgt werden würde, er also quasi in Abwesenheit zum politischen Flüchtling geworden war. Als man ihm im Zuge seiner bevorstehenden Ausweisung ein Formular zu unterschreiben gab, unterschrieb er mit dem Namen eines deutschen Ethnologen, eines Experten für Westafrika, mit dem Kommentar: „Wenn ich der bin, dann habe ich Geld.“ Die Ärzte, die den in der Tat recht ungewöhnlichen Namen des Ethnologen für eine Phantasieschöpfung ihres Patienten (Diagnose: „Psychogener Ausnahmezustand“) hielten, werteten dies als weiteres Symptom einer Derealisation des Patienten. In diesem wie auch in immerhin acht anderen Fällen ging die Rückkehr nicht immer vollständig freiwillig vonstatten.190 Die Ärzte in den Kliniken spielten in der Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden eine teilweise recht undurchsichtige Rolle. Ob die Klinik die jeweiligen Botschaften der Heimatländer, die Arbeitgeber der Patienten oder direkt die Ausländerbehörden informierte, lässt sich nicht rekonstruieren. Tatsache ist, dass in den meisten Fällen in den Klinikakten dokumentiert ist, dass die Patienten noch in der 188 PUH 93/187. 189 UAG 63/100. 190 PUH 63/252; PUH 63/458; PUH 63/216; PUH 73/402; UAG 65/314; UAG 65/134; UAG 75/35.

208

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

Klinik von behördlicher Seite aufgefordert wurden, die Bundesrepublik zu verlassen. Dokumente, in denen die Patienten die Ärzte von ihrer Schweigepflicht enthoben, fanden sich nicht. So schrieben etwa die Gießener Psychiater an die Botschaft des Herkunftslandes des westafrikanischen Studenten einen Brief mit detaillierten Informationen zu dessen Befinden, ohne dass in dem Schreiben oder in der restlichen Akte von dessen Einverständnis zur Weitergabe dieser Information etwas erwähnt war. Darüber hinaus beteiligten sich die Kliniken in zumindest drei Fällen sogar aktiv an der Organisation der Rückkehr der Patienten in ihre Heimatländer. Dies konnte so weit gehen, dass etwa die Universitätsklinik Heidelberg in Absprache mit der zuständigen Behörde einen ihrer Pfleger abstellte, der mit Hector G.191 in einem Krankentransporter bis zur spanischen Grenze fuhr, wo dieser von den dortigen Behörden in Empfang genommen wurde. Ebenfalls in Heidelberg brachte ein Universitätsprofessor seinen aus dem Mittleren Osten stammenden Doktoranden in die Klinik, da dieser seiner Tochter nachstelle. Der junge Mann erhielt die Diagnose „Liebeswahn“ und der Professor beteiligte sich zusammen mit der Klinik an der Organisation der Ausweisung des Mannes.192 Entsprechende Korrespondenz konnte dann auch einmal wie folgt klingen:193 „Sobald der klinische Zustand des Pat. sich gebessert hat, übernehmen wir den Pat. wieder, er darf nicht entweichen, da das Auslandsamt beabsichtigt, ihn sobald es geht auszuweisen.“

Wer sich eine Existenz in Deutschland aufgebaut hatte, musste im Falle einer psychischen Störung tatsächlich Angst haben. Im späteren Verlauf des Untersuchungszeitraumes befanden sich weit weniger Auszuweisende in den Kliniken. Mit dem Familiennachzug, unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen bzw. der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft entspannte sich zumindest für die etablierten Menschen die Situation. Ein Patient194 erhielt sogar eine gewisse Unterstützung von der Gießener Klinik. Diese schrieb einen Brief an dessen Krankenkasse, mit der Bitte, sich an den Kosten für einen Aufenthalt in der Türkei zu beteiligen: „Da Herr [Ö.] wegen der bestehenden sprachlichen Schwierigkeiten von den üblichen psychotherapeutischen Interaktionen nicht profitieren kann, halten wir einen vorübergehenden Aufenthalt in der Türkei im Monat September für die adäquatere Stabilisierungsmaßnahme. [Mitursächlich für die Beschwerden sei nämlich die] langjährige Einbettung in fremde Umgebung, was nicht zuletzt die zum Ausdruck gekommenen nostalgischen Momente nach seiner Heimat erklärt.“

Flucht vor politischer Verfolgung und aus Kriegsgebieten gab es zudem nicht bloß infolge der Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Patienten äußerten Sorgen angesichts der Umstände in ihren Heimatländern. Ein spanischer 191 192 193 194

PUH 63/252. PUH 63/216. UAG 75/35. UAG 74/345.

5.9 „Ich hoffe, daß Sie sich dem Patienten etwas widmen können.“

209

Gastarbeiter195 beklagte die Zustände unter dem Diktator Franco, den er bekämpfe. Die Exil-Iraner, die seit 1979 fliehen mussten, berichteten über Gewalterfahrung durch der Islamischen Revolution, aber auch über Repressionen während der Herrschaft des Schahs. Einer klagte über sein starkes Heimweh, hatte aber Angst, gefoltert zu werden.196 Ähnliches hörte man nach den Jugoslawien-Kriegen; ein kroatischer Patient197 hatte bis vor kurzem in ständiger Angst leben müssen, da seine Aufenthaltserlaubnisse jeweils nur kurze Zeit erteilt wurden, bisweilen nur 14-tägig. In der Zwischenzeit waren sein Vater und sein Bruder in ihrer Heimat ermordet worden. Er selbst kam mit einer Paranoia in die Klinik und glaubte, er würde verfolgt und nach Serbien abgeschoben werden. Die Menschen, die aufgrund von Repressalien aus der SBZ/DDR in den Westen kamen bzw. flohen, hatten diese Sorgen zumindest nicht, da sie sofort Staatsbürger wurden. Die meisten von ihnen stammten aus ursprünglich bürgerlichen Kontexten und klagten neben Enteignungen über intellektuelle Verkümmerung in der alten Heimat. Es sei „unmöglich als Bürger in der Ostzone geistiger Arbeit nachzugehen“ sagte ein Patient.198 Manche litten zudem schwer darunter, ihre Angehörigen nicht mehr sehen zu dürfen. Die Tochter eines Mannes199 sei mit ihrem Enkelkind „in die Ostzone zurückgekehrt, dies habe ihn sehr mitgenommen“. Zwei Patienten200 berichteten, dass sie mehrfach illegal die Grenze überqueren mussten, was sie noch im Nachhinein als sehr belastend empfanden. Einer von ihnen hatte wegen der Beschränkungen im Grenzverkehr nicht zur Beerdigung seiner Mutter gehen können, weswegen er laut Akte unter schweren Schuldgefühlen litt. Insgesamt hatten Ausländer und Migranten es mit zahlreichen Hindernissen zu tun, die ihre, durch die psychische Störung bedingte prekäre Lage noch erheblich verschlimmerte. Neben sprachlichen Schwierigkeiten und der Erfahrung von Rassismus kamen vor allem organisatorische Probleme. Die Situation, eigentlich nicht krank werden zu dürfen, weil sonst jederzeit die Ausweisung drohen konnte, war von diesen belastenden Faktoren der gravierendste. 5.9 „Ich hoffe, daß Sie sich dem Patienten etwas widmen können.“ – Soziale Herkunft und die feinen Unterschiede in der Klinik. Eine Einteilung der Patienten in Klassen oder Schichten, wie sie Demographen anhand von präzise erhobenen Daten vornehmen, war mit Hilfe der Angaben in Krankenakten nur eingeschränkt möglich. Es fehlten in aller Regel Angaben zum monatlichen Einkommen. Etwas aussagekräftiger waren die 195 196 197 198 199 200

PUH 63/240. PUH 93/407; PUH 93/200; PUH 93/98. PUH 93/147. PUH 63/456. UAG 54/917. PUH 93/92; PUH 63/370.

210

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

Berufsangaben, die jedoch ebenfalls in die Irre führen können. Hinter der Bezeichnung „Kaufmann“ konnte ein wohnungsloser Hausierer stehen, oder aber der Geschäftsführer eines Großunternehmens. Als aussagekräftig stellte sich der Bildungsabschluss heraus. Daneben fanden sich bisweilen Angaben zu Vermögensverhältnissen, etwa Immobilien oder in bestimmten Kontexten erhobene Aussagen zu Lebensstil, Reisen oder Ähnlichem. Bisweilen waren Patienten selbst nahezu mittellos, nicht jedoch die Familien, aus denen sie stammten und mit denen sie häufig noch zusammenlebten. Anhand dieser Daten wurde eine eigene Schichtenklassifikation erstellt, die in der Breite zumindest ein ungefähres Bild von der sozialen Herkunft der Patientenschaft erlaubte. Schicht 1: • Beruf: Arbeitslos; Tätigkeit ohne vorangegangene Berufsausbildung (Bezeichnung, Hilfsarbeiter, Landarbeiter u. Ä.) • Bildung: Kein Schulabschluss, Volks/Hauptschulabschluss • Keine Hinweise auf eigenes Vermögen • Keine Hinweise auf Vermögen oder höheren sozioökonomischen Status der Familie Schicht 2: • Beruf: Facharbeiter, Handwerker oder einfache Beamte/Angestellte; Tätigkeit, die eine vorangegangene Berufsausbildung voraussetzt • Bildung: Volks/Hauptschulabschluss, Mittlere Reife • Erwähnung von Eigenheim, Automobil oder anderem Vermögen • Hinweise auf Vermögen oder gleichen/bzw. höheren sozioökonomischen Status der Familie Schicht 3: • Beruf: Angestellte/Beamte in leitender Tätigkeit; Tätigkeit, die ein abgeschlossenes Hochschulstudium voraussetzt • Bildung: Hochschulstudium • Erwähnung von Eigenheim, Automobil oder anderem Vermögen • Hinweise auf Vermögen oder gleichen/bez. höheren sozioökonomischen Status der Familie Schicht 4: • Beruf: Tätigkeiten in hohen leitenden Funktionen, Privatiers • Bildung: Hochschulstudium, Ausbildung zum Firmenleiter in familieneigenen Betrieben • Erwähnung von Kapitalbesitz, Anteile an Gesellschaften, mehrere Immobilien, gewohnheitsmäßiger Konsum hochpreisiger Luxusgüter • Hinweise auf entsprechenden sozioökonomischen Status der Familie

5.9 „Ich hoffe, daß Sie sich dem Patienten etwas widmen können.“

211

Tab. 24 Soziale Schichten Soziale Schichten (Gießen in Klammern)

50er

50er in %

60er

60er in %

70er

70er in %

80er

80er in %

90er

90er in %

Gesamt Gesamt in Prozent

1

18 (30)

21.4 % (27,5 %)

17 (25)

20,2 % (30,9 %)

23 (12)

27,4 % (18,2 %)

19

22,6 %

28

33,3 % 105 (67)

25 %

2

39 (38)

46,4 % (34,9 %)

38 (38)

45,2 % (46,9 %)

28 (16)

33,3 % (24,2 %)

27

32,1 %

20

23,8 % 152 (92)

36.2 %

3

14 (12)

16,7 % (11,00 %)

19 (11)

22,7 % (13,6)

20 (19)

23,8 % (28,8 %)

23

27,4 %

13

15,5 % 89 (42)

21.2 %

4

4 (4)

4,7 % (3,7 %)

6 (2)

7,1 % (2,5 %)

4 (5)

4,7 % (7,6 %)

4

4,7 %

7

8,3 %

25 (11)

5,6 %

k. a.

6 (22)

7,1 % (20,2 %)

6 (13)

7,1 % (2,5 %)

11 (14)

13,1 % (21,2 %)

12

14,3 %

14

16,7 %

49 (49)

11,2 %

Am häufigsten vertreten war die zweite Schicht mit ca. einem Drittel, gefolgt von der ersten und dritten Schicht mit jeweils ca. 25 %. Nur etwa 5 % gehörten zur oberen vierten Schicht, beim Rest waren nicht genug Angaben vorhanden, um sie einer Schicht zuordnen zu können. Abgesehen davon, dass die dritte Schicht im Laufe des Untersuchungszeitraumes größer und die zweite Schicht kleiner wurde, blieben die Proportionen in etwa konstant. Es fiel auf, dass Patienten, die der ersten Schicht angehörten, zwar grundsätzlich häufiger als andere, jedoch nicht deutlich vermehrt im Kontext von Strafverfahren in der Klinik waren.201 Dennoch unterschieden sich die Kontexte, in denen die Patienten verschiedener Herkunft in der Klinik waren. Patienten aus der ersten Schicht hatten öfter keinen festen Wohnsitz202 und keine Person aus ihrem sozialen Umfeld als Bezugsperson in der Klinik.203 Auch stammte die Mehrheit der zu begutachtenden Heimkinder aus dieser Schicht. Deutlich häufiger berichteten Männer, die dieser Schicht angehörten, zudem von schwerwiegenden Gewalterfahrungen. Was den Einfluss der sozialen Herkunft der Patienten in den einzelnen Akten angeht, so muss zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass die Ärzte 201 Der Gesamtanteil von Patienten, bei denen Ärzte Straftaten dokumentierten, lag allgemein bei ca. 12 %, für Angehörige der ersten Schicht bei 17 %. In der kriminologischen Forschung wird diese Diskrepanz deutlich höher geschätzt, siehe Ziegler (2010), S. 304. Dies liegt wohl daran, dass Personen aus höheren Schichten bzw. deren Rechtsbeistände die psychiatrische Begutachtung häufiger gezielt als Mittel zu nutzen wissen, etwa um ein Strafverfahren zu verschleppen. 202 Der Gesamtanteil von Patienten, deren Wohnort als „ohne festen Wohnsitz“, „keiner“ oder entsprechend dokumentiert wurde, betrug ca. 5 %. Unter den Angehörigen der ersten Schicht betrug der Anteil knapp 10 %. 203 Der Anteil der Patienten, bei denen Ärzte keinerlei Kontakt zu Angehörigen herzustellen in der Lage waren, lag bei etwa 2 %. Angehörige der ersten Schicht stellten dabei knapp zwei Drittel oder 5 %.

212

5. Soziale Beziehungsnetzwerke

selbst Angehörige der dritten oder vierten Schicht waren. Wie bei den Migranten ließ sich in den Akten der ersten Schicht häufig „Othering“ herauslesen, während die Psychiater sich mit Patienten aus der eigenen Schicht bisweilen offenkundig identifizierten. So imitierten sie ohne erkennbaren Anlass deren Dialekt, wie dieser Gießener Arzt bei seinem Patienten aus dem ländlichen Raum Hessens: „Ich hatt Schmerzen über der Brust, weil do die Nerven sind und dann geht’s auf einmal wie wenn ein Funken möchte springen über den Körper, bis in die Fußspitzen. […] Das sei doch nicht eins wie wo die Lungenentzündung behandelt wird“.204

Einen aus Böhmen vertriebenen Bauarbeiter paraphrasierten Heidelberger Psychiater wiederum ohne erkennbaren Grund: „Schweinernes, die Weibsleut, Seifließen.“ 205 Offen abwertende Beschreibungen fanden sich etwa auch in den Schilderungen der Lebensumstände der zu begutachtenden Heimkinder sowie generell bei Kindern von alleinerziehenden Müttern. Später wurde der Ton etwas neutraler. Umgekehrt lasen sich manche Akten von Angehörigen der dritten und vierten Schicht deutlich anders als die der restlichen Patienten.206 Dies fing damit an, dass einige Patienten über private Bekanntschaften mit leitenden Ärzten der Klinik den Weg dorthin fanden. Für Angehörige der unteren Schichten ergaben sich solche Arrangements im Quellensample nicht; ihnen stand dieser Weg der Vermittlung medizinischer Hilfe nicht offen. Friedrich Wilhelm von B. beispielsweise war über die Bekanntschaft seiner Mutter mit einem der in Heidelberg tätigen Professoren in die Klinik gekommen. Joseph M,207 der in seinem Strafprozess wegen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen auf Strafminderung durch ein Gutachten hoffte, erhielt schnell die Chance darauf, da er zusammen mit der Frau eines der ranghöheren Ärzte für eine etablierte Partei in der Politik aktiv war und diese ihn vermittelte. Auch in Gießen lief dies nicht anders ab. Überweisungsschreiben dieser Patienten lasen sich bisweilen deutlich anders als üblich: „Fam. [Pat.] ist mit Frau Dr. Y verwandt“;208 „Wurde vor einigen Wochen Prof. X ambulant vorgestellt, nach dem er sich mit Prof. Y, mit dem er befreundet ist, in Verbindung gesetzt hatte.“209

Solche Vermittlungen waren freilich nicht illegitim, sie standen bloß den Angehörigen der niedrigeren Schichten nicht zur Verfügung. Bisweilen ergab sich dennoch der Eindruck, dass manche Patienten auch über die bloße Ver204 UAG 52/241. 205 Bei den meisten anderen Patienten war die Wiedergabe des Soziolekts nicht Teil der allgemeinen Charakterisierung in den Akten. Zudem wurden diese Passagen im Verlauf der Akte nicht mehr aufgegriffen, es ist also nicht erkennbar, dass sie über die Markierung des niedrigen Status hinaus eine medizinische Funktion einnahmen. 206 Neben den folgenden Beispielen siehe: PUH 63/338. 207 PUH 73/410. 208 UAG 74/354. 209 UAG 75/515.

5.9 „Ich hoffe, daß Sie sich dem Patienten etwas widmen können.“

213

mittlung hinaus einen Vorteil von ihrer sozialen Herkunft hatten. So schrieb der überweisende Arzt eines Gießener Patienten:210 „Wie ich zu vermuten wage, ist heute ein Hirnkranker bei Ihnen gelandet, auf dessen Besserung ich höchsten Wert lege: [Hartmut F.] aus [G.].“ Der Verfasser der Überweisung rief dem Gießener Arzt nach dieser Einleitung die gemeinsame Studienzeit der Kollegen in Erinnerung: „1907–1908 wo ich Praktikant und zuletzt Assistent von Prof. [T.] war unter dem ich meine Dr. Dissert. entworfen habe. Ich könnte hundert Kleinigkeiten erzählen, die diese Zeit wertvoll gemacht haben, dazu gehört die Anregung […], später Schiffsarzt bei [Name einer großen Reederei] zu werden, der Impuls also zur schönsten Zeit meines Lebens. […] Kurzum, ich hoffe, dass sie sich [Pat.] etwas widmen können.“

Solche Bitten waren freilich geeignet, die Behandlung des jeweiligen Patienten (und zwar nicht bloß die medizinische) in eine günstigere Bahn zu lenken, als es andere Formen der Überweisung vermochten. Einige besser gestellte Patienten bekamen ganz besondere Formen ärztlicher Hilfestellung zu spüren. Einem Unternehmer,211 der im Zuge seiner Liquiditätsprobleme eine Krisenreaktion bekommen hatte, verhalf dessen behandelnder Arzt, indem er einen mit ihm bekannten Spitzenpolitiker bat, ihm in seiner Situation unter die Arme zu greifen: „In der Zwischenzeit hat eine Rücksprache mit dem Bundestagsabgeordneten [Name] stattgefunden, der sich ebenfalls um eine Besserung der wirtschaftlichen Situation des Pat., insbesondere um eine Kreditbeschaffung durch das Land [Name eines Bundeslandes] bemühen will.“

Ein hoher Verwaltungsbeamter212 hatte seine Stelle verloren, da er ständig volltrunken an seinen Arbeitsplatz kam. Einer der leitenden Ärzte in Gießen war offenbar sowohl motiviert als auch selbst einflussreich genug, um persönlich mit dem Minister zu korrespondieren, dem der Mann zuvor unterstanden hatte, um letzteren wieder in seine Stelle zurückzubringen. Insgesamt ließ sich Ungleichheit in Diagnosen und Therapie nicht anhand der manifesten Informationen in den Akten belegen. Die aus epidemiologischen Daten bekannten Unterschiede – etwa vermehrte Substanzabhängigkeit –, werden gar nicht, die klassische Ausrichtung der frühen Psychotherapie nur teilweise widergespiegelt. Auf der Ebene des Klassenhabitus zeigten sich jedoch deutliche Abgrenzungen der Ärzte gegenüber Angehörigen unterer Schichten; zur gleichen Zeit fanden sich immer wieder Beispiele, wie Ärzte sich mit Patienten vergleichbarer Herkunft identifizierten, was einen anderen, für letztere in vielen Fällen potentiell günstigeren therapeutischen Ablauf ermöglichte.

210 UAG 50/908. 211 UAG 73/1358. 212 UAG 72/472.

6. Resümee und Ausblick Ziel der vorliegenden Arbeit war es, der Erforschung der psychischen Gesundheit von Männern in der Gegenwart historische Tiefenschärfe zu verleihen. Es sollte erarbeitet werden, ob Psychiatrisierungs-, bzw. Therapeutisierungshemmnisse von Männern, wie sie heute existieren, als Nachwirkungen traditioneller Geschlechterverhältnisse der fünf Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gedeutet werden können. Dabei ging es sowohl um reale Hemmnisse, als auch um das kulturelle Konstrukt vom Mann als gesundheitsbezogen defizitärem Wesen. Entsprechende Befunde sollten daraufhin analysiert werden, ob diese Hemmnisse auf individueller Ebene in erster Linie voluntaristisch erklärt werden müssen, oder ob soziale, kulturelle und institutionelle Faktoren diese Hemmnisse mit bedingten. Zu diesem Zweck wurde zunächst auf diese Fragestellung hin der psychiatrische und psychotherapeutische Diskurs der Zeit analysiert. Dann wurden Ergebnisse aus verwandten historischen Forschungsbereichen gezielt männlichkeitsgeschichtlich ausgewertet und mit der vorangegangenen Diskursanalyse in Bezug gesetzt. Die Ergebnisse wurden mit Daten aus einem Quellenkorpus, das aus insgesamt 681 Patientenakten zweier Universitätskliniken bestand, die in einer qualitativen Inhaltsanalyse erschlossen wurden, in Bezug gesetzt. Klar zeigten die spezifischen Anlässe, Orte und Routinen der Psychiatrieaufenthalte von Männern, dass deren Therapeutisierung deutliche geschlechtsspezifische Hindernisse entgegenstanden. Diese wurden auf der Ebene des psychiatrischen Diskurses durch Kulpisierung legitimiert, zugleich wurde die Geschlechtsspezifik dieses Phänomens mit Hilfe einer universalen psychiatrischen Klassifikation unsichtbar gemacht. Mit Verbreitung der Psychotherapie fanden sich nach ca. 1970 Belege für vermehrte männerspezifische Therapeutisierungsbemühungen. Die Kulpisierung wich im psychiatrischen Diskurs seit ca. 1980 einer intensivierten Pathologisierung, die insbesondere auf traditionelle hegemoniale Männlichkeit abzielte. Auf institutioneller Ebene sprechen die Befunde für eine intensivierte Medikalisierung bzw. Psychiatrisierung von Männern im Untersuchungszeitraum. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Anzahl der männlichen psychiatrischen Patienten relativ betrachtet zu; etwa seit den 1970er Jahren wurde traditionelle hegemoniale Männlichkeit auch zunehmend durch die Psychiatrie und Psychotherapie problematisiert, sodass Weiblichkeit nicht mehr die einzige potentiell pathologische geschlechtsbezogene Persönlichkeitseigenschaft war. Die Pathologisierung traditioneller hegemonialer Männlichkeit ermöglichte jedoch nicht nur die grundsätzliche Akzeptanz der Hilfsbedürftigkeit von Männern, sie steuerte paradoxerweise auch einen Teil zu den diskursiven Grundlagen bei, aus denen sich der aktuelle voluntaristische Defizitdiskurs speist. Das neu erlangte Bewusstsein, dass Männlichkeit riskant ist, führt, wie bei anderen Gesundheitsdiskursen, zu einer Subjektivierung von Männern unter normative psychische Gesundheit, verbunden mit der Erwartung an individuelle Männer, diese Normen zu erfüllen.

6. Resümee und Ausblick

215

Gegen die voluntaristische Auslegung spricht die Tatsache, dass gerade die geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen, die heute als riskant abgelehnt werden, im Gegensatz zu Weiblichkeit oder nicht-hegemonialen Männlichkeiten während der meisten Jahre des Untersuchungszeitraumes nicht in vergleichbarem Maße therapeutisiert wurden. Der überwiegende Teil der heute lebenden Männer hat seine geschlechtsspezifische Sozialisation vor der Pathologisierung traditioneller hegemonialer Männlichkeit, nämlich in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraumes erfahren. Dies weist auf eine historische Determinierung dieser Prägungen hin, individuelle Verantwortung als hinreichendes Erklärungsmuster des Gesundheitsverhaltens von Männern anzunehmen ist aus gesundheitshistorischer Sicht zweifelhaft. In einem zweiten Schritt sollte die Behandlungsbereitschaft von Psychiatriepatienten im Klinikalltag in Hinsicht auf die Fragestellung analysiert werden. Hierzu wurde das Quellensample einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Es konnte gezeigt werden, dass in der Tat bei vielen Patienten Widerstandshandlungen die Form von Praktiken der Männlichkeit annahmen, wie sie in vergleichbarer Form heute zur Erklärung vermehrter Therapieresistenz bei Männern herangezogen werden. So häufig dieser Widerstand also gleichzeitig eine Praktik der Männlichkeit war, so selten wurde er von den Akteuren als solcher thematisiert. Zwar kann anhand der Befunde geschlossen werden, dass auch in der Vergangenheit hegemoniale bzw. marginalisierte Männlichkeiten die Behandlung vieler Männer wesentlich erschwert haben. Andererseits war Widerstand mindestens ebenso häufig anderweitig motiviert. Von Männlichkeit als Behandlungshindernis kann also nur mit Einschränkungen gesprochen werden. Auffällige Veränderungen hinsichtlich der Qualität der Compliance von Patienten über den Untersuchungszeitraum ließen sich nicht nachweisen. Die Hypothese von einer nachholenden Medikalisierung lässt sich auf dieser Untersuchungsebene also nicht bestätigen. Was die voluntaristische Auslegung des Defizitdiskurses anbelangt, so können die Befunde diesen nicht stützen. Sie entsprechen eher Ansätzen in der heutigen Erforschung der Compliance von Männern, die nicht ausschließlich den Faktor hegemonial/marginalisierte Männlichkeit als Gesundheitsrisiko bzw. Ressource betrachten, sondern auch Handlungen und Intentionen von Männern in den Blick nehmen, die keinen erkennbaren Bezug zum Anspruch auf männliche Herrschaft haben.1 In den Quellen fand sich eine Vielzahl von Schilderungen von Bewältigungsversuchen. In den meisten Fällen gelangten sie nicht als solche in die Akten, sondern wurden von Psychiatern als Symptome und unerwünschte Verhaltensweisen, in selteneren Fällen auch als Beiläufigkeit notiert. Die Mehrheit von diesen stand in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Verkörperung von Männlichkeit, mit der wichtigsten Ausnahme der Selbstme1

Angesichts des langen Untersuchungszeitraums lässt sich auch die Veränderbarkeit psychiatrischer Krankheitskonzepte nicht ausblenden. Dies weist gerade in Bezug auf die gegenwärtige Thematisierung mangelnder Compliance von Männern mit psychischen Störungen darauf hin, dass letztere historisch gewachsen und veränderlich sind.

216

6. Resümee und Ausblick

dikation mit Alkohol und psychoaktiven Substanzen. Die Anwendung bzw. Inanspruchnahme von alternativ- bzw. komplementärmedizinischen Verfahren, diätetischen Maßnahmen, Religion und gestalterischer Betätigung trat nur in individuellen Fällen als Praktik der Männlichkeit auf. Die Interpretation als eine intensivierte Selbstmedikalisierung von Männern konnte anhand der Befunde teilweise bekräftigt werden. Mit fortgeschrittenem Untersuchungszeitraum fanden sich häufiger Schilderungen von Selbstheilungsversuchen als zu Beginn. Jedoch war, quantitativ betrachtet, der Unterschied zwar signifikant, jedoch nicht übermäßig ausgeprägt. Zudem fanden sich Bewältigungsstrategien, die durch die ihnen zu Grunde liegende Aneignung medizinisches Wissens als Medikalisierungs- bzw. Subjektivierungseffekte gedeutet werden könnten (im Gegensatz etwa zu Alkoholkonsum oder Spiritualität), in den 1950er Jahren ebenso häufig wie um 1990. Eine wesentliche Häufung solcher medizinnahen Selbstheilungsversuche, etwa in Folge des Psychobooms der 1970er Jahre, konnte nicht bestätigt werden. Gerade die Vielfalt aber auch Informiertheit über Bewältigungsstrategien von Männern in den 1950er und 1960er Jahren widersprechen sehr dem gängigen Bild von gesundheitsfernen Männern in dieser Zeit, obwohl diese unter dem Einfluss äußerst rigider Formen traditioneller Männlichkeit standen. Stärker als die Patienten waren die Ärzte jedoch in ihrer Sicht auf die Selbstheilungsversuche der Patienten von den Werten traditioneller Männlichkeit geprägt: Immer wieder wurden Bewältigungsstrategien erstens als Symptome von Störungen pathologisiert, die zweitens einen Verlust von Männlichkeit auf wertende Art und Weise implizierten. Dies änderte sich auch nicht im Laufe des Untersuchungszeitraumes. Es gab keine Anzeichen einer Psychiatrisierung, die etwa als Selbsttechnologie funktionierte. Eine solche hätte etwa zugunsten einer unterstützenden Ressourcenaktivierung von einer Pathologisierung derjenigen Selbstheilungsversuche Abstand genommen, die zur Verkörperung nicht-hegemonialer Männlichkeiten führen. Es lässt sich in dieser Hinsicht festhalten, dass sich Männer um Selbstheilung bemühten. Männer mit einer durch hegemoniale, bzw. marginalisierte Männlichkeit bedingten habituellen „Gesundheitsferne“ können nicht als repräsentativ für die Bewältigungsbemühungen von Männern mit psychischen Störungen in der alten Bundesrepublik betrachtet werden. Dabei zeigte sich ein über den Untersuchungszeitraum konstantes Bild. Die Befunde und ihre historische Konstanz lassen in Bezug auf die gegenwärtige Männergesundheitsforschung die Frage aufkommen, ob ein stärkeres und vor allem systematisches Einbeziehen ressourcenorientierter Determinanten des Gesundheitsverhaltens von Männern letzteres nicht realitätsnaher erklären könnte. Soziale Beziehungsnetzwerke boten für Männer Risiken wie auch Ressourcen. Über Risiken fand man in den Akten eine Vielzahl von Informationen, auch über solche, denen die individuellen Patienten nicht ohne weiteres aus dem Weg gehen konnten. Hierbei ähnelten manche dieser sozialen Belastungen bzw. Ressourcen solchen, die heute in der Männergesundheitsforschung als relevant diskutiert wurde, bei anderen zeigten sich deutliche historische Unterschiede. Eine Vielzahl von Männern hatte bereits in der Kindheit

6. Resümee und Ausblick

217

und Jugend erhebliche Gewalterfahrungen gemacht. Von Seiten ihrer Mütter geschah dies vor allem durch inadäquate Abhängigkeitsverhältnisse und emotionalen Missbrauch, von Seiten der Väter vor allem durch physische und verbale Gewalt. Die Erwähnungen prügelnder Väter verringerten sich im Laufe des Untersuchungszeitraumes. Grenzüberschreitende Abhängigkeitsverhältnisse durch Mütter fanden sich jedoch gleichermaßen über den gesamten Untersuchungszeitraum. Eine weitere erhebliche Belastungsquelle war für viele Männer die Erwerbsarbeit – wichtigste und zugleich kaum vermeidbare homosoziale Praktik. Krankmachende Arbeitsbedingung, Willkür durch Vorgesetzte und Alkoholmissbrauch durch den Gruppenzwang der Kollegen. Lediglich von Letzterem las man in den späteren Akten weniger häufig. Partnerinnen stellten überfordernde Erwartungen, häusliche Gewalt war, obwohl die Patienten selbst meist als die maßgeblichen Gewalttäter auftauchten, auch für diese belastend. Über die protektiven Effekte der sozialen Beziehungsnetzwerke ließ sich meist nur etwas sagen, wenn diese nicht mehr vorhanden waren. So stellte die zunehmende soziökonomische Unabhängigkeit der Frauen seit ca. den 1970er Jahren eindeutig eine psychische Belastung für viele Männer dar. Männer, die auch aus anderen Gründen nicht in der Lage waren, Partnerschaften einzugehen und sexuell aktiv zu sein, litten ebenfalls unter ihrem Zustand. Migranten, insbesondere, wenn sie alleine nach Westdeutschland gekommen waren, hatten es deutlich schwerer als einheimische Patienten, dies gilt zum Teil auch für sozial Schwache. Die am häufigsten genannte primäre Bezugsperson für die Patienten während des Aufenthaltes war die Ehefrau, gefolgt von der Mutter und dem Vater. Letzterer war vor allem für die bereits volljährigen Patienten präsent, die Mütter tendenziell für die Minderjährigen. Großeltern, Geschwister und Kinder folgten in großem Abstand. Sehr auffällig war, dass männliche Freunde so gut wie nie diese Funktion übernahmen, nämlich noch seltener als Kollegen und Vorgesetzte. Ohne eine Männlichkeitstypologie bemühen zu müssen, lassen sich diese Befunde folgendermaßen deuten: Die soziale Dimension der psychischen Gesundheit war in den Akten so evident, dass sie dezidiert gegen eine voluntaristische Deutung der psychischen Gesundheit von Männern im Defizitdiskurs spricht. In Bezug auf die Arbeitshypothese der nachholenden Medikalisierung können mit den sozialen Belastungen hemmende Faktoren ausgemacht werden, allerdings konnte über den Untersuchungszeitraum keine qualitative Änderung im Sinne einer Schwächung der Medikalisierungshemmnisse beobachtet werden. Betrachtet man die Ergebnisse aus allen vier Kapiteln, so legen die Befunde nahe, dass Erstens: Die im Defizitdiskurs vorausgesetzte Annahme einer verringerten Behandlungsbereitschaft und eines defizitären Gesundheitsverhaltens von Männern mit psychischen Störungen aufgrund von hegemonialer Männlichkeit ist stark relativierungsbedürftig, da a: Ein solches nur partiell nachzuweisen war, b: Wo es nachgewiesen werden konnte, sich die historische Wandelbarkeit der Gesundheitsideale zeigte, ein solches Verhalten also je nach Kontext aus heutiger Sicht nicht mehr als die riskantere Wahl erscheint.

218

6. Resümee und Ausblick

Zweitens: Die voluntaristische Deutung von Defiziten in der psychischen Gesundheit von Männern in nahezu jeder Hinsicht nicht zutrifft, da a: Psychische Störungen und Krankheitsverhalten vieler Männer von äußeren Faktoren mitbestimmt wurden, die in keinem Zusammenhang mit der Verkörperung von hegemonialer Männlichkeit standen und b: Wo letzteres der Fall war, ein solches Verhalten in einem Maße durch die Sozialisation, ökonomischem Druck und andere äußere Faktoren mitbestimmt war, dass die zwar durchaus eruierbaren Handlungsspielräume, die Männer in ihrer Situation besaßen, nicht rechtfertigen, diese äußeren Faktoren in der Theorie unberücksichtigt zu lassen. Drittens: Die These von einer intensivierten Psychiatrisierung von Männern wird von den Ergebnissen der Analyse der Angebotsseite gestützt, eine verstärkte Therapeutisierung seit ca. Mitte der 1970er Jahre ist eindeutig nachweisbar. Auf der individuellen Ebene war dieser Effekt jedoch entweder überhaupt nicht (Compliance) oder nur schwach (Bewältigungsstrategien) zu beobachten. Die Ergebnisse ermöglichen eine stark erweiterte Perspektive auf die Geschichte von Männern mit psychischen Störungen in der alten Bundesrepublik, abseits der klassischen repressionsgeschichtlichen Pfadabhängigkeiten. Dies liefert das Instrumentarium für eine noch zu erforschende geschlechtergeschichtliche Perspektive auf das Problem, ein Vergleich also mit weiblichen Patienten und dem Diskurs über Weiblichkeit und der Untersuchung möglicher Interaktionen, die weder in Gefahr läuft, kontrastive Narrative zu reproduzieren, noch Männer und Männlichkeit lediglich zur Stützung machttheoretischer Erklärungsansätze zu nutzen. Im Zuge einer solchen Forschung könnte die These der nachholenden Medikalisierung von Männern eingehender untersucht werden.

7. Literatur- und Quellenverzeichnis Unveröffentlichte Quellen Universitätsklinik Heidelberg, Altarchiv: Psychiatrische Universitätsklinik, Krankenakten 1953, 1963, 1973, 1983, 1993. Universitätsarchiv Gießen: Psychiatrische Universitätsklinik Gießen, Krankenakten 1948 bis 1978. Deutsches Statistisches Bundesamt. Kinder- und Jugendhilfestatistik. „Heimerziehung und Geschlecht.“ Daten kompiliert durch die Behörde nach eigener Anfrage. Bonn 2016.

Literatur und veröffentlichte Quellen Abelin, Ernst: The role of the father in the seperation-individuation process. In: McDevitt, John B.; Mahler, Margaret (Hg.): Separation-individuation, Essays in Honor of Margaret S. Mahler, New York 1971. S. 229–252. Addis, Michael: Gender and Depression in Men. In: Clinical Psychology. Science and Praxis 15 (2008). S. 153–158. Adler, Alfred.: Das Problem der Homosexualität. Erotisches Training und erotischer Rückzug (= Beiheft der internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse 1). Leipzig 1930. Adler, Alfred.: Praxis und Theorie der Individual-Psychologie. Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. Heidelberg 1930. Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main 1973. Aichhorn, August: Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Wien 1925. Andrulonis, Paul A.: Disruptive behavior disorders in boys and the borderline personality disorder in men. In: Annals of clinical psychiatry 3 (1991), S. 23–26. Anhorn, Roland; Bettinger, Frank et al. (Hg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit: Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden 2007. Arnold, John; Brady, Sean (Hg.): What is masculinity? Historical dynamics from antiquity to the contemporary world Basingstoke 2011. Baeyer, Walter R. von; Häfner, Heinz et al.: Psychiatrie der Verfolgten. Psychopathologische und Gutachtliche Erfahrungen an Opfern der Nationalsozialistischen Verfolgung und Vergleichbarer Extrembelastungen. Heidelberg 1964. Balke, Johannes: Genderspezifische Gesundheitsförderung für Männer. Konzeptionelle Grundlagen für die Praxis, Hamburg 2009. Balz, Viola K.: Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka. Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950–1980. Bielefeld 2010. Balz, Viola: „Nervöse sind heilbar“ Die ersten Chlorpromazinversuche an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg im Jahr 1953 im Spiegel der Krankenakten und der Sicht von Arzt, Pflegepersonal und Patient. In: Osten, Philipp (Hg.): Patientendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen. (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte 35). Stuttgart 2010 S. 195–220. Bänziger, Peter-Paul.; Beljan, Magdalena: Sexuelle Revolution?: Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren. Bielefeld 2015. Bär, Rolf: Themen Der Psychiatriegeschichte. Stuttgart 1998. Bardehle, Doris.; Dinges, Martin.; White, Alan.: Was ist Männergesundheit? Eine Definition. In: Gesundheitswesen 78 (2016), S. e30–e39. Barnow, Sven: Emotionsregulation und Psychopathologie. In: Psychologische Rundschau 63 (2012), S. 111–124.

220

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Baron, Ava: An’other’side of gender antagonism at work: Men, boys, and the remasculinization of printers’ work, 1830–1920. In: Baron, Ada (Hg.) Work Engendered: Toward a New History of American Labor, Ithaca 1991 S. 47–69. Basisgruppe Medizin Gießen, Fachschaft Medizin Gießen (Hg.): Dokumentation zum Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg, Teil 1 (Febr. bis Okt. 1970). Gießen 1971. Basisgruppe Medizin Gießen, Fachschaft Medizin Gießen (Hg.): Dokumentation Teil 2 (Oktober 1970–August 1971). Gießen 1972. Bevan, Nicole (2010): Psychological help-seeking. Understanding men’s behaviour, Diss. Adelaide 2010. Biess, Frank: Männer des Wiederaufbaus – Wiederaufbau der Männer. Kriegsheimkehrer in Ost- und Westdeutschland, 1945–1955. In: Karen Hagemann und Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege. Frankfurt 2002. Biess, Frank: Männer des Wiederaufbaus – Wiederaufbau der Männer. Kriegsheimkehrer in Ost- und Westdeutschland, 1945–1955. In: Hagemann, Karin und Schüler-Springorum, Stefanie (Hg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege. Frankfurt 2002. S. 345–365. Birgit Buchinger: „… dass man ein ganzer Mann ist.“ Facetten der Konstruktionsprozesse von Männlichkeit. In: Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz (Hg.) Psychosoziale und ethische Aspekte der Männergesundheit. Wien 2004, S. 68–76. Blasius, Dirk: Der verwaltete Wahnsinn. Frankfurt am Main 1980. Blasius, Dirk: Umgang mit Unheilbarem. Bonn 1986. Blazek, Helmut: Männerbünde. Eine Geschichte von Faszination und Macht. Berlin 1999. Bliemetsrieder, Sandro: Eine Hermeneutik des „Wahnsinns.“ In: Die „68er“ und die Soziale Arbeit. Wiesbaden 2016. S. 277–301. Bogerts, Bernhard; Möller-Leimkühler, Anne-Maria: Neurobiological and psychosocial causes of individual male violence. In: Der Nervenarzt 84 (2013), S. 1329–1344. Böhnisch, Lothar: Die Entgrenzung der Männlichkeit. Verstörungen und Formierungen des Mannseins im gesellschaftlichen Übergang. Opladen 2003. Bonhoff, Gerhard; Lewrenz, Herbert: Über Weckamine: Pervitin und Benzedrin. Heidelberg 1954. Borck, Cornelius; Schäfer, Armin (Hg.): Das psychiatrische Aufschreibesystem. Notieren, Ordnen, Schreiben in der Psychiatrie. Paderborn 2014. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. In: Irene Dölling und Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel, S. 153–217, Berlin 1997. Bowman, Karl M.; Jellinek, Elvin M.: Alcohol addiction and its treatment. In: Quarterly Journal of Studies on Alcohol 2 (1941), S. 98–176. Brand-Claussen, Bettina: Das „Museum für pathologische Kunst“ in Heidelberg. Von den Anfängen bis 1945. In: Wahnsinnige Schönheit (Ausstellungskatalog Osnabrück, Kulturhistorisches Museum). Heidelberg 1997. S. 6–23. Brand-Claussen, Bettina; Micheli, Viola (Hg.): Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900 (Ausstellungskatalog Heidelberg, Sammlung Prinzhorn), Heidelberg 2004. Brandes, Holger: Männer unter sich. Männergruppen und männliche Identitäten. 2 Bände. Opladen 2001. Brandes, Holger: Männlicher Habitus und Gesundheit. In: Blickpunkt Der Mann 1 (2003), S. 10–13. Braun, Julia: „Solche wie Sie wollen wir hier nicht.“ Homosexuelle in der psychoanalytischen Ausbildung. Rückblick einer Berliner Psychoanalytikerin. Journal für Psychoanalyse 57 (2016). S. 48–65. Breitenberg, Mark.: Anxious Masculinity in Early Modern England, Cambridge 1996.

Literatur und veröffentlichte Quellen

221

Brigitte Lohff: Von der Normalität des Unglücklichseins. Überlegungen zum Thema Psychotherapie als Teil des Alltagslebens ab den 1960er Jahren. In: Wolters, Christine; Beyer, Christof (Hg.): Abweichung und Normalität: Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit. Bielefeld 2014. S. 325–356. Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860– 1980. Göttingen 2010. Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus: Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann. Stuttgart 1999. Brunner, Jürgen; Steeger, Florian: Johannes Heinrich Schultz (1884–1970). Begründer des Autogenen Trainings. Ein biographischer Rekonstruktionsversuch im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. In: BIOS–Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 19 (2006). S. 16–25. Bühring, Petra: Psychiatrie-Reform. Auf halbem Wege steckengeblieben. In: Deutsches Ärzteblatt 98 (2001). S. 301–311. Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland 1953 bis 1973. Wiesbaden, 1953–1973. Bundesministerium der Justiz zu Bonn: Änderung der Gewerbeordnung. In Bundesgesetzblatt 62 (1951). S. 1007. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Jugendsexualität 2010. Repräsentative Wiederholungsbefragung von 14-bis 17-Jährigen und ihren Eltern. Aktueller Schwerpunkt Migration. Köln 2010. Caplan, Greg: Militärische Männlichkeit in der deutsch-jüdischen Geschichte. In: Die Philosophin 11 (2000), S. 85–100. Capps, Donald: Male melancholia. Guilt, separation and repressedrage. In: Jonte-Pace, Diane und Parsons, William B. (Hg.): Religion and Psychology: Mapping the Terrain, S. 147–160. Chamberlain, Sigrid.: Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind: Über zwei NS-Erziehungsbücher. Gießen 1998. Coché, Stefanie: Gewalt und Arbeit. Zwei Indikatoren von (devianter) Mänlichkeit in der west- und ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft. In: Gotto, Bernhard und Seefried, Elke (Hg.): Männer mit „Makel“: Männlichkeiten und gesellschaftlicher Wandel in der frühen Bundesrepublik. Berlin 2017. S. 114–126. Coché, Stefanie: Psychiatrie und Gesellschaft: Psychiatrische Einweisungspraxis im „Dritten Reich“ in der DDR und der Bundesrepublik 1941–1963. Göttingen 2017. Connell, Raewyn: Gender, health and theory. Conceptualizing the issue, in local and world perspective. In: Social Science and Medicine 74 (2012), S. 1675–1683. Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (= Geschlecht und Gesellschaft 8). 3. Aufl., Wiesbaden 2006. Connell, Robert W.: Masculinities and globalization. In: Men and Masculinities 1 (1998), S. 3–23. Connell, Robert W.; Messerschmidt, James W.: Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept. In: Gender & Society 19 (2005). Cornelißen, Waltraud: Traditionelle Rollenmuster. Frauen und Männerbilder in den westdeutschen Medien. In: Helwig, Gisela; Nickel, Hildegard M.: Frauen in Deutschland 1992, S. 53–69. Crouthamel, Jason: Deutsche Soldaten und „Männlichkeit“ im Ersten Weltkrieg. (= Sonderdruck aus APuZ 64) Bonn 2014. S. 39–45. Davidoff, Leonore: Das Paradox der Familie im historischen Kontext. In: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 358–382. Derenne, Jennifer L.; Beresin, Eugene V.: Body image, media, and eating disorders. In: Academic psychiatry 30 (2006), S. 257–261. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: Stellungnahme des DGPPN-Referats „Sexuelle Orientierung in Psychiatrie und Psychotherapie“ zu Konversionstherapien bzw. „reparativen“ Verfahren bei Homosexuali-

222

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

tät. Berlin 2013. Online verfügbar unter https://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_ medien/download/pdf/stellungnahmen/2013/DGPPN-Referat_Stellungnahme_zu_Konversionstherapien.pdf. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information: ICD-10-GM-2013 Online: http://www.icd-code.de/icd/code/F60-F69.html. Zuletzt aufgerufen am 22.08.2016. Köln 2013. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2013): https://www. dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/historie/icd-vorgaenger/ Deutsches Statistisches Bundesamt: Fachserie 10, Reihe 4.1, Rechtspflege, Strafvollzug, Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3. Berlin 2015. S. 11. Dieckmann, Hans.: Komplexe. Diagnostik und Therapie in der analytischen Psychologie. Heidelberg. 2013. Dinges, Martin. „Männer, die beratungsresistenten Gesundheitsidioten? In: Blickpunkt der Mann 7 (2009). S. 19–23. Dinges, Martin: Die späte Entdeckung der Männer als Adressaten der öffentlichen Gesundheitsfürsorge und -förderung in Deutschland, In: Schmiedebach, Heinz-Peter (Hg.): Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens, München 2017 (Im Druck). Dinges, Martin: Einleitung. In: Dinges, Martin (Hg.): Männer, Macht, Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main 2005. Dinges, Martin: Gasteditorial: Männergesundheitsgeschichte. Zur Entstehung eines Forschungsfeldes. In: Medizinhistorisches Journal 50 (2015), S. 1–41. Dinges, Martin: Hausväter, Priester, Kastraten.: Zur Konstruktion der Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 1998. Dinges, Martin: Immer schon 60 % Frauen in den Arztpraxen? Zur geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme des medizinischen Angebotes (1600–2000). In: Martin Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800 – ca. 2000. Stuttgart 2007, S. 295–322. Dinges, Martin: Männergesundheit im Wandel. Ein Prozess nachholender Medikalisierung? In Bundesgesundheitsblatt (2016), S. 925. Dinges, Martin: Sexualität in Deutschland (1933–2016). In Bardehle, Doris; Voß, Heinz-Jürgen et al. (Hg.): Dritter Deutscher Männergesundheitsbericht. Sexualität von Männern. Gießen 2017. Dinges, Martin: Sociologia semper historiae magistra? In: Behnke, Cornelia; Lengersdorf, Diana et al. (Hg.): Wissen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen (= Geschlecht und Gesellschaft 54) Wiesbaden 2013, S. 219–234. Dinges, Martin: Stand und Perspektiven der „Neuen Männergeschichte“ (frühe Neuzeit). In: Bos, Marguérite; Vincenz, Bettina et al. (Hg.): Erfahrung: Alles nur Diskurs. Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte, Zürich 2004, S. 71–96. Dinges, Martin: Wandel der Herausforderungen an Männer und Männlichkeit in Deutschland seit 1930. In: Weissbach, Lothar und Matthias Stiehler (Hg.): Männergesundheitsbericht 2013. Im Fokus: Psychische Gesundheit. Bern 2013. S. 31–62. Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftsoziologie der Psychiatrie. Frankfurt 1969. Dörner, Klaus: Carl Schneider. Genialer Therapeut, moderner ökologischer Systemtheoretiker und Euthanasiemörder. Zu Carl Schneiders „Behandlung und Verhütung der Geisteskrankheiten. In Psychiatrische Praxis 13, (1986). Eckart, Wolfgang; Jütte, Robert: Medizingeschichte: Eine Einführung. Stuttgart 2007. Ehnis, Patrick: Hegemoniale Mütterlichkeit. Vom selbstverständlichen Einverständnis in die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nach der Geburt eines Kindes, in: Marburger Gender-Kolleg (Hg.): Geschlecht Macht Arbeit. Interdisziplinäre Perspektiven und politische Interventionen. Münster 2008, S. 56–70.

Literatur und veröffentlichte Quellen

223

Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main 2015. Eitler, Pascal (Hg.): Zeitgeschichte des Selbst: Therapeutisierung, Politisierung, Emotionalisierung. Bielefeld 2015. Emslie, Carol; Ridge, Damien: Men’s account of depression. Reconstructing or resisting hegemonic masculinity. In: Social Science and Medicine 62 (2006), S. 2246–2257. Erhart, Walter: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001. Fehrenbach, Heide: Rehabilitating Fatherland. Race and German Remasculinization. In: Signs 24 (1998), S. 107–127. Fischer-Homberger, Esther: Krankheit Frau: und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern 1979. Forsbach, Ralf: Die 1968er und die Medizin. Gesundheitspolitik und Patientenverhalten in der Bundesrepublik Deutschland (1960–2010). Göttingen 2010. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft: eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft: Frankfurt am Main 1969. Fox-Genovese, Elizabeth: Der Geschichte der Frauen einen Platz in der Geschichte. In: Das Argument 141 (1983), S. 658–696. Franz, Matthias: Der vaterlose Mann. Die Folgen kriegsbedingter und heutiger Vaterlosigkeit. In: Franz, Matthias (Hg.): Neue Männer – muss das sein? Risiken und Perspektiven der heutigen Männerrolle. Göttingen 2011, S. 113–173. Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991. Frevert, Ute: Krankheit als politisches Problem 1770–1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung. Göttingen 1984. Frevert, Ute: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. In: Kühne, Thomas, Männergeschichte–Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt 1996. S. 69–87. Fromm, Erich: Escape from freedom. New York 1941. Fuchs-Heinritz, Werner.; König, Alexandra: Pierre Bourdieu: Eine Einführung. Stuttgart 2011. Galdas, Paul M.: Men masculinity and helpseeking behaviour. In: Broom, Alex; Philip Tovey (Hg.): Men’s health. Body, identity and social context. Chichester 2009. S. 63–77. Goffman, Erving: Asylums. Essays on the social situation of mental patients and other inmates. New York 1961. Goltermann, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2011. Grunow, Daniela: Arbeit von Frauen in Zeiten der Globalisierung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Online-Dossier Frauen in Deutschland. Abrufbar unter http:// www.bpb.de/gesellschaft/gender/frauen-in-deutschland/49397/globalisierung-undarbeit?p=all [Zuletzt aufgerufen am 09.03.2017]. Bonn 2010. Haag, Karl: Wenn Mütter zu sehr lieben: Verstrickung und Missbrauch in der Mutter-SohnBeziehung. Stuttgart 2006. Häfner, Heinz; Martini, Hans: Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Gründungsgeschichte und Gegenwart. München 2011. Hähner-Rombach, Sylvelyn: „Das ist jetzt das erste Mal, dass ich darüber rede …“ Zur Heimgeschichte der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus und der Haus am Berg gGmbH 1945–1970. Frankfurt am Main 2013. Hähner-Rombach, Sylvelyn: Arm, weiblich-wahnsinnig? Patientinnen der Königlichen Heilanstalt Zwiefalten im Spiegel der Einweisungsgutachten von 1812 bis 1871. Zwiefalten 1995. Hanisch, Ernst: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien 2005. Hanrath, Sabine: Zwischen „Euthanasie“ und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg : ein deutsch-deutscher Vergleich (1945–1964). Paderborn 2002.

224

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Hartmann, Jutta; Klesse, Christian et al. (Hg.): Heteronormativität: Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden 2007. Haug, Frigga: Sozialistischer Feminismus. In: Handbuch Frauen-und Geschlechterforschung: Berlin 2010. S. 52–58. Hauschildt, Elke: Auf den richtigen Weg zwingen. Trinkerfürsorge 1922 bis 1945. Freiburg im Breisgau 1995. Heineman, Toni Vaughn: A Boy and Two Mothers: New Variations on an Old Theme or a New Story of Triangulation? Beginning Thoughts on the Psychosexual Development of Children in Nontraditional Families. Psychoanalytic Psychology 21 (2004), S. 99–115. Heinrich-Böll-Stiftung; Das feministische Institut: Wie Weit Flog die Tomate? Eine 68erinnenGala der Reflexion. Berlin 1999. Hendin, Herbert; Hass, Ann P.: Wounds of war: The psychological aftermath of combat in Vietnam. New York 1984. Hermes, Maria: Krankheit: Krieg. Psychiatrische Deutungen des Ersten Weltkrieges. Essen 2012. Herrn, Rainer: Transvestitismus und Transsexualität historisch betrachtet. In: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte 62, S. 41–48. Bonn 2012. Himmel-Lehnhoff, Margrit: Haltlos gesund? Erfahrungen einer trockenen Alkoholikerin. In: Die Zeit, 39 (1987). Online verfügbar unter http://www.zeit.de/1987/39/haltlos-gesund. [Zuletzt aufgerufen am 09.03.2017]. Hirsch, Mathias: Pseudo-ödipales Dreieck. ein häufiges Muster männlicher Sozialisation. In: Franz, Matthias (Hg.): Neue Männer – muss das sein? Risiken und Perspektiven der heutigen Männerrolle. Göttingen 2011. 172–190. Hirshbein, Laura D.: Science, Gender, and the Emergence of Depression in American Psychiatry, 1952–1980. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 2 (2006), S. 187–216. Hofer, Hans-Georg: Medizin und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1970. Koordinaten, Kontexte, Korrelationen/Medicine and society in West Germany 1945–1970: Coordinates, contexts, correlations. In: Medizinhistorisches Journal 45 (2010), S. 1–23. Hoff, Paul.: Geschichte der Psychiatrie. In: Möller, Hans-Jürgen und Laux Gerd (Hg.): Psychiatrie und Psychotherapie. Berlin und Heidelberg 2008, S. 28–50. Hoff, Paul: Emil Kraepelin und die Psychiatrie als klinische Wissenschaft: Ein Beitrag zum Selbstverständnis psychiatrischer Forschung. Berlin und Heidelberg 2013. Hoffmann, Stefan L.: Die Politik der Geselligkeit: Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft, 1840–1918 (Kritische Studien zur Geschichtswssenschaft 141). Göttingen 2000. Hoffmann, Susanne: Gesunder Alltag im 20. Jahrhundert? Geschlechterspezifische Diskurse und gesundheitsrelevante Verhaltensstile in deutschsprachigen Ländern. (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 36). Stuttgart 2010. Hoffmann-Richter, Ulrike; Finzen, Asmus: Die Krankengeschichte als Quelle. Zur Nutzung der Krankengeschichte als Quelle für Wissenschaft und psychiatrischen Alltag. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 2 (1998), S. 280–297. Hoffschildt, Rainer: 140.000 Verurteilungen nach „175.“ In: Fachverband Homosexualität und Geschichte eV (Hg.): Denunziert, verfolgt, ermordet. Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit. Hamburg 2002. S. 140–149. Hohendorf, Gerit; Rotzoll, Maike: Krankenmord im Dienst des Fortschritts? In: Der Nervenarzt 83 (2012), S. 311–320. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter: Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850. Frankfurt am Main 1991. Hopcke, Robert H.: CG Jung, Jungianer und Homosexualität. Zürich 1993. Hopf, Hans (2012): Die unruhigen Jungen. Externalisierende Störungen, Philobatismus und Männlichkeit. In: Frank Dammasch und Mahrokh Charlier (Hg.): Jungen in der Krise. Das schwache Geschlecht? : psychoanalytische Überlegungen. 2., erw. Aufl. Frankfurt am Main (= Schriften zur Psychotherapie und Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen, 22), S. 39–61.

Literatur und veröffentlichte Quellen

225

Hornberg, Claudia; Schröttle Monika et al (2008): Gesundheitliche Folgen von Gewalt unter besonderer Berücksichtigung von häuslicher Gewalt gegen Frauen (= Gesundheitsberichterstattung des Bundes 42). Online verfügbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/gewalt.pdf?__ blob=publicationFile Zuletzt aufgerufen am 20.02.17 Imboden, Gabriela: Problematische Männlichkeit. ‚schwacher‘ Wille – ‚unkontrollierte Sexualität‘ und eine paradoxe Wiederherstellung der ‚Männlichkeit.‘ In: Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800 – ca. 2000. Stuttgart 2007. S. 359–377. Ingenkamp, Konstantin. Depression und Gesellschaft. Zur Erfindung einer Volkskrankheit. Bielefeld 2012. Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979. Jellonnek, Burkhard; Lautmann, Rüdiger (Hg.): Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Paderborn 2002. Jenneau, Alban: Melancholia. In: Mijolla, Alain (Hg.): International dictionary of psychoanalysis. Detroit 2005. S. 1037–1038. Jervis, Giovanni: Kritisches Handbuch der Psychiatrie. Hamburg 1978. Johannes Siegrist: Männer in der Arbeitswelt. Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. In: Stiehler, Weißbach: Männergesundheitsbericht 2013. In: Lothar Weissbach; Matthias Stiehler (Hg.): Männergesundheitsbericht 2013. Im Fokus: Psychische Gesundheit. Bern 2013. S. 141–158. Kanngiesser, Friederich: Die Pathographie der Julisch-Claudischen Dynastie. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 53 (1913), S. 83–100. Kardorff, Ernst von: Zur Transformation der Therapeutisierung und Psychiatrisierung des gesellschaftlichen Alltags. Auf dem Weg der (nicht ganz) freiwilligen Selbstoptimierung. In: Roland Anhorn und Marcus Balzereit (Hg.): Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit. Wiesbaden 2016. S. 263–298. Kargl, Walter: Was ist Sozialtherapie? Zur Zielbestimmung einer Therapie im Strafvollzug. In Kritische Justiz 9 (1976). S. 134–156. Kersten, Joachim: Gut und (Ge)schlecht. Männlichkeit, Kultur und Kriminalität. Berlin 1997. Kersting, Franz-Werner (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre. Paderborn 2003. Kiess, Johannes; Decker, Oliver et al.: Erinnertes elterliches Erziehungsverhalten und politische Einstellungen in den Generationen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit. In: Fooken, Insa; Heuft, Gereon (Hg.): Das späte Echo von Kriegskindheiten. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte. Göttingen 2014, S. 147– 179. King, Vera: Entwürfe von Männlichkeit in der Adolenszenz. Wandlungen und Kontinuitäten von Familien- und Berufsorientierungen. In: Bosse, Hans; King, Vera (Hg.): Männlichkeitsentwürfe. Wandlungen und Widerstände im Geschlechterverhältnis. Frankfurt 2000. S. 93–107. Kinsey, Alfred C.: Das sexuelle Verhalten des Mannes. Fischer, Berlin 1964. Kloocke, Ruth; Schmiedebach, Heinz-Peter; et al.: Psychische Ereignisse–organische Interpretationen. Traumakonzepte in der deutschen Psychiatrie seit 1889. In: Gesnerus 67 (2010), S. 73–97. Klopstock, Thomas: Friedrich Nietzsches Krankheiten–eine unendliche Geschichte: Friedrich Nietzsche und seine Krankheiten. Kein ausreichender Anhalt für MELAS. In: NietzscheStudien 39 (2010), S. 573–578. Kölch, Michael G.: Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin 1920– 1935. Die Diagnose „Psychopathie“ im Spannungsfeld von Psychiatrie, Individualpsychologie und Politik. Diss. med. Berlin 2006. Kraft, Hartmut. (2015): Psychoanalyse, Kunst und Kreativität: Die Entwicklung der analytischen Kunstpsychologie seit Freud. Berlin 2015.

226

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. Hamburg 2000. Kreisky, Eva: Der Stoff, aus dem die Staaten sind. Zur männerbündischen Fundierung politischer Ordnung. In: Regina Becker-Schmidt (Hg.): Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Frankfurt 1995. S. 85–124. Krueger, Robert F.; Hicks, Brian M. et al.: Etiologic connections among substance dependence, antisocial behavior and personality: Modeling the externalizing spectrum. In: Journal of abnormal psychology 111 (2002), S. 411–424. Kruger, Robert F.; Nicholas R. Eaton: Borderline personality disorder co-morbidity: relationship to the internalizing–externalizing structure of common mental disorders. In: Psychological Medicine 41 (2011), S. 1041–1050. Kuhlmann, Carola: Expertise „Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre.“ Berlin 2010. Kuhlmann, Ellen; Kollek, Regine (Hg.): Konfiguration des Menschen: Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik. Wiesbaden 2002. Kühne, Thomas: Kameradschaft. „Das Beste im Leben des Mannes.“ Die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs in erfahrungs-und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 504–529. Kühne, Thomas: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 173). Göttingen 2006. Kühne, Thomas: Männergeschichte, Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt am Main 1996. Ladd-Taylor, Molly; Umansky, Lauri (Hg.): „Bad“ mothers. The politics of blame in twentieth-century America. New York 1998. Lamott, Franziska: Die vermessene Frau: Hysterien um 1900. Paderborn 2001. Lanteri-Laura, Georges: Neurasthenia. In: de Mijolla, Alain (Hg.): International dictionary of psychoanalysis. Detroit 2005. S. 1135. Ledebur, Sophie: Schreiben und Beschreiben. Zur epistemischen Funktion von psychiatrischen Krankenakten, ihrer Archivierung und deren Übersetzung in Fallgeschichten. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011), S. 102–124. Lehmacher, Alexandra: Trauma-Konzepte im historischen Wandel: Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Posttraumatic-Stress Disorder in Deutschland (1980–1991). Diss. med. Bonn (2013). Lenz, Hans-Joachim: Zwischen Men’s Studies und männlicher Verletzungsoffenheit–Zur kurzen Geschichte der Männerforschung in Deutschland. In: FZG/FGS–Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien 13 (2007). S. 41–77. Lenz, Hans-Joachim; Jungnitz, Ludger: Männergesundheit und die verborgene Gewalt gegen Männer. In: Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz (Hg.) Psychosoziale und ethische Aspekte der Männergesundheit. Wien 2004. S. 111–118. Leygraf, Norbert: Mißstand in der forensischen Psychiatrie. In: MMW. Fortschritte in der Medizin 131 (1989). S. 16–17. Liebertz, Klaus; Franz, Matthias; Schepank, Heinz; Adamek, Lucie (2011): Seelische Gesundheit im Langzeitverlauf – Die Mannheimer Kohortenstudie. Ein 25-Jahres-Follow-up; Herrn Prof. Dr. med. Heinz Schepank zum 80. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Heinz Schepank. Berlin, Heidelberg: Springer. Linder, Reinhard: Suizid. In: Dinges, Martin (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800 – ca. 2000. Stuttgart 2007. Linek, Jenny.: Gesundheitsvorsorge in der DDR zwischen Propaganda und Praxis (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beiheft 59). Stuttgart 2017. Loewenfeld, Leopold: Sexualleben und Nervenleiden. Nebst einem Anhang über Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie. Berlin 1922. Lücke, Martin: Hegemonie und Hysterie. Perspektiven der Männergeschichte. In: Martin Lücke (Hg.): Helden in der Krise. Berlin 2013, S. 11–30.

Literatur und veröffentlichte Quellen

227

Luy, Marc (2002): Warum Frauen länger leben. Erkenntnisse aus einem Vergleich von Kloster- und Allgemeinbevölkerung. (= Materialien zur Bevölkerungswissenschaft 106). Wiesbaden 2002. Maasen, Sabine; Elberfeld, Jens; et al. (Hg.): Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung. Bielefeld 2011. Mackert, Nina; Krämer, Felix: Wenn Subjekte die Krise bekommen. Hegemonie, Performanz und Wandel am Beispiel der modernen Männlichkeit. In: Landwehr, Achim (Hg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010. Martschukat Jürgen, Hämmerle, Christa (Hg.): Krise(n) der Männlichkeit? Köln, Weimar et al 2008. Martschukat, Jürgen; Stieglitz, Olaf: Geschichte der Männlichkeiten. Frankfurt 2008. Maschewsky-Schneider, Ulrike: Frauen das kranke Geschlecht – Mythos oder Wirklichkeit? In: Ulrike Maschewsky-Schneider (Hg.): Frauen – das kranke Geschlecht? Mythos und Wirklichkeit: Ein Beitrag aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden 1996. Mendelson, George: Homosexuality and psychiatric nosology. In: Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 37 (2003), S. 678–683. Mentzos, Stavros: Externalisierung. In: Handbuch psycho-analytischer Grundbegriffe, 3. Auflage, Stuttgart 2008, S. 189–191. Metz-Becker, Marita: Der verwaltete Körper: die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1997. Meuser, Michael: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. 3. Aufl. Wiesbaden 2010. Micale, Mark S.: On the „disappearance“ of hysteria: A study in the clinical deconstruction of a diagnosis. In: Isis 84 (1993), S. 496–526. Mildenberger, Florian: Der Diskurs in der Medizin über Homosexualität von 1880 bis heute. In: D. Groß, S. Müller, G. Buchli und J. Steinmetzer (Hg.): Normal – anders – krank?: Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin. Berlin 2008. Miller, James: Die Leidenschaft des Michel Foucault. Köln 1995. Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur Vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. Weinheim 1963. Moeller, Robert G.: „The Last Soldiers of the Great War“ and Tales of Family Reunions in the Federal Republic of Germany. In: Signs 24 (1998), S. 129–145. Moeller, Robert G.: Heimkehr ins Vaterland: Die Remaskulinisierung Westdeutschlands in den fünfziger Jahren. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001), S. 403–436. Moeller, Robert G.: Sex, society and the law in the postwar West Germany. Homosexualitiy and the Federal Constitutional Court. Berkeley 1993. Moeller, Robert G.: The Remasculinization of Germany in the 1950 s. An Introduction. In: Signs 24 (1998), S. 101–106. Möller-Leimkühler, Anne-Maria: Geschlechtsrolle und psychische Erkrankung. In: Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 6 (2005), S. 29–35. Möller-Leimkühler, Anne-Maria: Psychische Gesundheit von Männern. Bedeutung, Ziele, Handlungsbedarf. In: Weissbach, Lothar; Stiehler, Matthias (Hg.): Männergesundheitsbericht 2013. Im Fokus: Psychische Gesundheit. Bern 2013, S. 63–83. Möller-Leimkühler, Anne-Maria; Kasper, Siegfried: Psychische und Verhaltensstörungen. In: Doris Bardehle und Matthias Stiehler (Hg.): Erster Deutscher Männergesundheitsbericht. Ein Pilotbericht. München 2010, S. 135–161. Mosher, Donald L.; Sirkin, Mark: Measuring a macho personality constellation. In: Journal of Research in Personality 18 (1984), S. 150–163. Müller-Braunschweig, Hans: Psychopathologie und Kreativität. In: Psyche 28 (1974). S. 600– 634. Müller-Hohagen, Jürgen: Geschichte in uns. Psychogramme aus dem Alltag. München 1994. Müller-Hohagen, Jürgen: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Seelische NAchwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung. München 2014.

228

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Müller-Küppers, Manfred: Prügelstrafe. Hirn statt Hosenboden. In: Der Spiegel 3 (1977), S. 50. Müller-Münch, Ingrid: Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen. Stuttgart 2012. Neubauer, Gunter; Winter, Reinhard: Sorglos oder unversorgt, In: Weissbach, Lothar; Stiehler, Matthias (Hg.): Männergesundheitsbericht 2013. Im Fokus: Psychische Gesundheit. Bern 2013. S. 103–139. Neuner, Stefanie.: Politik und Psychiatrie: Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920–1939. Göttingen 2011. Nolte, Karen: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900. Frankfurt am Main 2003. Ohne Verfasser: Späte Milde. In: Der Spiegel 20 (1969), S. 55–76. Palm, Kerstin: Die Krise der Männlichkeit – eine Krise des Lebens? Der biologische Lebensbegriff zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Ellen Kuhlmann und Regine Kollek (Hg.): Konfiguration des Menschen. Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik, S. 95–108. Parker, Ian; Georgaca, Eugenie et al.: Deconstructing psychopathology. Thousand Oaks 1996. Paulus, Julia: Familienrollen und Geschlechterverhältnisse im Wandel. In: Frese, Matthias; Paulus, Julia et al. (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn 2003. S. 107–120. Perron, Roger: Oedipus-Complex. In: de Mijolla, Alain (Hg.): International dictionary of psychoanalysis. Dictionnaire international de la psychanalyse. Detroit 2005. S. 1183–1187. Pfütsch, Pierre: Das Geschlecht des „präventiven Selbst.“ Prävention und Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik Deutschland (1949–2010) aus geschlechterspezifischer Perspektive. (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 63) Stuttgart 2017. Plutarch: Von der Erziehung. In: Kaltwasser, Johann F. S. (Hg): Plutarchs moralische Abhandlungen. Frankfurt am Main 1783. Poiger, Uta G.: A new „western“ hero? Reconstructing German masculinity in the 1950 s. In: Signs 24 (1998), S. 147–162.; Poiger, Uta G.: Krise der Männlichkeit. Remaskulinisierung in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. In: Naumann, Klaus (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 227–263. Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung. 4. Auflage. Heidelberg 1994. Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998. Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000. Rauchfleisch, Udo: Menschen in psychosozialer Not. Beratung, Betreuung, Psychotherapie. Göttingen 1996. Reich, Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualoekonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik. Berlin 1933. Reichsministerium des Inneren: Reichsgesetzblatt. Artikel 6, Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935. S. 839. Berlin 1935. Richter, Horst-Eberhard: Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft. Gießen 2006. Richter, Horst-Eberhard: Eltern, Kind und Neurose: Psychoanalyse der kindlichen Rolle. Reinbek 1962. Roelcke, Volker: Rivalisierende „Verwissenschaftlichungen des Sozialen.“ Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert. In: Reulecke, Jürgen und Roelcke, Volker (Hg.): Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissensgesellschaft. Stuttgart 2008. S. 131–148. Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Gießen 2013.

Literatur und veröffentlichte Quellen

229

Rönfeldt, Johanna: Persönlichkeitsfaktoren und Symptombelastung bei weiblichen und männlichen Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diss. med. Lübeck 2010. Rose, Wolfgang; Beddies, Thomas et al.: Diagnose „Psychopathie.“ Die urbane Moderne und das schwierige Kind. Berlin 1918–1933. Wien 2014. Rotzoll, Maike: Die Entstehung der „Sozialpsychiatrischen Klinik Heidelberg“ in den 1960er Jahren. Sozialpsychiatrie in Heidelberg, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 17 (2012) S. 133–148. Rotzoll, Maike; Hohendorf, Gerrit: Zwischen Tabu und Reformimpuls. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Heidelberger Psychiatrischen Klinik nach 1945. In: Ohler-Klein, SIgrid und Roelcke, Volker (Hg.): Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Stuttgart 2007. S. 307–330. Rudolf, Gerd.; Rüger, Ulrich.: Psychotherapie in sozialer Verantwortung: Annemarie Dührssen und die Entwicklung der Psychotherapie. 2016. S. 62–70. Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren: Abschlussbericht. Berlin 2010. Online abrufbar unter: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht.pdf [Zuletzt aufgerufen am 09.03.2017]. Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren: Zwischenbericht. Berlin 2010. Online abrufbar unter: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Zwischenbericht_000.pdf [Zuletzt aufgerufen am 09.03.2017]. Rush, Florence: The words may change but the melody lingers on. In: Feminism & Psychology 6 (1996), S. 304–313. Sachverständigenkommission der Deutschen Bundesregierung: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepubik Deutschland. Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung (= Bundestagsdrucksache 7/4200). Bonn 1975. Salmanakhtar, M. D.; Thomson Jr, et al.: Overview: Narcissistic personality disorder. In: Am J Psychiatry 139 (1982), S. 12–20. Sammer, Christian: Die „Modernisierung“ der Gesundheitsaufklärung in beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1975. In: Medizinhistorisches Journal 50 (2015), S. 249–294. Sammet, Kai: Paratext und Text. Über das Abheften und die Verwendung psychiatrischer Krankenakten. Beispiele aus den Jahren 1900–1930. In: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 12 (2006), S. 339–367. Schäfer, Ingo: Zusammenhänge zwischen Traumaerfahrungen und Suchtentwicklung bei Männern. In: Stöver, Heino (Hg.): Sucht und Männlichkeiten: Entwicklungen in Theorie und Praxis der Suchtarbeit. Wiesbaden (2006). S. 69–78 Schiffer, Sabine: Die Darstellung des Islams in der Presse: Sprache, Bilder, Suggestionen. Eine Auswahl von Techniken und Beispielen. Würzburg 2005. Schlack, Robert; Karger, Andre; et al.: Körperliche und psychische Gewalterfahrungen in der deutschen Erwachsenenbevölkerung. In Bundesgesundheitsblatt 56 (2013). S. 755–764. Schmale, Wolfgang: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000). Wien 2003. Schmid-Kitsikis, Elsa: Defense/Defense Mechanisms. In: de Mijolla Alain (Hg.): International dictionary of psychoanalysis. Detroit 2005. S. 374–377. Schmidt, Gunter: Jugendsexualität. Sozialer Wandel, Gruppenunterschiede, Konfliktfelder (= Beiträge zur Sexualforschung 69). Stuttgart 1993. Schmidt, Jürgen: „… mein Nervensystem war derart alteriert, dass ich mich allen ernsten Denkens […] enthalten musste “– Psychische Krankheiten in Autobiographien von Arbeitern und Bürgern um 1900. In: Martin Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800 – ca. 2000. Stuttgart 2007. S. 343–358. Schneider, Kurt: Klinische Psychopathologie. 15. Aufl. Stuttgart 2007. Schneider, Peter: Die Sache mit der ‚Männlichkeit.‘ Gibt es eine Emanzipation der Männer? In: Kursbuch 35 (1974), 103–134.

230

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Schöch, Heinz; Arzt, Gunther; et al.: Rettet die sozialtherapeutische Anstalt als Maßregel der Besserung und Sicherung! In: Zeitschrift für Rechtspolitik 8 (1982), S. 207–212. Scholz, Sylka (2015): Mänlichkeitssoziologie. 2. Erweiterte Auflage. Münster 2015 Schott, Heinz; Tölle, Rainer: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006. Schröttle, Monika: Die Studienergebnisse des Robert-Koch-Instituts zu Gewalt gegen Frauen und Männer: Ein Lehrstück für die Notwendigkeit einer methodisch versierten Erfassung, Auswertung und Interpretation geschlechtervergleichender Daten im Rahmen einer geschlechtersensiblen Gewalt- und Gesundheitsforschung. Stellungnahme, 2013 online veröffentlicht unter: http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/ degs_w1/Basispublikation/Stellungnahme_Schroettle.pdf;jsessionid=EF35E89A36AA22 8CC20E20296CA09038.2_cid390?__blob=publicationFile Schwanitz, Dietrich: Alazon und Eiron. Formen der Selbstdarsttellung in der Wissenschaft. In: Willems, Herbert; Jurga, Martin (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998. Schweig, Nicole: Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800–1950 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 33) Stuttgart 2010. Seidel, Hans-Christoph: Eine neue“ Kultur des Gebärens“: die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland. Stuttgart 1998. Seidler, G. H.: Einleitung: Geschichte der Psychotraumatologie. In: Maercker, Andreas (Hg.): Posttraumatische Belastungsstörungen. Heidelberg 2013. S. 3–12. Seifert, Ruth: Militär–Kultur–Identität: Individualisierung, Geschlechterverhältnisse und die soziale Konstruktion des Soldaten. Bremen 1996. Seifert, Simone: Der Umgang mit Sexualstraftätern. Bearbeitung eines sozialen Problems im Strafvollzug und Reflexion gesellschaftlicher Erwartungen. Wiesbaden 2014. Shorter, Edward: A History of Psychiatry: From the Era of the Asylum to the Age of Prozac. Hoboken 1998. Showalter, Elaine: The female malady. Women, madness, and English culture, 1830–1980. London: Virago, 1987. Spode, Hasso: Alkohol, Geschlecht und Gesundheit unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Natur-Kultur-Debatte. In: Martin Dinges (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, ca. 1800 – ca. 2000. Stuttgart 2007, S. 191–210. Stadler, Friedrich (2010): Das Jahr 1968 als Ereignis, Symbol und Chiffre gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Konfliktzonen. In: Rathkolb, Oliver; Stadler Friedrich (Hg.): Das Jahr 1968-Ereignis, Symbol, Chiffre. Göttingen 2010, S. 9–20. Starker, Anne; Rommel; Alexander; Saß, Anke-Christine: Bericht zur gesundheitlichen Lage der Männer in Deutschland–Fazit und Herausforderungen für eine gendersensible Gesundheitsberichterstattung. In: Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 59 (2016). S 147–181. Steger, Florian: Psychoanalyse und Homosexualität. Noch immer Pathozentrik und Diskriminierung. In: Zeitschrift für psychoanalytische Psychotherapie 29 (2008). S. 74–110. Steinkamp, Peter: Pervitin (Methamphetamine) Tests, Use and Misuse in the German Wehrmacht. In: Eckart, Wolfgang Uwe (Hg.): Man, medicine, and the state: The human body as an object of government sponsored medical research in the 20th century: Stuttgart 2006. S. 61–72. Stiehler, Matthias; Tüffers, Uwe et al.: Männer in Beziehungen In: Lothar Weissbach; Matthias Stiehler (Hg.): Männergesundheitsbericht 2013. Im Fokus: Psychische Gesundheit. Bern 2013, S. 173–196. Stöckel, Sigrid (2014): Psychotherapie als Reformbewegung im Nachkriegsdeutschland. In: Wolters, Christine; Beyer, Christof (Hg.): Abweichung und Normalität: Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit. Bielefeld 2014, S. 309–324.

Literatur und veröffentlichte Quellen

231

Stöver, Heino: Risikolust am Rausch. Doing Gender with Drugs. In: Franz, Matthias und Karger, Andre (Hg.): Angstbeißer, Trauerkloß, Zappelphilipp? Seelische Gesundheit bei Männern. Göttingen 2015. S. 60–88. Supik, Linda. (2014): Statistik und Rassismus. Das Dilemma der Erfassung von Ethnizität. Frankfurt 1975. Szasz, Thomas: Myth of mental Illness. New York 1961. Tändler, Maik: Das therapeutische Jahrzehnt: der Psychoboom in den siebziger Jahren. Göttingen 2016. Tappe, Heinrich: Alkoholverbrauch in Deutschland. Entwicklungen, Einflussfaktoren und Steuerungsmechanismen des Trinkverhaltens im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bürger im Staat 4 (2002). S. 213–218. Teuber, Nadine: Das Geschlecht der Depression. „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in der Konzeptualisierung depressiver Störungen. Bielefeld 2011. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. München 1995. Thiels, Cornelia; Schmitz, Gerdamarie: Selbst-und Fremdbeurteilung von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen: Zur Validität von Eltern-und Lehrerurteilen. In: Kindheit und Entwicklung 17 (2008), S. 118–125. Trepp, Anne-Charlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Göttingen 1996. Tsapos, Nicolas: Wie Frauen zu Patientinnen wurden. Soziale Kategorisierungen in psychiatrichen Krankenakten der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (1898–1945). Frankfurt am Main 2012. Tyson, Phyllis: Männliche Geschlechtsidentität und ihre Wurzeln in der frühkindlichen Entwicklung. In: Neyer, Franz J.; Friedman, Robert M. et al. (Hg.): Zur Psychoanalyse des Mannes: Heidelberg 2013. S. 1–20. Ullmann, Rainer: Geschichte der ärztlichen Verordnung von Opioiden an Abhängige. In: Suchttherapie 2 (2001), S. 20–27. Verona, Edelyn; Sachs-Ericsson, Natalie et al.: Suicide attempts associated with externalizing psychopathology in an epidemiological sample. In: American Journal of Psychiatry 161 (2004), S. 44–451. Vollbach, Alexander.: Der psychische kranke Täter in seinen sozialen Bezügen. Hans Göppingers Angewandte Kriminologie. Eine Rekonstruktion. Münster 2006. Voß, Heinz-Jürgen: Biologie & Homosexualität. Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext. Münster 2013. Waldherr, Benedikt: Ein Vierteljahrhundert bis zum Psychotherapeutengesetz. In: Bayerisches Ärzteblatt 58 (2003), S. 150–151. Walinder, Jan: Male depression and suicide: International Clinical Psychopharmacology 16 (2001). S. 21–24. Werner, Frank: „Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser.“ Soldatische Männlichkeit im deutschen Vernichtungskrieg 1941–1944. In: Dietrich, Anette (Hg.): Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis. Frankfurt am Main 2013. S. 45–65. Wernli, Martina (Hg.): Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik. Dynamiken der Psychiatrie um 1900. Bielefeld 2012. Wieneman, Elisabeth: Entwicklung des Arbeitsfeldes betriebliche Suchtprävention und Bedingungen seiner Professionalisierung. USA und Bundesrepublik Deutschland. Diss. phil. Hannover 1999. Winkler, Dietmar; Heiden, Angela et al: Die Depression beim Mann. In: Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz (Hg.): Psychosoziale und ethische Aspekte der Männergesundheit., S. 95–99. Wittchen, Hans-Ulrich; Jacobi, Frank: Was sind die häufigsten psychischen Störungen in Deutschland? Online Publikation des Robert-Koch-Instituts 2012. http://www.rki.de/DE/

232

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/degs_w1/Symposium/degs_psychische_ stoerungen.pdf?__blob=publicationFile S. 10. Wolf, Klaus: Und sie verändert sich immer noch: Entwicklungsprozesse in der Heimerziehung. In: Struck, Norbert; Galuske, Michael (Hg.): Reform der Heimerziehung. Eine Bilanz. Heidelberg 2003. S. 19–36. Wolters, Christine: Ärzte als Experten bei der Integration Kriegsbeschädigter und Kriegsversehrter nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. In: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 23 (2015), S. 143–176. Wulff, Erich: Psychiatrie und Klassengesellschaft. Zur Begriffs-und Sozialkritik der Psychiatrie und Medizin. Frankfurt 1977. Ziegler, Holger; Reder, Robin (2010): Kriminalprävention und soziale Arbeit. In: Handbuch Jugendkriminalität, S. 365–377. Zulehner, Paul M.; Volz, Rainer: Männer im Aufbruch. Wie Deutschlands Männer sich selbst und wie Frauen sie sehen. Ein Forschungsbericht. Ostfildern 1999. Zybowski, Przemysław: Rezensions-und Rezeptionsgeschichte zu „Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen “ von Viktor von Weizsäcker. Diss. med. Berlin 2008.

ISBN 978-3-515-12139-2

9

7835 1 5 1 2 1 392