Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht: Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller [1 ed.] 9783428525904, 9783428125906

Die denkerische Kraft und produktive Originalität von Friedrich Müller hat Schüler geprägt, Kollegen beeindruckt, Freund

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German Pages 298 Year 2008

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Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht: Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller [1 ed.]
 9783428525904, 9783428125906

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 235

Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller

Herausgegeben von Ralph Christensen und Bodo Pieroth

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

RALPH CHRISTENSEN / BODO PIEROTH (Hrsg.)

Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht

Schriften zur Rechtstheorie Heft 235

Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller

Herausgegeben von Ralph Christensen und Bodo Pieroth

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12590-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Freundschaften zu leben ist für Friedrich Müller, der am 22. Januar 2008 sein 70. Lebensjahr vollendet, eine Tätigkeit, die keiner Begründung bedarf und sich aus sich selbst heraus rechtfertigt, eine Praxis des Lebens im guten Sinn. Viele dieser Freundschaften sind im Kontext der Wissenschaft entstanden aus einer Tätigkeit als Mitarbeiter an dem von ihm 1971–1989 innegehabten Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Kirchenrecht an der Universität Heidelberg, als Doktoranden und Habilitanden, bei Tagungen, im Arbeitskreis „Rechtslinguistik“ oder bei Vortragsreisen im In- und Ausland. Die denkerische Kraft und produktive Originalität von Friedrich Müller hat Schüler geprägt, Kollegen beeindruckt, Freundschaften mitbegründet und Leser bereichert. In Anerkennung und Dankbarkeit ehren Schüler und Freunde Friedrich Müller mit diesem Buch. Sie möchten gleichzeitig die Bedeutung des Werks von Friedrich Müller hervorheben. Die „Juristische Methodik“ von Friedrich Müller, deren 1. Auflage 1971 erschienen ist und die in der 9. Auflage von 2004 und um einen zweiten Band zum Europarecht erweitert vorliegt, enthält nach wie vor die fortschrittlichste und subtilste Gesamtdarstellung der Eigenart des juristischen Arbeitens. Ihre Grundlagen sind bereits in der Freiburger Habilitationsschrift von 1966 „Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation“ enthalten. Vielfältige Einzelaspekte dieser Strukturierenden Methodik sind zunächst für die Verfassungsdogmatik (Die Positivität der Grundrechte, 1969; Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969), sodann für die Rechts- und Verfassungstheorie in bislang acht „Elementen einer Verfassungstheorie“ (I: Recht – Sprache – Gewalt, 1975; II: Juristische Methodik und Politisches System, 1976; III: Die Einheit der Verfassung, 1979; IV: „Richterrecht“, 1986; V: Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995; VI: Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie, 1997; VII: Demokratie in der Defensive. Funktionale Abnutzung – soziale Exklusion – Globalisierung, 2001; VIII: Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht. Nationale, staatlose und globale Formen menschenrechtsgestützter Demokratisierung, 2003) und schließlich im Rahmen der Rechtslinguistik (Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989; Rechtstext und Textarbeit, 1997; Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001; Rechtssprache Europas, 2004) näher entfaltet und fruchtbar gemacht worden. Viele der Schriften Friedrich Müllers sind neu aufgelegt und in mehrere Fremdsprachen (Chinesisch, Französisch, Japanisch, Koreanisch, Portugiesisch)

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Vorwort

übersetzt worden; teilweise haben sogar die Übersetzungen Neuauflagen erfahren. Das Werk Friedrich Müllers hat im Inland und fast mehr noch im Ausland große Anerkennung erfahren. Gerade die guten jungen Rechtswissenschaftler nehmen die von ihm ausgehenden bereichernden Herausforderungen gern an. Es wird noch lange standhalten. Die in diesem Buch versammelten Beiträge von sechzehn Schülern und Freunden zeigen die mannigfachen Impulse, die von Friedrich Müller und seinem Werk ausgehen. Der Titel dieser Freundesgabe versucht das Charakteristikum dieses faszinierenden Werks zu erfassen. Ilvesheim/Münster, Mai 2007

Ralph Christensen Bodo Pieroth

Inhaltsverzeichnis Hauke Brunkhorst, Die globale Rechtsrevolution. Von der Evolution der Verfassungsrevolution zur Revolution der Verfassungsevolution? . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dietrich Busse, Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik. Das verstehensrelevante Wissen als Gegenstand semantischer Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Ralph Christensen/Hans Kudlich, Das Problem der Rechtsquelle medientheoretisch präzisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Ekkehard Felder, Rechtsfindung im Spannungsverhältnis von sprachlicher Vagheit und Präzision. Der Sprachhandlungsansatz der juristischen Textarbeit . .

73

Helmut Goerlich, Soziale Integration als Aufgabe des Rechts – am Beispiel der Rechtsprechung auf dem Weg zu einem Religionsrecht in gleicher öffentlicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Walter Grasnick, Paradoxien im Weltbildhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Olivier Jouanjan, Georg Jellinek als Philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Volker Neumann, Demokratieprinzip und funktionale Selbstverwaltung . . . . . . . . .

155

Bodo Pieroth, Diskurstheorie und juristische Methodik. Jürgen Habermas’ Beitrag zum Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Lourens Marthinus du Plessis, The South African Constitution as Monument and Memorial, and the Commemoration of the Dead . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

Frank Rottmann, Bemerkungen zu den „neuen“ Methoden der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Fazıl Sag˘lam, Der Einfluss der Lehre von Friedrich Müller auf das türkische Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

Thomas-Michael Seibert, Über Begründungen entscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Johann Peter Vogel, Neue Steuerungsinstrumente der Schulaufsicht und ihre Anwendung auf Ersatzschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Rainer Wimmer, Einstellungen zu Normen aus sprachlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . .

265

Lebenslauf von Friedrich Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller (Stand: März 2007)

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die globale Rechtsrevolution Von der Evolution der Verfassungsrevolution zur Revolution der Verfassungsevolution?1 Von Hauke Brunkhorst

I. Rechtsrevolutionen Alle großen europäischen Revolutionen waren Rechtsrevolutionen. Die erste dieser Revolutionen war die päpstliche des 11. und 12. Jahrhunderts. Ihre Ziele waren die Unabhängigkeit der Kirche und Etablierung eines päpstlichen imperium, dem sich die weltliche Macht beugen sollte. Ihre Medien waren das europäische Netzwerk autonomer Verwaltungsmacht, das universalistisch rationalisierte, römische Recht und die Schwerter der Kreuzritter. Ihr ungewolltes Resultat: die Verrechtlichung des Sakralen, der erste moderne Rechtsstaat, die Ausdifferenzierung eines professionalisierten Rechtssystems, die juristische Koordination der geistlichen und weltlichen Gewalt.2 Die zweite europäische Revolution war die protestantische des 16. und 17. Jahrhunderts.3 Sie hat die gregorianische Zwei-Schwerter-Lehre in eine asketische Zwei-Reiche-Lehre radikalisert, um die römische Kirche von unten erneuern, die Klostertüren hinter sich zuschlagen und ihr Dasein „zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten.“4 Sie verließ das Kloster, um eine Welt zu schaffen, in der „jeder sein Leben lang ein Mönch sein“ musste (Sebastian Franck).5 Sie brachte eine neue Rechtsordnung: die dezentrierte Sektenreligiosität, die staatstreue Nationalkirche, den säkularisierten Anstaltsstaat, den rationalen Kapitalismus hervor. Vom „religiös-ethischen“ Lebenssinn blieben nur „agonale Leidenschaften“, die dem „Erwerbsleben“ den „Charakter des Sports“ aufprägten: „Fachmenschentum ohne Geist, Genußmenschentum ohne Herz“.6

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Für Kommentare und Kritik danke ich Alexandra Kemmerer und Micha Brumlik. Berman1991; Brunkhorst 1997; Brunkhorst 2000. Berman 2006. Weber 1921, S. 163. Weber 1969, S. 357. Weber 1921, S. 163.

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Hauke Brunkhorst

Die nachfolgenden Revolutionen, die englische des 17. und die französische des 18. Jahrhunderts waren die ersten nationalen Revolutionen, aber sie waren trotzdem „keine englischen und französischen Revolutionen, sie waren Revolutionen europäischen Stils.“7 Sie waren „nicht der Sieg einer bestimmten Klasse der Gesellschaft über die alte politische Ordnung; sie waren die Proklamation der politischen Ordnung für die neue europäische Gesellschaft.“ Sie waren „der Sieg einer neuen Gesellschaftsordnung, (. . .) der Nationalität über den Provinzialismus, (. . .) der Herrschaft des Eigentümers des Bodens über die Beherrschung des Eigentümers durch den Boden, der Aufklärung über den Aberglauben, (. . .) der Industrie über die heroische Faulheit, des bürgerlichen Rechts über die mittelalterlichen Privilegien.“8 Aber erst die amerikanische Revolution von 1776–1788 und die französische von 1779–1814 haben überdies das geschriebene Verfassungsrecht vom einfachen Recht getrennt, den Verfassungstext dem Willen des Volkes oder der Nation zugerechnet, ihm zum Entscheid vorgelegt und zum Gründungsdokument eines novus ordo saeclorum, einer neuen Zeitrechnung, erklärt.9 Sie wollten die mächtige Wiedergeburt der alten Tugendrepublik. Sie schufen die egalitäre Massendemokratie.10 Sie wollten eine einfache „Staatsform“, die „ein durchsichtiges Gewand ist, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt“11, sie bekamen einen komplexen und undurchsichtigen Anstaltsstaat. Von Frankreich und den Vereinigten Staaten aus hat die nationale Verfassungsrevolution ihre Reise um die Welt gemacht. Schon in der Zeit der Großen Revolution verbreiten Druckerpresse, Diskurs und Degen die Ideen von 1789 und den Code Civil in ganz Europa. Die napoleonischen Truppen tragen das Volk jedoch – wie schon der Wohlfahrtsausschuss in der Zeit des terreur – nur noch als „Ikone“ vor sich her.12 Die Revolution hat viele Enden, und nicht alle ihre Wege führen zur demokratischen Herrschaft des Rechts. Doch die Versprechen des Verfassungstextes bleiben im Gedächtnis ihrer „Adressatenvölker“13 haften.14 Selbst die kurzlebige Restauration der französischen Erbmonarchie muss sich die Konstitutionalisierung gefallen lassen.15 Den ersten großen Experimenten mit einer herrschaftsbegründenden Konstitution, deren Ziel die Aufhebung aller bestehenden Herrschaftsverhältnisse in die „Herrschaft Beherrsch-

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Marx 1973, S. 107. Marx 1973, S. 107. 9 Arendt 1965, S. 232 ff. 10 Knapp aber instruktiv: Wood 2003, S. 124 ff. 11 Büchner 1958, Dantons Tod 1. Akt, S. 11. 12 Müller 1997, S. 31 ff. 13 Müller 1997, S. 37 ff. 14 Kant 1977, S. 358. 15 Sellin 2001. 8

Die globale Rechtsrevolution

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ter“16 war, ist der Konstitutionalismus, die Begrenzung schon bestehender Herrschaftsverhältnisse gefolgt. Aber schon 1830 erschüttert ein erstes Pariser Nachbeben die Festung, und 1848 ergreift das revolutionäre Fieber alle Völker des Kontinents. Bald gibt es kein monarchistisches Regime mehr, das nicht versucht hätte, durch herrschaftsbegrenzende Konstitutionalisierung das Schlimmste, die egalitär republikanische Um- und Neugründung, zu verhindern. Im Lauf der Zeit wandeln sich die konstitutionellen Monarchien zu demokratischen Rechtsstaaten. In den Jahren 1905 und 1918 weitet sich die nationale Verfassungsrevolution bis nach Russland und Asien aus und wird kommunistisch. Nach einer kurzen Zeit des demokratischen Experimentalismus verkommt ihre Verfassung zum leeren Symbol der Parteidiktatur.17 Die Revolution siegt 1949 in China, 1954 in Vietnam, 1962 in Kuba, militarisiert sich, verstetigt den Bonapartismus, erschüttert die gesamte Dritte Welt und erscheint 1979 in Teheran im neuen Gewand des islamischen Fundamentalismus. Auch die kommunistische und die islamische Revolution bleiben im europäischen Schema der nationalen Verfassungsrevolution. Sie korrigieren ihre weltrevolutionäre Ideologie noch am Tag, an dem sie das Winterpalais stürmen und verkünden den Sozialismus in einem Land. Sie wollten den globalen Gottesstaat und bekommen einen modernen Nationalstaat mit konstitutioneller Hierokratie. Sie finden die Blaupausen für den Bau ihrer politischen Institutionen nicht in den heiligen Schriften, sondern in den profanen Verfassungstexten des ihnen verhassten Westens.18 Die Evolution der nationalen Verfassungsrevolution bringt viele Formen hervor, herrschaftsbegründende Konstitutionen (demokratischer Rechtsstaat), herrschaftsbegrenzenden Konstitutionalismus (konstitutionelle Monarchie/Hierokratie), herrschaftsentgrenzenden Staatsterrorismus (Bonapartismus, Stalinismus). Im Jahr 1989, genau 200 Jahre nach Ausbruch der Großen Französischen Revolution, geht die Epoche der nationalen Verfassungsrevolutionen zu Ende. Dem Zusammenbruch des letzten neuzeitlichen Imperiums, in das sich die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg verwandelt hatte, folgt noch eine kurze Serie „nachholender Revolutionen.“19 Mit ihnen wurde die letzte große Weltregion dem jetzt erst globalen System der Nationalstaaten einverleibt. Aber das geschah bereits unter der Supervision, Kontrolle und Koordination der internationalen Gemeinschaft20, die, wenn es sein musste, Fehlentwicklungen auch gewaltsam korrigiert und für diesen Zweck gleich ein neues, rechtliches Instrument geschaffen hat, die ,humanitäre Intervention‘. 1989 wurde offenbar, dass 16 17 18 19 20

Möllers 1997, S. 97. Neves 1998. Brunkhorst 2005; Müller 2003, S. 59 f., S. 145. Habermas 1990. Zum Begriff: Tomuschat 1995; Paulus 2001; Bogdandy 2006.

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Hauke Brunkhorst

die nationale Verfassungsrevolution keine von der internationalen Gemeinschaft unabhängige Souveränität mehr hervorbringen konnte. Sie war, wie sich jetzt erst zeigte, von einer anderen Revolution in Dienst genommen worden, von der schon Kant als Vollendung und Abschluss der nationalen französischen „süß“ „geträumt“21 hatte: der Weltrevolution des internationalen Rechts.22 Zwei Weltkriege sind im Namen der Demokratie ausgefochten und gewonnen worden, aber erst der zweite war wirklich ein globaler Krieg. Er war auf der einen Seite das größte Menschheitsverbrechen der neueren Geschichte, auf der andern Seite jedoch hat er das Verlangen nach Menschenrechten und Demokratie globalisiert. In seinem schrecklichen Ende liegt auch, wie Hannah Arendt im letzten Satz ihrer Totalitarismusstudie schreibt, das „Versprechen“ „eines neuen Anfangs“, das sie selbst auf den Begriff eines „Rechts auf Rechte“ bringt und naturrechtlich der „Geburt eines jeden Menschen“ zuschreibt.23 Dieser neue Anfang ist 1945 der Beginn der ersten globalen Rechtsrevolution. Sie folgt zeitlich, sachlich und sozial dem Schema der großen europäischen Revolutionen. Zeitlich: Die globale Rechtsrevolution beginnt 1944/45 mit der Gründung der internationaler Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen in Bretton-Woods (1944), der UN-Charta (1945), den Nürnberger Prozessen (1945/46), der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte (1948), und sie dauert immer noch an. Sie hatte wie jede ihrer Vorgängerinnen ihr constitutional moment. Im Jahr 1075 waren das der dictatus papae Gregors VII., 1517 die 95 Thesen Martin Luthers; 1776 die Declaration of Independence, 1789 die Declaration des Droits de l’homme et du citoyen. Nicht anders die globale Rechtsrevolution, deren constitutional moment der 26. Juni 1945 war, der Tag, an dem die UN-Charta in St. Francisco von den 50 dort vertretenen Nationen unterzeichnet wurde.24 Mit der feierlichen Deklaration neuer Rechtsprinzipien ist das Werk der Revolution freilich noch nicht vollbracht, und es ist kein Zufall, dass zwei der genannten Gründungsdokumente, der dictatus papae und die Declaration of In21

Kant Frieden, 1977, S. 195. Unmittelbar nach dem Irak-Krieg von 1990 rief der damalige amerikanische Präsident eine „New World Order“ aus. Amerikanische Präsidenten beschwören zwar turnusmäßig die revolutionäre Rhetorik ihres Landes, greifen aber schon seltener auf die Charta der Vereinten Nationen und die One World-Rhetorik Franklin D. Roosevelts zurück. Auf dieser Linie auch die auf 1989 ff. eingeschränkte Rede von einer noch unvollendeten „liberal revolution“ bei Fukuyama 1992, Kapitel 4; kritisch: Marks 2000, 30 ff.; auch Kriele (1991, 201) spricht von einer „demokratischen Weltrevolution“; zur aktuellen Diagnose einer revolutionären Situation im internationalen Recht: Allott 2006; Allott 2003; den Vertrag von Amsterdam bezeichnet Bogdandy, weil er eine Umgründung Europas zu einer einheitlichen supranationalen Gemeinschaft vollzieht, als revolutionär: Bogdandy 1999. Die ganze Debatte um den postnationalstaatlichen Verfassungsbegriff kreist um die Frage: Evolution oder Revolution? Möllers 2003; zur revolutionären Konstitution: Arendt 1965. 23 Arendt 1991, S. 462, S. 730. 24 Fassbender 1998. 22

Die globale Rechtsrevolution

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dependence gleichzeitig Kriegserklärungen waren. Revolutionen werden nicht an einem Tag auf der Straße entschieden, sie dauern, weil die Umwälzung der ganzen Gesellschaft Zeit kostet, oft viele Jahrzehnte. Die soziale Evolution, die sich auch in der Revolution fortsetzt, verstetigt, vertieft oder verbiegt sie, bis sich die Revolution wieder regt, um ihr neue Welten zu erschließen. Den „Machbarkeitsillusionen“, „feierlichen Erklärungen“ und „Gesängen“25, dem „Geschichtszeichen“ und dem „Enthusiasm“26 der Gründungsakte folgt die Zeit des revolutionären Experimentalismus und der revolutionären Kämpfe, und dann ein „langer Katzenjammer“.27 Die Revolution entgleitet den Händen ihrer Protagonisten, wird gewalttätig, macht sich selbständig, tritt den Akteuren schließlich als „Fluch des Muß“ entgegen: „Wir haben nicht die Revolution, die Revolution hat uns gemacht.“28 Nirgends konnte das Blutvergießen, das alle Revolutionen als Schatten von Terror, Krieg und Bürgerkrieg begleitet, vermieden werden. Auch der Revolution von 1945, die den Weg aus dem Zivilisationsbruch der Kriegsverbrechen, Vernichtungsfeldzüge und Genozide bahnen sollte, folgte noch am Tag der Befreiung der Völker Afrikas und Asiens vom Jahrhunderte langen Schrecken der europäischen Zivilisation die bis heute andauernde Katastrophe der Entkolonialisierung: eine endlose Serie revolutionärer Bürger- und Unabhängigkeitskriege, massiver Menschenrechtsverletzungen, Genozide, globaler Terrorismus, suicide-bombing, war on terror, Kollateralschäden humanitärer Intervention. Sachlich: Aber, anders als die Konterrevolutionen, Staatsstreiche und faschistischen Machtergreifungen der Geschichte gingen alle europäischen Rechtsrevolutionen, einschließlich der jüngsten, die keine europäische mehr ist, Hand in Hand mit der Gründung, Erzeugung, Bildung neuer Institutionen. Sie blieben bei der Proklamation neuer Rechte nicht stehen, sondern organisierten auch ihre institutionelle Umsetzung. Sie waren nicht nur entsetzliche Katastrophen, sondern zahlten sich auch im cash value realer Fortschritte aus. Dem Gründungsakt von San Francisco folgte nicht nur die Katastrophe der Entkolonialisierung, sondern auch das irreversibel gewordene Ende des Kolonialismus und die globale Organisation von Hilfe und Widerstand gegen Hunger, Ausbeutung und Unterdrückung. Kaum eine Menschenrechtsverletzung mehr, die von der internationalen Gemeinschaft nicht wenigsten registriert, wahrgenommen, skandalisiert und in immer mehr Fällen auch sanktioniert wird. Kriege zwischen Staaten sind zur seltenen Ausnahme geworden, und wo sie doch noch ausbrechen, können sie, mit der einen Ausnahme der Westsahara, ihr Kriegsziel, die Annexion fremden Staatsgebiets, nicht mehr gegen die internationale Gemein25 26 27 28

Luhmann 1990, S. 176, S. 180, S. 184. Kant, Streit, 1977, 358 f. Marx 1985, 101. Büchner 1958, Dantons Tod 2. Akt, S. 45, S. 35.

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Hauke Brunkhorst

schaft durchsetzen. Seit 1945 sind – erstmals in der Geschichte des modernen Staats – „die internationalen Grenzen beinahe eingefroren.“29 Die Institutionen, die Ende des zweiten Weltkriegs ins Leben traten, existieren immer noch, sie waren allem Hohn zum Trotz erfolgreich. Sie haben sich (auch schon während des Kalten Kriegs) rasant fortentwickelt, vervielfältigt, um- und neu gegründet, mit neuen Regionalorganisationen neue Instrumente geschaffen, und sie sind tief in die mittlerweile offenen Staaten eingewandert.30 Die Revolution hat den Rechts- und Verfassungsdiskurs globalisiert und das internationale Recht der Staatenverträge in ein autonomes System postnationalen Weltrechts verwandelt.31 Das mehr oder minder lose vernetzte System inter-, trans- und supranationaler Institutionen ist weit entfernt, einen Weltstaat zu konstituieren, aber es hat in diesen Institutionen eindeutig „Elemente von Staatlichkeit (stateness)“, die „nicht mehr nur in der Gestalt des Nationalstaats auftreten“.32 Sozial: Die globale Rechtsrevolution hat nicht nur – wie alle ihre Vorgänger – universelle Legitimationsansprüche gestellt, sondern verfolgt das konkret institutionelle Ziel einer vollständigen Positivierung und Legalisierung von Menschenrechten und Demokratie, ihre Umsetzung und Konkretisierung in nationale, inter- und supranationale „Normtexte“ und „Rechtsnormen“.33 Sie hat nicht nur die ältere Differenzierung der fundamental rights in Abwehr- und Teilhaberechte sozialstaatlich erweitert und globalisiert, sondern auch eine dritte und vierte Generation von Rechten geschaffen, die kollektiven Rechte (Selbstbestimmungsrecht der Völker verbunden mit der Befugnis, über ihre natürlichen Reichtümer frei zu verfügen, Rechte auf Entwicklung, Frieden, Umweltschutz, Gleichbehandlung von Frauen), und in jüngster Zeit sogar ein Menschenrecht

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van Creveld 1999, S. 387. Zum offenen Staat: Wahl 2003; Di Fabio 1998. 31 Teubner 2003; Fischer-Lescano 2005; Luhmann 1993, S. 571 ff. 32 Müller 2003, S. 119; zur Weltstaatlichkeit s. a.: Lutz-Bachmann/Bohman 2002; Chimni 2004; Albert/Stichweh 2007. 33 Durch den Gesetzgeber wird die Verfassung (als bereits positivierter Verfassungstext) in einfachrechtlichen Normtexten (und damit, sofern sie zu Eingangsdaten des nachfogenden Konkretisierungsprozeßes werden, zu geltendem Recht) positiviert. Die „Konstitution ist positives Verfassungsrecht. Das heißt einmal, sie ist es nur (. . .). Aber sie ist, zum anderen, eben auch positives Recht, also ,geltend‘, für die mit ihr amtlich und fachlich befassten Akteure verbindlich und als ,normativ‘ durchzusetzen.“ (Müller 2001, S. 66). Die Gesamtheit der vom Gesetzgeber gemachten (bedeutungsoffenen und sprachgebrauchsabhängigen) Normtexte (und nicht der Gesetzgeber als hyposthasiertes Willenssubjekt) binden die übrigen Staatsgewalten dann an ihre Wortlautgrenze. Die Konkretisierung des Normtextes durch die öffentliche, interpretative und kommunikative Rechtsetzungsarbeit des Gerichts (oder der Behörden) erzeugt aber erst die konkret vollzogene Rechtsnorm, in der die (pragmatische) Legalität des Rechts besteht: Müller 1986, S. 47 ff., S. 88 ff.; Müller 2003, S. 52 f.; Müller/Christensen 2003, S. 170, S. 185 (Gewaltenteilung als Teilung der Gewalt der Rechtstexte) S. 198 f., S. 363 f. (Bindung durch vs. an das Gesetz), S. 437 f. 30

Die globale Rechtsrevolution

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auf Demokratie.34 Dessen übernationale Existenz wird in den heftigen Kämpfen, Interventions- und Bürgerkriegen, die um seine Durchsetzung geführt werden, und in denen das Volk bisweilen, wie im jüngsten, völkerrechtswidrigen Interventionskrieg der USA im Irak, nur als Ikone mitgeführt wird, ebenso evident wie in der mittlerweile etablierten Staatenpraxis, nur noch demokratische Staaten völkerrechtlich anzuerkennen.35 Die Revolution hat das alte Völkergrundrecht der Staaten auf Sovereign Equality (Art. 2 Abs. 1 UN) in die Gleichheit aller Staaten vor dem Gesetz der internationalen Gemeinschaft verwandelt,36 und die internationale Gemeinschaft verbietet nicht nur Angriffskrieg und Annexion (Art. 2 Abs. 4 UN), sondern sie gebietet auch allen Staaten die Umsetzung der – in der UN-Charta (Präambel, Art. 1 Abs. 3), den Menschenrechtspakten der 60er-Jahre, der Wiener Schlussakte und zahlreichen regionalen Menschenrechtsinstrumenten supranational positivierten – Menschenrechte in die eigenen Normtexte und Rechtsnormen. Menschenrechtsinterventionen „können nicht mehr als unzulässige Einmischung abgetan werden; (. . .) von niemandem, angefangen mit den G7/G8-Ländern. (. . .) Seit dem Zweiten Weltkrieg werden (. . .) immer mehr Rechte der Einzelnen völkerrechtlich abgesichert; insoweit werden sie auch Gegenstand der internationalen Politik und können sich die Staaten nicht mehr allein auf ihre innere Zuständigkeit (. . .) berufen.“37 Die gegenwärtige Rechtsrevolution war die erste Revolution, der – über die bloße Proklamation hinaus – die positiv-rechtliche Einbeziehung aller Menschen in eine Rechtsgenossenschaft gleicher und freier Bürger gelungen ist. Alle Bewohner der Erde gehören heute zum Inklusionsbereich gleicher Rechte und gleichen Rechts. Niemand, der ein Gebiet betritt, in dem er nicht zu Hause ist, muss „damit rechnen, wie ein rechtloser Fremder behandelt zu werden.“38 Das abstrakte Menschenrecht hat sich in positives Weltbürgerrecht verwandelt, das jedem Menschen ein Recht auf Rechte zuschreibt.39 Jede und jeder, Staatsbürger und Staatsfremde, Angehörige und Nicht-Angehörige, alle ansässigen oder auch nur durchreisenden Bewohner einer territorial begrenzten politischen Gemeinschaft (Staat, Bund oder Regionalorganisation) haben (im menschen34 Zur Klassifizierung: Müller 2003, S. 52; Recht auf Demokratie: Franck 1992; Cerna 1995; Marks 2000. 35 Zur Anerkennungspraxis: Slaughter 1993, S. 236. 36 Fassbender 1998. 37 Müller 2003, S. 55; mit weiteren Nachweisen: Kokott 1999. 38 Luhmann 1993, S. 573. 39 Rechte, nicht „Werte“, „Vorrechte“, „Ausnahmen“ oder „Lücken“ in der Staatsgewalt. Da Rechte eine „aktive Ermächtigung der Menschen, der Bürger“, also „rechtlich eine freiheitliche Gesellschaft, einen demokratischen Staat“ nicht begrenzen, sondern „begründen“ (Müller 1997, S. 29), sind Grundrechte (anders als bei Arendt) bereits als positive Normen ein reflexives Recht auf Rechte: ein positives Recht, in Normtexte und Rechtsnormen umgesetzt zu werden.

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rechtlichen Kernbereich) wechselseitig gleiche Rechte und das Recht auf Gleichbehandlung durch das Gesetz. Zwar bleiben die Rechte des Aktivvolks, zu denen auch typische Indigenatsrechte wie die Personenfreizügigkeit und Inländergleichbehandlung der EU gehören, den jeweils Angehörigen des politischen Verbandes vorbehalten.40 Sie sind für die aktive Verbands- oder Unionsbürgerschaft gerade in Abgrenzung zu Nichtangehörigen konstitutiv. Sie konstituieren eine bestimmte Bürgerschaft überhaupt erst als politisches Aktivvolk. Aber das Adressatenvolk ist in einer Welt offener Staaten bereits ein kosmopolitisches Volk, das ein Weltbürgerrecht auf gleiche Adressatenrechte hat. Dadurch wird es nominell sogar ein Volk „globaler Zurechnung“.41 Stellungnahmen und Entscheidungen der Vollversammlung und des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sind (wie immer hegemonial verzerrte) Mehrheitsbeschlüsse, die sich nicht nur intergovernmental auf Staatenverträge zurückführen, sondern auch dem „We“ der „peoples of the United Nations“ (Präambel UN) legitimatorisch zurechnen. Wo das Adressatenvolk schließlich selbst seine Rechte ernst nimmt, wird es im Medium der Weltöffentlichkeit (global civil society) sogar zu einem „partizipierenden (Welt-)Volk“ „im Werden“.42 Je stärker sich die globale Zivilgesellschaft „politisiert“, desto deutlicher „kristallisiert“ sie sich „in ungleichzeitigen und unvollkommenen, aber auch unleugbar realen Schritten als globales Volk“.43 Von einer Konstitutionalisierung der internationalen Gemeinschaft kann also nicht mehr nur in einem organisationsrechtlichen, sondern muss auch in einem bürgerschaftsrechtlichen Sinn gesprochen werden. Damit sind die Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft jedoch noch nicht gelöst, und die Revolution ist mit der Schaffung von Verfassungsorganen, was in sich bereits eine ebenso gewaltige wie unwahrscheinliche Leistung ist, noch nicht zu Ende. Das lose geknüpfte, inzwischen aber ziemlich dichte Netz globaler und regionaler Organgewalten ist nicht nur Verfassung einer politischen Rechtsgenossenschaft, sondern auch Verfassung der Gesellschaft. Verfassungen müssen, um normativ wirksam zu bleiben, nicht nur die Umsetzung von subjektiven Rechten in Normtexte und Rechtsnormen gewährleisten, sondern auch eine objektive Funktion im Kreisprozess gesellschaftlicher Reproduktion erfüllen. Die europäischen Rechtsrevolutionen haben nicht nur neues Recht und neue Rechte geschaffen, sondern auch mächtige und leistungsfähige Organisationen hervorgebracht, die imstande waren, mit den Strukturproblemen ihrer jeweiligen Gesellschaft fertig zu werden. Sie waren nicht nur, aber auch „evolutionäre Errungenschaften“.44 Sie haben Institutionen geschaffen, die ihrer ge40 Schönberger 2005, S. 60 ff.; zur Unterscheidung Aktiv- vs. Adressatenvolk: Müller 1997. 41 Müller 2003. 42 Müller 2003, S. 118. 43 Müller 2003, S. 119. 44 Luhmann 1990.

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sellschaftlichen „Aufgabe“45 gewachsen waren. Diese Institutionen sind nicht an einem Tag entstanden. II. Nationalstaat Wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, erkennt man, was man an ihr hatte. Nur dem demokratisch verfassten, europäischen, dann auch nordamerikanischen und später japanischen Nationalstaat ist es gelungen, die großen Strukturprobleme der modernen Gesellschaft zu lösen. Ohne die ambivalenten, ebenso segensreichen wie repressiven Einwirkungen reflexiver, autopoietischer und hochkonzentrierter Exekutivgewalt hätten die seit dem 16. Jahrhundert freigesetzten Energien der auseinander brechenden Wertsphären und Subsysteme die neue Gesellschaft sofort wieder zerstört. Kein rationaler Kapitalismus ohne starken Staat, keine Freiheit der Rede ohne ein dichtes Netz rechtlich sanktionierter Normierungen, kein Religionsfrieden ohne die absolutistische Repressionsmaschine, keine Zähmung öffentlicher Gewalt ohne Steigerung der Gewalt durch Gewaltenteilung. Bislang ist es nur dem Nationalstaat gelungen, die durch strukturelle (System vs. Lebenswelt) und funktionale Differenzierung (von Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Verkehr, Sport usw.) freigesetzte Kernenergie in immer noch hoch riskante, aber kontrollierte Kettenreaktionen zu verwandeln und die drei produktivsten, aber auch destruktivsten Mächte des modernen Lebens, den disembedded capitalism entgrenzter Arbeits-, Geld- und Immobilienmärkte46, die autonome Religion47 und die entfesselte öffentliche Gewalt 48 durch Konstitutionalisierung zu zähmen. Noch bedeutsamer ist jedoch die erstaunliche Tatsache, dass von allen nationalstaatlichen Regimes, mit denen die soziale Evolution experimentiert hat, nur der demokratische Rechtsstaat imstande war, die unabweisbaren Strukturprobleme der modernen Gesellschaft bei gleichzeitiger Steigerung und Expansion egalitärer, kollektiver und individueller Freiheit zu lösen, und zwar besser und effektiver als jedes autoritäre oder auch nur halbautoritär-konstitutionelle Regime. Nur der demokratische Rechtsstaat hat es geschafft, Kapitalismus, Religion und öffentliche Gewalt so zu konstitutionalisieren, dass die freie Produktivität ihrer entfesselten Kommunikation erhalten, ihre Destruktivität aber auf ein erträgliches Maß zurückgefahren werden konnte. Dieser Staat hat nicht nur die – ihm in schmerzlichen Lernprozessen abgerungene – Idee, sondern auch die – in Religionskriegen, Verfassungsrevolutionen und Klassenkämpfen gewachsene – Macht akkumuliert, 45 46 47 48

Marx 1985, S. 178. Polanyi 1978. Weber 1978; Berman 2006. Lüdtke 1980.

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• erstens die Freiheit der Religion zusammen mit der Freiheit von der Religion zu institutionalisieren und Aufklärung und Religion als nationale (aber nicht nur nationale49) Solidaritätsquellen zu erschließen50, • zweitens die Freiheit von der öffentlichen Gewalt mit der Freiheit des öffentlichen Lebens zu kompatibilisieren und den Staat als Rechtsstaat der Bürgergesellschaft zu unterwerfen, und • drittens die Freiheit der Märkte zusammen mit der Freiheit von deren negativen Externalitäten halbwegs zuverlässig zu gewährleisten und die Gesellschaft durch soziale Reformen zu demokratisieren. Seine große Leistung war, mit einem Wort, die Exklusion der desaströsen, durch die explosive Entfesselung aller technischen und kommunikativen Produktivkräfte der modernen Gesellschaft verursachten Ungleichheit.51 Der moderne Staat bildet alle wichtigen Funktionen der Gesellschaft noch einmal in sich ab, bündelt sie und zentralisiert die Macht des politischen Systems. Er ist von Anfang an auf Machterhalt, Machterwerb und Machtsteigerung spezialisiert, und er hat seine Macht durch innere Differenzierung, durch Verfassung, Gewaltenteilung, Verrechtlichung und Demokratisierung nicht nur zivilisiert, sondern auch in nie zuvor gekanntem Ausmaß steigern können. Er hat die praktische Konsequenz aus der funktionalistischen Einsicht, dass „absolute Macht“ „geringe Macht“ sei,52 lange vor ihrer Formulierung gezogen. Der demokratische Rechtsstaat, der die gleiche Selbstbestimmung aller Bürger unvergleichlich besser gewährleistet als jedes andere Regime, ist zugleich die bei Weitem mächtigste und vollzugsstärkste Organisation der Weltgeschichte. Darin liegt aber auch die Dialektik demokratischer Aufklärung. Die mächtige Staatsmaschine treibt den Teufel mit dem Belzebub aus. Sie ist eine der ambivalentesten evolutionären Errungenschaften, denen die Revolution das Tor, durch das sie über diese hinweg schreitet, geöffnet hat: „Alle Umwälzungen vervollkommneten diese Maschine statt sie zu brechen.“53 Die Macht, die nur als demokratische die Produktivität der Funktionssysteme von ihrer Destruktivität zu trennen imstande war, ist dieselbe Macht, die diesen Staat auch jederzeit zerstö49 „Das bisher stärkste Bollwerk gegen die schrankenlose Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft (. . .) und die Einführung imperialistischer Politik in die Struktur der abendländischen Staaten ist der Nationalstaat gewesen. Seine Souveränität, die einst die Souveränität des Volkes selbst ausdrücken sollte, ist heute von allen Seiten bedroht“ (Arendt 1976, S. 29). Für die Juden war denn auch „der Zusammenbruch des nationalstaatlich organisierten Europa“ „in jeder materiellen und materiell greifbaren Hinsicht die größte Katastrophe.“ Arendt 1991, S. 86 f. 50 Zu den beiden Quellen: Brunkhorst, Solidarität, 2002, Kap. I. 51 Ich übernehme die Formulierung von Stichweh, verwende sie jedoch nicht nur im funktionalen, sondern auch in einem normativen Sinn: Stichweh 2000, S. 52. 52 Luhmann 1975, S. 30. 53 Marx 1985, S. 179.

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ren kann und die er in Gestalt einer hoch beweglichen Exekutivgewalt an der eigenen Brust zu nähren gezwungen ist. Es ist dieselbe administrative Macht, die nach innen zur totalitären Diktaturgewalt, nach außen zum Imperialismus drängt. Sie „erscheint wie ein immaterieller Mechanismus, der mit jeder seiner Bewegungen mehr Macht erzeugt“54. Auch wo die Verfassung stark genug war, dem inneren Kolonialismus der Exekutivgewalt enge gesetzliche Grenzen zu ziehen, war der Preis der national beschränkten Exklusion von Ungleichheit ihre territoriale Externalisierung. Außerhalb der Grenzen Europas, Nordamerikas und Japans verwandelte sich der liberale „Normstaat“ regelmäßig in den autoritären „Maßnamestaat“.55 „The horror, the horror“ im Herzen der Finsternis.56 Bis 1945 war die moderne Gesellschaft eine weitgehend europäisch-amerikanisch-japanische Regionalgesellschaft, die durch den Nationalstaat stabilisiert werden konnte. Die Grenzen der segmentär differenzierten Staatenwelt fielen mit den Grenzen der strukturell und funktional differenzierten Gesellschaft zusammen. Der Rest der Welt war seit dem portugiesisch-spanischen Teilungsvertrag von 1494 Europas Jagdgebiet.57 Der Staat war noch nicht der Staat der modernen Weltgesellschaft, sondern die mächtigste Organisation der modernen Regionalgesellschaft, und als solcher war er der Staat ihrer Weltherrschaft, das politische Zentrum ihres imperium. Der republikanische Nationalstaat hatte die „Einbeziehung des Andern“ (Habermas) in seinen revolutionären Gründungsdokumenten feierlich verkündet, aber nie einen Rechtsanspruch auf die globale Exklusion von Ungleichheit akzeptiert. III. Evolutionäre Errungenschaften Das hat sich seit der globalen Rechtsrevolution dramatisch geändert. Zwar ist der autoritäre Maßnahmestaat, sind massive Menschenrechtsverletzungen, die soziale Exklusion ganzer Weltregionen und empörende Ungleichbehandlungen keineswegs verschwunden. Aber jetzt werden Menschenrechtsverletzungen, Rechtlosigkeit und politische und soziale Ungleichheit zum ersten Mal wirklich als unser eigenes Problem verstanden, das jeden Akteur der Weltgesellschaft betrifft und empören sollte, und erst jetzt gibt es rechtlich bindende Ansprüche auf die globale Exklusion von Ungleichheit, gibt es ein Weltbürgerrecht auf Rechte, auf Abwehr- und Teilhaberechte, auf kollektive und demokratische Rechte. Diese Rechte werden verletzt und mit Füßen getreten. Aber dass sie

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Arendt 1991, S. 646. Zur Unterscheidung: Fraenkel 1999; zur kolonialen Sache: Koskenniemi 2001; Anghie 2004. 56 Conrad 1988. 57 Anghie 2004. 55

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überhaupt als Rechte verletzt werden können, ist der revolutionäre Fortschritt in den globalen Rechtszustand oder die globale Rechtsstaatlichkeit (Zustand= status=Staat), der Wechsel von globaler Maßnahme- zu globaler Normstaatlichkeit. Die Untaten, die Europas Staaten sich zuvor erlaubt hatten, werden dadurch zu sanktionierbarem Unrecht. Die globale Rechtsrevolution hat die europäisch-amerikanisch-japanische Weltherrschaft in eine funktional differenzierte und normativ integrierte Weltgesellschaft verwandelt, die kein Außen des Rechts mehr kennt.58 Zwar können die Vereinigten Staaten im war on terror, ohne ernsthaft Sanktionen befürchten zu müssen, Völker- und Menschenrecht verletzen, aber ihre Rechtsverletzung bleibt Rechtsverletzung, kommt aus dem Code von Recht und Unrecht nicht mehr raus. Guantánamo verletzt die Genfer Konvention und Amerikanisches Verfassungsrecht gleichermaßen, setzt sie aber nicht außer Kraft und ist zu keinem Zeitpunkt ein rechtsfreier Raum oder gar ein Schmittscher Ausnahmezustand, der dem US-Präsidenten einen vorgeblich rechtlichen Ort außerhalb des Rechts gewähren würde. Die gegenwärtige US-amerikanische Regierung mag sich an Hobbes, Carl Schmitt und Leo Strauß orientieren, die Welt, in der sie das tut, ist seit der Rechtsrevolution von 1945 die Welt Kants und Kelsens. Das zum autopoietischen System geschlossene Weltrecht nötigt auch die mächtigsten Staaten, sich auf den legislativen Gebrauch ihrer Macht zurückzuziehen. Sie können ihre Macht, bisweilen auch ihre Gewaltmittel einsetzen, um das Recht zu ändern. Sie können im Recht ganz legal hegemoniale Macht ausüben, aber sie müssen die Stelle des Imperators, der legibus solutus außerhalb des Rechts über dem Recht steht, räumen. Die mächtigsten Akteure können das Weltrecht im eigenen, materiellen und ideellen Interesse formen, verändern, verbiegen, flexibilisieren. Aber sie müssen sich dabei immer „within the existing process of legal change“ bewegen.59 Sie sind in dem Gewebe des Rechts, an dem sie fortwährend spinnen, um ihre Interessen zur Norm zu machen, selbst gefangen. Das unterscheidet das Gewebe der Normtexte vom Gewebe der souveränen Spinne, die den Gesetzen ihres Netzes nicht unterworfen ist. Auch vom hegemonialen Recht60 gilt: „Norm- und besonders Verfassungstexte setzt man, mit unaufrichtigem Vorverständnis konzipiert, letztlich nicht ungestraft. Sie können zurückschlagen.“61 Ihre Missachtung ruft die „rächende Gewalt“ (Habermas) der kommunikativen Vernunft auf den Plan. Die von der globalen Rechtsrevolution ermöglichte Evolution der Weltgesellschaft hat nicht nur alle Rechtssubjekte einem einzigen, in sich hoch fragmen58 Zur normativen Integration übereinstimmend: Habermas, Solidarität jenseits des Nationalstaates, 2004; Stichweh 2004; Albert 2002, S. 315 f. 59 Byers 2003, S. 189. 60 Vagts 2001; Brunkhorst, Solidarität, 2002, S. 171 ff. 61 Müller 2001, S. 56.

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tierten, pluralisierten und differenzierten Weltrechtssystem unterworfen, sie hat auch die Politik zur Weltpolitik, die Öffentlichkeit zur Weltöffentlichkeit, die Kultur zur Weltkultur62 gemacht. Keine deduktiv geschlossene Einheit, sondern riesige soziale und kulturelle Unterschiede, die überdies immer wieder neu interpretiert und konstruiert werden müssen. Aber doch eine Kultur, eine Öffentlichkeit, eine Politik, in der die vielen Politiken, Öffentlichkeiten, Kulturen – ob sie das wollen oder nicht – kommunikativ vernetzt sind. Und überall gibt es rationalen Kapitalismus, in Südostasien auch unter islamistischem Vorzeichen, und in China beweist er, dass er sich mit einer kommunistischen Parteidiktatur ebenso glänzend verträgt wie seinerzeit mit dem europäischen Faschismus. Überall offene Arbeits-, Geld- und Immobilienmärkte. Überall ein strukturell weitgehend identisches Erziehungssystem, moderne Disziplinarinstitutionen, Gefängnisse, Kasernen, Krankenhäuser. Dem Sog des positiven Rechts kann sich auch das göttliche nicht mehr entziehen. Am Tag, an dem die Sharia zum Staatsrecht wird, verwandelt sie sich in positives, also änderbares Recht, und als positives Recht ist es dann auch kein rechtliches, sondern nur noch ein politisches Problem, sie dem inter- und übernational gültigen Menschenrecht zu kompatibilisieren.63 Ob sie es wollen oder nicht, ob sie Gläubige oder Ungläubige, Fundamentalisten oder Liberale, arm oder reich sind: Alle sozialen, ökonomischen und poli-

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Meyer 2005. In dem Augenblick, in dem der islamische Staat zum – sei es fundamentalistischen, sei es reformistischen – Nationalstaat mit halbwegs funktionierender parlamentarischer Gesetzgebung und halbwegs professionalisierter Rechtsprechung wird, sitzt das religiöse, göttliche und ewige Gesetz in einer Positivierungsfalle, aus der es nicht mehr rauskommt. Dann muss die Sharia durch Parlamentsgesetze, Präzedenzfälle, Rechtsvergleiche und Dogmatik fortlaufend geändert und zu positiv gültigen Normtexten und legalisierten Rechtsnormen verzeitlicht, entzaubert, rationalisiert werden, und die Beispiele solcher Entwicklungen häufen sich bereits. Gibt es erst einmal einen Kern von Verfassungsinstitutionen (wie im Iran und einigen andern islamischen Staaten), dann setzt – sofern sie nicht wieder vernichtet werden (oder zu bloß symbolischem Recht verkommen) – die ausdifferenzierte Funktionsweise dieser Organgewalten einen Kreislauf der fortlaufenden Reduktion von Weltkomplexität, des Aufbaus von Eigenkomplexität, erneuter Reduktion und Aufbau von Welt- und Eigenkomplexität usw. in Gang, der eine Lebenswelt stabilisiert, die islamischen Reformdenkern wie Abdolkarim Sorusch entgegenkommt. Als 1789 die Menschenrechte feierlich verkündet wurden, galten sie als getreue Widerspiegelung ewiger Naturgesetze. Und was ist davon geblieben? Ein Verfassungsartikel mit der Nr. 79 (3) innerhalb vollständig positivierten Verfassungsrechts, das, solange es nicht durch die Anwendung des Art. 146 im ganzen aufgehoben wird, die Wortlautgrenze, aber keineswegs die Bedeutung von zwei Artikeln für änderungsfest erklärt. Die Bedeutung und damit das wirkende Recht der „ewigen“ Artikel 1, 20 und 79 (3) wird durch Normtexte und Rechtsnormen in der täglichen Parlaments- und Rechtsarbeit immer wieder neu und anders und widersprüchlich interpretiert, geändert, revidiert, usw., und erst seitdem das geschieht, sind Grundrechte keine frommen Wünsche und die wirklich vollzogenen Gesetze keine bloße Willkür mehr. 63

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tischen Akteure der Weltgesellschaft, die einzelnen menschlichen Individuen, aber auch alle Organisationen und Staaten sind (a) den Imperativen funktionaler Differenzierung unterworfen, von Schulen und Märkten, Wissenschaft und Technik, positivem Recht und bürokratischer Verwaltung abhängig, und ihr Handeln wird (b) von den Wertsphären der Weltkultur, von Individualismus und Rationalismus, von universalistischer Menschenrechtsmoral und fundamentalistischer Religion, von Konsumismus und Romantizismus, von Massenkultur und moderner Kunst, von progressivistischer Rhetorik und schülerzentriertem Unterricht geformt und intrinsich motiviert. Erst diese evolutionären Errungenschaften, zu denen die Rechtsrevolution nur das Tor geöffnet hat, erklären die ungeheure Dynamik der Globalisierung, ihre Grenzen sprengende Kraft, ihre entfesselte Produktivität, aber auch ihre destruktiven Potentiale, ihre unkalkulierbaren Risiken, ihre Krisen und Kriege. Sie erklären den jetzigen Zustand ihrer Verfassung. IV. Dekonstitutionalisierung Die Evolution geht durch das Tor, das die Revolution ihr geöffnet hat, aber sie folgt nicht ihren großen Zwecken, sondern den winzigen Zufallsvariationen eines endlosen Kommunikationsstroms. Mit der Globalisierung aller Wertsphären und Funktionssysteme holt die Dialektik des Fortschritts den Nationalstaat ein und bringt ihn in Bedrängnis. Schon die Revolution hatte den Finger unnachsichtig in seine imperiale Wunde gelegt. Die nationale Exklusion von Ungleichheit ist, nicht nur aus der Perspektive der fremden Flüchtlinge, auch aus derjenigen der einheimischen Staatsbürger, zu eng für eine Welt, die der globalen Freizügigkeit keine technischen und kommunikativen Schranken mehr setzt. Sein eigenes Verfassungsprinzip kehrt sich gegen den Nationalstaat. Der Normtext schlägt in dem Augenblick auf ihn zurück, in dem er mit seiner eigenen Unterschrift die fundamental rights überstaatlich positiviert. Gleichzeitig jedoch zerstört die Evolution der kommunikativen Produktivkräfte die größten Errungenschaften der nationalen Rechtsrevolution. Das ungerichtete, globale Wachstum der Produktivkraft Kommunikation, die sich seit Eintritt ins Zeitalter der elektronischen Verbreitungsmedien Zug um Zug fast alle technischen Produktivkräfte einverleibt hat, macht es auch dem stärksten Nationalstaat unmöglich, dessen negative Externalitäten wenigstens in seinen eigenen Grenzen unter Kontrolle zu halten. Allenfalls kleine Staaten, die reich genug sind, sich selbst in globale Mischkonzerne zu verwandeln, können den Stürmen der Globalisierung noch eine zeitlang trotzen.64 Der Staat verliert seine Fähigkeit, Ungleichheit auszuschließen und sie in andere Weltregionen abzudrängen. Die Globalisierung der großen Lebens-

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mächte, zu der die evolutionäre Verstetigung der Rechtsrevolution die Instrumente – transnationales Verwaltungsrecht,65 übernationales soft law,66 globale Privatrechtsregimes,67 entangled legal communities,68 – liefert, hat • die state embedded markets des tatsächlich untergegangenen Spätkapitalismus in die market embedded states des globalen Turbokapitalismus verwandelt.69 Wie der Kapitalismus, so auch die Religion. Was jenem recht ist, ist dieser billig. Die Schubkraft des Fundamentalismus aller Konfessionen hat • aus state embedded religions religion embedded states gemacht. Im Fundamentalismus wiederholt sich die protestantische Entzauberung, Enttraditionalisierung, Dekontextualisierung, Individualisierung, Universalisierung und Dezentrierung der Religion auf Weltniveau.70 Die Globalisierung der Religion geht mit der Entstehung von Weltöffentlichkeit Hand in Hand, und diese hat uns nicht nur, wie wir jetzt erkennen müssen, die erste Blüte einer kosmopolitischen Bürgergesellschaft und Menschenrechtskultur beschert, sondern • die Metamorphose von state embedded publics in public embedded states, und siehe da, ohne das dichte Netz innerstaatlicher Normierungen71 ist die endlich eroberte, grenzenlose Freiheit des öffentlichen Raums der immer häufiger fundamentalistisch motivierten Kolonialisierung durch Macht und Geld fast schutzlos ausgeliefert. Fortan entwickelt sich (1) die Freiheit der Märkte auf Kosten der Freiheit von ihren negativen Externalitäten, (2) die Freiheit der Religion auf Kosten der Freiheit von der Religion, und (3) die Freiheit der öffentlichen Gewalt auf Kosten der Freiheit von administrativen Eingriffen (embedded journalism), religiöser Zensur (Karikaturenstreit) und ökonomischer Monopolisierung (Fox, Berlusconi). Die Gleichheit der Freiheit wird dadurch zerstört: Die Freiheitssphären des Eigentums, des Glaubens und der Kommunikation werden dekonstitutionalisiert. V. Konstitutionalismus Die Evolution hat die Revolution gespalten. Während sich im globalen Staatensystem die Vielfalt der Verfassungsformen entdifferenziert hat und der herr64

Streek 2005, S. 37. Tietje 2003; Möllers 2005; Krisch/Kingsbury 2006; Kingsbury/Krisch/Steward 2005. 66 Möllers, European Governance, 2006. 67 Teubner 2003. 68 Randeira 2004. 69 Streek 2005. 70 Berger 1999; Roy 2006; Vasques/Marquardt 2003. 71 Dazu: Sunstein 1993. 65

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schaftsbegründende Verfassungstext des demokratischen Rechtsstaats auch dort normativ alternativlos geworden ist, wo er nur „instrumentelle“, „symbolische“ oder „nominalistische“ Bedeutung hat,72 haben sich die postnationalen Verfassungsregimes zu einer ständig wachsenden und kaum noch überschaubaren Vielfalt der Formen ausdifferenziert. Aber jetzt wird auch erkennbar, dass sie, allen rechtsverbindlichen Bekenntnissen zu egalitären Rechten und Demokratie zum Trotz, längst angefangen haben, mit postmodernen und postdemokratischen Formen eines herrschaftsbegrenzenden Konstitutionalismus zu experimentieren, der sie alle verbindet und vom demokratischen Rechtsstaat trennt. Herrschaftsbegrenzung durch Konstitutionalisierung bedeutet – im klassischen wie im postmodernen/postdemokratischen Konstitutionalismus73 – nicht Aufhebung politischer (und unpolitischer) Klassenherrschaft, sondern ihre Befestigung. Im internationalen, außenpolitisch erzeugten Recht ist das solange kein Problem, wie das Mandat der handelnden Exekutiven an demokratisch gesetzte Normtexte gebunden und gerichtlich kontrollierbar bleibt. Dann wird durch internationales Recht lediglich die innerstaatliche Demokratie nach außen abgesichert.74 Beim Übergang von internationaler Außen- zu trans- und supranationaler Weltinnenpolitik (oder europäischer Innenpolitik) endet aber die demokratische Legitimation durch nationale Wahlen. Die seit Jahrzehnten ständig wachsende, immer weiter ausgreifende und tief in die Nationalstaaten durchgreifende Normproduktion inter-, trans- und supranationaler Institutionen verwandelt die demokratischen Staatsverfassungen in nominalistische und symbolische Fassaden für einen längst auf allen Ebenen des globalen Mehrebenensystems durchgesetzten, postdemokratischen Konstitutionalismus. Materiell wandeln sich revolutionäre, Herrschaft begründende Verfassungen in evolutionäre, Herrschaft begrenzende Verfassungen zurück. Der damit ubiquitär gewordene Konstitutionalismus sichert zwar immer noch wichtige Grundvoraussetzungen globaler Rechtsstaatlichkeit. Aber gleichzeitig schirmt er die schnellen und beweglichen, in G7/G8, Baseler Bankenausschuss, Europäischem Rat und Ministerrat, Sicherheitsrat, aber auch im Bologna-Prozess usw. oft nur lose und informell vereinigten Exekutivgewalten gegen den Zugriff nationaler und transnationaler Gesetzgeber und Richter ab und erschließt den Regierungen – gerade aufgrund ihrer informellen Assoziation, der im Staat enge Grenzen gesetzt sind – ungeahnte Handlungsspielräume jenseits des Nationalstaats. Sie gewinnen auf den globalen Bühnen jene (an sich wünschenswerte) Gestaltungsmacht zurück, die sie im Nationalstaat längst verloren haben. 72 Löwenstein 1997, S. 148 ff.; Neves 1992; Neves 1998, S. 90 ff.; Müller 2001, S. 62 ff. 73 Zurm Diskurs der Postdemokratie: Buchstein/Jörke, 2003. 74 Maus 2005.

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Als Helmut Schmidt in den 1970er Jahren, hart bedrängt von den immer enger werdenden Handlungsspielräumen nationaler Politik, Valery Giscard d’Estain für den Plan gewinnen konnte, mit dem Europäischen Rat der Staatschefs „a forum as informal and private as possible, and at the same time cast as highranking as possible“75 ins Leben zu rufen, das fortan ohne jede Bindung durchs europäische Primärrecht die Richtlinien europäischer Politik bestimmen sollte, ist ihm tatsächlich ein weit über seine Amtszeit hinaus wirkender Befreiungsschlag gelungen, von dem Dick Cheney nur träumen kann. Schmitt und Giscard haben die Bildung einer starken, transnationalen Exekutive initiiert, die weitgehend unabhängig von der ersten und dritten Gewalt operieren und wirklich etwas bewegen kann. Und sie hat eine mächtige, bis heute anhaltende, jetzt erst durch Legitimationsprobleme (dazu sogleich) abgebremste Bewegung in die europäische Politik gebracht. Sie war effektiv, aber nicht demokratisch.76 Statt Europa zu demokratisieren, hat sie seine Herrschaftsform in einen sanften Bonapartismus zurückverwandelt. Das flexible und lückenhafte Organisationsrecht der postnationalen Institutionen erlaubt den vereinigten Exekutivgewalten den Auf- und Ausbau informeller Herrschaft, die – anders als im Fall der „brauchbaren Illegalität“ in formalen Organisationen77 – nicht mehr an die rechtsstaatliche Möglichkeit, im Konfliktfall stets auf die Legalstruktur der Organisation zurückgreifen zu können, gebunden ist. Die informelle Verselbständigung der vereinigten Exekutivgewalten zentriert darüber hinaus die Macht bei den reichen Industrienationen und großen Atommächten und sichert deren Übermacht im weitgehend agrarischen und armen Rest der Welt. Die Kehrseite globaler Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie ist imperiale Weltstaatlichkeit.78 Die vereinigten Exekutivgewalten könnten jenseits des Nationalstaats die Macht erzeugen, die nötig wäre, um die Freiheit der Märkte, der Religionen und der öffentlichen Gewalten zu rekonstitutionalisieren und das Versprechen der globalen Rechtsrevolution einzulösen, Ungleichheit überall, wo Menschen leben, auszuschließen. Aber ihnen fehlt dazu das Interesse. Je besser es ihnen gelingt, die Last demokratischer Legitimation und gerichtlicher Kontrollen abzuschütteln, desto deutlicher bilden sich, bei allen Unterschieden und Gegensätzen, gemeinsame Interessen an der Erhaltung und Steigerung der neu gewonnenen Exekutivmacht. Das entfernt die materiell mehr an Gestaltungsmacht als an Geld und ideell am guten Regieren (good governance) orientierten Exekutiveliten ebenso vom nationalen (und in Europa auch regionalen) Aktivvolk und 75

Dann 2003, S. 261 f. Scharpf 1999. 77 Luhmann 1999, S. 304 ff. 78 Chimni 2004; zum internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie: Habermas 1992. 76

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„seinen Organen“ (Art. 20 Abs. 2 GG) wie vom kosmopolitischem Adressatenvolk, das zur globalen classe precaire (Bourdieu) wird, vor Ort zurückbleibt oder mit schlechten Pässen auf die Wanderschaft geht. Ihr legitimes Interesse an Machtsteigerung führt die vereinigten Exekutivgewalten statt dessen mit den andern global players, frequent travellers und professionels, mit Unternehmensvorständen, mächtigen Nichtregierungsorganisationen, Medien-tychons und Fernsehstars zu einer neuen transnationalen Klasse mit eigenen Klasseninteressen, eigenem Habitus und symbolischem Kapital zusammen. Der aktive cosmopolitism of the few trennt sich vom passiven cosmopolitism of the many.79 VI. Legitimationsprobleme Der postmoderne Konstitutionalismus ermöglicht die Ko-Evolution von globaler Rechtsstaatlichkeit und imperialer Weltstaatlichkeit. Ohne Rechtstaat (Staat im weiten Sinn von status) ist der Hegemonialstaat ohnmächtig, ohne Demokratie aber ist der Rechtstaat nicht mehr der „Staat des Volkes“80, sondern ein Zustand hegemonialer Herrschaft. Der postmoderne Konstitutionalismus hat zwar einen dazu passenden postdemokratischen Verfassungsexperimentalismus hervorgebracht, aber keine neue Verfassungsidee.81 Um sich zu rechtfertigen, fällt ihm nichts anderes ein als Menschenrechte und Demokratie. Das unterscheidet den postmodernen vom klassischen Konstitutionalismus, der unter good governance oder guter Herrschaft 82 keineswegs eine reflexiv verbesserte Demokratie, sondern noch ganz selbstbewusst Aristokratie und Monarchie verstanden hatte. Die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts konnte noch auf höhere Legitimität zurückgreifen und bedurfte nicht einmal des Scheins demokratischer Legitimation.83 Sie konnte ihre Eigenmacht jenseits des Parlamentsgesetzes aus souveränem Willen (Jellineks „Selbstbindung“) einschränken oder ausbauen ohne dabei in Legitimationsnöte geraten zu müssen, der gegenwärtige Konstitutionalismus kann es nicht. Ihm ist der Rückgriff auf eine substanzielle Legitimität jenseits des „Kreislauf der Legitimierung“84 verstellt. Deshalb muss er unaufhörlich egalitäre Rechte einschließlich des Rechts auf Demokratie proklamieren und positivieren, teilweise sogar legalisieren, außerdem sich selbst demokratische Legitimation zu- oder gar vorschreiben (Art. 6 Abs. 1, 4 EUV). 79 Calhoun 2002; Calhoun 2003. Eine instruktive Netzwerkanalyse zur Emergenz transnationaler ,Klassen‘interessen am Beispiel der globalen Trinkwasserpolitik bei: Dobner 2006. 80 Grimm 1991. 81 Buchstein/Jörke 2003. 82 Zur Kritik: Habermas 1972. 83 Zur Unterscheidung: Möllers 2005. 84 Müller 2001, S. 51.

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Er gerät dabei aber in einen Widerspruch, der ein strukturelles Legitimationsproblem erzeugt. Seine formell oder materiell unegalitären Organisationsnormen dementieren beständig die egalitären und demokratischen Rechte seines eigenen (Vertrags-)Verfassungsrechts.85 Dieser Grundwiderspruch des globalen Konstitutionalismus ist nicht nur der immens gewachsenen Komplexität der Weltgesellschaft, mit der wir leben müssen, sondern auch der sozialen Faktizität neuer Herrschaftsverhältnisse, die sich ändern lassen, geschuldet. Die dogmatische Einheit von „Grundrechtsteil und organisatorischem oder Kompetenzteil einer Verfassung“ war eine der großen evolutionären Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats.86 Sie trennt ihn, als Einheit von Rechtsstaat und Demokratie87 definitiv vom autoritären Anstaltsstaat und seiner Rechtstaatsideologie. Die dogmatische Einheit der beiden Verfassungsteile ist im globalen Konstitutionalismus zerrissen.88 Als Kompensation bleibt nur nichtoder a-demokratische (nicht unbedingt: un-demokratische) output-Legitimität statt input-Legitimation, und nur die letztere ist demokratisch. Kommt der jeweils gewünschte output aber nicht zustande, dann wird das latente Legitimationsproblem manifest und die Normtexte schlagen – wie zuletzt im Fall des französischen Referendums zur Europäischen Verfassung – zurück. VII. Revolution der Evolution? – Reform nach Prinzipien! Die soziale Evolution hat die globale Rechtsrevolution in einer Verfassung globaler Rechtsstaatlichkeit und imperialer Weltstaatlichkeit verwirklicht, aber diese Verfassungswirklichkeit ist nicht (nur) vernünftig. Sie ist in sich legitimationsschwach und kann deshalb zwar die Macht erzeugen, aber nicht den politischen Willen bilden, die im Zuge der Globalisierung dekonstitutionalisierten Wertsphären und Funktionssysteme postnational zu rekonstitutionalisieren. „Was“, so ist mit Friedrich Müller zu fragen, „können Demokraten“ gegen eine solche „Globalisierung tun“?89 Um die Verfassungsevolution auf den von der Revolution des internationalen Rechts erschlossenen Weg in die globale Demokratie zurückzuführen, gibt es, nachdem das 20. Jahrhundert nur schlechte Erfahrungen mit gewaltsamen Revo85 Brunkhorst, Globalising Democracy, 2002; Brunkhorst, Demokratie in der globalen Weltgesellschaft, 2002; Müller 2003, S. 132. 86 Müller 2001, S. 67. 87 Habermas 1992. 88 Der gescheiterte Vertrag über eine Verfassung Europas hätte genau hier angesetzt und die Grundrechtscharta dem europäischen Organisationsrecht integriert. Das wäre zumindest ein wichtiger Schritt zu einer Revolutionierung des neueuropäischen Konstitutionalismus gewesen. 89 Müller 2003, S. 61.

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lutionen, die keinen Enthusiasmus mehr erregen, gemacht hat, keine Alternative mehr zu Kants Vorschlag einer Reform nach Prinzipien.90 Dem kommt 1. die evolutionäre Errungenschaft globaler Rechtsstaatlichkeit entgegen. Eine wesentliche Ursache für die transnationale Verselbständigung der Exekutivgewalt waren, wie wir gesehen haben, die „un-demokratischen“ „Unterbrechungen“ im „Kreislauf von Legitmationsakten“,91 die sich der relativ schwachen Positivierung und noch schwächeren Legalisierung des Weltrechts (und auch noch des Europarechts) verdanken. Deshalb ist jeder Schritt zur Formalisierung informeller Macht ein Gewinn für die Demokratie. Nur „zwingendes Recht befreit von informeller Herrschaft.“92 Nur eine (nicht imperiale, kontextsensitive) „culture of formalism“93 kann den cosmopolitanism of the many stärken und den cosmopolitanism of the few in den Kreisprozess der Legitimation zurück binden. Nur auf der Grundlage eines solchen Formalismus ist 2. eine reformistische Strategie der „constant expansion (of) radical democracy“94 überhaupt aussichtsreich, und sie kann dann und nur dann erfolgreich sein, wenn sie die Demokratisierung des Nationalstaats – hierzulande die Verteidigung der in die „Defensive“ geratenen Demokratie, andernorts überhaupt erst state und nation building95 – in enger Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft betreibt. Die Kritik des postcolonialism an westlich imperialer Weltstaatlichkeit trifft zwar den wunden Punkt des postmodernen Konstitutionalismus, aber bloß nationale Selbstbestimmung und Staatssouveränität ist, auch ohne die bitteren Erfahrungen Europas, zu wenig und ein Irrweg, der schnurstracks in Situationen wie die des ersten IrakKriegs führt.96 Ohne die gleichzeitige Entwicklung 3. föderal konkordanzdemokratischer Regionalregimes vom Typus der EU, für die nicht schon die heutige EU, sondern immer noch Länder wie die Schweiz oder die USA ein brauchbares Modell97 radikaler Demokratisierung mit „Wahlen und Abstimmungen“ (Art. 20 Abs. 2 GG) abgeben, ist eine nicht imperiale Stabilisierung nationaler Demokratie gerade in den 90

Langer 1986. Quote Müller S. 148. Müller 1997, S. 27. 92 Möllers 2006, S. 300. 93 Koskenniemi 2001, S. 500 ff. 94 Koskenniemi 2001, S. 505, S. 508. 95 Müller 2001, S. 73 ff.; 2003, S. 51 ff., S. 83 ff. 96 Chimni 2004, Anghie 2004. Für nationalen Protektionismus gibt es gute Gründe, zeigen doch empirischen Langzeitanalysen im Ländervergleich, dass hohe Auslandsinvestitionen und niedrige Handelsschranken sich auf die Demokratie der beteiligten Staaten höchst negativ und bedrohlich auswirken – was auch die hier vertretene These bestätigt: Li/Reuveny 2003. 97 Oeter 1995; Schönberger 2005; Fossum 2003; Menéndez 2003. 91

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Ländern der globalen „Peripherie“ ebenso undenkbar wie eine Lösung des Dekonstitutionalisierungsproblems ohne die enge Kooperation und Vernetzung mächtiger und demokratischer Regionalregimes.98 Europa ist trotz seiner schlechten Verfassung auf diesem Weg schon sehr weit fortgeschritten. So sah der gescheiterte Verfassungsentwurf nicht nur erste Schritte zur dogmatischen Integration von Grundrechtsnormen und Organisationsverfassung vor, sondern auch eine sehr viel stärkere Formalisierung der informellen Macht des europäischen Rats usw. Schließlich muss die, von Ebene zu Ebene immer mehr Schwindel erregende, Frage der Demokratie 4. auch auf der globalen Ebene, auf der es nur noch funktional spezialisierte Verfassungsregimes gibt, gestellt werden.99 Es gibt ein globales Publikum, das sich immer häufiger artikuliert und immer massiver in die globalen, regionalen und nationalen politischen Angelegenheiten interveniert. Seine kommunikative Macht wächst, und nicht immer nur mit segensreichen Folgen. Es gibt also globale öffentliche Angelegenheiten und genau in diesem schlanken Sinn eine globale res publica, aber eben keine globale Demokratie. Auch wenn auf der Ebene globaler Funktionssysteme (für Friedenssicherung, Gesundheit, Wirtschaft, Erziehung, Internet, Sport usw.) demokratische Repräsentation (mit Zwei-Kammer-System etc) eine ebenso unhandliche Idee ist wie globale Volksabstimmungen, so gibt es doch die Möglichkeiten demokratischer Partizipation und zumindest die negativ-demokratische Möglichkeit der „ständigen Beunruhigung“ und „Erschwerung faktischer (und undemokratischer) globaler Herrschaft“100. Schwache Öffentlichkeiten mit Rechten und ohne Entscheidungsbefugnisse können, auch wenn sie nie zur starken, entscheidungsbefugten Weltöffentlichkeit werden, graduell stärker werden. Dem wiederum könnten Reformen des hoch fragmentierten UN-Systems, dessen Fragmentierung nicht aufhebbar, sondern durch den „stummen Zwang“ (Marx) funktionaler Differenzierung vorgegeben ist, entgegenkommen. Solche Reformen müssten erstens die rechtsstaatliche Überprüfbarkeit trans- und supranational bindender Entscheidungen durch Gerichte ermöglichen und verbessern – zumal wenn mittlerweile der Sicherheitsrat nicht nur durch schöne Erklärungen, sondern durch schwarze Listen die Völkerrechtssubjektivität jedes einzelnen menschlichen Individuums ausdrücklich anerkennt. Sie müssten zweitens die jeweiligen Entscheidungsverfahren wenigstens intern denselben Normen unterwerfen, denen die jeweilige Organgewalt auch im demokratischen Staat verpflichtet ist: Öffentlichkeit, accountability, Egalität und Fairness der Staatenrepräsentanz, Proceduralisierung organisationsrechtlicher Reformen, nicht Aufhe98

Habermas 2004. Fischer-Lescano 2005; Habermas 2004. 100 Müller 2003, S. 79. 99

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bung, aber zumindest schrittweise Positivierung und Legalisierung informeller Herrschaftsverhältnisse (s. o. 1.) Die Chancen einer Reform nach Prinzipien stehen schlecht, aber normativ sind sie gut begründet. Der deutsche Staatswillenspositivismus hat dem Anstaltsstaat einst eine ominöse „Normativität des Faktischen“ (Jellinek) zugeschrieben, aber die demokratische Verfassung verbietet jede Normativität des Faktischen, um in der Objektivität undurchsichtiger gesellschaftlicher Verhältnisse den Geist des Rechts: die „Faktizität des Normativen“101 zum Zuge kommen und den Staat hinter dem Recht zurücktreten zu lassen. Die mehr oder weniger postdemokratischen Realisten, die heute die Sozial- und Politikwissenschaften kolonialisieren102 und argwöhnisch darüber wachen, dass der „evolutionäre Selbstlauf der sozialen Systeme“ nur noch „beobachtet“103 werden darf, könnten am Ende trotz des überwältigenden Datenmaterials, mit dem sie triumphierend von Konferenz zu Konferenz eilen, Unrecht behalten, weil sie mit diesem normativen Datum – dass Normtexte zurückschlagen können – nicht mehr gerechnet haben. Literatur Albert, Matthias: Zur Politik der Weltgesellschaft, Weilerswist 2002. Albert, Matthias/Stichweh, Rudolf (Hrsg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Wiesbaden, erscheint 2007. Allott, Phillip: The Emerging International Aristocracy, in: NYU-Journal of International Law and Politics 35, 2/2003. – Re-thinking the Good Life in the 21st Century, Vortrag auf der Konferenz: Towards a New World Order, Kopenhagen 3.3.2006. Anghie, Antony: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law, Cambridge MA 2004. Arendt, Hannah: Über die Revolution, München 1965. – Die verborgene Tradition, Frankfurt 1976. – Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1991. Berger, Peter L.: The Desecularization of the World, in: The Desecularization of the World Washington, D.C. 1999, S. 1–18. Berman, Harold: Recht und Revolution, Frankfurt 1991. – Law and Revolution II: The Impact of the Protestant Reformation on the Western Legal Tradition, Cambridge MA 2006.

101 102 103

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Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik Das verstehensrelevante Wissen als Gegenstand semantischer Analyse Von Dietrich Busse

zwei Eisen der Straße Schnee

I. Ausgangsproblem Ein Grundproblem einer Theorie und Methode der Gesetzesinterpretation und -anwendung – und damit zugleich der Juristischen Semantik wie der allgemeinen linguistischen Semantik überhaupt – ist die Frage, in welchem Ausmaß das für das adäquate Verstehen der Bedeutung eines Gesetzestextes notwendige Wissen in die semantische Beschreibung einzubeziehen ist und in welcher Form es angemessen beschrieben werden kann.1 Aus einer ganzen Reihe einleuchtender Gründe, die vor allem mit der Funktion von Gesetzestexten in der alltäglichen, institutionalisierten juristischen Textarbeit zusammenhängen,2 sprengt die Rechts- und Gesetzessprache jegliche traditionellen Bedeutungsbegriffe und -theorien und legt es nahe, zu einem eigenen semantischen Modell zu kommen, welches die semantische Funktion und Funktionierensweise von Gesetzesbegriffen und -texten in ihrer ganzen Breite in den Blick nimmt und sich nicht durch Scheuklappen axiomatischer Art (etwa Scheuklappen logischsemantischer theoretischer Verengungen) von einer adäquaten Beschreibung (und theoretischen Modellierung) des verstehensrelevanten Wissens in seiner Gesamtheit abhalten lässt. Für eine umfassende, d.h. die engen Grenzen einer traditionellen lexikalistischen Wortsemantik überschreitende In-den-BlickNahme des semantischen (verstehensermöglichenden) Wissens steht schon seit längerem die Theorie der sog. „Rahmen-Analyse“ (frame-Semantik) zur Verfügung. Ich habe diese Theorie schon in vor längerer Zeit entstandenen Arbeiten 1

Vgl. zu gängigen juristischen Bedeutungskonzeptionen Busse 1993. Diese Gründe sind in Busse 1992, 31 ff. und 259 ff. ausführlich dargelegt, wo statt des herkömmlichen Begriffs „Interpretation“ oder „Auslegung“ für die tatsächliche juristische Arbeitsweise mit Gesetzestexten der Terminus „(institutionelle) Arbeit mit Texten“ vorgeschlagen und begründet wird. 2

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zur linguistischen Analyse der juristischen Auslegungs- und Textarbeit zum Ausgangspunkt für die Entwicklung erster methodischer Schritte in der semantischen Analyse der Gesetzessprache genommen.3 In vorliegendem Aufsatz geht es nun darum, diese Methode auf heutigem Kenntnisstand auszubauen und zu differenzieren und an einem Beispiel Möglichkeiten ihrer Anwendung zu demonstrieren. Vor allem in die Analyse der juristischen Details des Beispiels sind viele Kenntnisse eingeflossen, die aus der jahrelangen zeitweise engen Zusammenarbeit mit dem durch diesen Band zu Ehrenden und unserem damaligen gemeinsamen rechtslinguistischen Arbeitskreis erwachsen sind. Es hieße wohl, so etwas wie Eulen auf die trans-ebert’schen Panoramahöhen zu tragen, wollte man allzu breit ausführen, wie viel man als Nichtjurist den in dieser Region lichter Abstraktion erworbenen Erkenntnissen zu verdanken hat. Nicht das wenigste von dort Mitgenommene (oder besser: mit von dort Mitgenommenem Erzeugte) sind die Erkenntnisse über lyrische Textpotentiale bei mehreren Generationen von Germanistik-Studenten, die immer, aber auch immer, einen kohärenten Sinn zu finden wussten. II. Von der Wortsemantik zur linguistischen Epistemologie Der Punkt der Grenzüberschreitung, an dem in der modernen semantischen Rahmenanalyse der Limes der traditionellen Linguistik und logischen Sprachphilosophie überschritten wurde, kann genau markiert werden. Ich demonstriere ihn nicht bei Kognitionswissenschaftlern oder bei Epistemologen wie Foucault (der diese Grenzen ohnehin schon von allem Anfang an hinter sich gelassen hat). Ich zeige ihn bei dem Linguisten Charles Fillmore, in dessen Werk man ihn glücklicherweise präzise benennen kann. Man kann diese Grenzüberschreitung, die ich lieber eine „epistemologische Wende“ in der linguistischen Semantik nennen würde, datieren mit jenem Moment im Jahre 1971, in dem Fillmore für die linguistische Semantik vorschlägt, die übliche (und seiner Ansicht nach falsche) Frage: „Was ist die Bedeutung dieser Form?“ (d.h. dieses Wortes, Satzes) durch die Frage zu ersetzen: „Was muss ich wissen, um eine sprachliche Form angemessen verwenden zu können und andere Leute zu verstehen, wenn sie sie verwenden?“4 Den umfassenden, die Grenzen der traditionellen lexikalischen Semantik transzendierenden Anspruch einer epistemisch gewendeten linguistischen Semantik formuliert Fillmore bereits in diesem frühen Stadium seines Werkes mit einer Radikalität, deren Auswirkungen ihm womöglich zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht vollständig klar waren.5 So bestimmt er in 3

Vgl. dazu vor allem Busse 1992, Kap. 4, S. 119 ff. und Kap. 6, S. 259 ff. Fillmore 1971a, 274. 5 Jedenfalls erwecken seine Formulierungen immer den Anschein, als sei ihm ihre Radikalität nicht bewusst gewesen; zumindest will er sie wohl nicht – vielleicht aus strategischen Gründen? – explizit propagandistisch formulieren und ausschlachten. 4

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einem anderen seiner vielen Aufsätze aus diesem Jahr die Aufgabe der linguistischen Semantik damit, dass sie u. a. erfassen soll: „die Präsuppositionen oder ,Glückensbedingungen‘ für den Gebrauch der [lexikalischen] Einheit, die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Einheit ,angemessen‘ benutzt werden kann“.6 Der zentrale Terminus ist hier „Bedingungen“. Die ganze (damals noch nicht erahnte) epistemologische Radikalität dieser Neubestimmung der Aufgabe der linguistischen Semantik kommt dort zum Ausdruck, wo Fillmore (im zuerst zitierten Aufsatz) die semantische Aufgabe beschreibt als die Erschließung des „vollen Set[s] von Präsuppositionen [. . .], der erfüllt sein muss für jede aufrichtige Äußerung [eines] Satzes“.7 Wenn auch von „Bedingungen“ bereits in der logischen Semantik (und damit im bedeutungstheoretischen Mainstream) die Rede war, so ist doch der Schritt von den dort genannten „Wahrheitsbedingungen“ zu den nun gemeinten „Glückensbedingungen“, oder besser „Bedingungen der angemessenen Benutzbarkeit“ eines Wortes, ein vielleicht zunächst unbemerkter, aber entscheidender Schritt weg von dem falschen Schein der Berechenbarkeit der Merkmalslisten und logischen Konditionen hin zum verstehensrelevanten Wissen in seiner ganzen Breite und Fülle. Vielleicht hat Fillmore die Radikalität dieser neuen Zielbestimmung der Semantik zunächst deswegen nicht in ihrer vollen Tragweite erfasst, weil ihm auf dem damaligen Stand der Präsuppositionsforschung die Tragweite einer Formulierung wie „voller Set von Präsuppositionen“ nicht bewusst war. Nachdem man heute weiß, dass es faktisch nicht möglich ist, zwischen „semantischen“ und „pragmatischen“ Präsuppositionen einen präzisen Trennstrich zu ziehen, nachdem also deutlich ist, dass „Präsupposition“ nur ein anderer Terminus für einen großen Teil des „verstehensrelevanten Wissens“ ist, wird die epistemologische Tragweite der Zielbestimmung durch Fillmore unabweisbar. Eine semantische Beschreibung des sprachzeichenbezogenen verstehensrelevanten Wissens als Ziel kommt schon für sich genommen einer umfassenden Neubestimmung des Gegenstandes der linguistischen Semantik gleich. Hinzu kommt aber etwas, das die Grenzen traditioneller Sprach- und Kommunikationstheorie schlechthin zu überschreiten droht. Es gibt schon in der analytischen Sprachphilosophie und Pragmatik einen Terminus, der treffend benennt, um was es hierbei im Kern geht: „tacit knowledge“ („stillschweigendes Wissen“). Ohne die Diskussion über die Problematik des Begriffs „Wissen“ hier vertiefen zu können, kann dazu doch so viel gesagt werden: Das sog. „offensichtliche“ Wissen, wie es in der Semantik beispielsweise in semantischen Merkmalsbeschreibungen, in der lexikalischen Bedeutungserläuterung, in einer auf Propositionen und damit auf durch Zeichen und Zeichenketten tatsächlich artikulierte Satzele6 7

Fillmore 1971b, 370. Fillmore 1971a, 277.

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mente gestützten Satzanalyse zum Ausdruck gebracht wird, ist in der Regel nur der kleinere Teil desjenigen Wissens, das benötigt wird, um die epistemische Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks (ob Wort oder Satz) umfassend verstehen zu können. Die zur lexikalischen und zur logisch-semantischen Bedeutung von Wörtern respektive Sätzen gerechneten Bedeutungselemente reichen gerade nicht aus, um das zu erfüllen, was Fillmore in den zitierten Bemerkungen von einer nicht-reduktionistischen Semantik fordert: die ganze Fülle der Bedingungen zu erfassen, die gegeben sein müssen, damit man eine Form/einen Satz angemessen verstehen kann. Zum offensichtlichen (und in den Wörterbüchern und Satzanalysen beschriebenen) Wissen muss eine Fülle von Wissenselementen hinzukommen, damit man von einem vollständigen Erfassen der epistemischen Verstehensvoraussetzungen sprechen kann. Dies hat gerade Fillmore immer wieder mit zahllosen schlagenden Beispielen nachgewiesen. Das Interesse einer sich nicht auf traditionelle Wortbedeutungskonzepte beschränkenden semantischen Analyse richtet sich daher auch auf solche epistemischen Elemente im verstehensrelevanten Wissen, die nicht zur intendierten kommunikativen Absicht, die mit den Wörtern/Texten verfolgt wird, gehören. Eine semantische Tiefenanalyse muss die unterschiedlichen Funktionalitäten berücksichtigen und differenzieren, in die Wörter/Texte eingebettet sind. Verschiedene Funktionalitäten ergeben sich aus den verschiedenen Perspektiven, die in epistemologischer Hinsicht an die analysierten Texte herangetragen werden können. Man kann für diese Perspektiven das Konzept der „Kontextualisierung“ benutzen.8 Man kann und muss dann z. B. eine auf den unmittelbaren kommunikativen Erfolg eines Satzes/Textes gerichtete Kontextualisierung von anderen Formen der Kontextualisierung unterscheiden, die möglicherweise eher in analytisch-deskriptiver Tätigkeit erst herausgearbeitet werden müssen, sich den Beteiligten (und ihrem overten Bewusstsein) aber nicht unbedingt sofort erschließen. Im rechtslinguistischen Zusammenhang sind es besonders die institutionellen Funktionalitäten der (Gesetzes-) Begriffe und Texte, die eine ganz eigenständige Form epistemischer Einbettung ausmachen. Es wäre aus rechtslinguistischer Sicht fatal, wollte man die Analyse der epistemischen Funktion von Wortverwendungen, Sätzen, Texten auf die bewusst-intentional kommunizierten und lexikalisch feststellbaren Elemente beschränken. III. Rahmenanalyse als Grundlage einer epistemologisch reflektierten semantischen Analyse Nachfolgend seien (notgedrungen knapp) einige theoretische Grundlagen einer epistemologischen Semantik dargestellt, wie sie auch für die Zwecke einer epistemologisch motivierten rechtslinguistischen Analyse nützlich sein könnten. 8

Vgl. dazu ausführlich Busse 2006a.

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Wörter (in Sätzen, Texten) evozieren Wissen.9 Die Aktualisierung verstehensrelevanten Wissens „unterläuft“ den Rezipienten häufig genug quasi „automatisch“ im Zuge selbstverständlichen, „unbewussten“, meist nicht explizit reflektierten Verstehens; sie kann aber auch Ergebnis von das Verstehen vorbereitenden schlussfolgernden geistigen Akten sein. Für die systematische Beschreibung der Strukturen und Formen, in denen diese Wissensaktualisierung (und das dazugehörige Schlussfolgern, technisch gesprochen: das Vollziehen von „Inferenzen“) verläuft, ist schon früh der Begriff „Rahmen“ (frame) angeboten worden. Etwa zeitgleich verwenden sowohl der Linguist Fillmore10 als auch der Kognitionswissenschaftler Minsky11 diesen Terminus, den sie beide (wohl unabhängig voneinander) auf den „Schema“-Begriff des Psychologen und Gedächtnis-Forschers Bartlett (1932) zurückführen. Ich schlage vor, als Oberbegriff für die verschiedenen Typen des verstehensrelevanten Wissens den Ausdruck „Wissensrahmen“ zu verwenden. Ich gehe daher mit dem Kognitionswissenschaftler Minsky davon aus, dass das gesamte Wissen (und damit auch das „semantische“, das für das Verstehen sprachlicher Zeichen und Texte relevante Wissen) in Wissensrahmen organisiert und strukturiert ist. Wissensrahmen können so gesehen als das Format von Wissen aufgefasst werden. Sie sind dynamisch (d.h. folgen je unterschiedlichen Perspektivierungen), polyvalent (d.h. zu unterschiedlichen Funktionen und Zwecken nutzbar) und vielstufig in Ebenen gestaffelt. Zum Beispiel enthält ein alltagsweltlicher Wissensrahmen wie „FLIEGEN“ je nach Kontext unterschiedliche anschließbare Unter-Rahmen (wie etwa FLUGZEUG, VOGEL usw.), die selbst wieder andere Rahmen als Elemente und Material enthalten. Jeder Begriff (jedes Konzept) ist in dieser Sichtweise selbst ein Rahmen, der entweder Teil eines übergeordneten Rahmens ist, oder selbst auf Rahmen unterer Ebene basiert oder in Beziehung zu benachbarten Rahmen oder Rahmenelementen steht. Im Modell des Linguisten Fillmore werden die Rahmen vorwiegend als PrädikationsRahmen (Prädikat-Argument-Strukturen) aufgefasst. Dies folgt der Einsicht, dass Sätze natürlicher Sprachen durch Verben (als den typischen Ausdrucksmitteln für Prädikate) und die von den Verben abhängigen Nomen bzw. Nominalgruppen strukturiert werden.12 Da auch reine Eigenschafts-Zuschreibungen Prä-

9 Sie spielen auf Wissen an, verweisen darauf, operieren damit, ja, man könnte sogar sagen, sie „spielen mit Wissen“. Der dafür m. E. treffendste Ausdruck ist „Allusion“. 10 Siehe für einen Überblick Fillmore 1977a und 1982. Fillmore ordnet sein Konzept in die Zielsetzung dessen ein, was er „interpretive semantics“ nennt. 11 In Minsky 1974. Parallele Begriffe aus der Kognitionswissenschaft sind etwa „scenes“, „scripts“, mit denen jeweils verschiedene spezielle Rahmentypen bezeichnet werden. 12 Dies ist die Grundeinsicht der sog. Valenzgrammatik nach Tesnière 1959, der Fillmore folgt.

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dikationen darstellen,13 lässt sich letztlich jedes Wissenselement (und die Relation zwischen Wissenselementen) im Format von Prädikationen darstellen bzw. auflösen. Wissensrahmen im Fillmore’schen Sinne (die ich als Wissensrahmen mittlerer Auflösungsebene auffasse) sind damit immer schon gestufte Strukturen aus mehreren Prädikationen (z. B.: FLIEGEN ist TÄTIGKEIT, hat AGENS, hat ZIEL, benötigt INSTRUMENT usw.). Auch ein Begriff im üblichen Sinne lässt sich damit deskriptiv immer auflösen in eine geordnete Struktur aus Teil-Prädikationen. Da es in diesem Modell, in dieser Sichtweise der Struktur des sprachvermittelten Wissens keine letztfundierenden Basis-Konzepte gibt, beruht jeder zu einer Rahmen-Explikation benutzte Begriff selbst wieder auf einer Rahmen-Struktur, zu deren Formulierung und Explikation wiederum andere Begriffe benötigt werden. Dies folgt Wittgensteins Einsicht von der Unhintergehbarkeit der Sprache die sich letztlich in einem unhintergehbar zirkulären Prozess immer selbst erklärt. Prädikationsrahmen14 (also in der Sprache verankerte Wissens- und Ausdrucks-Strukturen) verweisen nach Fillmore auf Lebenssachverhalte, welche er gelegentlich als „Szenen“ bezeichnet hat.15 Das von ihm am häufigsten benutzte Beispiel ist nun interessanterweise ein Beispiel mit starken juristischen Bezügen, nämlich das, was er als „commercial event“ („kommerzielles Transaktions“-Ereignis) bezeichnet. Alltagssprachliche Ausdrücke (dies war Fillmores kasusgrammatischer Ausgangspunkt) fokussieren interessanterweise immer nur Ausschnitte oder bestimmte Perspektiven bzw. Aspekte hinsichtlich des Ereignistyps, so dass naheliegende Bezeichnungen wie „kaufen“, verkaufen“, „bezahlen“, „kassieren“, „erwerben“, „veräußern“ usw. sich nicht als adäquate Bezeichnungen für den Gesamt-Wissensrahmen eignen. 13 Im Deutschen ausdrückbar durch Kopula-Verb ist + Prädikatsadjektiv: X ist Y (Das Wetter ist gut). 14 Fillmore, der sein Konzept ursprünglich aus syntaktischen Problemstellungen heraus entwickelt hat, sprach anfangs immer von „Kasusrahmen“. Auch die heutigen Anwendungen des Rahmenkonzepts in Fillmores Umfeld (im „FrameNet“-Forschungsverbund) sind noch stark auf Kasusrahmen bezogen. Entkleidet man das Konzept seiner unnötigen satzgrammatischen Beschränkungen, handelt es sich aber letztlich dabei um Rahmenstrukturen von Prädikationen im satzsemantischen Sinne, ein Terminus, den Fillmore jedoch m. W. nicht verwendet. 15 Fillmore war zunächst von reinen „Kasusrahmen“ ausgegangen, sah sich aber sodann gezwungen, dieses Konzept um das Konzept der hinter mehreren Kasusrahmen stehenden (und sie zusammenfassenden) „Szene“ zu erweitern. Da man die „Szenen“ kognitionswissenschaftlich jedoch ebenfalls als Rahmenbildungen von Wissen verstehen kann (und m. E. muss), und man also „Rahmen“ und „Szenen“ nicht systematisch voneinander unterscheiden kann, was Fillmore wohl auch erkannt hat, ist er später in dieser eine Zeitlang dualistisch verwendeten Terminologie schwankend geworden und hat die strikte Dichotomie aufgegeben, ohne jedoch zu sagen, wie dann ein Gesamtmodell aussehen kann. Da er aber schon früh auf die große Nähe seiner Überlegungen zu Minsky verwiesen hat, kann man sich vorstellen, in welche Richtung ein solches Modell auch nach Fillmores Meinung gehen sollte.

Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik

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Während die einzelnen Verben Teil-Prädikationen ermöglichen (oder, wenn man will, bezeichnen), gibt nur die sie zu einem kohärenten und strukturierten Wissenskomplex vereinigende „Szene“ (oder „Gesamt-Wissensrahmen“) die Gesamtheit der verstehensrelevanten Wissensfaktoren wieder. Ein einzelnes Verb daraus, wie z. B. „kaufen“, fokussiert epistemisch in seinem Prädikationsrahmen einzelne Elemente der Szene, und diese in bestimmten Rollen (jemand kauft von jemandem und zwar etwas), blendet dagegen andere aus (z. B. Geld).16 Die Rezipienten einer sprachlichen Äußerung mit „kaufen“ als Prädikationsausdruck verstehen aber die ungenannten, nicht im sprachlich aktualisierten Prädikationsrahmen enthaltenen Wissenselemente (wie z. B., dass man etwas Gekauftes mit GELD oder einem anderen TAUSCHMITTEL bezahlen muss) immer mit. Oder, wie Fillmore es ausgedrückt hat: Wörter evozieren ganze Wissensrahmen bzw. Szenen.17 Erforderlich für das Verstehen einer sich auf ein bestimmtes Lebenswelt-Ereignis beziehenden sprachlichen Aussage ist also die Kenntnis eines komplexen und strukturierten Wissensrahmens („Szene“ beim mittleren Fillmore), der erst diejenigen Teile des Rahmens, die mittels sprachlicher Ausdrücke „verbalisiert“ wurden, sinnvoll macht. Das Rahmenkonzept wirft im Zusammenhang mit den Problemen der Wortsemantik (bzw. der linguistischen Semantik generell) zahlreiche Fragen auf, da es scheinbare semantische Gewissheiten, wie sie vielen Linguisten lieb geworden sind, in Frage stellt, wenn nicht über den Haufen wirft. So ist es (darauf weist Fillmore immer wieder nachdrücklich hin und beweist es akribisch durch zahlreiche zwingende Beispiele) auf der Basis eines 16 Das Konzept der „Kasus-“ oder Prädikationsrahmen geht u. a. zurück auf die im Rahmen der Dependenzgrammatik des französischen Sprachwissenschaftlers Lucien Tesnière (1959) entwickelte Valenztheorie. Es ist ein spannendes Kapitel europäischamerikanischer Wissenschaftsgeschichte (mit Zügen des Kulturimperialismus), (1) dass sich Fillmore in einer Situation der überwältigenden Dominanz amerikanisch geprägter und vor allem generativistischer Modelle in der modernen Linguistik nie getraut hat, öffentlich die (von ihm in einer frühen Arbeit versteckt zugestandenen) Wurzeln seines Modells im fast nur in Europa relativ erfolgreichen Konzept der Valenztheorie in den Vordergrund zu stellen (oder später überhaupt nur zu erwähnen), und (2) dass der unabweisbare Grundgedanke der Valenztheorie in der amerikanisch geprägten modernen Linguistik und Sprachphilosophie nur im Gewande der logischen Terminologie der „Argumentstrukturen“ umgesetzt wurde, erfolgreich war und heutzutage Allgemeingut ist (in der generativen Linguistik spricht man verschämt von einem „Q-Raster“). – Vieles an dieser Geschichte wechselseitigen Nicht- und Missverstehens quer über den Atlantik beruht wohl auf einfachem Unwissen (bzw. Nicht-Zur-Kenntnis-Nehmen), wie – in unserem Kontext höchst interessant – überdeutlich wird, wenn Fillmore in einer späten Arbeit zugibt, dass eine frühzeitige Kenntnis der modernen Traditionen der europäischen Hermeneutik (und anderer europäischer Konzeptionen, wie z. B. der Soziolinguistik) ihm bei der Ausarbeitung seiner „interpretativen Semantik“ (wie er sein Konzept heute nennt) sehr geholfen hätte. 17 Dasselbe geschieht natürlich auch mit Elementen innerhalb eines Prädikationsrahmens, die ebenfalls elliptisch ausgelassen werden können („Hans hat ein Buch gekauft“, nicht genannt: VERKÄUFER).

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auf dem Gedanken der Wissensrahmen beruhenden Bedeutungs- und Textverstehensmodells in der Tat nicht mehr möglich, trennscharf zwischen „Sprachwissen“ und „Weltwissen“ („enzyklopädischem Wissen“) zu unterscheiden. Sprachliche Zeichen dienen diesem Konzept zufolge nämlich dazu, Wissen zu evozieren (d.h. die Textrezipienten dazu zu motivieren bzw. zu veranlassen, dieses Wissen zu aktivieren), nicht dagegen dazu, Bedeutungen „in sich zu tragen“, zu „transportieren“, „auszudrücken“ usw. Der Gedanke des (in rahmenähnlichen Wissensstrukturen18 organisierten) verstehensrelevanten Wissens stellt jedes Konzept der „Verbalisierung“ radikal in Frage, wie es für normale linguistische Theorien (und übliche Kommunikationsmodelle) typisch ist. Nicht ein vorgegebener Inhalt wird zum Zwecke der Kommunikation (meist missverstanden als Informationsübermittlung) in sprachliche Form gegossen, damit er bei einem Rezipienten der Form wieder entnommen werden kann. Sprachliche Kommunikation beruht nicht, wie meist gedacht, auf dem Prinzip, dass ein zu kommunizierender Inhalt sprachlich explizit gemacht, „ausgedrückt“ wird. Sprachliche Zeichen (und Zeichenketten) haben vielmehr die Funktion, Wissensrahmen zu evozieren,19 die in dem Umfang der in ihnen enthaltenen Wissenselemente bzw. -quanten weit über dasjenige hinausgehen, was üblicherweise noch zum Bereich der sprachlichen „Bedeutung“ (oder dem „Textinhalt“) gerechnet wird (s. o.). Textverstehen und Textinterpretation ist daher ohne die zumindest partielle Explikation dieses verstehensrelevanten Wissens nicht möglich. Nach Fillmore wie Minsky stellt also jeder Wissensrahmen eine standardisierte (prototypikalisch organisierte) Formation von Wissenselementen dar 18 Leider ist hier nicht der Platz und Ort, um ein auf der Basis des Rahmengedankens fußendes linguistisch reflektiertes Modell des verstehensrelevanten Wissens vorzustellen und näher auszuführen. Ein solches Modell muss nach meiner Konzeption auf dem Gedanken der Prädikation (und damit auf Prädikationsstrukturen bzw. Prädikationsrahmen) aufbauen. Ich folge hierin den Grundannahmen der modernen Prädikatenlogik, wie ihnen z. B. auch von Polenz (1985) in seinem Modell der Satzsemantik Rechnung trägt. Nach meiner Auffassung muss sich das gesamte sprachlich ausdrückbare menschliche Wissen in Prädikationsstrukturen überführen lassen. (Prädikationsstrukturen sind sozusagen das „Format“, in dem das sprachlich ausdrückbare menschliche Wissen – und damit auch das jeweils verstehensrelevante Wissen – gespeichert ist.) – Die Einschränkung auf „sprachlich ausdrückbares“ Wissen ist m. E. notwendig, da man nicht so weit gehen sollte, den gesamten Gehalt menschlicher Kognitionsprozesse und Episteme (im weitesten Sinne) als sprachlich-kategorial geprägt zu behaupten. Wie schon Wittgenstein in seiner Argumentation über Schmerzausdrücke gezeigt hat, gibt es Bereiche menschlichen mentalen Geschehens, die sich der sprachlichen Ausdrückbarkeit entziehen. Dies kann m. E. nur daran liegen, dass sie auf so elementarer Ebene der menschlichen Wahrnehmung liegen, dass sie sich der Kategorisierung entziehen (oder zumindest nur sehr schwer zu kategorisieren sind). Damit entziehen sie sich aber auch der Prädizierbarkeit, lassen sich in Prädikationsstrukturen möglicherweise nicht wiedergeben. 19 In der Erhebungsmethodik der Sozialwissenschaften gibt es dazu den treffenden Ausdruck „elizitieren“, den man auch hier verwenden könnte.

Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik

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(verbunden durch Prädikationsstrukturen), die bestimmte feste Elemente enthält und diese mit Anschlussstellen für variable Elemente kombiniert.20 Wissensrahmen sind daher von ihrem Grundaufbau her immer durch Stabilität und Variabilität zugleich gekennzeichnet. Das wechselvolle Verhältnis von Stase und Dynamik, welches für die gesellschaftliche wie individuelle Episteme gleichermaßen charakteristisch ist, ist daher bereits in der Grundstruktur der elementaren Bausteine des Wissens angelegt. Die zentrale Rolle der Wissensrahmen für jede Art von Semantik (und damit auch für die juristische Semantik) liegt nun darin, dass buchstäblich jedes einzelne Wissenselement, das die Bedeutung eines Wortes, Satzes, Textbestandteils ausmacht und für deren Verstehen relevant und unabdingbare Voraussetzung ist, nur durch seine Position in einem Wissensrahmen seine bedeutungskonstitutive Funktion erhält. Zudem bildet auch das kleinste in einem Rahmen positionierte Wissenselement selbst letztlich wieder eine Art Rahmen niedrigerer Organisationsstufe.21 Eine Semantik (eine Bedeutung, einen Begriff, eine Vorstellung) ohne Rahmenstruktur und Einbindung in übergeordnete Rahmen kann es nach dieser Auffassung daher gar nicht geben. Ganz abgesehen davon, dass letztlich jede Begriffstheorie ein Art rudimentärer Vorstufe einer Rahmentheorie darstellt,22 ist diese Tatsache den Semantikern und Lexikologen vor allem deshalb nie aufgefallen, weil ein Großteil des rahmenspezifischen Wissens zum Bereich des als selbstverständlich Vorausgesetzten, Nicht-Thematisierten, häufig genug nicht explizit Bewussten gehört. Einer angemessenen theoretischen Erfassung der rahmenspezifischen Grundstruktur jedes Verstehens und jeder Semantik stand und steht eine als natürlich empfundene Alltags-Auffassung von (sprachlicher) Kommunikation im Wege, wonach Sprache in ihrer Grundfunktion gleichbedeutend sei mit dem expliziten Verbalisieren der gemeinten (und zu kommunizierenden) Inhalte. Man könnte dies die „Explizitheits-Prämisse“ der sog. „relativnatürlichen Weltanschauung“23 nennen, eine Annahme, die versteckt auch den meisten wissenschaftlichen Bedeutungskonzeptionen und Sprachtheorien zugrunde liegt. Diese Prämisse kann einer sprachwissenschaftlichen und verstehenstheoretischen Überprüfung jedoch in keiner Weise Stand halten und erweist sich eindeutig als aporetischer Irrtum.24 Jedes sprachliche Zeichen erhält seine 20 In der üblich gewordenen Terminologie der Kognitionsforschung nennt man dies heute eine „slots-and-fillers-Struktur“. 21 Jedenfalls, wenn man der Gedächtnistheorie von Bartlett 1932 folgt. 22 Dies kann jedenfalls implizit für die hierarchischen Begriffsgebäude des 17./18. Jahrhunderts gelten, wie sie etwa im 19. und 20. Jahrhundert noch in der sog. Begriffsjurisprudenz nachwirken. 23 Letzterer Terminus nach Schütz in Schütz/Luckmann 1975, 248. Vgl. auch Schütz 1971. 24 Vor allem Fillmore liefert in seinen Texten eine Fülle von anschaulichen Beispielen der Rahmen-Abhängigkeit des semantischen (sprachlichen) Wissens bis weit in die Kernbereiche der Grammatik hinein. Vgl. etwa Fillmore 1977b.

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kommunikative Funktion durch die Position, die es in einem vorausgesetzten (im sprachlich geäußerten Satz meistens nur teilweise verbalisierten) Rahmen ausfüllt. „Semantik“ oder „Wortbedeutung“ heißt daher letztlich: Wörter evozieren Wissensrahmen,25 aktualisieren diese im Wissen, im Arbeitsgedächtnis des Verstehenden. Ein weitgehendes Verstehen26 eines sprachlichen Ausdrucks (oder der Rolle eines sprachlichen Ausdrucks, z. B. eines Wortes/Begriffs, in einem Satz, einem Text, einem Diskurs) ist nur dann möglich, wenn es gelingt, die als Bedingungen der Verstehbarkeit fungierenden Wissensrahmen einigermaßen umfassend zu explizieren und damit bewusst zu machen, was häufig genug in der Masse des als selbstverständlich Unterstellten (und damit selten oder nie Thematisierten/Verbalisierten) unterzugehen scheint.27 Die Berücksichtigung des verstehensrelevanten (semantisch relevanten) Wissens in seiner ganzen verstehensermöglichenden Breite und Tiefe (und damit weit über die eng gefassten Grenzen eines lexikalischen Bedeutungsbegriffs der traditionellen linguistischen Semantik hinaus) ist schon bei einer einfachen semantischen Analyse notwendig, entfaltet ihr besonderes Potential aber auch und gerade in einer rechtslinguistischen Analyse. Versteht man Ziel und Methodik der Rechtslinguistik, wie sie als eine die juristische Methodenlehre unterstützende Forschung konzipiert werden könnte, als Beitrag zu einer Analyse systematischer Zusammenhänge von interpretationsrelevantem Wissen, dann kann man das, was durch sie herausgearbeitet wird, gut in einer rahmentheoretischen Struktur darstellen. Das Evokationspotential, das z. B. ein Ausdruck wie „fremd“ in „fremde Sache“ besitzt, reicht weit über die Grenzen eines traditionellen Verständnisses von „Wortbedeutung“ hinaus. Um zunächst mit einem nicht-juristischen Beispiel zu beginnen: Der von einem Ausdruck wie „Konversation“ eröffnete Wissensrahmen (oder genauer: das von diesem Ausdruck eröffnete bzw. evozierte bzw. verstehensrelevante und -notwendige Wissensrahmen-Netz) umfasst mehr als nur „JEMAND1 SPRICHT MIT 2 JEMAND ANDEREM“. Hinzu kommen Rahmen-Elemente wie „ÜBER EINEN BESTIMMTEN GEGENSTAND“, „ZU EINEM BESTIMMTEN ZWECK“, „IN EINEM BESTIMMTEN GESELLSCHAFTLICHEN RAHMEN“, „IN EINEM BESTIMMTEN TYP VON SITUATION“, „IN EINEM BESTIMMTEN REDESTIL“, „MIT BESTIMMTEN ZUGELASSENEN AUSDRUCKS28 JeMITTELN“, „UNTER AUSSCHLUSS VON BESTIMMTEN AUSDRUCKSMITTELN“ usw. 25

So die zentrale Bemerkung von Fillmore 1982. Ob es Sinn macht, von einem „vollständigen“ Verstehen zu sprechen, ist äußerst zweifelhaft. 27 Jedenfalls dem Blick der Linguisten meistens entgangen ist. 28 Die Rahmenanalyse hat bei Fillmore (auch wenn er dies nur eher verschämt und sehr versteckt zu erkennen gibt) ihren Ursprung letztlich ganz klar in satz-syntaktischen Ansätzen europäischer Provenienz. Als Begründer kann Lucien Tesnière (1959) mit seiner Valenzrahmen-Methode der Satzstrukturbeschreibung gelten; er formulierte auch als erster den Gedanken: ,Mit dem Verb als zentralem strukturgebenden Satzbe26

Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik

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der Wissensrahmen enthält zahlreiche Anschlussstellen (in der technischen Terminologie „slots“ genannt), die entweder mit prototypischen oder mit variablen Elementen (meist eingeschränkt durch einen vorgegebenen Variationsspielraum) ausgefüllt werden können bzw. müssen (die sog. „fillers“). Weder muss jede Anschlussstelle im gegebenen Text explizit verbal (durch Wörter oder Satzteile oder Textelemente) besetzt sein, noch muss der Rahmen vollständig sprachlich ausformuliert sein. Es reicht, dass ein einzelnes Wort einen Rahmen im verstehensnotwendigen Wissen der Rezipienten evoziert (bzw. sie dazu veranlasst, den ganzen Rahmen epistemisch zu aktivieren). Die einzelnen Füllungen für Anschlussstellen in einem gegebenen Wissensrahmen können selbst wieder Wissensrahmen sein. Wenn man (wie ich) davon ausgeht, dass jeder Begriff eine Rahmenstruktur darstellt bzw. repräsentiert, dann wird deutlich, dass jeder Prädikationsrahmen selbst schon als ein Netz aus Wissensrahmen verschiedenster Ebenen aufgefasst werden muss. – Epistemische Rahmenstrukturen stellen zudem stets offene Strukturen dar; sie dürfen (im Gegensatz zum enger gefassten syntaktischen Rahmenbegriff) nicht als definit und auf eine feste Zahl von Elementen beschränkt aufgefasst werden. „Wortbedeutungen“ sollten in dieser Sichtweise präziser als „Evokationspotentiale“ beschrieben werden; sie stellen epistemologisch oder gedächtnistheoretisch gesehen „Potentiale für erwartbare Assoziationen“ dar (wäre der Assoziationsbegriff nicht zu Unrecht so verrufen). Das Rahmenkonzept markiert epistemologisch gesehen ein Grundmerkmal des verstehensrelevanten oder „semantischen“ Wissens; damit markiert es auch eine Grundtatsache, an der keine Beschäftigung mit Texten oder Begriffen vorbeigehen kann – auch und gerade keine, die sich mit hoch-speziellen institutionellen Gebrauchsweisen von Sprache beschäftigt, wie die Rechtslinguistik und die juristische Methodenlehre. IV. Linguistische Rahmenanalyse am juristischen Beispiel Nachfolgend sollen Möglichkeiten einer semantischen Rahmenanalyse (frameSemantik) an einem juristischen Beispiel erprobt werden. Die Beispielanalyse erfolgt nach linguistischen Kriterien, und zwar an § 242 StGB. Der Paragraph hat folgenden „Wortlaut“:

standteil erscheint eine ganze Szene vor unserem geistigen Auge‘. Diese Theater-Metapher wird dann bei Tesnière in seiner Terminologie für die Satzglieder („actants“) noch weiter ausgebeutet. – Für die Satzsemantik hat Peter von Polenz (1985) auf der Basis eines Prädikationsrahmen-Ansatzes am Beispiel „politische Flucht ins Exil“ sehr anschaulich gezeigt, dass der für das Satzverstehen notwendige Prädikationsrahmen weit über die engen Grenzen einer traditionell-syntaktischen Satzglied-Analyse hinausgehen muss und weitere Rahmenelemente erfordert, die durch Interpretation oder einfach unser weltwissengestütztes Verstehen zu den Satzgliedern „hinzugefügt“ werden müssen.

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Dietrich Busse „§ 242. Diebstahl. (1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar.“

Satzsemantisch besteht der Normtext aus fünf Prädikationen, welche folgende bekannte Bezugsrahmen ausdrücken: Jemand nimmt jemand anderem etwas weg; Jemand hat das Recht, etwas zu tun; Jemand eignet sich etwas zu; All dies ist (rechtlich) X; Wer X tut, wird mit etwas bestraft. Diese Haupt-Prädikationen haben folgende Bezugsstellen: P1: P2: P3: P4:

„wegnehmen (wer B1, einem anderen B2, eine fremde bewegliche Sache B3)“ „Absicht haben (wer B1, PA3)“ „rechtswidrig zueignen (wer B1, sichB4=B1, dieselbe B3)“ „ist gleich/gilt als (PA1 – PA3, ,Diebstahl‘)

P5: „bestrafen (Gericht/Staat B5, wer B1 (PA1 – PA3) begeht, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe B6)“

Die fünf Prädikationen sind im Satzrahmen von § 242 I durch eine einzige Satzkonstruktion verknüpft; der wesentliche auslegungsrelevante Inhalt ist syntaktisch als Nebensatzgefüge zur Bezugsstelle Wer formuliert. Satzsemantisch liegt aber eine Konjunktion („indem“-Relation) zwischen zwei eigenständigen Prädikationen P1 und P2 vor, wobei in P2 eine weitere Prädikation P3 als Bezugsstelle eingebettet ist. Der eigentliche Sprechaktgehalt (Festsetzungsdefinition) wird syntaktisch lediglich als Zusatz zu P5 formuliert. Die juristische Textexplikation geht im wesentlichen entlang der im Normtext ausgedrückten Inhaltsmomente vor; d.h. es wird jeder einzelne Gesetzesterminus auf seine juristische „Bedeutung“ und seine Anwendbarkeit auf konkrete Fallbeispiele geprüft. Juristisch wird die Inhaltsstruktur in zwei Hauptteile unterschieden: die „objektiven Tatbestandsmerkmale“, d.h. die „Tathandlung“ in der im Gesetzestext wörtlich ausgedrückten näheren Bestimmung (P1, d.h. Wegnahme, Sache, beweglich, fremd), und die „subjektiven Tatbestandsmerkmale“, d.h. die als Voraussetzung der Strafbarkeit im Normtext genannten Aspekte der „Handlungsabsicht“ des vermutlichen Täters (Absicht, Zueignung, rechtswidrig). Insoweit sind alle für die juristische Auslegung relevanten Merkmale der Strafbestimmung auch im Gesetzeswortlaut erwähnt, bis auf das „subjektive Merkmal“ des „Vorsatzes“, welches als allgemeine Bedingung für die Strafbarkeit (§ 15 im „Allgemeinen Teil“ des StGB) Voraussetzung der Anwendung und Exegese jeglicher Strafbestimmung ist und von den Juristen bei der Lektüre des Gesetzestextes schon vorausgesetzt wird. Was „Vorsatz“ heißt, wird im StGB (§ 15) nicht genau erläutert; hier kommt also ein Inhaltsmoment zum Zuge, welches „inferiert“ werden muß, d.h. von den Juristen durch ihr Wissen von dem grundsätzlichen „Aufbau“ jeglicher Straftat beigesteuert wird. Eine vollständige Rahmenanalyse, die sämtliche explizite oder implizite Prädikationen nach ihrer Rahmen-Struktur, d.h. unter Aufführen sämtlicher Be-

Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik

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zugsstellen und eingebetteter Prädikationen, auflistet, ist sehr viel komplexer als dieser erste Zugang. Insgesamt ergeben sich mindestens 27 miteinander verflochtene Teil-Prädikationsrahmen, wenn man die juristische Bedeutung dieses Paragraphen erfassen will. Sie sind nachfolgend in einer nicht-formalisierten Notationsweise aufgeführt. Benutzt wird dabei in Anlehnung an die Darstellung von Funktionen in der Prädikatenlogik ein Darstellungsformat, in dem das Prädikat (wie in der Logik Funktionen) vor die (geschweifte) Klammer gezogen ist, und in der Klammer die Argumentstellen (satzsemantisch gesprochen: die Bezugsstellen) aufgelistet sind, beginnend mit dem AGENS (syntaktisch/satzsemantisch: Subjekt-Argument), also z. B.: f {x, y, z}; zu lesen als: „die Funktion (das Prädikat) f operiert über den Argumenten (bezieht sich auf die Bezugsstellen) x, y, z“. Da „Funktion“ hier durch „Prädikat“ zu ersetzen ist, lautet die rahmensemantische Notationsweise: P {x, y, z}. Zur besseren Unterscheidung und Übersichtlichkeit werden Prädikate in Kapitälchen und Bezugsstellen (Argumente) kursiv notiert. Also wird zum Beispiel der Satz: Angeklagter MaierX hat der Schulze-GmbHY eine Rolex-UhrZ weggenommenp. notiert in der Form: HAT WEGGENOMMENP {Maier X, der Schulze-GmbHY, eine Rolex-UhrZ}

Da in der Bezugsstelle eines Prädikats selbst wieder Prädikate vorkommen können, und ein komplexer semantischer Rahmen eines Satzes/Textes in der Regel ohnehin mehrere Prädikate enthält, werden die Prädikate durchnummeriert. Eingebettete Prädikate innerhalb eines anderen Prädikationsrahmens werden als solche gekennzeichnet. Also zum Beispiel für den Satz: MaierX hat vergessenP1, der Schulze-GmbHY das Geld Z zu gebenP2: HAT VERGESSENP1 {Maier X,

GEBEN

P2

{Maier X, Schulze-GmbHY, das Geld Z}}

Um in einer komplexen Rahmenbeschreibung aus mehreren Teil-Rahmen die Bezüge deutlicher zu machen, können auch die Bezugsstellen innerhalb einer Beschreibung durchnummeriert werden (in der nachfolgenden Darstellung in eckige Klammern gesetzt). Zusätzlich werden die Prädikate mit Indizes versehen, die den Prädikatstyp spezifizieren, und die Bezugsstellen (Argumente) mit Indizes, die den Argument-Typ spezifizieren. Obwohl die Klassifizierung und Typologie von Prädikats- und Argumenttypen nicht unproblematisch ist (tendiert sie doch zum Versuch, alle Weltverhältnisse mit einem einheitlichen Schema klassifizieren zu wollen), kann auf sie im Rahmen einer semantischen Analyse nicht verzichtet werden.29 29 Die Notwendigkeit der semantischen Differenzierung und Klassifizierung von Argument-Typen (sog. semantischen Rollen oder Kasusrollen) war geradezu einer der Hauptantriebe dafür, dass seit den sechziger Jahren der Linguist Charles Fillmore zunächst seine Kasus-Grammatik, und daraus dann später seine frame-Semantik entwickelt hat. Heute sind aus der Linguistik die semantischen Rollen nicht mehr wegzu-

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Dietrich Busse

Benutzt sind in der nachfolgenden Rahmenanalyse folgende (als Indizes eingesetzte) Kategorien: (a) Prädikats-Typen: HDLG. IDENT MOTIV QUAL REL ZUST

= = = = = =

HANDLUNGS-PRÄDIKAT IDENTITÄTS-PRÄDIKAT = spezialisierter Unter-Typ eines EIGENSCHAFTS-PR.S MOTIVATION = EPISTEMISCHES PRÄDIKAT EIGENSCHAFTS-PRÄDIKAT mit Bezug auf e. Sache, Person, Handlung usw. RELATIONS PRÄDIKAT ZUSTANDS-PRÄDIKAT mit Bezug auf eine Sache, Person usw.

(b) Argument-Typen: AG = AGENT /AUSFÜHRENDER AOB = AFFIZIERTES OBJEKT (von einer Handlung berührtes Objekt) BEN = BENEFAKTIV = jemand (Person, Institution) der einen Vorteil von einer Handlung hat PAT = PATIENS (jemand, der von einer Handlung betroffen ist)

Neben Prädikationen und Bezugsstellen (Argumenten) sind in einer Rahmenanalyse als weitere Elemente die Verknüpfer für Prädikationen (in der Syntax: Konjunktionen wie und, oder, weil, obwohl usw.) notwendig. In unserem Zusammenhang treten nur die UND-Verknüpfungen auf. Prädikations-Verknüpfungen sind logisch/satzsemantisch gesehen selbst Prädikate und werden daher auch wie Prädikate markiert (in Kapitälchen) und auf derselben Ebene notiert wie Prädikate. In einer semantisch/epistemologischen Analyse wie der nachfolgenden werden für die einzelnen Rahmen Etikettierungen (FRAME-Namen) eingesetzt, die den semantischen Kern des Rahmens charakterisieren und zusammenfassen. Die Darstellung der bei der Anwendung von § 242 StGB relevanten Wissensrahmen folgt in ihren juristischen Inhalten der nach herrschender Meinung skizzierten üblichen Auslegung dieses Paragraphen, wie sie in den großen Strafrechts-Kommentaren enthalten ist. Basis der Darstellung ist eine ausführliche linguistische (semantische und textanalytische) Inhaltsbestimmung und Analyse von § 242 StGB in einer früheren Monographie des Verfassers.30 Nicht-Juristen müssten gegebenenfalls für ein vollständiges Verständnis der juristisch-fachlichen Details der Auslegung dieses Paragraphen (und damit der nachfolgenden Rahmenanalyse) dort nachlesen.

denken. Vgl. zu einem sinnvollen Typisierungs-Vorschlag für Prädikatstypen und Argumentrollen von Polenz 1985, 170 ff. 30 Busse 1992, Kap. 4, S. 119–187. Aus diesem Grund sind auch die benutzten und im Literaturverzeichnis genannten Ausgaben der zitierten Kommentartexte auf dem damaligen Stand.

Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik

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Struktur der für die fachlich-rechtssprachliche Verwendung von „Diebstahl“ geltenden Wissensrahmen Zentraler definierender Rechtstext: § 242. Diebstahl. [StGB] (1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Zentrale Rahmen (1)

DIEBSTAHL-Rahmen: WEGNEHMEN

HDLG-1

{WegnehmenderAG [1], Person/Institution der weggenommen wird PAT WeggenommenesAOB [3]}

UND1 (Prädikations-Rahmen-Verknüpfung) (2)

ABSICHT1-Rahmen: MOT

BEABSICHTIGEN

{[1], zueignenHdlg-2 {[1], [3]}}

UND2 (Prädikations-Rahmen-Verknüpfung) (3)

WISSEN1-Rahmen: WISSEN

{IST-RELATION-1QUAL {Hdlg-2, rechtswidrig1}}

UND3 (Prädikations-Rahmen-Verknüpfung) (4)

ABSICHT2-Rahmen: MOT

BEABSICHTIGEN

{IST-RELATION-1QUAL {Hdlg-2, rechtswidrig1}}

Realweltliche Szenen: {Wegnehmender[1] nimmt Sache[3] weg}

Eingebettete Rahmen (5)

WEGGENOMMENES-Rahmen: QUAL

IST-RELATION-2

(6)

SACHE-Rahmen: IST-RELATION-3

(7)

{[3], Sache [4], in rechtlicher Hinsicht1}

QUAL

{[3], fremd [5], beweglich[6]}

QUAL

{[3], [5], für [1], gegenüber [2], in rechtlicher Hinsicht2}

FREMD-Rahmen: IST-RELATION-4

[2]

,

50 (8)

Dietrich Busse BEWEGLICH-Rahmen: IST-RELATION-5

(9)

QUAL

{[3], [6], in rechtlicher Hinsicht 3}

ZUEIGNUNG-Rahmen: HDLG-2

ZUEIGNEN

(10) RECHTSWIDRIGKEIT1 IST-RELATION-6

{Ausführender der ZueignungAG(= [1]), Empfänger der ZueignungBEN, ZugeeignetesAOB(= [3]), Rechtswidrigkeit der ZueignungQUAL, Verhältnis Ausführender-Empfänger der ZueignungREL, rechtliche Hinsicht 4 des Verhältnisses A.–E.QUAL} DER

QUAL

ZUEIGNUNG-Rahmen:

{objektiv rechtswidrig,

HDLG-2

ZUEIGNEN

}

(Dieser Rahmen kann rechtlich gesehen noch differenziert werden in: (10a) RECHTSWIDRIGKEIT BEZÜGLICH DES AUSFüHRENDEN DER ZUEIGNUNG; (10b) RECHTSWIDRIGKEIT BEZÜGLICH DES EMPFÄNGERS DER ZUEIGNUNG; (10c) RECHTSWIDRIGKEIT BEZÜGLICH DES OBJEKTS DER ZUEIGNUNG) (11) VERHÄLTNIS AUSFÜHRENDER-EMPFÄNGER DER ZUEIGNUNGREL-Rahmen: IST-RELATION-7

(12)

IDENT.

HINSICHT4 DES VERHÄLTNISSES AUSFÜHRENDER-EMPFÄNGER ZUEIGNUNGQUAL-Rahmen:

RECHTLICHE DER

IST IMMER GEGEBEN

(13)

{Ausführender der ZueignungAG(= [1]), Empfänger der ZueignungBEN, in rechtlicher HinsichtQUAL 4}

RECHTLICHE

HINSICHT3

QUAL

{IST-RELATION-7IDENT. {Ausführender der ZueignungAG(= [1]), Empfänger der ZueignungBEN}}

DER

FOLGT RECHTLICHER

BEWEGLICHKEIT DER SACHEQUAL-Rahmen:

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-4QUAL {[3], [6]}}

(Dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die kasuistische obergerichtliche Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen, wie z. B. „GAS IST EINE BEWEGLICHE SACHE“) (14)

RECHTLICHE

HINSICHT1

DER

SACHEIGENSCHAFT DES WEGGENOMMENENQUAL-

Rahmen: FOLGT RECHTLICHER

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-2QUAL {[3], [4]}}

(Auch dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die kasuistische obergerichtliche Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen, wie z. B. „GAS IST EINE SACHE“, „ELEKTRIZITÄT IST KEINE SACHE“ usw.) (15)

RECHTLICHE

HINSICHT2

IST-RELATION-8

QUAL

DER

FREMDHEIT DES WEGGENOMMENENQUAL-Rahmen

{nicht {{IM EIGENTUMQual {[3], von [1], in rechtlicher Hinsicht 4}}

UND {IM ALLEINIGEN EIGENTUMQual {[3], von [1], in rechtlicher Hinsicht 4’}}}

Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik (16)

51

HINSICHT4

DER EIGENTUMS-EIGENSCHAFT DES WEGGENOMMENEN BEZÜGLICH DES WEGNEHMENDEN Qual-Rahmen: RECHTLICHE

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-8QUAL {nicht {IM EIGENTUMQual {[3], von [1]}}}

FOLGT RECHTLICHER

(Auch dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die aus dem komplexen Eigentumsrecht des BGB folgende Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen, wie z. B. „DER ALLEINIGE EIGENTÜMER EINER EIN-MANN-GMBH IST NICHT EIGENTÜMER AM EIGENTUM DER GMBH“ usw.) (17)

HINSICHT4’

DER ALLEIN-EIGENTUMS-EIGENSCHAFT DES WEGGENOMMENEN BEZÜGLICH DES WEGNEHMENDENQual-Rahmen: RECHTLICHE

FOLGT RECHTLICHER

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-8QUAL {nicht {IM ALLEINIGEN EIGENTUMQual {[3], von [1]}}}

(Auch dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die aus dem komplexen Eigentumsrecht des BGB folgende Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen, wie z. B. „DER MIT-EIGENTÜMER EINER SACHE IST NICHT DER ALLEINIGE EIGENTÜMER DER SACHE.“) (18) EIGENTUM-Rahmen [[mit weiteren stark verzweigenden Unter-Rahmen]] (Hier interveniert das gesamte Eigentumsrecht des BGB in die Bedeutung des Diebstahl-Paragraphen. Gerade solche hochkomplexe Rahmen-Vernetzungen zeigen, wie die juristische „Bedeutung“ eines Gesetzesparagraphen die normalen linguistischen und sprachphilosophischen Auffassungen von „Bedeutung“ sprengt.) (19) RECHTLICHE DEFINITION VON WEGNEHMENHDLG-1-Rahmen: IST-RELATION-9

IDENT.

{WEGNEHMENHDLG-1, Bruch fremden Gewahrsams}

UND4 (Prädikations-Rahmen-Verknüpfung) IST-RELATION-10

IDENT.

{WEGNEHMENHDLG-1, Begründung neuen Gewahrsams}

(20) GEWAHRSAMS-Rahmen: IST-RELATION-11

IDENT.

{GEWAHRSAM, tatsächliche Sachherrschaft}

(21) SACHHERRSCHAFT-Rahmen: BEHERRSCHEN

(22)

RECHTLICHE

ZUST

HINSICHT5

{Beherrscher der Sache(= [2’]), beherrschte SacheAOB (= [3’]), in rechtlicher Hinsicht5} DER

FOLGT RECHTLICHER

SACHHERRSCHAFTQUAL-Rahmen:

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-12QUAL {[2’], [3’]}}

(Auch dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die kasuistische obergerichtliche Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen, wie z. B. „DER EIGENTÜMER EINER WOHNUNG HAT ÜBER DIE IN DER WOHNUNG BEFINDLICHEN SACHEN DIE TATSÄCHLICHE SACHHERRSCHAFT, AUCH WENN ER IN URLAUB IST“ usw.)

52

Dietrich Busse

(23) TATSÄCHLICHKEIT DER SACHHERRSCHAFTQUAL-Rahmen: FOLGT RECHTLICHER

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-13QUAL {tatsächlichQual, Sachherrschaft Zust}}

(Auch dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die obergerichtliche Definitions- und Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen, wie z. B. ENGE RÄUMLICHE BEZIEHUNG DES BEHERRSCHERS DER SACHE ZUR BEHERRSCHTEN SACHE) (24) BRUCH DES GEWAHRSAMSHDLG-Rahmen: IST-RELATION-13

(25)

RECHTLICHE

IDENT.

HINSICHT6

{BRUCH DES GEWAHRSAMS HDLG, in rechtlicher Hinsicht 6}

DES

FOLGT RECHTLICHER

WEGNEHMEN

HDLG-1

,

GEWAHRSAMSBRUCHSQUAL-Rahmen:

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-13IDENT {BRUCH DES HDLG , WEGNEHMEN HDLG-1}}

GEWAHRSAMS

(Auch dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die kasuistische obergerichtliche Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen) (26) BEGRÜNDUNG

DES

GEWAHRSAMSHDLG-Rahmen

IST-RELATION-14

(27)

RECHTLICHE

IDENT.

HINSICHT6

{BEGRÜNDUNG NEUEN GEWAHRSAMS HDLG, HDLG-1 WEGNEHMEN , in rechtlicher Hinsicht 6}

DER

FOLGT RECHTLICHER

GEWAHRSAMSBEGRÜNDUNGQUAL-Rahmen:

DEFINITIONQUAL {IST-RELATION-14IDENT {BEGRÜNDUNG DES GEWAHRSAMS HDLG, WEGNEHMEN HDLG-1}}

(Auch dies ist ein rechts-typischer Rahmen mit offener Leerstelle [rechtliche Definition] in die kasuistische obergerichtliche Zuordnungs-Entscheidungen eingefügt werden müssen, wie z. B. EINBRINGEN EINER SACHE IN DIE EIGENE KÖRPERLICHE SPHÄRE)

Weitere fachlich-rechtliche Unter-Rahmen können bei den einzelnen Elementen des Ober-Rahmens (oder den Elementen der Unter-Rahmen) hinzukommen. Eine rahmen-semantische Beschreibung ist nicht im objektivistischen Sinne definitiv abschließbar. Die Begrenzung der darzustellenden Rahmen wie auch die Differenziertheit der rahmenanalytischen Darstellung (sozusagen: der Auflösungsgrad der Analyse) erfolgt nach forschungs-pragmatischen Kriterien.

V. Fazit Die hier vorgestellte Analyse-Form ist zunächst vorrangig für Zwecke der sprachwissenschaftlichen Forschung entwickelt worden. Mit ihr wird das Ziel verfolgt, am Beispiel eines komplexen Rechtsbegriffs („Diebstahl“), dessen Auslegung häufig von den alltagsweltlichen Vorstellungen darüber, welche realen Handlungen als „Diebstahl“ klassifiziert werden könnten, mehr oder weniger stark abweicht, das verstehensrelevante Wissen für diesen Begriff genauer

Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik

53

zu spezifizieren und übersichtlich darzustellen. Gedacht ist etwa an eine Gegenüberstellung mit alltagssprachlichen Semantisierungen von Lexemen (Wörtern) wie „Diebstahl“, „stehlen“ usw., die geeignet sein kann, die erheblichen Differenzen zwischen rechtssprachlich-fachlicher und alltagssprachlich-laienhafter Bedeutung von Lexemen, die beiden Sprachgebrauchs-Domänen zugleich angehören, anschaulich und transparent zu machen. Zugleich soll ein Beitrag zur Weiterentwicklung einer linguistischen Semantik geleistet werden, die das gesamte verstehensrelevante Wissen in Bezug auf Wörter, Sätze und Texte zu ihrem Gegenstand macht und nicht an den engen Grenzen üblicher WörterbuchArtikel (und linguistischer Wortbedeutungs-Theorien) halt macht. Ob und welchen Erkenntnis-Gewinn die juristische Methoden- und „Auslegungs“-Lehre daraus ziehen kann, vermag ich nicht zu überschauen. Den in der Rechtstheorie nach meinem Eindruck auch heute noch gerne rezipierten und propagierten logisch-semantischen Merkmalanalysen ist eine solche Form der epistemischsemantischen Analyse aus linguistischer Sicht jedenfalls deutlich überlegen.

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Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik

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Das Problem der Rechtsquelle medientheoretisch präzisiert Von Ralph Christensen und Hans Kudlich Ein Bild, so belehrt uns der Volksmund, sagt mehr als tausend Worte: „Wenn wir nun fragen, inwieweit Recht aus vorgefundener Sprache entstehe, treffen wir auf den schönen Begriff der ,Rechtsquelle‘. Die Quelle ist der Ort, aus dem das im Berg schon vorhandene Wasser sprudelt, an dem das bisher nicht Greifbare mit Händen aufgenommen und getrunken werden kann. Diese Quelle, die das Lebensmittel Wasser spendet, sucht der Mensch zu fassen, in eine Form zu bringen, die kein Wasser verloren gehen lässt, seine Klarheit und Sauberkeit sichert, dem Menschen beim Schöpfen des Wassers den Zugang erleichtert, vor allem aber das Versiegen der Quelle verhindert. Denn Wasser – das Recht – wird also an der Quelle nicht geschaffen, sondern sichtbar gemacht.“1

Metaphern spielen in der Wissenschaft oft eine zentrale Rolle, die man nicht bemerkt. Ihre Analyse ist nützlich, weil solche grundlegenden Bilder Perspektiven eröffnen oder versperren. Die Rechtsquelle ist eine dieser Metaphern. Die Logik des Bildes setzt das Recht mit dem Wasser gleich. Wenn man nur die Quelle und den dahinter liegenden Berg betrachtet, ist das Entscheiden freilich ein beschaulicher Vorgang. Man muss nur sauber aufnehmen, was ohnehin vorgegeben ist. So wie das schon im Berg fließende Wasser geschöpft werden kann, ist die Rechtsprechung nur die Abbildung eines in der Sprache des Gesetzes vorgegebenen Bedeutungsgegenstands. Wenn man dagegen den reißenden Strom der Argumentation betrachtet, auf dem der Richter versucht, das trunkene Schiff des Verfahrens zu steuern, hat Entscheiden als verzweifelte Improvisation mit der Quelle so gut wie nichts zu tun. Beide Lesarten verkürzen die Logik des Bildes. Natürlich entsteht, wie Kirchhoff hervorhebt, das Wasser nicht in der Quelle. Aber es entsteht auch nicht im Berg. Es bildet vielmehr einen Kreislauf und ist damit nicht Substanz, sondern Prozess. Diese Logik muss man für die im Rechtssytem erzeugte Normativität nutzen. Normativität ist keine Substanz, die in der Sprache vorgegeben ist und abgebaut werden kann wie Bodenschätze in der Erde. Sie ist vielmehr ein praktischer Prozess als ein sich selbst stabilisierendes System. In der Logik dieses Bildes wäre der Normtext der Ausgangspunkt, welcher über den 1 P. Kirchhof, Dankesrede für den Jacob-Grimm-Preis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.2005, S. 43.

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Ralph Christensen und Hans Kudlich

Strom der Argumente im Verfahren seine Bedeutung erhält und dann als mitgebrachte Verwendungsweisen auf weitere künftige Verfahren einwirkt. I. Das Abbilden der Rechtsquelle in der Entscheidung Herkömmlich fasst man den Bezug zur Rechtsquelle als Gegenstandserkenntnis. Damit wird die Praxis auf den „Spiegel der Natur“ reduziert. Beobachtung ist dann abbildender Reflex. Die Arbeit des Juristen wird damit als eine Beobachtung erster Ordnung von Recht bestimmt. Die Beobachtung soll sich auf „das Gesetz“ beziehen, um Recht als eine in ihm enthaltene Bedeutung „sichtbar“ zu machen. Eine solche Modellierung als ein passives Wahrnehmungsorgan hält jedoch der Realität einer äußerst aktiven Rolle der Gerichte bei der Schaffung des Rechts nicht stand. Die Literatur reagiert darauf mit dem bekannten Reflex einer Kritik der richterlichen Rechtsfortbildung.2 Auslegen wird von der Literatur dabei als Erkennen des normativen Gehalts von geschriebenen Rechtsvorschriften verstanden.3 „Practical interpretation may define as an activity designed to clarify the text of a written manifestation of law and to recognize its sense with a view to its application to the realities of daily life and practice.“4 Dies soll jedoch keinerlei Rechtschöpfung im Sinne einer irgendwie gearteten gesetzgeberischen Aktivität sein. Vielmehr lässt sich der Jurist hier lediglich von jenen Rechtsprinzipien leiten, nach denen der Normtext geschaffen wurde, auf deren Linie daher sein vorgeblicher Rechtsgehalt liegt und die damit vorzeichnen, was sozusagen „eigentlich“ hätte im Text stehen können. Die Rechtsprinzipien springen somit als Gegenstand der Erkenntnis dort in die Bresche, wo die Bedeutung des Normtextes eine „Lücke“ aufweist und sich einer so umstandslosen Erkenntnis von Recht versagt. „Eine Lücke ist eine Unterbrechung in einem Text oder in einer Serie, eine leere Stelle in einem Ganzen, also das, was fehlt, um den Text zu vervollständigen. Der Lückenbegriff dient in der juristischen Methodenlehre dazu, die Befugnis oder sogar Verpflichtung des Richters zu umschreiben, auch dann eine Rechtsfrage zu beantworten, wenn das anwendbare Normensystem keine ausdrückliche Regelung enthält.“5 2 Vgl. etwa F. Schoch, Individualrechtsschutz im deutschen Umweltrecht unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1999, S. 457 ff., 459 m.w. N. 3 Vgl. L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Band I: Das institutionelle Recht, 1977, S. 808, sowie R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, insbesondere in der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte, in: ZaöRV 49 (1963), S. 1 ff., 17; J. Blank, Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 des EWG-Vertrages, 1991, S. 89. 4 M. Bos, Theory and practice of treaty interpretation, in: NILR 27 (1980), S. 3 ff., 15. Weiter auch G. G. Peruzzo, Das Problem der implied powers der Organe der Europäischen Gemeinschaften, 1979, S. 39.

Das Problem der Rechtsquelle medientheoretisch präzisiert

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Am Grundverhältnis einer Erkenntnis ändert sich für die herkömmliche Ansicht dadurch nichts. Sie verlagert lediglich ihren Gegenstandsbezug: „Unter dem Begriff der Auslegung in seinem allgemeinsten Sinne kann verstanden werden, etwas Unklarem eine klare Bedeutung zu geben, d.h. seinen Sinn klarzustellen, seine Tragweite zu bestimmen und Grenzen und Auswirkungen herauszustellen. Bildlich ausgedrückt soll durch die Auslegung der in dem Gesetzestext beschlossene, aber noch gleichsam verhüllte Sinn ,zur Sprache gebracht‘ werden. In diesem Sinne ist das Produkt der Auslegung im Objekt von vornherein enthalten, muss jedoch noch methodisch herausgearbeitet werden. Kennzeichnend für die Auslegung ist demnach nicht, dass dem Normtext etwas hinzugefügt wird, sondern dass ihr Ziel auf die maßgeblich relevanten Sinngehalte gerichtet ist.“6

Demnach richtet sich also die „Rechtserkenntnis“ nicht etwa auf das Textexemplar, auf die Zeichenkette, die als Ausdruck von Recht in Geltung gesetzt ist und die durch die Argumentation im Verfahren mit Bedeutung zu versehen ist. Vielmehr soll sich die Erkenntnis schon auf eine solche Bedeutung, auf das vorgeblich im Text enthaltene Recht richten. Die Bedeutung als Recht wird also schlicht erkannt und nicht etwa als dem Text im Wege der Argumentation vom Juristen zugeschrieben und damit aktuell erst wieder erzeugt. Dies führt dann zu einer Definitionen der Rechtsarbeit, nach der der „Gegenstand der Auslegung (. . .) der Gesetzestext als Träger dieses normativen Sinnes (ist). Der Gesetzestext selbst ist nicht mit dem normativen Sinn gleichzusetzen, sondern dieser liegt sozusagen ,hinter‘ dem Text als das von den Zeichen und Zeichenverbindungen, die den Wortlaut bilden, Bezeichnete.“7 Die Rede vom „Bezeichneten“ ist hier verräterisch. Sie zeigt, dass sich diese Position schon selbst hintergangen hat. Mit der Bezeichnung ist Beobachtung bereits als Unterscheidung vollzogen. Das System in Gestalt des Juristen als Beobachter hat den Text bereits als Recht ausdifferenziert. Wenn dies als „Auslegen“ wiederum unterschieden werden soll, dann kann es sich dabei nurmehr um die Beobachtung einer Beobachtung von Recht handeln. Der Text wird dabei als Gegenstand gesetzt und seine Beobachtung als Spiegelung gefasst. Diese Verkleidung immunisiert zwar gegen Kritik. Aber sie verfehlt die Praxis und kann die dort eingehaltenen Bindungen nicht sichtbar machen. Auslegen ist Beobachtung zweiter Ordnung dort, wo sie als eine der ersten Ordnung ausgegeben werden soll.

5 J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt am Main 1997, S. 52. 6 C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 29, unter ausdrücklichem Bezug auf den Ansatz bei K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 3. Aufl., Berlin u. a. 1995. Zum Problem im Engeren auch ders., Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, in: Neue Juristische Wochenschrift 1965, S. 1 ff. 7 J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt am Main 1997, S. 26.

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Ralph Christensen und Hans Kudlich

II. Die Beobachtung der Beobachtung im Recht 1. Beobachtung als Selbstreflexion

Beheimatet ist die Unterscheidung zwischen Beobachter erster und zweiter Ordnung in Systemtheorie und Konstruktivismus.8 Wenn wir uns in der Welt bewegen, so setzen wir uns nicht nur unmittelbar zu dieser ins Verhältnis. Vielmehr gehen wir dabei immer auch ein reflexives Verhältnis zu uns selbst ein, indem wir uns gewärtig sind, was wir dabei tun und wie wir es tun. Dies begreifen Systemtheorie und Konstruktivismus als „Beobachtung“. Beobachten heißt für sie, in Relation stehen. Ist es eine zur Welt, so handelt es sich um eine Beobachtung erster Ordnung. Steht der Beobachter dagegen zu dieser Beobachtung wiederum in Beziehung, und das heißt zu sich selbst, dann handelt es sich um eine Beobachtung zweiter Ordnung. Die Rede von der „Beobachtung“ könnte allerdings einem zweifachen Missverständnis ausgesetzt sein. Erstens könnte man sie als ein Verhältnis der reinen Wahrnehmung, eines Spiegels des Beobachteten aufzufassen. Zweitens könnte man dieses Verhältnis als ein rein passives betrachten. Wollte man so das Konzept von der Beobachtung auf das Recht übertragen, so würde man damit genau wieder dem verfehlten Modell einer Erkenntnis des Rechts aus dem Gesetz oder Urteil verfallen. Recht geriete zu etwas, das vorhanden sei und für eine Beobachtung dann „sichtbar“ würde. Der Jurist wäre nach dieser durch das alltagsweltliche Verständnis fehlgeleiteten Sicht nur der Spiegel eines im Normtext enthaltenen Rechts. So verhält es sich aber im Recht gerade nicht. Und auch das Verhältnis der Beobachtung gleich welcher Ordnung, so wie es die Systemtheorie und der Konstruktivismus sehen, meint keineswegs einen passiven Reflex. Vielmehr schaffen wir durch die Beobachtung unsere Welt und in der zweiter Ordnung dann natürlich ganz entsprechend auch uns selbst als denjenigen, die in dieser Welt sind. Traditionell könnte man schlicht sagen, wir machen so in jeder Hinsicht Sinn.9

8 Siehe zur Systemtheorie N. Luhmann, Soziologische Aufklärung. Opladen 1990; ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997. Luhmann schließt mit dem Konzept des Beobachters an an G. Spencer Brown, Gesetze der Form, Lübeck 1997. Zum Konstruktivismus H. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982; sowie die Arbeiten in: H. R. Maturana/F. J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig/Wiesbaden 1987. Weiter auch S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt/M. 1994; E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt/M. 1997. Zum Ursprung des Konzepts auch in der Kybernetik H. von Foerster, Observing Systems, Seaside 1981; ders., Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig/Wiesbaden 1985. 9 Dazu N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 46 ff.

Das Problem der Rechtsquelle medientheoretisch präzisiert

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2. Beobachtung als Unterscheidung und Ausgrenzung

Beobachten ist Unterscheiden. Durch die Beobachtung zieht das System, das sich ins Verhältnis zum Beobachteten setzt, Demarkationen ein. Diese Ausgrenzung des Objekts bzw. zum Objekt wird in seiner Bezeichnung festgemacht und so im wahrsten Sinne des Wortes greifbar. Beobachten ist Unterscheiden, um zu bezeichnen. Dadurch wird die Umwelt für das System in Objekte ausdifferenziert, bei denen es sich wiederum um andere Systeme handeln kann, zu denen es sich so abgrenzt. Unterscheidungen ergeben sich aber nie einfach. Unterscheidungen müssen getroffen werden. Und das heißt nichts anderes, als dass Beobachtungen Operationen eines Systems sind. Maßnahmen des Systems, sich die Umwelt auszubuchstabieren und so zugleich sich zur Umwelt abzusetzen. Beobachtung ist die Operation des Unterscheidens, um zu bezeichnen. Dabei sollte das „Bezeichnen“ nicht allzu eng semiotisch als reine Designation verstanden werden.10 Vielmehr geht es lediglich darum, dass das System die von ihm durch die Beobachtung gesetzte Differenz in sich selbst hineinnehmen und markieren muss, damit sie ihm verfügbar ist. Beobachtet somit das System Recht die ihm mit dem Fall entgegentretende soziale Welt, so trifft es beispielsweise in einer Ausgrenzung des Normbereichs die ihm nötigen Unterscheidungen und hält diese signifikant in der Markierung als rechtsrelevant fest. Es nimmt auf dem Wege der Differenzierung über deren „Bezeichnung“ die beobachtete Umwelt in sich hinein. Beobachten heißt unterscheiden, um etwas als genau dieses und nichts anderes zu bezeichnen. Was in diesem Verhältnis nun gerade nicht „sichtbar“ wird, nicht signifikant in Erscheinung tritt, das ist die Beobachtung. Denn die besteht genau in diesem Verhältnis und in nichts anderem. Eine Unterscheidung unterscheidet sich nicht zugleich als eine solche. Sie unterscheidet, Punktum. Die Operation operiert nicht zugleich über sich. Sie operiert, Punktum. Und die Bezeichnung bezeichnet nicht zugleich sich. Sie bezeichnet etwas, allenfalls noch für jemanden. Dies nicht zu sehen, führt genau in die klassischen „alteuropäischen“ Paradoxon wie etwa in das des verlogenen Kreters.11 Was also bei der Beobachtung „verschwindet“, in ihr gewissermaßen aufgeht, das ist der Beobachter. Er ist der „blinde Fleck“ der Beobachtung genau so wie, um doch noch einmal die leitende Grundmetapher zu bemühen, sich das Auge nicht beim Sehen sieht, sondern schlicht wahrnimmt.12 Der Beobachter „besteht“ also in 10 Eingehender zu Systemtheorie und Sprache M. Hafen, Systemtheorie als Sprachtheorie, unter: www.fen.ch/texte/mh_sprache.pdf. 11 Vgl. M. Füllsack, Oszillieren zwischen erster und zweiter Ordnung als Abschlussgedanke. Oder: Luhmann beobachtet wie Habermas sich (über ihn) verständigt (1998), unter: http://mailbox.univie.ac.at/~fuellsm9/oszil.html. 12 Diese Figurierung des „Gesichtsfeldes“ im Übrigen schon bei L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Werkausgabe Band 1, Frankfurt/M. 1984, 5.632 ff. Und wenn er dazu vermerkt, dass „das Subjekt

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Ralph Christensen und Hans Kudlich

nichts anderem als im Vollzug der Beobachtung. Das mag im Übrigen die positivistische Illusion eines sich aus dem Text ergebenden Rechts etwas erklärlicher machen. Der Jurist belässt es hier einfach mit seinem Aufgehen im Akt des Beobachtens und etikettiert diese Blindheit dann als „Rechtserkenntnis“. 3. Beobachtung des Beobachters im Recht

Im Grunde genommen hat der Jurist aber die Blindheit schon hintergangen, auf die es ihm als gestandenem Positivisten ankommt, um sein Wirken zu verbergen. Denn damit ist bereits der Übergang zur Beobachtung zweiter Ordnung vollzogen. Diese nämlich beobachtet, was der Beobachtung erster Ordnung entgehen muss: den Beobachter. Wenn gesagt wurde, dass „Gegenstand“, Ziel der Beobachtung alles sein kann, sofern nur unterschieden wird, dann kann dies eben auch der Beobachter sein. „Von sich aus“ kann sich nichts der Beobachtung verwehren, weil es ohne Beobachtung ein solches „es“ gar nicht gibt. Also ist auch die Operation des Unterscheidens der Beobachtung zugänglich.13 Wohlgemerkt: In ihrem Vollzug bemerkt sie selbst sich nicht. Es bedarf dazu wiederum der Beobachtung und das heißt, dem Vollzug einer Unterscheidung, nun der in der Beobachtung erster Ordnung vorgenommenen Differenzierungen, um diese zu bezeichnen. Der Positivist beobachtet also gar nicht „Recht“, wenn er von einer Rechtserkenntnis redet. Er beobachtet seine Beobachtung als „Erkenntnis“. Er beobachtet also genau sich als den Juristen, den er durch die Apostrophierung seiner Arbeit als „Rechtserkenntnis“ vergessen machen wollte. Was der Beobachter zweiter Ordnung also generell beobachtet, das ist jene Unterscheidung, die sich die Beobachtung erster Ordnung setzt. Er beobachtet, wie beobachtet wird. Der Beobachter zweiter Ordnung von Recht also beobachtet die Unterscheidungen, die die Beobachtung von Recht ausmachen und dieses damit als Differenz ins Werk setzen. Damit geht nun aber keine Metaaufstufung im herkömmlichen Sinne einher. Die Beobachtung zweiter Ordnung wendet sich reflexiv zurück an die Beobachtung erster Ordnung. Dabei, und das ist die entscheidende Pointe, schafft sie wiederum jene Unterscheidung erst als eine solche, in der die Bezeichnung einer Differenz durch die Beobachtung erster Ordnung beruht. Sie schafft etwa eine Unterscheidung Recht/Unrecht dort, wo der Jurist das ihm aufgetragene Problem in einer Reihe von Differenzen als Rechtsfall geschaffen (. . .) nicht zur Welt (gehört), sondern (. . .) eine Grenze der Welt (ist)“, dann bedeutet er damit schon den guten Sinn des konservativ so viel beklagten ,Tod des Menschen‘ in der modernen Systemtheorie, aber auch der Postmoderne. Siehe dann auch B. Pörksen, Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen, in: Telepolis. Magazin der Netzkultur, unter: http://www.heise.de/tp/deutsch special/robo/6240/l.html. 13 Natürlich handelt es sich dabei, wie Luhmann selbst sagt, um einen „extrem formalen Begriff des Beobachtens“. N. Luhmann, Soziologische Aufklärung. Opladen 1990, S. 73.

Das Problem der Rechtsquelle medientheoretisch präzisiert

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hat. Und wenn man sich gewärtig hält, dass Beobachten heißt zu operieren, dann ist man hier mit der Beobachtung zweiter Ordnung eben genau da, wo eine avancierte Rechtstheorie die „Quelle“ von Recht sieht: Bei der Bezeichnung, beim Prozessieren jener Unterscheidungen, in denen Recht als Beobachter auf den Plan tritt. Für den Beobachter zweiter Ordnung gilt dabei dasselbe wie für den erster Ordnung. Er unterscheidet sich in der Beobachtung des Beobachtens, aber vermag sich dabei nicht zu sehen. Auch er ist blind für sich selbst. Und auch er kann nur unter dieser Voraussetzung seine Unterscheidungen ins Werk setzen. Was ins Rampenlicht der Beobachtung gesetzt werden soll, vermag sich nur gegen das umgebende Dunkel abzusetzen. 4. Beobachtung dritter Ordnung?

Die Frage, die dadurch natürlich provoziert wird, ist die nach einem Beobachter, der dies beobachtet, nach dem der dritten Ordnung. Und sie ist als eine Frage nach einem Beobachter zugleich auch schon wieder müßig. Denn alles, was dieser leisten kann, ist, eine Unterscheidung zu bezeichnen um den Preis, dies nur tun zu können, indem die Beobachtung für sich selbst blind bleibt. Daher löst sich jene Selbstbeobachtung der Beobachtung, die zunächst nach einem infiniten Regress aussieht, in ein sich fortsetzendes Prozessieren von Beobachtung auf. Indem fortgesetzt beobachtet wird, entzieht sich die Beobachtung und macht in Gestalt der Unterscheidung, die sie setzt, eine weitere Beobachtung nicht nur nötig, sondern auch möglich. Die Beobachtung der Beobachtung verfängt sich daher nicht zirkulär und stuft nicht hierarchisch auf. Sie iteriert Beobachten und schiebt dabei eine letzte Beobachtung des Beobachtens selbst auf. Juristen ist dies durchaus geläufig. Denn nichts anderes ist das Problem der Gerechtigkeit. Sie ist der von der Beobachtung von Recht immer nur wieder aufschiebbare eigene Grund.14 Ein Gericht wie der EuGH „sieht“ das im Übrigen, wenn etwa das in der Rechtssache „Humblet“15 juristisch argumentativ begründete Ergebnis an der Gerechtigkeit nur noch bestätigt wird: „Zu den vorstehend dargelegten Gesichtspunkten tritt noch ein weiterer entscheidender Grund hinzu, nämlich der Umstand, dass die vollständige Befreiung von nationalen Steuern unerlässlich ist, um die Gleichheit der Gehälter im Verhältnis zwischen Beamten verschiedener Nationalität zu gewährleisten. Es wäre in höchstem Maße ungerecht, wenn zwei Beamte, für die das Gemeinschaftsorgan dasselbe Bruttogehalt festgesetzt hat, unterschiedliche Nettogehälter bezögen.“16 Ansons-

14 Dazu R. Christensen/M. Sokolowski, Die Krise der Kommunikation und die Möglichkeit juristischen Argumentierens, i.Vorb. 15 EuGH Slg. 1960, S. 1163 ff. (Humblet/Belgischen Staat). 16 EuGH Slg. 1960, S. 1163 ff., 1196 f. (Humblet/Belgischen Staat).

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ten ist das Gerechtigkeits- oder Billigkeitsargument17 beim EuGH ein Anreiz für weitere Argumentation. Wenn der Aspekt der Gerechtigkeit das bisher erarbeitete Ergebnis nicht bestätigt, dann bedarf es eben zusätzlicher Argumente. „Die Gerechtigkeit“ wird aber nicht selbst zum entscheidenden Argument. „Gerechtigkeit“ als das Rechtliche an Recht lässt sich also nur „herstellen“, indem man wiederum in der Beobachtung von Recht Recht schafft. Jede Beobachtung der Verfertigung von Recht kann selbst wieder nur Recht als diese Beobachtung verfertigen. 5. Beobachtung und Autopoiesis

Damit wird ganz allgemein ein letzter, hier am Begriff der Beobachtung hervorzuhebender Zug sichtbar. Beobachtung schafft das von ihr Beobachtete durch die Operation des Beobachtens. Die Beobachtung der ersten Ordnung schafft durch die Unterscheidung, die sie setzt, die Welt, in die diese Unterscheidung eingezogen wird. Diejenige der zweiten Ordnung schafft durch die Bezeichnung dieser Operation der Unterscheidung den Beobachter, der sie in die Welt einzieht. Damit ist nichts anderes als das von der Systemtheorie apostrophierte Grundmoment der Autopoiesis bezeichnet. Und hier trifft sich der Begriff der Beobachtung zugleich auch mit dem Konstruktivismus. Beobachten heißt nicht auf eine Realität Bezug zu nehmen. Weder auf eine der „Außenwelt“, noch auf eine der „Innenwelt“ eines beobachtenden Subjekts. Vielmehr ist „der Beobachter (. . .) eine per Unterscheiden errechnete, Unterscheidungen verwendende, rekursiv geschlossene Wirklichkeitserrechnungsmaschine, die sich selbst die Vorstellung der Unterscheidbarkeit von Beobachter und Beobachtetem (z. B. Welt oder Gesellschaft) erzeugt. Er muss so tun, als ob er zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterscheiden könne, aber diese Unterscheidung bleibt selbstverständlich ein ausschließlich internes Konstrukt. Aller Beobachtung liegt diese Unterscheidung zu Grunde. Er (der Beobachter) ist ,nur‘ imstande, via Beobachtung eine Wirklichkeit zu erzeugen, deren Tauglichkeit (ehemals: Wahrheit, Richtigkeit, Kongruenz, Korrespondenz, Kohärenz etc.) er wiederum nicht an der Realität messen kann.“18

17 Vgl. als weitere Nachweise dieses Arguments EuGH Slg. 1964, S. 937 ff., 986 (Colotd/EuGH); EuGH Slg. 1969, S. 1 ff., 15 (Wilhelm/Bundeskartellamt); EuGH Slg. 1972, S. 1281 ff., 1290 (Boehringer/Kommission); EuGH Slg. 1978, S. 169 ff., 179 (Lührs/Hauptzollamt Hamburg-Jonas); EuGH Slg. 1976, S. 153 ff., 159 (Süddeutsche Zucker/Hauptzollamt Mannheim); EuGH Slg. 1982, S. 749 ff., 763 (Alpha Steel/Kommission). 18 Th. M. Bardmann, Zirkularität als Standpunkt. Ein Essay zu Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, in: Soziologische Revue 17, 1994, S. 298 ff., 301. Der recht technische Jargon erklärt sich daraus, dass Bardmann sich hier auf die Kybernetik von Foersters bezieht. Siehe H. von Foerster, Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: P. Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben?, München/Zürich 1985, S. 37 ff.; sowie ders.,

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Durch die Beobachtung als Konstruktion des Beobachteten werden jene Wirklichkeitsentwürfe formuliert, die sich dann im diskursiven Austausch zu einer dem kommunizierenden System eigenen Realität verdichten oder aber einem Wandel unterworfen sind.19 Wichtig dabei ist, dass damit keine Aussagen mehr über Existenzen gemacht werden. Diese sind obsolet. Alles, was es „gibt“, ist dank Beobachtung gegeben. Und alle „Erkenntnis“ des sich so gebenden heißt Beobachten. Wenn man also unbedingt von solcher „Erkenntnis“ reden möchte, dann kann dies nur die Konstruktion durch Beobachtung meinen. Das betrifft eine „Erkenntnis von Recht“ ebenso wie jede andere „Erkenntnis“ der Welt und der seiner selbst. Auch dies weiß der Jurist im Grunde genommen. Durch seine Arbeit am Text als Beobachtung von Recht schafft er dieses, indem er dem Text solche Bedeutung zuschreibt. Zugleich schafft er sich als einen Beobachter von Recht, indem er mit der Begründungsleistung für seine Rechtserzeugung diese als eine gelungen legitime darstellt und so als Recht bezeichenbar macht.

III. Das Fortbilden der Rechtsquelle im Verfahren 1. Normtext und Verfahren als Rechtsquellen

Eine Abbildung der Rechtsquelle in der Entscheidung ist nicht möglich. Jeder Praktiker wird sofort bestätigen, dass die Erkenntnis des Rechts aus dem Text des Gesetzes nicht funktioniert. Dazu braucht man ein ganzes Verfahren und eine große Menge weiterer Texte. Häufig wird daraus abgeleitet, im Recht sei eben alles beliebig. Die Entscheidungsdeterminanten lägen im Charakter des Richters, seiner sozialen Herkunft oder seiner politischen Einstellung. Diese Theorie ist noch viel oberflächlicher als der klassische Gesetzespositivismus, den sie kritisieren will. Denn es bleibt bei der Determination durch eine Ebene der Eigentlichkeit hinter dem tatsächlichen Geschehen, und die praktischen Vorgänge bedürfen keiner Beobachtung mehr. An die Stelle dieser Trivialitäten muss man eine Analyse der Praxis setzen. Entscheidungen sind eben nicht beliebig. Wer jemals eine Begründung zu einem Urteil geschrieben hat, weiß, dass eine riesige Anzahl von Anschlusszwängen abgearbeitet werden muss. Das sind die im Verfahren vorgebrachten Argumente, meist eine große Anzahl von Vorentscheidungen, die Kommentare, Gutachten und dies alles muss noch auf das Gesetz bezogen werden. Statt von einem Extrem der Determination ins andere Extrem der Beliebigkeit zu fallen, muss man diese Anschlusszwänge strukturie-

Über das Konstruieren von Wirklichkeiten, in: ders., Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt/M. 1993, S. 25 ff. 19 Dazu S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, Frankfurt/M. 1994; sowie die Beiträge in: ders. (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987.

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ren. Normativität verschwindet dann als Substanz, wird aber sichtbar als Prozess. Die Semantik von Rechtstexten ist im Verfahren umstritten. Der Bezug auf Präjudizien stabilisiert diese Semantik, indem er auf schon anerkannte Folgerungen verweist. Das Kriterium für die Anerkennungswürdigkeit von Rechtsmeinungen kann nur in der Stimmigkeit mit dem liegen, was schon anerkannt ist. Weder die dem Gesetz zuzumessende Autorität noch die dem Präjudiz zuerkannte Verbindlichkeit ändern dabei etwas an der Begründungslast, die von den entscheidenden Juristen auf sich zu nehmen ist. Alles, was er tun kann, ist lesen, hören, sprechen, schreiben, unterschreiben. Er handelt sprachlich. Und er hat es mit Text zu tun und nichts als Text, mit Fallerzählungen, Parteianträgen ebenso wie mit Vorschriften und Regelungen, mit Einlassungen und Kommentaren ebenso wie mit Vorentscheidungen und vor allem auch mit jenen Texten, die er schließlich selbst produziert, mit der Entscheidung, dem Tenor und den Urteilsgründen. 2. Normtext und Transkription

Wie muss man aber den Begriff der Rechtsquelle präzisieren, damit Argumentation und Vernetzung mit anderen Entscheidungen als integraler Teil einer horizontal gefassten Gesetzesbindung gedacht werden können? Weil es sich beim Recht um eine Medienkonstellation aus geschriebener Sprache des Gesetzes, gesprochener Sprache im Verfahren und geschriebener Sprache in der Begründung handelt, ist es nötig, den Begriff der Rechtsanwendung medientheoretisch fortzuentwickeln. Die Metapher der Rechtsquelle taucht im Kontext der richterlichen Gesetzesbindung auf. Herkömmlich soll sie den Gegenstand dieser Bindung darstellen und ist mit dieser Rolle natürlich überfordert. Um ihre tatsächliche Bedeutung als Lieferant für die Legitimität der Gerichtsentscheidung zu bestimmen, muss man ihre Rolle im Verfahren untersuchen. Ein Normtext wird zur Quelle durch die Herstellung, Aufrechterhaltung und richterliche Sanktionierung des Bezugs darauf. Die Rechtsquelle wird aber nicht erkannt, sondern vielmehr in Verfahren ständig diskutiert. Was das heißt, macht eine medientheoretische Präzisierung im Begriff der Beobachtung deutlich: Beobachten vollzieht sich als beständiger Übergang. Dieser Übergang wird aufgenommen vom Begriff der Transkription.20 Das lateinische transcribere steht für Abschreiben oder Umschreiben. Zwischen Abschrift und Umschrift ist der Spielraum des Ereignisses zu erkennen und damit das mögliche Moment der Transgression. Dieses Bedeu20 Dazu G. Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff.; L. Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: ebd., 19 ff.

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tungspotential ist auch im Recht nützlich, denn der Sinn der Rechtsquelle wird auf dem Weg vom Gesetzbuch ins Verfahren zur Begründung langsam aber beständig umgeschrieben. Vor seiner medientheoretischen Generalisierung wurde der Begriff der Transkription schon in anderen Wissenschaften verwendet und entwickelt, etwa in der Soziologie, wo man damit das Übertragen eines qualitativen Interviews in eine quantitative und auswertbare Form bezeichnet, und in der Musikwissenschaft, in der man neben der Umschreibung von einer Notenschrift in die andere auch die Übertragung eines klingenden Werkes in eine Notenschrift als Transkription begreift.21 Grundlegende Bedeutung hat der Begriff aber vor allem in der Linguistik gewonnen: Während in der Phonetik damit die Übertragung einer Schreibung oder eines Phonems in eine andere als die ursprüngliche bzw. der jeweiligen Sprache entsprechenden Schrift bezeichnet wird, steht Transkription in der Konversationsanalyse für das Übertragen von gesprochener Sprache, Gesprächen oder auch Gebärden in eine schriftlich fixierte Form. Die deutschsprachige Gesprächsanalyse hat für diesen „Transfer von Mündlichkeit in Schriftlichkeit zu Zwecken empirischer Sprachanalyse“22 das Verfahren der „halbinterpretativen Arbeitstranskription“ (HIAT) entwickelt.23 Bei diesem Verfahren zur Verschriftlichung mündlicher Dialoge wird Sinn aus nicht-wissenschaftlichen Kontexten zu wissenschaftlichen Zwecken umgeschrieben, wobei aber der Bezug zum Ausgangsmaterial trotz Verschiebung erhalten bleiben soll.24 3. Transkription als produktive Reformulierung des Textes

Die Idee der Transkriptivität wird in der Medientheorie gegenüber der linguistischen Gesprächsanalyse generalisiert: Transkriptionen sollen nicht einfache Umsetzung in der Form sein, sondern produktiv den Text reformulieren. Dabei 21 S. Krämer, Was haben ,Performativität‘ und ,Medialität‘ miteinander zu tun?, in: dies. (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 9 ff., 25. Dazu hier G. Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff.; Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: ebd, 19 ff. Als Quelle zu Folgendem http:// de.wikipedia.org/wiki/Transkription, samt Weiterverweisen. 22 A. Redder, Professionelles Transkribieren, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 115 ff., 115. 23 Siehe K. Ehlich/J. Rehbein, Halbinterpretative Arbeitstranskription (HIAT), in: Linguistische Berichte 45 (1976), 21 ff. Dazu A. Redder, Professionelles Transkribieren, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 115 ff., 129 ff. 24 Zu diesen Momenten des wissenschaftlichen Transkriptionsbegriffes A. Redder, Professionelles Transkribieren, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 115 ff., 115.

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ist aber die Transkription als die Inszenierung von Sinn nicht vollkommen autonom; vielmehr wird sie an dem Anspruch gemessen, gerade diesen Ausgangspunkt zu artikulieren. Vorderhand scheint es sich beim Transkribieren erst einmal um eine Angelegenheit zwischen Medien zu handeln, um einen Transfer von Medium zu Medium. Möglich ist dies dadurch, „dass Medien vor allem andere Medien enthalten“.25 Dadurch verweist ein Medium aus sich heraus. Das Transkribieren vermag diesen Verweis aufzunehmen und zu vollziehen. Die Transkriptionsprozesse haben dabei den Charakter einer Transponierung26 oder einer Übersetzung.27 Wenn man mit Davidson davon ausgeht, dass „Übersetzen“ bereits in der eigenen Sprache beginnt, so wird deutlich, dass Transkribieren auch schon ein inframedialer Vorgang ist.28 Transkribieren ist also eine Transformation, die den Ausdruck als Verkörperung von Sinn in Szene setzt und so auf diesen rückbezogen bleibt, ohne von ihm vollkommen festgelegt zu sein. Dies ist genau die Spannung zwischen der Bedeutsamkeit eines Normtextes dank seiner Geltung und seiner Bedeutung an Recht, die er im Urteil als Ergebnis des Verfahrens findet. Bedeutungserschließung ist daher auf transkriptive Verfahren angewiesen, die es erlauben, „Projektionen aus dem Modus der Unbestimmtheit beziehungsweise Unlesbarkeit in den der Lesbarkeit zu versetzen.“29 Dieser Vorgang wird durch die Reflexivität von Sprache ermöglicht. Im Aspekt der Wahrnehmung wird durch die Transkription der Text als Ausdruck buchstäblich vorgestellt. Text ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen, „der auch Bilder, Stimmen, Architektur usw. als Gegenstände von Lektüre zu konzipieren gestattet.“30 Zu einem Ausdruck werden solche „Gegenstände“ dabei überhaupt erst durch die Annahme einer Lesbarkeit,31 nicht durch irgendeine Eigenleistung, die bloß aufzunehmen wäre. Es ist der Verdacht von Sinn, der das Objekt damit zu einer

25 C. Liebrand/I. Schneider, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 9 ff., 9. 26 So werden bei der Gesprächsanalyse lautliche und gestische Artikulationen des Sprechers in eine Partitur von Graphemen übersetzt, wie etwa bei dem erwähnten Verfahren der halbinterpretativen Arbeitstranskription. 27 Dazu ausführlich M. Wetzel, Unter Sprache – Unter Kulturen. Walter Benjamins „Interlinearversion“ des Übersetzens als Inframedialität, in: C. Liebrand/. Schneider (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 154 ff. 28 Dazu L. Jäger, Transkriptionen: inframedial, in: C. Liebrand/I. Schneider (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 123 ff.; sowie ausführlich S. Weber, Transkribieren und „Einsprachigkeit“, in: ebd., Medien in Medien. Köln 2002, 129 ff. 29 C. Liebrand/I. Schneider, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Medien in Medien Köln 2002, 9 ff., 10. 30 G. Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff.; 8. 31 Sonst werden sie als Unsinn abgetan. Vgl. dazu O. Jahraus, Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie, Wien 2001, 113.

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der Gestaltung sich öffnenden Verkörperung macht. Diese Gestaltung vollstreckt die Transkription in Skripten als den „durch das Verfahren lesbar gemachten, das heißt transkribierten Ausschnitte(n) des zugrundeliegenden symbolischen Systems“.32 So stellt die narrative Darstellung eines geschichtlichen Ereignisses als Transkript der in den Quellen dokumentierten, aber erst durch die Transkription narrativ selegierten und verbundenen Sachverhalte keine Abbildung dieser Sachverhalte dar, sondern konstituiert sie als historisches Ereignis. Die Aussage, dass sich die Geschichte erst im transzendentalen Rahmen des Wissens von ihr konstituiert,33 expliziert deshalb nichts anderes als die transkriptive Logik der Geschichtsschreibung: Erst aus der Perspektive der darstellenden Transkriptionen der Quellen erhalten diese einen Status als Skript und damit eine Semantik. Die Quellen werden durch ihre narrativen Transkriptionen konstituiert und in einer bestimmten Hinsicht lesbar gemacht. Die Transkription überschreibt den Text in einen geäußerten Sinn oder Gehalt. Sofern dieser als „geäußert“ erzeugt wird, wird der Text auch schon wieder vernehmlich. Er steht wiederum als Ausdruck vor dem Sinn, dessen Vollzug somit jene Differenz aufreißt, die Generationen von Sprachtheoretikern Kopfzerbrechen bereitete: der Bestimmung des Verhältnisses von Signifikant zu Signifikat.34 Als Moment von Transkription betrachtet, wird die Sache an den ihr zustehenden Ort praktischer Verantwortlichkeit überwiesen. „Transkripte sind also nicht nur keine Abbildungen von Skripten, sondern diese sind ihrerseits auch nicht einfach Derivationen des Transkriptionsverfahrens. Tatsächlich kann man die Relation von Transkript und Skript nach dem ZeichenMuster der Relation von Signifikant und Signifié verstehen: Beide lassen sich erst ex post actu – nach dem Verfahren der Transkription – als konstituierte Momente eines synthetischen Ganzen verstehen. Die Transkription konstituiert ein Skript und macht es lesbar, versetzt dieses jedoch zugleich in einen Status, aus dem sich Angemessenheitskriterien für den Lektürevorschlag ableiten lassen, den das Transkript unterbreitet.“35

32 L. Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 19 ff., 19 ff., 30. 33 So M. Riedel, Positivismuskritik und Historismus. Über den Ursprung des Gegensatzes von Erklären und Verstehen im 19. Jahrhundert, in: J. Blühdorn/J. Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert. Beiträge zu seiner geschichtlichen und systematischen Bedeutung. Frankfurt am Main 1971, im Anschluss an J. G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen 1857. Herausgegeben von P. Leyh. Stuttgart 1977, 218, 236. 34 Zur ausführlichen Kritik siehe L. Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 19 ff. 35 Ebd., 19 ff., 33 f.

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Ralph Christensen und Hans Kudlich 4. Die Etablierung als Rechtsquelle

Wenn der Normtext durch den Leser vom Status einer Zeichenkette in Bedeutung überführt wird, entsteht ein Skript. Die Argumentation um die Vertretbarkeit von Lesarten eröffnet dann den Raum von Postskripten. Der Streit der Lesarten etabliert dabei das Skript als Rechtsquelle, wenn sich beide Parteien auf denselben Normtext beziehen. Da aber jede Partei den Bezug der anderen bestreitet, ist der Inhalt der Quelle noch nicht definiert. Die Quelle gibt nicht den Ausschlag, weil sie ein Maß für die streitigen Lesarten enthielte, sondern allein, weil sie gleichermaßen in den Transkriptionen als Skript enthalten ist. Die „Tatsachen“ liegen nicht als solche vor, sie sprechen nicht, „sondern wir lassen sie sprechen“. Dies geschieht im Rahmen einer Transkription, die dem Ausgangsmaterial den Status eines Skripts zuweist, so wie eine historische Überlieferung „erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandelt“ wird.36 Dieser Vorgang geschieht allerdings nicht auf beliebige Art und Weise. „Weil es Postskripte gibt, die den Rekurs auf die Differenz von Skript und Transkript leisten, gilt vielmehr umgekehrt: ,Die Quellen haben ein Vetorecht.‘“37 Gerade dieser Aspekt ist für die Logik von Transkriptionsprozessen von konstitutiver Bedeutung: sie eröffnen einen Prozess des rekursiven Bezugs, in dem Transkripte auf ihr Recht, ihre Korrektheit, auf andere Möglichkeiten hin zu befragen sind. Zwischen Trans- und Postskript erweist sich die Kontingenz des Skripts.38 Transkription stellt also „ein grundlegendes Verfahren des Lesbarmachens kultureller Semantik dar, wobei die intramediale reflexive Doppeltheit der Sprache bzw. die intermediale Dualität der ins Spiel gebrachten symbolischen Systeme oder Teilsysteme von entscheidender Bedeutung ist.“39 Sinn ist nur in Transkripten zu haben und verdankt sich allein der Performanz von Verständigungsprozessen. So wie in der Geschichtswissenschaft Quellen erst in der Narration konstituiert und anerkannt werden, so werden auch in der juristischen Argumentation des Verfahrens die von den Parteien herangezogenen Rechtsquellen erst durch 36 J. G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen 1857. Herausgegeben von P. Leyh. Stuttgart 1977, 218, 236. 37 So G. Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff., 10, im Anschluss an R. Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 176 ff., 204 ff. 38 G. Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff., 10. 39 L. Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: L. Jäger/G. Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 19 ff., 35.

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die anschließende Diskussion und die Affirmation des Gerichts anerkannt. Wenn aber die Quelle der Argumentation nicht übergeordnet, sondern eingeordnet ist, dann muss man das Modell vertikale Erkenntnis durch eine horizontale Vernetzung ersetzen. 5. Stabilität des Gesetzes durch ein Netzwerk von Argumenten

Abstrakter formuliert: „Juristisch ist damit eine Neubewertung der Kasuistik angesagt. Es gilt der Vorrang der partikularen Fallerfahrung und des Einzelfallgesetzes vor dem vorschnell generalisierenden Zugriff des allgemeinen Gesetzes. Doch müsste dies von einer entschiedenen Politisierung des Fallrechts begleitet sein, die nicht bloß den individuellen Interessenausgleich im Einzelfallkonflikt anstrebt, sondern sich explizit als Experiment an gesellschaftlichen Institutionen versteht. Wenn dies nicht nur eine leere Formel zur Wiederbelebung des stillen Zivilrechts sein sollte, dann müsste sich dies auch in prozeduralen Änderungen des Rechts niederschlagen, in Änderungen, die von der Kollektivierung der Klagebefugnis über öffentliche Beteiligungs- und Anhörungsrechte, über anspruchsvollere Beweisverfahren (. . .) bis hin zu einem lernenden nachträglichen Umgang mit rechtskräftigen Urteilen“

reichen.40 An die Stelle einer schon im Gesetz vorhandenen Einheit tritt hier ein Stolpern des Rechts von Fall zu Fall. Der Zusammenhang im blinden Experimentalismus wird nur durch die Argumentation verbürgt als wechselseitige Beobachtung der Knoten im Netz. Jeder Spruchkörper im Zentrum des Rechts ist verpflichtet, die Entscheidungen anderer Gerichte zu beachten. Das heißt, er muss ihnen nicht folgen, aber er kann nur mit einem neuen Argument abweichen. Die traditionelle Auffassung geht von einem vertikalen und epistemischen Holismus aus. Danach ist das Ganze des Rechts einer Erkenntnis zugänglich und von dort aus muss das jeweilige Einzelproblem gelöst werden. Da diese voraussetzungsvolle Erkenntnis eine lange Initiation und ein spezielles Training voraussetzt, gibt es keinen Spielraum für die Argumentation der Laien und Einsichten der Nachbarwissenschaften. Einen Rechtssatz zu verstehen heißt danach, eine Hierarchie von Rechtsquellen aus der Sinnmitte der Gerechtigkeit heraus zu erkennen. Eine neuere pragmatische Auffassung geht von einem horizontalen und praktischen Holismus aus. Danach ist das Ganze des Rechts gerade keiner Erkenntnis zugänglich, sondern funktioniert nur als Horizont einer praktischen Aus-

40 Hierzu: A. Fischer-Lescano/G. Teubner, Prozedurale Rechtstheorie: Rudolf Wiethölter, in: S. Buckel/R. Christensen/A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S. 79 ff., 91 f.

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einandersetzung. In diesem Modell ist man auf Argumente der Verfahrensbeteiligten und Horizonterschließung durch Nachbarwissenschaften angewiesen. Einen Rechtssatz verstehen heißt danach, ihn mit vielen anderen zu vernetzen und in einem Verfahren darüber zu streiten.

Rechtsfindung im Spannungsverhältnis von sprachlicher Vagheit und Präzision Der Sprachhandlungsansatz der juristischen Textarbeit Von Ekkehard Felder

I. Einleitung In den folgenden Ausführungen möchte ich in Anlehnung an das rechtstheoretische Paradigma der Strukturierenden Rechtslehre von Friedrich Müller verdeutlichen, dass bei der Beschreibung juristischen Arbeitens, der sog. Rechtsarbeit (Friedrich Müller),1 die Arbeit mit einem Textgeflecht aus verschiedenen Textsorten2 das zentrale Charakteristikum der Tätigkeit eines Juristen darstellt und dass das verstehende Nachvollziehen juristischer Tätigkeit nicht verengt werden darf auf die Auseinandersetzung mit einzelnen Gesetzestexten. Darüber hinaus soll herausgearbeitet werden, wie ein juristischer Funktionsträger sich den zu verhandelnden Sachverhalt auf der Grundlage seines juristischen Wissensrahmens selbst herstellt (und nicht nur ermittelt, wie es in den Entscheidungstexten heißt) und wie dabei Gesetzestexte mit ihrem Anweisungs- und Handlungspotential zwar den Ausgangspunkt juristischen Handelns darstellen, aber in ihrer Bedeutung für die Rechtsfindung zu relativieren sind im Vergleich zu anderen Texten der juristischen Binnenkommunikation (wie z. B. Gesetzeskommentaren, der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur oder der höchstrichterlichen Rechtsprechung). Der Fokus der Erörterung richtet sich auf das Medium rechtlich-institutionellen Handelns, nämlich auf die Sprache mit ihrem Vagheitsund Präzisionspotential. Aus diesem Grunde wird die Darstellung juristischen Sprachhandelns programmatisch als „juristische Textarbeit“ bezeichnet.3 Bei diesem Erklärungsmodell wird die Rolle des juristisch handelnden Subjekts bei der Normkonkretisierung betont und untersucht, wie es den sog. Fall in Verbindung bringt mit Gesetzestexten, um daraus eine Norm zu bilden, die anschließend eine EntMüller (21994) und auch Müller/Christensen/Sokolowski (1997). Vgl. Busse (2000) und zu „Fachtextsorten in Institutionensprachen“ Hoffmann (1998). 3 Vgl. den gleichlautenden Titel der Untersuchung von Felder (2003) in Anlehnung an die Ausführungen von Müller (92004), der von „Rechtsarbeit“ spricht. 1 2

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scheidungsgrundlage, also eine Entscheidungsnorm darstellt (Prozess der Normkonkretisierung). Norm ist – so die Grundthese – also nicht eine ante casum im Gesetzestext fest gegebene Größe, sondern sie wird – abhängig von dem verhandelten Lebenssachverhalt und dem ausgewählten Gesetzestext – erst vom juristischen Funktionsträger gebildet und konkretisiert. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht daher die Frage, wie der in Gesetzesbüchern kodifizierte Normtext und die zu ihm in Bezug gesetzte soziale Situation oder Wirklichkeit in der Rechtsnorm (die eben mehr ist als der Normtext) verbunden werden. Diese Frage ist nur auf der Ebene eines Geflechts von juristischen Texten zu beantworten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen erstens „Textsorten mit normativer Kraft“ (also mit Normkonkretisierungs- und Normanweisungspotential) wie z. B. Verfassungs- und Gesetzestexten, zweitens „Textsorten der Normtext-Auslegung“ wie z. B. Gesetzeskommentaren, rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit richterlichen Entscheidungen in der Fachliteratur, Leitsätzen von Obergerichten und drittens „Textsorten der Rechtsprechung“ (Normkonkretisierung), also Gerichtsurteilen, Beschlüssen.4 Demnach kommt den Gesetzestexten zwar zentrale Bedeutung zu, sie enthalten aber nicht schon selbst die Norm im Sinne einer Aufbewahrungs-Metapher, sondern Gesetzestexte werden im Rechtsdiskurs durch Anwendung und Auslegung weiter verarbeitet. Sie enthalten lediglich ein nur teilweise expliziertes Anweisungspotential mit komplexen Implikationen, Vorannahmen (Präsuppositionen) und mit vielfältigen Diskurs-Erfahrungen der Gesetzestextverwendung in Bezug auf prototypische Lebenssachverhalte. Die in diesem Textgeflecht relevanten Einzeltexte und ihre intertextuellen Beziehungen sind bisher kaum unter dem Gesichtspunkt analysiert worden, inwiefern sie ein Fundament darstellen, auf dem der Übergang von implizitem juristischem Wissen zu explizitem juristischem Wissen modelliert werden könnte. Dies erstaunt umso mehr, als bei diesem Normkonkretisierungsprozess spezifische Wissensagglomerationen aktiviert werden, die aufgrund ihrer Einbettung in ein intertextuelles Gefüge Sachverhalte je spezifisch konstituieren. Die linguistische Beschäftigung kann verdeutlichen, wie sich juristische und alltagsweltliche „Verarbeitungsweisen“ aufgrund unterschiedlicher Wissensrahmen in verschiedenen „sozialen Tatsachen“5 oder „Wirklichkeiten“ niederschlagen bzw. fachsprachlich und gemeinsprachlich zu unterschiedlichen Sachverhaltskonstitutionen führen können. Der vorliegende Beitrag will zeigen, dass juristische Tätigkeit als textgestützte Integration eines Sachverhalts in Schemata der juristischen Wirklichkeitsverarbeitung aufgefasst werden kann. Rechtsanwendung besteht zu einem 4 Vgl. dazu die Monographie „Theorie des richterlichen Begründens“ von Christensen/Kudlich (2001). Vgl. auch Jeand’Heur (1998), S. 1288. 5 Searle (1997).

Spannungsverhältnis von sprachlicher Vagheit und Präzision

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guten Teil darin, außerrechtliche Sachverhalte in rechtliche Sachverhalte (institutionell definierte und konstituierte Sachverhalte) umzuwandeln (und zwar auf der Basis verschiedener Wissensrahmen). Spezifische Wissensformen erlauben Inferenzen zu ziehen, implizierte oder nicht erwähnte Sachverhalte zu erschließen, und sie sind teilweise anpassungsfähig. Mit dem Konzept der „juristischen Textarbeit“ soll veranschaulicht werden, wie ein Jurist – von Tatbeständen und Rechtstexten als juristischem Wissensrahmen ausgehend – Sachverhalte der Lebenswelt (alltagsweltliche Wissensrahmen) „zubereitet“6 und welcher Stellenwert dabei dem Medium Sprache zukommt. II. Sprachwissenschaftliches Interesse am Recht Was kann die Linguistik am Recht interessieren? Um es vorweg zu sagen: es ist die juristische Textarbeit, das heißt die vielfältigen Textproduktionsformen und Textrezeptionsweisen der juristischen Funktionsträger im Textgeflecht ihrer alltäglichen Arbeit. Und was könnte eine sprachwissenschaftliche Untersuchung für die Rechtswissenschaft interessant erscheinen lassen? Linguistische Forschung zur juristischen Textarbeit kann unter Umständen zu einem besseren Verständnis der Funktionsweisen sprachlicher Elemente in einer komplexen, institutionell geprägten, fachspezifischen Gebrauchsform von Sprache beitragen.7 Im System des geschriebenen Rechtes sind die Grobstrukturen von Macht, aber auch die Stellung ihrer Träger, deren Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten sowie die Maßstäbe bzw. Geltungsansprüche ihrer (Sprach-)Handlungen vertextet. Fragen und Schwierigkeiten der Vertextung und des Verstehens sind genuin sprachwissenschaftliche Fragestellungen. Rechtstheoretisch zu unterscheiden sind mehrere Strukturierungsebenen in Gestalt der Normstruktur, der Textstruktur des Rechtsstaats sowie der Geltungsstruktur der positiven Rechtsordnung. In unserem Zusammenhang ist nicht die grundlegende Erörterung rechtstheoretischer Grundsatzfragen und Ausrichtungen von Interesse, sondern das Augenmerk wird ganz konkret auf die zentrale Rolle von Sprache in rechtstheoretischen Überlegungen zur Normtext-Verarbeitung im richterlichen Entscheidungsprozess gerichtet. Eine sprachlich relevante Ebene der klassischen juristischen Auslegungslehre (Methoden bzw. Kanones der rechtswissenschaftlichen Gesetzesauslegung) betrifft die Abwägung zwischen Gesetzesauslegung bzw. Rechtsanwendung einerseits und Rechtsfortbildung andererseits. Diverse rechtstheoretische Gesetzesauslegungskonzeptionen sehen im Richter den „Mund des Geset6 Vgl. Jeand’Heur (1998), S. 1292, der aus diesem Grunde von der „Zubereitungsfunktion“ spricht. 7 Vgl. zu diesem bewusst bescheiden gehaltenen Anspruch die Ausführungen bei Busse (1993), S. 11.

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zes“8 sprechen. Laut Grundgesetz Art. 20 Abs. 3 ist Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden, offensichtlich gibt es neben dem gesetzlichen Normtext noch „etwas anderes“. In der Rechtsprechungspraxis können sich Richter darüber hinaus auch auf andere Texte wie z. B. Entscheidungsbegründungen, Kommentare etc. berufen. In der herkömmlichen rechtswissenschaftlichen Lehre bewegen sich ihre Entscheidungsbegründungen dabei im Spannungsfeld zwischen Auslegung – also Argumenten, die sich auf den Normtext zu stützen beanspruchen – und Rechtsfortbildung, also der Befugnis des Gerichts, bei unvollständiger oder fehlender gesetzlicher Regelung (Gesetzeslücke) eine rechtliche Wertung selbst zu finden und der Entscheidung zugrunde zu legen. Selbstredend sieht sich das Gericht bei der Rechtsfortbildung einem größeren Rechtfertigungsdruck ausgesetzt.9 Nach Schroth wird in der heutigen Rechtswissenschaft überwiegend die Auffassung vertreten, dass das Ziel der Auslegung der heutige Zweck des Gesetzes sei; subjektive Auslegung könne in diesem Sinne nur ein Hilfsinstrument objektiver Auslegung darstellen.10 Viele Autoren versuchen zwischen subjektiver und objektiver Auslegung einen Mittelweg zu finden. Friedrich Müller geht in seiner Methodik einen anderen Weg, indem er bestreitet, dass es eine Alternative zwischen subjektiver und objektiver Auslegung gebe. Stattdessen schlägt er ein Verfahren der Normkonkretisierung vor, durch das er Normen auf Sachverhalte anzuwenden sucht. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Gedanken der Textstruktur zu, der hier in einer Übersicht zusammengefasst werden soll:11 (1) Ausgangspunkt ist der vorgelegte bzw. festgesetzte Sachverhalt. Dem Richter liegen als Eingangsdaten seiner Entscheidung (neben den Normtexten) die Fallerzählungen vor. (2) Der Rechtsarbeiter wählt eine – zum Fall passende – Normtexthypothese aus der Gesamtmenge aller Normtexte aus. (3) Als Zwischenergebnis entsteht das Normprogramm (als Sprachbestandteil einer Rechtsnorm) aufgrund der Interpretation der Sprachdaten der als relevant erachteten Normtexte. (4) Es folgt die Auswahl des Normbereichs (als Sachbestandteil) aus dem Sachbzw. Fallbereich, das heißt aus den im Fall aktuellen Realdaten. Der Normbereich wird also konstituiert aus den Eigenschaften des Lebenssachverhal-

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Vgl. kritisch zu diesem Bild Christensen (1989a). Vgl. dazu exemplarisch die Entscheidungsbegründungen zum „vergeistigten“ oder entmaterialisierten Gewaltbegriff bei Felder (2003). Siehe dazu auch Gesetzeskommentare zu § 240 StGB. 10 Schroth (61994), S. 358. Eine Mindermeinung favorisiere aber immer noch als Ziel der Auslegung die Ermittlung des Willens des historischen Gesetzgebers. 11 Müller (21994), S. 263 ff. und vgl. auch Müller (92004). 9

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tes, die für die Entscheidung als relevant erachtet und somit als normativ mitwirkende Tatsachen angesehen werden. (5) Normprogramm und Normbereich bilden zusammen die vom Rechtsarbeiter auf diesem Wege erzeugte, generell formulierte Rechtsnorm als den – die richterliche Entscheidung tragenden – Leitsatz. (6) Der Rechtsarbeiter individualisiert die Rechtsnorm zur Entscheidungsnorm, die im Tenor (Urteilsformel) zum Ausdruck kommt. Diese fünf Textstufen Normtext, Normprogramm, Normbereich, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm stellen ein Kontinuum juristischer Texte im Entscheidungsfindungsprozess dar. Die Legitimation richterlicher Entscheidung ist damit eingebettet in einen – die praktische Tätigkeit reflektierenden – Gedankengang der Rechtserzeugung. III. Freiheit und Gebundenheit des Richters Resümiert man die gesetzlichen Grundlagen der Richterbindung, so sind vor allem drei zentrale Stellen der Rechtsordnung zu erwähnen, welche die Unabhängigkeit des Richters einerseits bekräftigen, andererseits aber auch dessen Freiheit einschränken bzw. Bindung betonen: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG) und der bereits erwähnte Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“ sowie „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt“ (§ 1 Gerichtsverfassungsgesetz). Für strafrechtliche Verurteilungen verschärft Art. 103 Abs. 2 (wortgleich mit § 1 StGB) die Gesetzesbindung des Richters sowohl durch das sogenannte „Analogieverbot“, welches der rechtsprechenden Gewalt verbietet, „Straftatbestände oder Strafen durch Gewohnheitsrecht oder Analogie zu begründen oder zu verschärfen“,12 als auch durch den „Bestimmtheitsgrundsatz“, der besagt: „Der einzelne soll von vornherein wissen können, was strafrechtlich verboten ist und welche Strafe ihm für den Fall eines Verstoßes gegen das Verbot droht, damit er in der Lage ist, sein Verhalten danach einzurichten.“13 Dieses Gebot verlangt von Sprache einen hohen Präzisionsgrad. Im Zusammenhang mit diesem Grundgesetzartikel wird in der Strafrechtslehre üblicherweise noch genauer zwischen vier – nebeneinander zu stellenden – Unterprinzipien in dem Sinne unterschieden, dass das Bestimmtheitsgebot an den Gesetzgeber, das Rückwirkungsverbot sowohl an den Gesetzgeber als auch

12 13

Jarass/Pieroth (62002), Art. 103 Rdn. 47. Jarass/Pieroth (62002), Art. 103 Rdn. 48.

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den Richter, das Analogieverbot und das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts an den Richter gerichtet ist.14 Jedoch wurde schon seit langem dezidierte Kritik am Gesetzesbindungspostulat geübt. Herkömmlich versteht man darunter in erster Linie die Bindung durch die oben bereits erwähnten Auslegungsregeln, die Bindung durch Richterrecht (Hassemer geht von einer wenigstens faktischen Bindungswirkung des Richterrechts aus, von den sog. Präjudizien, obgleich formalrechtlich keine Bindung z. B. an höchstrichterliche Rechtsprechung vorgeschrieben ist15) und die Bindung durch die Rechtsdogmatik.16 Stellvertretend sei Hassemer zitiert, der folgendes Resümee zieht: „Es ist offenbar widersinnig, entgegen den Erkenntnissen zur Vagheit und Porösität von Gesetzesbegriffen oder zum je differenten richterlichen Vorverständnis darauf zu beharren, der Richter müsse sich streng an das Gesetz halten. Er kann es nicht. Konsequenz einer solchen, sich scheinbar rechtsstaatlich begründenden Forderung ist nicht, daß die Rechtsprechung sich exakter an gesetzliche Vorschriften hält, sondern vielmehr, daß sie so tut, als folge sie nur dem Gesetz.“17

IV. Parallelen der Sprach- und Rechtswissenschaft Aus dem oben dargelegten Interesse an juristischer Spracharbeit entscheidet sich die neuere Rechtslinguistik für den sprachlich reflektierten Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre, der sich von Grund auf sehr stark mit der linguistischen Theorieentwicklung der letzten Jahrzehnte auseinandergesetzt hat und mit dieser vielfältige Überschneidungen aufweist. Die Strukturierende Rechtslehre weist einige Parallelen mit der pragmatisch orientierten Linguistik und den dort diskutierten Sprachhandlungsansätzen18 auf. Das gilt – so viel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen – für die Einstellung beider Disziplinen gegen einen linguistischen bzw. juristischen Positivismus (Ablehnung der Vorstellung von „Ausdrücken als Bedeutungscontainer“ oder vom „Rechtstext als 14 Vgl. dazu ausführlicher Pieroths Kommentar zum Grundgesetz in Jarass/Pieroth (62002), Art. 103 Rdn. 43 ff, der das Rückwirkungsverbot nicht nur als an den Gesetzgeber, sondern auch an den Richter gerichtet versteht. Das Rückwirkungsverbot „verbietet dem Strafgesetzgeber die rückwirkende Strafbegründung und Strafschärfung [. . .] und dem Strafrichter die rückwirkende Anwendung einer Strafnorm.“ [Jarass/ Pieroth (62002), Art. 103 Rdn. 52] 15 Hassemer (61994), S. 263. 16 Hassemer (61994), S. 261 ff. führt darüber hinaus z. B. die Bindung durch informelle Programme usw. an. 17 Hassemer (61994), S. 259. 18 Müller (21994), S. 378 verweist vor allem auf die „Praktische Semantik“ mit ihren Grundannahmen, dass sprachliche Zeichen nichts Einheitliches sind, nie isoliert, sondern nur in Sprachspielen (also Verwendungszusammenhängen) betrachtet werden sollten und dass Referieren, Prädizieren, Quantifizieren und das Herstellen von Relationen (Aussageverknüpfung) elementare sprachliche Handlungen darstellen.

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Rechtsnormbehälter“) sowie für ihr Bekenntnis zu einem handlungstheoretischen Ansatz in der Rechts- bzw. Spracharbeit. Überdies betrifft es auch den Regelbegriff, insofern nämlich eine Analogie zwischen dem Erzeugen einer Rechtsnorm und dem einer sprachleitenden Regel hergestellt werden kann. Damit einher geht die Betonung der Rolle des Subjekts bei der Normkonkretisierung (Rechtsarbeiter) und beim Sprachhandeln (Sprecher). „Weder die Norm im Sinn des Gesetzespositivismus noch die Sprache als angeblich naturhaft normatives System werden als vorgegebene Größen anerkannt. Die Strukturierende Rechtslehre identifiziert ,Norm‘ ebensowenig mit ,Normtext‘ wie die neuere Linguistik ,Text‘ mit ,Textformular‘ und ,Regel‘ mit ,Regelformulierung‘.“19

Textformular als die pure Zeichenausdruckskette ist zu unterscheiden vom Text als dem sinngefüllten, vollständigen Verstehens- oder Interpretationsergebnis. „Was dort [im Gesetzbuch/Anm. E. F.] steht, sind nur Textformulare für später zu erzeugende Normen; sind nur ,Normtexte‘ als nicht-normative Vorformen dessen, was dann einen bestimmten Konfliktfall auf bestimmte Weise verbindlich entscheiden wird: Vorform der Rechtsnormen. Diese können nur im Fall erarbeitet werden; im Rahmen eben des realen Falles, der sie überhaupt provoziert und den sie regeln sollen.“20

Somit liegt dem rechtstheoretischen und rechtsmethodischen Paradigma der Strukturierenden Rechtslehre ein Sprachverständnis zugrunde, das der in der Linguistik verbreiteten Sprachauffassung einer handlungstheoretischen Semantik21 insofern entspricht, als es Eigenheiten – insbesondere die Grenzen – natürlicher Sprache bei der Beschreibung der richterlichen Textarbeit berücksichtigt. Ein solcher Ansatz achtet darauf, „was natürliche Sprache nicht können kann und auf das, was sie wirklich kann.“22 Damit sind erste wesentliche Gründe skizziert, warum das Paradigma der Strukturierenden Rechtslehre für die Linguistik von größtem Interesse ist: Sie versteht die Rechtsstruktur als Textstruktur, differenziert konsequent zwischen Normtext und Norm (analog zu der Unterscheidung zwischen Textformular und Textbedeutung, die in der Linguistik grundlegend ist) und setzt – sich auf Wittgenstein berufend – in einzelnen Sprachspielen an, die sich im Gesamthorizont des durch die Verfassung gezogenen größeren Sprachspiels bewegen.23 19

Müller (1990), S. 133. Müller/Christensen/Sokolowski (1997), S. 9. 21 Vgl. dazu die Gesamtdarstellungen bei Gloning (1996). 22 Müller/Christensen/Sokolowski (1997), S. 9. 23 Müller (21994), S. 147 und 374 ff. Den Terminus des „Sprachspiels“ führt Wittgenstein ein, der mit ihm die verschiedenen Funktionen unserer Sprache beschreiben möchte. Zum Sprachspiel gehören die Handlungen des Äußerns von Sätzen, das „Verstehen“ des Partners und das Handeln der beteiligten Kommunikationsteilnehmer. 20

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Linguistische Analysen vermögen rechtspraktischen, rechtstheoretischen und rechtswissenschaftlichen Denkansätzen allenfalls Angebote hinsichtlich des Erkenntnispotentials sprachlicher Zeichen zu unterbreiten. So ist in zahlreichen linguistischen, rechtswissenschaftlichen und vor allem auch interdisziplinären Veröffentlichungen schon herausgearbeitet worden, welche sprachtheoretischen Defizite diversen juristischen Sprach(gebrauchs)auffassungen innewohnen.24 Diese Darlegungen werden hier nicht ausführlich wiederholt, sondern es wird auf einzelne Aspekte an entsprechender Stelle des Gedankengangs verwiesen. Die übergeordnete Frage der vorliegenden Überlegungen lauten: Was leistet die Sprache des Rechts im Rahmen juristischer Sprachhandlungen? V. Gemeinsame Erkenntnisziele von Sprach- und Rechtswissenschaft Die Strukturierende Rechtslehre nimmt im Rahmen rechtstheoretischer Ansätze aus linguistischer Sicht eine Sonderstellung ein. Denn sie schreibt Sprache – im Unterschied zu sonstigen in der Jurisprudenz vorherrschenden Sprachauffassungen – nicht nur instrumentellen Charakter bei der Behandlung juristischer Phänomene zu, sondern sie betrachtet Sprach- bzw. Textarbeit als genuinen Bestandteil juristischer Tätigkeit. Die Relevanz der Strukturierenden Rechtslehre für linguistische Analysen kann wie folgt bilanziert werden: (1) Innerhalb der rechtstheoretischen Diskussion hat sich die Strukturierende Rechtslehre mit dem Ansinnen, die Grundlagen praktischer Rechtsarbeit nicht länger als solche von Begriffen oder Rechtstermini zu behandeln, sondern vielmehr die tatsächlichen Konkretisierungsakte des praktisch tätigen Juristen als wissenschaftlich strukturierende Vorgänge zu untersuchen, gegen die dominierende Vorstellung der juristischen Entscheidungstätigkeit gewendet, die von einer als objektiv vorgegeben gedachten Referenzbeziehung Sprache ist nicht nur Instrument des Mitteilens [Wittgenstein (1958/ 111997), § 363). Wittgenstein betont bei der Einführung des Sprachspielbegriffs, dass verschiedene Sprachspiele in ganz verschiedenen Zusammenhängen gespielt werden. Wenn man ein bestimmtes Sprachspiel spielt, kann man auch nur in bestimmter Weise handeln. Und natürlich wird man das Sprachspiel nach den Notwendigkeiten der Handlungen einrichten. „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ [Wittgenstein (1958/ 111997), § 19]. Die Sprache bestimmt die Lebensform und ist Produkt der Lebensform. Mit dieser Formulierung nimmt Wittgenstein m. E. allerdings eine gefährliche Nähe zum Sprachdeterminismus ein. 24 Siehe dazu vor allem die beiden Sammelbände „Untersuchungen zur Rechtslinguistik“ (Müller (Hrsg.) (1989) und „Neue Untersuchungen zur Rechtslinguistik“ (Müller/Wimmer (Hrsg.) (2001)). Weitere wichtige Arbeiten sind die von Müller (21994), Christensen (1989), Busse (1992), (1993), Jeand’Heur (1989), (1998), Müller/Christensen/Sokolowski (1997), Felder (2003).

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von Sprache und Welt ausgeht. Die Strukturierende Rechtslehre rückt stattdessen den praktisch tätigen, an und mit Sprache bzw. Texten arbeitenden Juristen in den Vordergrund, der „gewöhnlich in Rechtswissenschaft und Rechtstheorie ein Schattendasein fristet“25 und in positivistischer Tradition allenfalls als „Mund des Gesetzes“ in Erscheinung tritt. Sie hebt – mit explizitem Verweis auf die praktische Semantik – auf konkrete Sprachhandlungen, die Gebrauchssprache des juristischen Funktionsträgers ab: „Der praktisch tätige Jurist [. . .] wird zum Sprecher, der, indem er referiert, die Gebrauchsweise der Zeichen nach seinen Motiven prägt. Weder Sprache noch Welt(gegenstände) garantieren von sich aus merkmalssemantisch unmittelbare Referenzrelationen. Es sei nochmals daran erinnert: Nicht ein vorgeblich existenter und kognitiv erkennbarer, anwendungsbereiter Begriff des Sprachzeichens, sondern vielmehr erst der Sprecher/Rechtsanwender referiert auf Merkmale, die er als relevant festsetzt, die er aus ihrem kontingenten Vorliegen in eine die einzelne Entscheidung überdauernde Form transformiert.“26

(2) Die Strukturierende Rechtslehre interessiert sich für offene Fragen, die in der Sprach- und der Rechtswissenschaft von Bedeutung sind. Versteht man Sprechen als menschliche Tätigkeit bzw. als eine Form des kommunikativen Handelns,27 dem in verschiedenen Situationskontexten unterschiedliche Lebensformen oder „Sprachspiele“28 zugrunde liegen, so können – in Abhängigkeit vom jeweiligen Handlungszusammenhang – die einzelnen Sprachspiele als durch spezifische Regeln (sprachliche Verwendungsweisen) konstituiert beschrieben werden, die die Sprachteilnehmer befolgen.29 Zwar kann Wittgensteins Regelbegriff problematisiert werden,30 doch ist offensichtlich, wie seine Grundgedanken auf das Sprachspiel der juristischen Entscheidungstätigkeit übertragen werden können. Genau dies tut die Strukturierende Rechtslehre mit ihrer Ausgangsfrage: Nach welchen Spielregeln funktioniert die Rechtsarbeit tatsächlich? Dadurch unterscheidet sich die Strukturierende Rechtslehre von deduktiv argumentierenden Rechtsontologien. Sie beginnt inmitten juristischer Texte und geht damit induktiv vor. Sie will Reflexion einer Praxis des Rechts für ein – neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossenes – Modell bündeln. „Damit sind theoretische Annahmen nicht Voraussetzung, sondern Folge einer Analyse der Praxis und ist der Rationalitätsmaßstab [. . .] ein sprachspielimmanenter.“31 Auf Grund dieses in25

Jeand’Heur (1989), S. 54. Jeand’Heur (1989), S. 55. 27 Handlungen werden von Verhalten abgegrenzt durch das definierende Kriterium einer Handlungsabsicht (Intention) [Busse (1992), S. 18]. 28 Wittgenstein (1958/ 111997), § 7, 19, 23. 29 Jeand’Heur (1989a). 30 Vgl. dazu die Ausführungen bei Busse (1993), S. 253 ff., Müller/Christensen/Sokolowski (1997), S. 74 ff. 31 Müller/Christensen/Sokolowski (1997), S. 15. 26

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duktiven Vorgehens und der Fokussierung der rechtspraktischen Tätigkeit eignet sich das Paradigma der Strukturierenden Rechtslehre für linguistische Untersuchungsinteressen in besonderem Maße, weil die von diesem Ansatz vorgenommene Strukturierung der Richterhandlungen mit einer sprachwissenschaftlichen Perspektivierung kontrastiert werden kann. (3) Gerade das verbreitete und auch in außerjuristischen Kreisen bekannte syllogistische Subsumtionsmodell mit seiner idealisierten Vorstellung einer anzustrebenden Übereinstimmung von Obersatz („Wenn die Voraussetzungen t1, t2, t3, . . . verwirklicht werden, gilt die Rechtsfolge R.“) und Untersatz („Die Voraussetzungen t1, t2, t3, . . . werden durch den konkreten Sachverhalt s1, s2, s3, . . . verwirklicht“) bis hin zu dem Schluss („Also gilt für den konkreten Sachverhalt s1, s2, s3, . . . die Rechtsfolge R.“) ist dazu prädestiniert, eine Trennung von Sprache und Welt als getrennte Entitäten zu implizieren und damit Sprache als Abbild von Wirklichkeit aufzufassen. Jeand’Heur skizziert die in der Jurisprudenz, aber auch in der Rechtswissenschaft geläufige Abbildtheorie in vier Stichworten: „1. Instrumentalistische Sprachtheorie; 2. Repräsentationsfunktion der Sprache; 3. Atomistische Bedeutungsauffassung sowie 4. Annahme einer ontologisch-essentialistischen Beschaffenheit von Welt(gegenständen).“32 Diese von vielen Juristen vertretene Vorstellung33 und in rechtstheoretischen Ansätzen üblicherweise implizierte und allgemein vorherrschende Sprachtheorie, der zufolge Sprache ein Werkzeug zur Bezeichnung von Gedanken (instrumentalistische Sprachauffassung) darstelle, die durch Worte transportiert würden, ohne dass die Gedanken durch die ausgewählten Lexeme spezifisch perspektiviert bzw. konstituiert würden, wird von der Strukturierenden Rechtslehre in Übereinstimmung mit sprachwissenschaftlichen Auffassungen des pragmatischen34 und teilweise kognitiven35 Paradigmas abgelehnt und ersetzt durch die Sprachauffassung, die sich thesenartig zusammenfassen lässt als „Rechtsarbeit ist Sprach- bzw. Textarbeit!“ VI. Juristische Sprachhandlungstypen zur Spezifizierung der Zubereitung von Lebenswelten in juristischen Wissensrahmen In den vorherigen Abschnitten haben wir die Gemeinsamkeiten sprachwissenschaftlicher und rechtswissenschaftlicher Ansätze beschrieben, insofern ausgewiesene Strömungen beider Disziplinen sich für die sprachliche Konstitution von Welt in Texten interessieren. In Anlehnung an die Vorstellungen der 32 33 34 35

Jeand’Heur (1989), S. 57. Jeand’Heur (1989), S. 65. Vgl. die Gesamtdarstellung bei Gloning (1996). Vgl. z. B. den Überblick bei Scherner (2000).

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„Strukturierenden Rechtslehre“ kann die Rechtsstaatstruktur als ein Kontinuum juristischer Texte bzw. Textsorten aufgefasst und die richterliche Arbeit als Textarbeit nachgezeichnet werden, weil juristische Tätigkeit als gesetzestextgestützte Integration eines lebensweltlichen Sachverhalts in Schemata der juristischen Wirklichkeitsverarbeitung aufgefasst werden kann. Befragen wir nun im Sinne der Sprachhandlungstheorie die zu beschreibenden Texte (Entscheidungstexte der Gerichte und die Literatur im Rahmen der juristischen Binnenkommunikation) auf Sprecherhandlungen der Textproduzenten, so lassen sich drei Sprachhandlungstypen (= Handlungsmuster) – also sinnverwandte Sprecherhandlungen zusammengefasst in jeweils einer übergeordneten Kategorie36 – herausdestillieren. Es handelt sich um die folgenden: • Sachverhalt-Festsetzen: Zubereitung des Falls unter Berücksichtigung der durch die Normtexte aufgespannten Wissensrahmen. Der juristische Zugriff auf die zu beurteilende soziale Situation setzt schon bei den Kategorien an, die durch juristische Tatbestandsbegriffe beschrieben werden. Bei Verbrechen beispielsweise (Kaufhausdiebstahl) haben schon die Darstellungselemente (= Wörter) für sich genommen, mit welchen auf den Vorgang zugegriffen wird, sowie ihr Zusammenspiel deutenden Charakter. Es findet dadurch eine Etikettierung schon vor der Sachverhaltsherstellung selbst statt. • Rechtliche Sachverhaltsklassifizierung mit Bezug auf den ausgewählten Normtext auf der Grundlage diverser Normtexthypothesen und der Bildung des Normprogramms und Normbereichs (Termini der oben skizzierten Strukturierenden Rechtslehre); • Entscheiden mit Bezug auf die Rechts- und Entscheidungsnorm, wobei mit der Sprecherhandlung des Entscheidens eine des Argumentierens einhergeht. Die drei erwähnten Sprachhandlungstypen Sachverhalt-Festsetzen, Rechtliche Sachverhaltsklassifizierung und Entscheiden manifestieren sich im Vollzug einzelner konkreter Sprecherhandlungen. Sprecherhandlungen werden mittels Sprachhandlungsverben realisiert und sind an diesen als Indikatoren zu erkennen, oder sie werden nur mittels indirekter illokutionärer Indikatoren wie z. B. Satzform, Verwendung von Modalverben impliziert. Eine solche Typologisierung setzt sich begriffliche Systematisierung zum Ziel, um damit intuitives Können (auf Grund internalisierter Regeln) im Rahmen teilweise unbewusst ablaufender Textproduktionsschemata und Textrezeptionsverfahren über die Explizierung von Teilprozessen bewusst zu machen. Gelingt es, ein solches kontextgebundenes Vorwissen gerade auch für juristisch Unkundige transparent zu machen, so sind damit die „Übersetzungs“versuche von Rechtstermini (als vermeintlich zentrales Verstehensproblem rechtssprach36 Zur terminologischen Abgrenzung von Sprachhandlungsklassen, Sprachhandlungstypen und Sprecherhandlungen s. Felder (2003), Kapitel 3.3.

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licher Äußerungen) zugunsten einer Beschreibung von Sprachhandlungen als grundlegenden Aspekten von (fach)kommunikativen Interaktionen relativiert. Überspitzt könnte man zugunsten solcher sprachhandlungstheoretischer Beschreibungsversuche formulieren: Wörter haben keine Bedeutung, sondern mit ihnen wird Bedeutung gemacht, und zwar beim Sprachhandeln in konkreten Kontexten (natürlich unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit Sprache – samt ihrer Bausteine vom Wort bis zum Text – und ihrem Gebrauch in Kommunikationszusammenhängen). Damit wird die These bekräftigt, dass nicht die Termini selber im Zentrum des rechtssprachlichen Forschungsinteresses stehen sollten, sondern die mit der Verwendung von Wörtern vollzogenen Sprecherhandlungen im juristischen Textgeflecht. Bei der Analyse von gerichtlichen Entscheidungstexten sollten also die Art und Weise des Referierens, Prädizierens, Quantifizierens und des Herstellens von Relationen im Mittelpunkt der Textuntersuchung stehen. In Bezug auf die Analyse der Sprachhandlungen gilt es innerhalb der Sprachhandlungsklasse der Repräsentativa/Assertiva und Deklarativa in erster Linie die drei grundlegenden juristischen Sprachhandlungstypen Sachverhalt-Festsetzen, rechtliche Sachverhaltsklassifizierung und Entscheiden (inklusive Argumentieren) zu berücksichtigen.37 Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen die umstrittenen Sprecherhandlungen (z. B. zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung oder zwischen den unterschiedlichen Instanzen). Im juristischen Diskurs wird den Sprachhandlungsklassen der Deklarativa (in dieser Oberklasse insbesondere dem Sprachhandlungstyp des Benennens bzw. Klassifizierens) und Repräsentativa/Assertiva besondere Aufmerksamkeit geschenkt.38 Wenn Juristen Sachverhaltserzählungen als Eingangsdaten der juristischen Textarbeit weiterverarbeiten, dann handelt es sich dabei meist um ichorientierte und weltbezogene Sprecherhandlungen des Typs x tut etwas in Bezug auf einen über z usw. ausgesagten Sachverhalt.39 Beispiele für deklarative Sprecherhandlungen sind etwas benennen, definieren, klassifizieren, anerkennen als usw., Exempel für repräsentative/assertive Sprecherhandlungen lauten etwas 37

Felder (2003), S. 207. Busse bezeichnet deklarative, kommissive und direktive Sprechakte als „die rechtlich relevanten Typen“ [Busse (1992), S. 96]. Damit lässt er die m. E. im juristischen Kontext nicht minder wichtigen Sprachhandlungsklassen der Repräsentativa/Assertiva und Expressiva unerwähnt. Es ist hingegen im Folgenden zu zeigen, wie z. B. der vermeintlich meinungsneutralen Sprecherhandlung des Sachverhalts-Zusammenfassen als einer repräsentativen/assertiven Sprachhandlung vom Strafsenat des Bundesgerichtshofs (der als Revisionsinstanz nicht selbst den Sachverhalt feststellt bzw. festsetzt, sondern sich auf die sog. Sachverhaltsfeststellung der vorherigen Instanzen stützt) die Einnahme einer spezifischen Perspektive vorausgeht, die durch einen bestimmten sprachlichen Zugriff im Rahmen von Reformulierungshandlungen vorgeprägt (oder gar standardisiert) wird. 39 Vgl. die Ausführungen in v. Polenz (21988), S. 206 ff. 38

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erwähnen, feststellen, zusammenfassen, aussagen, behaupten, vermuten, begründen, erinnern usw. Mit Ich-Orientierung ist in unserem Zusammenhang mitunter die – nicht ganz unproblematische – kollektive Autorenschaft einer Gerichtsentscheidung (mit Ausnahme beim Amtsgericht) gemeint – man müsste dann eigentlich von Wir-Orientierung sprechen, was hier aber nicht eigens ausgewiesen werden soll und mit zur Ich-Orientierung gezählt werden kann. Searle selbst hat darauf hingewiesen, dass die Abgrenzung von repräsentativen/assertiven Sprachhandlungen einerseits und deklarativen andererseits schwierig sein kann, weil in ein und derselben Äußerung mehrere Sprachhandlungen vollzogen werden können.40 Dieses Phänomen der Polyfunktionalität41 in Bezug auf assertive und deklarative Sprecherhandlungen kommt im Recht besonders häufig vor: „Zwischen Deklarationen und Assertiven gibt es Überschneidungen, und zwar aus folgendem Grund: In gewissen Einrichtungen tritt die Situation auf, daß wir nicht bloß feststellen, ob etwas der Fall ist, sondern auch die Autorität besitzen müssen, um endgültig darüber zu befinden, was der Fall ist, nachdem das Ermittlungsverfahren darüber abgeschlossen ist.“42

Es geht also darum, die juristisch umstrittene Sache des Rechtsfalls zu beenden und die nächsten institutionellen Schritte zu ermöglichen. Searle spricht hinsichtlich solcher Tatsachenentscheidungen von „assertiven Deklarationen“: „Im Gegensatz zu den anderen Deklarationen haben sie mit den Assertiven eine Aufrichtigkeitsbedingung gemeinsam. Richter, Geschworene und Schiedsrichter können lügen – nichts daran ist logisch abwegig; wer hingegen Krieg erklärt oder jemanden nominiert, kann dabei nicht lügen.“43

Der Ausdruck lügen ist in diesem Kontext problematisch, weil er dem Handelnden eine Intention beim Vollzug einer derartigen Sprecherhandlung mit repräsentativem/assertivem und deklarativem Charakter unterstellt, was nicht unbedingt gegeben sein muss, wenn man die breite Palette möglicher Fälle einer solchen inadäquaten Sprachhandlung in Betracht zieht. In seinem Werk Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit beschäftigt sich Searle intensiver mit der Schaffung und den Eigenschaften institutioneller Tatsachen und stellt fest, dass diese durch explizite performative Formeln bzw. Äußerungen geschaffen werden können, gleichwohl aber nicht geschaffen werden müssen.44 Gerade in dem hier untersuchten Textkorpus sind explizite 40

Searle (1975/1982), S. 50. Unter Polyfunktionalität versteht man, dass derselben Äußerung – bezogen auf ein Handlungsspiel – verschiedene Funktionen und Wirkungsintentionen zugrunde liegen können. Vgl. ausführlicher dazu Felder (2003), S. 228 ff. 42 Searle (1975/1982), S. 38 f. 43 Searle (1975/1982), S. 39. 44 Searle (1997), S. 41 ff. 41

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Performative in der Minderzahl, deklarative Sprecherhandlungen werden in aller Regel implizit vollzogen in Sprachhandlungen, die ebenfalls assertiven und repräsentativen Charakter haben. „In Deklarationen wird der Sachverhalt, der durch den propositionalen Gehalt des Sprechakts repräsentiert wird, durch die erfolgreiche Verrichtung eben jenes Sprechakts geschaffen.“45 Mit der Einordnung einer Äußerung als Deklarativa wird deutlich gemacht, dass durch Sprache Fakten geschaffen werden, Fakten einer bestimmten Art wie z. B. etwas definieren, so-und-so nennen, benennen, klassifizieren, festsetzen, datieren, anerkennen als, ein Veto einlegen, jmd. zu etwas bevollmächtigen, etwas für gültig/ungültig erklären, etwas bestätigen, ein Urteil aufheben, gegen ein Urteil Berufung oder Revision einlegen, einer Berufung stattgeben oder sie verwerfen, jmd. für schuldig/unschuldig erklären, jmd. verurteilen, jmd. von einer Anklage freisprechen, sich selber Zuständigkeit bescheinigen. Das definierende Merkmal der Klasse der Deklarativa besteht darin, dass der „erfolgreiche Vollzug eines ihrer Elemente eine Korrespondenz von propositionalem Gehalt und Realität zustande bringt; der erfolgreiche Vollzug garantiert, daß der propositionale Gehalt der Welt entspricht.“46 Rolf fügt hinzu, dass auf Grund der doppelten Anpassungsrichtung der Deklarativa deren Vollzug auch umgekehrt garantiert, „daß die Welt dem propositionalen Gehalt der jeweiligen Äußerung entspricht.“47 Die institutionellen Tatsachen, die durch deklarative Sprachhandlungen geschaffen werden, zeichnen sich dadurch aus, dass unterschiedlichen ontologischen Kategorien von Gegebenheiten wie Leuten, Ereignissen, Gegenständen ein bestimmter Status zugewiesen wird. Zum Vollzug solcher deklarativen Sprachhandlungen muss derjenige, der sie vollzieht, über die Autorität und die entsprechende Position innerhalb einer systematischen Beziehung von Einrichtungen und Institutionen verfügen.48 Bezüglich der Eigenschaften von deklarativen Sprachhandlungen führt Rolf aus: „Die deklarative illokutionäre Stammkraft hat in den Dimensionen des Stärkegrads (der Aufrichtigkeitsbedingung) und der Bedingung des propositionalen Gehalts keine Ausprägung. Die vorbereitende Bedingung besteht einfach darin, daß der Sprecher die Autorität hat, den im propositionalen Gehalt seines (deklarativen) Sprechakts repräsentierten Zustand hervorzubringen.“49

Der Richter bringt bei seinen Entscheidungen implizit zum Ausdruck, dass er glaubt, dass der von ihm festgesetzte Sachverhalt eine justitiable Tatsache darstellt. 45 46 47 48 49

Searle (1997), S. 44. Searle (1975/1982), S. 36. Rolf (1997), S. 197. Vgl. dazu ausführlicher Searle (1997), S. 123 ff. Rolf (1997), S. 198.

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Die in der Institution Recht nicht minder wichtigen kommissiven (z. B. sich zuständig erklären, eine Aufgabe übernehmen, sich einverstanden erklären), direktiven (z. B. eine Rechtsfrage zur Entscheidung vorlegen oder die Sache zur erneuten Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverweisen, jmd. auffordern, etwas prüfen lassen) und expressiven (z. B. eine Begriffsauslegung gutheißen oder beanstanden) Sprecherhandlungen ziehen im rechtlich institutionellen Rahmen unter Umständen gravierende rechtliche Auswirkungen nach sich und haben eine spezifische Bindungswirkung für die Betroffenen. Dies gilt insbesondere für den direktiven Charakter von Gesetzestexten, wenn in ihnen neben der Beschreibung des Tatbestands das Strafmaß angegeben wird. VII. Resümee und zwei Thesen zum Konzept der juristischen Textarbeit Juristische Textarbeit lässt sich im Wesentlichen charakterisieren durch den Vollzug von drei grundlegenden Sprachhandlungstypen: Zunächst wird (1) ein Sachverhalt festgesetzt bzw. von juristischen Funktionsträgern diskursiv zusammengestellt und ausgehandelt, um diesen – gemäß den Normtextvorgaben – (2) den möglichen rechtlichen Sachverhaltsklassifizierungen zu unterziehen, bevor Richter sich für (3) eine Klassifizierung entscheiden und diese Entscheidung argumentativ stützen. Das im Folgenden zu erläuternde Schaubild soll die Zusammenhänge transparent machen. Auch in der Jurisprudenz gibt es wie fast in den meisten anderen Fachdomänen „semantische Kämpfe“50 oder Sprach-Normierungskonflikte. Zur deutlicheren Differenzierung unterscheide ich zwischen den Ausdrücken Teilbedeutungen, Merkmalen und Eigenschaften: Im Rahmen der Gesetzes- oder Normtexte interessieren die dort verwendeten Ausdrücke hinsichtlich ihrer jeweils aktuellen kontextabhängigen Bedeutung, die sich als Ganzes nicht beschreiben lässt und auch nicht beschrieben werden muss. Vielmehr stehen die je dominant gesetzten Bedeutungskomponenten im Mittelpunkt, die einzelne Gerichte in Abweichung von vorherigen Instanzen den jeweiligen Begriffen zuschreiben – also die umstrittenen Bedeutungsaspekte eines Begriffs. Solche Bedeutungskomponenten werden hier Teilbedeutungen genannt. Im Unterschied dazu verwendet man den Terminus Merkmal – den juristischen Gepflogenheiten folgend – als Bestandteil des juristischen Tatbestandes. Es bleibt noch der festzustellende Sachverhalt der wahrgenommenen Lebenswelt, dessen Teile hier als Eigen-

50 Vgl. zu semantischen Kontroversen in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen den Sammelband Felder, Ekkehard (Hrsg.) (2006): „Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften“, der ein erstes Publikationsergebnis des Forschungsnetzwerks „Sprache und Wissen“ Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation (www.suw.uni-hd.de) darstellt.

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schaften bezeichnet werden. So erweist sich folgende Sprachgebrauchsregelung als nützlich: Linguistische Sicht

Juristische Sicht

Lebensweltliche Sicht

Normtextbedeutungen

Tatbestand

Sachverhalt

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#"

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Teilbedeutungen

Merkmale

Eigenschaften

Diese Unterscheidung dient ausschließlich heuristisch der Klarstellung von Erkenntniszusammenhängen, es sollen damit nicht getrennte Entitäten (Sprache – Expertenwelt – Alltagswelt) impliziert werden. Zur Verdeutlichung werden abschließend die Zusammenhänge mittels Thesen zugespitzt. 1. These: Juristische Funktionsträger stellen Relationen zwischen Sachverhaltseigenschaften (aus den Fallerzählungen) und Tatbestandsmerkmalen her und „objektivieren“ (= explizieren) sie in Teilbedeutungen, die sie Normtexten (zum Teil auch einzelnen Rechtstermini von Gesetzestexten) im Rahmen der gesetzestextbasierten Normkonkretisierung zuschreiben. Teilbedeutungen von Normtexten korrespondieren demnach mit Merkmalen von juristischen Tatbeständen, und diese wiederum korrespondieren mit Eigenschaften aus Lebenssachverhalten. In gemeinsprachlichen Varietäten (alltagsweltliche Sachverhaltskonstitution) werden Sachverhalte ohne den juristischen Wissensrahmen von Tatbestandsmerkmalen als vorgelagerte Wahrnehmungsfolie erfasst – es wird also gemeinhin eine direkte Referenzbeziehung zwischen Sachverhaltseigenschaft und Begriffsteilbedeutung des Ausdrucks auf der Grundlage alltäglicher Sprachgebrauchserfahrungen hergestellt, ohne dass auf Tatbestandsmerkmale als Zwischeninstanz verwiesen würde. Dabei ist zu bedenken, dass der souveräne Umgang mit juristischen Tatbestandsmerkmalen der fundierten juristischen Diskurserfahrung bedarf und erst in zweiter Linie auf der bloßen Handhabung von Rechtsbegriffen basiert. Tatbestandsmerkmale finden auf den ersten Blick ihren Niederschlag in Rechtstermini, deren Handhabung Professionalität verlangt. Eine genauere Betrachtung der juristischen Textarbeit fördert jedoch zu Tage, dass die Produktion und Rezeption von Sprecherhandlungen im juristischen Sprachspiel die zentralen Kategorien juristischen Handelns darstellen. Sind diese hinsichtlich eines bestimmten Normtextes und prototypischer Sachverhalte im juristischen Diskurs mehr oder weniger standardisiert, so lassen sie sich hoch verdichtet und abstrahiert in Fachtermini zusammenfassen (wie sie z. B.

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als Tatbestandsmerkmale implizit oder explizit in Gesetzestexten ausgedrückt werden bzw. vorkommen) und gewährleisten damit eine effektive und ressourcenschonende Fachkommunikation unter Juristen. Juristen und Nicht-Juristen überschätzen bei der Beschreibung juristischer Tätigkeiten herkömmlich die Rolle der Fachtermini unter Vernachlässigung der eigentlichen Textarbeit. Juristische Textarbeit von Richtern (Rechtsprechung) lässt sich demnach charakterisieren durch die oben genannten grundlegenden Sprachhandlungstypen Sachverhalt-Festsetzen, rechtliche Sachverhaltsklassifizierung und Entscheiden (inkl. Argumentieren).51 2. These: Mit der Annahme eines alltagsweltlichen und juristischen Wissensrahmens kann die Rechtsarbeit plausibel und nachvollziehbar modelliert werden. Legt man ein vereinfachendes Resümee grundlegender Erkenntnisse der (Wahrnehmungs-)Psychologie zugrunde, so besteht eine fundamentale menschliche Orientierungsfähigkeit darin, realweltliche Vorkommnisse, die nicht in gängige Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsschemata passen, so zu verändern, dass sie in das bereits gewohnte Wissen integrierbar sind (Sinnvoll-Machen der Welt bzw. Sinn-Konstanz).52 Das Paradigma der ANPASSUNG

Akkomodation

Assimilation

Anpassung durch Angleichung an die Anforderungen der Umwelt.

Umweltgegebenheiten erhalten durch Handeln oder Denken eine Bedeutung, die mit der bisherigen Erfahrung in Einklang steht.

So kann einerseits als Beispiel für Akkomodation die (Forderung nach) Verabschiedung eines neuen Gesetzestextes gelten, um bestimmte Lebenssachverhalte justitiabel machen zu können. Andererseits kann die erwähnte „Zubereitungsfunktion“ als Exempel der Assimilation gesehen werden. Außerrechtliche Wirklichkeit wird zunächst einmal auf die rechtliche Welt zugeschnitten, bevor ein Rechtstext auf sie überhaupt „anwendbar“ ist. So bewirkt die fachliche Sicht der Jurisprudenz auf die alltagweltliche Lebenswirklichkeit eigentlich eine institutionelle Konstitution von Wirklichkeit. Juristische Tätigkeit kann daher als 51 52

Felder (2003), S. 203 ff. Hörmann (1980).

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Ekkehard Felder

textgestützte Integration eines Sachverhalts in juristische Wissensrahmen (Schemata der juristischen Sachverhaltsverarbeitung) aufgefasst werden. In der Rechtsanwendung werden also außerrechtliche Sachverhalte in rechtliche Sachverhalte (institutionell definierte und konstituierte Sachverhalte) umgewandelt. In meiner rechtslinguistischen Untersuchung habe ich aus diesem Grunde diese richterlichen Aktivitäten mit dem Terminus „Sachverhaltsfestsetzung“ etikettiert und gezeigt, wie Richter unterschiedlicher Gerichte bei der Sachverhaltsformulierung von „Sitzblockaden“-Gerichtsentscheidungen aus der Vielzahl der Sachverhaltseigenschaften eine bestimmte Anzahl als rechtlich relevant klassifizieren und damit als bedeutsam für den Sachverhalt festsetzen.53 Folglich wird eine Wirklichkeit eigener Art, eine institutionelle Wirklichkeit, zuallererst konstituiert. Gesetzestexte spielen in diesem Vorgang eine zentrale Rolle. Doch kann diese Rolle häufig nicht einem einzelnen Rechtssatz (oder gar einem einzelnen Rechtsbegriff) zugeschrieben werden, sie ergibt sich vielmehr erst aus dem Zusammenspiel eines dichten Netzes von in der Rechtsarbeit jeweils neu herzustellenden Wissensrahmen, die im Wesentlichen – aber nicht ausschließlich (jedenfalls nur teilweise in den kanonischen Gesetzestexten) – ihr Fundament in Gesetzestexten und darüber hinaus in weiteren Texten der juristischen Binnenkommunikation (Kommentare, Fachliteratur etc.) haben. Das übergreifende Problem der juristischen Fachkommunikation sollte als ein funktionaler Zusammenhang aufgefasst werden, welcher soziale Sachverhalte, gesellschaftliche und kulturelle Deutungsmuster, institutionelle Rahmenbedingungen, fachsprachliche Spezial-Terminologie und fachspezifische Sprachhandlungstypen als Teil einer komplexen, Texte be- und verarbeitenden Praxis begreift. Die Vermittlungsproblematik zwischen Recht und Alltag ist daher in einem anderen als dem gemeinhin üblichen Licht zu sehen: Es handelt sich weniger um ein Problem auf Wortebene oder der Gesetzesformulierung als vielmehr um Schwierigkeiten, deren Ursache darin besteht, dass die Sprachhandlungsmuster, die den Prozess der textbasierten Normkonkretisierung bestimmen, je nach Bezug auf alltagsweltliche oder juristische Sachverhalte divergieren. Literatur Busse, Dietrich (1992): Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen: Niemeyer (Reihe Germanistische Linguistik Band 131). – (1993): Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht. Berlin (Schriften zur Rechtstheorie Heft 157).

53

Felder (2003).

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– (2000): Textsorten des Bereichs Rechtswesen und Justiz, in: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. 1. Halbband. Berlin/New York: de Gruyter, S. 658–675. Christensen, Ralph (1989): Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung. Berlin (Schriften zur Rechtstheorie Heft 140). – (1989a): Der Richter als Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gesetzespositivistischen Textmodells. In: Müller, Friedrich (Hrsg.): Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik. Berlin, S. 47–91 (Schriften zur Rechtstheorie Heft 133). Christensen, Ralph/Kudlich, Hans (2001): Theorie richterlichen Begründens. Berlin (Schriften zur Rechtstheorie Heft 203). Felder, Ekkehard (2003): Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit. Berlin/ New York: de Gruyter (Studia Linguistica Germanica, Band 70). – (Hrsg.) (2006): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York (Linguistik – Impulse und Tendenzen Bd. 19) Gloning, Thomas (1996): Bedeutung, Gebrauch und sprachliche Handlung. Ansätze und Probleme einer handlungstheoretischen Semantik aus linguistischer Sicht. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik Band 170). Hassemer, Winfried (61994): Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Kaufmann, Arthur/Hassemer, Winfried (Hrsg.): Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Heidelberg, S. 248–268. Hoffmann, Ludger (1998): Fachtextsorten in Institutionensprachen I: das Gesetz. In: Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.) (1998/ 1999): Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Erster Teilband. Berlin/New York, S. 522–528 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Band 14.1). Hörmann, Hans (1980): Der Vorgang des Verstehens. In: Kühlwein, W./Raasch, K. (Hrsg.): Sprache und Verstehen. Band 1. Tübingen, S. 17–29. Jarass, Hans/Pieroth, Bodo (62002): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar. München. Jeand’Heur, Bernd (1989): Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit. Berlin (Schriften zur Rechtstheorie Heft 139). – (1998): Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik, in: Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.): Fachsprachen. Erster Halbband. Berlin/New York: de Gruyter, S. 1286– 1295. Müller, Friedrich (1990): Notiz zur Strukturierenden Rechtslehre. In: Christensen, Ralph (Hrsg.): Müller, Friedrich – Essais zur Theorie von Recht und Verfassung. Berlin, S. 120–134. – (21994): Strukturierende Rechtslehre. Berlin.

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– (92004): Juristische Methodik. Berlin. – (Hrsg.) (1989): Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik. Berlin (Schriften zur Rechtstheorie Heft 133). Müller, Friedrich/Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael (1997): Rechtstext und Textarbeit. Berlin (Schriften zur Rechtstheorie Heft 179). Müller, Friedrich/Wimmer, Rainer (Hrsg.) (2001): Neue Studien zur Rechtslinguistik. Dem Gedenken an Bernd Jeand’Heur. Berlin (Schriften zur Rechtstheorie Band 202). Polenz, Peter v. (1988): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin/New York. Rolf, Eckard (1997): Illokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik. Opladen. Scherner, Maximilian (2000): Kognitionswissenschaftliche Methoden in der Textanalyse. In: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager, Sven F. (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. 1. Halbband. Berlin/New York, S. 186–195. Schroth, Ulrich (61994): Philosophie und juristische Hermeneutik. In: Hassemer, Winfried/Kaufmann, Arthur (Hrsg.): Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Heidelberg, S. 344–370. Searle, John R. (1975/1982): Eine Taxonomie illokutionärer Akte. In: Searle, John R. (1982): Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie. Frankfurt, S. 17–50. (Originaltitel: Searle, John R. (1975): A Taxonomy of Illocutionary Acts. In: Searle, John R. (1979): Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge, p. 1–29). – (1997): Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Reinbek (Originaltitel: The Construction of Social Reality. New York 1995). Wittgenstein, Ludwig (1958/ 111997): Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1. Frankfurt.

Soziale Integration als Aufgabe des Rechts – am Beispiel der Rechtsprechung auf dem Weg zu einem Religionsrecht in gleicher öffentlicher Freiheit Von Helmut Goerlich Friedrich Müller arbeitet nicht nur zu Fragen der Methodenlehre, sondern auch an solchen des herkömmlichen Staatskirchenrechts. Nicht auf dessen traditionellem Feld, aber in angrenzenden Bezirken der Grundrechtsdogmatik1 – wenn sie in der Praxis noch in gleicher Weise trägt wie bisher2 – und der Diskriminierungsverbote vollzieht sich gegenwärtig ein rechtlicher Wandel in der Sicht vieler Fragen. Das stellt auch die Erträge der Methodik auf die Probe und führt zugleich zu Problemen der funktionellen Leistungsfähigkeit nicht nur befasster Gerichte, sondern auch anderer öffentlicher Einrichtungen. I. Politikversagen Die Grundrechte erscheinen mehr und mehr als Integrationsmaßstab einer Gesellschaft.3 Das gilt selbst, wenn europäisches Recht im Spiel ist, zumal dann auch demokratische Defizite zu beklagen sind. Die deutsche Politik hat offenbar immer öfter nicht die Kraft, Reformwillen und Populismus so zu verbinden, dass sich integrative Lösungen – meist angeknüpft an eine religionsrechtliche Perspektive – ergeben, die einen weiterführenden Ausgleich zwischen großen und kleineren Gruppen und ihren religiösen Interessen in der deutschen 1 Hierzu mit zahlreichen Belegen W. Kahl, Neuere Entwicklungslinien der Grundrechtsdogmatik, in: AöR 131 (2006), S. 579 ff. 2 Vgl. B. Schlink, Abschied von der Dogmatik – Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, in: Juristenzeitung 2007, S. 157 ff. – wobei der kulturkritisch-pessimistische Ton am Ende eher hinterfragt werden sollte; sowie H. Schulze-Fielitz, der vor Kurzem auf einer Tagung in Jena ausführte, dass sozusagen bloße Dogmatik nicht „zukunftsfähig“ sei, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 4 v. 5.1.2007, S. 34 unter der Überschrift „Unantastbar? Eine Anfrage – Dogmenkritik: Juristen streiten über die Menschenwürde“ und ders., „Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung“ am 2. und 3.3.2007 in Würzburg, neben anderen Beiträgen auf einem Forschungskolloquium zu dem Thema „Staatsrechtslehre als Wissenschaft“ aus Anlass des 60. Geburtstages von Helmuth Schulze-Fielitz, demnächst im Druck. 3 Vgl. jetzt E. Röper, Die Grundrechte als Integrationsmaßstab, in: ZRP 2006, S. 187 ff.

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Gesellschaft bewirken. Weder die Legislative noch Regierungen und Verwaltung sind dazu in der Lage. In die Bresche gesprungen sind nolens volens in jüngerer Zeit allerdings des Öfteren auf verschiedenen Ebenen, aus Anlass der Streitigkeiten vor ihnen, die Gerichte. Es kam zu grundsätzlichen Entscheidungen. Dabei ist zunächst der Eindruck entstanden, die neue Rechtsprechung besitze eine laizistische Tendenz mit dem Ergebnis, die Religion überhaupt aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Das galt etwa für den Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Dabei verkannte diese Sicht, wie stark die älteren Entscheidungen des Gerichts nachwirken, die der Religionsausübung den öffentlichen Raum unter dem Grundgesetz erschlossen haben. Diese Rechtsprechung musste sich in einem zweiten Schritt dahin auswirken, allen Religionen gleichermaßen öffentlichen Raum zuzuweisen. Dieser Effekt tritt nun zunehmend ein und wird auch in Entscheidungen sichtbar, die auf den ersten Blick wiederum jenes laizistische Missverständnis auslösen. Eine laizistische Wendung der Interpretation dieser Rechtsprechung würde latent das Ziel einer Gleichstellung der Religionen gefährden und damit auch mittelbar die Aufgabe einer Integration der benachteiligten Gruppen, die jene Religionen oder Konfessionen vertreten und daher sehr häufig die Religion zum Instrument der Aufmerksamkeit für ihre Zurücksetzung machen. Sie würde auch dem Grundgesetz nicht gerecht, dem eine sozusagen laizistische Verfassungsprogrammatik nicht zu entnehmen ist. Diese Verfassung hat im hier relevanten Kontext einerseits die so genannten Weimarer kirchenpolitischen Artikel übernommen und andererseits die Grundrechte normativ verstärkt. Das bewirkte alsbald eine Allianz seiner Interpreten zugunsten eines die herkömmlichen Volkskirchen privilegierenden Staatskirchenrechts. Es ergab aber auch die Durchsetzung der individuellen religiösen Rechte des Einzelnen und der vorhandenen Minderheiten. Und nun setzt sich dies fort in Ansätzen eines egalitären Religionsrechts, das den Religionen den öffentlichen Raum in gleicher Freiheit sichern kann, sollte es sich etablieren. Dies erreichen bisher weniger Diskriminierungsverbote oder andere Gleichstellungsgesetze als vielmehr einzelne Judikate; und dies zwar selbst dann, wenn sie auf den ersten Blick nicht mehr als einen fragwürdigen Bruch mit der bisherigen Dogmatik enthalten oder gar eine egalitäre, eher religionsfeindliche Strömung aufweisen, tatsächlich aber dem Zug der Zeit zugunsten eines positiven egalitären Religionsrechts allmählich Raum geben.

II. Gleiche Freiheit als Perspektive Den Gang der Entwicklung veranschaulichen einige Beispiele. Wenige Dekaden zurück ging die Rechtsprechung offenbar davon aus, dass nennenswerte Konflikte aus einem allgemeinen Schulgebet, dem sich niemand recht entziehen kann, nicht entstehen. Diesen Eindruck vermittelte jedenfalls noch ein Beschluss aus dem Jahre 1979.4 Sogar noch 1995 sah sich ein Bundesgericht be-

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fugt zu entscheiden, was zu den zwingend einzuhaltenden Riten einer Religion gehört und daher unter den Schutz der Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fällt.5 Nichts anderes schien auch im Jahre 2002 für die Bekleidung muslimischer Frauen zu gelten.6 Der Bruch erfolgte auf den ersten Blick mit dem so genannten Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.7 Nun sollte auf eine Minderheit, ja auf die einzelne Person durchschlagend, Rücksicht zu nehmen sein. Wenn mithin im Einzelfall der universale gesellschaftliche Konsens in der Kleingruppe einer Schulklasse, also unter Schülern, Eltern und Lehrpersonen, zur in Rede stehenden Frage nicht mehr besteht, sollte das nun genügen, um auf religiöse Symbole oder Handlungen im unausweichlich öffentlichen Raum der Schule verzichten zu müssen. Damit hatte dieses Gericht – allerdings ohne jede Vorbereitung der Öffentlichkeit, etwa durch eine mündliche Verhandlung – 1995 allem Anschein nach eine grundlegende Wende eingeleitet. Bis dahin galt seit 1968 zwar für die christlichen Bekenntnisse eine gesicherte positive Religionsfreiheit, auch im öffentlichen Raum, und zwar unter einer weiten, vom Selbstverständnis dieser Bekenntnisse getragenen Deutung ihres Schutzbereiches.8 Diese Sicht der Freiheiten des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG war aber für andere Religionen, Minderheiten und vereinzelte „Dissenter“ nicht gesichert. Nun schien sich das zu verändern, allerdings erkennbar nicht zu Lasten der Religionsfreiheit als einer im öffentlichen Raum verwirklichten Freiheit des Einzelnen. Die Gefahr einer Privatisierung dieser Freiheit wurde offensichtlich. Zu befürchten war auch, dass die negative Seite der Freiheit sich gegen die positive Freiheit eines Bekenntnisses zu einer Tradition öffentlicher Symbole durchsetzen würde. Nur mit Mühe korrigierte eine restriktive Deutung des Beschlusses in der Fachgerichtsbarkeit diesen Eindruck.9 Die Perspektive gleicher öffentlicher Freiheit für alle Religionen war aber eröffnet, allerdings unterwarf man dann – veranlasst durch den konkreten Fall – sogleich den Minderheitenschutz besonderen Kautelen, was indes gegen seinen Missbrauch veranlasst erscheint, vor allem, wenn man eine Phase der Konfrontation fürchtet. Zu ihr kam es nicht, wiewohl vereinzelt vor allem Lehrpersonen in einer etwas anderen Lage weiterhin streiten. Aber in Bayern hängen die Kruzifixe noch. 4 Vgl. BVerfGE 52, 223 ff. zum freiwilligen, „überkonfessionellen“ Schulgebet außerhalb des Religionsunterrichts in staatlichen Schulen. 5 BVerwGE 99, 1 ff. unter Bestätigung von OVG Hamburg, Urt. v. 14.9.1992 – Bf III 42/90 – in: NVwZ 1994, 592 (595), wonach – nach Feststellung dieses staatlichen Gerichts – kein zwingendes Gebot zum Schächten besteht, mithin der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht tangiert ist. 6 BVerwGE 116, 359 ff. – erstmalige Bestätigung eines präventiv-abstrakt verstandenen Kopftuchverbots im Schuldienst. 7 BVerfGE 93, 1 ff. – Kruzifix im Klassenraum von Pflichtschulen. 8 Vgl. BVerfGE 24, 236 ff. – Aktion Rumpelkammer. 9 Siehe BVerwGE 109, 40 ff., 46 ff.

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Eine Korrektur, die nun vorzunehmen war, schien das Staatskirchenrecht kraft seiner verfassungsrechtlichen Verankerung selbst zu bieten. Diesen Weg beschritt das Bundesverwaltungsgericht, indem es etwa den Körperschaftsstatus nur verliehen sehen wollte, wenn über eine bloße Rechtstreue hinaus bestimmte traditionelle Voraussetzungen der Loyalität gegenüber dem nun demokratischen Staat – auch in Ansehung allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahlen – erfüllt waren.10 Aus denselben Erwägungen ergab sich auch, den Anspruch auf die Ermöglichung eines Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach i. S. v. Art. 7 Abs. 3 GG solchen Religionen zu verweigern, die keine entsprechenden, hier geläufigen und für notwendig erachteten Organisationsund Verantwortungsstrukturen besitzen.11 Grundlage dieser Sicht war, dass die immanenten Schranken der Freiheiten des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sich aus dieser Verfassung selbst – und darunter aus dem ihr inkorporierten Staatskirchenrecht – ergeben. Diese Versuche der Rettung herkömmlicher Strukturen sind bekanntlich gescheitert. Sie mögen prima facie gescheitert sein an Missverständnissen, etwa bezogen auf den Inhalt von Loyalitätserwartungen im Vergleich zu gebotener Rechtstreue. Sie waren und sind aber unabhängig von solchem Missgeschick auch kaum mehr durchzuhalten. Zu sehr hatte sich nämlich das soziale Substrat von Religion und Ritual durch Migration, Austritte und deutsche Vereinigung verändert. Nun stellten sich Fragen der Handhabung religiös ausgeprägter sozialer Konflikte einerseits und andererseits Fragen, ob eine Privatisierung der Religion, eine Variante eines dadurch gekennzeichneten Laizismus’ anstehen oder ein neuer Weg sich öffnen würde. Man kann es für leichtfertig halten, die herkömmlichen Wege des Staatskirchenrechts preiszugeben. Auch birgt eine Abkehr von diesem Weg die Gefahr einer zu raschen Entwicklung gegen die Verfassung, heraus aus ihrem bisherigen Geläuf. Im Bereich von Schule und öffentlichem Dienst kann dies die landesverfassungsrechtliche Lage beiseite schieben, was nicht nur bundesstaatlich fragwürdig ist, sondern auch angesichts der tradierten verfassungspolitischen Identität etwa in süddeutschen Ländern oder vor allem in konfessionell noch 10 Vgl. BVerwGE 105, 117 ff. mit der Anforderung der Loyalität gegenüber dem demokratischen Staat, insbesondere gegenüber dessen Wahlen. Dieses Urteil hat das BVerfG bekanntlich aufgehoben; damit wurde das Staatskirchenrecht beiseite gedrängt. Anlässlich auch dieses Falles ist indes zu betonen, dass der deutsche ordre public die Grundrechte umfasst, ohne dass dies im Wege der Gleichstellung anderer Religionen und Traditionen in Frage gestellt werden könnte. 11 In diesem Sinne v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 217; dagegen hatte OVG Münster, Urt. v. 2.12.2003, in: NVwZ-RR 2004, S. 492 ff., auch in: NWVBl. 2004, S. 224 ff. muslimischen Dachverbänden die Eigenschaft, Religionsgemeinschaften zu sein, abgesprochen, womit ihnen also der Anspruch auf Ausrichtung von Religionsunterricht schon deshalb, und nicht wegen des Fehlens von Verantwortungsstrukturen, nicht zustehen soll; diese Entscheidung wurde von BVerwGE 123, 49 ff. aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

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immer homogenen kleineren ländlichen Regionen dann und wann schwer zu verkraften sein wird. Dennoch zeichnet sich diese Entwicklung ab. Ihre Rechtfertigung ist dann von Interesse, will man nicht zu Verfallsdoktrinen greifen und sich damit zugleich neue Wege selbst verschließen. III. Windungen der Rechtsprechung Die egalitäre Tendenz zeigt sich am stärksten in der Formalisierung tradierter, sachorientiert-inhaltlich geprägter rechtlicher Merkmale. Vor diesem Hintergrund war das Loyalitätsgebot als Voraussetzung der Verleihung des Körperschaftsstatus’ vom Bundesverwaltungsgericht noch gesehen worden. Das Bundesverfassungsgericht formalisierte diese Anforderung im Wege ihrer Reduktion auf bloße Rechtstreue und eine Gewährklausel für den Respekt vor bestimmten elementaren Verfassungssätzen.12 Damit war die Öffnung des Staatskirchenrechts für eine allgemeine Parität, jenseits eines gewissen Restbestandes qualifizierender rechtlicher Stufungen, vollzogen. Was teils die Politik ohne grundsätzliche Perspektive im Vertragsrecht zwischen Staat und Religion schon vollzogen hatte, wurde damit verallgemeinert. Sind bestimmte formale Anforderungen gegeben, so bleibt schwerlich Raum für eine unterschiedliche Behandlung. Deshalb erstaunt der weitere Gang der Dinge nicht. Alsbald wurde in der Frage des Schächtens die Position geräumt, die schon den Schutzbereich der Religionsausübung nicht tangiert gesehen hatte; nun wurde in solchen Fällen auf ein bloßes, zwingendes Dafürhalten einer durch gemeinsame Glaubensüberzeugung verbundenen Gruppe von Menschen abgestellt.13 Dadurch war es möglich, die Religionsausübung der Kundschaft auch für einen muslimischen Betrieb zur „Verstärkung“ seiner säkularen Grundrechtsposition heranzuziehen; die bloße Verweisung auf den Import „geschächteten“ Fleisches konnte angesichts des öffentlichen Charakters von „Religion“ und der Maßgeblichkeit ihres Selbstverständnisses nicht mehr genügen.14 Auch konnte man nun das Tragen eines Kopftuchs nicht mehr als bloße Sitte abtun und so nahm das Bundesverfassungsgericht angesichts des öffentlichen Charakters solcher – wie latent aller – Religionsausübung den Rekurs auf das Parlamentsgesetz, um eine allgemeine, keinesfalls bloß kasuistische Regelung zu erzwin12 BVerfGE 102, 370 ff.; diese Entscheidung führte zu BVerwG, Urt. v. 17.5.2001 – 7 C 1/01 – in: NVwZ 2001, 924 ff. u. schließlich zur Verleihung des Körperschaftsstatus’ an die Zeugen Jehovas in Berlin; sie verpflichtet indes auch, die Rechtstreue fortgesetzt sicherzustellen. 13 BVerwGE 112, 227 ff. 14 BVerfGE 104, 337 ff.; zur Figur der „Verstärkungswirkung“ von Grundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts krit. Ch. Spielmann, JuS 2004, S. 371 ff.

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gen,15 sogar um den Preis, entgegengehalten zu bekommen, dass das bisherige Beamtenrecht aller Länder und des Bundes als Ermächtigungsgrundlage ausreiche.16 Das signalisierte indes zugleich einen Regelungsbedarf, der einleuchtet, wenn man angesichts der nun in größerer Allgemeinheit wirksamen positiven Religionsfreiheit im öffentlichen Raum davon ausgeht, dass auch die Rechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Schranken im Sinne eines allgemeinen Gesetzesvorbehaltes unterliegen, die sich aus dem Staatskirchenrecht ergeben – und zwar entgegen der historischen Lage unter Heranziehung von Art. 136 Abs. 1 WRV i.V. m. Art. 140 GG.17 Diese neue Dogmatik contra constitutionem wird verständlich vor dem Wandel hin zu einem allgemeinen Religionsrecht, über ein besonderes Staatskirchenrecht oder ein latent fragwürdiges Sonderverfassungsrecht im Sinne von „Religionsverfassungsrecht“ hinaus.18 Konsequent ist angesichts dieser Entwicklung die zweite Kopftuch-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die 2004 ein kraft Parlamentsvorbehalts dem Spruch aus Karlsruhe gemäß erforderlich gewordenes Landesgesetz gegen den Willen des Landesgesetzgebers verfassungskonform dahin auslegt, dass – trotz der Landesverfassung – keine Religion privilegiert sein dürfe, vielmehr alle Symbole, und daher also auch ein muslimisches Symbol, aus Pflichtschulen fernzuhalten seien. Das war auch möglich, weil das Gericht zugleich die Erziehungsziele der Landesverfassung säkular und kultur-christlich interpretierte.19 Damit setzt sich nun eine Parität durch, die bisher undenkbar schien. Sie ist auch die Grundlage der späteren Entscheidung zur Eigenschaft muslimischer Dachverbände als Religionsgemeinschaften, denen der begehrte Anspruch auf Erteilung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehr15

BVerfGE 108, 282 ff. Dies ist die Auffassung der abweichenden Richter in BVerfGE 108, 282 ff. (314 ff.), aber auch weithin der Vertreter nicht nur des Beamtenrechts, die allerdings die verfassungspolitische Leitfunktion der abstrakt-generellen Entscheidung „gegen das Kopftuch“ im Sinne einer Laifizierung der Schule nicht berücksichtigen, sondern unverändert von der Frage der Eignung ausgehen, teils auch verbunden mit der Auffassung, dass für die Eignung neben der Mäßigung in ihrem Verhalten die Bereitschaft der Lehrperson erforderlich ist, im Falle eines konkreten, den Schulfrieden störenden Konflikts das inkriminierte Kleidungsstück abzulegen. 17 Zuerst St. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 224 ff.; für die Gegenposition u. eine Übersicht M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., Art. 4, Rn. 112. 18 Vgl. H. Goerlich, Glaubens- und Religionsfreiheit in „Zeiten des Multikulturalismus“ in völker-, europa- und verfassungsrechtlicher Sicht – oder vom Staatskirchenrecht zu einem allgemeinen Religionsrecht?, in: Ch. Enders/M. Kahlo (Hrsg.), Toleranz als Ordnungsprinzip, fundamenta iuris – Schriftenreihe des Leipziger Instituts für Grundlagen des Rechts, Bd. 3, 2007, S. 207 ff. 19 BVerwGE 121, 140 ff.; es erscheint zweifelhaft, ob diese „verfassungskonforme Auslegung“ haltbar ist, zu Maßstäben A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, in: AöR 125 (2005), S. 177 ff. 16

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fach in öffentlichen Schulen gemäß Art. 7 Abs. 3 GG zustehen kann. Zudem kann eine personale Sicht der Glaubensfreiheit nicht mehr gegen die Organisationsformen ausgespielt werden, die eine Religion hinzunehmen oder zu fordern in der Lage ist.20 Nichts anderes hatte früher gegolten, als es um die Eintragungsfähigkeit als Verein für eine autoritär von oben nach unten organisierte Glaubensgemeinschaft gegangen war.21 Auch hier wäre im Übrigen denkbar gewesen, den Parlamentsvorbehalt als Instrument einer Rückverlagerung der religionspolitischen Verantwortung in die Politik einzusetzen. Man zog die verfassungskonforme Auslegung heran, zumal historische Vorbilder eines regen Vereinslebens aus dem katholischen Bereich seit dem frühen 19. Jahrhundert verfügbar waren. Die Fachgerichte sind fortwährend mit dem Stand der Entwicklung konfrontiert. Das zeigt sich auch in der jüngsten erstinstanzlichen Entscheidung im Fortgang des Kopftuchstreits. Das Verwaltungsgericht Stuttgart legt – ohne formell gebunden zu sein – die Strategie des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde, indem es eine strikte Parität der Religionen postuliert.22 Auf dieser Grundlage rigider Gleichheit erscheint ihm willkürlich i. S. eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn, anders als die im Unterricht in latent christlichen Symbolen auftretenden Lehrpersonen im betreffenden Bundesland, eine muslimische Lehrerin angewiesen wird, im Unterricht kein Kopftuch zu tragen. Dabei grenzt das Gericht rechtsdogmatisch diese Anwendung des Gleichheitssatzes von der so genannten Gleichheit im Unrecht ab, indem es betont, dass es in Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG um das Verbot schlechthin willkürlichen Verwaltungshandelns gehe.23 Dieser Gedanke ergänzt zugleich die Feststellung, dass keine Diskriminierung des weiblichen Geschlechts wegen eines Bekleidungsverbotes, die mit Art. 14 EMRK nicht vereinbar wäre, vorliegt.24 Eindeutig ist nach dem Urteil aber eine Diskriminierung aus religiösen Gründen unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 14 i.V. m. Art. 9 EMRK gegeben, würde – neben Kippa 20

BVerwGE 123, 49 ff. BVerfGE 83, 341 ff. – Bahai. 22 VG Stuttgart, Urt. v. 7.7.2006 – 18 K 3562/05 – abgedruckt in: NVwZ 2006, S. 1444 ff. (1446) und ZBR 2007, S. 135 ff. (136), mit Anm. v. H. Wißmann. 23 Siehe VG Stuttgart (Anm. 22), a. a. O. unter Berufung auf BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, B. v. 9.10.2000 – 1 BvR 1627/95 – in: GRUR 2001, 266 ff. (270), mit Bezug auf Rechtsprechung der Senate. 24 EGMR, Urt. v. 15.2.2001 – 42393/98 – in: NJW 2002, 2871 ff. und VBlBW 2001, 439 ff.; inzwischen ist auch entschieden, dass ein Kopftuchverbot ohne Ausnahme für Studentinnen ebenfalls mit Art. 9 und Art. 14 EMRK vereinbar wäre; den Konventionsstaaten steht hier ein weiter – allerdings durch das Gericht überwachter – Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen sie entscheiden, ob und unter welchen Grundsätzen solche Verbote erforderlich sind, sofern sie hinreichenden Raum für religiösen Frieden, Toleranz und öffentliche Ordnung in einer Gesellschaft lassen, vgl. EGMR, Urt. v. 10.11.2005 – 44774/98 – in: NVwZ 2006, S. 1389 ff. (1392 f.); dazu A. Weber in DVBl. 2006, S. 173 f. 21

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und Ordenshabit – nicht auch das Kopftuch zugelassen, wie das die verfassungskonforme Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht ergeben hatte, der sich das VG Stuttgart anschließt.25 Kritisch ist anzumerken, dass sich die Entscheidung dieses Tatsachengerichts damit ganz in der abstrakten normorientierten Ebene aufhält, wie zuvor die Revisionsgerichte und das Bundesverfassungsgericht. Der zugrunde liegende Fall hätte erlaubt, auf eine einzelfallorientierte Ebene unter mehreren Aspekten zurückzukehren, etwa unter dem, dass die nun in Rede stehende Kopfbedeckung keineswegs vergleichbar erscheint mit dem seidenen Kopftuch der Klägerin der bekannten bisherigen Verfahren, die im Südwesten ihren Ausgang genommen hatten. Denn diese Kopfbedeckung der Klägerin aus Bad Cannstatt, einem Teil der Landeshauptstadt, ließ in anderer Eleganz den Hals in Gänze sichtbar und die Ohren nur teilweise bedeckt, so dass sie einen völlig anderen Eindruck als das so genannte muslimische Kopftuch vermittelt.26 Zudem hatte die Klägerin dieses Verfahrens seit Jahren in mehrheitlich nicht christlichen Klassen einer Pflichtschule in einem migrationsgeprägten Teil der Landeshauptstadt mit einer solchen Kopfbedeckung gelehrt, ohne dass es je im Unterricht oder sonst in der Schule zu Konflikten aus diesem Grunde gekommen wäre.27 Eine an der konkreten Gefahrenlage orientierte, auch insoweit differenzierende Einzelfallbetrachtung lag daher umso näher. Dies gilt unbeschadet der Verfahrensstrategien auf Seiten der Klägerinnen.28 Das mag hier aber dahinstehen. 25 Siehe BVerwGE 121, 140 ff.; diese Interpretation ermöglicht auch, eine mittelbare Diskriminierung zu verneinen i. S. v. Art. 2 Abs. 2 lit. b der Richtlinie 2000/78/ EG des Rates der Europäischen Union vom 27.11.2000 (ABl. EG L 303/16), die zur Zeit der Entscheidung des VG noch nicht umgesetzt war, es aber inzwischen ist; vgl. Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006 (BGBl. I S. 1897); darin enthalten das Allgemeine Gleichstellungsgesetz v. 14.8.2006, in Kraft seit 18.8.2006, zuletzt geändert mit Ges. v. 2.12.2006 (BGBl. I S. 2742). 26 Vgl. mit Bild der Klägerin samt einer eleganteren Version einer Kopfbedeckung – wie sie in Schwaben Frauen jedenfalls auf dem Lande traditionell bei der Arbeit tragen und sie etwa bei Haarausfall oder Hauterkrankungen üblich ist – Stuttgarter Zeitung Nr. 155 v. 8.7.2006, S. 25; auch Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 156/27D v. 8.7.2006, S. 1 f.; diese Presse hat die Differenz zwischen dieser Kopfbedeckung und dem bisherigen muslimischen Kopftuch gesehen, im Urteil des VG Stuttgart ist sie mit keinem Wort erwähnt. 27 Vgl. mit Andeutungen zu einer denkbaren einzelfallorientierten Praxis Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 171 v. 26.7.2006, S. 4. 28 Eine gewisse Strategie schien schon im vorausgegangenen Fall – dem cause célèbre – der Frau Fereschda Ludin erkennbar: einmal, als sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht sich bereit erklärte, das Kopftuch als Halstuch zu tragen, wenn es Konflikte gebe, und zuletzt, als sie darauf verzichtete, nach ihrer zweiten Niederlage vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut nach Karlsruhe zu gehen, zumal die Begründung ihres nun erreichten Alters nicht überzeugte, da sie im islamischen Privatschulsektor in Berlin beschäftigt war; ebenso war es wohl Strategie, dass derselbe Prozessvertreter einen niedersächsischen Parallelfall am selben Verhandlungstag in Leipzig für erledigt erklärte, weil die im Übrigen ebenfalls makellose Kan-

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Der Fortgang des Verfahrens kann nun – nachdem die Berufung zugelassen ist – ergeben, dass eine einzelfallorientierte Sachverhaltsaufklärung erfolgt. Es kann aber auch dazu kommen, dass der VGH Mannheim an das Bundesverfassungsgericht vorlegt. Wird die landesrechtliche Norm dann von der verfassungskonformen Auslegung gegen die legislatorische Absicht befreit und gehalten, wird sich die Frage der Prüfung des Einzelfalls neu stellen, abgesehen von einem Weg nach Straßburg – und im geeigneten Falle unter Aspekten der europäischen Freizügigkeit oder besser unter schlicht solchen der Unionsbürgerschaft und ihres allgemeinen, von grenzüberschreitenden Tatbeständen nicht mehr eingeengten Diskriminierungsverbots – nach Luxemburg. Das Bundesverfassungsgericht könnte eine solche Vorlage aber auch wegen unzureichender Erheblichkeitsprüfung – im Sinne von Mängeln in der Sachaufklärung des Einzelfalles – für unzulässig halten. Dann wären die Tatsachengerichte sogleich auf eine Einzelfallprüfung verwiesen, deren Ergebnis allerdings zu einer erneuten Vorlage nach Karlsruhe führen könnte. IV. Funktionelle Richtigkeit und Methode Von sehr viel größerem Interesse ist die Leistung der Gerichte im Umgang mit den Säkularisierungs- und Migrationsfolgen einer sich wandelnden Gesellschaft. Sie vollziehen hier nicht nur Verfassungsfortbildung, sondern erfüllen eine Integrationsaufgabe. Oder noch deutlicher: Die Aufgabe einer Integration weiter Teile der Bevölkerung in die Gesellschaft und ihr Recht nehmen die Gerichte wahr, indem sie die normativen Maßstäbe so fortbilden, wie es geboten ist, sollen sie in den Stand versetzt sein, diese Aufgabe zu erfüllen. Dabei reagieren sie auf ein politisches ebenso wie auf ein administratives Versagen. Die Arbeit der Gerichte in dieser Situation weist einen funktionell-rechtlichen und einen methodischen Aspekt auf. Die funktionell-rechtliche Seite tritt offen zu Tage, wenn man an die Rolle des Parlaments in der repräsentativen Demokratie erinnert.29 Hier liegt indes nahe, zunächst auf die Methode ihrer Interpretationen einzugehen. Die richtige Methode verhilft allerdings auch zu funktiodidatin für den Schuldienst eine Beschäftigung im öffentlichen Sektor in Österreich am dortigen staatlichen islamischen Institut für die Ausbildung von Religionslehrern habe. Für eine Strategie spricht auch, dass im Jahre 2004 eine deutsch-türkische Studentin aus Berlin auf einer auch von einer staatlichen türkischen Rechtsfakultät und unter finanzieller Beteiligung des DAAD veranstalteten Sommerakademie mit einer Kopfbedeckung wie die nunmehrige Klägerin in Stuttgart auftrat, die bei deutschen Kollegen Bedenken auslöste, vom leitenden türkischen Kollegen indes als „Turban“ – also nicht als das an staatlichen Einrichtungen in der Türkei verbotene Kopftuch, das auch Hals und Ohren bedeckt – gedeutet wurde, so dass diese Studentin ohne Verstoß gegen türkisches Recht weiterhin teilnehmen konnte. 29 Sie stützen sich bei F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 9. Aufl. 2004, S. 93 ff. auf die demokratische Legitimation durch ein Parlamentsgesetz.

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neller Richtigkeit. Das zeigt sich deutlich, vergleicht man politisierende Entscheidungsgründe mit solchen, die lege artis abgesetzt sind. Dafür bot sich vor Kurzem ein deplorables, aber für den Zweck hier gutes Beispiel in der Kammerjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Nachdem in längerem zeitlichen Abstand zunächst eine Verfassungsbeschwerde zur Ablehnung einer Genehmigung zur Erteilung von familiärem Heimunterricht nicht angenommen worden war,30 entschied der andere Senat des Gerichts gegen die Annahme einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung des Art. 4 Abs. 1 i.V. m. Art. 6 Abs. 2 GG durch die strafrechtliche Verfolgung elterlicher Verstöße gegen die Schulpflicht rügte.31 Die zweite Entscheidung quoll in den Gründen über von Aussagen über den Zweck der Schulpflicht, von der Verhinderung von „Parallelgesellschaften“ über die „Wahrung des religiösen Friedens“ hin zur „Teilhabe an demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft“ – und dies vor dem Hintergrund von Toleranz, Neutralität und „Dialog“. Abgesehen von der Problematik des Nichtannahmebeschlusses im Verhältnis zu Senats- oder Plenarentscheidungen, geht mit solchen Begründungsstrategien nicht nur die Distanz von Gericht und Richter verloren, sondern besteht auch die Gefahr, dass sich andere Stellen durch solche Aussagen befugt glauben, die Auswanderung zu empfehlen.32 Der erste Beschluss hatte sich hingegen beschränkt auf eine technisch korrekte juristische Begründung, ohne Weiterungen und Abschweifungen, die die betreffenden Heimschul-Christen jenseits des Rechtlichen besonders verletzen können. Dies zeigt, dass die strenge Methode juristischer Begründung zugleich funktionelle Richtigkeit gewährleisten kann, nicht nur als façon de parler, sondern auch in der Sache. Im Rahmen methodischer Erwägungen kann die Entwicklung der Perspektive eines Religionsrechts in gleicher – und öffentlicher – Freiheit für alle Religionen verstanden werden als der Wandel, der sich im Wege der Verfassungsfortbildung noch in dem Rahmen hält, den die dauerhaften Veränderungen der Gesellschaft im Normbereich auf Seiten des Normprogramms der respektiven Freiheitsgarantien auslösen. Das führt die Gerichte zur normativen Perspektive einer strikten Parität, die sie mit Normativität verbinden und in der Zuordnung von Verfassungssätzen gegen die älteren religionsrechtlichen Lösungen des Staatskirchenrechts und der Landesverfassungen sowie der ihnen folgenden Landesgesetze durchsetzen. Sie versuchen dabei allerdings zugleich, funktionellen Anforderungen zu genügen, indem sie sich mit Hilfe der „Verstärkungswirkung von Grundrechten“, des Par30 Vgl. BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, B. v. 29.3.2003 – 1 BvR 436/03 – in: NVwZ 2003, 1113 f. 31 Vgl. BVerfG, 1. Kammer des 2. Senats, B. v. 31.5.2006 – 2 BvR 1693/04 – in: BayVBl. 2006, 633 ff. 32 Vgl. den Leserbrief unter der Überschrift „Wem sein Gewissen so wichtig ist“ v. J. Dudek, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 183 v. 9.8.2006, S. 6.

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lamentsvorbehalts, einer als zwingend verstandenen verfassungskonformen Auslegung oder des Willkürverbots auf eine funktionelle Ebene zurückziehen, die einerseits viele Fragen einstweilen offen zu halten sucht, andererseits aber doch auch gegen den Vorwurf einer verfassungspolitischen Anmaßung schützt. Dass ein Politikversagen sie dennoch in eine aktive Rolle zwingt, das steht auf einem anderen Blatt. Es ist aber unverkennbar gegenwärtig der Fall. Dabei können angesichts eines „Politikversagens“ Gerichte auch eine gewissermaßen zweite Ebene der Ingerenz wählen, indem sie vermeiden, Rechtsfragen endgültig letztinstanzlich zu entscheiden, so dass die Politik neuen Spielraum und vor allem auch Zeit gewinnt, sich zu orientieren. In dieser Weise dilatorische Entscheidungen sind gerade im Kopftuchstreit zu beobachten. Es steht zu hoffen, dass in diesem Sinne die Dinge hinreichend lange offen bleiben. Da es sich um Lernprozesse hier auch einer Gesellschaft, also nicht nur ihrer politischen Ebene, handelt, haben solche Entscheidungsstrategien zugleich einen edukatorischen Effekt, nicht nach innen, in die Instanzen der Gerichte, sondern nach außen, gegenüber der Gesellschaft und ihren Steuerungsebenen. In einem unmittelbar rechtlichen Sinne allerdings ist die „funktionell-rechtliche Richtigkeit“33 des Entscheidungsverhaltens auch der Gerichte – also sowohl im Ausspruch wie auch in den Gründen ihrer Entscheidungen – zu wahren, zumal das Grundgesetz als Verfassung in seiner spezifischen Offenheit auch als zugleich strikt normatives Recht34 Vieles in der Tat eben offen hält für Lösungen, die an erster Stelle die Gesetzgebung zu finden hat. Die erforderlichen methodischen Kunstgriffe stehen zur Verfügung, die es den Gerichten ermöglichen, das zu beachten. Die Figur dieser „Richtigkeit“ geht zurück auf Horst Ehmke,35 der sie als Frucht eines Teils seiner verfassungsvergleichenden Studien in die Diskussion eingeführt, andererseits aber die prägnante Formel nicht selbst gebraucht hat. Diese ist als Signalwort für taugliche Metamaßstäbe gegenüber richterlichen Entscheidungsstrategien erhalten geblieben. Gemeint sind Argumentationsfiguren wie „preferred freedoms“, „strict scrutiny“, „judicial self-restraint“, „political question doctrine“ usw., die alle bezogen sind auf bestimmte typisierbare Situationen des Konflikts zwischen Rechten der Bürger, Grund- und Menschenrechten und ihrer richterlichen Durchsetzung einerseits sowie andererseits der Befugnis der Verfassungsorgane, die erforderlichen Ge33

Vgl. dazu F. Müller/R. Christensen (Anm. 29), Rn. 31, 378 f. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 22 ff. u. passim. 35 Vgl. H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff. (73 f., 132); später verschiedentlich aufgegriffen, vgl. vor allem K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit (1981), in: ders., Ausgewählte Schriften, hrsg. v. P. Häberle/A. Hollerbach, 1984, S. 311 ff. (319 f.); und nochmals ders., Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, in: JZ 1995, S. 265 ff. (273). 34

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staltungen, wie wir sagen würden, zur Wahrung anderer Verfassungsgüter, selbst auszuwählen, zu prägen und ins Werk zu setzen. Anders als in den ersten Dekaden der Geltung des Grundgesetzes und angesichts der in sich ruhenden Verfassungsstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika,36 tritt heute in Europa indes noch Weiteres hinzu, was den Zugriff der Gerichte in der Rechtsentwicklung wesentlich fördert, insbesondere im Rahmen der europäischen Integration, wie sogleich anzudeuten ist. Zunächst ist aber festzuhalten: Die funktionelle Richtigkeit einer strikten Rechtsprechung zur Durchsetzung von Diskriminierungsverboten gehört im Übrigen im Rahmen der Verfassungsvergleichung zum Ertrag der amerikanischen Verfassungsjudikatur der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges, die noch nicht von späteren Zweifeln an ihrem Erfolg gebrochen und von einer gegenläufigen Praxis abgedämpft war. Dabei hat eine solche Judikatur noch mehr für sich, wenn es um Diskriminierungen in der Reichweite auch personal, nicht nur kollektiv geprägter Freiheitsrechte geht, wie die Religionsfreiheit eines ist. V. Preferred Freedoms? Die Rechtsprechung hat in den Vereinigten Staaten versucht, die aktive Rolle, die sie in der Durchsetzung von Grundrechten und insbesondere Diskriminierungsverboten beansprucht hat, zu rechtfertigen. Dabei spielt zunächst die Lehre von den „preferred freedoms“ eine Rolle, d. h. die Sicht, nach der eine dichte Kontrolle durch die Gerichte besonders dann angezeigt ist, wenn es sich um essentielle, für die demokratische Ordnung unerlässliche Freiheiten handelt.37 Diese Rechtsprechung ist im Übrigen früh vom Bundesverfassungsgericht jedenfalls in ihrem Ansatz rezipiert worden.38 Hinzu kommt die Recht36 Dennoch bedarf auch die Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten des vergleichenden Verfassungsrechts, dazu demnächst R. Brinktrine, Rechtsvergleichung als Argumentationsfigur in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Supreme Court der Vereinigten Staaten. 37 Dazu früher Ch. Stalder, „Preferred Freedoms“ – Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu anderen Grundrechten – eine rechtsvergleichende Darstellung der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court u. des schweizerischen Bundesgerichts, 1977; E. Klein, Preferred Freedoms-Doktrin und deutsches Verfassungsrecht, in: ders. et al. (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung u. Verfassungsgerichtsbarkeit, FS f. E. Benda zum 70. Geb., 1995, S. 135 ff.; auch zum Wahlrecht, K. Hopt, Die Dritte Gewalt als politischer Faktor, 1969; historisch H. Gillman, Preferred Freedoms: The Progressive Expansion of State Power and the Rise of the Modern Civil Liberties Jurisprudence, in: 47 Political Research Quarterly 523 seq. (1994); aktuell M. Tushnet, Weak-Form Judicial Review and „Core“ Civil Liberties, in: 41 Harvard Civil Rights Civil Liberties Law Review, 1 seq. (2006). 38 BVerfGE 7, 198 ff. (205 ff., 208) mit Zitat aus Palko v. Connecticut 302 U.S. 319, 327 (1937), Cardozo, J.; zu dieser Entscheidung die Beiträge in: T. Henne/ A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts)hist. Sicht, 2005; richtig beobachtet nun wohl Th. Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2006, S. 88 f., 140 f. Fn. 588,

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sprechung, die diesen Ansatz erstreckt auf Fälle der Diskriminierung, so dass eine strikte Kontrolle auch in Fällen der Diskriminierung jeder Art Platz greift.39 Diese Rechtsprechung hat auch die Gleichheitsjudikatur auf dieser Seite des Atlantik beeinflusst. Das gilt nicht nur für das Verhalten nationaler Gerichte, sondern auch für die Entwicklung der europäischen und der nationalen Gesetzgebung. Schließlich hat auch Deutschland ein allgemeines Antidiskriminierungsrecht auf der Basis europäischer Anforderungen verabschiedet und in Kraft gesetzt.40 VI. Europäische Agenda In Europa tritt nun hinzu: Die europäische Ebene ist schließlich nicht nur wegen jener Anforderungen in der Sache, sondern auch in funktionelle Betrachtungen einzubeziehen. Die in diesem Rahmen gewandelte Rolle der Gerichte mag nämlich hier einen weiteren Hintergrund haben, der nicht zu übersehen ist. Er wird durch das europäische Recht geprägt. Dies gilt unabhängig davon, ob es als Völkerrecht oder mit Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht auftritt.41 Denn jedenfalls das Recht der europäischen Integration ist einerseits in der Sache, insbesondere dank der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit wirksamen Diskriminierungsverboten, geprägt und andererseits dadurch durchsetzungsstark, dass die Gerichte gehalten sind, seine Anwendung sicherzustellen. Dies wandelt latent auch deren funktionelle Stellung, wenn es um Materien geht, die grenzüberschreitend von Bedeutung sind und deren politische Umsetzung verzögert wird. Beides ist in Sachen der Fall, die das Religionsrecht betreffen, man denke nur an die europäische Rechtsprechung zum Lehrpersonal in dass das Gericht die Doktrin, was die Sachaufklärung angeht, nicht wirklich übernommen hat, sie allerdings materiell im Rahmen der Wechselwirkung von Grundrechten und anderen Gütern nutzt; zum entgegengesetzten Ergebnis kommt hingegen etwa M. Hochhuth, Die Meinungsfreiheit im System des Grundgesetzes, 2007, S. 163 ff., 183 f. 39 Vgl. mit Bezug auf religiöse Minderheiten die berühmte footnote 4 von Richter Stone im Falle United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 152–153 n. 4 (1938); dazu L. H. Tribe, American Constitutional Law, 2nd Ed. 1988, p. 1452 u. passim; auch ders., American Constitutional Law, Vol. I, 3d Ed. 2000, p. 424, 1052, 1282 u. 1362. 40 Vgl. den Nachweis der Gesetzgebung, Anm. 25. 41 Dazu F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, 2003, S. 266 ff. für das EU-Recht; hinzu kommt inzwischen verstärkt die Verfassungsvergleichung, neben der konventionskonformen Auslegung im Rahmen der EMRK: zu ersterer R. Brinktrine (Anm. 36), passim; sowie Th. Rensmann (Anm. 38), S. 310 ff.; sowie inventiv P. Häberle, Die Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 27 ff.; zur finalitätsorientierten funktionellen Auslegung exemplarisch im Europarecht A. Hesse, Kultur im europäischen Gemeinschaftsrecht u. in der Europäischen Verfassung, in: K. Stern (Hrsg.), Die Bedeutung des Europäischen Rechts für den nationalen Rundfunk, 2007, S. 29 ff. (32).

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Schulen und den begleitenden Diskriminierungsschutz, den migrante Arbeitnehmer in der Europäischen Union erhalten. Was die Fallkonstellationen vor Gericht angeht, so ist es ein Leichtes, entsprechende Lagen zu präsentieren und eine Inländerdiskriminierung kann in religionsrechtlich sensiblen Bereichen kaum hingenommen werden. Zwar hat die europäische Rechtsprechung zur Religionsfreiheit keineswegs die Tendenz, nationales Staatskirchenrecht als solches in Frage zu stellen, aber die Religionsfreiheit – wie sie in den europäischen Konventionen und Erklärungen zu finden ist – bewirkt in dieser Judikatur, dass das jeweilige Staatskirchenrecht immer weniger dazu dienen kann, Unterscheidungen zu rechtfertigen, die diskriminierende Wirkung haben.42 Auch nationale Diskriminierungsverbote besitzen infolgedessen eine ganz andere Strenge als bisher. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn Gerichte Diskriminierungsverbote in der Sache heranziehen und dies in einer Weise, die die dritte Gewalt nach bisherigem Verständnis aus ihrer funktionellen Rolle fallen lässt. Das gilt inzwischen selbst dann, wenn Diskriminierungsverbote des Völkervertragsrechts in Rede stehen, die prima vista keinen Anwendungsvorrang besitzen. Denn die harmonisierende Auslegung des europäischen Rechts, gerade soweit Grundrechte betroffen sind, lässt sie – und dies jedenfalls gewiss im Bereich der Gleichheitsrechte – am Durchgriff in das nationale Recht teilhaben. VII. Diskriminierung und Verfahren Das gilt jedenfalls, wenn man die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Einwirkung der EMRK auf das Grundgesetz und die Möglichkeiten, Verstöße auf diesem Feld zu rügen, einbezieht. Denn danach steht in solchen Fällen bei Verstößen gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK über Art. 2 Abs. 1 GG die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung.43 An religiös bedingte Verhaltensweisen anknüpfende Diskriminierungen sind gleichermaßen erfasst und liegen nicht anders. Hinzu kommt außerdem die Ebene des Rechts der europäischen Integration: Es ist inzwischen unverkennbar, dass hinter dem Kompetenzgehalt des Art. 13 EGV ein allgemeiner Grundsatz des Schutzes vor Diskriminierungen steht, der die Kompetenznorm veranlasst, auf deren Ermächtigung die Antidiskriminierungspolitik der Europäischen Union ruht.44 Hinzu tritt die Umsetzung der 42 Dazu zuletzt M. Söbbecke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union, 2006; auch etwa Ch. Walter, Religion und Recht der Europäischen Union, in: A. Zimmermann (Hrsg.), Religion und Internationales Recht, 2006, S. 207 ff. 43 BVerfGE 111, 307 ff. (328 ff.). 44 Dazu generell die Kommentierung zu Art. 13 EGV v. A. Epiney in: C. Calliess/ M. Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002; und insbes. S. Bouchouaf/T. Richter, Reichweite und Grenzen des Art. 13 EGV – unmittelbar anwendbares Diskriminierungsverbot oder lediglich Kompetenznorm?, in: JURA 2006, S. 651 ff.; zu Men-

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Richtlinien in den Mitgliedstaaten, die ihrerseits nicht wiederum auf normativer oder administrativer Ebene in Frage gestellt werden kann. Zweifelhaft könnte nur noch sein, welche Reichweite dieser Diskriminierungsschutz hat. Er könnte vor einer deutschen verbeamteten Lehrerin Halt machen, wenn ihr Beschäftigungsverhältnis außerhalb des Rechtskreises des Rechts der Europäischen Union steht. Dies ist eine Frage der Bereichsausnahme des Art. 39 Abs. 4 EGV. Sie aber ist restriktiv zu interpretieren.45 Daher wäre eine Anwendung der Bereichsausnahme ohne weitere hinzutretende Kriterien, die für streng hoheitliches Handeln sprächen, fragwürdig. Ebenso wenig kann von einer zulässigen Inländerdiskriminierung ausgegangen werden. Denn die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union wollte diese Hintertür gerade schließen.46 Auch für Beschäftigung und Beruf im Allgemeinen im Verhältnis zwischen Staat und Bürger sollten Diskriminierungen erfasst sein, so dass selbst auf diesem Gebiet nicht nur eine Verfassungsbeschwerde gemäß der nationalen Rechtsprechung möglich ist, sondern auch eine Vorlage von Amts wegen nach Art. 234 Abs. 2 und 3 EGV. VIII. Vorlagen in den Grenzen angemessener Auslegung Neben diesem Weg ist die Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz gangbar. Offen ist augenblicklich, ob sie auch gangbar ist wegen Verstoßes gegen Recht und Gesetz im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG, wenn nach Überzeugung des Gerichts gegen Art. 14 EMRK verstoßen wurde, entsprechend der Verfassungsbeschwerde auf der Basis von Art. 2 Abs. 1 GG. Einschlägiger erscheint immer noch Art. 100 Abs. 2 GG, des Verstoßes gegen Völkerrecht und der Unklarheiten in Ansehung von dessen Reichweite wegen. Daneben steht die unter weniger strengen Voraussetzungen mögliche Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 2 und 3 EGV, die möglich ist, wenn gegen europäisches Integrationsrecht verstoßen, dieses unzutreffend oder unzureichend umgesetzt wurde. Ein Gericht letzter Instanz hat gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV vorzulegen. Dieser Gedanke liegt dann nahe, wenn hinter Art. 13 EGV ein allgemeines Dis-

schenrechten und Altersdiskriminierung in der EU jetzt spezieller EuGH, Urt. v. 27.6.2006 – Rs. C 540/03 – Europ. Parlament ./. Rat der EU, abgedr. in: JZ 2007, S. 39 ff. mit Anm. v. S. Bouchouaf, G. Britz u. T. Richter. 45 Dazu die Nachweise bei W. Brechmann, in: C. Calliess/M. Ruffert, a. a. O., Rn. 99 ff. zu Art. 39 EGV. 46 A. Epiney in: C. Calliess/M. Ruffert, a. a. O., Rn. 10, 9 zu Art. 13 EGV.

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kriminierungsverbot steht, das letztlich an die Unionsbürgerschaft angelehnt ist47 und ausdrücklich auch religionsbezogene Diskriminierung erfasst. Außerdem kommt eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK wegen Verstoßes nicht gegen Art. 9 Abs. 1 EMRK, aber gegen Art. 14 EMRK, in Betracht. Im Cannstatter „Kopftuch“-Fall, der vielleicht gar keiner ist, da es sich nicht um ein eindeutig als „Kopftuch“ zu deutendes Stück Bedeckung handelt, sind also auch nach einer ersten Entscheidung in Mannheim noch mehrere Wege offen, auch die nach Luxemburg und nach Straßburg. Läge es so, dass nur ein Mäßigungsgebot und eine auf dieses gestützte Verfügung vorläge, so bliebe der Fall wohl ein Fall der Diskriminierung, da Nonnen in Baden-Württemberg in vollem Habit lehren dürfen. Anders wäre es nur, wenn ein laizistisches oder auf die bloß abstrakte Gefahrenlage gestütztes gänzliches Verbot im Sinne des Bundesverwaltungsgerichts48 vorläge. Dann wäre wohl ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG abzuklären. Unterhalb dieser Schwelle findet sich das Lager, das ein punktuelles Verbot allein für möglich hält. Ein solches Verbot ist auf den Fall der konkreten Gefahr der Störung des Betriebs und des Friedens in der Einrichtung beschränkt. Neulich hat ein Richter des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim in einer Publikation unternommen, die jetzige baden-württembergische Regelung dahin auszulegen49. Dies scheint indes zu weit zu gehen. Man mag in der Gleichstellung aller Religionen und Weltanschauungen gemäß der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2004 noch einen Akt der Normergänzung sehen. Jedenfalls aber würde eine vollkommene Individualisierung der Praxis der Anwendung der Norm – wie sie dieser Richter vorschlägt – sich gegen die Norm schlechthin wenden, wäre also eine Auslegung contra legem, die – ist sie allein aus Gründen höheren Rechts vertretbar – in Vorlage- oder Vorabentscheidungsverfahren würde münden müssen. IX. Ein liberales Gesetz aus Bayern? Von Interesse ist allerdings, wie sich die Dinge darstellen, wo das Land durch parlamentarisch verabschiedete Normen generalpräventive Verbote ausgesprochen hat. Dies ist in Bayern der Fall. Dort hat vor Kurzem der Verfassungs47 Zur Bedeutung des Diskriminierungsverbots im Kontext der Unionsbürgerschaft Ch. Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 381 ff., allerdings ohne Bezug auf Art. 13 EGV; S. M. Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, 2006, S. 559 ff.; jetzt F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S. 197 ff., 336 ff.; vgl. auch die Beobachtung v. W. Kahl (Anm. 1), S. 589 ff. m. z. Nachw. 48 Vgl. BVerwGE 121, 140 ff. (146 ff.). 49 Vgl. J. Bader, Gleichbehandlung von Kopftuch und Nonnenhabit, in: NVwZ 2006, S. 1333 ff.

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gerichtshof eine derartige Norm für verfassungskonform erklärt.50 Zugleich machte er allerdings interessante Vorbehalte. Das Gericht führt nämlich aus, dass die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vollzugsmaßnahmen in erster Linie Sache der Fachgerichte sei. Damit hält das Gericht die Praxis offen. So soll es etwa in Bayern nach dem Ausscheiden einer Lehrerin mit einem Zeitarbeitsvertrag z. Zt. noch einen Fall geben, der sich dadurch auszeichnet, dass die betreffende muslimische Lehrerin das Kopftuch in der Schule durch einen Hut ersetzt, mithin beide Seiten, die Schulverwaltung und das Lehrpersonal, Spielräume öffnen.51 Die Öffnung in der Praxis ist nicht erstaunlich. Denn die Anwendung der Normen muss ermöglichen, soziale Prozesse der Anpassung in den Normbereich einzubeziehen und das Normprogramm dafür offen zu halten. Ein tieferes Verständnis solcher Vorgänge und der sich daraus ergebenden fortbildenden Interpretation von Rechtssätzen ermöglichen die Arbeiten von Friedrich Müller52 und auch die Theorie der offenen Norm wie die Lehren der Auslegung im Lichte der Verfassung, die sein Lehrer Konrad Hesse vertrat53. Die Offenheit der Normen hat im Übrigen dazu verholfen, die Verfassung selbst fortzubilden. So hat sich etwa im hier interessanten Zusammenhang der Weg von einer konfessionell-christlichen bzw. konfessions-christlichen hin zu 50 Vgl. BayVerfGH, E. v. 15.1.2007 – AktZ Vf. 11-VII-05 – in: BayVBl. 2007, 235 ff. 51 Vgl. dazu Ch. Rath, Muslimische Lehrerin muss weiter Hut tragen, in: die tageszeitung v. 16.1.2007, S. 7; zudem hat diese Seite betont, dass ein Abstellen auf „verständige Betrachter“ bei der Würdigung der Wirkung von Kleidung in der Schule – so der Bayerische Verfassungsgerichtshof zu Art. 59 Abs. 2 Satz 3 und 5 des BayEUG gemäß dem Änderungsgesetz v. 23.11.2004 (GVBl. S. 443, Nr. 21) – und sicher auch auf verständige Eltern dazu führt, zu sehen, in welchem Maße sich eine Muslima als Lehrerin, die ihre Ausbildung durchlaufen hat, für eine solche Betrachtung noch als Opfer verstehen lässt, wie sie sich in etwaigen Konflikten verhält und welches Entgegenkommen sie erwarten lässt, vgl. ders., „Trotz Gerichtsurteil: Das Bayerische ,Kopftuch-Gesetz‘ ist liberal – Offen für Pluralismus“, a. a. O., S. 11; zu diesem Gesetz vergleichend H. Wißmann, Religiöse Symbole im öffentlichen Dienst – Kritik der Kopftuchrechtsprechung und Kopftuchgesetzgebung, in: ZevKR 52 (2007), 51 ff. (62 ff.); dabei zeigt sich auch die erreichte rechtliche Durchdringung des Dienstverhältnisses wie der Anstalt „Schule“, die nicht mehr erlaubt, die Lehrperson ihrer Grundrechte zu entkleiden – es also mithin nur auf das Maß ihrer Ausübung ankommen kann, grundsätzlich i. Ü. F. Rottmann, Der Beamte als Staatsbürger, 1981; ders., Der Vorbehalt des Gesetzes und die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, in: EuGRZ 1985, S. 277 ff.; in NRW scheint ein Ausweichen auf Baskenmützen nicht zu genügen, vgl. ArbG Düsseldorf, Urt. v. 29.06.2007 – 12 CA 175/05 –; dann werden Perücken unvermeidlich, J. Gerlach, Der Krampf um das Tuch, in: DIE ZEIT Nr. 29 v. 12.07.2007, S. 67; die Auslegung der ArbG in NRW scheint verfehlt, wenn nicht bes. Umstände hinzukommen; zur Auslegung H. Goerlich, in: JöR 55 (n. F.) (2007), S. 73 ff. (90 ff.). 52 Vgl. präsent jetzt in der oben (Anm. 29) genannten Fassung v. F. Müller u. R. Christensen; vgl. aber schon F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966. 53 Vgl. etwa seit der ersten Auflage 1967 K. Hesse (Anm. 34), Rn. 36 ff., 60 ff.

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einer kultur-christlichen Bindung der Schulbildung unter dem Regime der Landesverfassungen vollzogen, über solche Einrichtungen wie die badische Simultan-Schule im deutschen Südwesten. Daher stehen heute kulturelle Grundsätze an der Stelle, an der früher Bekenntnisse standen. Das ist der Hintergrund, weshalb die Simultan-Schule eine geringere Schwelle zu übertreten abverlangt, als etwa das obligatorische Schulgebet. Das Schulgebet wird wohl immer Bekenntnisakt bleiben müssen; deswegen wird es einerseits heute nicht mehr gepflegt, andererseits ist es auch verfassungsrechtlich kaum mehr zu halten, weil Minderheiten hier in einer säkularen Welt nach unserem heutigen Verständnis im Kontext eines solchen Gebets nicht hinreichend vor Diskriminierung zu schützen sind.54 Es ist allerdings die Frage, ob kulturell-ethische – bisher betont „abendländisch“ verstandene – Grundsätze, etwa der Gewaltlosigkeit, Solidarität und Toleranz in einer Gesellschaft nicht auch aus anderen Traditionen zu speisen sind, also etwa denen aller drei verschwisterten Schriftreligionen, aber auch denjenigen asiatischer religiöser und philosophischer Traditionen – wenn nicht im Sinne eines wie immer gearteten „Weltethos“, dann jedenfalls aber doch im Sinne einer Erschließung solcher Maximen, die zur Lehre sich eignen und den kultur-christlichen Überlieferungen weithin entsprechen, ähnlich wie heute Gemeinsamkeiten dieser Traditionen als Grundlage universal geltender Menschenrechte sich erschließen lassen.55 Dies würde im vorliegenden Zusammenhang bedeuten, dass nicht nur die Anwendung der Norm im Vollzug, die weithin den Fachgerichten überantwortet ist, sondern auch die verfassungsrechtliche Grundlage dieser Norm sich verändern kann. Dies würde dann auf die Deutung schon des einfachen Rechts, nicht nur des Einzelaktes durchschlagen. Die Grenzlinien würden sich verschieben. Wesentliche Funktion der Norm wäre dann offensichtlicher als jetzt das, was schon jetzt für alle Strömungen in Religion und Weltanschauung gilt: Fundamentalismen sind es, die fernzuhalten sind, nicht Religionen und Weltanschauungen, die selbst sich der Fundamentalismen enthalten, auch wenn sie alle zeitweilig dazu dienten oder dienen, diese zu rechtfertigen. Es geht also um Varianten an sich freiheitsbewehrt lebender Glaubenstraditionen, die in solche Sackgassen geraten sind. Die Vorgehensweise des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes schließt auch eine derartige Entwicklung auf der Ebene der Interpretation der Verfassungsnormen nicht aus. Öffnet sich das, was er „Wertordnung“ nennt, einer solchen Perspektive, so wird eine breitere Basis möglich. Sie könnte nicht nur die schon genannten verschwisterten Schriftreligionen, sondern auch andere Traditionen einbeziehen, soweit ihre Maximen Näherungen in ihren kulturellen und ethi54 Darin liegt der Unterschied zwischen einerseits BVerfGE 41, 29 ff. sowie 41, 65 ff. und andererseits BVerfGE 51, 223 ff. 55 Vgl. dazu die Hinweise bei H. Goerlich (Anm. 18), bei und in Fn. 16.

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schen Aussagen ergeben.56 Ausgegrenzt bliebe nur ein abweichendes Verhalten, das engere eigene Vorstellungen zum verbindlichen und unausweichlichen Maßstab macht und etwa auch Symbole nutzt, um dies zum Ausdruck zu bringen. X. Schlussbemerkung Die Rechtsprechung hält an der positiven Religionsfreiheit im öffentlichen Raum fest, vermag dies aber nur zu bewerkstelligen, indem sie im Interesse der Integration einer gewandelten Gesellschaft unter einer freien Verfassung von strikter Parität für alle Religionen ausgeht. Damit sucht sie mit der für den judiziellen Prozess typischen und in der Sache gebotenen Zögerlichkeit zu erreichen, was der Politik aufgegeben wäre, diese aber zur Zeit nicht leistet. Für die Methodik und für das Gebiet „Staatskirchenrecht“ ist die gewandelte und europäisch gewendete Rolle der Rechtsprechung von großem Interesse. Die Methodik muss in noch stärkerem Maße als bisher offene Normen zugrunde legen, die in ihrer „Zielführung“ neuen Konflikten gegenüber leistungsfähig sind. Das Staatskirchenrecht muss zwar nicht seine Beseitigung fürchten, aber seine Begleitung durch ein allgemeines europäisches, diskriminierungsfreies „Religionsrecht“ scheint ausgemacht. Daraus ergibt sich aber nicht etwa ein europäisches Staatskirchenrecht, sondern allenfalls eine Europäisierung des jeweiligen „Staatskirchenrechts“. Die funktionelle Stellung der Gerichte im Kontext der europäischen Integration unter diesen Bedingungen hat sich verändert. Diese Veränderung wird fortbestehen, soweit es um Diskriminierungsverbote geht. Mit einer stärkeren Demokratisierung der Europäischen Union wird sie sich indes wieder auf ein angepasstes Maß beschränken. Dies gilt auch, wenn die jeweilige nationale oder regionale Ebene ihre demokratisch unmittelbar begründete Verantwortung in deutlicherem Umfange und rechtlich haltbarer Weise wahrnimmt, um die erforderliche soziale Integration von Minderheiten zu gewährleisten. Sie ist das aufgegebene Ziel, nicht das Kopftuchverbot, das oft nur ein leidiges Instrument einer nur symbolischen Politik ist, die mit diesem Mittel allenfalls die Oberfläche der Dinge streift. Die soziale Integration als allgemeines Ziel einer jeden Gesellschaft um ihrer Stabilität willen ist unabhängig vom europäischen Hintergrund immer etwas, 56 In diesem Sinne sucht nun Th. Rensmann (Anm. 38), mit dem Untertitel „Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung“, das „menschenrechtliche Wertsystem“ der internationalen Gemeinschaft der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu unterlegen – ein Unternehmen, das die Steigerung der Universalität von Standards zu Recht zum Ausgangspunkt macht, ohne dass hier auf Folgerungen einzugehen ist, vgl. aber meine Rezension in JZ 2007, S. 627 f.; aus einer anderen Perspektive M. Kotzur, Soziale Gerechtigkeit im Weltmaßstab – Fragen und Herausforderungen an das Völkerrecht, in: D. Klesczewski/St. Müller/F. Neuhaus (Hrsg.), Die Idee des Sozialstaates, in: fundamenta iuris, Schriftenreihe des Leipziger Instituts für Grundlagen des Rechts, Bd. 4, 2006, S. 63 ff.

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was die Gerichte aufgreifen, folgen sie dieser gewissermaßen natürlichen Tendenz. Dabei sind oft stabilere, gewissermaßen noch bodenständige Gesellschaften zugleich diejenigen, die es leichter haben mit einem derartigen Unterfangen. Aber die Gerichte können bei der Anwendung des Rechts auf alle Fälle in der Aufbereitung des Sachverhaltes und der Konkretisierung der Normen derartige Ziele einbeziehen. Sie werden dies umso mehr tun, je stärker eine populistische Politik die realen Probleme ausblendet. Dann kommt es darauf an, wieder auf die Sachfragen hinzuführen, die es vor allem zu bewältigen gilt. Dabei können sich auch sozialverträgliche und rechtlich tragbare Antworten auf solche meist an der Oberfläche von der Politik aufgeworfenen Fragen ergeben.

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I. Im Grunde liefe doch eigentlich alles recht gut. In etwa so lautet – die Vermutung hat nichts Gewagtes – die regelmäßig unausgesprochene Rechtfertigung der Juristen. Voran die der Praktiker. Doch die Theoretiker des Rechts stehen ihnen kaum nach. Indessen: Im Grunde läuft nichts. Es tut nur so. Wir haben eine Rechtspraxis und Rechtswissenschaft des „Als ob“. Als ob eigentlich alles funktioniere. Doch der Jargon der Eigentlichkeil ist hier so verfehlt wie anderswo. Denn im Grunde, am Grunde, da unten, wo alles – wie man meinen möchte – drauf ruht oder ruhen sollte, dort ist gerade kein fester Boden. Das Haus des Rechts hat keine festen Fundamente. Das haben – zumindest in zweiter Linie – die Juristen selbst zu verantworten. Sofern es denn überhaupt zu verantworten ist. Doch gegebenenfalls wären gerade sie hierzu am allerschlechtesten gerüstet. Wie auch immer. Auf alle Fälle ist der Ort, von woher die Juristen bislang ihre common-sense-Ansichten, ihre alteuropäischen Ontologien, gar Mythologien und vor allem Paradoxien, kurz: ihr gesamtes Weltbild beziehen, dieses Weltbildhaus1, in dem sie sich so sicher eingenistet wähnen, ist längst schon abbruchreif. Seine Möbel gehören auf den Sperrmüll. Architekten und Baumeister für einen Sanierungsplan und dessen Realisierung sowie Designer für dessen Innenausstattung stehen bereit. Doch niemand ruft sie. Richtern und Rechtswissenschaftlern ist gemeinhin nicht einmal bekannt, dass es sie gibt. Sogar auf der Metaebene, mithin der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Juristischen Methodenlehre kennt man bestenfalls einige Namen. Selbst bei einem Mann wie Arthur Kaufmann, der wie wenige sonst weiterdachte, taucht einer der ganz Großen gelegentlich mitunter lediglich in einem Nebensatz auf, wo von der Systemtheorie gesagt wird, durch sie habe „Niklas Luhmann die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt“.2 1 Diese para-doxe Metapher verdanken wir dem herrlich inspirierten Buch von Peter Fuchs: Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne. Sozialphilosophische Vorlesungen, Konstanz 2001. 2 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges, Frankfurt am Main 1972, 372. Das war zu einer Zeit, als das rechtstheoretische Hauptwerk

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Und was ist aus der – contra faktisch unterstellt – aufmerksamen Lektüre seiner Schriften geworden? Am Ende faktisch nicht viel mehr als nichts. Eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen: Udo Di Fabio hat „Luhmann im Recht“ eine detaillierte Betrachtung gewidmet und damit zugleich der „juristische(n) Rezeption soziologischer Beobachtung“ des Rechtssystems. Der Aufsatz leidet allerdings ein wenig darunter, dass Di Fabio durchaus schwankt in der Einschätzung Luhmanns, der „hier und dort den juristischen Verstand (überfordert)“.3 Doch das kann ja auch an dem Verstand liegen. Vor vielen Jahren habe ich Luhmann einmal gefragt, warum er denn um Himmels Willen nicht weniger kompliziert schreibe. Bevor er antworten konnte, fuhr Gadamer flink dazwischen: „Er kann es nicht. Und Habermas kann es schon gar nicht“. Heute schäme ich mich meiner Frage. Luhmanns gelassene Antwort: „Die Dinge sind so kompliziert“. Mit Thomas Bernhards schöner Parodie gesagt: „Einfach kompliziert“.4 Und sie werden noch komplizierter, wenn man alles Mögliche und Unmögliche anstellt, nur um zu verschleiern, „daß das Gericht das Recht selbst ,schafft‘, das es ,anwendet‘“.5 Stattdessen beharren die Juristen auf dem tradierten Mythos des Gegebenen, des Vorgegebenen. Und das gleich zweimal. Denn sie glauben zum einen an die Mär des immer schon feststehenden Sachverhalts, den sie nur noch festzustellen hätten. Und sie huldigen obendrein dem hehren Glauben – es ist ihr Irrglaube par exzellence –, das Recht stehe zumindest normalerweise, also immer dann, wenn das Gesetz keine Lücke aufweise oder aus anderen Gründen ergänzungsbedürftig sei, das im konkreten Fall anzuwendende Recht mithin stecke in den Paragraphen. Dort müsse man es nur herausholen. Doch von alledem stimmt kein einziges Wort. Es gleichwohl noch immer – und immer wieder – zu behaupten, ist angesichts der vorliegenden und fast bis zum Überdruss ausgebreiteten Gegenbeweise entweder der Ausdruck naiver Unbedarftheit oder schlicht bewusster Schwindel. Als gebräuchlichstes TäuLuhmanns „Das Recht der Gesellschaft“ (1993) noch nicht erschienen war. Auch danach ließ Kaufmann an Luhmann freilich wenig Gutes. „Zu vermeiden sei (ergänze: bei einer rechtsphilosophischen Neubesinnung) . . . das Extrem des Funktionalismus im Sinne von Niklas Luhmann . . .“. So in dem Sammelband: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfried Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidelberg 2004, 15. An anderer Stelle wird von der „funktionalistische(n) Rechtsauffassung, wie sie vor allem Niklas Luhmann vertritt“, gesagt, dass sie „in eine Sackgasse führt“ (83). Von dieser engen Sicht frei ist dagegen der zweite Mitherausgeber, Wilfried Hassemer. Vergleiche dessen Beitrag: Rechtssystem und Kodifikation. Die Bindung des Richters an das Gesetz, 251 ff. 3 Udo Di Fabio, Luhmann im Recht. Die juristische Rezeption soziologischer Betrachtung, in: Helga Gripp-Hagelstange (Hrsg.), Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen, Konstanz 2000, 139 ff. (143). 4 Thomas Bernhard, Einfach kompliziert, Frankfurt am Main 1986. 5 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, 306.

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schungsmittel „dient (vor allem) die Stilisierung der Gerichtsentscheidung ,als Erkenntnis‘ des Rechts – und selbst die Rechtsquellenlehre stellt die Rechtsquellen noch als Erkenntnisquellen dar . . .“6 Es gibt jedoch nichts zu erkennen. Nur zu entscheiden. Indessen, Entscheidungen ihrerseits „gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur Unentschiedenes!) vorliegt. Denn anderenfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müsste nur noch ,erkannt‘ werden“. Dazu Luhmann wörtlich: „Also ein Paradox“.7 II. Es ist nicht das einzige, mit dem keineswegs nur Juristen sich herumschlagen. Nur einige wenige der zahlreichen Paradoxien, die aber gerade ihnen besonders Kopfzerbrechen bereiten müssten, werde ich thematisieren. Es geht nicht zuletzt wieder einmal um den Willen im Recht. Diesmal um eine dem Anschein nach jeweils im tiefsten Inneren eines Vertragspartners oder im Straftäter verborgene, tatsächlich aber mehr als nur auch offen zu Tage liegende sogenannte innerseelische Entität. Wie denn nun: drinnen oder draußen? Doch diese Frage verfehlt gerade die Paradoxie des „Drinnen und Draußen“. Nicht von ungefähr ist es ein Schüler Luhmanns – wäre jener Kunstprofessor gewesen, sprächen wir von einem Meisterschüler, ich rede von Peter Fuchs –, keineswegs zufällig also war es dieser Fuchs, der uns die „Studien zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“8 beschert hat. Nicht allein für den Alltagsverstand der Mainstreamjuristen eine schöne Bescherung. Dabei ist es im Kern gar nicht so schrecklich neu. Auch der von ferne grüßende Peter Handke ist nicht der erste, der darauf kam.9 Oscar Wilde war es, der schrieb – und auch er hatte gewiß Vorgänger –: „It is only shallow people who do not judge by appearances. The true mystery of the world is the visible, not the invisible . . .“10 Und ausgerechnet ein Psychiater, angeblich der Fachmann fürs (kranke) Innere, setzte Wildes Diktum als Motto über eine seiner Arbeiten. Auf deutsch liest sich das dann so: „Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare und nicht das Unsichtbare“.11 6

Luhmann, Recht (FN 5), 306. Luhmann, Recht (FN 5), 308. 8 So der Untertitel. Der Haupttitel heißt: Die Psyche, Weilerswist 2005. 9 Siehe Peter Handke, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt am Main 1969. 10 Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray, Pinguin classics, London 1985, 45. 11 Rainer Luthe, Verantwortlichkeit, Persönlichkeit und Erleben. Eine psychiatrische Untersuchung. Mit einem Vorwort von H. Witter, in: Beiträge zur Psychopathologie, Bd. 1, 71 ff. 7

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Juristen sind Geheimniskrämer anderer Provenienz. Doch ehe sie mit ihren Geheimnissen schwunghaften Handel treiben, ihre geheimnisvollen Schriften verbreiten, das heißt, vor dem Kramen kommt das Graben. So treiben sie unverdrossen ihre Stollen in das Innere der Wörter und Texte. Da unten, da drinnen ruht der Schatz: die Bedeutung des Wortes, sein Sinn. Die Sinnhuberei ist das Vermächtnis einer ontologiegesättigten Hermeneutik. Irgendwann wurde deren Vertretern zwar mal klar – zumindest bei einigen muss man das zu ihren Gunsten unterstellen –, dass sie es selbst sind, die das Päckchen erst schnüren, um es hernach, gleichsam als Entfesselungskünstler versteckter Sinnentitäten, geduldig wieder aufzudröseln. Leider kann niemand gezwungen werden, seinen besseren Einsichten zu folgen. Stattdessen „hielt die Hermeneutik an der Idee fest, sie habe die Oberfläche eines Objektes (eines Textes) . . . zu durchdringen, um in einer Tiefenschicht wahrheitsfündig zu werden“.12 Doch fündig würden die Hermeneutiker jeglicher Couleur bei Peter Fuchs13, der ihnen allen das Geheimnis des Sinnes lüftet. Dazu bedarf er keiner Tiefe, um dort herumzustochern. Nun kommt ja sinnvollerweise niemand auf die Idee, Sinn zu leugnen. Auch Peter Fuchs natürlich nicht. Selbst die, die modebewusst stets und ständig von Sinnverlust reden, machen solchermaßen noch von ihm Gebrauch. Der Sinn geistert sogar durch unser aller tägliche Rede. So seit geraumer Zeit schon namentlich in neudeutschen Verlautbarungen wie: „Das macht Sinn“. Oder eben gerade keinen. Sinn gehört aber vor allem zu den Schlüsselbegriffen der Systemtheorie à la Luhmann.14 Ohne die geringste Übertreibung darf man ihn den Grundbegriff dieser Theorie nennen.15 Sinn ist gleichermaßen konstitutiv für soziale wie psychische Systeme. Also alle diejenigen, die für uns von Interesse sind. Die Amöben überlassen wir getrost ihrem Schicksal und den Biologen. Sinn finden wir überall. Indessen: Wir finden ihn niemals vor. Dies nicht einzusehen, ist der Basisirrtum aller Hermeneutiker. Sinn steckt mithin auch und gerade nicht irgendwo drin. Insbesondere nicht in Texten. Anderenfalls müsste es in der Tat – wie nicht allein die Juristen wähnen – möglich sein, den Sinn im Text zu bergen, ihn ans Tageslicht zu befördern, ihn zum Vorschein zu bringen.

12 Niklas Luhmann, Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hrsg.), Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, Tübingen 1995, 9 ff. (13). 13 Auf die Belege müssen Sie noch ein wenig warten. 14 Vgl. Walter Reese-Schäfer, Niklas Luhmann zur Einführung, 4. Aufl., 2001, 37. 15 Vgl. wieder Reese-Schäfer (FN 14), 40.

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Verhielte es sich so, der Finder, der Ausbuddler, der Ans-Licht-Bringer des Sinnes brauchte doch nach getaner Arbeit, nach erfolgreicher Suchaktion nur noch zu sagen: „Hier ist der gesuchte Sinn. Seht ihn euch an, so sieht er aus“. Und alle könnten nur noch mit dem Kopfe nicken. III. Stattdessen aber streiten sie z. B. darüber, ob es den Sinn Hamlets ausmacht, „die Angst des Mannes vor der Sexualität der Frau in Szene zu setzen“.16 Oder philologische Sinnfahnder fragen nach der Bedeutung von Hamlets Vater. Ist dessen Geist gar – Harald Bloom gibt das zu bedenken – der wahre Autor des ganzen Stückes?17 Doch was uns „der Dichter sagen wollte“, der Sinn seines Stückes, ist bestenfalls der Sinn, den wir ihm geben. Aber selbst das ist noch zu viel gesagt. Sinn lässt sich weder nehmen, dem Text entnehmen, noch geben, dem Text hinzugeben. Sinn macht es lediglich, Texte zu lesen. Lediglich? Es ist alles. Sinn muss – und kann nur – „betrieben werden“.18 Oder – ein wenig anders gesagt –: „Sinn kann nicht ontologisiert werden. Er ist so wenig wie Sprache auch dann ,da‘, wenn niemand spricht, schreibt, liest, hört“.19 Das einzig Verlässliche – doch das kann auch nur einer behaupten, der zur Euphorie neigt –, das allein Verlässliche eines Textes sind seine Zeichen. Die stehen unverrückt da. Bis einer sie ausradiert oder gleich den ganzen Bogen schreddert. Nur: Die Zeichen allein tun es eben auch nicht. Aber sie tun immerhin etwas. Sie tun sogar eine ganze Menge. Mehr geht gar nicht. Sie geben uns nämlich Anlass zum Denken.20 Zum Nachdenken. Sie regen dazu an, uns Gedanken zu machen darüber, wie, zu welchem Zwecke man sie gebrauchen kann. Die Frage ist also nicht länger, welchen Sinn, welche Bedeutung sie haben. Von Quine stammt der kluge Vorschlag, die Bedeutung Bedeutung sein zu lassen. Stattdessen sollten wir vom Substantiv umstellen auf das Verb. Mithin allein noch danach fragen, was etwas bedeutet.21 Wittgenstein hatte sehr Ähnli-

16 Zu dieser und anderen angeblich möglichen Deutungen des Dramas vom Dänenprinzen vgl. Jonathan Culler, Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2002, 94. 17 Harold Bloom, Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen. Zweiter Band. Tragödien und späte Romanzen, Berlin 2000, 15 ff. (25). 18 Peter Fuchs, Der Sinn der Beobachtung. Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist 2004, 64, vgl. dazu meine Rezension in: FAZ vom 24.9.2004. 19 Fuchs, Sinn (FN 18), 64. 20 Vgl. Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin 1989, 197. 21 Vgl. Willard Van Orman Quine, Der Begriff des Gebrauchs und sein bedeutungstheoretischer Stellenwert, in: ders., Theorien und Dinge, Frankfurt am Main 1985, 61 ff.

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ches „im Sinn“, als er schrieb: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“.22 Der Rat, strenger noch, die Forderung Wittgensteins ist eindeutig: „Do’nt look for the meaning. Look for the use“.23 In letzter Konsequenz besagt dies, dass die Bedeutung „gar nichts anderes (ist) als der Gebrauch des Wortes; neben dem Gebrauch gibt es nichts anderes“.24 Aus der überlieferten Dichotomie von Wort und Bedeutung die Einheit des Gebrauchs zu machen, werden nicht wenige auch unter Paradoxie ablegen wollen. Entschlössen sich die Juristen aber endlich, sich diese sogenannten Gebrauchstheorien der Sprache zueigen zu machen, sie wären mit einem Schlage vieler Sorgen ledig. Das hieße freilich auch, ihre ihnen lieb gewordene Juristische Methodenlehre auf weite Strecken umzuschreiben. Und davor haben sie ganz offensichtlich Angst. Deshalb mögen die morschen Hermeneutikmöbel weitere Staubschichten ansetzen. Neues kommt unseren Juristen nicht in ihr Weltbildhaus.25 In der Wohnküche bleibt es kuschelig warm. Aber es bleiben auch die alten Schwierigkeiten. Darunter das für Alteuropäer unlösbare Problem, wie denn Bedeutungen oder Sinn als innertextliche Entitäten, als im Text verborgene reale Gegebenheiten (welcher Provenienz auch immer) überhaupt erkannt werden sollen. Die eleganteste Problemlösung ist und bleibt, das Problem schlicht verschwinden zu lassen. Man geht ganz einfach andere Wege, auf denen die vertrackten Probleme gar nicht erst auftauchen. Genau darin besteht die soeben kurz vorgestellte Methode von Quine und Wittgenstein. IV. Jetzt komme ich noch einmal auf das obige Zitat von Luhmann zurück. Ich hatte es nicht vollständig wiedergegeben. Diesmal zitiere ich den vorhin unterschlagenen Teil und lasse dafür die uns bereits bekannte Passage weg. Dann lesen wir von der überkommenen Hermeneutik, sie halte „an der Idee fest, sie habe die Oberfläche eines Subjekts (eines Bewusstseins) zu durchdringen, um in einer tiefen Schicht wahrheitsfündig zu werden“.26 22 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1984, 235 ff., § 43. 23 Zitiert nach Franz von Kutschera, Sprachphilosophie, München 1971, 226. 24 Kutschera, Sprachphilosophie (FN 23), 226. 25 Der vermutlich jüngste, in jeder Hinsicht umfassendste Beleg hierfür ist das 1504 (ausgeschrieben: eintausendfünfhundertundvier) Seiten starke Werk von Walter R. Schluep. Ich nenne es remarqueesk. Denn es enthält bei aller gelehrten Materialfülle nichts Neues, das alte aber auf hohem Niveau. Dies alles ohne engstirnige Verhärtungen. Mit offenen Augen, die leider nur zu wenig sehen. Das Werk heißt: Einladung zur Rechtstheorie, Bern 2006.

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Ich gestehe: Die ganze schöne Sinn-Bedeutungs-Ontologie-Hermeneutik-Geschichte habe ich nur noch einmal erzählt und mit – was den herkömmlichen juristischen Diskurs anlangt – ein paar neuen Akzenten versehen, um so eine bessere Ausgangsbasis für das Kommende zu schaffen. Denn ich weiß aus Vorlesungen, Seminaren und Übungen, aus zahlreichen Gesprächen mit Kolleginnen aus Theorie und Praxis (Rorty kennt schließlich auch nur Ironikerinnen)27: Jetzt geht es ans Eingemachte. Oder – um bei unserer Weltbildhausmetapher zu bleiben –: Diese Böden und Dielen, so morsch und brüchig sie auch sind (was natürlich bestritten wird), werden verteidigt. Bis zum letzten Splitter. Keiner rührt Omas Küchenschrank an und niemand Opas Sessel. Überall sind Zettel angeklebt, auf denen steht: „Der Sinn steht im Text. Und der Wille sitzt in der Brust des Täters“. (Den Gag mit der Täterin verkneife ich mir jetzt.) Für Sinn und Bedeutung – das steht freilich nicht mehr auf den Zetteln, wird aber auf Nachfrage gern erläutert –, für diese Art Dinge ist die Juristische Methodenlehre zuständig.28 Und um den Willen des Täters zu eruieren, bedarf es einer „psychologisierende(n) Betrachtungsweise“. So bekanntlich ausdrücklich der BGH mit Blick auf den freien Willen des von seiner versuchten Tat Zurücktretenden.29 Doch der Psychologe findet da drinnen in der Seele so wenig wie der Philologe im Text. Also nichts. Dazu verhält sich das Luhmannzitat in seiner Gänze. Also bleibt uns allein die Oberfläche. Damit wären wir dann mit dem Rest alsbald am Ende. Den Vorwurf der Oberflächlichkeit – vornehmer: des Behaviorismus – ließen wir uns gefallen. Doch ganz so schnell geht es denn doch nicht. Sinn und Bedeutung „sind“ wirklich nur „draußen“. Aber unser geliebtes Inneres bleibt uns erhalten. Nur ganz anders als wir immer meinten. Liebe und Hass, Begehren und Verzichten, das alles ist nämlich weder nur drinnen, noch lediglich draußen. Es ist – sofern es ist – drinnen und draußen.30 Wie zum Bei26

Luhmann, Dekonstruktion (FN 12), 9 ff. (13). Siehe Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989, 14 und öfter. 28 Vgl. statt aller die ewig gestrigen Weisheiten, die ungerührt und unbelehrbar Norbert Horn sich müht, unter die Leute zu bringen. In: Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 4. neubearb. Aufl., Heidelberg 2007. Horn treibt es besonders toll. Stellvertretend für viele Belege nur einer: „Die sprachlich-grammatische Auslegung geht vom Wortlaut aus, dh vom Satzbau und dem normalen Wortsinn (Sprachgebrauch), und ermittelt die Sinnstruktur nach diesem Wortsinn und den grammatischen Regeln.“ (RN 178). 29 BGH St 35, 184 ff. (187). Vgl. dazu meinen Aufsatz: Volens – nolens. Methodologische Anmerkungen zur Freiwilligkeit des Rücktritts vom unbeendeten Versuch, JZ 1989, 821 ff. 30 Ich kenne niemanden, von dem man – außer von Dichtern wie Marcel Proust – mehr lernen kann als von Peter Fuchs, wie es näherhin um diese Paradoxie bestellt ist. Seine Kunst, sie zu entfalten, sollte jeder am Original selbst verfolgen. Ein Referat beraubte sie ihres Charmes. „Die Psyche“ (vgl. FN 8) gehört für mich zur Pflichtlek27

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spiel der Wille des Täters. Falls hier von Sein oder Nichtsein überhaupt gesprochen werden kann. Auch das ist die Frage. Sie zielt auf den ontologischen Status solcher „Dinge“ wie eben Sinn bzw. Bedeutung und was es da so alles an vermeintlichen psychischen „Entitäten“ gibt. Doch diese Diskussion klammern wir heute weitestgehend aus. Ich habe mich daran früher wiederholt beteiligt und bin dabei über Wittgenstein und Fuchs schließlich unter Rückgriff auf die Geschichtenphilosophie von Wilhelm Schapp erneut zu dem Ergebnis gelangt, dass sie es sind, die Geschichten, in denen alles und wir selbst aufgehoben sind.31 Doch das ist noch nicht das letzte Wort. Gewiss: „Die Geschichte steht für den Mann“.32 Und notabene für die Frau. Alles, was sich sagen lässt, steht in den Geschichten, die wir erzählen über uns und andere. Zum Selbst des anderen wie zu unserem eigenen Selbst gelangen wir allenfalls über Geschichten. Auch davon rücke ich nicht ab. Aber es lässt sich andererseits auch nicht übersehen, dass aus den Geschichten, soweit sie von Personen handeln, immer noch ein Stück herausschaut. Das gehört nicht zur Geschichte. Oder doch nicht so ganz. Ein bisschen schon, aber eben nicht mehr. Ich meine die Bruchstücke, die jeder aus eigenen Erleben kennt, ohne sie benennen zu können. Sie sind zeichenlos und dennoch nicht nichts.33 Da haben wir erneut etwas, das wir nur paradox nennen können. Freilich, ohne, dass es uns erschreckte. V. Genau gesagt: Es schreckt uns nicht mehr. Anfangs schon. Denn wer eine „konsistente Jurisdiktion“34 anstrebt – mehr ist nicht zu haben, diese dafür aber auch unverzichtbar –, wer, sage ich, einer stimmigen Rechtsprechung das Wort türe und sollte es für jeden sein, der künftig sich zum sogenannten „inneren Sachverhalt“ äußert. 31 Vgl. Grasnick, In Fallgeschichten verstrickt. Notizen zu einer narrativen Theorie des Rechts, ZRph 2003, 192 ff. 32 Das ist das Credo, der Kernsatz aus dem Grundwerk der Geschichtenphilosophie. Siehe Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt, 4. Aufl., Frankfurt am Main, 2004, 103. Wer eine romaneske Realisierung der Theorie lesen möchte, der nehme zur Hand: Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt am Main 1964. Eine exzellente Einführung in die Philosophie seines Vaters und deren juristische Umsetzung findet der Leser bei Jan Schapp, Sein und Ort der Rechtsgebilde. Eine Untersuchung über Eigentum und Vertrag, Den Haag 1968. 33 Dazu unüberbietbar: Wittgenstein, PU (FN 22), § 304. Wittgenstein selbst spricht an dieser Stelle gleichfalls ausdrücklich von einem „Paradox“. 34 Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, Tübingen 1997. Vgl. dazu meine Besprechung in: JZ 1999, 87 f.

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redet, der wird, bis es ihm gelingt, sich auf Paradoxien einzulassen, ihr Tun und Lassen gezielt zu reflektieren, alle Widersprüche meiden, wie der Teufel das Weihwasser. Nicht ahnend, dass und wie sehr Paradoxien auch das Denken anregen können. Die Furcht aber vor ihnen kann überaus kuriose Züge annehmen und sich in konkreten Fehlentscheidungen manifestieren. Ich denke da etwa an den berühmt berüchtigten von Amts wegen bewaffneten Dieb, einen Polizeibeamten, der, zum Tatort gerufen, selbstverständlich seine Dienstpistole bei sich trägt und die Gelegenheit nutzt, aus dem aufgebrochenen Kiosk selbst eine Packung Camel mitgehen zu lassen. Ein ewiges Prüfungsthema. Schlimm für den Kandidaten, wenn er an einen Prüfer gerät, der die zutreffende Ansicht, hier liege ein Diebstahl mit Waffen gemäß § 244 I Nr. 1a StGB vor, verwirft. Und dies mit der irrigen Behauptung, „es bedeute einen Wertungswiderspruch, wenn aus einer dienstlich vorgeschriebenen Bewaffnung strafrechtlich ein Qualifikationsgrund hergeleitet werde“.35 (Anbei: Welch ein Deutsch!). Wir anderen sind uns einig: Der Vorwurf richtet sich nicht gegen das Waffentragen. Verübelt wird, dass der Bewaffnete stiehlt. Doch das sind ja Peanuts. Vermeintlich in einer ganz anderen Liga spielen dagegen diejenigen, die für die Schimäre der „Einheit der Rechtsordnung“ kämpfen und es dabei speziell um deren „Wertungskonsistenz“ der Rechtsordnung insgesamt geht. Mithin um deren „Widerspruchsfreiheit“36 und somit Paradoxielosigkeit. Wobei offenbar niemand sich zum Widerspruch herausgefordert sieht, unterstellt, es fiele ihm überhaupt auf, dass die bloße Rede von der Rechtsordnung ihrerseits im Widerspruch steht zu den Einsichten einer (weitestgehend) ontologiefreien Sprachphilosophie. Die es natürlich genauso wenig „gibt“ wie die Rechtsordnung. Oder den Klimaschutz. Oder die Menschenrechte. Das ließe sich endlos fortsetzen. Man sieht unschwer, wir geraten in trübe Gewässer. Leicht lässt sich der Eindruck gewinnen, dass Chaos sei nicht mehr weit, weil die alten Sicherheiten wegbrechen, die Wände des Weltbildhauses einstürzen, der Boden einbricht. Der bezeichnende Titel eines Sammelbandes mit einschlägigen Arbeiten lautet: „Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche“.37 Ein hübscher Zufall will es, dass sich einer der Beiträger mit dem Maler beschäftigt, den ich von allen

35 Vgl. m. N. Volker Krey/Uwe Hellmann, Strafrecht. Besonderer Teil. Band 2. Vermögensdelikte, 13., neubearb. Aufl., Stuttgart 2002, RN 145. 36 Vgl. zu diesen Widerborstigkeiten Dagmar Felix, Einheit der Rechtsordnung, Tübingen 1998, 237, 255, 39 f. m.w. N. Siehe zu diesem Themenkreis vor allem auch Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung – Kritik des juristischen Holismus, 2. Aufl. 2007, Berlin. 37 Hans Ulrich Gumbrecht u. a. (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991.

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am höchsten schätze. Das ist der Amerikaner Cy Twombly.38 Dessen Bildern hat man einmal „semantische Leere“39 bescheinigt. Dazu fällt einem unwillkürlich die kluge Bemerkung Klaus Lüderssens ein, der zu den wenigen zählt, die offen aussprechen, was jeder denkende Gesetzesleser eigentlich sehen müsste: dass nämlich „das Gesetz – ist man nur ehrlich – uns nicht mehr semantisch begleitet“.40 Das hat es freilich noch nie getan. Wir merken es aber erst heute, sprachsensibilisiert vor allem durch die Philosophie der normalen, der Alltagssprache. Dieselbe Sensibilität sollten wir für Paradoxien entwickeln. Dabei müsste uns nicht bange werden. Denn diese lassen uns ja nicht einfach hilflos im Stich. Im Gegenteil. In ihnen liegen kreative Momente. Vor allem aber: „sie machen stutzig“.41 Und sie setzten Zeichen, um von diesen aus weiterzudenken. Wie angesichts der Bilder von Cy Twombly. Auch sie setzen die Suche in Gang. Nicht etwa nach einer in ihnen liegenden, verschlüsselten Botschaft, einem geheimen Sinn. Sondern danach, was sie für uns bedeuten.42 Wie die Zeichen des Gesetzgebers, nein: nicht länger für den Gesetzesanwender, sondern den schlichten Leser des Gesetzes. Der sich fragt, was sich mit diesen Zeichen anfangen lässt. Und was fangen wir mit dem Wort „Rechtsordnung“ an? Oder – ein nimmermüder Dauerrenner – mit „Wert“, vor allem den Werten. Alle schön aufgehäufelt zur Wertordnung, die das Bundesverfassungsgericht in dramatisierender Hochstapelei – ich meine das ganz wörtlich – hochgestapelt hat zu einer vom Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt „aufgerichtete(n)“ seitdem so genannten „objektive(n) Wertordnung“. Nachdem zuvor noch ausdrücklich eigens versichert worden war, „daß das Grundgesetz . . . keine wertneutrale Ordnung sein will“. So steht es bekanntlich im berühmt/berüchtigten Lüth-Urteil.43 O weh, da ist er schon wieder, der Wille. Diesmal als voluntas legis, das hier nicht, wie üblicherweise, etwas will, sondern viel weniger: gerade nicht will. Das alles – schenkt man den Bundesverfassungsrichtern nur Vertrauen, ein bo-

38 Stephen Bann, ,Die wilden Gestade der Liebe‘ – Cy Twomblys streunende Zeichen, 414 ff. 39 Klaus-Peter Busse, Erzählung, Landschaft und Text im Werk von Cy Twombly, Dortmund 1998, 141. 40 Klaus Lüderssen, Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Frankfurt am Main 1996, 101. 41 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, 132. – Luhmann hat nicht nur hier, wo es sich gleichsam gottgewollt aufdrängt, die Paradoxien thematisiert. Er hat es immer wieder getan. Und zwar selbstredend außer „im Recht“ vor allem auch – naturgemäß – in seinen Analysen der Wissenschaft. Siehe insbesondere: Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, 486 ff. 42 Vgl. wieder die kunstklugen Beobachtungen von Bann, Zeichen (FN 38). 43 BVerfGE 7, 198 ff. (205).

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denloses Vertrauen, denn worauf sollte es denn gründen –, das Wollen oder Nichtwollen mithin zählt zu den unsichtbaren Essentialien des Grundgesetzes. Diese objektive Wertordnung, „dieses Wertsystem“44, hat es in sich. Es mutiert zur „verfassungsrechtliche(n) Grundentscheidung“. Und diese zu so etwas wie einem Radio Vaticano. Denn von dort her „empfangen“ alle „Bereiche des Rechts . . . Richtlinien und Impulse“.45 Ich kenne den beliebten Einwand, das dürfe man doch alles nicht so genau nehmen. Wie aber denn dann? Etwa als Büttenrede? Dann wohl doch lieber genau. Der Wortschwall soll die Begründung ersetzten, doch er ist nicht einmal stark genug, die Gedankenarmut zu übertönen. Ein ziemlich unverdächtiger Zeuge, früher selbst Bundesverfassungsrichter – ich spreche von Böckenförde –, weiß hierzu Treffendes zu sagen. Nachdem er zunächst das Wertedenken, insonderheit die „Wertbegründung des Rechts“ einer angemessen harten Kritik unterzogen hat, fasst er in einem Satz zusammen, was daraus in methodologischer Hinsicht folgt: „Die Berufung auf Werte und den Wertcharakter des Rechts gibt sich als Begründung für etwas aus, das damit in der Sache nicht begründet wird, jedoch der weiteren Begründung enthebt“.46 Kann man vernichtender urteilen? Was das Bundesverfassungsgericht anzubieten hat: nichts als Begründungszauber, unreines Blendwerk. Es wird begründet, indem nicht begründet wird. Mit dieser Paradoxie ist man freilich schnell fertig. Sofern einer nur die von Lüderssen eingeforderte Ehrlichkeit aufbringt. Das Ergebnis lautet dann klipp und klar: Das Bundesverfassungsgericht hat das Lüth-Urteil, weithin als Meilenstein in der Entwicklung der Grundrechtsdogmatik gefeiert, nicht begründet. Das Urteil hängt in der Luft. Das meinte ich mit bodenlos. Damit ist nicht gesagt, die Entscheidung sei schlicht falsch. Nein, wofür die Bundesverfassungsrichter die Begründung schuldig blieben, lässt sich durchaus begründen oder, wie wir jetzt allein und besser sagen: rechtfertigen. Weil heutzutage niemand mehr in der Lage ist, noch ernsthaft etwas gegen Rorty, Wittgenstein, Quine oder Goodman vorzubringen, die das längst Fällige geleistet haben, nämlich „eine definitive Widerlegung aller fundamentalistischen Optionen“.47 Nicht deren geringste ist die objektive Grundordnung. Anderes zu behaupten, gelingt nur einem, der „das Niveau moderner analytischer Reflexion unterschreitet“.48 44

BVerfGE 7, 198 ff. (205). BVerfGE 7, 198 ff. (205). 46 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, 67 ff. 47 Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main 1995, 233. 48 Welsch, Vernunft (FN 47), 233. 45

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Die Bundesverfassungsrichter hätten sich nur zu dem bekennen müssen, was sie in Wahrheit taten: Sie schufen Richterrecht, indem sie – und niemand sonst – den Grundrechtsschutz ausdehnten. Die Grundrechtsbindung des Privatrechts leistet kein ontologischer Popanz namens „objektive Wertordnung“. Das schafft einer nur selbst. Soweit er Richter ist. Und das muss er dann auch selbst verantworten, statt sich hinter obskuren, durch nichts ausweisbaren Entitäten zu verschanzen. Wie die Richter ihre subjektive Wertordnung dann rechtfertigen, ist ihre Sache. Sie haben jedenfalls die Konstruktionspläne ihres Konstrukts offenzulegen. Für jedermann einsehbar und nachvollziehbar. Zumindest für jeden Juristen.

VI. Im Übrigen bewährt sich hier erneut die bereits genannte Einsicht Luhmanns, dass nur Unentscheidbares entschieden werden kann. Anders formuliert: Auch richterliche Entscheidungen sind notwendig paradoxiebasiert. Soll so etwa das Fundament eines neu zu errichtenden Weltbildhauses aussehen? Genau so. Wobei sich freilich nicht vermeiden lassen wird, dass künftig vielleicht erneut brüchig gewordene Dielen ausgetauscht werden müssen. Oder sogar ein völlig neuer Neubau erforderlich wird. Doch bevor ich dazu noch ein Wort sage, komme ich auf die schon wiederholt anvisierten sogenannten innerseelischen Momente zurück. Auch der Umgang mit ihnen erfordert Mut. Und dies in beiden denkbaren Fällen. Sei es, dass man ungebrochen so weitermacht wie bisher, inzwischen aber um das zutiefst Fragwürdige dieser Praxis weiß. Das wäre freilich ein trauriger Mut. Sei es, dass man gerade der besseren Einsicht wegen umschaltet. Gewiss, die Behauptung, das Innen sei außen und das Außen innen, widerstreitet so sehr den Konventionen, in denen wir alle groß geworden sind, dass es nahezu unmöglich erscheint, sie zu akzeptieren. Wiederum versichere ich mich der Unterstützung durch Peter Fuchs, wenn ich zeigen möchte, dass es im Grunde so schwer gar nicht ist. Ich beginne mit einer ganz leichten Übung. Auch der gerade nicht Verliebte kennt das Gefühl, von dem im modischen Jargon gesagt wird, man habe Schmetterlinge im Bauch. Hummeln im Po sind natürlich etwas völlig anderes, doch haargenau strukturgleich. Der Witz in beiden Fällen ist nämlich derselbe. Um das behauptete Gefühl zu benennen oder zu beschreiben als schmetterlingshaft oder hummelig, bedient sich der, der es „hat“, der uns allen zugänglichen, deshalb auch zu Recht so genannten „öffentlichen“ Sprache. Gäbe es diese nicht, gäbe es – mit und ohne Schmetterlinge – auch kein Verliebtsein. Ein Wort, das ja gleichfalls der Sprache angehört, die wir alle gelernt haben. Eine andere gibt es nicht. Das ist der Clou von Wittgensteins berühmtem Privat-

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sprachenargument. So heißt das nun einmal, ist aber ein Argument gegen die Möglichkeit einer Privatsprache, also einer Sprache, in der jemand ganz für sich, mithin privat, seine Gefühle benennen könnte. Ohne Rekurs auf die öffentliche Sprache.49 Ohne Rückgriff auf die Sprachphilosophie argumentiert der Systemtheoretiker Fuchs für die „Dominanz der Verlautbarungswelt“.50 Eine der einschlägigen Fuchsarbeiten heißt fuchstypisch: „Liebe, Sex und solche Sachen“.51 Doch eine Warnung erscheint angezeigt. Der Leser möge keine falschen Erwartungen hegen. Bereits der Luhmanntitel: „Liebe als Passion“52 hat schon so manchen in die Irre geleitet. Verliebtsein oder auch Liebe seien wortlos nicht zu haben, diese These provoziert geradezu den nahezu reflexartigen „ontologischen Einwand . . ., der sagt, dass Liebe etwas sei, das auch unabhängig von seiner Beschreibung . . . existiere“.53 Umberto Eco, der so großartig fabulierende Zeichentheoretiker aus Bologna, ist da wenigstens immerhin zumindest unsicher, wenn er den Icherzähler seines Romans: „Die Insel des vorigen Tages“ reflektieren lässt: „Es ist schon schwierig genug, die Taten und Gefühle eines Menschen zu rekonstruieren, der zwar sicher vor echter Liebe brennt, aber bei dem man nie weiß, ob er das ausdrückt, was er empfindet, oder das, was die Regeln des Liebesdiskurses ihm vorschreiben – doch was wissen wir schon vom Unterschied zwischen empfundener und ausgedrückter Leidenschaft und welche der beiden vorausgeht?“54 Fuchs weiß es. Er schließt zwar ausdrücklich nicht aus, „daß psychische Systeme (wir also) psychisch so etwas wie Liebe realisieren . . .“. Um sodann als

49 Die Literatur zum Privatsprachenargument füllt Regale. Aus der Fülle der Publikationen nenne ich nur zwei. Sie zählen zu den vertracktesten und elegantesten, zusammen: den herrlichsten mir bekannten philosophischen Texten. Und sind gerade in ihrer Kombination für einzigartig. Es sind erstens das Buch von Saul A. Kripke, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt am Main 1987. Und zweitens die Schrift eines weiteren herausragenden Wittgensteinkenners: Wolfgang Stegmüller, Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins, Stuttgart 1986, erschienen als Sonderband in Kröners Studienbibliothek und später erneut im Rahmen von Stegmüllers „Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie“, nämlich als Kapitel 1 in Band IV, Stuttgart 1989, 1 ff. – Wer diese beiden Bände – und natürlich die „Philosophische(n) Untersuchungen“ mitnimmt auf die einsame Insel, mag von dort nicht mehr zurückkehren. 50 Peter Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, Frankfurt am Main 1998, 17. 51 Peter Fuchs, Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme, Konstanz 1999. 52 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982. 53 Fuchs, Liebe (FN 51), 19. 54 Umberto Eco, Die Insel des vorigen Tages, München 1995, 11.

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Antwort an einen zweifelnden Studenten eigens hinzuzufügen: „Worauf es mir ankam, war, daß Sie im Moment, in dem Sie sich äußern, sich verhalten, an einem sozialen Modell orientieren, daß zugleich mitbestimmt, woran Sie erkennen, daß Sie sich selbst jetzt als Liebende beschreiben können“.55 Und das Medium der Beschreibung ist die Sprache. Deshalb gibt es – um noch ein berühmtes literarisches Beispiel zu nennen – die Weißdornhecke eben nur, weil wir über das Wort „Weißdornhecke“ verfügen. Und zu allem schönen Überfluss eine wörtliche Beschreibung wie die von Marcel Proust. Dessen Weißdornhecke ist freilich eine andere als die der Hildegard von Bingen. Und unser aller Weißdornhecken sind jeweils wieder andere. Also ist das alles rein subjektiv. Aber gewiss doch. Wenn schon nicht nur, dann doch vor allem. Wie, um jetzt wieder ein einschlägiges juristisches Beispiel zu nehmen, der berüchtigte dolus eventualis. Dass und wie sehr der subjektiv ist, kann jeder in der einschlägigen BGH-Entscheidung nachlesen. Die Richtersubjekte beschreiben den dolus eventualis, indem sie die Geschichte der beiden Angeklagten erzählen. Und so narrativ den Vorsatz konstruieren. Hier, anbei, sieht man die starke Affinität zwischen der Geschichtenphilosophie und dem Konstruktivismus. Die Bundesrichter kannten zwar beides nicht, doch – und darauf kommt es an – sie verfuhren entsprechend. Und zwar dadurch, dass sie urteilten, wer sich so und so verhalte, der billige das Ergebnis seines Tuns „im Rechtssinn“. Die Bundesrichter kannten auch Peter Fuchs nicht. Den gab es damals noch gar nicht. Was die Richter andererseits aber nicht hinderte, die Außenwelt mit der Innenwelt des Angeklagten zusammenzudenken, ineins zu setzen, genannt dolus eventualis.56 Das alles funktioniert auf offener Bühne. Der subjektive Akt der Zuschreibung ist ein öffentlicher. In unserem Falle sogar ein gerichtsöffentlicher. Allemal entscheiden die Richter in foro, dass der Angeklagte (bedingt) vorsätzlich gehandelt hat. Sachlich geht es insoweit um die Legitimation der entsprechenden Rechtsfolge.57 VII. Und sie fragen sich nicht, wie es seinerzeit „in ihm“ wirklich ausgesehen hat? Aber nicht doch. Sie tun es, soweit sie das vermögen. Diese freilich nur vermeintliche Einschränkung veranlasst in neuerer Zeit einige Strafrechtler zu dem bemerkenswerten Vorschlag, aus dem Vorsatzbegriff das ihnen lästige vo55

Fuchs, Liebe (FN 51), 115. Siehe dazu BGH St 7, 363 ff. (368 ff.). 57 Allgemein zur Bedeutung der Rechtsfolgenlegitimation für eine allgemeine Theorie juristischer Argumentation: Georg Freund, JZ 1992, 993 ff. 56

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luntative Moment kurzerhand zu eliminieren.58 Zunächst – ich räume es ein – sah ich darin auch eine interessante Möglichkeit, mit unseren sattsam bekannten Schwierigkeiten fertig zu werden, die in der falschen Frage nach dem Beweis des Vorsatzes gipfeln.59 Zumal Strafverteidiger werden wohl noch lange fortfahren, solche Beweise einzufordern. Weil man auf diese Weise unsere mehrheitlich alteuropäischen Richter am besten auf die falsche Fährte lockt. So dass diese beispielsweise wissen wollen, ob ein Mann wie Ackermann, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, wirklich mit Unrechtsbewusstsein handelte, als er sich an fremden Geldern vergriff. Selbst die so klugen und versierten Richter des dritten Strafsenats beim BGH vermitteln den Eindruck, sie kämen von der veralteten Vorstellung nicht los, dass man ein Bewusstsein „hat“. Offenbar so ähnlich wie sein Auto in der Garage.60 Doch man stellt ein Bewusstsein, speziell ein Rechts- oder Unrechtsbewusstsein nicht fest, wie man feststellt, ob es in der Speisekammer nach Zwiebeln riecht.61 Davon nicht endlich zu lassen. „ergibt sich aus der weit verbreiteten Gewohnheit, Systeme (also auch das psychische System, das Bewußtsein . . .) als eine Art ,Ding‘ zu denken . . .“.62 Aber „das Bewußtsein ist kein besichtigungsfähiges Objekt oder Subjekt“.63 Begriffen werden kann es allein als Nicht-Ding. Fuchs zitiert in diesem Zusammenhang ein „Diktum von William James“. Danach „habe (man) es mit einer non-entity zu tun, wenn man über das Bewußtsein redet“.64 Und genau das beachten wir leider nicht. Wir reden über das Bewusstsein wie über andere Dinge, die gleichfalls nur vermeintlich Dinge sind. Das macht es um so schwerer, unsere alten Fehler erst zu durchschauen und dann abzulegen. Das Sprachkostüm lässt uns nicht sehen, was darunter steckt: nichts. Oder – paradoxerweise – so gut wie nichts. Doch zu sehen, dass man nichts sieht, gelingt zum Glück auch, wie das Jameszitat zeigt, ohne dass man zuvor die gesamte Systemtheorie verinnerlicht hat. Allerdings: Luhmänner und Füchse haben es leichter.

58 Vgl. m.w. N. Johannes Wessels/Werner Beulke, Strafrecht. Allgemeiner Teil. 33., neubearb. Aufl., Heidelberg 2003, RN 227 f. 59 Vgl. Hruschka, Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes, Kleinknecht-FS, 191 ff. 60 Vgl. ihr Revisionsurteil im sog. Mannesmannverfahren vom 21.12.2005, 3 StR 470/04, z. B. S. 20, 21, 26 ff. der UG. Sie sind in der amtlichen Sammlung nicht mit abgedruckt (vgl. BGHSt 50, 231 ff.). 61 Dieser rhetorisch gekonnte Vergleich stammt von einem der Gründungsväter der ordinary-language-philosophy. Siehe Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969, 223. 62 Fuchs, Psyche (FN 8), 61. 63 Fuchs, Psyche (FN 8), 62. 64 Fuchs, Psyche (FN 8), 62.

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Und sehr viel leichter wäre es für uns alle, über das Bewusstsein nicht zu reden, sondern zu schreiben. Jedenfalls zunächst einmal. Denn insoweit gibt es eine Möglichkeit, von vornherein unübersehbar deutlich zu zeigen, dass das Bewusstsein – oder der Vorsatz oder was es sonst noch an solchen geheimnisvollen Entitäten geben soll –, dass also alle diese Dinge keine Dinge sind, überhaupt nichts Dinghaftes, mit einem Wort: keine Objekte, sondern Un-jekte. Die überraschend simple Methode besteht darin, dass man die inkriminierten Wörter oder Begriffe zwar hinschreibt, aber sogleich wieder durchstreicht. Das Bewusstsein sieht dann so aus, wie gerade vorgeführt. Hinschreiben und durchstreichen, das Hingeschriebene nahezu uno actu wieder auszulöschen, sofern man hier überhaupt von Auslöschen sprechen kann. Doch wovon sonst? Dieses Schreib- und Streichverfahren wird von Fuchs an anderer Stelle höchst anschaulich vorgeführt. Und obendrein angereichert um den Vorschlag, beim Bewusstsein das Sein „radikal“ durchzustreichen.65 Der Aufschrei aller Treuen und Braven kann schriller kaum sein. Das sei doch alles grober Unfug. Jedenfalls funktioniere es nicht. Richtig an dieser heftigen Abwehr ist natürlich, dass man das Durchstreichverfahren nicht durchhalten kann. Denn wer möchte schon solche Sätze lesen, in denen die entscheidenden Vokabeln durchgestrichen sind! Vor allem aber, die schriftlichen Gründe eines Urteils vertragen keine Durchstreichungen. Was der Vorsitzende in der Hauptverhandlung auch über die genannte innere Tatseite gesagt haben mag, allein maßgebend sind doch die schriftlichen Gründe. Und die haben nun einmal, soweit es geboten ist, auch „Ausführungen über das Unrechtsbewußtsein (zu) enthalten“.66 Über eines, das dann da auch geschrieben steht, nicht durchgestrichen ist. Darüber auch nur nachzudenken, hat freilich überhaupt nur Veranlassung, wer hier ein Problem sieht, erst hier. Hochproblematisch wird es nämlich für den Richter schon, ehe er überhaupt dazu kommt, die Urteilsgründe schriftlich abzusetzen. Denn selbstredend muss er schon bei der mündlichen Urteilsbegründung vortragen, was das Gericht gegebenenfalls veranlasst, das Unrechtsbewusstsein zu bejahen. Nicht etwa „festzustellen“. Für Feststellungen ist kein Raum mehr, wo es um Zuschreibungen geht.67

65 Peter Fuchs, Die Metapher des Systems. Studien zu der allgemeinen leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse, Weilerswist 2001, 200 sowie zum Beispiel 109, 173, 247; siehe dazu auch meine Besprechung in Literaturen 2001, Heft 7/8, 94 ff. 66 Vgl. statt vieler Kleinknecht/Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 45., neubearb. Auflage, § 267, RN 7. 67 Nach wie vor äußerst instruktiv Achim Hruschka, Strukturen der Zurechnung, Berlin 1976. Darin steht bereits zu lesen: „Wir können weder einen Willen noch ein Bewußtsein, weder Geist noch Seele sehen, hören, ertasten, riechen oder schmecken

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VIII. Unterstellt, der Richter teilte die von mir hier weniger ausgeführten als skizzierten Ansichten, dürfte er das dann offenlegen? Etwa in der Form, dass er ausführte: „Der Angeklagte A. verteidigt sich zwar damit, ihm sei das Unrecht seines Tuns nicht bewusst gewesen. Doch das Gericht beurteilt seinen Fall anders. Dazu musste es keine Ermittlungen darüber anstellen, wie es zur Tatzeit im Angeklagten tatsächlich ausgesehen hat. Das könnte nicht einmal dieser selbst beantworten. Denn ,niemand hat jemals das Bewußtsein gesehen oder sonstwie wahrgenommen‘.68 Will sagen: ,das Bewußtsein (ist) keine empirische Tatsache‘.69 Sondern ein System. Und das ist, sofern es überhaupt ist, nur in der Weise existent, dass es operiert. Eine dieser Operationen nennen wir Denken.70 Wie aber sollen wir wissen, was der Angeklagte gedacht hat? Auch das weiß er nicht. Denn niemand ertappt sich beim Denken. Keiner kann sich beim Denken über die geistige Schulter schauen und sagen: ,Siehe da, ich denke‘. Oder gar: ,Ich denke, also bin ich‘“. So viel muss der Richter bestimmt nicht philosophieren. Aber wir vermögen ihn daran auch nicht zu hindern. Und so könnte er noch fortfahren, wie wir das hier jetzt tun: Descartes also irrte. Allenfalls hätte er mit Recht sagen dürfen: „Ich meine, mich zu erinnern, gerade gedacht zu haben“. Auch die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“71 – ein verführerisch schöner Gedanke – wird nicht denkend begleitet. Sonst liefen ja zwei Denkwege nebeneinander parallel her. Auf dem ersten würde gedacht und auf dem zweiten würde gedacht, dass gedacht wird. Eine kuriose Denkerei. Einfach paradox! Während ich das schreibe, genauer jetzt: als ich das gerade schrieb, fiel mir ein Kindervers ein. Damals hat er uns ganz einfach Spaß gemacht. Heute bin ich geneigt, uns zu attestieren, wir hätten es schon ganz hübsch weit gebracht. Der Kindervers ging so: Denke nie gedacht zu haben, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken. Jedenfalls werden wir unserer Gedanken – oder dessen, was wir so nennen – niemals habhaft. So wenig, wie wir das Bewusstsein fassen können. Dieses kann sich nicht einmal – nach der plastischen . . . Ein Wille, Geist usw. und seine Äußerungen sind im präzisen Sinne des Wortes keine ,Fakten‘, sondern Ergebnisse von Deutungsversuchen . . .“. (S. 6). Wir lesen weiter, dass „Wille, Geist, Bewußtsein ganz allgemein nur über Zurechnungsakte zugänglich (werden)“. (S. 25). Unbeantwortet bleibt aber die Frage, ob sie denn ohne Zurechnungsakte überhaupt „da“ sind. Und wenn ja, als was? Oder wie? 68 Fuchs, Metapher (FN 65), 173. 69 Fuchs, Metapher (FN 65), 201. 70 Vgl. Fuchs, Metapher (FN 65), 175. 71 Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Anekdoten. Kleine Schriften, München 1964.

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Formulierung von Peter Fuchs – selbst verfolgen. „Es ist, wie man es einmal von Oskar Lafontaine gesagt hat, Hase und Igel zugleich“.72 Ähnlich häseln und igeln die Gedanken. Deshalb ist es auch verfehlt zu sagen, man gebe einen Gedanken wieder. Von der Rekonstruktion eines Gedankens zu sprechen, ist kaum besser. Es brächte vor allem wenig ein, weil es unmöglich wäre, die Rekonstruktion mit dem Original zu vergleichen. Angemessen will es mir deshalb allein scheinen, hier gleichfalls den Begriff der Konstruktion zu verwenden. Ohne Re. Also so, wie es auch richtig ist, nicht länger von Rekonstruktion der Geschichte zu reden, sondern ausnahmslos von „Konstruktion der Vergangenheit“, wie das in jedem Sinne beispielhaft Chris Lorenz tut.73 Just genau so konstruieren wir unseren jeweils vergangenen Gedanken. Deshalb heißt, „einen Gedanken auszusprechen . . . nicht, ihn ein zweites Mal zu denken“.74 Und was, bitte schön, soll es bedeuten, einen Gedanken auszusprechen? Was genau wird da ausgesprochen? Nach dem gerade Gesagten eine Konstruktion. Aber zu dieser modernen Einsicht passt – zugegebenermaßen – der tradierte Ausdruck des „Aussprechens“ nicht eben sonderlich glücklich. Was also macht man mit dem Gedankenkonstrukt? An einer wirklich treffenden Vokabel hierfür fehlt es nach meinem Empfinden noch. Sagen wir also vorläufig: Das Gedankenkonstrukt wird via Argumentation – in unserem Falle: vor Gericht – in die Diskussion oder, noch besser, aber immer noch ungenau: in die Kommunikation eingebracht.75 Ein am Ende alles entscheidender Punkt steht noch aus: Was fangen die Richter damit an? Wie gehen sie damit um, mit dieser Konstruktion, diesem Konstrukt? Hier hilft ein Blick in die Geschichtenphilosophie des Wilhelm Schapp. Mit der habe ich mich früher wiederholt auseinandergesetzt. Vorhin war davon auch schon die Rede. Jetzt nur so viel: Es gibt keine Erfahrung außerhalb von Geschichten. Wir verständigen uns mit, über und durch Geschichten. Diese Geschichten liefern keine Abbilder einer von ihnen verschiedenen Realität. Hinter ihnen liegt nichts. Sie sind das Letzte. In Gestalt von Interpretationen, wie manche sagen. Oder von Konstruktionen, ein Begriff, den ich inzwischen vorziehe. 72

Fuchs, Metapher (FN 65), 202. Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997. 74 Günter Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt am Main 1993, 115. 75 Wie sich Bewusstsein und Kommunikation speziell aus systemtheoretischer Sicht zueinander verhalten, habe ich hier ausgespart. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Dieses spannende Thema bleibt uns aufgegeben. Wer es konsequent durchgearbeitet hat, würde vieles anders formulieren, als ich es hier getan habe. Mein Trost, den uns allen Otto Neurath gespendet hat: Man kann bei einem Schiff auf hoher See immer nur Planke für Planke erneuern. Jetzt müsste ich natürlich noch die Schiffsmetapher der Weltbildhausmetapher anpassen. 73

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Geschichten aber, Konstruktionen werden nicht verifiziert. Auch nicht falsifiziert, sondern akzeptiert oder verworfen. Oder auch modifiziert. Vor allem aber mit eigenen Konstruktionen zu einem neuen Konstrukt elaboriert.76 Auch das ist Richterrecht. Von hier aus fällt ein ganz neues Licht auf die ohnehin längst obsolete Trennung von Tat- und Rechtsfragen. Sowie darauf, was Revisionsrichter tatsächlich tun. Obwohl sie es doch angeblich gar nicht tun dürfen.77 Geschichtenphilosophie, Interpretationsphilosophie und Konstruktionsphilosophie – im Grunde ist das alles, wie wir längst bemerkt haben, ein und dasselbe –, das alles schließt nicht aus, dass ein Angeklagter lügt, indem er vorgibt – bleiben wir bei unserem Beispiel –, sich über sein Tun überhaupt Gedanken gemacht zu haben. Oder eben auch keine. Sprich: Ohne Unrechtsbewusstsein gehandelt zu haben. Das heißt: Er täuscht Konstrukte vor. Oder er behauptet der Wahrheit zuwider, entsprechende Konstrukte habe er nicht gebildet. Anders gewendet: Wir werden auch im Rahmen einer Philosophie der Geschichten, der Interpretation oder Konstruktion das Wahrheitsproblem nicht vollends los. „Daß aber das Problem der Wahrheit darin bestehen könnte, daß diese selbst vom Charakter der Interpretation ist“78 – und ich versichere sofort, dass sie es ist –, diese Paradoxie macht den traditionsgemäß sozialisierten Juristen vielleicht am meisten zu schaffen. Es verhält sich aber mit der Wahrheit nicht anders als mit der Realität, von der unsere hartgesottenen Gegner nicht müde werden, wahrheitswidrig (!) zu behaupten, wir leugneten sie. Luhmann wusste darauf mit entwaffnender Nonchalance zu erwidern, „daß der Konstruktivismus die Existenz und die Realität der Welt nicht bestreitet – sondern eben nur konstruiert“.79 IX. Die Realität also eine Konstruktion. Vergleichbar der Wahrheit, von der Heinz von Foerster weiß, sie sei die Erfindung eines Lügners?80 Wer aber einmal den Blick für sie geschärft hat, der findet die herrlichsten, bizarrsten, auch die haarsträubensten Paradoxien. Jederzeit. Überall. Auch und

76 Dazu näher Grasnick, Entscheidungsgründe als Textcollage, in: Friedrich Müller/ Rainer Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, Berlin 2001, 27 ff. 77 Zur Tatfrage als Rechtsfrage näher Georg Freund, in: Meyer-Goßner-FS, 409 ff. 78 Abel, Interpretationswelten (FN 74), 513. 79 Niklas Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität, in: ders., Soziologische Aufklärung, 5. Konstruktivistische Perspektiven, 2. Aufl., Opladen 1993, 31 ff. (57). 80 Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Heidelberg 1998.

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gerade „im Recht“.81 Und natürlich im Weltbildhaus nicht nur der Juristen. Dort aber besonders viele. Man mag sich über sie ärgern. Sollte sich aber eher freuen. Eben weil Paradoxien voller Kreativitätspotentiale stecken. Eingangs dieser Überlegung führten wir die Metapher vom maroden Weltbildhaus ein und seiner Ersetzung durch ein neues. Mit neuem Mobiliar. Doch erst einmal eingerichtet, liefen wir Gefahr, erneut zu erlahmen. Paradoxerweise trotz der denkaufmunternden Paradoxien. Dagegen hilft vielleicht, aus allen festen Häusern zu fliehen, mit dem Weltbildhaus allerdings gelingt das nicht. Niemals zur Gänze. Als – kleinstenfalls – Schneckenhaus tragen wir es immer mit uns herum. Doch Denkgebäude, Theoriehäuser, können gemieden werden. Es kann gelingen. An Vorbildern fehlt es nicht: – Wittgenstein verließ sich, dem Ontologiegefängnis des Tractats entronnen, fortan nur noch auf sein ungebundenes, niemals endendes Denken. Es führte ihn durch „ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen . . .“.82 Er wollte mit seiner „Schrift Andern (nicht) das Denken ersparen. Sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen“.83 – Luhmann, der Theoretiker aus Passion, konnte schon als soziologischer Aufklärer gleichsam per definitionem an kein Ende gelangen. Zumal es ihm gelang, sich von der eigenen Theorie überraschen zu lassen.84 – Peter Fuchs, in der ihm eigenen, so sehr sympathischen denkerischen Verspieltheit, nimmt für sich „die große und allgemeine Bastelerlaubnis“85 in Anspruch. Nicht zuletzt wegen der „wunderbaren Unausstaunbarkeit der Welt“.86 Und Friedrich Müller ist es gelungen, jenseits der falschen Prämissen und undurchführbaren „Durchführungsverordnungen“ der bislang vom Mainstream favorisierten Juristischen Methodenlehre unbeirrt, hartnäckig ein Gegenkonzept zu entwickeln. Ohne es als Theorie zu zementieren. Eine von niemandem ein81 Einer der beglückenden Zufälle, an die ich – paradoxerweise – nicht glaube: Eine Minute vor „Redaktionsschluß“ erfahre ich in einem der schönen, leider viel zu seltenen Gespräche mit Klaus Lüderssen, dass und wie er seinerseits den Paradoxien auf der Fährte ist. Natürlich hat er mir auch die Fundstelle verraten. Hier ist sie: Klaus Lüderssen, Paradoxien im Strafrecht und Strafprozessrecht, Simon-FS 2007. 82 Wittgenstein, PU (FN 22), Vorwort, 231. 83 Wittgenstein, PU (FN 22), Vorwort, 233. 84 Vgl. Dirk Baecker u. a. (Hrsg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1987, 9. 85 Fuchs, Metapher (FN 65), 18. 86 Fuchs, Metapher (FN 65), 22.

Paradoxien im Weltbildhaus

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geholte singuläre Pionierarbeit. Den Prozeß der Herstellung des Rechts klar, prägnant und durchsichtig strukturierend, bleibt die Rechtsarbeit als Textarbeit ihrerseits ein dauernder Prozeß. Was imponiert, ist die einzigartige „Arbeitshaltung, die durch den Zusammenstoß mit praktischen Problemen immer wieder irritiert und beeinflußt wird“.87 Nicht anders ergeht es uns mit ihm. Am liebsten ewig.

87 Friedrich Müller, Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995–1997), hrsg. von Ralph Christensen, Berlin 1997, Vorwort des Herausgebers, S. 6.

Georg Jellinek als Philosoph Von Olivier Jouanjan

I. Einleitung: Die philosophierende Rechtswissenschaft Georg Jellineks In seiner 1872 in Wien veröffentlichten Inauguraldissertation behandelt Georg Jellinek die Weltanschauungen Leibniz’ und Schopenhauers. Wie der Untertitel präzisiert, handelt es sich um eine Studie über Optimismus und Pessimismus. Was kann denn der Sinn einer solchen Studie sein, eine Parallele zwischen zwei entgegengesetzten Denkrichtungen zu ziehen? Dass es sich dabei nicht um eine sinnlose Fragestellung handelt, die unbedingt in eine Sackgasse führen müsste, macht Jellinek am Anfang seines Texts klar. Das Unternehmen ist sinnvoll deswegen, weil genauer betrachtet „der grelle Widerspruch in den philosophischen Resultaten beider Männer“ eben nicht aus einer „entschiedenen Differenz der Prinzipien“ entspringt. Die Fragestellung wird also wie folgt präzisiert: Wie können zwei so konträre Weltanschauungen auf gleichen Ausgangspunkten fußen? Der wichtigste gemeinsame Ausgangspunkt heißt „Individualismus“: „Die Lehre L.’s befindet sich im schärfsten Gegensatze zu dem Pantheismus Spinozas [. . .] Während Spinoza ausgeht von dem Begriff der einen, unendlichen, unveränderlichen Substanz, wird dieser Begriff von L. individualisiert und das Individuum zum Prinzipe der Metaphysik erhoben. In einem gleichen Verhältnisse steht Sch. zu der Identitätsphilosophie, deren oberste Begriffe das absolute Ich, die absolute Idee sind. Diese vom Absoluten ausgehenden Spekulationen werden von ihm gänzlich verworfen und der Kern der Welt im Individuum gefunden, wo er sich als Wille am deutlichsten manifestiert.“1

Leibniz und Schopenhauer vertreten also die zwei Grundmöglichkeiten des modernen Individualismus. Dass diese Gabelung in der individualistischen Weltanschauung der Moderne eben gerade das Thema darstellt, das sich der junge Jellinek als wissenschaftliche Inauguration ausgesucht hat, ist bedeutungsvoll und für jedweden Deutungsversuch seines Denkens von wichtigem Belang. Das umso mehr, als der Schluss Jellineks klar in die richtige Richtung weist:

1 Georg Jellinek, Die Weltanschauungen Leibniz’ und Schopenhauers, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 1, 1911, S. 5.

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„Wenn wir uns zum Schlusse noch fragen, welche Stellung Sch.(openhauer) in der deutschen Philosophie einnimmt, so sehen wir, daß er außerhalb der Entwickelungsreihe unserer großen Denker steht. Die deutsche Philosophie hatte schon früh die Formel gefunden, welche den Pessimismus für immer aus der deutschen Wissenschaft und dem deutschen Volk hinausbannt. Als letzteres am tiefsten erniedrigt war, durfte ein Fichte zurufen, daß die Welt nur das versinnlichte Material der Pflicht sei und die Existenz des einzelnen keinen anderen Zweck habe, als das moralische Gesetz zu erfüllen. Die Nation Kants und Fichtes, das Volk des kategorischen Imperativs kann sich nicht angezogen fühlen von einer Lehre, welche untätige Ruhe als das höchste anzustrebende Ziel predigt. Sie stellt sich unter die Fahne Leibnizens, des universellen Denkers, der ihr zeigt, daß unermüdlich rastlose Tätigkeit, unaufhaltsam fortschreitende Entwickelung, unaufhörlich ringendes Streben nach Vervollkommnung das innerste Wesen der Welt bildet, und sie verwirklicht diese großen Prinzipien in der Geschichte ihrer Tat und ihrer Gedanken.“2

In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts verstand sich Jellinek als Philosoph. Dreißig Jahre später ist er Jurist und zwar einer der bedeutendsten Juristen Europas. Von einer inneren Zäsur zwischen beiden Jellineks, von einem Zwei-Seiten-Jellinek zu sprechen, wäre trotzdem unzutreffend. Er pflegte zu sagen, dass die Philosophie seine „Jugendliebe“ war und dass er mit der Rechtswissenschaft nur eine „Vernunftehe“ geschlossen hatte. Eine Jugendliebe kann einen aber sein Leben lang umtreiben. Dreißig Jahre nach seiner Dissertation, als Autor einer berühmten Allgemeinen Staatslehre, hat Jellinek eben auf dem Bereich der Staats- und Rechtswissenschaft versucht, die dynamische Logik dieser „unaufhaltsam fortschreitenden Entwickelung“ der Moderne zu verstehen. Das „innerste Wesen der (Staaten)welt“ war sein Thema. Und zwar auf Grund eines radikal behaupteten, politischen sowie methodologischen Individualismus. Eine tiefe, strukturierende Kontinuität besteht und muss zur Deutung des Werks Jellineks unbedingt zugrunde gelegt werden. Nun wäre zu fragen, ob er stets so „optimistisch“ geblieben ist. Die hier verfolgte Grundorientierung im Versuch einer Interpretation Jellineks darf also wie folgt formuliert werden: Man verurteilt sich selbst zum Missverstehen dieses Werks, wenn man die philosophische Dimension des sozial-juristischen Denkens Jellineks nicht ernst genug nimmt oder allzusehr relativiert. Taking the philosophy of Jellinek seriously: so wäre der Tenor dieses Deutungsversuchs3.

2

Ebd., S. 41. Diesen Versuch habe ich näher bearbeitet in: Olivier Jouanjan, Une histoire de la pensée juridique en Allemagne (1800–1918), 2005, S. 283–337; ders., Vorwort zu Georg Jellinek, L’État moderne et son droit, Bd. 1, 2005, S. 5–85. Zu biographischen Aspekten: Klaus Kempter, Die Jellineks 1820–1955, 1998. Zur Deutung des Werkes nun: Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000; Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, 2000. 3

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II. Jellinek im Kontext der neukantischen Richtung der Philosophie Mit dieser ersten Annahme ist auch eine These zur Stellung Jellineks in der Geschichte der (Staats-)Rechtswissenschaft verbunden. Ein Positivist war Jellinek. Nicht positivistisch genug sicherlich nach dem Geschmack Kelsens, aber hinreichend positivistisch für unseren heutigen Blick, um ihn dieser Richtung zuzuordnen. „Positivismus“ ist aber ein vager, mehrdeutiger Begriff. Wenn wir doch historisch betrachten, was wir als „positivistisch“ im Bereich des Staatsrechts im ausgehenden 19. Jahrhundert bezeichnen, statt einen allgemeinen, unhistorischen Begriff des Positivismus anzuwenden, dann stoßen wir unweigerlich auf die großen Namen von Gerber und Laband, die Eponymen des staatsrechtswissenschaftlichen Positivismus. Vorerst muss man in Verbindung mit dem eingangs Gesagten einen grundliegenden Unterschied betonen. Gerber ist 1823, Laband 1838 geboren – Jellinek 1851. Das Zeitintervall ist wichtig. Die geistige Ausbildung der jungen Gerber und Laband fand etwa zwischen 1840 und 1860 statt. Diese Zeit war in Deutschland eine Zeit der Unphilosophie. Die alte Welt des deutschen Idealismus war kurz nach dem Tod Hegels (1831) rasch verschwunden. Damals herrschte eine sture, abgöttische Verehrung der sog. „naturwissenschaftlichen Weltanschauung“. „Hegel und seine Zeit“ waren vorbei. Schelling überlebte, wirkte aber kaum noch. Ein gewisses Bild der Wissenschaft prägte das gemeine Bewußtsein und wurde zum Selbstbewußtsein der Wissenschaftler. Zwar haben weder Gerber noch Laband die Methoden der Naturwissenschaften auf das Gebiet des Staatsrechts schlicht und einfach übertragen. Immerhin weiß man, wie sehr die naturwissenschaftlichen Metaphern den Diskurs des jungen Jhering prägten, und dieser war damals eng mit Gerber verbunden. Gerber und Laband teilten aber mit der „naturwissenschaftlichen Weltanschauung“ die unidealistische, naive Auffassung, als ob die Gegenstände der Wissenschaft unmittelbar als vorgegebene Realität erfassbar wären. Dies führte in der Rechtswissenschaft zur Substantialisierung der Begriffe: Ein Rechtsbegriff gibt die Wesenheit des Gegenstands wieder. Es handelte sich also um eine Art Begriffsrealismus im überlieferten, metaphysischen Sinne, einen Begriffsrealismus, der aber nicht weiter reflektiert war. Paradoxerweise führte eine unidealistische Betrachtungsweise (im modernen Sinne) zu einem altmodischen Idealismus, einem Platonismus für Juristen, wie der Christianismus laut Nietzsche ein Platonismus für den Pöbel war. Die Hypothese ist hier, dass diese weithin unreflektierte Position Folge der entphilosophierten Welt ist, in welcher Gerber und Laband groß geworden sind. Ganz anders war die Welt des jungen Jellinek in den 70er Jahren. 1860–1870 ist der Beginn einer für die Entwicklung der Geisteswissenschaften in Deutschland bedeutsamen Kant-Renaissance. „Rückkehr zu Kant“: das war die von Kuno Fischer 1860 formulierte Losung der Zeit.

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1907 steht Georg Jellinek als Prorektor der Universität Heidelberg „an der Bahre Kuno Fischers“, des verstorbenen Philosophen, dessen Autorität in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts über die deutsche Philosophie enorm war. Jellinek beschreibt die Stellung und die Wirkung Fischers: „Unter dem Einfluß der aufstrebenden Naturwissenschaft fingen die gebildeten Kreise an, in der scheinbar so sicheren äußeren Realität der Dinge das Heil für unser Erkennen und Handeln zu suchen. Der Materialismus findet begeisterte Lehrer und Anhänger und, gleichsam das dialektische Gesetz von dem Umschlagen der Gegensätze ineinander bewährend, retten sich die Gebildeten von der Philosophie des Geistes in die Metaphysik der Geistlosigkeit. In diesen Tagen besteigt der junge Privatdozent Kuno Fischer seinen Heidelberger Lehrstuhl und wagt es, an die unterbrochen Überlieferung der klassischen deutschen Geistesepoche wieder anzuknüpfen; obwohl er wußte, wie er in seiner ersten Vorlesung sagte, daß es damals einer besonderen Schutzrede bedurfte, um Philosophie zu lehren. (. . .) Mutvoll hat er damals bereits das Wort ausgesprochen, das ihm seine bleibende Stelle in der Geschichte des deutschen Geisteslebens sichert: Rückkehr zu Kant!“4

Das wichtigste Erlebnis des jungen Jellinek war sicherlich, bei dieser Rückkehr an Bord gewesen zu sein. In den 70er Jahren studierte er Philosophie in Leipzig, seiner Geburtsstadt. Als Sohn eines wichtigen Oberrabbiners der Stadt Wien fand er kein Heil bei der österreichischen Philosophie. In Leipzig lernte er einen Menschen kennen, der zum bleibenden Freund wurde. Wilhelm Windelband war damals ein junger Privatdozent in Leipzig. In Heidelberg werden sich später die beiden Freunde wiederfinden. Windelband wurde zur Hauptfigur des sog. südwestlichen Neukantianismus, dessen Bollwerk Heidelberg und Freiburg waren. Nach dem frühen Tod Jellineks 1911 schrieb Windelband „zum Geleit“ folgendes: Jellinek stand „von Anfang an im Gegensatze zu der materialistischen und positivistischen Zeitströmung, und er begrüßte es mit lebhafter Freude, als im letzten Jahrzehnt seines Lebens immer deutlicher der rapide Niedergang des naturalistischen Denkens und das Aufsteigen eines neuen, wenn auch seiner selbst noch nicht sicheren Idealismus zutage trat.“5

Man darf dieses Zeugnis Windelbands als wahrhaft annehmen, da Jellinek und Windelband denselben Kreisen der Heidelberger Geselligkeit angehörten und dort durch und durch die Fragen der Wissenschaftsphilosophie und -methoden diskutierten. Diese Kreise trafen sich insbesondere bei Max Weber, der damals im Zentrum des geistigen Lebens in Heidelberg stand. Im Gegensatz zu der anderen neukantischen Schule, der sog. Marburger Schule (Cohen, Natorp und Cassirer), die über Kelsen einen gewissen Einfluss 4 Georg Jellinek, An der Bahre Kuno Fischers, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 1, a. a. O. (FN 1), S. 363 f. 5 Wilhelm Windelband, Zum Geleit, in: G. Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 1, a. a. O. (FN 1), S. viii.

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hatte, war die südwestliche Schule besonders auf die methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften bzw. Kulturwissenschaften hin orientiert. Außer Windelband muss noch der Namen Heinrich Rickerts erwähnt werden. Die beiden Schulen lasen Kant „erkenntnistheoretisch“. D.h., wie Heidegger es später in seiner berühmten Kontroverse mit Cassirer in Davos formulierte, die Philosophie Kants wurde dort zur Erkenntnistheorie reduziert. Bei den Marburgern war aber die Wissenschaft nach dem Paradigma der Physik gedacht, als exakte Wissenschaft. Die „Heidelberger“ waren vielmehr an einer Kritik der Geschichtswissenschaft interessiert. Die Geschichtswissenschaft wurde als Musterbeispiel der Geisteswissenschaften insgesamt behandelt. Damit knüpften auch die „Heidelberger“ kritisch an das Programm des Philosophen Wilhelm Dilthey an, der in der letzen Dekade des 19. Jahrhunderts im Zeichen Kants eine Kritik der historischen Urteilskraft entwickelte, auf deren Grundlage er eine allgemeine Hermeneutik als methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften erarbeitete. Die 1883 veröffentlichte Einleitung in die Geisteswissenschaften Diltheys wurde von Windelband in seiner Straßburger Rektoratsrede 1894 (Geschichte und Naturwissenschaft) sowie durch Rickert in Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 1896 radikal kritisiert. Kurz gesagt: Den Neukantianern zufolge geht Dilthey in seiner Bestimmung der Abgrenzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften fehl, indem er von einem materialen Gegensatz, einer Teilung der Welt in zwei Bereiche (Natur v. Geist) ausgeht; die Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften muss ausschließlich methodisch gedacht werden, die Naturwissenschaften betrachten in den Phänomenen das Allgemeine nach einer „generalisierenden“ Methode (nomothetische Wissenschaften, Windelband), die Kulturwissenschaften (Rickert) oder idiographischen Wissenschaften das Besondere nach einer „individualisierenden Methode“6. Dilthey und der südwestliche Neukantianismus bildeten am Ende des Jahrhunderts gleichsam den philosophischen Rahmen, innerhalb dessen die große Soziologie in Deutschland, die von Max Weber und Georg Simmel, sich konstituierte. In denselben Rahmen fügte sich die Allgemeine Staatslehre Georg Jellineks. Es kommt ja nicht von Ungefähr, dass die erste Fußnote dieser Allgemeinen Staatslehre der Diskussion zwischen Dilthey und Rickert gewidmet war. Es geht um die Frage, ob man von Geisteswissenschaft (Dilthey) oder Kulturwissenschaft (Rickert) sprechen muss. Jellinek bleibt unschlüssig: „An Stelle des überlieferten Gegensatzes von Natur- und Geisteswissenschaft wird jetzt mit schwerwiegenden Gründen der andersgeartete von Natur- und Kulturwissenschaft zu setzen gesucht (. . .) Indes hat es unser Gegenstand mit Erscheinungen zu tun, die auch nach jener Einteilung zu Grenzgebieten gehören, deren gänzliche Einordnung unter eines der beiden Wissensgebiete nicht gelingt. Darum, und um 6 Dazu: Sylvie Mesure, Dilthey et la fondation des sciences historiques, 1990, S. 141 ff.

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die bereits bestehende terminologische Verwirrung nicht noch mehr zu steigern, soll hier an den herkömmlichen Bezeichnungen festgehalten werden.“7

Neukantianismus war sicherlich nicht die einzig prägende geistige Kraft, die auf Jellinek wirkte. Es zu behaupten, wäre absurd. Die neukantischen Prämissen wurden auch nicht vollständig von Jellinek durchdacht und systematisch angewandt. Vor manchen Grundfragen zögerte er. Der Absatz über den „Unterschied der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis von der naturwissenschaftlichen“ im zweiten, der „Methodik der Staatslehre“ gewidmeten Kapitel, spiegelt ziemlich genau seine grundsätzliche Unentschiedenheit bezüglich Diltheys und Rickerts Ansätzen wider. Man ahnt auch, dass andere, heute in absolute Vergessenheit geratene Philosophen bei der Konstituierung des Denkens Jellineks eine manchmal wichtige Rolle spielen. Es sei nur an Christoph Sigwart und Wilhelm Wundt gedacht. „Nichts ist zusammengesetzter und komplizierter als die Weltanschauung eines Menschen“, schrieb Jellinek 1872 in seiner Dissertation8. Dies gilt selbstverständlich auch für Jellinek selbst. Neukantianismus war aber sicherlich ein entscheidender Faktor seines Ansatzes. Am Anfang seines 1892 erschienenen Systems der subjektiven öffentlichen Rechte, schreibt Jellinek en passant: „Ueberhaupt spinnt sich ein grosser Teil juristischer Kontroversen in allen Disziplinen der Rechtswissenschaft nur deshalb unaufhörlich fort, weil der Jurisprudenz bisher kein Kant erstanden ist, dem sie eine Kritik der juristischen Urteilskraft zu verdanken hätte.“9

Dass er ehrgeizig danach strebte, dieser Kant zu sein, ist klar. Der (Neu-) Kantianismus zwang den philosophierenden Jurist, sein Wissensvermögen zu prüfen und seine Methode zu reflektieren. Daher stand zwischen Jellinek und der Naivität der Gerber/Laband-Schule eine Kluft, die man betonen muss. Es genügt, die jeweiligen Namen- und Sachregister bei Gerber und Laband einerseits sowie bei Jellinek andererseits zu vergleichen, um die immense Entfernung der geistigen Welten festzustellen. Es handelte sich um eine philosophische Kluft, die aber auch manche Kritiken theoretischer wie dogmatischer Art erklärt, die Jellinek insbesondere an Laband übte, selbst wenn er von Gerber als „unser aller Meister“ redete10. Wenn dieses Fazit zutrifft, dann muss man Christoph Schönberger recht geben, wenn er die „Inkubationszeit der Krise des staatsrechtlichen Positivismus“ bis in die 90er Jahren des 19. Jahrhunderts verlegt11, statt den berühmten Weimarer Richtungsstreit als einen plötzlichen Ausbruch anzusehen. Dieser Inkubation diente das Werk Jellineks in erster Linie.

7

Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1911, S. 3, Fn. 1. Die Weltanschauungen Leibniz’ und Schopenhauers, a. a. O. (FN 1), S. 10. 9 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1905, S. 13. 10 Nach Anschütz in seinem Nachruf: DJZ 1911, Sp. 197. Siehe auch Kersten, a. a. O. (FN 3), S. 50. 8

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III. Erkenntnistheoretische Grundlegung und Subjektivismus Reflektierte Methode bedeutete für Jellinek zuvörderst reflektierte Begriffsbildung. Dieses Bemühen teilte er mit der neukantianischen Richtung in der Philosophie bzw. Erkenntnistheorie. Sein Beitrag dazu scheint zugleich in der Jurisprudenz bahnbrechend und für die Geisteswissenschaften außerordentlich wichtig. Das Ergebnis seines Gedankengangs läßt sich im zweiten Kapitel der Staatslehre als eine Lehre des Typus lesen. 1900 formuliert geht die Typuslehre Jellineks der viel berühmter gewordenen Figur des Idealtypus Max Webers voran. Weber gibt seine die soziologische Forschung stark prägende Theorie des geisteswissenschaftlichen Begriffs erst 1905 kund. Die Frage nach der Qualität des juristischen Begriffs läßt Jellinek aber seit Anfang der 80er Jahren keine Ruhe: „Um die groben Fehler zu vermeiden,“ schreibt er 1882 schon, „welche die Consequenz der bisherigen Behandlungsart der Wissenschaft sind, wird es vor allem nöthig sein, eine andere, sicherere Methode zur Erforschung der Grundbegriffe einzuschlagen.“12

Diese heilende Methode findet ihr wichtigstes Prinzip in der sorgfältigen Trennung des Politischen vom Juristischen. Zur juristischen Begriffsbildung gilt die Induktion „in demselben Masse (. . .), wie für alle anderen aus der Erfahrung abstrahirten Begriffe“13. Ohne eine „empirische Basis“ baut man keine Wissenschaft, nur Spekulationen. Jellinek ist kein spekulativer Idealist; er ist aber auch kein naiver Empirist. Das Letzte besagt, dass er nicht meint, Begriffe wären auf einer rein induktiven Weise zu bilden: „Gewiss haftet dem Wesen des Staates Unerklärtes und Unerklärbares an, gewiss ist ein rein inductives Verfahren im Staats- und Völkerrechte so wenig möglich, wie in irgend einer Wissenschaft, gewiss müssen alle Zweige der Staatswissenschaft von nicht weiter reducierbaren Hypothesen über die Natur des Staates ausgehen, allein das Unerforschliche zeigt sich bei jedem Objecte, wenn wir es auf seine letzten Elemente hin prüfen.“14

Jellinek folgt hier der Lehre Kants, nach welcher es keine Erkenntnis ohne empirische Anschauung gibt, obwohl eine Erkenntnis nicht ganz aus der empirischen Anschauung hervorgehen kann. Die Wissenschaft baut auch denknotwendig auf einem empirisch „Unerforschlichen“. Die sorgfältige empirische Prüfung ermöglicht, der Gefahr der Spekulation zu entkommen. Den spekulativen, 11 Christoph Schönberger, Ein Liberaler zwischen Staatswille und Volkswille: Georg Jellinek und die Krise des staatsrechtlichen Positivismus um die Jahrhundertwende, in: Paulson/Schulte, a. a. O. (FN 3), S. 10. 12 G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882, S. 10. 13 Ebd., S. 11. 14 Ebd.

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tadelnswerten Begriff, der idealisierte Politik mit wissenschaftlichem Anspruch vermischt, nennt Jellinek damals schon den „idealen Typus“15. In der Allgemeine Staatslehre heißt der empirisch geprüfte, aber auch hypothetisch konstruierte Begriff im Gegensatz dazu der „empirische Typus“. Bevor wir aber bei der Typuslehre der Allgemeinen Staatslehre ankommen, gebietet es sich, einen Umweg über den methodologischen Teil des Systems der subjektiven öffentlichen Rechte zu machen. Das System beinhaltet die wichtigsten und differenzierendsten Aussagen zur juristischen Methodik. Diese befinden sich in Kapitel 3 des ersten Teils des Buchs unter dem Titel „Die rechtliche Natur des Staates“. Die grundlegende These lautet: „Auch die Welt des Juristen ist nicht die, welche das Objekt der theoretischen Erkenntnis [d.h.: nach dem Gesichtspunkte theoretischen Naturerkennens, der Naturwissenschaft] bildet. Es ist die Welt des Handelns, des praktischen Lebens, die ausschliesslich die seinige ist, eine Welt der Dinge für uns, nicht der Dinge an sich.“16

Vom natürlichen Gesichtspunkte gibt es nur „höchst verwickelte psychische Massenprozesse und Beziehungen der Individuen zueinander, als deren Resultat sich bestimmte Relationen darstellen, die zu der Vorstellung von subjektiven Rechten und objektiven rechtlichen Institutionen führen“17. Die Jurisprudenz kann keine Naturwissenschaft sein, da sie nicht primär mit faktischen Prozessen zu tun hat, sondern mit „Vorstellungen“, Dinge für uns. Es gibt ja eine empirische Basis, eben diese Massenprozesse. Die empirische Erforschung dieser Massenprozesse kann aber nie bis zum juristischen Gesichtspunkte gelangen. Der juristische Gesichtspunkt ist Voraussetzung einer rechtlichen Behandlung dieser Massenprozesse. „So etwas wie absolute Voraussetzungslosigkeit in menschlichen Dingen“ existiert nicht18. Gleich darauf bringt Jellinek die grundlegende Auffassung der neukantianischen Erkenntnistheorie zum Ausdruck: „Alle Erkenntnis ist nun einmal in ihrer Art durch das erkennende Subjekt bedingt, das nicht eliminiert werden kann.“19

Dadurch werden zugleich das Recht und die Rechtswissenschaft sozusagen subjektiviert. Als „Objekt“ ist das Recht ein subjektives Phänomen. Das Leben des Rechts spielt sich, sagt Jellinek, in der „subjektiven Welt“ ab20 und ist nicht als äußere, „objektive“ Erscheinung einfach da vorhanden. Das Recht ist kein 15

Ebd., S. 12. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, a. a. O. (FN 9), S. 15. 17 Ebd., S. 16. 18 Ebd., S. 11. 19 Ebd., S. 12. Dazu O. Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Paulson/Schulte, a. a. O. (FN 3), S. 309 ff. (insbes. S. 311). 20 System der subjektiven öffentlichen Rechte, a. a. O. (FN 9), S. 28. 16

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„Naturdasein“, sondern besteht aus „Normen“, d.h. besonderen Vorstellungen, „hypothetischen (. . .) Regeln“, die „kein Müssen, sondern ein Sollen“ zum Inhalt haben. Die „Objekte“ der Rechtswissenschaft sind also „nicht Concreta, sondern Abstracta, Begriffe und Regeln, die nur verständlich werden, wenn man das Treiben der Welt kennt, in welche der praktische Mensch hineingestellt ist, eine Welt menschlicher Interessen und Leidenschaften“: „Es ist die Welt der menschlichen Zwecke und Werte, in welcher das Rechtssystem seine Stelle hat.“21

Die Rechtswissenschaft ist auch ihrerseits methodisch subjektiviert. Jellinek charakterisiert seine Erforschungsart des Staats explizit als „die subjektive“22. Aus den Massenprozessen werden die Rechtsbegriffe vom erkennenden Subjekt abstrahiert. Dafür muss das erkennende Subjekt eine notwendige „Synthese“ selbst produzieren. Das Wort „Synthese“ kehrt im Text Jellineks immer wieder und klingt selbstverständlich nach Kant. Und da das Recht sich im praktischen Leben der Menschen abspielt, d.h. in der Welt der menschlichen Zwecke, werden die Rechtsbegriffe zum Produkt einer zweckorientierten Synthese: „Ferner erhalten die menschlichen Willensaktionen erst durch den Zweck ihre juristische Einheit (. . .) Ohne Anwendung der Zweckkategorie ist es überhaupt gar nicht möglich in die Willensäußerungen des Menschen Sinn und Ordnung zu bringen (. . .) Die Versammlung, die Familie, der Verein, die Körperschaft sind (. . .) Zweckeinheiten.“23

Vom Zweck her das Recht denken klingt aber nicht mehr nach Kant, sondern eher nach Jhering, welchem die erste Ausgabe des Systems auch gewidmet war. Dazu später. Vorerst sind zwei wichtigen Bemerkungen aus diesem Umweg über das System 1892 zu formulieren. Erstens, dieser hochentwickelte methodische Ansatz bringt Jellinek zu einer beachtlichen, für die moderne Rechtstheorie bleibenden Aussage: Da die juristischen Begriffe keine „Wesenheiten“ sondern „Abstracta“ zum Objekt haben, ist die „Weise wissenschaftlicher juristischer Fragestellung“ nicht etwa „was ist“ Eigentum, oder Familie, oder Sache, oder Parlament, oder Staat, sondern „wie ist es zu denken“. Sinn und Wahrheit der juristischen Begriffe sind nicht an ihrer Adaequatio mit einer angeblich vorgegebene Wesenheit oder Substanz, sondern an ihrer operativen Kraft im juristischen Diskurs zu messen. Sein neukantianischer Ansatz bringt Jellinek schon 1892 zur Unterscheidung zwischen Substanzbegriffen und Funktionsbegriffen, eine Unterscheidung, auf welche Kelsen Jahrzehnte später zurückgreift, ohne seine Dankesschuld Jellinek gegenüber abzutragen. Heute noch wird diese wichtige Unterscheidung oft auf das Buch Cassirers, Substanz und Funktion, zurückgeführt. Dieses Buch erscheint 21 22 23

Alle Zitate: Ebd., S 16. Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7), S. 137. System der subjektiven öffentlichen Rechte, a. a. O. (FN 9), S. 24 f.

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aber erst 1910. Mit diesem Nachdruck auf der Funktionalität der Begriffe praktiziert schon Jellinek in der Rechtswissenschaft, was man Max Weber für die Soziologie zurechnet, und zwar eine Art „Entfetischisierung der wissenschaftlichen Kategorien“24. Die Jurisprudenz braucht unbestritten Begriffe, soll aber nicht zur „Begriffsjurisprudenz“ werden. Der Bruch mit der Gerber/LabandSchule wird immer klarer. Zweitens, da das Recht als „Objekt“ im praktischen Leben der Menschen mittendrin steht, fließt es im historischen Leben der Menschen mit. Die Rechtsbegriffe und Rechtsregeln sind auch im geschichtlichen Fluß mitgenommen. Schon 1882 hatte Jellinek festgestellt: „Denn die Aufgabe der Jurisprudenz ist es, nicht nur stabile, sondern auch vorübergehende Rechtsverhältnisse zu erklären.“25

Aufgrund dieser Annahme konnte später der Heidelberger Jurist auch das Phänomen der Verfassungswandlung 1906 analysieren, d.h. der informalen, durch keine Verfassungsänderung bedingten Modifikationen der Inhalte einer Verfassung. Das Verfassungsrecht spielt sich auch in der Welt der menschlichen Zwecke und Interessen ab. „Die Einsicht in das Wesen des Zweckwandels ist für Maß und Art der geschichtlichen Erforschung gesellschaftlicher Institutionen nach vielen Richtungen entscheidend“, schreibt Jellinek in der Allgemeinen Staatslehre 1900.

Der Bruch mit der Gerber/Laband-Schule ist noch einmal evident: im Gegensatz zu Laband sind für Jellinek die historischen Betrachtungen auch für die Dogmatik eines konkreten Rechts „von Belang“. Wiederhistorisierung der Rechtswissenschaft also, aber, sicherlich nicht im Sinne der historischen Rechtsschule. Der Grundunterschied zu dieser liegt darin, dass Jellinek alle möglichen Formen einer „organischen“ Rechts- und Staatslehre streng verwirft26. Die Kollektive können nicht als Wesenheiten oder Substanzen gedacht werden. Die empirische Basis der rechtlichen Phänomene besteht nur aus sozialen Interaktionen zwischen Individuen. Der „Subjektivismus“ Jellineks ist auch politisch und methodologisch ein grundsätzlicher Individualismus27. Sofern man

24 Philippe Raynaud, Max Weber et les dilemmes de la raison moderne, 1996, S 37 f. 25 G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, a. a. O. (FN 12), S. 13. 26 Vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7), S. 148 ff. Wiederhistorisierung der Geisteswissenschaften auf anderen Grundlagen als die „geschichtliche Schule“ war auch das angekündigte Programm Diltheys, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1921, S. XVII. 27 „Für die gesamte Staatswissenschaft“ schreibt er, „ist von hoher Bedeutung das Ergebnis, daß der Gegensatz in den prinzipiellen Anschauungen vom Staate zurückzuführen ist auf den Gegensatz der beiden großen Weltanschauungen: der individualistisch-atomistischen und der kollektivistisch-universalistischen.“ Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7), S. 174.

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den Begriff des „methodologischen Individualismus“ für Max Weber und Georg Simmel annimmt, muss man Jellinek auch zu den Founding Fathers desselben zählen. IV. Begriffsbildung und Typuslehre Die Typuslehre ist das Endergebnis dieser Überlegungen. Der Typus ist als der den Bedingungen und Zielen der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis entsprechende Begriff gedacht. Das Ziel einer solchen Erkenntnis liegt nicht anders als bei den Naturwissenschaften darin, dass das erkennende Subjekt sich anstrengen soll, „die Qualitäten in Quantitäten zu verwandeln“28. Der Typus ermöglicht im Gegenteil eine qualitative Erfassung der sozial-geschichtlichen Geschehnisse. Die sozialen Vorgänge erscheinen aber „niemals als Wirkungen allgemeiner Kräfte, sondern vor allem auch als Leistungen bestimmter Individuen“29. Dies ist der Tenor eines methodologischen Individualismus. Die empirischen Tatsachen, mit welchen sich der Geisteswissenschaftler beschäftigt, sind einerseits äußere Vorgänge, die sich in Zeit und Raum abspielen; sie sind aber andererseits Ergebnisse und Ursachen psychischer Akte und Interaktionen. Die geisteswissenschaftliche Erfassung dieser Empirie soll diese psychische Eingebundenheit mitreflektieren30. Der Typus ist die Kategorie, mit welcher der sozialwissenschaftlich methodologische Individualismus arbeiten muss. Quantifiziert nimmt ein Begriff nur das identisch Reproduzierbare eines Geschehens wahr. Durch die naturwissenschaftliche Begrifflichkeit kann ein einzelner Vorgang als Repräsentant einer im Begriff umschriebenen Gattung betrachtet werden. Deswegen kann und muss der Naturwissenschaftler mit seinen Begriffen rechnen, kalkulieren. So konstruiert er seine „Objekte“. Ganz anders soll in den Geisteswissenschaften vorgegangen werden: „Kein soziales Ereignis ist bloß Repräsentant einer Gattung, sonder zugleich etwas nur einmal Daseiendes, niemals mehr in genau derselben Form Wiederkehrendes, wie denn überhaupt in der unabsehbaren Fülle menschlicher Individualitäten niemals dasselbe Individuum sich wiederholt.“31

Das Qualitative liegt im Individuellen. Die qualitative Erfassung der Sozialereignisse darf also dieses Individuelle nicht beseitigen oder auch nur verschleiern. Der sozialwissenschaftliche Begriff als Instrument solcher Erfassung muss also der Individualität offen bleiben. Er muss generalisieren, da sich ohne Generalisierung keine Wissenschaft denken lässt; er muss aber diese individualisie28

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7), S. 28. Ebd., S. 29. 30 Vgl. auch Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, 5. Aufl., 1923, Kap. 1. 31 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7), S. 30. 29

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rende Betrachtungsweise – hier sind wir an Rickert und Windelband sehr nah – ermöglichen, ja fördern. Im Gegensatz zur quantitativen, naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sucht die sozialwissenschaftliche unter einer Mannigfaltigkeit von Vorgängen nicht das Selbe und auch nicht das Gleiche, sondern nur „Analogien“32. Qualitatives Denken ist Analogiedenken. Das Analogiedenken sucht bei der Erscheinung nur „typische Elemente“. Aufgrund dieser typische Elemente, die er selbst isoliert und hervorhebt, produziert der Geisteswissenschaftler seine „Synthese“, bringt in die bunte äußere Welt Sinn und Ordnung: Das Suchen und Gewinnen von Typen „befriedigt (. . .) vor allem das synthetische Bedürfnis“33. Das Typische kann einmal im Telos der Dinge liegen. Mit einem teleologischen Typus erfasst man aber „kein Seiendes, sondern ein Seinsollendes“34. Diesen nennt Jellinek den „idealen Typus“. So ist für Jellinek z. B. der Typus „Rechtsstaat“ ein solch idealer Typus. „In der Staatslehre mündet diese Vorstellung vom idealen Typus notwendiger Weise in das Streben, den besten Staat zu finden und an ihm die gegebenen staatlichen Institutionen zu messen.“35

So verfährt die überlieferte naturrechtliche Staatslehre. Eine „positive“ Wissenschaft des Staats braucht aber eine andere Vorstellung des Typus: die des „empirischen Typus“36. Der empirische Typus stellt eine größere Zahl von Individuen oder Individualitäten „unter bestimmten Gesichtspunkten“ und „mittelst dieser Typen ordnen wir und begreifen wir einen großen Teil unseres sozialen Lebens“. Gewöhnlich dienen solche Typisierungen dazu, unsere „Vorurteile“ zu bilden. Noch trotz Typisierung individualisieren zu können, ist „das Zeichen höchster Bildung“. Die wissenschaftliche Typisierung unterscheidet sich also vom gewöhnlichen Typendenken dadurch, dass der Raum und die Fähigkeit zu individualisieren beibehalten werden müssen37. Aber ohne allgemeine Typen gibt es überhaupt keine Wissenschaft. Die Bezeichnung „empirischer Typus“ darf nicht missverstanden werden. Der Typus ist nicht die einfache Reproduzierung des Gegebenen. Für Jellinek wie für Rickert und Windelband ist Wissenschaft nicht Widerspiegelung, Reproduktion. Der „empirische“ Typus geht aus einer Leistung des erkennenden Subjekts 32 „Bei natürlichen Vorgängen derselben Art überwiegen für das wissenschaftliche Interesse die identischen Elemente, während diese bei sozialen durch die individualisierende Elemente derart zurückgedrängt werden, daß soziales Geschehen sich niemals in gleicher, sondern nur in analoger Weise wiederholt.“ Ebd., S. 30. 33 Ebd., S. 41. 34 Ebd., S. 34. 35 Ebd., S. 35. 36 Ebd., S. 36. 37 Ebd.

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hervor. Es handelt sich um „eine Zusammenfassung von Merkmalen der Erscheinungen, die ganz von dem Standpunkt abhängt, den der Forscher einnimmt38.“ Empirisch dient er prima facie der Beschreibung der sozialen Erscheinungen. Aber der Typus, sowie allgemein jeder Begriff, hat eine gewisse normative Wirkung, die keiner ausräumen kann: Mit einem Begriff „ordnen“ wir unsere Welt oder besser gesagt unsere Vorstellungen der Welt. Jede Beschreibung setzt eine Normierung voraus: Es gibt keine „absolute Voraussetzungslosigkeit“ in den menschlichen Dingen, auch nicht in der Wissenschaft39. Der empirische Typus unterscheidet sich also vom idealen Typus nicht dadurch, dass jener überhaupt keine normative Wirkung hätte, sondern nur durch das Streben des erkennenden Subjekts, bei der Aufstellung eines empirischen Typus seine rein subjektiven Wünsche und Ideale, seine subjektiven „Normen“ ausschließen zu wollen. Max Weber sind wir ganz nah. Dieser spricht bekanntlich nicht vom „empirischen Typus“, auch nicht vom „idealen Typus“, sondern vom „Idealtypus“ als einem vom erkennenden Subjekt zusammengesetzten „Bild“ der Wirklichkeit. Man darf denken, dass Weber damit die subjektive Leistung des Wissenschaftlers betont40, während Jellinek eher auf dem empirischen Fundament dieser Leistung insistiert. Im Grunde genommen handelt es sich aber um zwei mögliche Bezeichnungen desselben „Objekts“. Der Typus als Instrument eines qualitativen Denkens dient einer verstehenden Wissenschaft. „Nicht nur Klarheit und Einheit in der Fülle, sondern auch gründliches Verstehen der Einzelerscheinung“ ist der Zweck einer Geisteswissenschaft, den die Typisierung befriedigen muss. Der Typus als qualitativer Begriff ist eine Art Zusammenstellung von Merkmalen, die in der einzelnen Erscheinung vielmehr den individuellen Rest und die individuelle Abweichung als das gemeinsame Normale merklich machen. Die Verwendung des quantitativen Begriffs ist erfolgreich, wenn der Forscher dasselbe findet; die Anwendung des qualitativen Typus bei „gleichartigen“ Phänomenen ist um so fruchtbarer, als er die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede lenkt und diese dann besser problematisieren läßt. Der Typus ist der allgemeine Begriff einer „individualisierenden Methode“.

38

Ebd. Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis ist an „subjektive“ Voraussetzungen gebunden, schreibt Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., 1988, S. 182. 40 Nach Max Weber ist der Idealtypus ein „Gedankenbild“, das „bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge“ vereinigt (vom Autor selbst unterstrichen). In seiner „begrifflichen Reinheit“ ist ein solches Gedankenbild „nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar“. M. Weber, ebd., S. 190 f. 39

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Der Typus ist auch das Instrument einer historischen Wissenschaft: „Die Typen sind (. . .) in den Fluß des historischen Geschehens gestellt; sie variieren nach den besonderen geschichtlichen Umständen, komplizieren sich, spalten sich in Arten und Unterarten. Damit wird die Wissenschaft vor eine neue Aufgabe gestellt, nämlich die Bahn zu bestimmen, in der sich Um- und Ausbildung der einzelnen Typen bewegt.“41

V. Sozial- und Rechtslehre des Staats Der Typus ist endlich das begriffliche Instrument der Staatslehre, sowohl als soziale Staatslehre wie auch als juristische Staatslehre. Rechtswissenschaft ist Geisteswissenschaft und Normwissenschaft zugleich. Soziale Staatslehre ist Geisteswissenschaft und zugleich Kausalwissenschaft42. Die Staatrechtslehre und die soziale Staatslehre synthetisieren jede nach ihrem eigenen Gesichtspunkt dieselbe „Vielheit von Vorgängen, die in Raum und Zeit sich abspielen“, erforscht bis in die „sie verursachenden und begleitenden psychischen Akte“43. Eigentlich geht es um zwei Gesichtspunkte über den Staat und nicht um „zwei Seiten“ des Staats, auch wenn Jellinek selbst manchmal das Wort „Seite“ in diesem Zusammenhang benutzt, wenn er z. B. von der „rechtlichen Seite des Staates“ spricht. „Es ist nicht Aufgabe der Jurisprudenz, das An-sich des Staates zu bestimmen, sondern vielmehr, das Gegebene zu bestimmten Zwecken unter feste Gesichtspunkte zu ordnen und es einer Beurteilung gemäß den abstrakten Normen des Rechts zu unterziehen. (. . .) Wenn auch die Wirklichkeit die Voraussetzung des Rechtes und der Boden ist, auf dem es sich fortwährend zu erproben hat, so ist es selbst rein idealer Natur; der Rechtssatz als solcher führt stets nur eine gedankliche Existenz. Die auf Grund von Rechtsätzen gewonnenen Urteile gewähren daher nicht die Erkenntnis einer Substanz, sondern einer Relation, sie lehren uns das Verhältnis des Seienden zur Norm erkennen. Recht und Unrecht (. . .) sind nicht Eigenschaften, sondern Beziehungen.“44

Da die Wirklichkeit die Voraussetzung des Rechts ist, setzt die Staatsrechtslehre einen sozialwissenschaftlichen Begriff des Staats voraus, da die Soziallehre des Staates die Wirklichkeit desselben erforscht, „das Sein und Wirken des Staates in der äußeren und inneren Welt“ erfassen will45. In der Tat erfasst 41

Jellinek, Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7),S. 39. Die Kausalität ist zwar in den Sozialwissenschaften dadurch modifiziert, dass sie analogisch und nicht mechanisch zu denken ist. Bei Jellinek wie bei Weber ist eine Soziallehre bzw. Soziologie Kausalwissenschaft: der Gegensatz Verstehen/Erklären überlagert sich mit dem Binom nicht kausal/kausal nicht, sondern mit dem Gegensatz qualitativ/quantitativ. 43 Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7), S. 136 f. 44 Ebd., S. 138. 45 Ebd., S. 137 f. 42

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sie auch nicht das „An-sich“ des Staates, sondern konstruiert einen Typus (der moderne Staat) und Untertypen (Einheitsstaat, Bundesstaat), deren tiefe „Realität“ eine psychische ist. Die wissenschaftliche Frage ist nicht „was ist der Staat“, sondern „wie ist er zu denken?“. Jellinek geht dann kritisch alle Theorieangebote über den Staat durch, die „objektiven“ – der Staat als Tatsache, der Staat als Zustand, als identisch mit seinen Elementen, als natürlicher Organismus – und die „subjektiven“ – der Saat als geistig-sittlicher Organismus, der Staat als Kollektiv- oder Verbandseinheit. Seinem individualistischen Subjektivismus entspricht nur die letzte subjektive Theorie, die dem Kollektiven als solche keine Subjektivität unterstellt: „In ihr erscheint der Staat als ein durch eine feste Organisation und dauernde Zwecke geeinigter Verband, als eine von den einzelnen unterschiedene Einheit, die trotzdem nur durch die Vielheit und in der Vielheit der Individuen besteht.“46

Dem Kollektiven eine Subjektivität im Sinne der historischen Schule zuzusprechen, d.h. „der Versuch, die reale Einheit auf einen Gemeingeist oder eine ähnliche Abstraktion zu gründen“, übersteigt „unser Erkenntnisvermögen“47. In den Grenzen dieses Vermögens bleibt aber der soziale Staatsbegriff, wonach der Staat als „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“48 zu bestimmen sei: „Wir müssen nämlich jede reale Einheit denknotwendig substanziieren. Solche Substanziierung vermittelt auch richtige Erkenntnis, wofern wir uns nur hüten, ein sinnliches Objekt an Stelle des Substrates zu setzen, das wir als Grundlage der Beziehungen der einzelnen Glieder einer sozialen Einheit postulieren. Indem wir für die Verbandseinheit einen einheitlichen Träger, ein Individuum fordern, nehmen wir keine Fiktion, ja nicht einmal eine Abstraktion aus tatsächlich Gegebenem vor, sondern wenden eine zur Synthese der Erscheinungen denknotwendige Kategorie an, die erkenntnistheoretische Berechtigung hat, solange wir dem durch sie Erkannten keine transzendente Realität zuschreiben.“49

Die Konstruktion des juristischen Begriffs des Staats geht auch alle überlieferten Kategorien durch: Staat als „Objekt“, als „Rechtsverhältnis“ und bleibt bei der Kategorie des Rechtssubjekts stehen. Der Staat wird juristisch nicht deswegen als Subjekt gedacht, weil in ihm innewohnend eine eigene „Seele“ wirkt. Der Begriff des Rechtssubjektes oder der Person ist „rein juristisch“, auch an „natürlichen Personen“ angewandt50. Diese Position, die Jellinek schon im System der subjektiven öffentlichen Rechte verteidigt hat51, ermöglicht ihm, die alte Debatte um die Rechtspersönlichkeit als endgültig erledigt anzusehen: Die Per46 47 48 49 50 51

Ebd., S. 159. Ebd., S. 160. Ebd., S. 180 f. Ebd., S. 161. Ebd., S. 169 ff. System, a. a. O. (FN 9), S. 28 f.

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sönlichkeit sei weder „Realität“, noch „Fiktion“, sondern wie jeder Rechtsbegriff „Abstraktion“. Sie ist die juristische Synthese, die man für handelnde Einheiten zur Verfügung hat. Sie ist die passendste Kategorie für den Staat. So wird der Staat juristisch als „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft eines seßhaften Volkes“52 definiert. Der Unterschied zum sozialen Staatsbegriff liegt nur in der Ersetzung des Wortes „Verbandseinheit“ durch das juristische Wort „Körperschaft“. Dieses eben bringt in den Staatsbegriff den juristischen Gesichtspunkt. Der juristische Staatsbegriff erfaßt dieselbe Realität einer seßhaften Verbandseinheit aber mit einem juristischen Instrument, mit einem juristischen Mikroskop, das den juristischen Blick produziert: „Den Rechtsbegriffen dienen die objektiven und innerhalb der Subjekte sich abspielenden sozialen Vorgänge zwar als Substrat, das Recht muß stets von realen Tatbeständen ausgehen, weil es, wie immer es beschaffen sein mag, stets den Zweck hat, auf reale Tatbestände angewendet zu werden. Allein die realen Tatbestände sind nicht die Rechtsbegriffe selbst.“53

Erst jetzt aber kommen wir zur Pointe des Denkens Jellineks. VI. Der juristische Begriff der Person, die Statuslehre, die Dialektik der Anerkennung: Zum positivistischen Liberalismus Jellineks Der Staat als Person ist nichts Substanzielles, nur Relation. Dasselbe gilt für den Menschen als Person, als Rechtssubjekt. Die allerwichtigste Position Jellineks ist eben die: Person ist Relation, Beziehung. Der hier unternommene Auslegungsversuch geht davon aus, diese Position als die Zentrale im Denken Jellineks zu orten. Jede Deutung der berühmten, umstrittenen Großtheorien dieses Werkes soll von dieser Position ausgehen, will man sie verstehen: normative Kraft des Faktischen und Grund der Rechtsgeltung, Selbstbeschränkung des Staates, subjektive öffentliche Rechte und Statuslehre usw. So wird man der Selbstbeschränkungslehre nicht gerecht, wenn man die gewohnte Kritik übt: Kein Subjekt kann sich selbst beschränken; wo es jetzt eine Schranke setzt, darf es diese mit demselben Recht morgen entfernen. Diese Kritik unterstellt aber der Rechtspersönlichkeit eine substanziierte Subjektivität und geht davon aus, die Selbstbeschränkungslehre beschreibe die Aktivität eines solchen Subjekts. Ganz anders sieht es aber aus, wenn man den selbstbeschränkten Staat als Beziehung betrachtet und diese Lehre transzendental deutet, als die Bedingung der Möglichkeit, eine staatliche Rechtsordnung zu denken. Diese Deutung kann hier nicht näher begründet werden, dafür aber soll betont werden, dass, so gesehen, diese Selbstbeschränkungslehre bei Jellinek die gleiche 52 53

Allgemeine Staatslehre, a. a. O. (FN 7), S. 183. Ebd., S. 162.

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Rolle spielt wie die Theorie der Grundnorm bei Kelsen: eine transzendentale Hypothese, um die Rechtsordnung, den Staat als juristische Größe sowie sein Verhältnis zum Bürger als eine rechtliche überhaupt denken zu können. Nimmt man eine andere und ebenfalls viel diskutierte Theorie Jellineks und zwar die berühmte Statuslehre in Betracht, so wird sie erst verstanden, wenn man ihr die Theorie der Person als Relation zugrunde legt. Diese Lehre bringt bekanntlich die gesamten öffentlichen Rechte des Individuums in ein geordnetes System. Danach muss man vier Status unterscheiden54. Der passive Status oder status subiectionis beschreibt das Unterworfensein des Einzelnen, „in dem die Selbstbestimmung und daher die Persönlichkeit ausgeschlossen ist“. Die einzelne Persönlichkeit wird schlicht und einfach verneint („ausgeschlossen“), während der Staat als Fremdbestimmung rein behauptet wird. Der negative Status ist umgekehrt die „staatsfreie, das Imperium verneinende Sphäre“: Der Staat wird schlicht und einfach verneint, während der Einzelne sich frei selbst behaupten kann. Es ist die Sphäre der Autonomie. Der positive Status stellt sich „ als die Basis für die Gesamtheit staatlicher Leistungen im individuellen Interesse“ dar, als die Position des Einzelnen, aufgrund welcher der Staat „in Erfüllung seiner Aufgaben dem einzelnen die rechtliche Fähigkeit zuerkennt, die Staatsmacht für sich in Anspruch zu nehmen“. Der Staat handelt im Interesse des Einzelnen. Der aktive Status endlich beschreibt die vom Staat zuerkannte Fähigkeit des Einzelnen, „für den Staat tätig zu werden“, also die „aktive Zivität“. Der Einzelne handelt im Interesse des Staats. Das Wort „Status“ ist irreführend. Es bringt eine Statik zum Ausdruck. Hier geht es aber um Dynamik. Ein Status ist üblicherweise eine bestimmte Summe von Rechten und Pflichten, die man aufgrund einer besonderen Qualität hat. Hier sind die vier Status offen und gehen ineinander über, beschreiben nichts Stabiles, nichts Bestimmtes. Jellinek benutzt aber dieses Wort, um eine rechtliche Qualität zu bezeichnen, die kein „Recht“ ist. Das Wort „Status“ beschreibt zunächst die Persönlichkeit selbst: Sie ist juristisch „ein Zustand, ein Status, an den das einzelne Recht anknüpfen kann, der aber selbst nicht Recht ist“: „Ein Recht hat man, Persönlichkeit ist man. Das Recht hat ein Haben, die Person ein Sein zum Inhalt.“55

„Haben“ und „sein“ sind aber hier metaphorisch zu verstehen, da rechtliche Begriffe keine „Wesenheiten“ zum Gegenstand haben. Und die „Persönlichkeit“ ist ja auch selbst keine Wesenheit, sie ist Relation, „eine das Individuum quali54 55

Jellinek, System, a. a. O. (FN 9), S. 86 ff. Ebd., S. 83 f.

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fizierende Beziehung zum Staate“56. Die individuelle Persönlichkeit ist „Beziehung zum Staate“. Dies klingt etatistisch oder gar nach Abgötterei des Staats. Jellinek sagt noch klarer: „Der Staat schafft (. . .) die Persönlichkeit“ und diese ist sodann „iuris publici“57. Dennoch ist Jellinek vom ganzen Wesen liberal gesinnt, aber doch in einem gewissen Sinne „Positivist“. Moderne Rechtsordnung ist Staatsordnung. Eine rechtliche Qualität, wie die der Persönlichkeit, kann nur als eine Anerkennung durch die staatliche Rechtsordnung begriffen werden. Der Staat schafft die rechtliche Persönlichkeit, damit aber keine Substanz, nur Beziehungen. Er kann keine Welt schaffen, nur eine Ordnung. Die vier Status sind Unterteilungen des gesamten Status, der als individuelle Persönlichkeit bezeichnet wird. Die vier Status beschreiben die vier allgemeinen, möglichen und abstrakten Richtungen, nach denen sich die konkreten Beziehungen zum Staat konstruieren oder denken lassen. Die vier Status sind also die Bedingungen der Möglichkeit, nach denen man die rechtliche Persönlichkeit abstrakt denken kann. Anders gesagt: die Vier-Status-Lehre muss transzendental interpretiert werden. Die vier Status sind im kantischen Sinne die Kategorien der rechtlichen Subjektivität. Die Interpretation ist hier, dass Jellinek in seiner Statuslehre eine parallele, gleichartige Leistung zu vollbringen sucht, wie die, die von Kant in der Kategorienlehre der Kritik der reinen Vernunft erfüllt wurde. Kant beschreibt transzendental, a priori, in den Kategorien die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens überhaupt; er kategorisiert die erkennende Subjektivität. Die vier Status Jellineks beschreiben nicht eine angebliche Substanz der Rechtssubjektivität, sondern kategorisieren dieselbe. Die Statuslehre Jellineks ist die transzendentale (a priori) Deduktion der Kategorien der rechtlichen Subjektivität. Wenn man diese Lehre besprechen oder gar kritisieren möchte, muss man dem philosophischen Anspruch Jellineks gerecht werden. Er deduziert rational. Beziehungen zwischen Personen lassen sich entweder negativ (verneinend) oder positiv (behauptend) und immer reziprok denken, als Ausschluss oder als Mitwirkung. Im passiven Status (Unterworfensein) behauptet sich der Staat gegen den Einzelnen, der als Person verneint wird. Reziprok behauptet sich der Einzelne im negativen Status frei vom Staat, der verneint wird (staatsfreie Sphäre). Dies sind die zwei ausschließenden Beziehungen. Im positiven Status handelt der Saat für den Einzelnen, bringt im Interesse des Einzelnen Leistungen. Im aktiven Status handelt der Einzelne für den Staat, erbringt ihm durch Ausübung von Mitwirkungsrechten eine Leistung. Dies sind die beiden Kategorien der Mitwirkung, je nach individuellem bzw. staatlichem Interesse unterschieden.

56 57

Ebd., S. 83. Ebd., S. 82.

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Diese Kategorien sind nicht konkret mit bestimmten subjektiven öffentlichen Rechten a priori ausgefüllt. Sie geben nur die Voraussetzungen, diese Rechte zu denken und in ein System einzubinden. In diesen Kategorien nimmt das System der subjektiven öffentlichen Rechte seine eigentliche Form an. Man sieht dabei auch was „System“ bei Jellinek bedeuten kann: nicht die äußere Ordnung des Rechts, auch nicht, anders als bei der historischen Rechtsschule die innere, immanente Ordnung eines gegebenen Rechts, sondern die a priori Systematik, nach welcher ein konkretes Recht gedacht werden kann. Die allerfeinste Pointe dieses Rechtsdenkens ist aber die folgende: Indem der Staat die Persönlichkeit der Einzelnen schafft, schafft er zugleich seine eigene Persönlichkeit. Die juristische Persönlichkeit den Einzelnen zuzuteilen, den Status derselben mit subjektiven Rechten auszufüllen und so ihre Fähigkeit und Autonomie zu erweitern, ist ein Akt der Anerkennung. Es ist bemerkenswert, wie das Wort Anerkennung bei Jellinek immer wieder vorkommt. Diese Anerkennung ist der faktische, historische Prozess der Moderne und ist nichts anderes als die eigene Dynamik des modernen Staats. Es ist das eigentliche Programm Jellineks, diese Dynamik zu erforschen. Die drei großen Werke der Heidelberger Periode – das System der subjektiven öffentlichen Rechte, die Erklärung der Menschenrechte und die Allgemeine Staatslehre, die als Band 1 eines als zweibändig geplanten Buchs unter dem Titel „Das Recht des modernen Staates“ 1900 erschienen ist – sind diesem Programm in der Tat ganz gewidmet. Die Anerkennung des Einzelnen durch den Staat bringt aber fast dialektisch seinen Ausgleich mit sich: die Anerkennung des Staats und seiner Rechtsordnung durch die Bürger. Von diesem politisch-historischen Gesichtspunkt aus erlangt die Anerkennungstheorie der Rechtsgeltung bei Jellinek ihr wahres Gewicht. Eine Rechtsordnung gilt, indem sie von den Unterworfenen anerkannt wird. Im individualistischen Zeitalter der Moderne erkennt der Bürger die Rechtsordnung an, die ihn ihrerseits in seiner Autonomie anerkennt. Diese gegenseitige Anerkennung ist die historische Bedingung der Legitimität des Staats, des Geltungsgrundes der Rechtsordnung, die diesen Staat schafft und die dieser Staat hat. So bleibt Jellinek, trotz Positivismus aber dank seiner Philosophie, im Grunde ein Liberaler.

Demokratieprinzip und funktionale Selbstverwaltung Von Volker Neumann

I. Einführung 1. Begriffsklärung

Selbstverwaltung ist mittelbare Staatsverwaltung durch verselbständigte und im Regelfall mitgliedschaftlich organisierte Körperschaften des öffentlichen Rechts1. Merkmale der Körperschaft sind die Existenz besonderer Organe der Willensbildung und die Unabhängigkeit vom Wechsel der Mitglieder oder deren Bestand. Die bedeutendste Selbstverwaltungskörperschaften sind die Gemeinden, die in Art. 28 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich anerkannt sind. Unter der Bezeichnung funktionale Selbstverwaltung werden die nichtkommunalen Selbstverwaltungskörperschaften zusammengefasst. Die funktionale Selbstverwaltung kann als aufgabenbezogene, weisungsfreie Verwaltung durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, deren Entscheidungsorgane aus den Betroffenen bzw. ihren Mitgliedern rekrutiert werden, definiert werden2. Dazu gehören die wirtschafts- und berufsständischen Kammern und die Sozialversicherungsträger sowie diverse Körperschaften und Ausschüsse des Vertragsarztrechts.

2. Selbstverwaltung als Realisationsmodus von Demokratie

Die funktionale Selbstverwaltung ist als Träger von Staatsgewalt unstrittig an das demokratische Prinzip gebunden. Strittig geworden ist aber seit den 1990er Jahren, ob die Ausübung von Staatsgewalt durch Selbstverwaltungskörperschaften den Anforderungen des demokratischen Prinzips genügt. Die Streitbefangen1 Eine auch nur einigermaßen verbindliche juristische Begriffsbestimmung von Selbstverwaltung gibt es m. W. nicht. Für Paul Laband, Staatsrecht, Bd. 1, 1876, S. 104, war Selbstverwaltung „diejenige obrigkeitliche Verwaltung, welche nicht durch Behörden und Beamte des Staates, oder da diese Behörden nur Organe oder Apparate des Staates sind, nicht durch den Staat selbst, sondern durch ihm zwar untergeordnete, aber innerhalb ihres Wirkungskreises selbständige Corporationen oder Einzelpersonen versehen wird“. 2 Horst Dreier in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 131; Ernst Thomas Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 9 f.

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heit dieser Frage ist erstaunlich, weil lange Zeit die Auffassung dominant war, Selbstverwaltung sei ein Realisationsmodus von Demokratie3. Für Kelsen war sie „demokratische Verwaltung, Verwaltung der zu Verwaltenden durch sich selbst oder doch durch ein von ihnen gewähltes Kollegium4“. Andere sahen in ihr eine Grundlage und ein Glied der Demokratie, ein demokratisches Aufbauprinzip, ja sogar eine „Schule der Demokratie“5. Der demokratische Legitimationsprozess, wie er sich in der Selbstverwaltung vollzieht, stehe grundsätzlich gleichwertig neben der Entscheidung und Kontrolle durch das Parlament, bereits im Demokratieprinzip liege die verfassungsrechtliche Anerkennung von Selbstverwaltung6. Etwas zurückhaltender schreibt ein anderer Autor, dem Grundgesetz würden die „Beziehungen zwischen Demokratie und Selbstverwaltung vorrangig positiv determiniert“ erscheinen; Demokratie sei zwar ohne Selbstverwaltung, aber Selbstverwaltung nicht ohne demokratische Verfasstheit denkbar7. Auch Friedrich Müller argumentiert in dieser Tradition: Die „Wahl zu Selbstverwaltungsinstanzen“ ist Ausübung demokratischer Herrschaft durch das Volk8. Noch deutlicher wird der Zusammenhang von Demokratie und Selbstverwaltung, wenn die Kommunen in den Blick genommen werden. So wird zur kommunalen Selbstverwaltung gesagt, sie schaffe eine zusätzliche demokratische Ebene, indem sie den Aufbau der Demokratie von unten nach oben ermögliche9. Dem Grundgesetz sei, so wurde auch gesagt, ein Gegensatz von Demokratie und Selbstverwaltung fremd10. Gewiss, es gab schon immer verein3 Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, S. 305: Die durch die Realisierung des Selbstverwaltungsprinzips eröffnete politische Teilnahme trage „demokratischen Charakter“. Differenzierend Gunnar Folke Schuppert, Selbstverwaltung, Selbststeuerung, Selbstorganisation, AöR 114 (1989), 127 (136 f.). 4 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 365. Von dieser Aussage zur „Demokratisierung der Verwaltung“ ist das problematische Verhältnis von „Demokratie der Gesetzgebung und Demokratie der Vollziehung“ zu unterscheiden. Hier ist dann das bekannte Postulat Kelsens anzutreffen, dass die demokratische Vollziehung des Volkswillens besser durch eine autokratische Organisation der Staatsverwaltung als durch Selbstverwaltung gewährleistet sei (S. 366 f.; vgl. auch ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1929, S. 73). 5 Erich Becker, Artikel „Selbstverwaltung“, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 7, 6. Aufl. 1962, Sp. 45 (46 f.). 6 Carl Peter Fichtmüller, Zulässigkeit ministerialfreien Raums in der Bundesverwaltung, in: AöR (1966), S. 297 (334). 7 Eberhard Schmidt-Aßmann, Zum staatsrechtlichen Prinzip der Selbstverwaltung, in: Peter Selmer/Ingo von Münch (Hrsg.); Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 249 (257). Vgl. auch Werner Frotscher, Selbstverwaltung und Demokratie, in: Albert v. Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft. Festgabe v. Unruh, 1983, S. 127 (144): „Wenn in einer Demokratie Selbstverwaltung existiert, dann muss diese Form öffentlicher Verwaltung demokratisch strukturiert sein.“ 8 Friedrich Müller, Wer ist das Volk?, 1997, S. 23. 9 Vgl. BVerfGE 79, 127 (149); 83, 37 (55); Dreier (Fn. 2), Art. 28 Rn. 85; Jakob Julius Nolte, Das freie Mandat der Gemeindevertretungsmitglieder, DVBl. 2005, 870 (872).

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zelte Gegenstimmen, die einen solchen Gegensatz behaupteten11. Dennoch war die Feststellung aus dem Jahre 1984 zutreffend, dass der Zusammenhang von Selbstverwaltung und Demokratie „heute allenthalben betont“ werde12. Eben diesen Zusammenhang hatte in den 1990er Jahren das Bundesverfassungsgericht massiv in Frage gestellt. II. Legitimationsdogmatik: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ 1. Volk als Staatsvolk

Das Volk, auf das gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG alle ausgeübte Staatsgewalt zurückführbar sein muss, ist die „Gesamtheit der Staatsbürger13“, „wie sie in der Aktivbürgerschaft zur Erscheinung kommt14“, also das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland15 bzw. eines Landes. Dagegen bilden die Mitglieder der funktionalen Selbstverwaltung keine „Verbandsvölker“ oder „Teilvölker“16. Denn dem Volksbegriff eigne das Element der „unbestimmten Allgemeinheit“, das den nach funktions- oder interessenbestimmten Merkmalen abgegrenzten Gruppen in der funktionalen Selbstverwaltung gerade fehlt17. Anderes gilt für die Gemeinden, die Strukturelemente aufweisen, wie sie einen staatlichen Verband kennzeichnen: Erstens ist der Aufgabenkreis der Gemeinden nicht sachlich-gegenständlich beschränkt, sondern umfassend, soweit ihr gebietlicher Wirkungsbereich betroffen ist. Zweitens bestimmt sich die personelle Zugehörigkeit zu einer kommunalen Gebietskörperschaft nicht nach gruppenspezifischen Kriterien, wie besonderen Eigenschaften, Funktionen oder Interessen, sondern ausschließlich nach der Wohnsitznahme im Hoheitsgebiet der Gemeinde18. Eine „in sich differente, gemischte, gruppierte, aber gleichheitlich und undiskriminiert organisierte Vielheit19“ ist das Volk der Legitimationsdogmatiker nicht. 10 Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), 305 (319). 11 Nachweise bei Hendler (Fn. 3), S. 167 in Fn. 235. 12 Hendler (Fn. 3), S. 302. 13 BVerfGE 83, 60 (72). 14 BVerwGE 106, 64 (77). 15 BVerfGE 83, 37 (50). 16 Florian Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 448 m. weit. Nachweisen. A. A. Roman Herzog, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 20, II. Abschnitt Rn. 56–60; Dirk Ehlers, Die Grenzen der Mitbestimmung in öffentlichen Unternehmen, JZ 1987, 218 (221); Janbernd Oebbecke, Demokratische Legitimation nicht-kommunaler Selbstverwaltung, VerwArch 81 (1990), 349 (357 f., 361). 17 BVerfGE 83, 37 (55); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1992, S. 289 (317 – Rn. 31, 319 – Rn. 33). 18 BVerfGE 83, 37 (54 f.).

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Volker Neumann 2. Defizite der personell demokratischen Legitimation

Die Mitglieder der Körperschaften der funktionalen Selbstverwaltung bilden also kein „Teilvolk“, das demokratische Legitimation im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG zu spenden vermag. Wie kann dann aber die von der funktionalen Selbstverwaltung ausgeübte Staatsgewalt demokratisch legitimiert werden? Mit dieser Frage stoßen wir auf den ersten kritischen Punkt der Verfassungsrechtsprechung zu Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG. Die Legitimation kann nur vom Staatsvolk ausgehen, d. h. es muss ein ununterbrochener Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und Staatsgewalt bestehen20. Die ausgeübte Staatsgewalt, also alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter21, muss auf den Willen des Volkes zurückführbar sein. Diese Anforderung bezieht sich sowohl auf die Träger staatlicher Herrschaftsbefugnisse, also auf die Personen, als auch auf deren Entscheidungen: Die Ernennung jedes staatlichen Funktionsträgers und jede staatliche Entscheidung müssen auf Willensäußerungen des Volkes zurückführbar sein. Die personelle und die materielle (sachlich-inhaltliche) Legitimation je für sich allein genügen grundsätzlich nicht, sondern sie müssen kumulativ bei der Ausübung der Staatsgewalt gegeben sein22. Die personell demokratische Legitimation verlangt das Bestehen einer ununterbrochenen Legitimationskette zwischen jedem Amtswalter und dem Volk. Ununterbrochen heißt, dass der Amtswalter sein Amt (1) im Wege einer Wahl durch das Volk oder (2) das Parlament oder (3) dadurch erhalten hat, dass er durch einen seinerseits personell legitimierten, unter Verantwortung gegenüber dem Parlament handelnden Amtswalter oder mit dessen Zustimmung bestellt worden ist23. Diese Bestellung, die ein individueller Einsetzungsakt sein muss24, verschafft zugleich den Organen, in denen und für die der Amtswalter handelt, demokratische Legitimation. Hier zeigt sich das zentrale Defizit des von Böckenförde entwickelten und vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffenen Demokratiebegriffs. Die Amtswalter von Selbstverwaltungskörperschaften werden nicht vom parlamentsvermittelt legitimierten Minister bestellt, sondern von den Mitgliedern bzw. von den durch Wahl der Mitglieder konstituierten Selbstverwaltungsorganen gewählt. Ihnen fehlt also jede parlamentsvermittelte personelle demokratische Legitimation. Die Folgen sind misslich: Der von der funktionalen Selbstverwaltung ausgeübten Staatsgewalt fehlt die demokratische Legitimation. 19 Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 91. 20 BVerfGE 93, 37 (66). 21 BVerfGE 83, 60 (73); 93, 37 (68); VerfGH NW 9. 6. 1997 DVBl. 1997, 1107 (1110); VerfGH Berlin 21. 10. 1999 – VerfGH 42/99, S. 7. 22 Böckenförde (Fn. 17), S. 308 f. (Rn. 23); Emde (Fn. 2), S. 331 f. 23 BVerfGE 83, 60 (72 f.); E 93, 37 (67); E 107, 59 (88); BVerwGE 106, 64 (75). 24 Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungslegitimation als Rechtsbegriff, AöR 116 (1991), S. 329 (360): „individuelle Einsetzungsakte“.

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Wie misslich die Folgen dieses doktrinären Demokratieverständnisses werden können, zeigte eine Entscheidung des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichts zur Mitbestimmung im öffentlichen Dienst25. Ein Landesgesetz hatte vorgesehen, dass die Bediensteten von Sparkassen ein Drittel der Mitglieder des Verwaltungsrats der öffentlichen Sparkassen stellen sollten. Das Gericht erkannte einen Verstoß gegen das demokratische Prinzip, da das Erfordernis der demokratischen Legitimation sich auf jedes einzelne Mitglied beziehe. Eine demokratische Legitimation könne nur die Gemeinde als „Teilvolk“ vermitteln, nicht aber die Wahl durch die Bediensteten. Diese Folge ging sogar dem BVerfG zu weit. Das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 2 GG lasse bei sachlich unabhängigen Organen, in denen demokratisch nicht legitimierte Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen wie etwa Gewerkschafter oder Sachverständige vertreten sind, gewisse Einschränkungen der personellen Legitimation zu. Voraussetzung ist aber, dass die Mehrheit der Mitglieder demokratisch legitimiert ist und keine Entscheidung gegen diese Mehrheit zustande kommen kann (Prinzip der doppelten Mehrheit)26. Die Anforderungen an die Zusammensetzung des Selbstverwaltungsorgans werden also ein Stück weit zurückgenommen. Festgehalten wird aber an dem Grundsatz, dass Selbstverwaltung kein Realisationsmodus von Demokratie ist. 3. Legitimationskompensation

Das konstatierte Legitimationsdefizit wäre unschädlich, wenn die personelle Legitimation durch die sachliche kompensiert werden könnte. Eine solche Legitimation scheint zunächst unproblematisch zu sein, da beide Legitimationsfaktoren auf das gleiche Ziel gerichtet sind, nämlich auf eine effektive demokratische Legitimation staatlichen Handelns, also nur ein hinreichendes Legitimationsniveau gefordert ist27. Deshalb ist es grundsätzlich möglich, dass Mängel der personellen Legitimation durch dichtere parlamentsgesetzliche Bindungen der Amtswalter kompensiert werden. Strittig ist jedoch, ob eine Totalsubstitution der personellen Legitimation durch die sachliche Legitimation möglich ist. Diejenigen Autoren, die der personellen Legitimation von vornherein skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen, bejahen diese Frage ohne Umschweife. In der Tat ist schwer einzusehen, warum ein Amtswalter als demokratisch legitimiert gelten soll, nur weil ihm sein Amt vor Jahrzehnten von einem Dienstvorgesetzten übertragen worden ist, der von einer Regierung eingesetzt wurde, die längst nicht mehr im Amt ist28. Andere Autoren lehnen eine vollständige Ersetzung 25

VerfGH NW, DVBl. 1986, 1196. BVerfGE 93, 37 (67 f.); 107, 59 (88). 27 BVerfGE 83, 60 (72); 93, 37 (66 f.). 28 Detlef Czybulka, Die Legitimation der öffentlichen Verwaltung, 1989, S. 89 f.; Hans-Georg Dederer, Organisatorisch-personelle Legitimation der funktionalen Selbst26

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der personellen Legitimation kategorisch ab29. Überwiegend wird eine Totalsubstitution für zulässig erachtet, wenn an die Stelle der ausgefallenen personellen Legitimation eine umfassende materielle Legitimation, eine „Totalprogrammierung“ des Entscheidungsinhalts tritt30. Das ist auch die Linie der Rechtsprechung: Einzelne Legitimationselemente dürfen zurücktreten, wenn Kompetenzen im Einzelnen und ihrem Umfang nach eng begrenzt sind und die zu treffenden Entscheidungen inhaltlich soweit vorstrukturiert sind, dass sie sich etwa auf die messbar richtige Gesetzesdurchführung beschränken31. Allerdings ist diese Position für die Substitution von Legitimationsdefiziten der Selbstverwaltung wenig hilfreich. Da nämlich für die Selbstverwaltung ein Entscheidungsspielraum und für die exekutive Rechtsetzung ein Normsetzungsermessen geradezu begriffsnotwendig sind, ist es kaum vorstellbar, dass eine ausgefallene personelle Legitimation vollständig durch eine „Totalprogrammierung“ der Normsetzung substituiert werden kann. III. Das Erbe Rousseaus Wie ist die eigenartige Blindheit des legitimationstheoretischen Demokratiebegriffs gegenüber der funktionalen Selbstverwaltung zu erklären? Den entscheidenden Hinweis liefert Böckenfördes Verständnis der repräsentativen Demokratie. „Demokratische Repräsentation – so schrieb er 1983 – bedeutet die Aktualisierung und Darstellung des in den Bürgern angelegten eigenen Selbst des Volkes sowie des Bildes, das in der Vorstellung der Bürger von der Art der Behandlung der allgemeinen Fragen sowie der Vermittlung der Bedürfnisse und Interessen auf das Allgemeine hin lebendig ist. Sie kommt zustande, wenn die einzelnen ihr eigenes Ich als Bürger (citoyen in sich) und das Volk sein eigenes Selbst (volonté générale) im Handeln der Repräsentanten, ihren Überlegungen, Entscheidungen und Fragen an das Volk wiederfinden. Sie zeigt sich so als Vorgang der Vermittlung auf das von den Bürgern getragene Allgemeine, dessen Charakter als volonté générale im Unterschied zur volonté de tous hier augenfällig ist32“. Die Übereinstimmungen mit dem Repräsentationsbegriff Carl verwaltung, NVwZ 2000, 403; Thomas Blanke, Antidemokratische Effekte der verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie, KritJ 1998, 452 (463 f.); OVG Münster 9. 6. 1995 NWVBl. 1996, 254 (259). 29 Becker (Fn. 16), S. 364 f.; Böckenförde (Fn. 17), S. 289 (Rn. 23); Emde (Fn. 2), S. 331 f. 30 Andreas Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 63; Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 284; SchmidtAßmann (Fn. 24), S. 366–368; Oebbecke (Fn. 16), S. 357 f. 31 BVerfGE 83, 60 (74); BVerwGE 106, 64 (81 f.). 32 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie und Repräsentation. Zur Kritik der heutigen Demokratiediskussion, 1983, S. 25 f.; wiederabgedruckt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1992, S. 379.

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Schmitts sind unübersehbar: Die Regierung repräsentiere nicht das Volk als eine empirische Größe, sondern die politische Einheit des Volkes als Ganzes. Denn etwas Minderwertiges könne nicht repräsentiert werden, nur eine gesteigerte, höhere Art des Seins gelangt in der Repräsentation zur konkreten Erscheinung33. Genau besehen wird also nicht die politische Einheit, sondern die Idee der politischen Einheit des Volkes repräsentiert. Um mit Friedrich Müller zu sprechen: Das Volk wird zur Ikone34. Nicht repräsentierbar sind insbesondere Interessen35. Zwar spricht Böckenförde von „Bedürfnissen und Interessen“, aber eben nur in Ansehung ihrer Vermittlung „auf das Allgemeine hin“. Was aber hat das alles mit Rousseau zu tun, der bekanntlich die Repräsentation des Volkes strikt abgelehnt hat36? Mit dem Abschluss des Gesellschaftsvertrages verschmelzen die Einzelwillen mit dem Gemeinwillen, Herrschende und Beherrschte werden identisch. Der Vertrag ist der Ort der „Verwandlung der (geschichtlich verlorenen und verderbten) natürlichen Unabhängigkeit in die sittliche Freiheit des Staatsbürgers37“. Zu Recht wird Rousseau entgegen gehalten, dass der Abschluss des Vertrags, der naturhaft-egoistische Nutzenmaximierer in sittliche citoyens verwandeln soll, mit Aussicht auf Plausibilität nur Personen zugeschrieben werden kann, die so beschaffen sind, dass ihnen die Vorzugswürdigkeit des zu bewirkenden Zustands einleuchtet38. Wenn nun aber die Verwandlung in den citoyen die Voraussetzung des Vertragsschlusses ist, dann stellt sich die Frage, warum überhaupt noch ein Vertrag abgeschlossen werden muss. Carl Schmitt hat diesen kritischen Punkt klar erkannt: „Wenn aber Einmütigkeit und Übereinstimmung aller Willen mit allen wirklich so groß ist, wozu braucht dann noch ein Vertrag geschlossen oder auch nur konstruiert zu werden? Der Vertrag setzt doch Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit voraus. . . . Die volonté générale, wie Rousseau sie konstruiert, ist in Wahrheit Homogenität39.“

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Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 210. Müller (Fn. 8), S. 32: „Die Ikonisierung besteht darin, das vorhandene Volk sich selber zu überlassen; die Bevölkerung zu entrealisieren, zu mythisieren . . ., sie pseudosakral zu überhöhen und so als für die Gewalt unschädlich gemachte abstrakte Schutzpatronin zu setzen – ,notre bon peuple‘.“ 35 Schmitt (Fn. 33), S. 212: „Wenn der Repräsentant nur als ein Vertreter behandelt wird, der aus praktischen Gründen (weil unmöglich alle Wähler immer zu gleicher Zeit an einem Ort zusammen kommen können) die Interessen der Wähler wahrnimmt, so ist keine Repräsentation mehr vorhanden.“ 36 Gesellschaftsvertrag III, 15, S. 158. 37 Friedrich Müller, Entfremdung. Folgeprobleme der anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx, 2. Aufl. 1985, S. 32. 38 Michael Pawlik, Hegels Kritik an der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus, in: Der Staat 1999, 21 (31). 39 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, S. 19 f. Ähnlich Müller (Fn. 37), S. 46, der den Vertrag als „juridisches 34

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Das Erbe Rousseaus ist bei Schmitt die Homogenität des Volkes und bei Böckenförde das „in den Bürgern angelegte eigene Selbst des Volkes“, das „unbestimmt Allgemeine“. Schmitt bleibt dem Erbe Rousseaus auch insofern treu, als er die Repräsentation der Regierung zuschreibt, also strikt von der Demokratie scheidet. Böckenförde modifiziert Schmitts Ansatz in zweifacher Weise. Erstens begreift er Repräsentation „als konstituierendes Element der Demokratie“, verbindet sie also mit der Demokratie. Zweitens beschreibt er Repräsentation als einen „geistig-politischen Prozess“ und setzt sie damit vom „statischen“ Repräsentationsbegriff Carl Schmitts ab, dem es nur um die „Abbildung oder Darstellung eines für sich bestehenden, wenngleich unsichtbaren Seins40“ gegangen sei. Gemeinsam ist beiden Autoren die „Erhebung über den bloß natürlich-empirischen Willen“ des Volkes und damit über gesellschaftliche Interessen, die zwar bei Böckenförde in den Prozess der Repräsentation eingehen, aber eben nur – wie oben dargelegt – um „auf das Allgemeine hin“ geläutert zu werden. Die funktionale Selbstverwaltung ist nun aber nichts anderes als die Organisation der besonderen Interessen ihrer Mitglieder. Deshalb kann ihre interne Willensbildung keine demokratische und die von ihr ausgeübte Staatsgewalt nicht mitgliedschaftlich-demokratisch, also nicht autonom legitimiert sein.

IV. Rechtfertigungen des Legitimationsdefizits und Alternativen Auf der Grundlage der Legitimationsdogmatik ist die von der funktionalen Selbstverwaltung ausgeübte Staatsgewalt demokratisch illegitim und insofern zunächst einmal verfassungswidrig. Damit gerät die „volksdemokratische Lehre“ in fast unlösbare Schwierigkeiten41: Das gesamte untergesetzliche Sozialrecht einschließlich der Normenverträge des Kassenarztrechts und der in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzenden Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses wäre schlicht und einfach verfassungswidrig. Deshalb werden in der Literatur allerlei Ansätze zur Rechtfertigung des Legitimationsdefizits entwickelt. 1. Rechtfertigung durch Verfassungsrecht

Einem ersten Ansatz hatte Böckenförde die Richtung gewiesen: Die Rechtfertigung könne sich „aus ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anerkennung . . . wie im Fall des Art. 87 Abs. 2 GG“ ergeben42. Ein Teil der Literatur erkennt Bild für den Übergang zu dem substantiell neuen Status des personalen Gemeinschaftlich-Seins“ versteht. 40 Böckenförde (Fn. 32), S. 15 und 20. 41 Bryde (Fn. 10), S. 319. 42 Böckenförde (Fn. 17), S. 289 (Rn. 34).

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denn auch in der genannten Norm eine Gewährleistung der sozialen Selbstverwaltung und ihrer bunten Vielfalt der Rechtsnormen, wobei dieser Ansatz in zahlreichen Varianten vorgetragen wird43. Hier sei nur auf eine dieser Varianten hingewiesen: Art. 87 Abs. 2 GG ermögliche dem Parlament, abweichend von Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG verselbständigte Verwaltungseinheiten in der Sozialversicherung unmittelbar zur Normsetzung aufgrund eines Gesetzes zu ermächtigen44. Die allen Varianten zu Grunde liegende These, der Parlamentarische Rat habe in Art. 87 Abs. 2 GG die aus der Weimarer Republik überlieferten Entscheidungsstrukturen der sozialen Selbstverwaltung „stillschweigend“ gebilligt, vermag nicht zu überzeugen. Dies schon deshalb nicht, weil der Schluss aus dem Schweigen des Verfassungsgebers auf die Billigung des Überlieferten in frontalem Widerspruch zu der in Art. 123 Abs. 1 GG zum Ausdruck gelangten Traditionsfeindlichkeit des Grundgesetzes steht45. Im Übrigen wurden die in der Sozialversicherung erlassenen oder vereinbarten exekutiven Regelungen erst in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Rechtsnormen gewertet. Bis dahin scheute man diese Qualifikation gerade deshalb, weil die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Normsetzung bezweifelt wurde. Ein anderer Ansatz zieht durch eine analoge Anwendung von Art. 9 Abs. 3 GG das verfassungsrechtliche Muster einer sozialpartnerschaftlich-mitgliedschaftlichen Legitimation heran46. Abwegig ist diese Analogie zum Grundrecht der Koalitionsfreiheit nicht. Denn das Kassenarztrecht ist als Arbeitskampfrecht entstanden und noch in der Weimarer Republik wurden die ärztlichen Berufsverbände als Koalitionen im Sinne des Art. 159 WRV und die Mantel- und Gesamtverträge als eine Art Tarifverträge gewertet47. Allerdings ist dieser Ansatz nur für solche Regelungsmaterien tragfähig, die eine enge Beziehung zu den „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG aufweisen. Und außerdem muss er sich mit dem grundsätzlichen Einwand auseinandersetzen, dass die normsetzenden Verwaltungseinheiten allesamt keine Grundrechtsträger sind.

43 Becker (Fn. 16), S. 457 f.; Dietmar Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, 2003, S. 209 f.; Jan Castendiek, Der sozialversicherungsrechtliche Normsetzungsvertrag, 2000, S. 109; Jestaedt (Fn. 30), S. 537 in Fn. 537; Emde (Fn. 2), S. 453–455; Thomas Clemens, Normstrukturen im Sozialrecht, NZS 1994, S. 337 (343). 44 Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 299– 307. 45 Fritz Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarztrecht, NZS 1997, 497 (500 f.). 46 Hänlein (Fn. 30), S. 151 f. Ebenso Horst Dieter Schirmer, Verfassungsrechtliche Probleme der untergesetzlichen Normsetzung im Kassenarztrecht, MedR 1996, 404 (410 f.). 47 Lutz Richter/Wilhelm Sonnenberg, Die kassenärztlichen Rechtsverhältnisse, 2. Aufl. 1930, S. 11, 14.

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Volker Neumann 2. Alternative Regelungen durch den Gesetzgeber

Gefragt wird auch, ob das konstatierte Legitimationsdefizit der Richtlinien durch eine Verstärkung der Aufsichtsrechte des demokratisch legitimierten Bundesministers für Gesundheit gerechtfertigt werden kann48. Ein anderer Vorschlag rät zum Ersatz der zweifelhaften Rechtsformen des untergesetzlichen Sozialrechts durch Rechtsverordnungen49. Der Rat will nicht so recht überzeugen, weil auf die Sachkunde der an der Setzung oder Vereinbarung des untergesetzlichen Sozialrechts beteiligten Akteure nicht verzichtet werden sollte und die Rechtsverordnung ein zu starres Instrument ist, um die Dynamik des medizinischen Fortschritts zu erfassen. Andere Autoren empfehlen als Alternative zur Normsetzung durch Vertrag eine modifizierte Allgemeinverbindlicherklärung der Normenverträge durch den Minister50. V. Demokratie und Volkssouveränität Auf der Grundlage der in den 1990er Jahren entwickelten Legitimationsdogmatik ist das Verdikt „Demokratiewidrigkeit der Selbstverwaltung und Verfassungswidrigkeit des untergesetzlichen Sozialrechts“ so gut wie unausweichlich. Dieses Ergebnis gibt Anlass zu der Frage, ob die Legitimationsdogmatik wirklich das letzte Wort der Staatsrechtslehre zum Demokratieprinzip des Grundgesetzes sein kann. Es hat sich gezeigt, dass die Blindheit des volksdemokratischen Legitimationskonzepts für die demokratischen Gehalte von Selbstverwaltung darin begründet ist, dass „Volk“ im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG nur das Staatsvolk ist, d. h. die Mitglieder der funktionalen Selbstverwaltung keine legitimationsfähigen Teilvölker bilden. Es hat sich auch gezeigt, dass die dafür gegebene staatstheoretische Begründung in hohem Maße zweifelhaft ist. Allerdings lässt sich das enge Verständnis von „Volk“ mit Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der Norm gut belegen51. Warum aber nennen die Legitimationsdogmatiker immer nur Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, wenn sie vom demokratischen Prinzip sprechen, und nicht Art. 20 Abs. 1 GG („demokratischer Bundesstaat“)? Anders gefragt: In welchem Verhältnis steht das demokratische Prin48 Helke Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen nach dem neuen Recht des SGB V, 1994, S. 98, 100 f.; Markus Kaltenborn, Richtliniengebung durch ministerielle Ersatzvornahme, VSSR 2000, S. 249. 49 Raimund Wimmer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an untergesetzliche Rechtsetzung im Vertragsarztrecht, MedR 1996, 425. 50 Jonathan I. Fahlbusch, Das gesetzgeberische Phänomen der Normsetzung durch oder mit Vertrag, 2004, S. 232 ff.; Volker Neumann, Normenvertrag, Rechtsverordnung oder Allgemeinverbindlicherklärung?, 2002, S. 46 ff. 51 Markus Plantholz, Funktionelle Selbstverwaltung des Gesundheitswesens, 1998, S. 81–89; Emde (Fn. 2), S. 322–326; OVG Münster 9.6.1995 NWVBl. 1996, 254 (257 f.).

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zip des Art. 20 Abs. 1 GG zum Prinzip der Volkssouveränität des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG? Einige Autoren rücken die Volkssouveränität so nahe an das Demokratieprinzip heran, dass beide Prinzipien identisch erscheinen. Demokratie sei die „Konsequenz und Verwirklichung des Prinzips der Volkssouveränität, knüpft an dieses an und findet in ihm ihre Grundlage und Rechtfertigung52“. Dieser Aussage kommt eine andere nahe, die zwar den ideengeschichtlichen Unterschied zwischen beiden Prinzipien festhält, Volkssouveränität und Demokratie dann aber in ein Verhältnis von Zweck und Mittel setzt. Während aus der Volkssouveränität das Legitimationsziel folge, nämlich die Rechtfertigung von Herrschaft durch das Volk, liefere das Demokratieprinzip die Instrumente der Realisierung der Verantwortung, diene also der Herrschaftsorganisation53. Volkssouveränität wird auch als eine schlichte Präzisierung des Demokratiebegriffs verstanden, womit beide Prinzipien im Ergebnis zusammenfallen54. Gegen die Behauptung einer (weitgehenden) Identität der beiden Prinzipien spricht bereits ihre Geschichte. Die Idee der Volkssouveränität ist nicht demokratischen Ursprungs. Denn bereits im Hochmittelalter ist die Auffassung anzutreffen, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht55. Volkssouveränität war schon immer mehrdeutig, weil sie lange Zeit als eine Kategorie der Legitimation staatlicher Herrschaft, als eine „staatstheoretisch-fiktive Kunstgröße“ verstanden wurde. Daraus wird der Schluss gezogen, die Volkssouveränität werde durch die Verankerung des demokratischen Prinzips in Art. 20 Abs. 1 GG „verdeutlicht, um nicht zu sagen eingeschränkt56“. Volkssouveränität war ursprünglich an die Stelle der Fürstensouveränität getreten und hatte deren Struktur der Allgewalt unbesehen übernommen. Diese schlichte Auswechslung hatte problematische Folgen, weil aufgrund der Formierungs- und Vermittlungsbedürftigkeit des Volkswillens demokratische Souveränität nicht einfach Fürstensouveränität mit anderem Vorzeichen sein kann, sondern eine politikfähige, in einem Verfahren organisierte Einheit voraussetzt57. 52 Böckenförde (Fn. 17), S. 289 (Rn. 8). Ähnlich Georg Wegge, Zur normativen Bedeutung des Demokratieprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG, 1996, S. 81: Das Eigenschaftswort „demokratisch“ in Art. 20 Abs. 1 GG finde in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG „seine zentrale Ausprägung“. 53 Jestaedt (Fn. 30), S. 161 f. 54 Hans H. Klein, Demokratie und Selbstverwaltung, in: Roman Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 165 (166). 55 Allerdings fehlt der mittelalterlichen Vorstellung der Konsensgebundenheit der Herrschaft der Gedanke an individuelle Rechtspositionen, der für die moderne Konzeption der Volkssouveränität zentral ist. Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität, 1994, S. 23 f. 56 Herzog (Fn. 16), Art. 20 II Rn. 2 und 36 f. 57 Horst Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 22 f. Vgl. auch die Kritik an der monistischen Theorie der Verwaltungslegitimation bei

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Zu Recht wird auf die Bedeutung hingewiesen, die das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 und Art. 21 der demokratischen Willensbildung beilegt. Es fordert deren Verwirklichung sogar innerhalb der Parteien, obwohl diese lediglich bei der politischen Willensbildung mitwirken, nicht aber selbst hoheitliche Gewalt ausüben. Daraus wird geschlossen, dass jedenfalls solche staatlichen Organisationen, die hoheitliche Kompetenzen wahrnehmen, in ihrem inneren Aufbau demokratisch organisiert sein müssen58. Ein neuerer Ansatz knüpft an diese Argumentation an und weist anhand des Wortlauts, der Systematik und Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes nach, dass das Prinzip der Volkssouveränität nicht deckungsgleich mit dem demokratischen Prinzip ist. Dieses Prinzip gebietet eine möglichst weitgehende Verwirklichung der kollektiven Selbstbestimmung und der formal-egalitären Gleichheit, wozu insbesondere die Willensbildung von „unten nach oben“ gehört59. Demokratie gründet in der Selbstbestimmung des einzelnen und in der Gleichheit aller Menschen. Es ist die Synthese von Freiheit und Gleichheit, die für die Demokratie konstitutiv ist60. Die funktionale Selbstverwaltung ist ein Realisationsmodus von Demokratie, wenn und soweit ihre Willensbildung „von unten nach oben“ organisiert ist. Diese Erkenntnis ist bereits in der älteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur berufsständischen Selbstverwaltung der Ärzte und Rechtsanwälte anzutreffen. Darin wird ausgeführt, dass Selbstverwaltung und Autonomie „ebenfalls im demokratischen Prinzip wurzeln61“. Diese autonome Legitimation wird von der staatlich-demokratischen unterschieden62. Dass die autonome Legitimation als eine demokratische verstanden wird, zeigt die Wertung von Selbstverwaltung als eigenverantwortliche Regelung eigener Angelegenheiten durch demokratisch gebildete Organe der Bürger, die zugleich Normgeber und Normadressaten sind63. Deshalb können sich die staatlich-demokratische und Thomas Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 172 f.: „Einen ,Allgemeinwillen‘ des Volkes, den die Staatsorgane lediglich zum Ausdruck bringen, gibt es nicht.“ In die gleiche Richtung argumentiert Blanke (Fn. 28), S. 458. 58 Winfried Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, 1969, S. 257. Vgl. auch Blanke (Fn. 28), S. 459 f. 59 Castendiek (Fn. 43), S. 114. 60 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Neudruck der 2. Aufl. von 1929, 1963, S. 3: In der Idee der Demokratie vereinigen sich zwei Postulate der praktischen Vernunft: Erstens der Protest gegen Zwang, gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muss, gegen die Qual der Heteronomie. „Es ist die Natur selbst, die sich in der Forderung der Freiheit gegen die Gesellschaft aufbäumt.“ Es kommt hinzu: Warum muss ich mich dem Willen des Herrschers beugen, da doch alle Menschen gleich sind? „So stellt sich die durchaus negative und tief innerst antiheroische Idee der Gleichheit in den Dienst der ebenso negativen Forderung der Freiheit.“ 61 BVerfGE 33, 125 (159). 62 BVerfGE 44, 322 (348); 64, 208 (214); 78, 32 (36). 63 BVerfGE 33, 125 (157).

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die autonome Legitimation ergänzen und gegenseitig stützen, was die Kompensation von Defiziten der staatsvolkvermittelten personellen Legitimation durch die autonome einschließt64. VI. Die Emschergenossenschaft Um die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung ging es in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren um das Emschergenossenschaftsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Emschergenossenschaft, ein durch Landesgesetz eingerichteter Wasserverband, übt unstreitig Staatsgewalt aus, obwohl die gewählten Vertreter in den Organen der Genossenschaft mehrheitlich Private sind, die nicht durch einen seinerseits demokratisch legitimierten Amtswalter bestellt wurden. Das Bundesverwaltungsgericht konstatierte die fehlende personelle Legitimation der Organe, verneinte die Möglichkeit einer Kompensation des Legitimationsdefizits durch die vorhandene sachlich-inhaltliche Legitimation und legte das für verfassungswidrig gehaltene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor65. Das Bundesverfassungsgericht nutzte die Vorlage, um kräftige Korrekturen an seiner neueren Rechtsprechung zum demokratischen Prinzip anzubringen. Kernpunkt ist die Erkenntnis, dass unter dem Grundgesetz das demokratische Prinzip und die funktionale Selbstverwaltung nicht im Gegensatz zueinander stehen66. Das demokratische Prinzip sei außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung offen für andere, insbesondere vom Erfordernis lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichenden Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt. Der Gesetzgeber dürfe für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Aufgaben besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung einrichten, sofern dadurch ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen geschaffen und verwaltungsexterner Sachverstand aktiviert wird. Denn das Demokratieprinzip werde gestärkt, wenn der im Gesetz manifestierte Volkswille effektiv durchgesetzt wird67. Es müssten jedoch durch Regelungen über die Organisationsstruktur Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass die betroffenen Interessen angemessen berücksichtigt und nicht einzelne Interessen bevorzugt werden68. Der Gesetzgeber dürfe auch Selbstverwaltungsträger zu verbindlichem 64 Dreier (Fn. 2), Art. 20 Rn. 132; Hans-Heinrich Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, DVBl. 1996, 950 (963); Alfred Rinken, Demokratie und Hierarchie, KritV 79 (1996), 282 (295 f.). 65 BVerwGE 106, 64. 66 BVerfGE 107, 59 (92). 67 BVerfGE 107, 59 (99). 68 BVerfGE 107, 59 (93) unter Berufung auf Groß (Fn. 57), S. 251 f.

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Handeln mit Entscheidungscharakter ermächtigen, in einem allerdings begrenzten Umfang auch für ein Handeln gegenüber Nichtmitgliedern. Den Organen der Selbstverwaltung ist ein solches Handeln aber nur gestattet, weil und soweit das Volk auch insoweit sein Selbstbestimmungsrecht wahrt, indem es maßgeblichen Einfluss auf dieses Handeln behält. Dieser Einfluss ist gesichert, wenn die Aufgaben und Befugnisse der Organe in einem Parlamentsgesetz ausreichend vorherbestimmt sind und ihre Wahrnehmung der Aufsicht personell demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt69. Das Bundesverfassungsgericht kommt dem Konzept der autonomen Legitimation sehr weit entgegen und führt damit seine ältere Rechtsprechung zur mitgliedschaftlich-demokratischen Legitimation von Selbstverwaltungskörperschaften fort. Selbstverwaltung und Demokratie gehören zusammen, wenn und soweit Selbstverwaltung die Idee des sich selbst bestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung verwirklicht. Bedauerlich ist nur, dass die klare Kritik an der verengten Legitimationsdogmatik nicht mit einer ebenso klaren Unterscheidung und Abgrenzung des demokratischen Prinzips des Art. 20 Abs. 1 GG vom Prinzip der Volkssouveränität des Art. 20 Abs. 2 GG untermauert wird. Zwar kann Selbstverwaltung die Ausübung von Staatsgewalt nicht allein rechtfertigen, sondern „nur“ eine kompensatorische Legitimation bewirken. Das ist aber kein Abstrich vom Konzept der autonomen Legitimation, das nie bestritten hat, dass Selbstverwaltungskörperschaften durch ein Parlamentsgesetz errichtet werden müssen, das auch die Aufgaben und Befugnisse der auszuübenden Staatsgewalt beschreibt. Auch das Erfordernis der Aufsicht durch demokratisch unmittelbar legitimierte Amtswalter widerspricht diesem Konzept nicht70. An einem Punkt weicht das Gericht allerdings von einem zentralen Gedanken der autonomen Legitimation ab. Es liegt ja zumindest nahe, die demokratische Legitimation durch Selbstverwaltung an die Bedingung zu knüpfen, dass die interne Willensbildung demokratisch organisiert ist. Dagegen verlangt das Gericht nur organisatorische Vorkehrungen dafür, dass die betroffenen Interessen angemessen berücksichtigt und nicht einzelne Interessen bevorzugt werden. Im Regelfall wird diese Anforderung durch eine am Demokratieprinzip ausgerichtete Organisation des Willenbildungsprozesses erfüllt werden, was das gleiche Stimmrecht aller Mitglieder der Selbstverwaltungskörperschaft einschließt. Allerdings sind Konstellationen denkbar und in der Praxis gar nicht so selten, in denen die Berücksichtigung aller betroffenen Interessen auch in anderer Weise und besser erreicht werden kann. Das sei abschließend an einem Beispiel erläutert. 69

BVerfGE 107, 59 (94). Aufsicht meint regelmäßig Rechtsaufsicht. Denn: „Der Begriff der Selbstverwaltung impliziert . . . den Ausschluss der staatlichen Fachaufsicht.“ Becker (Fn. 16), S. 446. 70

Demokratieprinzip und funktionale Selbstverwaltung

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Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) entscheidet u. a. über die Therapien und Arzneimittel, die von den Vertragsärzten zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen, in denen etwa 87 % der Einwohner Deutschlands versichert sind, verordnet werden dürfen. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es bei diesen Entscheidungen, die als Richtlinien bezeichnet werden und Rechtsnormen sind, um Leben oder Tod gehen kann. Die personelle Besetzung und damit die demokratische Legitimation dieses Ausschusses wurden heftig kritisiert, weil das Behandlungsinteresse der Versicherten strukturell unterrepräsentiert war. Der Gesetzgeber hat auf diese Kritik reagiert und im Gesundheits-Modernisierungsgesetz den GBA um eine „dritte Bank“ mit Vertretern von Patientenorganisationen erweitert71. Zugleich hat er die Aufsichtsrechte des Bundesministers für Gesundheit und Soziale Sicherheit verstärkt72. Die Patientenvertreter haben ein Antrags- und Mitberatungsrecht, aber kein Stimmrecht. In der Literatur wird dem GBA infolge des fehlenden Stimmrechts der Patientenvertreter die demokratische Legitimation abgesprochen73, was zur Folge haben muss, dass die Richtlinien des GBA allesamt verfassungswidrig wären. Folgt man dagegen der Entscheidung zur Emschergenossenschaft, kommt es nicht auf das Stimmrecht, sondern auf die angemessene Berücksichtigung des Behandlungsinteresses der Patienten an. Dieses Interesse kann durch das Beanstandungsrecht und das Recht zur Ersatzvornahme des Bundesministers gemäß § 94 Abs. 1 SGB V effektiver durchgesetzt werden als durch eine jederzeit überstimmbare Drittelparität mit Stimmrecht im GBA. Denn die an der Arbeit des GBA beteiligten Patientenvertreter haben ja die Möglichkeit, den Bundesminister anzuhalten, gegen bedenkliche Beschlüsse im Wege der Aufsicht einzuschreiten. Erste Erfahrungen zeigen denn auch, dass der Minister die Richtlinien nicht mehr nur abnickt, sondern von seinen Aufsichtsbefugnissen Gebrauch macht. Die autonome Legitimation ist infolge des fehlenden Stimmrechts zwar defizitär. Dieses Defizit wird aber durch das Beanstandungsrecht des parlamentsvermittelt legitimierten Ministers kompensiert. VII. Schluss Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung zur Emschergenossenschaft für die funktionale Selbstverwaltung die herkömmliche Fassung der Le71

§ 140f Abs. 2 SGB V. § 91 Abs. 3 S. 2, Abs. 10 SGB V. 73 Stefan Huster, Soziale Sicherung als Zukunftsbewältigung und -gestaltung, SDSRV 55 (2007), 15 (20); Thorsten Kingreen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses im Gesundheitsrecht, NJW 2006, 877 (880); Reimund Schmidt-De-Caluwe, Zur Erosion der subjektiven Rechtsstellung des Einzelnen im Sozialrecht, in: Manfred Aschke/Friedhelm Hase/ ders. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl. Festschrift v. Zezschwitz, 2005, S. 263 (272). 72

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gitimationsdogmatik verworfen, scheint aber für den Regeltypus der hierarchischen Ministerialverwaltung und für die kommunale Selbstverwaltung an der personellen demokratischen Legitimation der Amtswalter festhalten zu wollen. Gespaltene Konzepte sind auf Dauer nicht tragfähig. Deshalb sollte die Aufspaltung der demokratischen Legitimation durch ein einheitliches Konzept ersetzt werden. Die demokratisch-personelle Legitimation mit der ihr eigenen Vorstellung einer „ununterbrochenen Legitimationskette“ ist der Komplexität der modernen Verwaltung nicht gewachsen, entzieht dem Parlament die politisch-demokratische Prärogative durch die Festschreibung eines autoritär-obrigkeitlichen Verwaltungsmodells74 und verflüchtigt sich „in eine bloße Fiktion, die eine reale Aussage über die demokratische Qualität des amtlichen Handelns nicht mehr erlaubt75“. Dieser Legitimationsstrang ist verzichtbar. Es kommt für die demokratische Legitimation nicht darauf an, ob der Amtswalter durch einen seinerseits demokratisch legitimierten Amtswalter bestellt wurde, sondern ob ein Gesetz einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung die Befugnis zur Auswahl der staatlichen Funktionsträger erteilt hat76.

74 75 76

Blanke (Fn. 28), S. 469 f. OVG Münster 9. 6.1995 NWVBl. 1996, 254 (259). So Groß (Fn. 58), S. 198 f.

Diskurstheorie und juristische Methodik Jürgen Habermas’ Beitrag zum Verfassungsrecht Von Bodo Pieroth

I. Dedikation Als ich 1971 als Verwalter einer Wissenschaftlichen Assistenten-Stelle an den von Friedrich Müller kurz zuvor übernommenen Lehrstuhl an der Heidelberger Juristischen Fakultät kam, herrschte eine für mich euphorisierende Aufbruchstimmung: Das Verfassungsrecht, das unser aller Herzensanliegen war, sollte nicht positivistisch-platt, nicht doktrinär-verengt, sondern theoretisch und historisch aufgeklärt und fundiert betrieben werden. Das erste Seminar, das ich zu betreuen hatte, behandelte die verfassunggebende Gewalt des Volkes, und ich las zur Vorbereitung mit Feuereifer die Klassiker des politischen Denkens. Außerdem vertiefte ich mich in soziologische Grundlagenliteratur, um in den Lehrstuhlgesprächen zum Streit zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, zwischen Kommunikations- und Systemtheorie mithalten zu können. Wenn ich mich recht entsinne, wurde Habermas favorisiert. Friedrich Müller hat in mir nicht nur das Interesse am Erkenntnisfortschritt durch Interdisziplinarität gefördert. Er hat mich vor allem durch seinen juristischen Scharfsinn beeindruckt. Eine meiner dienstlichen Aufgaben als Wissenschaftlicher Assistent bestand darin, für die 1976 erschienene zweite Auflage der „Juristischen Methodik“ von 1971 erstmals ein Sachregister zu erstellen. An den dreizehn Seiten, die dabei herausgekommen sind, habe ich mehrere Wochen lang mit Begeisterung gearbeitet. Dabei habe ich nicht nur viel gelernt, sondern auch einen Heidenrespekt vor der denkerischen Kraft und produktiven Originalität von Friedrich Müller bekommen. In der Folge habe ich zwar die Rechtstheorie nicht aus den Augen verloren, es mir aber auch nicht zugetraut, selbst auf diesem Gebiet zu veröffentlichen; an das Niveau des Lehrers konnte ich nicht heranreichen. Stattdessen habe ich mich darauf konzentriert, den Gedanken Friedrich Müllers in der Praxis des geltenden Rechts, für die sie ja auch bestimmt sind, wo und wie immer es ging zur Durchsetzung zu verhelfen. Insoweit bleibe ich ein Schüler Friedrich Müllers. Der folgende Beitrag für diese Freundesgabe für Friedrich Müller bestätigt beide eben getroffenen Feststellungen: Er wagt sich zum einen nicht in rechts-

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theoretisches Neuland vor, sondern knüpft für Aussagen zum geltenden Verfassungsrecht an Müllers „Juristische Methodik“ an. Zum anderen wird die Integration sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Rechtswissenschaft als gewinnbringend angesehen. Dass diese Erkenntnisse von Jürgen Habermas stammen, schlägt den Bogen zurück zu der unvergesslichen Zeit am Lehrstuhl von Friedrich Müller. II. Einleitung Der französische Titel von Jürgen Habermas’ imposantem Werk „Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“1 lautet „Droit et Démocratie. Entre faits et normes“2. Er bringt besser als der deutsche Titel zum Ausdruck, dass es hier zentral um das Recht geht. Ich möchte dieses Werk daraufhin untersuchen, worin sein genuiner Beitrag zum Verfassungsrecht besteht. Ich nehme also nicht wie Habermas die „Perspektiven der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und -geschichte, der Moral- und der Gesellschaftstheorie“ (S. 9) ein und setze mich daher auch nicht mit seinem Werk auf diesen Feldern auseinander. Davon quillt das Schrifttum ohnehin über. Dagegen ist meine Frage bisher selten gestellt worden3, obwohl die Nähe des Rechts zum Diskursprinzip in die Augen springt: Beider Grundlage und Angelpunkt ist die Sprache. Dass ich unter Verfassungsrecht hier das deutsche Grundgesetz verstehe, ist sachlich deshalb gerechtfertigt, weil Habermas selbst sich neben der US-amerikanischen vor allem auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland bezieht, weil er „nur mit diesen beiden Rechtstraditionen einigermaßen vertraut (ist)“ (S. 10; vgl. auch S. 238). III. Der gemeinsame Gegenstand In „Faktizität und Geltung“ hat sich Habermas, der – wie er bekennt – „juristische Laie“, auf juristische Fachdiskussionen tiefer eingelassen, als ihm lieb war (S. 11). Dies schuldete er seinem theoretischen Anspruch und seiner praktischen Zielsetzung. Der theoretische Anspruch besteht darin, eine „zeitgenössische Theorie des Rechts und der Demokratie“ (S. 20) vorzulegen. Dies verlangt „ein methodenpluralistisches Vorgehen“ (S. 9). Dafür, dass Methodenpluralismus nicht in Methodenbeliebigkeit abgleitet, sorgt „auf metatheoretischer Ebene“ (S. 9) Haber1 Zuerst erschienen 1992; zitiert nach der Taschenbuch-Ausgabe von 1998, die textund seitenidentisch mit der 4. Aufl. 1994 ist. 2 Editions Gallimard, 1997. 3 Umgekehrt bringt Bernd Grzeszick, Parlamentarische Gesetzgebung als echter Diskurs?, in: Festschrift Saglam, 2006, das bestehende Recht gegen die Validität der Diskurstheorie des Rechts in Stellung.

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mas’ Theorie des kommunikativen Handelns. Deren Grundannahmen verzweigen sich „in verschiedene Diskursuniversen“, eben auch in das Universum des Rechts, und „dort müssen sie sich in den vorgefundenen Argumentationskontexten bewähren“ (S. 9). Die praktische Zielsetzung besteht darin, den demokratischen Rechtsstaat der Moderne, das ist der westliche oder in altertümlicher Diktion abendländische Verfassungsstaat, angesichts großer Gefährdungen zu bewahren. Die Gefährdungen bezeichnet Habermas als „erschreckend“ und nennt die ökologische Begrenzung des ökonomischen Wachstums, die zunehmende Disparität der Lebensverhältnisse im Norden und Süden, die Umstellung staatssozialistischer Gesellschaften auf Mechanismen eines ausdifferenzierten Wirtschaftssystems, den Druck der Migrationsströme, die Risiken erneuerter ethnischer, nationaler und religiöser Kriege, atomarer Erpressungen und internationaler Verteilungskämpfe (S. 12 f.). Zur Bewahrung der bestehenden freiheitlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaats setzt Habermas auf die „radikale Demokratie“, ohne die auch der Rechtsstaat nicht zu haben sei: „Letztlich können die privaten Rechtssubjekte nicht in den Genuss gleicher subjektiver Freiheiten gelangen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klar werden und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll.“ (S. 13)

Dabei übersieht Habermas keineswegs, dass auch im demokratischen Rechtsstaat „Herrschaft“ ausgeübt wird (S. 19), allerdings Herrschaft im Medium der Sprache, der Kommunikation, der Diskurse. Bei der Gesetzgebung und der richterlichen Entscheidungspraxis steht danach nicht so sehr im Mittelpunkt, dass, sondern wie entschieden wird. Wenn Habermas von der „sozialintegrativen Kraft gewaltloser, weil rational motivierender Verständigungsprozesse“ spricht (S. 20), führt er die Uranliegen von Demokratie (die Gewalt geht von den kommunizierenden Menschen aus) und Rechtsstaat (sprachliche soll tatsächliche Gewalt ersetzen4) zusammen; treffend wird die „Aufgabe des demokratischen Rechtsstaats“ darin gesehen, „politische Macht nicht nur gleichgewichtig zu verteilen, sondern durch Rationalisierung ihrer Gewaltförmigkeit zu entkleiden“ (S. 231). Die gesellschaftstheoretische Rekonstruktion bleibt dabei nicht lediglich deskriptiv, sondern bildet zugleich einen „kritischen Maßstab . . ., nach dem die Praktiken einer unübersichtlichen Verfassungswirklichkeit beurteilt werden können“ (S. 20). Auch der Verfassungsrechtler beurteilt die Verfassungswirklichkeit, oder genauer: Er beurteilt die Rechtsordnung und löst soziale Konflikte am Maßstab 4

Vgl. Friedrich Müller, Recht-Sprache-Gewalt, 1975.

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der Verfassung. Der demokratische Rechtsstaat ist nicht nur Gegenstand historischer und vergleichender Analyse sowie gesellschaftstheoretischer Rekonstruktion, sondern in allen westlichen Verfassungsstaaten und damit auch in Deutschland geltendes Verfassungsrecht. Gemäß Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. Das Demokratieprinzip, das hier jeweils bloß als Adjektiv im Normtext erscheint, wird zunächst in Art. 20 Abs. 2 GG konkretisiert: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Hier sind Volkssouveränität und die Legitimationsformen direkter und repräsentativer Demokratie verankert. Zugleich sind Ausgehen und Ausüben der Staatsgewalt miteinander verklammert, so dass eine zwischen Volk und Staatsgewalt ununterbrochene Legitimationskette und für die Staatsgewalt in personeller und materieller Hinsicht ein hinreichendes Legitimationsniveau verlangt werden. Eine Reihe weiterer Vorschriften im Grundgesetz konkretisiert das Demokratieprinzip. So hat das Bundesverfassungsgericht das Mehrheitsprinzip zu den „fundamentalen Prinzipien der Demokratie“ gerechnet5. Politische Freiheit und Gleichheit sind Grundbedingungen der Demokratie; daher sind die Kerngehalte der Kommunikationsgrundrechte6, der Parteienfreiheit und -gleichheit7 und des allgemeinen Gleichheitssatzes vom Demokratieprinzip umfasst. Des Weiteren rechnen zum Demokratieprinzip die Öffentlichkeit der staatlichen Beratungs- und Entscheidungsprozesse, das Gebot periodischer Neuwahlen und das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung der Opposition8. Während der thematische Zusammenhang des Demokratieprinzips gemäß Art. 20 Abs. 1 und 2 GG mit den konkretisierenden Einzelnormen des Grundgesetzes unbestritten ist, ergeben sich Probleme bei der Auslegung der so genannten Ewigkeitsgarantie gemäß Art. 79 Abs. 3 GG, weil dort nur Art. 20 GG, nicht aber andere Normen des Grundgesetzes als gegen Verfassungsänderungen resistent genannt sind. Der Begriff „Rechtsstaat“ findet sich nicht einmal in Art. 20 GG, sondern nur in Art. 28 Abs. 1 GG. Doch werden in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG einige der Hauptinhalte des Rechtsstaatsprinzips genannt: das Gewaltenteilungsprinzip, der 5

BVerfGE 29, 154/165. BVerfGE 7, 111/119; 27, 71/81; 69, 315/345 ff. 7 BVerfGE 2, 1/13; 3, 19/26; 5, 85/134 f. 8 Vgl. die Nachweise bei Bodo Pieroth, Structures plurales et unitaires de la légitimité democratique, RUDH 2004, 322/326, sowie insgesamt Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24. 6

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Vorrang der Verfassung und der Vorrang des Gesetzes. Darüber hinaus wird auch das Rechtsstaatsprinzip durch viele Vorschriften des Grundgesetzes konkretisiert. Hierzu zählen die Gewährleistung von Grundrechten, die Einrichtung richterlicher Kontrolle, die Staatshaftung und verschiedene Bestimmtheitserfordernisse, namentlich bei der Delegation von Gesetzgebungsbefugnissen an die Exekutive (Art. 80 Abs. 1 GG), bei der Strafgesetzgebung gemäß Art. 103 Abs. 2 GG, bei der Einschränkung von Grundrechten gemäß Art. 19 Abs. 1 GG und bei Verfassungsänderungen gemäß Art. 79 Abs. 1 GG. Andere Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips hat das Bundesverfassungsgericht ohne normtextlichen Anhalt richterrechtlich gewonnen, so etwa das Vertrauensschutzprinzip mit dem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze oder die Unschuldsvermutung im Strafverfahren, obwohl es sich selbst wegen „der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips . . . Behutsamkeit“ verordnet hat9. IV. Die Rolle der Theorie in der Praxis Mag der Gegenstand des demokratischen Rechtsstaats für die Gesellschaftstheorie und das geltende Verfassungsrecht auch gemeinsam sein, so ist seine Bedeutung für die Theoriebildung doch eine andere als für die Rechtsarbeit. Diese ist „im rechtsstaatlich geformten Verfassungsstaat in Bindung an geltendes Recht durchzuführen“10. Sie hat mit anderen Worten Normen des geltenden Rechts als Ausgangs- und Bezugspunkt. Rechtswissenschaft ist „praktische Normwissenschaft“11. Als solche ist sie der Rationalität und Objektivität verpflichtet und hat die juristische Methodik entwickelt, als deren fortschrittlichste und subtilste Ausarbeitung ich die Strukturierende Methodik Friedrich Müllers betrachte. Juristische Methodik ist danach „die wissenschaftspraktische Technik normtext- bzw. normorientierter Entscheidungsprozesse“12. Entscheidungen verlangen eine Konkretisierung des geltenden Rechts, die sowohl die Normtextauslegung (Interpretation) bezüglich der Sprachdaten als auch die Normbereichsanalyse bezüglich der Realdaten umfasst. Für die Interpretation sind zunächst die methodologischen Elemente im engeren Sinn maßgeblich, wie sie im Kern schon Friedrich Carl von Savigny herausgearbeitet hatte: grammatische, genetische, historische, systematische und – mit Einschränkungen – teleologische Auslegung einschließlich bestimmter Interpretationsfiguren wie Analogie und Umkehrschluss. Daneben nennt Müller dogma9 BVerfGE 57, 250/276; 70, 297/308; vgl. insgesamt Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 26. 10 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band I: Grundlagen Öffentliches Recht, 9. Aufl. 2004, S. 470. 11 Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 140. 12 Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 470.

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tische, theoretische, lösungstechnische und rechtspolitische Elemente13. Auf die Normbereichsanalyse muss im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen werden, da Habermas’ Werk nicht empirisch ist. Obwohl Müller selbst bei der Auseinandersetzung mit der marxistischen Rechtstheorie sich auf Habermas beruft und von der „diskursiven Konstitution der Gesellschaft“ und der „Gesellschaft als Prozess diskursiver Konstituierung“ spricht14, behandelt er als Beispiele theoretischer Konkretisierungselemente im Wesentlichen nur die Entwürfe der deutschen Staatsrechtslehrer, die schon Gegenstand des Methodenstreits zur Zeit der Weimarer Republik15 waren: Positivismus (Paul Laband), Dezisionismus (Carl Schmitt), Normlogismus (Hans Kelsen), Integrationslehre (Rudolf Smend) und Soziologismus (Hermann Heller)16. Doch lässt sich daraus keine thematische Begrenzung der theoretischen Konkretisierungselemente ableiten. Unter Theorie versteht man nämlich „die wissenschaftliche Erklärung bestimmter Erscheinungen aus einem Prinzip und die Zusammenfassung der Einzelerkenntnisse unter allgemeine Gesetze“17. Kurzgefasst ist Theorie ein wissenschaftliches Erklärungsmodell. Das theoretische Konkretisierungselement bezieht sich auf nicht genuin rechtswissenschaftliche Erklärungsmodelle, da es nur einen sekundären Aspekt eines umfassenden methodischen Instrumentariums darstellt, dessen voller Einsatz allein als rechtswissenschaftlich bezeichnet werden kann. Habermas’ Gesellschaftstheorie des demokratischen Rechtsstaats ist ohne weiteres als theoretisches Konkretisierungselement im Sinne Müllers einzuordnen. Die Verwertung theoretischer Elemente im Prozess der Konkretisierung und Interpretation ist grundsätzlich zulässig. Allerdings sind zwei Vorbehalte zu machen: Erstens muss die Theorie schlüssig und überzeugend sein. Das nehme ich für Jürgen Habermas an. Der zweite Vorbehalt besagt, dass die Theorie im geltenden Verfassungsrecht abstützbar sein muss; sie darf dieses weder überspielen noch unterstellen18. Diese Gefahr ist umso größer, je präzisere Aussagen die Theorie zu konkreten Problemen macht und je spezieller diese Probleme im geltenden Verfassungsrecht geregelt sind. Die beiden Variablen der Konkretheit der theoretischen Aussage und der Spezialität der geltenden Rechtsregel entscheiden damit über die Verwertbarkeit des theoretischen Konkretisierungsele13 Vgl. den Graph bei Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 258 und die Zusammenfassung, S. 476. 14 Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 195 f. 15 Vgl. jüngst Christoph Möllers, Der Methodenstreit als politischer Generationskonflikt, in: Der Staat, Band 43 (2004), S. 399 ff. 16 Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 392 ff.; vgl. auch Oliver Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten, 2003, S. 354 ff. 17 Johannes Hofmeister (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. 1955, S. 609. 18 Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 395 f.

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ments. Groß ist die Verwertbarkeit von Habermas’ Gesellschaftstheorie, wo sie konkret wird und ihr keine speziellen Verfassungsnormen entgegenstehen. Über die methodologischen Konkretisierungselemente im engeren Sinn reichen auch die rechtspolitischen Elemente hinaus. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass nach den Konsequenzen und praktischen Auswirkungen der juristischen Entscheidung gefragt und auf die Zweckmäßigkeit einer bestimmten Auslegung abgestellt wird: „Verfassungspolitischer Denkstil meint das Abwägen von erwarteten Folgen, das wertende Bedenken von Wirkungen.“19 Man könnte daran denken, Habermas’ Zielsetzung, den aktuellen Gefährdungen des westlichen Verfassungsstaats durch „radikale Demokratie“ zu begegnen, als verfassungspolitisch zu bezeichnen20. Das Gleiche gilt für Erwägungen, ob nicht „überhaupt ein normatives Verständnis von Recht preiszugeben“ sei (S. 471), und für den „Streit um das richtige paradigmatische Verständnis eines Rechtssystems“, der für Habermas „im Kern ein politischer Streit“ ist (S. 477). Die Qualifikation als Zweckmäßigkeitsargument würde aber dem scharfsinnigen Gedankengebäude von „Faktizität und Geltung“ nicht gerecht. Abgesehen davon hat das rechtspolitische Konkretisierungselement wohl quantitativ, nicht aber qualitativ ein anderes Gewicht als das rechtstheoretische Konkretisierungselement. Insoweit ist nämlich maßgeblich zwischen direkt und nicht direkt normtextbezogenen Elementen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ergibt sich aus der Funktion einer geschriebenen Verfassung. Direkt normtextbezogen sind die methodologischen Elemente im engeren Sinn, also grammatische, historische, genetische, systematische und – mit Einschränkungen – teleologische Auslegung, teilweise auch noch die dogmatischen Elemente, „soweit sie nur die Formulierung von bereits konkretisierten und aus Rechtsprechung, Praxis und Wissenschaft übernommenen Rechtsnormen enthalten, die in den Spielraum des hic et nunc erneut zu bearbeitenden Normtextes gehören“21. Darüber hinaus sind theoretische ebenso wie rechtspolitische und lösungstechnische Elemente nicht direkt normtextbezogen und können „nur in methodisch begrenzter Hilfsfunktion Anregungen für Möglichkeiten der Präzisierung, Abgrenzung und unterscheidenden Erläuterung der zu bildenden Rechts- und Entscheidungsnorm bieten“22. Die theoretischen Elemente werden von Müller vollständig den nicht direkt normtextbezogenen Elementen zugeordnet, obwohl sie durchaus ein hohes Maß an Abstützung im geltenden Recht aufweisen können. 19

Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 398. Vgl. die Polemik von Josef Isensee, Plädoyer für eine Kultur der Gemeinschaft, in: Die Politische Meinung Nr. 440 (Juli 2006), S. 6/13: „Nicht dem Grundgesetz gilt der abgemagerte Verfassungspatriotismus des Habermas-Lagers, sondern einer Vision der optimalen Verfassung. Diese aber schwebt jenseits von Staat und Nation, jenseits von Institutionen und positivem Recht im Luftreich von politischen Ideen.“ 21 Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 452. 22 Müller/Christensen, o. Fn. 10, S. 452. 20

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Das lässt sich gerade an Habermas’ Gesellschaftstheorie des demokratischen Rechtsstaats zeigen. Daher scheint mir eine Gleichwertigkeit der dogmatischen und theoretischen Konkretisierungselemente angezeigt zu sein.

V. Der Ertrag der Theorie für die Praxis 1. Grenzen der Verwertbarkeit

Die Verwertbarkeit der Gesellschaftstheorie für die verfassungsrechtliche Argumentation ist dann gering, wenn die Aussagen auf einer solchen Abstraktionshöhe stehen, dass sie nicht bestimmten Verfassungsrechtsnormen zugeordnet werden können und daher auch die auf Grund dieser Normen zu treffende juristische Entscheidung nicht mit determinieren können. Das gilt nicht nur dort, wo sich Gesellschaftstheorie dem Rechtssystem extern nähert, sondern auch dort, wo sie sich auf die rechtstheoretische Binnenperspektive einlässt. Für die Rechtstheorie hält Habermas treffend fest, dass sie „durch verallgemeinernde Abstraktion von der fallbezogenen Interpretationsarbeit der richterlichen Entscheidungspraxis Abstand gewinnt, ohne die Teilnehmerperspektive als solche preiszugeben“ (S. 468). Für den genannten Abstand werden im Folgenden Beispiele gegeben. a) Grundrechte Die Grundrechte werden als Rechte, die den Rechtskode selber hervorbringen, indem sie den Status von Rechtspersonen festlegen, von Habermas ausdrücklich „in abstracto“ (S. 155) eingeführt; er spricht insoweit sogar von einem „Gedankenexperiment“ (S. 166). Für die Grundkategorien der Grundrechte als Garantien des größtmöglichen Maßes gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten, des Mitgliedstatus und des individuellen Rechtsschutzes wird nochmals ihre „abstrakte Natur“ (S. 160) betont und hervorgehoben, dass sie „noch nicht im Sinne von liberalen Abwehrrechten verstanden werden (dürfen)“ (S. 156; vgl. auch S. 159). Der Charakter der Grundrechte des Grundgesetzes als liberale Abwehrrechte ist aber unbestrittenes Fundament des geltenden Verfassungsrechts. Diese Grundkategorien „müssen von einem politischen Gesetzgeber je nach Umständen interpretiert und ausgestaltet werden. . . . Die klassischen liberalen Grundrechte auf die Würde des Menschen, auf Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit der Person, auf Freizügigkeit, Freiheit der Berufswahl, Eigentum, Unverletzbarkeit der Wohnung usw. sind in diesem Sinne Interpretationen und Ausgestaltungen des allgemeinen Freiheitsrechts im Sinne eines Rechts auf gleiche subjektive Freiheiten.“ (S. 159) Unter politischem Gesetzgeber wird hier der Verfassungsgesetzgeber verstanden. An anderer Stelle wird „jeder Rechtsakt zugleich . . . als Element eines auf Dauer gestellten verfassunggebenden Prozes-

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ses verstanden“ (S. 494). So verschwimmt die für das geltende Recht konstitutive Unterscheidung zwischen einfachem Recht, Verfassungsgebung und verfassungsgerichtlicher Interpretation. Eine Sonderrolle der Grundrechte auf die chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungs- und Willensbildung begründet Habermas damit, dass nur durch sie die Rechtssubjekte zu Autoren der Rechtsordnung werden und demokratische, d.h. Selbstgesetzgebung stattfinden kann. Aber alle Grundrechte des Grundgesetzes (abgesehen von der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG) haben gleichen Rang und gleichen Wert. Die politischen Grundrechte, zu denen Habermas neben der Meinungs-, Informations-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Wahl- und Parteienfreiheit – ungewöhnlich, aber stimmig – auch die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit zählt (S. 162), gehen den anderen Grundrechten keineswegs vor. Im Übrigen wird bei der „Selbstgesetzgebung“ nicht zwischen Verfassungsgebung, Verfassungsänderung und Gesetzgebung unterschieden23. Die Abstraktheit seiner Ausführungen zu den Grundrechten will Habermas aber nur für eine hic et nunc geltende Verfassung, nicht aber für den westlichen Verfassungsstaat als Typus gelten lassen. Die Einführung der Grundrechte „in abstracto“ sei nämlich ein „Kunstgriff“; denn „nach mehr als zweihundert Jahren europäischer Verfassungsrechtsentwicklung stehen uns genügend Modelle vor Augen“ (S. 163)24. Hier berührt sich das theoretische Konkretisierungselement mit dem historischen und genetischen, soweit Grundrechte im Rahmen einer Verfassungsgebung nicht nur aus Vorgängerverfassungen desselben Staates, sondern auch aus Verfassungen anderer Staaten übernommen werden25. Wegen der bei Verfassungsneuschöpfungen regelmäßig vorgenommenen Textabweichungen lassen sich auf diese Weise wohl Grundaussagen zu den betreffenden Grundrechten belegen und abstützen, selten aber konkrete Streitfragen lösen. Dass hier die Grundrechte allgemein als Beispiel für die Grenzen der Verwertbarkeit von Habermas’ Diskurstheorie des Rechts vorgestellt werden, bedeutet nicht, dass diese nicht für Auslegungsprobleme einzelner Grundrechte als 23 Vgl. hierzu auch Jürgen Habermas, Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, in: ders., Zeit der Übergänge, 2001, S. 133/143 ff., wo darauf hingewiesen wird, dass die Diskurstheorie „ähnlich wie die vertragstheoretischen Vorläufer“ einen Ausgangszustand „simuliert“. 24 Dass hier von europäischer Verfassungsrechtsentwicklung die Rede ist, muss als kleiner Lapsus betrachtet werden, weil der maßgebliche Beitrag des amerikanischen Verfassungsrechts ausgeblendet wird; vgl. dazu für Deutschland Werner Frotscher/ Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2007, Rn. 46 ff. 25 Vgl. dazu Bodo Pieroth, Die Grundrechte des Grundgesetzes in der Verfassungstradition, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band II, 2006, § 25: Es sind die westliche und die spezifisch deutsche Tradition zu unterscheiden; außerdem sind neue Grundrechte kreiert worden.

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theoretisches Konkretisierungselement taugt. Beispielsweise lässt sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich der Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG auch mit Habermas rechtfertigen. Maßgeblich ist für das Gericht nämlich die Funktion des Rundfunks als Medium und Forum öffentlicher Meinungsbildung. Danach verlangt das Grundrecht eine gesetzliche Ausgestaltung durch materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen, die einen freien Kommunikationsprozess gewährleisten, d.h. sicherstellen, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet26. b) Rechtsstaatsprinzip Auch den Rechtsstaat präsentiert Habermas als „Idee“ (S. 166 ff.), und für die Genese von Recht und Politik wählt er wiederum die Darstellungsform eines „abstrakten Modells“ (S. 173). Die Interpretation der Idee des Rechtsstaats als „Forderung . . ., das über den Machtkode gesteuerte administrative System an die rechtsetzende kommunikative Macht zu binden und von den Einwirkungen sozialer Macht, also der faktischen Durchsetzungskraft privilegierter Interessen, freizuhalten“ wird zu recht als „allgemein“ bezeichnet (S. 187). Konkrete Folgerungen für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die hier umschrieben wird27 und gemäß Art. 20 Abs. 3 GG geltendes Verfassungsrecht ist, lassen sich daraus noch nicht ziehen. Dabei macht Habermas selbst schon einen Unterschied zwischen verschiedenen Graden des Abstrahierens: „Rechtsnormen liegen nicht auf der gleichen Abstraktionshöhe wie Moralnormen.“ (S. 190) Da die aus Prozessen der Meinungs- und Willensbildung hervorgehende Rechtsetzung die Probleme der Selbstverständigung und des Interessenausgleichs einbeziehen muss, geht der Rechtsdiskurs über den Gerechtigkeitsdiskurs hinaus. Auch wenn Gesetze insoweit einen minderen „Grad von Abstraktion“ (S. 191) aufweisen, sind sie in zweifacher Hinsicht „allgemein“: „Zunächst insofern, als sie sich an unbestimmt viele Adressaten richten, also keine Ausnahmen zulassen und in der Anwendung Privilegierungen oder Diskriminierungen ausschließen.“ (S. 191) Hier werden die juristischen Aspekte, dass Gesetze allgemein sein sollen, also keine Einzelfall- und Einzelpersonengesetze sein dürfen, und die Rechtsanwendungsgleichheit vermengt. Ersteres ist schon deshalb nicht geltendes Verfassungsrecht, weil ein Verbot von Einzelfall- und Einzelpersonengesetzen gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG nur für grundrechtseinschränkende Gesetze gilt und überdies anerkannt ist, dass nicht willkürliche Maßnahmegesetze von diesem 26 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 22. Aufl. 2006, Rn. 577. 27 Später, S. 213 und 230, wird sie mit dem Vorbehalt des Gesetzes verwechselt.

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Verbot nicht betroffen sind28. Die Rechtsanwendungsgleichheit ist mit dem Ausschluss von Privilegierungen und Diskriminierungen keineswegs falsch, aber doch recht pauschal gekennzeichnet29. Die zweite von Habermas angesprochene Allgemeinheit, die Rechtsinhaltsgleichheit, ist als „normativer Maßstab für gute Gesetze“ (S. 192) auch höchst vage. Eine Verfassungspflicht zu optimaler Gesetzgebung ist unter dem Grundgesetz zwar angedacht, aber doch ganz überwiegend verworfen worden30. Die als solche nicht zu beanstandende Abstraktheit führt da zur Verwirrung, wo mit anders besetzten juristischen Fachtermini gearbeitet wird. Bei der Darstellung eines Prozessmodells der vernünftigen politischen Willensbildung, in den pragmatische, verfahrensregulierte, ethisch-politische und moralische Diskurse zueinander in Beziehung gesetzt werden und an deren Ende juristische Diskurse stehen, wird eine Normenkontrolle durch den Gesetzgeber gefordert (S. 207). Eine derartige „Kohärenzprüfung“ ist aber Teil der normalen Rechtsarbeit der gesetzgebenden Organe, die klare und bestimmte Normtexte erarbeiten sollen. Im juristischen Diskurs ist der Begriff der Normenkontrolle für die gerichtliche Funktion reserviert31. Die Gewaltenteilung wird von Habermas durchaus eingängig u. a. so erläutert, dass die Verwaltung, die andere als administrative Funktionen an sich zieht, „die Kommunikationsvoraussetzungen legislativer und juristischer Diskurse“ stört und so „die argumentationsgesteuerten Verständigungsprozesse, die die rationale Akzeptabilität von Gesetzen und richterlichen Entscheidungen allein begründen können,“ verletzt (S. 214). Von dieser Erläuterung bis zu den komplexen Regelungen des geltenden Verfassungsrechts über Trennung und Zusammenwirken der Gewalten ist es aber wieder ein langer Weg. Strikt gilt nämlich insoweit nur, dass Funktionsträger der Verwaltung keine rechtsprechende Gewalt ausüben dürfen32; für dieses Ergebnis bietet Habermas in der Tat ein theoretisches Konkretisierungselement. Dagegen sind die Funktionssphären zwischen Exekutive und Legislative unter dem Grundgesetz keineswegs derartig abgeschottet. Beispielsweise erlässt die Exekutive materielle Gesetze in Form von Rechtsverordnungen und Satzungen und wirkt auch am formellen Gesetzgebungsverfahren mit, am Anfang durch das Gesetzesinitiativrecht gemäß Art. 76 Abs. 1 GG von Bundesregierung und Bundesrat, der ja aus Mitgliedern der Regierungen der Länder besteht, und am Ende durch die Gegenzeichnung 28 Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz. Kommentar, 9. Aufl. 2007, Art. 19 Rn. 2. 29 Genauer dann allerdings im Anschluss an Robert Alexy, S. 499 f. 30 Vgl. Klaus Messerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000. 31 Habermas’ Wortwahl ist rechtspolitisch motiviert; auf S. 295 f. plädiert er für die Einrichtung eines „(auch) mit juristischen Experten besetzten Parlamentsausschusses“ zur Selbstkontrolle des Parlaments. 32 BVerfGE 103, 111/136.

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und Ausfertigung von Bundesgesetzen durch Bundesregierung und Bundespräsidenten gemäß Art. 58, 82 GG. Für das Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft bietet Habermas wiederum eine „abstrakte Fassung“, nämlich die Forderung nach einer „Zivilgesellschaft, also Assoziationsverhältnisse und eine politische Kultur, die von Klassenstrukturen hinreichend entkoppelt sind“ (S. 215). Als organisatorische Vorkehrung gegen den unmittelbaren Durchgriff sozialer Macht auf administrative Macht wird der „Grundsatz der demokratischen Verantwortlichkeit von Inhabern politischer Ämter gegenüber Wählern und Parlamenten“ genannt (S. 216). Wie dieser Grundsatz im Einzelnen ausgestaltet ist, ergibt sich erst aus einzelnen Verfassungsbestimmungen, für deren Auslegung mit „Zivilgesellschaft“ und „politischer Kultur“ noch nichts gewonnen ist. Schließlich beharrt Habermas bei seiner Auseinandersetzung mit „Rolle und Legitimität der Verfassungsrechtsprechung“ (S. 292 ff.) auf seiner rechtstheoretischen Perspektive. Allerdings lässt er sich hier stark auf das geltende Verfassungsrecht ein. Denn die eingehend erörterte Problematik, ob die abstrakte Normenkontrolle nicht demokratie- und gewaltenteilungswidrig ist, besteht im Wesentlichen nur in Deutschland, weil die Schlüsselstaaten des westlichen Verfassungsrechtskreises, England, USA und Frankreich, sie als Verfahrensart33 gar nicht kennen. Verschiedentlich würdigt Habermas die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar unter (grund-)rechtsdogmatischen Gesichtspunkten (S. 303 ff., 485 ff.). Dabei zeigt sich allerdings, dass sowohl die Originalität seines Ansatzes als auch die Präzision seiner Aussagen abnehmen34. Bei der Analyse verlässt er sich für Weimar auf Carl Schmitt und Hans Kelsen sowie für das Grundgesetz auf Ernst-Wolfgang Böckenförde, Erhard Denninger und Konrad Hesse. Und der Verweis auf die „Begrenzung unmittelbar geltender Grundrechte durch Grundrechte Dritter“ (S. 303) ist falsch, weil gemäß Art. 1 Abs. 3 GG alle Grundrechte unmittelbar gelten und nicht nur durch Grundrechte Dritter, sondern vielfach auch durch den Gesetzgeber beschränkt werden können; gemeint sind wohl die nach dem Grundgesetz ohne Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Grundrechte, wie Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 4 und 5 Abs. 3 GG. 2. Beispiele für Verwertbarkeit

Stehen Abstraktionen der Theorie ihrer Verwertbarkeit als theoretisches Konkretisierungselement bei der Rechtsarbeit entgegen, wird diese andererseits 33 Habermas setzt die abstrakte Normenkontrolle allerdings mit der Aufhebung von Gesetzen gleich, vgl. S. 324; dann überzeugt wiederum nicht die kategorische Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Normenkontrolle auf S. 294. 34 Vgl. auch die Kritik von Bernhard Schlink, Abenddämmerung oder Morgendämmerung?, in: Rechtshistorisches Journal 12 (1993), S. 57/61.

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durch vage Normen und fehlende Konkretisierung von Rechtsprinzipien im geltenden Recht gefördert. Als Beispiele für die Verwertbarkeit von Habermas’ Gesellschaftstheorie bieten sich besonders das Demokratieprinzip an, das vom Bundesverfassungsgericht als „entwicklungsoffen“ bezeichnet worden ist35, und das Sozialstaatsprinzip, das im Text des Grundgesetzes „nur über verhältnismäßig wenige ,Ausführungsbestimmungen‘ verfügt“36. Hier eröffnen sich dem theoretischen Konkretisierungselement Einfallstore. a) Öffentlichkeit Diskurse als „gewaltlose, weil rational motivierende Verständigungsprozesse“ (S. 20) verweisen unweigerlich auf die Öffentlichkeit, in der Argumente ausgetauscht werden. Kann Öffentlichkeit unter dem Aspekt der privaten Autonomie noch verweigert werden, weil der Einzelne kraft seiner subjektiven Handlungsfreiheit nicht zum Diskurs gezwungen werden darf, wird sie unter dem Aspekt öffentlicher (staatsbürgerlicher) Autonomie zur zwingenden Notwendigkeit. Wegen der von Habermas im Einzelnen herausgearbeiteten Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie37 kann legitimes Recht nur unter Einhaltung von Öffentlichkeit gesetzt werden: „Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten liegt im normativen Gehalt eines Modus der Ausübung politischer Autonomie, der nicht schon durch die Form allgemeiner Gesetze, sondern erst durch die Kommunikationsform diskursiver Meinungs- und Willensbildung gesichert wird.“ (S. 133)

Diese Kommunikationsform impliziert Öffentlichkeit, und zwar im Parlament, in den Parteien und in der politischen Öffentlichkeit zwischen allen Bürgern: „Erst das Prinzip der Gewährleistung autonomer Öffentlichkeiten und der Grundsatz der Parteienkonkurrenz erschöpfen, zusammen mit dem parlamentarischen Prinzip, den Gehalt des Prinzips der Volkssouveränität.“ (S. 211)

Dies zusammenfassend erklärt Habermas den demokratischen Prozess theoretisch schlüssig wie folgt: „Wenn sich die kommunikativ verflüssigte Souveränität der Staatsbürger in der Macht öffentlicher Diskurse zur Geltung bringt, die autonomen Öffentlichkeiten entspringen, aber in Beschlüssen demokratisch verfahrender und politisch verantwortlicher Gesetzgebungskörperschaften Gestalt annehmen, wird der Pluralismus

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BVerfGE 107, 59/91. Roman Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Stand: März 2006, Art. 20 Rn. 27 (1980). 37 Die „Gleichursprünglichkeit von Demokratie und Rechtsstaat“ bezeichnet Habermas, o. Fn. 23, S. 132 als „Grundgedanken von ,Faktizität und Geltung‘“. 36

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der Überzeugungen und Interessen nicht unterdrückt, sondern entfesselt und in revidierbaren Mehrheitsentscheidungen wie in Kompromissen anerkannt.“ (S. 228)

Öffentlichkeit ist also für das Demokratieprinzip wie auch das Rechtsstaatsprinzip von zentraler Bedeutung. In diesen Passagen finden sich frappierende Parallelen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Angesichts der Tatsache, dass das Grundgesetz kein ausdrückliches allgemeines Öffentlichkeitsgebot für das staatliche Handeln enthält, hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Demokratieprinzip ein „allgemeines Öffentlichkeitsprinzip“ hergeleitet38. Dessen Geltung erschien dem Gericht so evident, dass es in den dazu ergangenen Leitentscheidungen auf Nachweise verzichtet hat. So heißt es in dem Diäten-Urteil von 1975, das den zulässigen Umfang der finanziellen Ausstattung der Parlamentsabgeordneten betraf: „In einer parlamentarischen Demokratie lässt es sich nicht vermeiden, dass das Parlament in eigener Sache entscheidet, wenn es um die Festsetzung der Höhe und um die nähere Ausgestaltung der mit dem Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Regelungen geht. Gerade in einem solchen Fall verlangt aber das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip (Art. 20 GG), dass der gesamte Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle. Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich.“39

Im Zusammenhang mit Verfassungsbeschwerden gegen die Teilnahme Deutschlands an der Europäischen Währungsunion führt das Gericht aus: „Demokratie setzt eine ständige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen voraus, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt. Dazu gehört auch, dass die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind.“40

Das Bundesverfassungsgericht hat an anderer Stelle einmal aus Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ den „Schleier des Nichtwissens“ bemüht41. In den zitierten Entscheidungen hätte sich das Gericht für die Herleitung des Öffent38

BVerfGE 70, 324/358; 103, 44/63. BVerfGE 40, 296/327. 40 BVerfGE 97, 350/369; dass hier allerdings nur von „vorrechtlichen Verfassungsvoraussetzungen“ die Rede ist, steht im Gegensatz zu den anderen Entscheidungen und lässt sich mit dem Kontext erklären, in dem die Einschlägigkeit des Grundrechts auf Wahl der Abgeordneten gem. Art. 38 Abs. 1 GG für den vorliegenden Fall verneint wurde. 41 BVerfGE 101, 158/218; vgl. aber Josef Franz Lindner, Das BVerfG, der Länderfinanzausgleich und der „Schleier des Nichtwissens“, NJW 2000, 3757/3760, der diesen Rückgriff zu Recht als Missgriff qualifiziert. 39

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lichkeitsgebots aus dem Demokratieprinzip mit besten Gründen auf Habermas berufen können. Darüber hinaus bewährt sich Habermas’ Theorie sogar bei aktuellen Problemen der Auslegung des Öffentlichkeitsgebots für die drei Staatsgewalten. Die Legislative betreffend bestimmt Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG, dass der Bundestag öffentlich verhandelt. Nach überwiegender Auffassung gilt die Öffentlichkeit nicht für die Verhandlungen in den Ausschüssen des Bundestags. Das wird formal mit einem Umkehrschluss und inhaltlich damit begründet, dass die grundsätzliche Nichtöffentlichkeit der Ausschusssitzungen für ein freies Redeverhalten der Abgeordneten sorgen, insbesondere das tastende Erkunden von Kompromisspotentialen ermöglichen und der Verlagerung wichtiger Diskussionen in informale Zirkel entgegenwirken soll42. Dagegen wird argumentiert, dass die entscheidende parlamentarische Tätigkeit heutzutage von den Ausschüssen geleistet wird: „Die Herstellung für das gesamte Volk repräsentativer parlamentarischer Entscheidungen darf nicht allein einem engen Kreis von in den Ausschüssen tätigen Spezialisten überlassen werden, ohne die entscheidungslegitimierende Kommunikation mit dem Volk als Souverän herzustellen.“43

Für die Richtigkeit dieser Argumentation steht nicht nur der in dem Zitat in Anspruch genommene Niklas Luhmann44, sondern natürlich auch Habermas. Auch für die Exekutive ist das Öffentlichkeitsgebot als Konkretisierung des Demokratieprinzips anerkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insbesondere die Regierung verpflichtet, der Öffentlichkeit ihre Politik, ihre Maßnahmen und Vorhaben sowie die künftig zu lösenden Fragen darzulegen und zu erläutern; daher ist die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, um den Grundkonsens im demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten45. Allerdings wird die Erstreckung des Öffentlichkeitsgebots auf die Verwaltung mangels eines „unmittelbaren Legitimationszusammenhangs“ teilweise in Abrede gestellt46. Dagegen streiten nicht nur Stimmen in der juristischen Literatur47; auch Habermas setzt sich für 42 Vgl. die Nachweise bei Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 42 Rn. 24. 43 Morlok, aaO. 44 Mit seinem Aufsatz „Öffentliche Meinung“, in: Luhmann, Politische Planung, 1971, S. 9/21 ff. 45 BVerfGE 44, 125/147; 63, 230/242 f.; vgl. auch schon BVerfGE 20, 56/100. 46 Vgl. z. B. Hanspeter Knirsch, Information und Geheimhaltung im Kommunalrecht, 1987, S. 134 ff. 47 Vgl. Bodo Pieroth, Das Verfassungsrecht der Öffentlichkeit für die staatliche Planung, in: Festschrift für Werner Hoppe, 2000, S. 195/197; Andreas Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 73 ff.; Bernhard W. Wegener, Informationsfreiheit und Verfassungsrecht, in: Festschrift Bartlsperger, 2006, S. 165/169 ff.

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eine „Demokratisierung“ der Verwaltung ein, „die die parlamentarische und gerichtliche Verwaltungskontrolle von innen ergänzte“ (S. 531). Schließlich führt das Demokratieprinzip zur Gerichtsöffentlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar im Jahr 1963 entschieden, dass die Prinzipien der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit der Verhandlung keine Verfassungsrechtsgrundsätze seien, sondern Prozessrechtsmaximen, die bestimmte Verfahrensarten beherrschen48, aber Widerspruch im juristischen Schrifttum gefunden49. Inzwischen hat es anerkannt, dass der einfach-rechtlich im Gerichtsverfassungsgesetz verankerte Grundsatz der mündlichen Verhandlung dem allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie „entspricht“50. Es greift zur Begründung auf die Tradition zurück, die ihre Wurzeln in der Aufklärung hat und zwei Elemente umfasst: Zum einen sollte die Gerichtsöffentlichkeit „in Gestalt einer Verfahrensgarantie dem Schutz der an der Verhandlung Beteiligten, insbesondere der Angeklagten im Strafverfahren, gegen eine der öffentlichen Kontrolle entzogene Geheimjustiz dienen“; zum anderen wurde es „als Rechtsposition des Volkes empfunden, von den Geschehnissen im Verlauf einer Gerichtsverhandlung Kenntnis zu nehmen und die durch die Gerichte handelnde Staatsgewalt einer Kontrolle in Gestalt des Einblicks der Öffentlichkeit zu unterziehen“51. Umstritten ist aber nach wie vor, ob das ausnahmslose Verbot von Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit vereinbar ist. Während die genannte Entscheidung dies mehrheitlich bejaht hat, haben ihr drei der acht Richter unter ausdrücklicher Berufung auf Habermas52 vehement widersprochen53. b) Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip ist zwar als solches in Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG normiert, aber kaum in weiteren Vorschriften des Grundgesetzes und wenig durch die Verfassungsrechtsprechung konkretisiert worden. Dabei bedarf es wegen seiner großen Unbestimmtheit in besonderem Maße der Konkretisierung54. 48

BVerfGE 15, 303/307. Vgl. nur Christoph Degenhart, Gerichtsverfahren, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 76 Rn. 50; Bodo Pieroth, Gerichtsöffentlichkeit und Persönlichkeitsschutz, in: Erichsen/Kollhosser/Welp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 249/254 f. 50 BVerfGE 103, 44/63. 51 BVerfGE 103, 44/63 f. 52 Sie haben Habermas’ Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zitiert. Dieses Buch hat übrigens viele Juristen inspiriert; vgl. zuletzt z. B. Kurt Graulich, Freiheit durch Öffentlichkeit, in: Frankfurter Streitschrift für Demokratie, Recht und Gesellschaft, Heft 3/August 2005, S. 18 ff. 53 BVerfGE 103, 63/73. 54 BVerfGE 65, 182/193; 71, 66/80. 49

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Immerhin ist das Ziel des Sozialstaatsprinzips anerkannt, für Jedermann die tatsächlichen Voraussetzungen der Freiheit zu schaffen und auszubauen und auf diese Weise nicht nur formale, rechtliche Freiheit, sondern reale, in der sozialen Wirklichkeit vorhandene Freiheit herzustellen55. Hierbei sind Erkenntnisse von Habermas weiterführend. Er spricht dem Sozialstaatsprinzip zu Recht den Zweck zu, „mit dem Einsatz administrativer Macht, also über die Steuerungsleistungen eines präventiv oder reaktiv tätig werdenden Sozialstaates . . . Asymmetrien der wirtschaftlichen Machtpositionen auszugleichen“ und „die Gleichverteilung subjektiver Handlungsfreiheiten zu gewähren“ (S. 488, 490). Damit wird auch die Streitfrage als unsinnig erledigt, die in der Anfangsphase der Bundesrepublik Deutschland die Gemüter der Staatsrechtslehrer erhitzt hatte, ob nämlich Sozialstaat und demokratischer Rechtsstaat überhaupt miteinander vereinbar seien56. Sie sind es nicht nur nach geltendem Verfassungsrecht, sondern auch auf der Grundlage des von Habermas vorgeschlagenen prozeduralistischen Rechtsparadigmas, das Liberalismus und sozialstaatlichen Paternalismus hinter sich lässt (S. 493 f.). Das dem Sozialstaatsprinzip zuerkannte Ziel der Chancengleichheit wird nur in einzelnen Verfassungsbestimmungen konkretisiert. So lautet Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG seit 1994: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Weitergehend hat die Rechtsprechung den allgemeinen Gleichheitssatz unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip von formeller, rechtlicher Gleichheit zu materieller, faktischer Gleichheit fortentwickelt und ist nicht nur rechtlichen, sondern auch faktischen Diskriminierungen entgegen getreten57. Dadurch können Freiheit und Gleichheit in Konflikt geraten: Gesellschaftliche Freiheit ist auch die Ellenbogenfreiheit des Stärkeren, gesellschaftliche Gleichheit ist gerade die Chancengleichheit des Schwächeren. Habermas formuliert eine griffige Direktive zu den „Kriterien für die jeweils notwendigen faktischen Voraussetzungen rechtlicher Gleichheit“ und damit für die Bestimmung der Punkte, an denen faktische Gleichbehandlung in Freiheitsverkürzung und Freiheitsgewährleistung in faktische Diskriminierung umschlagen, nämlich wenn ein Gesetz entweder „gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen faktischer Ungleichheiten“ oder „gegen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen der staatlichen Kompensation dieser Ungleichheiten unempfindlich ist“ (S. 503).

55 Vgl. die Nachweise bei Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, o. Fn. 28, Art. 20 Rn. 117. 56 Vgl. Hans Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rn. 109 ff. 57 Rechtsprechungsnachweise bei Lerke Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 3 Rn. 45.

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Die Brauchbarkeit dieser Direktive lässt sich an einer jüngeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts demonstrieren58. Es ging darum, wer für die Kosten des Mutterschutzes bei abhängig Beschäftigten aufkommt. Frauen dürfen sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden, erhalten aber in dieser Zeit vollen Lohn, für den Arbeitgeber, gesetzliche Krankenkassen und der Staatshaushalt aufkommen. Zur Entlastung von Kleinbetrieben wurde 1996 deren Kostenanteil einerseits gesenkt, um zu verhindern, dass Frauen bei der Einstellung benachteiligt werden; andererseits wurden sie in ein Umlageverfahren einbezogen, um die je nach Zahl der weiblichen Beschäftigten unterschiedliche Beanspruchung der Kostenträger durch die Zahlung von Mutterschaftsgeld auszugleichen. Die rechtliche Institution des Mutterschutzes als solche ist sensibel für die faktische Ungleichheit von Frauen gegenüber Männern, weil sie Beschränkungen der Freiheit der Berufswahl und -ausübung von Frauen entgegenwirkt. Überdies verlangt das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber, „auch mögliche faktische Diskriminierungen zu berücksichtigen, die von Schutzgesetzen zu Gunsten von Frauen ausgehen können. Der Gesetzgeber ist gehalten, der Gefahr, dass sich die von ihm erlassenen Schutzvorschriften in der Wirklichkeit des Arbeitslebens diskriminierend auswirken können, zu begegnen und sie soweit wie möglich durch geeignete Regelungsmechanismen auszugleichen“59. Andererseits sah das Gericht die Ausklammerung größerer Betriebe nicht als gerechtfertigt und dadurch einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit der Kleinbetriebsinhaber als gegeben an. Die Regelung war also unempfindlich gegen die freiheitseinschränkende Nebenfolge der staatlichen Kompensation der Ungleichheit von Frau und Mann. VI. Schluss Habermas’ Buch „Faktizität und Geltung“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den demokratischen Rechtsstaat, den westlichen Verfassungsstaat der Moderne, dessen Grundlage das zur Norm gewordene Argument seiner Bürger ist und in dem Menschenrechte und Volkssouveränität zusammenfinden und auf Dauer gestellt werden. Ob die Rezepte zu seiner Bewahrung, die Habermas angesichts evidenter Gefährdungen gibt, alle taugen, mag bezweifelt werden. Er selbst spricht nur von einer „Hoffnung“ und einer „gewissen Kohärenz“ für Reformbestrebungen (S. 535). Nicht zweifelhaft ist für mich, dass das Gedankengebäude, das in diesem Buch zur Rechtfertigung dieses Typs von Rechtsordnung entworfen wird, die Bewahrenswürdigkeit nachdrücklich unterstreicht – und immer wieder sogar für die alltägliche Rechtsarbeit des Verfassungsjuristen taugt. 58 59

BVerfGE 109, 64 mit Anmerkung von Tobias Aubel, RdA 2004, 141. BVerfGE 109, 64/90.

The South African Constitution as Monument and Memorial, and the Commemoration of the Dead By Lourens Marthinus du Plessis

I. Monument . . . Memorial: Introductory Observations A constitution both narrates and authors a nation’s history, with neither of these roles dominant. The constitution is furthermore but one among many narrators of a nation’s history, and at most a co-author of its destiny. The narrative and auctorial constitution as memory, is a monument and a memorial at the same time.1 These modes of being a/the Constitution, seem to be largely contradictory, but are not (by that token) reciprocally eliminative. Duly acknowledged and honoured at the same time their coexistence can be mutually inclusive, constructive and invigorating. Monuments and memorials have memory in common, but in distinct ways:2 a monument celebrates; a memorial commemorates. The difference in (potential) meaning(s) may be subtle, and in a dictionary sense “celebrate” and “commemorate” may conceivably be synonyms, but they are not really or, at least, not exactly. Heroes and achievements can be celebrated or lionised. The same 1 I first developed this metaphor of the Constitution as monument and memorial in a keynote address at the launch of the Institute for Justice and Reconciliation (IJR) in Cape Town on 11 May 2000: cf Lourens du Plessis, The South African Constitution as Memory and Promise, in: Charles Villa-Vicencio (ed), Transcending a Century of Injustice, 2000, Cape Town Institute for Justice and Reconciliation, p. 63–71 and id., The South African Constitution as Memory and Promise, in: Stellenbosch Law Review 11(3) (2000) 385–394. The IJR is a civil society (or NGO) successor to the official (but now defunct) Truth and Reconciliation Commission (TRC) established in terms of the Promotion of National Unity and Reconciliation Act 34 of 1995. See for more on the IJR http://www.ijr.org.za/. The idea of the (South African) Constitution as a monument and memorial has met with positive response – and has indeed been carried further – by other South African legal and constitutional theorists: cf eg Karin van Marle, Lives of Action, Thinking and Revolt – A feminist Call for Politics and Becoming in post-apartheid South Africa, in: SA Public Law 19 (Special Edition) (2004) 605 and id., Broken Lives and Deaths and the Potential of Politics after Makwanyane, in: SA Public Law 20(2) (2005) 243 245–250. 2 For an insightful discussion of the distinction between monuments and memorials, cf Johannes Snyman, Interpretation and the Politics of Memory, in: 1998 Acta Juridica 312 317–321. Snyman’s work has to a large extent inspired the development of my own ideas on the Constitution as monument and memorial.

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cannot be said of anti-heroes, failures and blunders: they can be remembered yes, but not celebrated. “Commemorate” is a feasible synonym for “remember” (in its “ordinary signification”, as jurists like to say), but “celebrate” is an exultant or jubilant mode of remembering. The closeness in meaning of “celebrate” and “commemorate” is not lamentable. On the contrary, it paves the way for their coexistence – contradictions notwithstanding. The German Denkmal and Mahnmal neatly capture these contradictions. A Denkmal can celebrate (and may even commemorate), but a Mahnmal warns (and may even castigate). Monuments and memorials are aesthetic creations. There is no reason why a constitution cannot be such a creation too. II. Friedrich Müller and the Modest Constitution as “Linguistic Datum” Conceiving of a constitution as magnificent monument and modest memorial at the same time, has every bit to do with celebrating the matchless work of Friedrich Müller – and with commemorating (and learning from) the notes of caution it sounds. Müller’s published work (especially his Juristische Methodik3 – first published in the mid-1960s), and in time also his insights as interlocutor and lieber Freund, coached me – a legal and constitutional theorist in a settling constitutional democracy – into grasping what it means for a text as powerful as a (supreme) constitution also to be just a document, a written law-text amongst others – “a linguistic datum”.4 In 1984, ten years prior to the advent of constitutional democracy in South Africa, VG Hiemstra, Chief Justice of an “independent black homeland” known as Bophuthatswana said the following about the constitutional review of legislation in one of his judgements:5 “[T]he Court has a particular duty as guardian of liberty, but it has to exercise its powers of controlling legislation with a scalpel and not with a sledgehammer.”

This dictum – preceded by and uttered (partly) in response to a grotesque overuse of constitutional review powers6 by South Africa’s highest court at the time7 – gains in meaning and significance in view of Müller’s appropriation of 3 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I: Grundlagen Öffentliches Recht, 8. Aufl. 2002, Berlin, Duncker & Humblot. 4 Cf eg Friedrich Müller, Basic Questions of Constitutional Concretisation, in: Stellenbosch Law Review 10(3) (1999) 269 269. 5 In Smith v Attorney-General Bophuthatswana 1984 (1) SA 196 (B) 200C. At the time, most courts in the South African context, in the absence of a justiciable, supreme constitution, had virtually no opportunity to do constitutional review. However, some of the “independent black homelands”, creatures of the South African policy of “separate development” or “grand apartheid”, adopted justiciable constitutions with Bills of Rights on the advice of democratically minded constitutional experts from South Africa, and this created some room for constitutional review in those territories. 6 In the case of S v Marwane 1982 (3) SA 717 (A).

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the notion of an unpresumptuous constitution. It is possible (and may sometimes be necessary) to utilise a constitution as a powerful sledgehammer to ward-off threats to, for example, the fundamental rights it entrenches, but in the long run the cogency of scalpel-sharp analysis will sustain the legitimacy (and warrant the qualitative growth) of a discreet (memorial) constitution. The constitution as monument and memorial surpasses the sledgehammer-scalpel metaphor as a nuanced delineation of the force and effect of a democratic constitution. This chapter will eventually deal with the commemoration (and thereby memorialisation) of the dead – or the “departed”,8 as some religious and cultural belief-systems in South Africa have it – as a constitutional issue, drawing on two South African examples. Since the present contribution (also) brings the commemorative (and therefore memorial) qualities of a constitution into play, it is in my respectful estimation apt to be dedicated to our most esteemed laureate, so as to celebrate and commemorate a significant facet of his strukturierende Rechtslehre, a gigantic yet judicious contribution to legal and constitutional theory. Difference(s) between the Constitution as monument and memorial will first be explained in some detail followed by the case studies exemplifying the metaphor. III. The Constitution as Monument The Constitution of the Republic of South Africa, 1996 (the final product of constitution-making deliberations) can hardly be described as “a modest text”. The same was true of its predecessor, the (transitional or interim) Constitution of the Republic of South Africa, Act 200 of 1993. Both are monumental “linguistic data” – from Preamble to Postamble/Postscript in the case of the transitional Constitution, and from the Preamble to the short title (and provision for its commencement) in the final Constitution. It is possible to “tour the provisions” of both of these texts, awestruck by how they evince a diverse and divergent South African nation’s most extraordinary, peaceful transition to a nonracial democracy after more than three centuries of oppressive racial aristocracy. The unprecedented Postamble to the transitional Constitution verbalised a quest for national reconciliation anticipated to overcome the atrocities and divisions of the past. This remarkably non-forensic exhibition of efflorescent language was decreed9 to form part of the substance of that Constitution. The spirit and tenor of the Postamble has survived in the Preamble to the final Con7 8 9

To wit the Appellate Division of the Supreme Court of South Africa. See VII. below. By virtue of Section 232(4) of that Constitution.

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stitution which, among other things, “recognises the injustices of our past” and honours “those who suffered for justice and freedom in our land”. It furthermore reiterates the need for healing “the divisions of the past” and for building a “united and democratic South Africa able to take its rightful place as a sovereign state in the family of nations”. And, as with any respectable monument, a monotheistic confession of faith, gleaned from a melancholic prayer-song that has become the substance of South Africa’s national anthem, is inscribed in the foot-pieces of both the Post- and Preambles: Nkosi Sikelel’ iAfrika (God bless Africa). The monumental flare of the Constitution also manifests in its affluent enactment of democratic and constitutional values. Section 1 decrees and depicts the (new) polity as “one sovereign, democratic state”, and then continues to locate human dignity, equality and freedom (among others) at its foundation. Section 7 delineates the features and functions of the Bill of Rights (Chapter 2 of the Constitution) while Section 36 prescribes the value-sensitive manner in which constitutional rights are required to be limited. Section 39, with similar sensitivity, marks the way to interpreting these rights. Chapter 3 verbalises the high values of co-operative government (Bundestreue in the German context) and Chapter 10 those of public administration. All these prescriptive descriptions are evidently monumental, holding up the Constitution as source of operational values which, in their turn, (are anticipated to) keep constitutional democracy in South Africa afloat. IV. Monumental Constructions of the Constitution There have furthermore been a number of monumental constitutional judgements handed down by the Constitution’s own, most significant, new creature, the Constitutional Court. The eleven judges of this court, for instance, all handed down separate judgements in a landmark decision declaring capital punishment unconstitutional.10 Each one of these various judgements is imbued with value statements that deal not only with constitutionalism in a national context, but also with human rights standards on the global scene. Two of the justices, Madala and Mokgoro JJ, even solemnised a marriage of Western and African human rights values,11 with the notion of ubuntu (mentioned in the Postamble to the transitional Constitution12) as promise of this marriage. There have since been a number of other remarkable judgements too which, on the superior strength of the nation’s monument to its new-found reconciliation, 10 S v Makwanyane and Another 1995 (6) BCLR 665 (1995 (3) SA 391) (1995 (2) SACR 1) (CC). 11 S v Makwanyane and Another 1995 (6) BCLR 665 (1995 (3) SA 391) (1995 (2) SACR 1) (CC) pars 237–245 and 307–308. 12 See III. above.

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have given short shrift to the remnants of long-cherished biases. Examples of such remnants include denying accused persons access to police dockets,13 reverse onuses in criminal proceedings,14 an obligation to answer incriminating questions during liquidation proceedings,15 civil imprisonment,16 stereotyped gender17 and parental18 roles as well as anti-gay and -lesbian bigotry.19 As far as the last issue is concerned South Africa’s Constitutional Court paved the (constitutional) way for an official recognition of same-sex unions, directing the national legislature to bring its legislation in line with constitutional demands20 – and the legislature indeed followed suit.21 On the strength of the entrenchment of a right of access to certain commodities and services in Sections 26– 28 of the Constitution, the South African Constitutional Court has also flexed a socioeconomic muscle making it clear to organs of state that their failure to provide these commodities and services, will let them come in for a good deal more than just a judicial slap on the wrist.22 V. The Constitution as Memorial A democrat and constitutionalist, recalling the tyranny of the past, can hardly be cynical about the monumental achievements under both of South Africa’s supreme constitutions since 1994. But (s)he also dares not wallow in these 13 Shabalala v Attorney-General, Transvaal 1995 (12) BCLR 1593 (1996 (1) SA 725) (CC). 14 S v Zuma and Others 1995 (4) BCLR 401 (1995 (2) SA 642) (CC). 15 Ferreira v Levin NO; Vryenhoek v Powell NO 1996 (4) BCLR 1 (1996 (1) SA 984) (CC). 16 Coetzee v Government of the Republic of South Africa, Matiso and Others v Commanding Officer, Port Elizabeth Prison and Others 1995 10 BCLR 1382 (1995 (4) SA 631) (CC). 17 The minority judgement of Sachs J in Harksen v Lane NO 1997 11 1489 (1998 (1) SA 300) (CC). Cf also AJ van der Walt/Henk Botha, Coming to Grips with the new Constitutional Order: Critical Comments on Harksen v Lane, in: SA Public Law 13(1) (1998) 16–41 33. 18 Fraser v Children’s Court, Pretoria North and Others 1997 (6) BCLR (1997 (2) SA 261) (CC); but cf also President of the Republic of South Africa and Another v Hugo 1997 (6) BCLR 708 (1997 (4) SA 1) (CC). 19 National Coalition for Gay and Lesbian Equality and Another v Minister of Justice and Others 1998 (12) BCLR 1517 (1999 (1) SA 6) (CC); National Coalition for Gay and Lesbian Equality and Others v Minister of Home Affairs and Others 2000 (1) BCLR 39 (2000 (2) SA 1) (CC). 20 Minister of Home Affairs and Another v Fourie and Others; Lesbian and Gay Equality Project and Others v Minister of Home Affairs and Others 2006 (3) BCLR 355 (2006 (1) SA 524) (CC). 21 Enacting the Civil Union Act 17 of 2006. 22 Government of the Republic of South Africa and Others v Grootboom and Others 2000 (11) BCLR 1169 (2001 (1) SA 46) (CC); Treatment Action Campaign and Others v Minister of Health and Others (1) 2002 (10) BCLR 1033 (CC).

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achievements. The Constitution is the supreme law of the Republic of South Africa,23 but it is not an overarching, all-encompassing, super law. The restrained Constitution is the Constitution as memorial – a written law-text that does not profess to constitute the moral high ground of justice all by itself; instead it reminds us of our pledge (and provides us with some legal means) to achieve social justice. The human obligation to do justice cannot be assigned to any law-text, not even the supreme Constitution. The Constitutional Court, in a number of cases, explicitly refrained from over-constitutionalising issues, holding (in the words of Kentridge AJ in S v Mhlungu and Others24) “that where it is possible to decide any case, civil or criminal, without reaching a constitutional issue, that is the course which should be followed”. What manifests in this restraint is subsidiarity, as term absent from the Constitution’s generous value statements and from South African constitutional jurisprudence,25 but vital nonetheless in memorialising the Constitution. Subsidiarity in its original, institutional signification26 obliges any more encompassing, superordinate body or community to refrain from taking for its account matters which a “smaller”, subordinate body or community can appropriately dispose of, irrespective of whether the latter is an organ of state or of civil society.27 The impact of the restraint thus imposed is twofold. First, it 23 According to Section 2 of the Constitution, which then continues: “law or conduct inconsistent with it is invalid, and the obligations imposed by it must be fulfilled”. 24 1995 (7) BCLR 793 (1995 (3) SA 867) (CC) par 59; cf also Motsepe v Commissioner for Inland Revenue 1997 (6) BCLR 692 (1997 (2) SA 879) (CC) par 21; National Coalition for Gay and Lesbian Equality v Minister of Home Affairs 2000 (1) BCLR 39 (2000 (2) SA 1) (CC) par 21; Minister of Education v Harris 2001 (11) BCLR 1157 (2001 (4) SA 1297) (CC) par 19. 25 And almost absent from constitutional literature. I have published an article and a chapter in a book seeking to invoke “subsidiarity” as theoretical explanation and a constitutional clarion call for certain strategies of legal interpretation in general, and in constitutional interpretation in particular, especially where existing law is construed to give effect to the “radiating effect” of the Constitution (as Section 39(2) of the Constitution indeed requires); cf Lourens du Plessis, Subsidiariteit in Grondwetsvertolking en -beregting, in: Chris Nagel (ed), Gedenkbundel vir JMT Labuschagne, 2006, Durban, LexisNexis Butterworths, p. 207–228 and id., ‘Subsidiarity’: What’s in the Name for Constitutional Interpretation and Adjudication?, in: Stellenbosch Law Review 17(2) (2006) 207–231. The only other contribution in the South African context devoting systematic attention to subsidiarity and calling it by the name, is Dawid van Wyk, Subsidiariteit as Waarde wat die Oop en Demokratiese Suid-Afrikaanse Gemeenskap ten Grondslag lê, in: Gretchen Carpenter (ed), Suprema Lex. Essays on the Constitution presented to/Opstelle oor die Grondwet aangebied aan Marinus Wiechers, 1998, Durban, Butterworths, p. 251–269. 26 With its roots in Roman Catholic social thought; cf Donald P Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, 2nd ed 1997, Durham/London, Duke University Press, p. 113.

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effects a balance of power among organs of state. As far as the vertical division of powers is concerned, it demands deference to federalism (as an instance of decentralism). For provincial governments, for instance, this means that challenges to the exercise of power by executive28 and legislative29 organs of the national government, and even by the president of the country,30 may come off. The Constitutional Court has furthermore construed the Constitution in a manner that confers on local (or municipal) legislatures the unprecedented status of primary or original (as opposed to secondary or delegated) law-makers,31 and has come forward with significant findings pertinent to the horizontal division of government powers or trias politica. An original law vesting a delegated legislature with unbridled powers to promulgate delegated legislation will, for instance, be unconstitutional because it blurs the distinction between the legislative and executive exercise of government power.32 The Constitutional Court will also step in when law or conduct results in blurring the separation of executive and judicial power (and especially if the independence of the judiciary stands to be compromised).33 27 Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans Jochen Vogel (eds), Handbuch des Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1995, Berlin, De Gruyter, p. 1051 describe subsidiarity as follows: “Nach diesem Prinzip soll das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, nicht für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch genommen werden.” German readers will confirm that subsidiarity is well established (and readily invoked) in German constitutional law as well as in the law of the European Union. 28 Executive Council, Western Cape v Minister for Provincial Affairs and Constitutional Development of the Republic of South Africa; Executive Council of KwaZuluNatal v President of the Republic of South Africa and Others 1999 (12) BCLR 1360 (2000 (1) SA 661) (CC). 29 Matatiele Municipality and Others v The President of the Republic of South Africa and Others 2006 (5) BCLR 622 (CC). 30 Executive Council, Western Cape Legislature and Others v President of the Republic of South Africa and Others 1995 (10) BCLR 1289 (1995 (4) SA 877) (CC). It must be added, however, that in this case the court did not explicitly defer to federalism – although its judgement could be construed to have had this effect. The finding for the province was based on grounds other than a clearly articulated deference to the transitional Constitution’s demand for the vertical division of powers. 31 Fedsure Life Assurance Ltd v Greater Johannesburg Transitional Metropolitan Council 1998 (12) BCLR 1458 (1999 (1) SA 374) (CC) par 26. 32 Executive Council, Western Cape v Minister for Provincial Affairs and Constitutional Development of the Republic of South Africa; Executive Council of KwaZuluNatal v President of the Republic of South Africa and Others 1999 (12) BCLR 1360 (2000 (1) SA 661) (CC) par 124. 33 In re: Certification of the Constitution of the Republic of South Africa, 1996 1996 (10) BCLR 1253 (1996 (4) SA 744) (CC); De Lange v Smuts NO and Others 1998 (7) BCLR 779 (1998 (3) SA 785) (CC); South African Association of Personal Injury Lawyers v Heath and Others 2001 (1) BCLR 77 (CC); Van Rooyen v The State (General Council of the Bar Intervening) 2002 (8) BCLR 810 (2002 (5) SA 246) (CC).

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Second, subsidiarity is meant to warrant ownership of and access to the Constitution not only for organs of state or those in power, but for all (potential) beneficiaries of the Constitution’s promises. The Constitutional Court is by no means the only (or even final) authorised expositor of the Constitution. Constitutional construction is the responsibility of a public and an open community of constitutional interpreters, who are all entitled to the empowerment that the Constitution engenders and who are subject to the obligations it imposes.34 This community includes all who exercise public power: all branches and levels of the judiciary as well as legislative and executive organs of state in every sphere of government.35 Most importantly, it includes individuals, groups and organisations active on numerous playing-fields in civil society where the exercise of public power has an effect, but can in turn also be affected. In Treatment Action Campaign and Others v Minister of Health and Others (1)36 an organ of civil society, for instance, was granted a court order designed to redress, with optimal effect, a defaulting government department’s deficient provision of antiretroviral medication needed to reduce the risk of mother-to-child transmission of HIV. The Constitutional Court’s “final” interpretation of the Constitution is no soothsaying. It is part of a process whereby, in a specific instance, the Constitution is concretised.37 This process is initiated not by the judiciary, but by people and institutions within the open community of constitutional interpreters, and their continued input is needed to take the process to a point where judicial pronouncement is procured. The eventual concretisation of the Constitution codepends on these prior endeavours. It cannot be otherwise. The Constitution as memorial is a promise to everyone in the nation. The kind of subsidiarity visualised in the previously cited dictum from the Constitutional Court’s Mhlungu judgement38 is actually not primarily concerned with proper relationships between organs (of state and/or civil society), but rather with the appropriate norm(s) needed to adjudicate an issue at hand: it expresses preference for an aconstitutional (or, at least, an indirectly constitutional) to a strictly constitutional mode of adjudication whenever the solution of a legal question admits of the former (and does not of necessity require the 34 Peter Häberle, Verfassung als Öffentlicher Prozeß. Materialien zu einer Verfassungstheorie der Offenen Gesellschaft, 1978, Berlin, Duncker & Humblot, p. 155–181; Lourens du Plessis, Legal Academics and the Open Community of Constitutional Interpreters, in: South African Journal on Human Rights 12 (1996) 214. 35 “Sphere of government” is the terminology used in the Constitution for what can also be referred to as “level” or “tier of government” – cf eg Section 40(1). 36 2002 (10) BCLR 1033 (CC). 37 Our laureate is a proponent of the notion of constitutional concretisation; cf eg Friedrich Müller, Basic Questions of Constitutional Concretisation, in: Stellenbosch Law Review 10(3) 1999 269–283. 38 S v Mhlungu and Others 1995 (7) BCLR 793 (1995 (3) SA 867) (CC) par 59.

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latter). The highest authority of the Constitution is, in other words, not overused to decide issues that can be disposed of with reliance on specific, subordinate and non-constitutional precepts of law. This “mode-” or “issue-centric” – and “norm-centric” – form of subsidiarity, which I have named adjudicative subsidiarity,39 is the strategic key to an unspectacular, day to day development of existing law, in concord with constitutional values and principles, but safeguarded against constitutional absolutism or imperialism. As previously observed40 the Constitution as memorial cannot be a super law, nor a super source of know-how and wisdom capable of answering all (or even most) legal questions, but it is a trump, maintaining a scouting ubiquity where- and whenever existing (“non-constitutional”) law needs to be relied on.41 VI. Can “two Constitutions” co-exist? Coexistence of the Constitution as monument and the Constitution as memorial is (and has been and will remain) problematic. The Constitution’s promise of a democratic Rechtsstaat can only be kept if the Constitution as monument is not allowed to overpower the Constitution as memorial, but also when the Constitution as memorial does not enervate the Constitution as monument. Two South African cases dealing with legal and, in particular, constitutional issues involved in commemorating the dead, aptly illustrate the difference(s) between the monumental and memorial modi of the Constitution. (None of these cases, by the way, ended up in the Constitutional Court, South Africa’s court of final instance in constitutional matters.) Both cases involve the fate of black manual labourers (and ex-labourers – and their families) living on farms owned by white landlords. The relationship between such farm-dwellers and land owners on South African farms is mostly not definable just in terms of the contract of employment between them. It is usually a feudal-like relationship with the former (and her/his next of kin) very much dependent on (and even at the mercy of) the latter as far as key aspects of their entire existence are concerned. VII. The Bührmann-Nkosi Case The first case relevant for the present discussion was originally brought as an application before a single judge and thereafter on appeal before a full bench of the Transvaal Provincial Division of the High Court (TPD) in Pretoria.42 Even39

Lourens du Plessis, ‘Subsidiarity’, cf fn 25, 215–223. See discussion above. 41 Lourens du Plessis, ‘Subsidiarity’, cf fn 25, 227. 42 The judgement of the full bench has been reported as Bührmann v Nkosi and Another 2001 (1) SA 1145 (T). 40

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tually it ended up in the Supreme Court of Appeal (SCA) in Bloemfontein, South Africa’s highest court of appeal in all but constitutional matters.43 From 1966 to 1981 Grace Chrissie Nkosi, with her late husband and their children, lived on the Bührmann family farm, De Emigratie, in the district of Ermelo, Mpumalanga. The couple were both farm labourers. The family then moved to a neighbouring farm where Mr Nkosi passed away in 1986. With the permission of Mr Gideon Bührmann, who in 1970 had taken charge of the farming operations on De Emigratie from his father (the Nkosis’ previous employer), Grace returned to De Emigratie where she continued to live with her two sons. As from 28 November 1997 Grace, in terms of the Extension of Security of Tenure Act44 (ESTA), became “an occupier” of the land with the right to reside on and use it,45 as well as rights to a family life in accordance with her culture46 and to freedom of religion, belief, opinion and expression.47 ESTA also entitles any person (and not only an occupier) to visit and maintain family graves on someone else’s land subject to certain conditions.48 ESTA was enacted with the plight (and the constitutional rights) of black “vassals” on white farms very much in the national legislature’s mind, moderately empowering them vis-à-vis the white landlords at whose mercy they had traditionally been. Grace’s son, Petrus, born on De Emigratie in 1968, died in 1999 and Gideon refused Grace permission to bury him on the farm (where he had also been living legally). Gideon approached the High Court in Pretoria for an order prohibiting the burial. A single judge (Cassim AJ) refused the order. Gideon then successfully appealed to a full bench of the High Court in Pretoria whereupon Grace unsuccessfully appealed to the Supreme Court of Appeal. Grace’s contention that she had a right to bury Petrus on the farm was based, first, on the allegation that in 1968 they (the family) buried one of her grandsons on a piece of land pointed out by Bührmann senior (Gideon’s father) for family burials. Seven family members had subsequently been buried there. Secondly, Grace alleged that according to her custom and religious belief a family member who passes away is only physically but not also spiritually separated from those left behind, and a deceased thus has to be buried in a place where the surviving family members can communicate spiritually with him or her on a daily basis. Her late husband and his mother performed the rituals necessary to declare and introduce the piece of land above-said as “home for the ancestors”. It is in this sense that the dead are conceived of as the departed.49 43 44 45 46 47 48

Nkosi and Another v Bührmann 2002 (1) SA 372 (SCA). 62 of 1997. Section 6(1) of the Act. Section 6(2)(d). Section 5(d). Section 6(4).

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Both the full bench of the TPD and the SCA thought that the issue they had to decide was how to weigh Grace’s right to her religious and cultural beliefs against Gideon’s right (of ownership) to his land. The majority of the court in Pretoria and a unanimous Supreme Court of Appeal did not have much difficulty to conclude that the latter’s property right weighed heavier, and that the right to freedom of religion “has internal limits”.50 Satchwell J, in the TPD, voiced the sentiments of the majority of that court (and of the SCA) as follows: “The Constitution clearly envisages that the second respondent [Ms Nkosi] is free to hold and act upon her religious convictions and that she is not to be interfered with or discriminated against in regard thereto. However, we were referred to no authority and I know of none which imposes on a private individual a positive obligation to promote the religious practices and beliefs of another at one’s own expense. If such were envisaged either by the Constitution or the Extension of Security of Tenure Act, each occupier who professed a religion or set of beliefs would be entitled to require of the landowner that he permit the erection of a church or tabernacle or other place of worship on his land in circumstances where the occupier’s religion required adherents to gather together with symbols of faith in an enclosed building. Conceivably, the landowner could be obliged to make separate allocations of land for such purposes in respect of each denomination or sect or religion professed by individual occupiers. Freedom of religion, belief and opinion, no less than other rights, must be exercised within the parameters of the Constitution and in the present case where reliance is placed upon s 5 of the Extension of Security of Tenure Act.”51

The monumental flare with which these words were uttered, is strikingly manifested in the extremity of certain parallels that Satchwell J draws: what 49

See II. above. Nkosi and Another v Bührmann 2002 (1) SA 372 (SCA) par 49. 51 Bührmann v Nkosi and Another 2001 (1) SA 1145 (T) 1155D-F. The Land Claims Court previously in Serole and Another v Pienaar 2000 (1) SA 328 ([1999] 1 B All SA 562) (LCC) voiced similar sentiments on the applicability of ESTA rights to justify the procurement of a right to bury a family member on someone else’s land: “Permission to establish a grave on a property could well amount to the granting of a servitude over that property. The owner of the property and all successors-in-title will, for as long as the grave exists, have to respect the grave, not cultivate over it, and allow family members to visit and maintain it. Although the specific instances of use in s 6(2) are set out ‘without prejudice to the generality’ of the provisions of ss 5 and 6(1), they still serve as an illustration of what kind of use the Legislature had in mind when granting to occupiers the right to ‘use the land’ on which they reside. The right to establish a grave is different in nature from the specific use rights listed in s 6(2). It is, in my view, not the kind of right which the Legislature intended to grant to occupiers under the Tenure Act [ESTA]. Such a right could constitute a significant inroad into the owner’s common-law property rights. A Court will not interpret a statute in a manner which will permit rights granted to a person under that statute to intrude upon the common-law rights of another, unless it is clear that such intrusion was intended.” 50

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Grace Nkosi was asking, was for the judge akin to asking a landowner permission to erect a church or tabernacle or other place of worship on her/his land! In stark contrast with this monumental exaggeration, is Ngoepe JP’s lone, dissenting (and sobering) voice in the Nkosi-Bührmann saga: “[T]here is already an area for burial; other employees . . . bury on that farm with the appellant’s [Gideon’s] permission; the area the appellant loses to the grave is probably 1 m by 2 m; and . . . in terms of the law as it stands, the respondent [Grace] will in any case still be entitled to visit . . . existing . . . graves. I am not persuaded that the loss of a 1 m by 2 m area constitutes such a drastic curtailment of the appellant’s right of ownership as to justify denying the respondent the right I have already described in detail.”52

A provision53 has since been included in ESTA, proclaiming a right to bury a deceased “occupier” on the land where (s)he lived in accordance with the deceased’s and the family’s religious and/or cultural beliefs, but on the condition that an established practice of burial in respect of that land exists. This right extends to the burial of family members of an occupier who die while living with her/him on the land. The new statutory provision, which would have resolved the Nkosi-Bührmann issue in Grace’s favour, was challenged unsuccessfully in case of in Nhlabathi and Others v Fick54 in the Land Claims Court. The court held that the impugned provision does not constitute a taking of property in breach of Section 25(1) of the Constitution. VIII. The Scott-Crossley Case The second case pertinent to the present discussion is that of Mark ScottCrossley, a white farmer, and three of his black employees, Simon and Richard Mathebula and Robert Mnisi, who stood accused of the murder of an ex-employee of Scott-Crossley, one Nelson Chisale. (The charges against Mnisi were eventually withdrawn because he turned state witness.) Chisale was dismissed by Scott-Crossley, but returned to the latter’s farm to collect his belongings whereupon he was severely assaulted and – allegedly while still alive – thrown to a pride of white lions in an encampment at the Mokwalo Game Farm near Hoedspruit in the Limpopo Province. Chisale’s remains – a skull, broken bones and a finger – were later found in the lion camp. On Friday 12 March 2004 Scott-Crossley and the two remaining accused sought an urgent interdict in the TPD to stay Chisale’s funeral which was planned for the next Saturday morning at 06h00 in the Maboloka village near

52 53 54

Bührmann v Nkosi and Another 2001 (1) SA 1145 (T) 1161F–G. Section 6(2)(dA). 2003 (7) BCLR 806 ([2003] 2 All SA 323) (LCC).

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the town of Brits in the Northwest Province.55 The applicants wanted a pathologist, designated by their attorneys on their behalf, to examine the remains of the deceased in order to assess (and challenge, if necessary) forensic evidence to be adduced at the criminal trial. A number of state officials involved in the investigation were joined as respondents, and none of them opposed the application. Patel J, who heard the application, eventually dismissed it because the applicants failed to establish urgency. The applicants’ attorneys, for quite some time before the application was brought, had been in contact with the state’s expert witness who was to conduct the necessary tests and they were well aware of the fact that the prosecution was not going to comply with their request to preserve the deceased’s remains for further tests. The application could and should therefore have been brought at an earlier stage, and its “urgency” a day before the planned funeral was, in the court’s view, attributable to the applicants’ own procrastination. In the course of his judgement Patel J, however, attended to some substantial constitutional considerations without clearly indicating if and how they had a bearing on his eventual findings. He, for instance, made much of the applicants’ neglect to inform the family of the deceased of the application that they were bringing and to consider joining them as respondents. According to the applicants it was difficult to trace the deceased’s relatives, but some of relatives learnt from the press about the application nonetheless and showed up at the hearing. They were Ms Fetsang Jafta, a niece of the deceased, and her uncle, Mr Terrence Mashigo, the manager responsible for community participation affairs in the office of the Executive Mayor of the Madibeng Local Community. Patel J afforded the latter an opportunity to address the court on behalf of the family, and afterwards thought that he did so with solemnity and dignity, and that any attempt to summarise the relevant portions of his address would do an injustice. Mr Mashigo’s address was therefore quoted verbatim in the judgement. Mashigo mainly explained why, in view of certain ritual preparations that had already been made, the family’s custom and belief impelled the burial of the deceased at 06h00 the Saturday morning, and he furthermore voiced indignation at the applicants’ claim that they could not track down the deceased’s family to inform them of the application. The fact that the court was considering the family’s constitutional rights seriously, met with Mr Mashigo’s acclaim. Looking rather clinically at the situation an expert legal observation will probably be that the issue Patel J had to decide was how to reconcile the religious and cultural rights of Nelson Chisale’s relatives with the applicants’ right

55 The case has been reported as Crossley and Others v National Commissioner of South African Police Service and Others [2004] 3 All SA 436 (T).

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to a fair trial.56 He held that in the particular situation the right to dignity of both the deceased and his relatives trumped the applicants’ right to a fair trial, and he advanced the African proverb or saying umuntu ngumtu ngabayne abantu (“a person is a person through other people”) as “a further raisond’être” for the refusal of the application.57 The court verbalised its understanding of ubuntu as follows: “Ubuntu embraces humaneness, group solidarity, compassion, respect, human dignity, conformity to basic norms and collective unity, humanity, morality and conciliation.”58

IX. Monuments beget Counter-monuments The metaphor of the Constitution as monument and memorial helps one identify the significant differences between the Nkosi-Bührmann and Crossley judgements. The majority of judges in the first case (in the TPD and SCA) apparently worked with the Constitution-as-monument while Patel J in the second case invoked the Constitution-as-memorial. To begin with the first case: when one comes to think of it, the South African Constitution addresses and redresses the plight of (black) farm-dwelling vassal-labourers in a rather monumental way. Section 26 guarantees a right “to have access to adequate housing”59 and is arguably not a powerfully enforceable entitlement – especially not against another individual who is not an organ of state. The section does, however, have a rather potent sting in its tail: “No one may be evicted from their home, or have their home demolished, without an order of court made after considering all the relevant circumstances. No legislation may permit arbitrary evictions.“60

This provision applies generally – exactly how generally has been an issue of some contention61 – but it certainly pertains to the position of (black) farmdwellers vis-à-vis (white) landlords. ESTA actually is a (further) monument to 56 As intimated previously, it was actually not really necessary for the court to make a finding in this regard because it had already found against the applicants on the issue of urgency. However, Patel J did express a view on the constitutional issue. 57 Crossley and Others v National Commissioner of South African Police Service and Others [2004] 3 All SA 436 (T) par 18. 58 Crossley and Others v National Commissioner of South African Police Service and Others [2004] 3 All SA 436 (T) par 18. As pointed out previously the word “ubuntu” appeared in the Postamble to South Africa’s transitional Constitution – there associated with the need for national reconciliation in order to overcome the atrocities and divisions of the past (see III. above). 59 Section 26(1). 60 Section 26(3). 61 Cf eg the dissenting judgements in Ndlovu v NGGPBP; Bekker and Another v Jika 2003 (1) SA 113 (SCA).

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the monumental constitutional protection of black “vassals’” rights to reside at property with which, in some way, they have established a relationship. The problem with monuments, however, is that they beget counter-monuments: Grace Nkosi’s monumental occupational rights to Gideon Bührmann’s family farm (possibly including burial rights), inevitably brought Bührmann’s constitutionally guaranteed right to his/the family’s property into play. Actually the latter entitlement is not guaranteed as a right in the South African Constitution: what Section 25 entrenches instead is a constitutional guarantee against (i) a deprivation of property “except in terms of law of general application” as well as (ii) an all-out arbitrary deprivation of property (which no law may permit). But in the Nkosi-Bührmann case the majority of judges in the TPD and SCA (with their peculiar “culture”) had little difficulty to conclude that the “esoteric” religious and cultural rights of Grace Nkosi (and her family) cannot trump Gideon Bührmann’s right(s) to his (and his family’s) immovable property. This is a monumental ideological predisposition which manifests (monumentally) in the subordination of certain “lesser” constitutional rights to other “greater” – usually “blue” or freedom – rights.62 Ngoepe JP’s sobering, downto-earth observation that what Bührmann stood to “lose” was but a one metre by two metre piece of land in a graveyard already assigned to Grace Nkosi’s family, escaped his learned colleagues, preoccupied with the sanctity of Bührmann’s right to his land. Precisely because Grace’s constitutional and ESTA rights were so monumental – and so potentially strong – two courts preferred to construe them restrictively (vis-à-vis Gideon Bührmann’s property rights) so as not to include burial rights. These courts’ unwillingness to create a precedent prompted parliament to intervene (in a monumental fashion) and amend ESTA so as to provide expressly for burial rights for (black) farm-dwellers and their next of kin on certain conditions.63 X. A Fitting Judicial in Memoriam Patel J’s judgement in the Crossley case was an attempt to reclaim humanity and dignity for the deceased Nelson Chisale and his (extended) family, given the gruesome way in which he as a human being was reduced to a plastic bagful of bones and his family was bereft of a loved one in a most barbaric way. 62 AJ Van der Walt, Property Rights v Religious Rights: Bührmann v Nkosi” 13(3) (2002), in: Stellenbosch Law Review 394 414 calls it “a matter of perspective” resting on the “seemingly natural and uncontested basis that ownership is absolute, complete and inviolate in principle, and that the owner’s property can only be taken away or invaded permanently on the basis of either consent or clear and unambiguous legislative authority.” 63 See VII. above.

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This is what Terrence Mashigo in his address to the court – shorn of pretension, and yet touching and powerful – was also pleading for. Mashigo was speaking for the observance of tradition, but also much more for the resurrection of the family’s dignity, ravaged not only by the (mal)treatment meted out to the deceased, but also by the applicants’ (and, in particular, Scott-Crossley’s) arrogant claim that they (the family – by blood, by affinity and, above all, by ubuntu) were not traceable and therefore not contactable. Such a trivialisation of a family’s identity in a matter as weighty as the burial of one from the fold, is a serious assault on the humanity of all. Mashigo, for instance, insisted that carrying an identity document and being employed were decisive in carving out Chisale’s identity as a (known) member of a (knowable, extended) family. That is contrary to the popular belief that an identity document confers but a numberlike identity on its holder – mainly for impersonal official purposes. The court heeded Mashigo’s plea on behalf of the family invoking the right to human dignity – coupled with ubuntu – in a powerful yet unspectacular manner. The court did take the applicants’ right to a fair trial seriously, but also did not treat it as a monumental entitlement trumping the family’s constitutional rights from beginning to end.64 Contextualisation of both parties’ rights was the first step towards construing and concretising these rights, and not – as was the case in the Nkosi-Bührmann judgement(s) – an exaggeration of a threat one party’s rights hypothetically posed to a right of the other party. Patel J, in the peculiar circumstances of the case, actually did what Ngoepe JP tried to achieve in the Nkosi-Bührmann case, namely to appeal to practical wisdom or “common sense” by not conceiving of constitutional rights in an essentialist, all or nothing manner, and not ranking them (albeit intuitively) as “lesser” (esoteric religious and cultural) and “greater” (“blue” or freedom) rights. Ngoepe JP did not mention ubuntu explicitly, but his minority judgment echoed sentiments akin to those in Patel J’s judgement, heeding and respecting people’s beliefs about dealing with their dead. Patel J indeed quoted from Ngoepe JP’s judgement – even though, according to the rules of stare decisis, he was actually bound by the Pretoria High Court’s majority and the SCA judgements instead.65 And so the Crossley judgement has come to stand as a fitting judicial in memoriam for the late Nelson Chisale.

64 Cf eg Crossley and Others v National Commissioner of South African Police Service and Others [2004] 3 All SA 436 (T) pars 11–13 for the court’s consideration of this right and a discussion of the possibilities for realising it for purposes of the criminal trial. 65 Crossley and Others v National Commissioner of South African Police Service and Others [2004] 3 All SA 436 (T) par 16.

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XI. Closing Perspective: To Live with Aporiai To conclude: it is no use trying to reconcile or “harmonise” the Constitution’s contradictory modes of existence as monument and memorial. It is best, for jurists in particular, to learn to live with and make the most sense of them. The law is full of contradictions.66 So too is the South African Constitution.67 We need not try and “resolve” these paradoxes (or aporiai) – not even by treating them as dialectical antitheses.68 This will be too “logical” or “rational” a modus operandi in a reality that defies any superimposed logic or rationality. Living with contradictions in our postmodern world is not a fate. It is rather an opportunity to appreciate the contrasts that constitute the full picture of the reality we experience, in other words, an aesthetic mode of coping with the dilemma of contradiction.69 This is what dealing with the Constitution as memorial and monument helps us achieve.

66 As to contradictions in realising “the law”, cf Pierre Schlag, Rights in the Postmodern Condition, in: Austin Sarat/Thomas R Kearns (eds), Legal Rights: Historical and Philosophical Perspectives, 1997, Ann Arbor, The University of Michigan Press, p. 263–305. Schlag focuses on contradictory understandings of the law that follow from analytic and instrumental readings of law-texts respectively. The former makes for a preservative stabilisation of social relations and the latter for a transformative destabilisation of society. What is important for present purposes is Schlag’s contention that these contradictory positions are not mutually exclusive. On a different topic, but in a similar vein, Henk Botha, Democracy and Rights. Constitutional Interpretation in a postrealist World, in: 63(4) (2000) Tydskrif vir Hedendaagse Romeins-Hollandse Reg 561–581 argues that there is (also) no point in trying to “solve” the countermajoritarian difficulty besetting constitutional review. 67 Many of the contradictions in the Constitution are precisely of the kind that Schlag describes. Equality and freedom are, for instance, both proclaimed as fundamental values informing our version of constitutionalism (Sections 1(a), 36(1) and 39(1)(a)). A libertarian protection of rights tends to preserve vested rights while an egalitarian promotion of the conditions for equality can often require social transformation. This contradiction is also visible in some sections of the Constitution, eg Section 9 which entrenches the right to equality, but at the same time authorises unequal treatment to redress inequalities of the past, and Section 25 that protects property but at the same time lays the constitutional foundation for the expropriation of property for land reform. 68 On the nature of a dialectical relationship in a constitutional context, cf Lourens du Plessis, The Genesis of a Bill of Rights in a divided Society. Observations on the Ideological Dialectic reflected in the Chapter on Fundamental Rights in South Africa’s transitional Constitution, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995) 353 354. 69 As Pierre Schlag, cf fn 66, does too.

Bemerkungen zu den „neuen“ Methoden der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft Von Frank Rottmann

I. Das methodische Konzept: Der steuerungstheoretische Ansatz als Analysewerkzeug Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“1 ist auf der „Suche nach dem zukunftstauglichen Recht“2. Nach ihrem Selbstverständnis hebt sich ihr methodisches Konzept deutlich von der Juristischen Methode3 und herkömmlichen methodischen Zugängen ab. Es ist dem steuerungstheoretischen Ansatz verpflichtet, der als Analysewerkzeug neben dem Recht auch andere Steuerungsmedien wie den Markt, das Personal und die Organisation in das wissenschaftliche Forschungsprogramm einbezieht und damit eine Ausdifferenzierung und Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes erlaubt. Während die verwaltungsrechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit bisher vor allem dem „alten“ regulativen (Ordnungs-)Recht galt, soll der Steuerungsansatz nun den Blick für neuartige Formen des Verwaltungshandelns öffnen, z. B. für den gezielten Einsatz von Information, etwa in der Form von Warnungen, Produktempfehlungen und Auszeichnungen, für die Schaffung von monetären Anreizen durch Subventionen, Abgaben und Zertifikatslösungen oder für die Einordnung verschiedener Varianten der Konfliktmittlung und der Kooperation. Außerdem sollen die Verwal1 Eine erste Verwendung dieser Bezeichnung findet sich bei Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.): Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 1. Aufl. 2004, S. 13. Sie knüpft an die Ausrufung der „Neuen Staatswissenschaft“ durch Voßkuhle, Der Dienstleistungsstaat, Der Staat, Band 40 (2001), S. 495, 502 f. an. Zu den programmatischen Schriften der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft s. vor allem: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006 mit Beiträgen u. a. von Voßkuhle (S. 1 ff.), Stolleis (S. 63 ff.); Möllers (S. 121 ff.), Franzius (S. 177 ff.), Masing (S. 391 ff.) und Reimer (S. 533 ff.). Diese Beiträge werden im Folgenden lediglich durch Angabe der Rn. zitiert. 2 Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 10. 3 Zur Entstehung der Juristischen Methode s. vor allem Stolleis (Fn. 1), Rn. 47 ff. und Hoffmann-Riem (Fn. 1), Rn. 10. Die Juristische Methode wurde vor allem zur theoretischen Unterstützung der Möglichkeit einer Gesetzesherrschaft entwickelt. Kritisiert wird heute die damit verbundene Einengung des Wahrnehmungsfeldes der Rechtswissenschaft auf rechtlich Geregeltes und dementsprechend auf Rechtsakte; vgl. dazu Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 2–7.

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tungen in die Lage versetzt werden, ihre Leistungen besser und kostengünstiger zu erbringen. Dabei geht es nicht nur um einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung im Sinne einer Steigerung der Effizienz, sondern auch um Informationen für die Verwaltungen, wie sie mit den vorhandenen Ressourcen ihre Leistungen quantitativ und qualitativ verbessern, also ihre Effektivität steigern können4 Grundlage und Voraussetzung des steuerungstheoretischen Ansatzes ist eine genaue „Realbereichsanalyse“5. Denn ohne hinreichende Kenntnisse der sozialen, politischen, ökonomischen Wirklichkeitsausschnitte lassen sich die Regelungsdefizite im geltenden Recht nicht bestimmen und können rechtliche Lösungen für neuartige Sachprobleme nicht entwickelt werden. Notwendig sind daher eine breite und intensive Rechtstatsachenforschung6 und ein interdisziplinärer, zumindest aber multidisziplinärer Dialog mit anderen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit politischer Steuerung beschäftigen7. Damit öffnet sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft für die Nachbarwissenschaften, ohne aber die Erfordernisse disziplinärer Identität8 aufzugeben.

4 Die Neuen Steuerungsinstrumente sind im Prinzip in allen „Referenzgebieten“ einsetzbar; s. dazu Möllers (Fn. 1), Rn. 53 ff.; Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 44 ff. Zur weitgehend fehlgeschlagenen Implementierung der Neuen Steuerungsinstrumente in der Landesverwaltung Baden-Württemberg s. Rechnungshof Baden-Württemberg, Beratende Äußerung nach § 88 Abs. 2 LHO, Wirtschaftlichkeit des Projekts NSI in der Landesverwaltung, Az: IV-2000W20-04.70. 5 Zur Realbereichsanalyse in steuerungstheoretischer Betrachtung vgl. Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 29; zu den Unterschieden zwischen Gesetzesfolgenabschätzung und Rechtswirkungsforschung s. Reimer (Fn. 1), Rn. 110. 6 Die Zahl der empirischen Studien im Bereich der Verwaltung und des Verwaltungsrechts ist gering. Sie scheitern häufig an der fehlenden Finanzierung, der Schwierigkeit bei der Materialbeschaffung und dem erhöhten Kooperationsbedarf zwischen Soziologen und Juristen; vgl. dazu i. E. Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 30 m. N. in Fn. 157–159. 7 Das Verhältnis der Verwaltungsrechtswissenschaft zu den sog. Nachbarwissenschaften wird dadurch beeinträchtigt, dass diese Disziplinen keinem einheitlichen Methodenkonzept folgen und empirische, analytische und normative Methodenansätze weit auseinander liegen; s. i. E. Schmidt-Aßmann (Fn. 1), S. 398 ff. Die Verwendung von sog. Verbundbegriffen soll die Kommunikation zwischen den Disziplinen erleichtern. Es besteht aber auch die Gefahr, dass in den Verbundbegriffen ein „bewertender Subtext“ transportiert wird, der rechtsnormativ nicht abgesichert ist; s. Möllers, VerwArch 93 (2002), S. 22, 31 ff.; Jestaedt, Selbstverwaltung als „Verbundbegriff“, DV 35 (2002), S. 293 ff. 8 Vgl. aber Bumke, Die Entwicklung der verwaltungswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.) (Fn. 1), S. 124 ff., der den Einwand des „Methodensynkretismus“ für verfehlt hält. Zur Monodisziplinarität als Grundlage der Interdisziplinarität vgl. etwa Czada, Disziplinäre Identität als Voraussetzung interdisziplinärer Verständigung, in: Bizer/Führ/ Hüttig (Hrsg.), Responsive Regulierung, 2002 S. 23 ff.

Die „neuen‘‘ Methoden der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft

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II. Das wissenschaftliche Interesse: Von der Anwendungszur Handlungsperspektive des Rechts 1. Die Handlungsperspektive

Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft hat ihr Hauptanliegen in einer Reihe von Leitsätzen9 klar benannt. Sie will ihr wissenschaftliches Interesse neu fokussieren. Es soll nicht länger der Juristischen Methode und überkommenen methodischen Zugängen – sie werden als Text-Interpretationswissenschaften10 qualifiziert – sowie den Normen des Verwaltungsrechts als Kontrollnormen und dem Gesetz als Grenze administrativen Handelns, der Gerichtsschutzperspektive sowie dem Rechtsakt gelten. Statt dessen sollen der Steuerungsansatz als Analysewerkzeug, das Verständnis der Rechtsnormen als Handlungsnormen sowie als Mittel normativer Qualitätsgewährleistung; kurz: die Handlungsperspektive des Rechts, in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses rücken. All diesen „Akzentverlagerungen“11 liegt ein Verständnis der Rechtswissenschaft als „problemlösungs- bzw. rechtssetzungsorientierte Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“12 zu Grunde, die sich, wie schon erwähnt, von der „Juristischen Methode“ grundlegend unterscheiden soll. 2. Zum Verhältnis von Handlungs- und Anwendungsperspektive

Betrachtet man die den „Akzentverlagerungen“ zugrunde liegenden Begriffspaare genauer, so fällt auf, dass die gegenüber gestellten Sichtweisen und Themenschwerpunkte einander meist nicht ausschließen. In der Praxis sind sie allemal miteinander verwoben und verschränkt. Denn selbstverständlich macht z. B. die Betrachtung der Rechtsnormen aus der Verwaltungsperspektive die Gerichtsschutzperspektive nicht entbehrlich, da die Normen des einfach-gesetzlichen Verwaltungsrechts der verfassungsgerichtlichen Überprüfung und der Kontrolle durch den EuGH und den EGMR standhalten müssen und das Verordnungsund Satzungsrecht sowie die Verwaltungspraxis der fachgerichtlichen Kontrolle unterliegen13. Auch das Verständnis der verwaltungsrechtlichen Normen als 9 Sie sind z. B. aufgelistet bei Hoffmann-Riem (Fn. 1), Rn. 15. Das häufig verwendete Argumentationsmuster, der Akzent der Forschungstätigkeit müsse von der einen Perspektive „hin zu“ einer anderen verlagert werden, hat wohl eine integrative Funktion. Ob und wie genau die alte durch die neue Sichtweise ergänzt werden kann, erschließt sich indes nicht immer; vgl. dazu z. B. unten I. 3. 10 Hoffmann-Riem (Fn. 1), Rn. 15. 11 Voßkuhle (Rn. 9 ff.), näher dazu auch Hoffmann-Riem, Tendenzen der Verwaltungsrechtsentwicklung, DÖV 1997, S. 290 ff. 12 Hoffmann-Riem (Fn. 1), Rn. 15; Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 15. 13 Dass die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes Vorwirkungen auf administratives Handeln hat, wird von den Vertretern der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft selbstverständlich anerkannt. Die Auffassung, die Rechtsschutz- bzw. Gerichtszentrie-

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Grenze staatlichen Handelns steht nicht in Widerspruch zu einer Sichtweise, die diese als Mittel normativer Qualitäts-Gewährleistung begreift. Gleiches gilt für die Gegenüberstellung von rechtsaktbezogener und verhaltensbezogener Betrachtungsweise. Wenn es richtig ist, dass Eigenständigkeit und Fruchtbarkeit beider Perspektiven ernsthaft nicht in Frage gestellt werden können14, so schließt die eine Sichtweise die andere nicht aus. Es kommt vielmehr darauf an, den jeweiligen Nutzen beider Perspektiven zu erkennen und, sofern dies möglich ist, den begrifflichen und konzeptionellen Rahmen für eine Verknüpfung zu entwickeln. 3. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft und Juristische Methode

Dass sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft der Juristischen Methode15, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildete, nicht länger verpflichtet fühlt, überrascht nicht. Erstaunlich ist auch nicht die Ablehnung solcher methodischer Konzeptionen, die die Rechtswissenschaft als bloße Text- Interpretationswissenschaft begreifen. Denn sie negieren die Ergebnisse der intensiven Methodendiskussion Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre, die hauptsächlich im Bereich des Verfassungsrechts geführt wurde16. Seither ist anerkannt, dass eine Rechtsnorm mehr ist als ihr Normtext und dass das Verständnis der Rechtswissenschaft als Text-Interpretationswissenschaft zwar gewisse Möglichkeiten juristisch-philologischer Textbehandlung17 eröffnet, mehr aber nicht. Bemerkenswert ist eher, dass die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ rung der Verwaltungsrechtswissenschaft versperre heute den Blick auf die vorrangige Aufgabe der Verwaltung zur Lösung sozialer Probleme, so Hoffmann-Riem (Fn. 1), Rn. 11, lässt sich verfassungsrechtlich wegen Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4 GG kaum begründen. Außerdem unterschätzt sie die Intensität der Steuerung des Verwaltungshandelns durch Gerichtsentscheidungen, die sich aus deren präjudiziellen Wirkungen ergibt. 14 Bumke, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), (Fn. 7), S. 127 f. 15 Vgl. dazu Stolleis (Fn. 1), Rn. 47 ff.; Hoffmann-Riem (Fn. 1), Rn. 10; Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 1 ff. 16 Vgl. etwa Haverkate, Gewissheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, 1977; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl. 1976; Friedrich Müller, Juristische Methodik, 1971; ders., Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, 1966; Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, Dokumentation der Kontroverse, 1976. Vgl. auch Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Der Staat, 19/1980, S. 73 ff., der die damals diskutierten wissenschafts-theoretischen, methodologischen und verfassungstheoretischen Positionen präzise herausarbeite und vergleichend bewerte. 17 Zum Verhältnis von juristischer Methodik und Sprachkritik und zur rechtsstaatlichen Textstruktur vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band, I, 9. Aufl, 2004, Rn. 209 ff., Rn. 219 ff.

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sich heute noch intensiv mit „der“ Juristischen Methode im Verwaltungsrecht auseinandersetzt18, obwohl Begriffsjurisprudenz und Gesetzespositivismus, klassisches Auslegungsschema und traditionelles Subsumtionsideal oder auch verdinglichte antithetische Verhältnisbestimmungen von Sein und Sollen und Recht und Politik schon seit geraumer Zeit ausgedient haben und der Diskussionsstand vor mehr als 30 Jahren bereits hinlängliche Kenntnisse in soziologische Entwürfe, wissenschaftstheoretische Modelle und sprachphilosophische Erkenntnisse voraussetzte19. III. Die verwaltungsrechtliche Handlungsperspektive in verfassungsrechtlicher Sicht 1. Verfassungsrecht als Maßstab und Grenze der Verwaltungstätigkeit

Die Verwaltungsrechtswissenschaft ist eine „anwendungsbezogene Interpretationswissenschaft“, denn die „Anwendung“ des Verfassungsrechts definiert die Maßstäbe und Grenzen, die dem Verständnis der Verwaltungsrechtswissenschaft als „problemlösungsorientierte Handlungs- und Entscheidungswissenschaft“ vorgegeben und gesetzt sind. Die zentralen Strukturelemente des Grundgesetzes – in erster Linie den Vorrang der Verfassung und die daraus folgende Verfassungsabhängigkeit des Gesetzesrechts, die umfassende Bindung der öffentlichen Gewalt an die Grundrechte mit der Folge der Herausbildung eines grundrechtsgeprägten Verwaltungsrechts20, die umfassende Gewährleistung gerichtlichen Rechtsschutzes sowie die Institutionalisierung des Bundesverfassungsgerichts mit umfassenden Zuständigkeiten – definieren die Rahmenbedingungen verwaltungsrechtswissenschaftlicher methodischer Konzepte. Nicht nur die Anwendung der Gesetze durch die Verwaltung, sondern auch deren Entstehung und Interpretation sind und bleiben durch das Rechtsstaatsprinzip und hier insbesondere durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie die Grundrechte und das Verständnis der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte determiniert. Die Grundrechtsbindung des Verwaltungsrechtsgesetzgebers führt daher notwendigerweise zu einem grundrechtsgeprägten Verwaltungsrecht, das die vielfältigen Dimensionen der Grundrechte als Abwehrrechte, Leistungsrechte und Gleichbehandlungsrechte ebenso konkretisiert wie die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension mit der aus ihr abgeleiteten Schutzpflichtdimension21. 18

Dazu oben Möllers (Fn. 1), Rn. 23; Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 2. Vgl. dazu Schlink (Fn. 16), S. 73 ff. in Auseinandersetzung mit Haverkates Arbeit zu: Gewissheitsverlusten im juristischen Denken (Fn. 16). 20 Zu den Stadien der Herausbildung eines grundrechtsgeprägten Verwaltungsrechts vgl. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 16 ff., insb. S. 35 ff. 19

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Frank Rottmann 2. Die (verfassungsrechtliche) Normbereichsanalyse als zentrales Strukturmerkmal juristischer Methodik

Wegen des Näheverhältnisses von Verfassungs- und Verwaltungsrecht könnte man auf ein entsprechendes Näheverhältnis zwischen der Methodik der Konkretisierung verfassungsrechtlicher Normen und der Methodik der Konkretisierung des Verwaltungsrechts schließen. Erstaunlicherweise hat aber die Methodendiskussion der 60er und 70er-Jahre zur Auslegung des Verfassungsrechts22 sich kaum auf die Verwaltungsrechtswissenschaft ausgewirkt. Sie erwies sich gegenüber den neuen Ansätzen resistent, blieb ihrer tradierten Arbeitsweise treu und nahm – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen23 – das Gespräch mit den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nicht auf, obwohl die Methodendiskussion im Bereich des Verfassungsrechts sich zu den Nachbardisziplinen hin öffnete. Dass die Öffnung zu den Nachbarwissenschaften im Verfassungsrecht jedenfalls in Ansätzen gelang, ist in erster Linie zurückzuführen auf die methodologischen Arbeiten Friedrich Müllers. Er entwickelte eine Konzeption einer rationalen, kontrollierbaren Methodik aus der Struktur von Normen und der Wirkung von Normativität24. Weil Norm und Normtext nicht identisch sind und die Norm ebenso wie durch den Normtext auch durch den Normbereich bestimmt ist, kann sie nicht als etwas Vorgegebenes und Vorentschiedenes einfach angewandt werden. Sie muss vielmehr aus den Sprachdaten und den Realdaten erst erarbeitet werden. Dieses Verständnis der Normativität als strukturierter Vorgang erfordert eine Normbereichsanalyse, da der Normbereich ein die Normativität mit begründender Faktor ist: „Er ist nicht eine Summe von Tatsachen, sondern ein als real möglich formulierter Zusammenhang von Strukturelementen, die in der auswählenden und wertenden Perspektive des Normprogramms aus der sozialen Realität herausgehoben werden und im Regelfall, zumindest teilweise rechtlich geformt sind. Wegen der rechtlichen Formung des Normbereichs und wegen seiner Auswahl durch die Perspektive des Normprogramms geht der Normbereich über bloße Faktizität eines Ausschnitts außerrechtlicher Wirklichkeit hinaus . . . Damit erweist sich die Rechtsnorm als sachgeprägtes Ordnungsmodell; als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung der Rechtsgemeinschaft, die der Rechtssatz sprachlich abbildet und in der das Ordnende und das Zuordnende notwendig zusammen gehören und einander in der Praxis der Rechtsverwirklichung unabdingbar gegenseitig ergänzen und abstützen.“25 21 Die vielfältigen Dimensionen des Grundrechtsschutzes sind umfassend dargestellt bei Stern/Sachs, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, Allgemeine Lehren der Grundrechte, S. 477 ff., 508 ff., 558 ff. 22 Vgl. die N. in Fn. 16. 23 Vgl. dazu Bumke (Fn. 8), S. 97 f., und speziell zur Entwicklung des steuerungstheoretischen Ansatzes Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 18 ff. 24 Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an der Frage der Verfassungsinterpretation 1966; Juristische Methodik, 1. Aufl. 1971, S. 103, 106 ff.

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Da die soziale Realität einerseits nur in der vom Normprogramm bestimmten Fragestellung in den Blick gerät, andererseits als sozialwissenschaftlich strukturierbare Realität im Ausschnitt des Normprogramms erfasst wird, kommt dem Begriff des Normbereichs eine Brückenfunktion zu den Nachbarwissenschaften zu. Die Verwaltungsrechtswissenschaft der damaligen Zeit rezipierte diese neue methodische Konzeption nicht26. Erst seit Beginn der 90er-Jahre ist ein Umdenken beobachtbar. 3. Der steuerungstheoretische Ansatz als Element verfassungsrechtlicher Normkonkretisierung

Die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ anerkennt zwar, dass die Methodendiskussion im Verfassungsrecht wichtige Grundlagen geklärt hat27. Sie integriert die Ergebnisse dieser Diskussion aber nicht in ihr methodisches Konzept, sondern legt Wert darauf, ein eigenes Methodenkonzept der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft zu entwickeln, das recht eindimensional dem steuerungstheoretischen Ansatz verpflichtet ist. Damit etabliert sie sich zwar als eigenständiger Wissenschaftszweig, schottet sich aber gegenüber den Methodiken der Auslegung und Konkretisierung von Verfassungsrecht ab. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist, dass die Methoden der Jurisprudenz es nicht nur mit der Rechtsanwendung bei der Entscheidung von Einzelfällen und schon gar nicht nur mit der richterlichen Entscheidung zu tun haben. Deshalb müsse auch eine Methode der rechtsetzungsorientierten Entscheidungswissenschaft28 entwickelt werden. Sie soll die Verwaltung in komplexen Entscheidungssituationen etwa der administrativen Planung, der Normsetzung und Risikoabschätzung und der Wahrnehmung von Regulierungsaufgaben in die Lage versetzen, die Fern- und Folgewirkungen der Entscheidungen zu bedenken und ein Steuerungsprogramm für die administrative „Normenproduktion“ zu schaffen. Dabei dürfe sie einerseits den gesetzlichen Rahmen nicht überschreiten. Insofern sei sie an das übliche binäre Ordnungsschema rechtmäßig/rechtswidrig gebunden. Andererseits ziele die Rechtsgestaltung aber auf Wirksamkeit. Sie festzustellen setze eine komplexe Bewertung voraus, die in den derzeitigen Methodenlehren noch nicht hinreichend berücksichtigt sei29. 25 Diese zentrale Aussage findet sich bereits in der 1. Aufl. und ist unverändert aktuell: Vgl. Friedrich Müller (Fn. 24), S. 109; Müller/Christensen (Fn. 17), S. 223, Rn. 236. 26 Der hierfür von Bumke (Fn. 8), S. 100 f. angegebene Grund, dass der Rückgriff auf präskriptive Vorgaben zwangsläufig auf das Feld gesellschafts- und wissenschaftspolitischer Auseinandersetzung führen musste, ist zwar in politischer Hinsicht einleuchtend, überzeugt aber methodologisch nicht. 27 Schmidt-Aßmann (Fn. 1), S. 413. 28 Schmidt-Aßmann (Fn. 1), S. 390. 29 Schmidt-Aßmann (Fn. 1), S. 408.

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Der Gedankengang zeigt, dass sich die „Normenproduktion“ allein an Maßstäben der Wirksamkeit, also an Kriterien der Effektivität und Effizienz ausrichten soll. Verfassungsrecht in seiner Funktion als Grenze der Normsetzungsbefugnis und Maßstab der inhaltlichen Ausgestaltung des ,produzierten‘ Verwaltungsrechts hat in der methodischen Konzeption der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft daher keinen eigenständigen Stellenwert. Wegen des Vorrangs der Verfassung und insbesondere wegen der Bindung der Exekutive an die Grundrechte bedeutet dies gleichzeitig, dass dem steuerungstheoretischen Ansatz bei der Auslegung und Konkretisierung des Verfassungsrechts nur ein nachgeordneter Stellenwert zukommen kann. Soweit die Verwaltungsrechtswissenschaft als eigenständiger Wissenschaftszweig sich darum bemüht, mit Hilfe des steuerungstheoretischen Ansatzes Rationalitätskriterien für Verwaltungsentscheidungen zu entwickeln, die (verfassungs-)normativ nicht oder nur in geringem Umfang determiniert sind, kann die steuerungswissenschaftliche die rechtsnormative Perspektive indes sinnvoll ergänzen und ausfüllen. Außerhalb bestehender Gesetze kann sie aber keine rechtsnormative Geltung beanspruchen, sondern nur ein verwaltungspolitisches Sollen aus fachlicher Notwendigkeit aufzeigen30. Die Umsetzung der steuerungstheoretischen Perspektive in geltendes Recht steht daher immer unter der selbstverständlichen Voraussetzung, dass die rechtsstaatlichen normativen Vorgaben der Verfassung zum Schutz des Einzelnen ebenso beachtet werden wie die formalisierten demokratischen Voraussetzungen für die Inkraftsetzung des Rechts als Steuerungsmedium. 4. Zur Überschätzung des steuerungstheoretischen Ansatzes im Verwendungszusammenhang der Verwaltungsrechtswissenschaft

Die Bedeutung steuerungstheoretischer Analysen im Verwendungszusammenhang der Verwaltungsrechtswissenschaft wird gegenwärtig wohl überschätzt. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen enthebt die Qualifizierung einer Norm als Handlungs- oder Kontrollnorm nicht von der Aufgabe, genau zu bestimmen, welche der verschiedenen Handlungsalternativen der Verwaltung in einer Entscheidungssituation als rechtmäßig oder rechtswidrig qualifiziert werden müssen. Das binäre Rechtmäßigkeits-/Rechtswidrigkeitsschema ist also immer einer Entscheidung nach Optimalitätskriterien vorgeordnet. Insoweit ist auch die Verwaltung auf eine präskriptive juristische Methodik angewiesen, die im Vorgang der Normkonkretisierung zwischen normativen und nicht-normativen Konkretisierungselementen 30 So zutreffend Masing (Fn. 1), Rn. 16; zur Rolle der verfassungs- und rechtspolitischen Konkretisierungselemente bei der Verfassungskonkretisierung s. Müller/Christensen (Fn. 17), Rn. 24 f.

Die „neuen‘‘ Methoden der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft

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unterscheidet31. Diese Rechtsarbeit ist anspruchsvoll. Der steuerungstheoretische Ansatz trägt dazu allerdings nicht viel bei, weil er seine Berechtigung aus der Globalperspektive der Wirkungsdimension von Rechtsnormen und nicht aus der Binnenperspektive der Rechtsanwendung in einer konkreten Entscheidungssituation bezieht. Zum anderen darf die „Realbereichsanalyse“, die Grundlage und Voraussetzung jeder steuerungstheoretischen Betrachtung ist und der innerhalb der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ ein besonderer Stellenwert zukommt, nicht mit der Normbereichsanalyse der juristischen Methodik gleichgesetzt werden. Zwar beziehen sich beide auf die sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen, technologischen oder ökologischen Wirklichkeitsausschnitte. Die Normbereichsanalyse gehört indes zur Rechtsnormkonkretisierung. Sie weist die Sachargumente aus dem tatsächlichen Umfeld, in dem die rechtliche Vorschrift wirken soll, aus und weist ihnen zugleich, orientiert an den interpretierten Sprachdaten, nämlich dem Normprogramm, ihren Platz zu32. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich grundlegend von der steuerungstheoretischen Sichtweise, die die Regelungsdefizite im geltenden Recht – normungebunden – offen legen und angemessene rechtliche Lösungen für neuartige Sachprobleme entwickeln will. Während also die Realbereichsanalyse im Kern ein sozialwissenschaftliches Anliegen verfolgt, ist die Normbereichsanalyse ein Teilvorgang in der Rechtsnormkonkretisierung. Sie bringt keine ,neuen‘ sozialwissenschaftlichen Ergebnisse, sondern Elemente für die juristische Arbeit.“33 IV. Fazit Ob die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft das „zukunftstaugliche Recht“ erfolgreich gesucht hat, war hier nicht zu erörtern. Ob sie es finden kann, hängt maßgeblich von der Leistungsfähigkeit des ihr zu Grunde liegenden methodischen Konzepts ab. Zweifel daran sind angemeldet worden: Das Bemühen, eine „richtige“ Politik wissenschaftlich zu betreiben, müsse scheitern, solange es eine Methode der rechtspolitischen Argumentation nicht gebe34. Diese Skepsis wird hier nicht geteilt. Denn es ist schon viel gewonnen, wenn die Verwaltungsorganisation und die Handlungsformen der Verwaltung sich an den Kriterien der Effektivität und Effizienz ausrichten. Andere Bedenken dürften schwerer wiegen: Das Rechtsstaatsprinzip, das Ressortprinzip und das öffentliche Dienstrecht setzen dem Einsatz Neuer Steue-

31 32 33 34

Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 29. Vgl. dazu i. E. Müller/Christensen (Fn. 17), Rn. 481 ff. Müller/Christensen (Fn. 17), Rn. 483. Wahl (Fn. 20), S. 91.

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rungsinstrumente35 nicht nur Grenzen, sondern beeinträchtigen auch die Wirksamkeit der eingesetzten rechtlichen Mittel. Außerdem ist das Postulat einer konzernähnlichen Steuerung der Verwaltung wohl schon im Ansatz verfehlt, da Marktmechanismen in weiten Teilen der Verwaltung nicht vorhanden sind und bei gegebener (Verfassungs-)Rechtslage auch nicht vorhanden sein können. Das alles macht eine am steuerungstheoretischen Ansatz orientierte Neue Verwaltungsrechtswissenschaft zwar nicht von vornherein entbehrlich, reduziert aber ihren hohen programmatischen Anspruch auf das vom verfassungsrechtlichen Organisationsrecht vorgegebene Maß. Gleiches gilt für die Grundrechte und andere rechtsstaatliche Gewährleistungen, die in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension das Verwaltungshandeln und die „Normenproduktion“ determinieren und als subjektiv-öffentliche Rechte auch dem nach steuerungstheoretischen Maximen ausgestalteten „effektiven und effizienten“ Verwaltungsrecht Grenzen setzen36. Das bedeutet zum einen, dass effektives und effizientes Verwaltungshandeln und das sich an diesen Kriterien ausrichtende Verwaltungsrecht nicht per se grundrechtskonform sind. Zum anderen sind Verwaltungsrecht und Verwaltungshandeln grundrechtsgeprägt und manchmal gerade deshalb nicht „effektiv“ und „effizient“ im Sinne des steuerungstheoretischen Ansatzes. Dies führt zur Frage, ob sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft nicht nur auch, sondern überhaupt noch als eine Wissenschaft versteht, die höherrangiges Recht anwendet. Wird diese Frage bejaht, so sind ihre Aussagen präskriptiv. Die Kriterien der Effizienz und Effektivität müssen sich dann an verfassungsrechtlichen Maßstäben ausrichten. Wird sie indes verneint, so sollte sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft künftig „Neue Verwaltungswissenschaft“ nennen. Ihre Aussagen wären dann deskripitiv.

35 Ein Überblick über die Neuen Steuerungsinstrumente (NSI) gibt Voßkuhle (Fn. 1), Rn. 53; zu den beträchtlichen auch finanziellen Risiken, die mit dem Einsatz der NSI verbunden sind s. vor allem den differenzierten Bericht des Rechnungshofes BadenWürttemberg (Fn. 4). 36 Steinberg/Müller, NVwZ 2006, S. 113 ff., 115, 117, wollen dagegen die verfassungsrechtliche Beurteilung des Hochschulzugangs von den veränderten Rahmenbedingungen abhängig machen, die durch die neuen Steuerungsformen eingetreten sind. Diese Begründung überzeugt nicht. Zu fragen wäre vielmehr, ob die dogmatische Figur des derivativen Teilhaberechts, die der Rechtsprechung in BVerfGE 33, 303, 330 ff. zu Grunde liegt, die Forschungs- und Lehrfreiheit der Hochschullehrer und die Lernfreiheit der zugelassenen Studenten nicht übermäßig verkürzt.

Der Einfluss der Lehre von Friedrich Müller auf das türkische Verfassungsrecht* Von Fazıl Sag˘lam

I. Vorbemerkung und Einführung Die Ehre, Herrn Friedrich Müller kennengelernt zu haben, geht auf die zweite Hälfte der siebziger Jahre zurück. Für die Vorbereitung meiner Habilitationsschrift hatte ich vom DAAD ein dreimonatiges Stipendium bekommen. Diese kurze Zeit wollte ich bei ihm an der Universität Heidelberg nutzen. Ich arbeitete an dem Thema „Begrenzung und Wesensgehalt der Grundrechte nach der türkischen Verfassung von 1961“. Nach kurzem Besuch seiner Vorlesungen und Seminare, stellte ich mit Freude fest, an der richtigen Adresse zu sein. Die Zeit war aber zu kurz, Richtung und Methode sowie die Problematik meiner Arbeit ausreichend zu klären. Ich hatte zwar die betreffende Fachliteratur gesammelt und ausgewählt, konnte sie aber nicht genügend studieren. Deswegen habe ich einen kürzeren Weg gewählt und gegen Ende meines Aufenthalts in Heidelberg Herrn Prof. Müller um die Möglichkeit gebeten, mein Vorhaben in seinem Seminar vorzutragen und zur Diskussion zu stellen. Dieses Referat und die nachfolgende Diskussion waren der Wendepunkt meiner akademischen Laufbahn. Durch seine Unterstützung habe ich von der Alexander von Humboldt-Stiftung ein weiteres Stipendium von 6 Monaten bekommen, womit ich genug Zeit hatte, mich in seine Lehre zu vertiefen. Christian Rumpf, den ich aus dieser Zeit kenne, hat unsere Bekanntschaft im Max Planck Institut später wie folgt beschrieben: „. . . In den wenigen kurzen Gesprächen, die wir geführt haben, zeigte sich eine Gemeinsamkeit: die Begeisterung für die Grundrechtsdogmatik von Friedrich Müller, seine Normstrukturlehre und seine juristische Methodik.“1 Diesbezüglich kann ich ihm nur zustimmen. Diese Begeisterung war für die Vorbereitung meiner Habilitationsschrift maßgebend, die mit den darin enthaltenen rechtsdogmatischen Auseinandersetzungen trotz der nachfol-

* Der Autor bedankt sich herzlich bei Johannes Wachten für die sprachlichen Korrekturen dieses Beitrags und bei Ülkü Azrak, Öner Eyrenci und Ece Göztepe für ihre kritischen Hinweise. 1 Christian Rumpf, Recht auf Arbeit?: „Özgürlükler Düzeni Olarak Anayasa – Verfassung als Freiheitsordnung“, in: O. Can/Ü. Azrak/Y. Sabuncu/O. Depenheuer/M. Sachs (Hrsg.), Imaj Yayınevi, Ankara 2006, S. 333.

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genden neuen Verfassung von 1982 ihren Platz in der türkischen Grundrechtslehre bis heute behalten hat. Dies verdanke ich der Methodik und dem Normverständnis von Friedrich Müller. Oft habe ich den Eindruck, dass die Lehre von Friedrich Müller im Ausland besser verstanden wird als in Deutschland. Und oft habe ich mich gefragt, wie das zu erklären ist. Die Antwort kann ich nur in Bezug auf die Türkei wagen. Die Türkei befindet sich in einer raschen Entwicklung im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Diese rasche Entwicklung brachte zwar eine Reaktion gegen die liberale Verfassung von 1961 mit sich, die die Errungenschaften dieser Verfassung zu beseitigen drohte. Entgegen den Erwartungen der militärisch geformten Verfassungsgeber konnte aber die neue Verfassung von 1982 diese Entwicklung nicht aufhalten2. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die nicht so leicht abänderbar sind3 wie die der einfachen Gesetze, müssen diese Entwicklung auffangen können, um nicht wirklichkeitsfremd zu bleiben. Diese Auffangkapazität darf aber nicht gegenüber den rechtsstaatlichen Prinzipien und Anforderungen überstrapaziert werden. Müllers Normverständnis und Methodik bieten die Möglichkeit, diesen Ausgleich einzuhalten. Da die sozialen und wirtschaftlichen sowie politischen Verhältnisse in Deutschland im Vergleich zu der Türkei als gefestigt bewertet werden können, tritt die erwähnte Erfordernis dort nicht in den Vordergrund, vielmehr sind Lehre und Praxis geneigt, die Veränderungen der Wirklichkeit mit herkömmlichen Auslegungsmitteln aufzufangen. Dennoch ist aber nicht zu übersehen, dass die damit zusammenhängenden Probleme in der Lehre ständig diskutiert werden4. Ausgehend von der Entwicklung der allgemeinen Beschränkbarkeit der Grundrechte sowie der Wesensgehaltsgarantie (Art. 11 TVerf 61 und Art. 13 2 Schon vor der Einschaltung der EU, d.h. schon vor den Erfordernissen des Beitrittsprozesses in die EU hat die Türkei im Jahre 1995 angefangen, die autoritären Züge der Verfassung zu bereinigen. Dem folgte die Änderungsnovelle von 2001. 3 Hinzu kommt, dass eine Verfassungsänderung oft von einem in der Regel systemwidrig erfolgenden Kompromiss zwischen den Parteien abhängig ist, wobei die Folgen der Änderung unberücksichtigt bleiben und deswegen unvorhersehbare Lücken entstehen. Die Verfassungsreform von 2001 ist ein Beispiel dafür, auf das ich unten zurückkommen werde. 4 Als Beispiele aus letzter Zeit seien folgende Abhandlungen von Jestaedt hervorzuheben: Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, Die Ohnmacht des Verfassungsgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Nomos und Ethos, Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag von seinen Schülern; Matthias Jestaedt, Der rechtsetzende Richter – Richterrecht als Probierstein der Rechtsgewinnungstheorie –, in: O. Can/Ü. Azrak/ Y. Sabuncu/O. Depenheuer/M. Sachs (Hrsg.), „Özgürlükler Düzeni Olarak Anayasa – Verfassung als Freiheitsordnung“, Imaj Yayınevi, Ankara 2006, S. 233–286.

Einfluss der Lehre von Müller auf das türkische Verfassungsrecht

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TVerf 82) wird im folgenden Beitrag versucht, die Auswirkungen der Lehre von Friedrich Müller auf das türkische Verfassungsrecht darzustellen. II. Art. 11 der Türkischen Verfassung von 1961 1. Die Frage der allgemeinen Beschränkbarkeit der Grundrechte

a) Vorgeschichte Bis zum Anfang der siebziger Jahre war die türkische Grundrechtsdogmatik beherrscht von der Diskussion, ob die in Art. 11 aufgezählten Einschränkungsgründe für alle Grundrechte gültig seien. Nach der in der Lehre vertretenen Meinung seien diese Gründe in diesem Artikel deswegen aufgezählt, um zu betonen, dass sogar diese Gründe eine Antastung des Wesensgehalts nicht rechtfertigen. Daraus könne nicht gefolgert werden, dass aufgrund der genannten Gründen alle Grundrechte bis zum Wesensgehalt eingeschränkt werden dürfen. Die Grundrechte seien nur aufgrund der in den einzelnen Grundrechtsartikeln festgelegten Gesetzesvorbehalte beschränkbar. Auch die vorbehaltlosen Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit usw. seien mit den im Art. 11 aufgezählten Gründen nicht beschränkbar5. Diese Auffassung geht jedoch nicht von der sachlichen Eigenschaft und Verschiedenheit der von den einzelnen Grundrechten geschützten Normbereiche aus, sondern sie stützt sich auf die herkömmlichen Auslegungsmethoden. Deswegen wundert es nicht, dass das Verfassungsgericht in der Mehrzahl seiner Entscheidungen6 und ein Teil der Lehre7 sich dieser Auslegung nicht angeschlossen haben. Denn in Art. 11 TVerf. 1961 in der ursprünglichen Fassung hieß es8: „Die Grundrechte und -freiheiten dürfen allein durch Gesetz und nur nach Maßgabe des Wortlauts und Sinnes der Verfassung eingeschränkt werden. Ein Gesetz darf ein Recht oder eine Freiheit in ihrem Wesensgehalt nicht antasten, selbst nicht im Hinblick auf das öffentliche Wohl, die allgemeinen Sitten, die öf5 Mümtaz Soysal, Anayasaya Giris¸, 2. Bası, Ankara 1969, S. 243; ders. „Açıklık Kapalılık“; SBFD XXIII/1, S. 268; Bülent Tanör, Siyasi Düs¸ünce Hürriyeti ve 1961 Anayasası, I˙stanbul 1969, S. 128 ff. 6 So z. B. AYM (Verfassungsgericht) 8.7.1963, E. (Grundnummer) 1963/204, K. (Entscheidungsnummer) 1963/179 in: AYMKD (Zeitschrift der Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts) I, S. 383 ff.); AYM 5.4.1977, E. 1977/1, K. 1977/20: (AYMKD XV, S. 260); es gibt aber entgegengesetzte Entscheidungen des Verfassungsgerichtes, so z. B. in Bezug auf die Freiheit der Wissenschaft AYMKD II, S. 251. 7 Sulhi Dönmezer, „Düs¸ünce ve Kanaat Hürriyeti’nin Sınırı“: I˙ÜHFM XXIX/3, S. 776–778; I˙lhan Akın, Temel Hak ve Özgürlükler, 3. Bası, I˙stanbul 1971, S. 152. 8 Für die Verfassung von 1961 habe ich die Übersetzung von Hirsch als Basis genommen, s. Ernst E. Hirsch, Die Verfassung der türkischen Republik, Alfred Menzel Verlag, Frankfurt a. M./Berlin 1966.

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fentliche Ordnung, die soziale Gerechtigkeit, die nationale Sicherheit oder aus ähnlichen Gründen.“

Aus einem Umkehrschluss zum zweiten Absatz lässt sich auch behaupten, dass vor dem Schutzbereich des Wesensgehalts alle Grundrechte im Hinblick auf die genannten Gründe grundsätzlich beschränkt werden können. Die in den einzelnen Grundrechtsartikeln festgelegten Beschränkungsgründe müssten jedoch als lex specialis allein gelten, insbesondere diejenigen, in denen die Gründe ausdrücklich – mit der Betonung „nur . . .“ – eingeschränkt wurden9. Aber für die vorbehaltlosen Grundrechte müssten die in Art. 11 aufgezählten Gründe Geltung erhalten. Die Verfassungsänderung von 1971 wollte dieser Diskussion ein Ende setzen. Um dies zu erreichen, hat man einerseits den Grundsatz der Unantastbarkeit des Wesensgehalts von der Begrenzung der Grundrechte getrennt und in einem gesonderten Absatz (Art. 11 Abs. 2) geregelt. Andererseits hat man den Abs. 1 als eine allgemeine Bestimmung der Grundrechtsbegrenzung gefasst, in dem man sogar weitere unbestimmte Einschränkungsgründe hinzufügte. Die neue Fassung lautete: „Die Grundrechte können zum Schutze des Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk, der republikanischen Staatsform, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, des öffentlichen Wohls, der allgemeinen Sitten und der allgemeinen Gesundheit oder aus den in anderen Bestimmungen der Verfassung aufgeführten besonderen Gründen nach Maßgabe des Wortlauts und Sinnes der Verfassung allein durch Gesetz eingeschränkt werden. Das Gesetz darf den Wesensgehalt der Grundrechte und -freiheiten nicht antasten.“

Dadurch glaubte der Verfassungsgeber die oben erwähnte Diskussion beendet zu haben. Es gab tatsächlich eine gewisse Resignation in der Lehre. Aber die Diskussion wurde trotzdem weitergeführt. Der Ausgangspunkt war die Theorie des objektiven Willens des Verfassungsgebers. Man meinte, dass der subjektive Wille des Verfassungsgebers im Normtext nicht deutlich genug zum Ausdruck gekommen sei. Man versuchte es entweder mit der grammatikalischen Normtextauslegung (Soysal)10 oder mit der systematischen Auslegung, d.h. mit der Gegenüberstellung der allgemeinen Bestimmung der Grundrechtsbegrenzung (Art. 11) zu den in den einzelnen Grundrechtsartikeln vorhandenen Begrenzungsvorschriften (Tanör)11, zu begründen. Diese Versuche waren jedoch nicht so überzeugend wie vor 1971. 9 Typisches Beispiel: Reisefreiheit (Art.18 Abs. 1 TVerf 61): „Jedermann besitzt das Recht auf Reisefreiheit; diese Freiheit kann nur zum Schutz der nationalen Sicherheit und zur Verhütung von Seuchen durch Gesetz eingeschränkt werden“; ähnlich: Art. 18/2; Art. 22 Abs. 3; Art. 27 Abs. 1; Art. 28 Abs 2; Art. 36 Abs. 2; Art. 40 Abs. 2. 10 Mümtaz Soysal, Anayasanın Anlamı, 3. Baskı, Ankara 1976, S. 141. 11 Bülent Tanör, „Anayasamızın Yeni 11. Maddesi Genel Bir Sınırlama Kuralı Getirmis¸ midir?“: Onar Armag˘anı, I˙stanbul 1977, S. 872 ff.

Einfluss der Lehre von Müller auf das türkische Verfassungsrecht

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Die erwähnte Diskussion war von Anfang an geprägt von zwei entgegengesetzten Bedenken ihrer Vertreter. Die Befürworter der Möglichkeit einer allgemeinen Begrenzung aller Grundrechte befürchteten eine grenzenlose Ausübung der vorbehaltlosen Grundrechte, wobei sie eine solche Ausübung durch Art. 11 rechtlich disziplinieren wollten. Die Gegenmeinung befürchtete dagegen eine übermäßige Verkürzung der vorbehaltlosen Grundrechte – im Vergleich zu den qualifizierten Gesetzesvorbehalten – durch die Möglichkeit einer allgemeinen Begrenzung. Solange man die Grundrechte und -freiheiten als abstrakte Begriffe ohne einen bestimmten Geltungsgehalt versteht, deren Inhalt von dem Grundrechtsträger beliebig ausgefüllt werden kann, ist eine befriedigende Lösung dieser Frage nicht zu erwarten. Das war der Diskussionsstand, als ich mich mit meiner Habilitationsschrift „Begrenzung und Wesensgehalt der Grundrechte nach der türkischen Verfassung“ befasste. b) Bewertung der Frage Die Auswirkung der Lehre von Friedrich Müller auf das türkische Verfassungsrecht beginnt mit dieser Habilitationsschrift12. Die nähere Bekanntschaft mit dem Normverständnis und der Methodik von Friedrich Müller hat für die Bewertung der verfassungsrechtlichen Problematik in der Türkei einen neuen Blickwinkel geöffnet. Sein Normverständnis als ein sachgeprägtes Ordnungsmodell sowie die daraus folgende sachlich-normative Verschiedenheit der einzelnen Freiheitsgarantien und seine sich an positive Normierung der Verfassung bindende Grundrechtsdogmatik waren die Schlüsselbegriffe für die Erläuterung der Vielfalt der für jedes Grundrecht sorgfältig differenzierten und abgestuften Gesetzesvorbehalte sowie der zusätzlichen Garantien, die die Normbereiche der einzelnen Grundrechte als positivierte Sachelemente konkretisieren. Auch die allgemeine Begrenzungsnorm des Art. 11, die sich auf den ersten Blick als unpassend erwies, lässt sich von seiner Lehre erfassen. Die Anwendung von Müllers Lehre auf die türkische Verfassung hat folgende Ergebnisse gebracht13: aa) Die oben zusammengefasste Diskussion geht von einem negativen Freiheitsverständnis aus, wonach der Inhalt aller Grundrechte vom Grundrechtsträger beliebig ausgefüllt werden könne, solange sie nicht vom Gesetzgeber

12 Fazıl Sag ˘lam, Temel Hakların Sınırlanması ve Özü, A.Ü. S.B.F Yayınları:506, SBF I˙nsan Hakları Merkezi Yayınları:4, Ankara 1982. 13 Ausführlich dazu s. Fazıl Sag ˘lam, Temel Hakların Sınırlanması ve Özü, S. 91– 110.

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begrenzt worden sind. Dieses Verständnis bringt eine Nivellierung der Grundrechte mit sich, die eine parallele Vorstellung für ihre Einschränkung hervorruft. Die Vielfalt der Gesetzesvorbehalte und der grundrechtlichen Normbereiche mit ihren zusätzlichen Garantien in der türkischen Verfassung lässt sich mit einem solchen Verständnis nicht auffangen. Die Folge ist, dass die allgemeine Begrenzungsnorm des Art. 11 entweder als eine Norm verstanden wird, die neben speziellen Begrenzungsvorschriften in den einzelnen Grundrechtsartikeln kumulativ angewendet wird und/oder die Vorbehaltlosigkeit ersetzt oder als eine Norm, die lediglich die wichtigsten Begrenzungsgründe angibt, ohne eine eigenständige Wirkung zu entfalten. bb) Werden aber die Grundrechte als punktuelle Garantien verstanden, die jede für sich einen eigenständigen frei garantierten Normbereich enthalten, so sollte sich ihre Begrenzung auch nach der Eigenständigkeit ihrer Normbereiche richten. Geht man von dieser Einsicht aus, so wird das Verhältnis der allgemeinen Begrenzungsnorm zu den speziellen Begrenzungsnormen dogmatisch besser greifbar. Dafür müssten die Gesetzesvorbehalte differenziert bewertet werden: (1) Die qualifizierten Gesetzesvorbehalte müssen in ihrer Beziehung zu der allgemeinen Begrenzungsnorm als lex specialis allein gelten: – Bei bestimmten Gesetzesvorbehalten ist dieses Ergebnis eindeutig, weil sie die Begrenzungsgründe ausschließlich festlegen. Die Ausschließlichkeit lässt sich an der Betonung „nur“ oder „allein“ erkennen. Nach Art. 28 TVerf 61 kann die Versammlungsfreiheit „nur zum Schutze der öffentlichen Ordnung durch Gesetz eingeschränkt werden.“14 (Hervorhebung von mir) – Es gibt aber andere Gesetzesvorbehalte, die zwar differenziert festgelegte Begrenzungsgründe vorsehen, bei denen aber eine Betonung der Ausschließlichkeit fehlt. Auch sie sind als lex specialis zu bewerten. Denn sie wiederholen neben den speziellen Begrenzungsgründen einen oder mehrere ausgewählte Gründe aus der allgemeinen Begrenzungsnorm. Hinzu kommt, dass einige davon mit der Verfassungsänderung von 1971 neu eingeführt wurden. Wären die allgemeinen Begrenzungsgründe bei diesen kumulativ anzuwenden, so bräuchten sie bei den einzelnen Grundrechtsartikeln nicht wiederholt zu werden. Auch der gleich nach der Aufzählung der allgemeinen Begrenzungsgründe vorgesehene Eingriffsgrundsatz „nach Maßgabe des Wortlauts und Sinnes der Verfassung“ zeigt eindeutig, dass der Verfas14 Zu dieser Gruppe gehören Reise- und Niederlassungsfreiheit (Art. 18 Abs. 1 und 2 TVerf 61), Pressefreiheit (Art. 22 Abs. 3 TVerf 61), Versammlungs- und Demonstrationsrecht (Art. 28 Abs. 2 TVerf 61), Eigentumsrecht (Art. 36 Abs. 2 TVerf 61), Arbeits- und Vertragsfreiheit (Art. 40 Abs. 2 TVerf 61).

Einfluss der Lehre von Müller auf das türkische Verfassungsrecht

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sungsgeber die einzelnen Grundrechte je nach ihrem Normbereich differenziert gestalten wollte. (2) Dann fragt sich, warum die allgemeinen Begrenzungsgründe in einer allgemeinen Norm gesammelt wurden und welche Funktion diese Norm hat. Die türkische Verfassung enthält auch einfache Gesetzesvorbehalte, die den Gesetzgeber zwar zur Begrenzung des betreffenden Grundrechts ermächtigen, aber keinen Begrenzungsgrund angeben15. Die einfachen Gesetzesvorbehalte geben dem Gesetzgeber die umfangreichste Eingriffsmöglichkeit in das betreffende Grundrecht. Mit der Aufzählung der allgemeinen Gründe wollte der Verfassungsgeber dieser Eingriffsmöglichkeit eine Grenze setzen. Der Gesetzgeber darf die Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt nur aufgrund der im Art. 11 Abs 1 aufgezählten Gründe begrenzen. (3) Schließlich lässt sich fragen, wie die vorbehaltlosen Grundrechte in diesem System zu bewerten sind. Während die anderen Grundrechtsartikel die Grundrechtsbegrenzung von einem Gesetz abhängig machen, enthalten einige Grundrechte weder einen Gesetzesvorbehalt noch einen Begrenzungsgrund. Die herrschende Meinung nach der Verfassungsänderung von 1971 ging dahin, dass die allgemeinen Einschränkungsgründe für die vorbehaltlosen Grundrechte gültig sein sollten. Diese Meinung verkennt aber die Eigenständigkeit der grundrechtlichen Garantien sowie ihrer Begrenzung, die durch die Vielfalt der zusätzlichen Garantien in den einzelnen grundrechtlichen Normbereichen sowie durch den in der allgemeinen Begrenzungsnorm vorgesehenen Grundsatz „nach Maßgabe des Wortlauts und Sinnes der Verfassung“ bestätigt wird. Geht man aber von der sachlichen Eigenschaft der vorbehaltlosen Grundrechte aus, so lässt sich feststellen, dass die Vorbehaltlosigkeit aus dieser Eigenschaft begründet werden kann. Für die Grundrechte, bei denen der Normbereich und der Wesensgehalt identisch sind16, trifft das ohne weiteres zu. Bei den anderen sind ihre Normbereiche auch ohne Vorbe-

15 Zu dieser Gruppe gehören: Art. 14 Abs. 2 (Unverletzlichkeit der Person), Art. 15 Abs. 2 (Intimsphäre), Art. 16 Abs. 2 (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 17 Abs. 2 (Korrespondenzfreiheit); bei diesen Freiheiten ist der einfache Gesetzesvorbehalt mit dem Erfordernis eines verfahrensgemäß erlassenen Gerichtsbeschlusses verbunden; Art. 18 Abs. 3 (Ausreisefreiheit), Art. 21 Abs. 3 (Erziehung und Unterricht), Art. 22 Abs. 5 (Delikte, die die Beschlagnahme einer Zeitungen und Zeitschrift durch Gerichtsbeschluss rechtfertigen), Art. 44 Abs. 2 (Recht auf bezahlte Wochenenden und Feiertage und auf bezahlten Urlaub), Art. 54 Abs. 2 Satz 2 (Staatsangehörigkeit des Kindes eines ausländischen Vaters und einer türkischen Mutter), Art. 55 Abs. 1 (aktives und passives Wahlrecht der Bürger). 16 So z. B. Folterverbot (Art. 14 Abs. 3 TVerf 61), Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Gedankenfreiheit als „forum internum“ (Art. 19 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Satz 1 TVerf 61).

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halt hinreichend bestimmbar17. Die Freiheit der Meinungsäußerung kann vorbehaltlos gestaltet sein, weil sie einerseits für eine Demokratie als „schlechthin konstituierend“18 betrachtet wurde und weil andererseits ihr Gebrauch mit Sozialbezug, d.h. in Form von Versammlung, Demonstration, Verein, Partei und Presse mit qualifizierten Gesetzesvorbehalten rechtlich ausreichend diszipliniert ist. Freiheit der Kunst und Wissenschaft kann wegen ihrer „Höchstpersönlichkeit, ihrem Bezug zu induvidueller Entscheidung und Kreativität in Kauf“19 genommen sein. Wichtig ist dabei, dass die meisten dieser Grundrechte auch im GG und einige auch in der EMRK vorbehaltlos garantiert sind. Dieser Überblick zeigt schon, dass die genannten Grundrechte nicht zufällig ohne Vorbehalt belassen sind. Jedenfalls sind sie ihrer Natur nach mehr schützbedürftig als diejenigen Grundrechte, welche qualifizierte Gesetzesvorbehalte enthalten, so dass es ein Paradox darstellen würde, sie unter die Möglichkeit eines weitergehenden Eingriffs gemäß der allgemeinen Begrenzungsnorm zu stellen. Das oben angedeutete Bedenken bezüglich einer grenzenlosen Ausübung der vorbehaltlosen Grundrechte trifft nicht zu, weil alle Grundrechte einerseits durch ihre Normbereiche begrenzt sind und andererseits durch kollidierende Grundrechte gemäß dem Grundsatz der „praktischen Konkordanz“ eine verfassungsrechtliche Begrenzung erhalten. 2. Fragen der Wesensgehaltsgarantie20

Die vom GG übernommene Bestimmung über die Wesensgehaltsgarantie in der türkischen Verfassung von 1961 hat zwar kein spezifisches Problem hervorgerufen. Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht wurde sie vom türkischen Verfassungsgericht weitgehend angewendet. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit war in der Praxis des türkischen Verfassungsgerichts noch nicht verbreitet. Neben dem abgestuften System der Gesetzesvorbehalte war die Wesensgehaltsgarantie die effektivste Schutznorm für die Grundrechte. Eine Grundrechtsbegrenzung, die durch einen Gesetzesvorbehalt nicht gedeckt war, wurde schon deswegen für nichtig erklärt. Hat aber der Gesetzgeber die ihm durch die Gesetzesvorbehalte gesetzte Grenze eingehalten, kam noch die Kontrolle, ob der Wesensgehalt des betreffenden Grundrechtes angetastet wurde. Für diese Kon-

17 So z. B. Verteidigungsrecht, Petitionsrecht (Art. 62 TVerf 61), Einreisefreiheit des Staatsbürgers, Art. 18 Abs. 3 Satz 1. 18 BVerfGE 7, 198/208. 19 Friedrich Müller, Positivität der Grundrechte, 2. Auflage, Duncker & Humblot, Berlin 1990, S. 85. 20 Ausführlich dazu s. Fazıl Sag ˘lam, Temel Hakların Sınırlanması ve Özü, S. 141– 183.

Einfluss der Lehre von Müller auf das türkische Verfassungsrecht

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trolle hatte das Verfassungsgericht folgende Formel entwickelt, die es auch oft angewendet hat: „Diejenigen Vorschriften, die ein Grundrecht in verdeckter Weise unanwendbar machen oder die Grundrechtsanwendung offen verbieten oder sie ernsthaft erschweren sowie deren Zweck unerreichbar machen und deren Wirkung aufheben, tasten den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts an.“21

Diese Formel bietet zwar einen guten Ansatz. Es kommt aber auf deren Anwendung im konkreten Fall an, wobei die Wiederholung der Formel nicht viel sagt. Von einer ausreichend aufklärenden Ergänzung durch die Lehre war auch nicht die Rede. Immerhin ist die erwähnte Formel deswegen wichtig, weil sie von dem Einzelgrundrecht ausgeht und den absoluten Charakter der Wesensgehaltsgarantie betont. Auch hier hat die Anwendung der Lehre von Friedrich Müller auf die türkische Verfassung konstruktive Ergebnisse gebracht. Diese können hier nur stichwortartig skizziert werden: a) Untersuchung nach Gruppen von Grundrechten Der Wesensgehalt ist für jedes Grundrecht gesondert zu untersuchen. Für eine allgemeine Hilfsformel zur Ergänzung oder Unterstützung der vom Verfassungsgericht entwickelten Formel können die in den verschiedenen Grundrechten vorhandenen zusätzlichen Garantien herangezogen werden. Diese können in drei Gruppen eingeteilt werden: aa) Verbote der vorherigen Erlaubnis: Nach Art. 23 Abs. 1 und Art. 24 Abs. 1 dürfen die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften sowie von Büchern und Broschüren nicht von einer Erlaubnis abhängig gemacht werden. Ähnlich wurden das Versammlungs- und Demonstrationsrecht (Art. 28 Abs. 1 TVerf. 61) sowie die Gründung von Vereinen, Gewerkschaften und Parteien (Art. 29 Abs. 1, Art. 46 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 2 TVerf 61) ohne „vorgängige Erlaubnis“ gewährleistet. bb) Die Erforderlichkeit eines verfahrensgemäß erlassenen Gerichtsbeschlusses: Bei folgenden Fällen ist für die Begrenzung der Freiheit ein Gerichtsbeschluss erforderlich: Die Einschränkung der Unverletzlichkeit und Freiheit der Person (Art. 14 Abs. 2), die Durchsuchung einer Person, ihrer Privatpapiere und persönlichen Sachen (Art. 15 Abs. 2), das Betreten einer Wohnung und die Beschlagnahme der dort befindlichen Gegenstände (Art. 16 Abs. 2), die Verletzung des Korrespondenzgeheimnisses (Art. 17 Abs. 2), die Beschlagnahme von Zeitungen und Zeitschriften (Art. 22 Abs. 5), das

21 AYM, 04.01.1961, E.1962/208, K. 1963/1; AYMKD I, S. 74; ähnlich AYM 04.01.1963, E. 1963/17, K. 1963/84, 08.04.1963, E. 1963/25, K.1963/87: AYMKD I, S. 238.

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Verbot einer Zeitung und Zeitschrift (Art. 22 Abs. 6), das Verbot eines Vereins (Art. 29 Abs. 3) und einer Partei (Art. 57 Abs. 3), die Verhaftung eines Verdächtigen (Art. 30 Abs. 1 Satz 1). cc) Zusätzliche Garantien, die die Normbereiche bestimmter Grundrechte bekräftigen: – Zensurverbote: bezüglich der Pressefreiheit (Art. 22 Abs.1 Satz 2) sowie des Rechts auf die Herausgabe von Büchern und Broschüren (Art. 24 Abs.1 Satz 2), – Misshandlungs- und Folterverbot (Art. 14 Abs. 3), – Verbot der mit der Menschenwürde unvereinbaren Strafen (Art. 14 Abs. 4), – Verbot der Überschreitung der vorgesehenen Festnahmezeit (Art. 30 Abs. 4), – Verbot, die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften von der Hinterlegung einer Sicherheit abhängig zu machen (Art. 23 Abs. 2), – Verbot der Beschlagnahme einer Druckerei, auch wenn sie als Verbrechenswerkzeug gebraucht wurde (Art. 25), – Verbot der Einziehung des gesamten Vermögens als Strafe (Art. 33 Abs. 6), – Verbot der Zwangsarbeit.

b) Systematische Zusammenhänge Die oben erwähnten zusätzlichen Garantien sind positivierte Bestandteile der Wesensgehalte der betreffenden Grundrechte. Wie die Wesensgehaltsgarantie ziehen sie der Begrenzungsbefugnis des Gesetzgebers eine absolute Grenze. Außerdem können aus der Analyse der zusätzlichen Garantien Maßstäbe gewonnen werden, die neben der vom Verfassungsgericht aufgestellten Formel bei der Erforschung des Wesensgehalts der einzelnen Grundrechte behilflich sein können. Es lässt sich feststellen, dass ein großer Teil der zusätzlichen Garantien die Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips betrifft. So z. B. die Erfordernis eines verfahrensgemäß erlassenen Gerichtsbeschlusses, das Misshandlungs- und Folterverbot, das Verbot der mit der Menschenwürde unvereinbaren Strafen, das Verbot der Überschreitung der vorgesehenen Festnahmezeit, das Verbot der Einziehung des gesamten Vermögens als Strafe und das Verbot der Zwangsarbeit. Daraus kann gefolgert werden, dass die gesetzliche Begrenzung, die die Rechtsstaatlichkeit sowie die richterliche Kontrolle auf die symbolische Ebene zurückzieht, den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts antastet (rechtsstaatlicher Maßstab).

Einfluss der Lehre von Müller auf das türkische Verfassungsrecht

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Andere Garantien konkretisieren den demokratischen Charakter des Staates. Zusätzliche Garantien, die die Normbereiche der Pressefreiheit und Presseeinrichtungen sowie der freien Meinungsbildung bekräftigen, gehören zu dieser Gruppe: Zum Beispiel: Zensurverbote; Verbote für Maßnahmen, die die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften von einer vorgängigen Erlaubnis oder von der Hinterlegung einer Sicherheit abhängig machen; Verbot der Beschlagnahme einer Druckerei; die Gewährung der für eine pluralistische Demokratie wichtigen Rechte und -freiheiten ohne „vorgängige Erlaubnis“. Daraus kann gefolgert werden, dass die gesetzlichen Begrenzungen, die den Erfordernissen einer freiheitlichen Demokratie widersprechen und die freie Bildung der öffentlichen Meinung auch indirekt einer Vorkontrolle der Verwaltung unterwerfen, den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts antasten (demokratischer Maßstab). Schließlich kann die Antastung der Menschenwürde auch als Maßstab für die Antastung des Wesensgehalts herangezogen werden. Aber alle diese Maßstäbe müssen in Verbindung mit der Normbereichsanalyse des betreffenden Grundrechts als Hilfsmittel angewendet werden. 3. Unterbrechung der Entwicklung

Die oben geschilderte Entwicklung wurde jedoch durch den Militärputsch vom 12. September 1980 gewaltsam unterbrochen. Im folgenden werden die in der heute gültigen Verfassung von 1982 enthaltenen Zentralprobleme und ihre Entwicklung in ihrem Zusammenhang mit der Lehre von Friedrich Müller behandelt. III. Art. 13 der Türkischen Verfassung von 1982 1. Die Nivellierung der Grundrechtsbegrenzung durch Art. 13 TVerf 82

Art. 13 TVerf 82 Abs. 1 in der Originalfassung hat folgende Bestimmung eingeführt22: „Die Grundrechte können zum Schutze der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk (Nation), der nationalen Souveränität, der Republik, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit der Allgemeinheit, des öffentlichen Interesses des Sittengesetzes und der öffentlichen Gesundheit und aus besonderen Gründen, welche darüber hinaus in den entsprechenden Artikeln vorgesehen sind, im Einklang mit Wort und Geist der Verfassung durch Gesetz beschränkt werden.“ (Hervorhebung von mir)

22 Für die Verfassung von 1982 habe ich die Übersetzung von Christian Rumpf als Basis genommen, s. www.turkei-recht.de.

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Mit dem hervorgehobenen Satzteil „darüber hinaus“ hat schon der Verfassungsgeber die kumulative Anwendung der aufgezählten Gründe ausdrücklich vorgesehen. Aber trotzdem wollte er diesmal sichergehen. Im Art. 13 Abs. 3 heißt es nämlich: „ Die in diesem Artikel aufgezählten Einschränkungsgründe gelten für alle Grundrechte.“ Somit wurden alle Grundrechte in Bezug auf die gesetzliche Begrenzung der allgemeinen Begrenzungsnorm unterworfen. Danach machte es grundsätzlich keinen Sinn mehr, diese in den einzelnen Grundrechtsartikeln zu wiederholen. Daher kann man auch nicht mehr von einem vorbehaltlosen Grundrecht sprechen. Diese Nivellierung macht die Absicht des Verfassungsgebers von 1982 deutlich, den Staatsinteressen den Vorrang gegenüber den Grundrechten einzuräumen. Sie wurde durch die verfassungsrechtliche Verkürzung der grundrechtlichen Normbereiche (durch verschiedene Ausübungsverbote) bekräftigt. Hinzu kommt, dass die Wesensgehaltsgarantie der Verfassung von 1961 in die neue Verfassung nicht aufnommen wurde. Statt dessen wurde in Art. 13 Abs. 2 vorgesehen, dass die gesetzlichen Begrenzungen den „Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung“ nicht widersprechen dürfen. Dieser Maßstab, der von der Europäischen Menschenrechtskonvention übernommen wurde, kann aber nicht helfen, wenn der Demokratiebegriff so verstanden wird, wie die Präambel der Verfassung ihn definiert. Dort heißt es nämlich, „. . . dass keine Person oder Körperschaft, welche (die Souverenität) im Namen des Volkes auszuüben zuständig ist, von der in dieser Verfassung bestimmten freiheitlichen Demokratie und von der von ihren Merkmalen bestimmten Rechtsordnung abweichen darf.“ Damit wurde ein in sich geschlossener Demokratiebegriff als Auslegungs- und Anwendungsmaxime aufgestellt. In einer seiner früheren Entscheidungen hat das Verfassungsgericht ihn auch eindeutig so interpretiert.23 Es versteht sich, dass die oben zusammengefasste Verengung und Nivellierung der grundrechtlichen Normbereiche für die Lehre von Friedrich Müller wenig Platz belassen hat. Trotzdem ist Müllers Einfluss bei der Kritik dieser Verfassung nicht zu verkennen. Zu nennen sind dabei die Arbeiten von Sag˘lam24, Uygun25, Eyrenci26 und aus der jüngeren Generation von Oder-Kana-

23

AYM 06.10.1986, E.1985/21, K. 1986/23: AYMKD 22, S. 224. Fazıl Sag˘lam, „1982 Anayasası’nın Temel Hak ve Özgürlükler Bakımından Getirdig˘i Sorunlar“: Bahri Savcy’ya Armag˘an, Ankara 1988, S. 433–442“; ders. „General framework of the fundamental rights and freedoms under the 1982 Constitution“: Türkysh Yearbook of Human Rights, Vol. 14, 1992. 25 Oktay Uygun, 1982 Anayasası’nda Temel Hak ve Özgürlüklerin Genel Rejimi, Kazancı Yayınları, I˙stanbul 1992. In dieser Dissertation hat Uygun das System der allgemeinen Bestimmungen der Grundrechte nach der Verfassung von 1982 kritisch analysiert. Diese Arbeit kann als eine Parallele zu meiner Habilitationsschrift angesehen werden. Sie geht von demselben Grundrechtsverständnis aus und verwendet dieselben Begriffe von Müller. 24

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dog˘lu-Can27 und Göztepe28. Auch das Verfassungsgericht hat kurz nach seiner oben erwähnten Entscheidung seine Resignation überwunden und den in Europa allgemein anerkannten Demokratiebegriff akzeptiert29. Einen weiteren Schritt hat das Verfassungsgericht in Bezug auf die Wesensgehaltsgarantie gemacht. In einer Entscheidung hat das Gericht die in der Verfassung von 1982 nicht aufgenommene Wesensgehaltsgarantie in Verbindung mit dem Grundsatz der Beachtung der Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung als Schrankenschranke angewendet30. Auf die Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Aber Müllers Grundrechtsverständnis hat sich konkret auf die von verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft vorbereiteten Verfassungsentwürfe31 ausgewirkt, was mit einer radikalen Veränderung des Art. 13 TVerf 82 endete. Das war der Höhepunkt seines Einflusses, worauf ich unten eingehen möchte.

26 Öner Eyrenci, „Anayasanın Yorumlanması Yöntemlerine Genel Bir Bakıs¸“: TODAI˙E Mart 1981, S. 45–59; ders. Türk Hukukunda Sendika Özgürlüg˘ü ve Korunması, I˙stanbul 1982 (In dieser Habilitationsschrift hat Eyrenci eine Normbereichanalyse der Koalitionsfreiheit gemacht). 27 Bertil Emrah Oder, Korkut Kanadog ˘ lu und Osman Can haben Müllers „Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, R. Oldenburg Verlag München“ übersetzt, die in den nächsten Monaten auf Türkisch veröffentlicht wird. 28 Ece Göztepe war Schülerin von Bodo Pieroth. Zu nennen sind ihre zwei Abhandlungen, die den Normbereich und Geltungsgehalt des Gleichheitsgrundsatzes bezüglich der Frauen betreffen: Ece Göztepe, Anayasal Es¸itlik I˙lkesi Açısından Evlilikte Kadınların Soyadı, Ankara Üniversitesi Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi, 1999, Bd. 54, No. 2, S. 101–131; dies. Namus Cinayetlerinin Hukuki Boyutu: Yeni Türk Ceza Kanunu’nun Bir Deg˘erlendirmesi, Türkiye Barolar Birlig˘i Dergisi, 2005/59, S. 29–48. 29 In dieser Entscheidung hat das Verfassungsgericht den Begriff „klassische Demokratie“ in den Vordergrund gestellt, wobei es den Beschränkungsmaßstab der Grundrechte folgendermaßen formuliert hat: „Die Grundrechte und -freiheiten dürfen nur ausnahmsweise und in dem Maße beschränkt werden, wie es für den Bestand der demokratischen Grundordung notwendig ist.“ AYM 26.11.1986, E. 1985/8, K. 1986/27: AYMKD 22, S. 365 vd. 30 AYMKD 24, S. 108, 292, 410. 31 Yeni Bir Anayasa I˙çin, (E. Teziç’in koordinatörlüg ˘ünde, S. Batum/K. Bayraktar/ S. Güran/Fazıl Sag˘lam/B. Tanör/D. Ulucan/Y. Yayla/N. Yüzbas¸ıog˘lu) Tüsiad’ın bas¸vurusu üzerine hazırlanan gerekçeli anayasa önerisi): TBMM Bas¸kanlıg˘ına Bazı Kurum ve Kurulus¸larca Verilmis¸ ve Ayrıca TBMM’ndeki Siyasi Partilerin Anayasa Deg˘ is¸iklig˘ine I˙lis¸kin Hazırlık Çalıs¸maları ve Taslak Metinler, TBMM Bas¸kanlıg˘ı Yayını 1993; Türkiye Cumhuriyeti Anayasa Önerisi: Anayasa 2000, (Tekin Akıllıog˘lu/Ergun Özbudun/Yavuz Sabuncu/Fazıl Sag˘lam) TOBB Yayını, Ankara 2000; Türkiye Cumhuriyeti Anayasa Önerisi, Yılmaz Aliefendiog˘lu/Ülkü Azrak/Rona Aybay/I˙brahim Kabog˘lu/I˙l Han Özay/Yekta Güngör Özden/Yavuz Sabuncu/Fazıl Sag˘lam/Attila Sav/Zafer Üskül/Necmi Yüzbas¸ıog˘lu), TBB Yayını, Ankara 2001.

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Fazıl Sag˘ lam 2. Reform in Art. 13 TVerf 82 und seine Lücken

Durch die Änderungsnovelle von 2001 wurde vor allem die Möglichkeit aufgehoben, alle Grundrechte mit den allgemeinen Einschränkungsgründen zu beschränken. Diese im Art. 13 TVerf 82 aufgezählten allgemeinen Einschränkungsgründe wurden gestrichen. An ihrer Stelle kommt folgende Bestimmung: „Die Grundrechte und -freiheiten können mit der Maßgabe, dass ihr Wesenskern unberührt bleibt, nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen und nur durch das Gesetz beschränkt werden. Die Beschränkungen dürfen nicht gegen Wortlaut und Geist der Verfassung, die Notwendigkeiten einer demokratischen Gesellschaftsordnung und der laizistischen Republik sowie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.“

Der von mir hervorgehobene Satzteil „. . . nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen . . .“ stellt eine positivrechtliche Auswirkung des Grundrechtsverständnisses von Friedrich Müller dar. Außerdem enthält die neue Fassung des Art.13 alle in Frage kommenden Schutznormen für Grundrechte. Nach Art.13 Satz 2 TVerf 82 dürfen die Beschränkungen nicht gegen die Notwendigkeiten der demokratischen Gesellschaftsordnung sowie der laizistischen Staatsordnung und gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. Die Unantastbarkeit des Wesensgehalts wird schon im ersten Satz vorgesehen. Damit wurde die allgemeine Beschränkungsnorm der Grundrechte in eine Schutznorm der Grundrechte umgewandelt. Diese Umwandlung wurde aber nicht systemgerecht durchgeführt, woraus neue Interpretationsprobleme erwachsen sind. Mit dem neuen Beschränkungssystem sollte man eigentlich die Gesetzesvorbehalte je nach der Eigenschaft des betreffenden Grundrechts vom einfachen Gesetzesvorbehalt bis zu den vorbehaltlosen Grundrechten hin abstufen und die Einschränkungsgründe dementsprechend differenzieren. Die Verfassungsänderung von 2001 hat zwar in Art. 13 den Grundsatz des neuen Systems errichtet, aber die daraus resultierenden erforderlichen Regelungen nicht konsequent durchgeführt. Die aufgehobenen allgemeinen Beschränkungsgründe wurden teilweise auf bestimmte Grundrechte verteilt. Aber das waren nur diejenigen, bei denen sich die politischen Parteien im Parlament einig waren, eine Verfassungsänderung vorzunehmen. Viele andere blieben dabei unberührt. Sie enthalten also entweder nur die alten besonderen Einschränkungsgründe oder erscheinen jetzt als vorbehaltlos, obwohl für sie früher allgemeine Beschränkungsgründe gültig waren. Die daraus entstehenden neuen Interpretationsprobleme wurden schon im Jahre 2002 auf einem Symposium diskutiert, welches vom Verfassungsgericht anlässlich seines 40. Gründungsjahres veranstaltet wurde. Dabei hat sich herausgestellt, dass es nicht möglich ist, diese Probleme mit den herkömmlichen Interpretationsregeln zu lösen. Auch hier musste die Lehre von Friedrich Müller herangezogen werden.

Einfluss der Lehre von Müller auf das türkische Verfassungsrecht

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Es lässt sich zunächst fragen, ob alle in der türkischen Verfassung als vorbehaltlos erscheinende Grundrechte gleichwertig sind. Formell sind sie zwar gleichwertig. Aber wir wissen genau, dass dieser Anschein nicht aus einer bewussten Wahl des Verfassungsgebers resultiert. Die Frage kann noch konkreter gestellt werden. Kann die Vertragsfreiheit (Art. 48) mit der Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 24) sowie mit der Meinungs- und Überzeugungsfreiheit (Art. 25) bezüglich der Vorbehaltlosigkeit gleichgesetzt werden? Alle drei Artikel haben nämlich keinen Gesetzesvorbehalt. Kann eine gesetzliche Regelung, wonach ein Vertrag, der gegen die guten Sitten verstößt, nichtig ist (Art. 20 Türkisches Obligationengesetz, § 138 Abs. 1 BGB ), angesichts der neuen Regelung in Art. 13 TVerf 82 für verfassungswidrig erklärt werden, weil Art. 48 vorbehaltlos ist und keinen Beschränkungsgrund enthält? Eine ähnliche Frage ergibt sich bei den Grundrechten die von der Verfassungsänderung ebenfalls unberührt geblieben sind, aber weiterhin besondere Einschränkungsgründe vom früheren System enthalten. So zum Beispiel die Reisefreiheit in Art. 23 TVerf 82. Ein traditionell anerkannter Beschränkungsgrund für die Reisefreiheit ist die Bekämpfung von Seuchengefahr, wie wir ihn bei Art. 11 GG und Art. 18 TVerf 61 kennen. Dieser Beschränkungsgrund ist aber in Art. 23 nicht vorgesehen, weil dieser früher vom allgemeinen Einschränkungsgrund „Schutz der öffentlichen Gesundheit“ umfasst wurde. Kann man nun behaupten, dass die Verhängung einer Quarantäne verfassungswidrig ist? Diese und ähnliche Fragen wurden von Gözler bei dem erwähnten Symposium bejaht32. Vielleicht lassen sich seine Beispiele gegen die Verfassungsänderung als polemisch aufgeworfene Fragen bewerten. Immerhin sind sie das Ergebnis einer positivistischen Auslegung. In meinem eigenen Referat hatte ich vor, für diese Probleme im Anschluss an die Lehre von Friedrich Müller einige Lösungen vorzuschlagen. Aber bevor ich zu Wort kam, hat ein Berichterstatter des Verfassungsgerichts im Anschluss an meine Habilitationsschrift fast alles vorgetragen33, was ich zu sagen gehabt hätte. Das war eine angenehme Überraschung für mich und zugleich ein lebendiges Beispiel für die Fernwirkung einer Lehre.

32 Kemal Gözler, 3 Ekim 2001 Tarihli Anayasa Deg ˘ is¸iklig˘i: Bir Abesle I˙s¸tigal Örneg˘ i: Anayasa Yargısı 19 Ankara 2002, S. 326–354. 33 Mehmet Sag ˘lam, „Ekim 2001 Tarihinde Yapılan Anayasa Deg˘ is¸iklikleri Sonrasında Düzenlendikleri Maddede Hiçbir Sınırlama Nedenine Yer Verilmemis¸ Olan Temel Hak ve Özgürlüklerin Sınırı Sorunu“: Anayasa Yargısı 19 Ankara 2002, S. 233– 266.

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In Bezug auf die oben genannten Fragen lässt sich zusammenfassend Folgendes sagen34: Bei den als vorbehaltlos erscheinenden Grundrechten muss man differenzieren. Die Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit und Gedankenfreiheit (als forum internum) sind in der EMRK und im deutschen GG auch vorbehaltlos, weil sie von ihrer Beschaffenheit her für eine Begrenzung nicht geeignet sind. Bei solchen Grundrechten sind die Normbereiche fast identisch mit ihrem Wesensgehalt. Eine Verfassungsänderung, die den Zweck verfolgt, das neue Begrenzungssystem konsequent durchzuführen, hätte wahrscheinlich diese Freiheiten auch vorbehaltlos gelassen. Ähnliches gilt für die Freiheit der Kunst und Wissenschaft sowie für das Recht, sich vor den Gerichten zu verteidigen. Dagegen hat die Vertragsfreiheit ihre traditionellen Einschränkungsgründe wie das Sittengesetz, die öffentliche Ordnung und den Schutz des Schwächeren. Es handelt sich hier nicht um eine bewusste Wahl der Vorbehaltlosigkeit durch den Verfassungsgeber, sondern um einen Systemmangel, der durch Auslegung und Normkonkretisierung zu überwinden ist. Es scheint mir so, dass es bei der Frage der Vertragsfreiheit doch möglich wäre, die traditionell anerkannten Einschränkungsgründe als von der Verfassung „notwendig vorausgesetztes Unterverfassungsrecht“35 zu bewerten und sie in Verbindung mit den Schutzmaßstäben des Art. 13 anzuwenden. Bei den im allgemeinen als echt vorbehaltlos anerkannten Grundrechten müsste sich dagegen die Einschränkung aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu zählen nach den Entscheidungen des BVerfG Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang.36 Hinzukommt die sachliche Begrenztheit der Grundrechtsnorm bezüglich ihres Schutz- und Geltungsgehaltes. Bei der Frage der Reisefreiheit könnte man auch die Grundrechte Dritter sowie die sachliche Begrenztheit der Grundrechtsnorm heranziehen. IV. Schlussbemerkung Die oben geschilderte Entwicklung hat gezeigt, wie die Zentralfragen der türkischen Verfassung von 1961 mit der Lehre von Friedrich Müller im Sinne eines freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats überwunden werden konnten, sodass die Türkei die in den Kopenhagen-Kriterien enthaltenen Voraussetzungen schon damals voll erfüllt hätte. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die türkische Verfassung von 1961 dafür einen sehr fruchtbaren Nährboden darstellte. Diese 34 Dazu ausführlich: Fazıl Sag ˘lam, 2001 Yılı Anayasa Deg˘ is¸iklig˘inin Yaratabileceg˘i Bazı Sorunlar ve Bunların Çözüm Olanakları: Anayasa Yargısı 19 Ankara 2002, S. 289–310. 35 Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Auflage, Duncker & Humblot, Berlin 1990, S. 85. 36 BVerfG, 2 BvR 1436/02 vom 03.06.2003, Abs. 38.

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Entwicklung wurde aber durch die Verfassung von 1982 unterbrochen. Die in dieser Verfassung vorgesehene grobe Verengung und Nivellierung der grundrechtlichen Normbereiche hat zwar für die Lehre von Friedrich Müller wenig Platz belassen. Aber sein Grundrechtsverständnis hat bei der Kritik dieser Verfassung eine bestimmende Rolle gespielt und die Verfassungsreform von 2001 beeinflusst. Dass danach die Grundrechte und -freiheiten nur aus den in den betreffenden Bestimmungen aufgeführten Gründen beschränkt werden können, ist als eine positivrechtliche Anerkennung seines Grundrechtsverständnisses anzusehen.

Über Begründungen entscheiden Von Thomas-Michael Seibert Freundesgaben sind in postmodernen Zeiten nicht ohne Dekonstruktion zu haben. Denn was ein Freund wäre, weiß erst, wer einen Feind hat; aber hat man Feinde? Was geben bedeutet, erfährt nur, wer keine Gegengabe erwartet – und wer tut das nicht?1 Dass Entscheidungen zu begründen sind und die Begründung der Entscheidung ein Problem darstellt, hat der Freund entfaltet. Aber dass umgekehrt noch über Begründungen zu entscheiden sein kann und man sich fragen darf, ob man nun diese oder jene wählt – oder schweigt, die Begründung also nicht den rechtsstaatlichen Anker in der Welt stürmischen Streits wirft – diese Frage stellt sich als Freundesfrage in einer juristischen Methodik, wie sie seit der Einsicht in Strukturierungsleistungen entwickelt ist. Ich widme den folgenden Beitrag dem umkehrbaren Verhältnis von Entscheidung und Begründung und behaupte, dass „Virtualität im Rahmen der strukturierenden Rechtslehre“2 auch die wirkliche Entscheidung erfasst. Es kann niemals wirklich und verantwortlich entschieden werden. Dekonstruktiv sieht das Verhältnis so aus: Man könnte sich für eine Begründung nur verantwortlich entscheiden, wenn man von etwas wirklich überzeugt wäre – was wiederum möglicherweise nicht begründbar ist. Am Ende steht – wenn nicht der Abgrund (V.) – dann doch, was abseits der Gründe liegt. Wir bewegen uns also von Entscheidungen (I.) über die Begründbarkeit einer Entscheidung (II.) zu Enthymemen (III.), die für richterliche Überzeugungen stehen (IV.), fragen aber zunächst nach I. Entscheidungen Begründung und Entscheidung sind die grundlegenden juristischen Verfahrensbestandteile.3 Entscheidungen gehören zu den Routinefunktionen eines geregelten Verfahrensbetriebs. Das Verfahren ist in seiner Funktionalität ausdrücklich darauf angelegt, am Ende eine Entscheidung ergehen zu lassen.4 Eine

1

Derrida, Politik der Freundschaft, S. 158 ff.; ders., Falschgeld, S. 143 ff. So ein neuerer Titel des Freundes (Müller, Virtualität). 3 Was man mit Ballwegs kybernetischem Modell des Rechtssystems verstehen kann (Ballweg, Rechtswissenschaft, S. 109, 113). 4 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 107 ff. und ders., Rechtssoziologie, S. 142 f. 2

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Hauptverhandlung findet statt, und anschließend ergeht das Urteil, das in Gegenwart des Angeklagten begründet wird. Er muss sich sogar – ob er will oder nicht – die Begründung anhören. Im Strafverfahren wird insofern der engste Zusammenhang zwischen Begründung und Entscheidung hergestellt. Der ordentliche Rechtsstreit in Zivilsachen stellt grundsätzlich auch die mündliche Verhandlung in den Mittelpunkt, allerdings verlagert sich die Aktivität der Beteiligten hier in Wahrheit auf die vorbereitenden Schriftsätze, auf die in der Verhandlung nur noch Bezug genommen wird. Sie fällt infolgedessen entsprechend kurz aus, und das Urteil wird regelmäßig in einem gesonderten, äußerlich nicht mehr inszenierten sog. „Verkündungstermin“ vorgestellt, aber nicht mehr mündlich begründet. Wer es nicht selbst liest, erfährt die Gründe nur vom Hörensagen oder gar nicht. In jedem Fall aber schließt das Urteil zumindest die Instanz ab. Nur für das Urteil und urteilsähnliche Beschlüsse als Erledigungsformen ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen sie Rechtsmittel eröffnen. Das ist die Ausgangslage, und sie scheint eindeutig den Vorrang der Abschlussentscheidung festzulegen. Auf diese Ausgangslage können die Beteiligten aber vielfältig einwirken und eine Abschlussentscheidung verzögern, hinausschieben und möglicherweise insgesamt verhindern.5 Das gesamte Verfahrensrecht darf unter dem Gesichtspunkt, dass es einseitige Parteirechte begründet, als Reservoir für Verzögerungswirkungen verstanden werden.6 Darüber hinaus soll man sich neuerdings in einem Verfahren jenseits der Entscheidungsorientierung zunächst und zuerst noch entscheiden, ob eine Entscheidung wirklich notwendig und sinnvoll ist. Seit der Zivilprozessreform des Jahres 2002 soll das Gericht nicht nur in jeder Lage des Rechtsstreits auf dessen gütliche Beilegung bedacht sein (§ 278 Abs. 1 ZPO), sondern der mündlichen Verhandlung auch noch eine sog. Güteverhandlung vorausgehen lassen (§ 278 Abs. 2 ZPO). Nach den Vorgaben des Gesetzes werden in der Güteverhandlung Fragen erörtert und gestellt, die Parteien können angehört werden, sie sollen sogar persönlich erscheinen, nur entschieden wird in einer solchen Verhandlung nicht.7 Sie endet erst, wenn das Gericht das Ende feststellt und die mündliche Verhandlung beginnt, die sich unmittelbar anschließen soll (§ 279 Abs. 1 ZPO). Unabhängig davon wie die Gerichte das Nacheinander von Gütetermin und streitiger Verhandlung wirklich gestalten, wird man zu fragen gedrängt, was den Eifer für die gütliche Beilegung rechtfertigt. Nicht selten reagieren Anwälte, die sich an die neuen Gesetzesvorgaben noch nicht restlos gewöhnt haben, mit dem Hinweis auf Selbstverständliches: Wenn man sich hätte einigen können, wäre Klage nicht erhoben worden. Abgesehen 5

Vgl. Seibert, Der aktuelle Stil der juristischen différance, S. 126 ff. Mit dem Effekt, dass neben der Zuteilung des Prädikats „Recht“ oder „NichtRecht/Unrecht“ ein „dritter Wert“ etabliert wird: die Ungewissheit der Wertzuteilung (Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 209 f.). 7 Zur theoretischen Fundierung dieser Praxis vgl. Goebel, Rechtsgespräch, S. 186 ff. 6

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davon, dass es Fälle aus dem persönlichen Nahbereich gibt, in denen die Parteien vor Gericht erstmals persönlich miteinander und übereinander sprechen (müssen), scheint die Entscheidungsorientierung des Verfahrens nicht von Anfang an herrschen zu sollen. Man kann das ökonomisch begründen und darauf verweisen, dass Begründungen mehr Zeit und Aufwand fordern als Vergleiche zwischen den Parteien.8 Das wird umso zweifelhafter, je länger die Güteverhandlungen dauern, und sie dauern manchmal sehr lange. Man kann die Beilegung durch Vergleich auch unter dem Gesichtspunkt empfehlen, dass damit doch Rechtsfrieden wie Konsens am besten gedient seien, aber dieses Argument wird umso zweifelhafter, je offensichtlicher die Beteiligten den Vergleich als aufgezwungen empfinden und ihn nur im Kosteninteresse am Ende doch abschließen.9 Nur selten wird erörtert, dass Entscheidungen vermieden werden müssen, weil sie nicht vorhersehbar sind, denn man verlangt ja gerade vom erkennenden Gericht, dass es seine eigene Entscheidung vorhersieht und die Verfahrensteilnehmer darauf einstellt. Das beseitigt nicht die Überraschungen, die jede Entscheidung enthält.10 Der Begründungsmangel wird dann von den Beteiligten darin gesehen, dass die Entscheidung nicht sagt, was für mindestens einen von ihnen wichtig gewesen wäre, oder etwas sagt, wozu einer von ihnen sich nicht habe ausreichend äußern können, weil er es nicht gekannt habe. Insofern eröffnet jede Entscheidung schon von ihrer Wirkung her einen Abgrund neben dem Grund und weist auf das hin, was mindestens für einen der Beteiligten abseits der Gründe noch maßgeblich gewesen ist. Jede Begründung einer Entscheidung erscheint insofern abgründig. Sie kann fehlerhaft sein, aber die Kriterien für Richtigkeit und Fehlerhaftigkeit sind nicht von Anfang an offenbar. Kriterien liegen im Abgrund der veröffentlichten Gründe.11 Zum anderen öffnet sich – wenn man den Weg zur Entscheidung im Rechtsmittel weitergeht – ein immer größer werdender Abgrund: Wer letztinstanzlich entscheidet, weiß am Ende nicht, nach welchen Maßstäben er sich zwischen den Möglichkeiten entscheiden soll. Denn wüsste er es, wäre nichts mehr zu entscheiden, sondern nur das zu tun, was ein Programm gebietet.12 Da die Parteien aber über den Inhalt des Normprogramms streiten, muss dieser in der Entscheidung neu formuliert werden. In der juristischen Methodik von Friedrich Müller wird immer wieder betont: Die Entscheidungsnorm wird erst in und mit der Entscheidung vom Rechtsarbeiter formuliert.13 Gebunden ist der Richter zunächst nur an den vom 8

Posner, „What Do Judges Maximize?“ in: ders., Overcoming Law, S. 135 ff. Vgl. Egli, Vergleichsdruck, S. 122 ff. 10 Seibert, Gerichtsrede, S. 113 (Beispiel: „Hinweis“). 11 Oder im „Erkennntnisschema der Beobachtung erster Ordnung“, wie Luhmann das ausdrückt (Recht der Gesellschaft, S. 357). 12 Ebd., S. 307 ff. oder ders., Organisation und Entscheidung, S. 125. 13 Müller, Richterrecht, S. 46 ff.; ders., Virtualität, S. 364 f. 9

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Gesetzgeber geschaffenen Normtext als Zeichenkette, dessen für den Fall entscheidende Bedeutung er als „Normativität“ erst herstellen muss.14 Dieser Prozess weist in zwei Richtungen – zurück zur Zeichenkette, die „schon da“ ist, aber auch hin zur Entscheidungsbedeutung, die noch nicht da und erst herzustellen ist. Wer das in seinen Überlegungen strategisch berücksichtigt, möchte eine Entscheidung vielleicht insgesamt verhindern, indem er sich entscheidet, einer Lösung zuzustimmen, die als Verfahrensende gelten kann: einem Vergleich. Der Vergleich ersetzt die Entscheidung, er verschiebt sie in den Bereich derjenigen, die gekommen waren, sie von einem Dritten zu erfordern.15 II. Die Begründbarkeit einer Entscheidung Entscheidungen können verschiedene Begründungen haben. Diese Begründungen können so unterschiedlich sein, dass man zwischen ihnen Widersprüche feststellen mag und die Begründungen zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Tatsächlich und im Urteilstext hat jede Entscheidung aber immer nur eine Begründung. Das Gericht muss sich also zwischen möglichen Begründungen entscheiden.16 Gleichzeitig muss es sich auch noch entscheiden, wie es entscheidet, und wir wissen nicht, ob entschieden wird, was sich begründen lässt, ob also die Entscheidung der jeweils einfacheren Begründung zuneigt und Einfachheit in der Begründung die Entscheidung überwiegend, teilweise, ein bisschen oder fast gar nicht beeinflusst. Die Frage taucht ohne einen Blick auf die Stukturierung im Prozess meist gar nicht auf. Manchmal scheint es so, als ergebe sich die Entscheidung aus der Richtigkeit der Begründung. Denn in der Konzeption der juristischen Methodik interessiert ausdrücklich nur der vertextete „Wille“, während Ziele und Zwecke einer Entscheidung allenfalls noch als „mitgebrachte Verwendungsweise gesetzlicher Begriffe“ erheblich sind. Absichten – meinen auch Müller und Christensen – könnten gegen das durch Konkretisierung gewonnene Ergebnis nicht mehr ausgespielt werden.17 Der zentrale Begriff der Konkretisierung erfasst weder einfach den herkömmlichen Syllogismus im Sinne fallbezogener „Subsumtion“ noch den „Nachvollzug“ im Gesetzestext angeblich enthaltener Interessenabwägungen und Wertungen.18 Ebenso wenig soll damit die Vorstellung verbunden werden, eine schon abstrakt vorhandene Norm werden in ihrem Umfang verengt und damit konkreter gemacht, damit man das Ergebnis erkenne. Für Müller/Christen14 Die Grundthese seit der Einführung des Begriffs der „Rechtsarbeit“ bei Müller, Recht – Sprache – Gewalt, S. 16 f.; vgl. zuletzt Müller/Christensen, Methodik I, Rdnr. 346. 15 Vgl. Holtwick-Mainzer, Der übermächtige Dritte, S. 140 f. 16 Denn der Normtext ist virtuell, nicht aktual (Müller, Virtualität, S. 361 f.). 17 Müller/Christensen, Methodik I, Rdnr. 264. 18 Ebd., Rdnr. 467.

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sen steht im Rahmen der Falllösung die Normkonstruktion im Vordergrund. Im Vorgang der Konkretisierung werde die Norm erst hergestellt, und der vorfindliche Text fungiere dabei als ein „Eingangsdatum“ wie auch die Fallerzählung und die Sachgesichtspunkte des jeweiligen Fallbereichs zu Eingangsdaten der Konkretisierung würden, damit die abstrakt-generelle Rechtsnorm erarbeitet werden kann. Den Leitsatz identifizieren Müller/Christensen ausdrücklich mit diesem Begriff der Rechtsnorm. Erst im letzten Schritt der Rechtsarbeit individualisiert der Jurist die Rechtsnorm dann zur Entscheidungsnorm, die dem Urteilstenor oder allgemeiner der Entscheidungsformel entsprechen soll. Dieser Schritt vollzieht sich „als methodisch simple Schlussfolgerung“.19 Die Formaltechnik der Falllösung – das Fortschreiten „von Stufe zu Stufe“20 – soll den äußeren Rahmen für die Konkretisierungsarbeit darstellen. Die Entscheidung verschwindet dabei beinahe hinter ihrer Begründbarkeit. Man darf vielleicht annehmen, dass eben das beabsichtigt ist, denn der Vorwurf des Dezisionismus enthält heutzutage einen Topos,21 den man selbst nicht weiter zu begründen braucht und der jeden anderen Einwand aus dem Felde schlägt. Schlimm genug, wenn die Dezision vor oder jenseits der erkennbaren Begründung existiert – soll man sich denken. Die praktische Begründung verlangt aber in jedem Fall Entscheidungen in zwei Bereichen, die ich nun erörtern möchte. Zunächst ist es eigentlich immer so, dass nicht alles, was man theoretisch und dogmatisch begründen könnte, wirklich wiedergegeben wird. Es gibt keine praktische Begründung, die in diesem Sinne vollständig wäre. Jede wirkliche Begründung enthält – versteht man sie in im Kontext der entfalteten Argumente: III. Enthymeme Enthymeme werden in der Rhetorik als verkürzte Syllogismen verstanden. Etwas, das notwendig zum Bestandteil des Schlusses gehört, wird nicht ausgesprochen. Oft ist das die Prämisse, so dass in Urteilsbegründungen die normativen Obersätze fast nie in der notwendigen Klarheit formuliert werden.22 Der Leser muss sie erst noch selbst bilden. Nicht selten bleiben aber auch die tatsächlichen Grundlagen oder das Schlussverfahren selbst unausgesprochen, so dass man von Enthymemen erster, zweiter oder dritter Ordnung spricht, je nachdem ob Norm, Schlussverfahren oder Tatsache ausgelassen werden.23 Diese zunächst ganz formale und kommunikativ unbedeutsam wirkende Verknappung 19 20 21 22 23

Ebd., Rdnr. 468. Ebd., Rdnr. 461. Dazu Gast, Juristische Rhetorik, Rdnr. 166. Sobota, Sachlichkeit, S. 47 ff. Wörner, Enthymeme, S. 75.

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hat in der Rhetorik des Aristoteles dennoch zu einem wesentlichen Effekt beigetragen. Aristoteles behauptet nämlich, dass Enthymeme dialektische und rhetorische Schlüsse aus dem Wahrscheinlichen generieren.24 Man lässt also etwa den normativen Obersatz nicht etwa nur aus ökonomischen Gründen der Darstellung weg, damit diese kürzer ausfällt und den Hörer oder Leser nicht langweilt. Wenn man den entfalteten Obersatz weglässt und es dem Leser überlässt, ihn für sich in plausibler Weise zu ergänzen, darf man hoffen, der Leser und Empfänger der Mitteilung werde schon etwas Sinnvolles finden. Er generiert diesen Sinn und lässt dem Gericht überdies noch die Freiheit der Ergänzung und Korrektur unter der Perspektive anderer Situationen und Fälle.25 Es gehört zu den Tugenden juristischer Begründungen, obiter dicta zu vermeiden und damit nicht etwa Fälle zu regeln, die angesichts des zur Entscheidung Stehenden nicht notwendig formuliert werden müssen. Man vermeidet das, indem man die normative Regel offen lässt. Der wohlwollende Empfänger wird sie ergänzen. Ist aber umgekehrt der normative Obersatz klar und erscheint es nur zweifelhaft, welche Tatsachen im einzelnen vorliegen oder nicht, kann auch mit der Tatsachendarstellung enthymematisch verfahren werden. Ausdrücklich geschieht das, wenn die Richtigkeit von Behauptungen „dahingestellt bleibt“. Dahingestellte Tatsachen werden als nicht notwendig und damit kontingent für die Norm erklärt. Implizit geschieht das in der Begründung, wenn allgemeines Wissen an Stelle förmlicher Beweiserhebung mobilisiert wird. Dann wird auch offenbar, warum sich das Gericht für diesen Begründungsweg entscheiden muss. Es kann nämlich von der förmlichen Beweiserhebung absehen. Schließlich bleibt über den Inhalt einer Begründung zu entscheiden, wenn mehrere Begründungen zur Verfügung stehen. Das erscheint nur dem Logiker merkwürdig. In der praktischen Rechtsarbeit entsteht fast regelmäßig die Situation, dass entweder mehrere tatsächliche Varianten für eine Begründung angenommen werden können, von denen die eine möglicherweise umfangreichere Feststellungen erfordert als eine andere.26 Auf der anderen Seite gehört es zum Kern der juristischen Arbeit, über den Inhalt von Normsätzen zu streiten und den einen oder den anderen für richtig zu halten. In solchen Situationen gibt es diskursive wahre, aber auch strategisch zügige Verfahren für die Auswahl. Zu den einst von Rüdiger Lautmann gerügten Auswahlstrategien gehört etwa die Bindung an Ergebnisse, deren normative Voraussetzungen nicht mehr diskutiert werden. Die Frageformel des Praktikers dafür lautet: „Wie kommen wir um dieses Argument herum?“, woraufhin man dann eine „Konstruktion nach formellem Programm“ sucht.27 Die wahre Auswahl hätte sich an die gesetzlichen Vorgaben zu halten, die nicht das Ergebnis als vorrangig ansehen, sondern: 24 25 26

Arist, Rhetorik. 1358a 20 f. Vgl. Sobota, Don’t Mention the Norm; Seibert, Gerichtsrede, S. 78 ff. Seibert, Gerichtsrede, S. 131 mit dem Fallbeispiel „Hinweis“.

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IV. Die richterliche Überzeugung Denn es gibt eine gesetzliche anerkannte Grundlage für Begründungen in Zivil- wie Strafprozessordnung. Sowohl in § 286 ZPO wie auch in § 261 StPO soll über die Beweiswürdigung nach freier Überzeugung entschieden werden, und niemand zweifelt daran, dass die richterliche Überzeugung in allen Verfahren Grundlage einer modernen Gerichtsentscheidung sein muss. Das Stichwort taucht in den veröffentlichten Methodenlehren nicht auf, so dass man denken könnte, Überzeugung sei etwas so Freies, dass es einer Methodenreflexion nicht zugänglich sei. Jeder Jurist weiß aber, dass das Gegenteil der Fall ist. Realistisch müsste man angesichts der heutigen Regelungsdichte in Normtexten und der Erledigungsschwierigkeiten in Rechtsverfahren umgekehrt fragen, ob man in einem bürokratisch geregelten Prozess noch auf so etwas Ungeregeltes wie eine persönliche Überzeugung zurückgreifen soll oder ob nicht die subjektive Seite im Hinblick auf die objektiven Regelmäßigkeiten etwa der Beweiswürdigung oder des Normverständnisses einfach ausblenden kann. Offenbar kann man das doch nicht – so lautet jedenfalls die gängige Antwort, in der aber üblicherweise nicht näher gefragt wird, welche Rolle die richterliche Überzeugung im Verhältnis zur dargestellten Begründung denn haben könne. Überzeugung und Begründung begegnen sich zunächst gewissermaßen partnerschaftlich im selben Stockwerk des Rechtsgebäudes. Dort beauftragt der überzeugte Entscheider den dienstfertigen Begründer abwärts in die Verliese der langen, verwinkelten und unübersichtlichen Sätze oder auch aufwärts zu den schlanken Prinzipien der göttlichen Gerechtigkeit zu eilen. Das Verhältnis zwischen Überzeugung und Begründung wird damit entfaltet in der Person des Rechtsarbeiters einerseits und seiner Arbeit im Verfahren andererseits. Einerseits kommt alles auf den Richter als Entscheider an, aber andererseits will man auf Personen zweifelhafter Gesinnung und fragwürdigen Arbeitseifers auch nicht unbedingt bauen müssen. Deshalb wird der Entscheider so in ein Geflecht von Verfahrensanforderungen eingespannt, dass es am Ende auf ihn als Person doch scheinbar nicht mehr ankommt. Man kann historisch und grundsätzlich gegliederte Bewegungen weg von der Person hin zum Verfahren und dann wieder zurück zur Person beobachten. Dabei erscheint es auf jeder Station der Begründungskontrolle so, als sei das Problem der Begründungsrichtigkeit dort grundlegend gelöst – gäbe es nicht noch die jeweils andere Perspektive. Mit Matthias Kronenberger kann man ein semantisches von einem pragmatischen Modell der Überzeugungsbildung unterscheiden und sollte wissen, dass beide Modelle „unterbrochen“ sind, selbst abbrechen, Abbrüche hervorlocken – und im Abgrund enden.28 27

Beispiel (75) bei Lautmann, Justiz, S. 85. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die bisher noch unveröffentlichte Dissertation von Matthias Kronenberger: Der Parasit der Überzeugungsbil28

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Im semantischen Modell stellt die Überzeugung konkret bestimmte Wahrheit für den Entscheider ebenso bereit wie für die Abnehmer oder Adressaten der Entscheidung. Die Entscheidung steht in diesem Verständnis dafür ein, dass mit der Norm auf der Grundlage eines Sachverhalts das wahre Ergebnis gefunden worden ist. Die Wahrheit des Entschiedenen markiert beispielhaft den Unterschied zu beliebigen sonstigen Entscheidungen, die man durch Los, durch Abstimmung oder durch Zufall finden kann. Damit ist der semantische Gehalt abstrakt bezeichnet. Im semantischen Modell beginnt der Weg der Überzeugungsbildung mit einem Abstieg zu den mühseligen und vielfältigen Einzelheiten der untergründigen Tatsachen. Diesen Weg geht selbst und allein, wer entscheiden will. Wer sich von etwas überzeugen soll, muss wissen, worüber er entscheidet. Das ist so selbstverständlich, wie die Quelle dieser Überzeugung selbstverständlich wirkt, die seit den Tagen der Inquisition jede weitere Begründung ersetzt hat: das Geständnis. Mit dem Geständnis oder mit dem unstreitigen Teil der prozessualen Sachverhaltsfeststellung hält die Wahrheit ihren Einzug.29 Dem Augen- und Ohrenschein nach gibt das Geständnis des Angeklagten oder wenigstens das stillschweigende „Unstreitig-werden-lassen“ einer verklagten Partei die beste Begründung dafür, weshalb von einer Sachlage ausgegangen werden kann. Wer zustimmt, darf an den Inhalt seiner Zustimmung gebunden werden, er bindet sich gewissermaßen selbst daran. Dementsprechend stand und steht das Geständnis am Anfang und am Ende jeder Bemühung um Sachverhaltsaufklärung. Durchgesetzt hat sich nach 1848 aber das Prinzip der freien Beweiswürdigung, die den Richter zwar nicht mehr an positive Regeln gebunden, dafür aber zur Begründung verpflichtet erklärt.30 Man kann von einem Geständnis abweichen, man kann das Bestreiten des Beklagten wegen Widersprüchlichkeiten in der eigenen Darstellung oder Unverträglichkeiten mit bereits erwiesenen Umständen für unerheblich erklären. Im selben Moment, in dem der zustimmende oder ablehnende Satz gegen seinen Sinn gewendet wird, stellt sich aber die Frage nach dem Grund. Darf der Richter das?31 Wann darf er es und wie kann der Abgrund richterlicher Freiheit für das Verfahren genutzt, aber gleichzeitig so kontrolliert werden, dass man das Abgründige daran vergessen darf?32 Denn die Überzeugung ist offenbar dann nicht mehr maßgeblich, wenn sie übergeht und verdreht, was andere besser und sicher wissen und was der scheinbar Überzeugte am Ende selbst schon einmal wusste oder jedenfalls hätte wissen müssen. Allgemeines Wissen kann an jeder Stelle gegen Überzeugungen dung, die derzeit dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt a. M. vorliegt. 29 Kronenberger im Abschnitt B. „Die unterbrochene Semantik der Überzeugung“; vgl. dazu auch Seibert, Gerichtsrede, S. 145, 163. 30 Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, S. 251 ff. 31 Revisionsrechtlich dazu Sarstedt/Hamm, Revision, Rdnr. 890 ff. 32 Seibert, Gerichtsrede, S. 78 f.

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ausgespielt werden, und – wer an Wahrheit glaubt – darf behaupten, Überzeugungen dürften sich nicht gegen Wissenschaft richten. Denn dann hat der Entscheider vergessen, was andere schon wussten und woran er sich selbst erinnern könnte, so dass seine Überzeugung das bessere Wissen bloß zu verdecken scheint. Das Zeichen der Überzeugung findet Kronenberger in Hegels Metapher der Pyramide, die eine endliche subjektive Wahrheit begräbt und mit einem monomentalen Gebäude ummantelt.33 Das Urteilszeichen wird dabei zur äußerlich beeindruckenden Pyramide, in deren Innern die subjektive Wahrheit wie in einem Schacht aufbewahrt wird – jenem Schacht, den Derrida als Ausgang für die Bewegung der différence ausgemacht hat.34 Im Inneren des Begründungsgebäudes ist die Überzeugung aber gleichzeitig auch begraben. Sie kann vergessen werden, weil wir uns an das Gebäude halten und wissen, dass es Innern mit der Ewigkeit der Überzeugung geadelt ist. Immerhin: Das Gericht darf und muss in diesen Schacht hinabsteigen. Da Wahrheit im Recht als wahre Bedeutung des Gesetzes aber nicht darstellbar ist,35 kommt der Rechtspflege die spekulative Bewegung die Aufgabe zu, unaufhebbare Unbestimmtheit in Zeichen einzugrenzen, mit Zeichen zu ummanteln und hinter Zeichen zu verbergen. Das spekulative Denken sieht Kronenberger im Zentrum der Rechtspflege.36 Das erscheint wenig bürokratisch, merkwürdig sperrig und ist kaum noch regelgeleitet. Der Schacht der tiefen inneren Überzeugung ist abgründig. Im Rechtsverfahren fällt die Entscheidung aber weder vom Himmel noch taucht sie aus Abgründen auf. Vielmehr soll sie im Verfahren durch die mündlichen und schriftlichen Beiträge der Beteiligten entstehen. Damit wird der andere, der pragmatische Weg der Überzeugungsbildung eröffnet, in dem Pyramide und Schacht keine Rolle spielen – jedenfalls nicht wenn der Weg beginnt. Das pragmatische Modell der Überzeugungsbildung lässt die spekulativen Schwierigkeiten der Bedeutungsermittlung zunächst einmal vergessen. Es scheint ganz einfach, sich Aufschluss über die Grundlagen einer Entscheidung zu verschaffen, wenn man sich dem Vortrag der Beteiligten im Verfahren wirklich zuwendet. Das ist die Aufgabe der mündlichen Verhandlung in einem Verfahren, in dem die subjektive Überzeugung die Entscheidung bestimmen soll. Die mündliche Verhandlung sorgt für die rationale Struktur der subjektiven Überzeugung des Richters, in ihr wirkt der Begründungsanspruch nur indirekt und durch das von den Parteien Vorgetragene.37 Nur deren Sachvortrag soll schließlich die Grundlage für Überzeugungen bilden. 33 Kronenberger im Abschnitt B. II. 2. unter Bezug auf Hegel (Enzyklopädie) § 453 und § 458. 34 Vgl. Derrida über „Schacht“ und „Pyramide“ in: Randgänge, S. 91 und 96 f. 35 Auch dies ist ein Strukturierungsgesichtspunkt, den Müller/Christensen/Sokolowski hervorheben (Rechtstext und Textarbeit, S. 110 f.). 36 Kronenberger im Abschnitt B. II. 3. 37 Seibert, Gerichtsrede, S. 156 ff.

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Aber auch die Pragmatik des Verfahrens kennt eine Bewegung hin zum richterlichen Entscheider und dessen Abgründen. Denn Darstellung und Auswahl des Gerichts machen am Ende die Wirklichkeit des Verfahrens zum Begründungstext. Darüber wird beraten, denn die Entscheidung wie auch ihre Vertextung in der gerichtlichen Begründung sollen Ausdruck der richterlichen Überzeugung sein. Über die innere Überzeugung selbst wird nach dem Abschluss der Verhandlung erst einmal geschwiegen. Äußerlich zeigt sich das daran, dass die Beratung über die Entscheidung in den Arkanbereich des Beratungszimmers verlegt wird, in dem der Einzelrichter mit sich selbst allein ist und das Richterkollegium mündlich und informell in Sätzen operiert, von denen die Öffentlichkeit nicht erfahren soll, ja nicht einmal erfahren darf, weil das ein Bruch des Beratungsgeheimnisses wäre.38 Was da geäußert wird, kann kurz oder lang, einseitig oder vielstimmig, pauschal oder schulmäßig sein. Geregelt ist es nicht. Auch die Regeln der Gerichtsverfassung geben wenig Struktur. Aus § 196 GVG erfährt man lediglich, dass es Meinungen in der Beratung geben kann und darüber abgestimmt werden soll. Man erfährt nicht, was als Meinung möglich ist und gewissermaßen zulässigerweise gemeint werden darf. Nach der Öffentlichkeit des Verfahrens und ihren Forderungen nach Gehör, Hinweis, Verständnis und Wechselseitigkeit umgibt ein Geheimnis den Vorraum der Entscheidung, in dem das ganz Andere, das öffentlich noch nicht Gehörte, auch das Unverstandene und Einseitige ausgedrückt werden darf und nicht mitgeteilt werden soll.39 Das ist ein Abgrund für jede Begründung, der sich selten auftut und deshalb spekulativ wirkt, sich aber nicht gänzlich verdecken lässt. So wurde über den Freispruch im Wiederaufnahmeverfahren gegen Monika Weimar spekuliert, die offensichtlich unzureichende Urteilsbegründung sei darauf zurückzuführen, dass der Freispruch auf der Meinung der Laienrichterinnen beruhte, denen die Berufsrichter keinen Ausdruck geben konnten und wollten.40 Das wäre schlechter Stil, denn öffentlich und in der nach außen gegebenen Darstellung soll die Entscheidung homogen wirken. Aber eines fällt methodisch auf: In beiden Modellen der Überzeugungsbildung – in subjekt- und wahrheitsbezogenen semantischer wie auch im verfahrens-, raum und zeitbezogenen pragmatischer Perspektive – endet die Frage nach der Überzeugung an einer Stelle, die nicht mehr artikuliert werden kann, und diese Stelle liegt nicht irgendwo am Rande, sondern mitten im Zentrum der Entscheidung. Es ist in der Sprache Derridas der Grabesschacht in und unter der Pyramide der Bedeutung. Er bleibt dunkel und

38 Vgl. Kronenberger über das „Verschwinden des Entscheidungsträgers“ im Abschnitt C. II. 4. 39 Vgl. Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, S. 126. 40 Zu den Ausführungen über begründete oder nur abstrakt-theoretische Zweifel einer Überzeugungsbildung, die zum Freispruch führte, vgl. BGH StV 1999, 5 f.

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kann nicht erhellt, nur geleert und beraubt werden.41 Das helle Licht der Verfahrensöffentlichkeit richtet sich allein auf die aus dem Dunkel des Beratungszimmers veröffentlichte Darstellung. Die methodische Strukturierung wird dadurch nicht eben erleichtert. Seit in der Moderne Gründe kritisiert werden, fragt sich jeder nachdenkliche Urteilskritiker, ob er die „wahren Gründe“ oder nur eine Textoberfläche geboten bekommt. Denn dann könnte es sein, dass andere Verfahrensstrategien dennoch zum selben Ergebnis führen. Die Frage nach den Gründen der Begründung führt an einen rechtsstaatlich gefährlichen Ort, an dem die Begründung ihren Legitimationscharakter einbüßt. Man ist: V. Am Ab-Grund Es gehört zu den besonderen Verdiensten der Strukturierenden Rechtslehre, dass sie den letzten Ort der Begründung als problematisch anspricht und die Frage nicht durch wirkliche oder geheuchelte Naivität überspielt, wie das auch in noch verbreiteten Methodenlehren geschieht. Naiv muss es genannt werden, wenn immer wieder der Gesetzestext als unhintergehbarer Ursprung und Fixpunkt der juristischen Begründung berufen wird. Demgegenüber führt erst die Einsicht, dass „der Normtext nur Eingangsdatum“42 einer Konkretisierungsarbeit ist, in deren Verlauf die Rechtsnorm erst hergestellt wird, zu den notwendigen Fragen der modernen juristischen Textarbeit. Der postmodernen Dekonstruktion ist dann die weitere Einsicht geschuldet, dass auch das Ende des Entscheidungsdiskurses kein methodisches Ende sein kann und darf. Das Urteil ist so wenig die Gestalt für „die eine Wahrheit dieses Falles“,43 wie der herangezogene Normtext der Ursprung wäre. Textarbeit verbleibt in einem Gewebe von Texten, die kein Äußeres zulassen und mithin auch keine abgeschlossene Bedeutung entstehen lassen, sondern Anfang wie Ende der Bedeutungskonkretisierung unablässig verschieben. In diesem Sinne kann auch nicht abschließend entschieden werden, wenn man es als Merkmal einer Entscheidung versteht, dass damit der Fixpunkt für einen Streit gesetzt würde. Das Urteil ist ein Text, und weil es Text ist, kann es das Verfahren auch nicht wirklich abschließen. Noch weniger kann das Urteil Streit befrieden, wie manche entgegen besserer forensischer Erfahrung meinen. Es setzt den Streit notwendig fort, vertieft ihn gelegentlich und verschiebt ihn möglicherweise in einen anderen Instanzenzug. Nur dass überhaupt entschieden wird, ist keine Textfrage mehr. „Es ist eine – wenn

41 Denn die Entscheidung wäre ein Ereignis, „das die Subjektivität des Subjekts überraschen, es dort treffen muss, wo es ausgesetzt, preisgegeben, empfänglich, verwundbar und von einer fundamentalen Passivität ist . . .“ (Derrida, Politik der Freundschaft, S. 104). 42 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rdnr. 510. 43 Ebd., Rdnr. 512.

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auch in Texten behandelte, von Texten begleitete – Frage von Macht/Gewalt in den tatsächlich konflikthaften menschlichen Gruppen.“44 An diesem Abgrund der Gewalt wird entschieden. Es könnte auch ohne Texte und vor allem: ohne oder mit weniger Begründungen entschieden werden, und dieses Gradverhältnis muss man radikal fassen. Der Abgrund der Entscheidung ist durch wie viel Gründe auch immer nicht einzuholen. Alle Versuche, das Gewebe von Texten in seinem Wechselverhältnis zum ausschließlichen Anker und Ursprung der Entscheidung zu machen, scheitern an der nur ungenügend oder gar nicht begründeten Überzeugung, die sich die zu ihr passende Sprache erst noch verschaffen und Sätze für die Mitteilbarkeit ihrer Inhalte noch finden muss. Es ist der Moment des Widerstreits, der – nach Lyotard – jenen Zustand in der Sprache darstellt, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden muss, darauf noch wartet.45 Die Überzeugung begründet sich nicht selbst, sie hat nicht schon die Sprache, die sie braucht, um begründet zu werden, auch wenn die Redeweise, eine Entscheidung werde „abgesetzt“, in diesem Sinne verstanden werden könnte. Richtigerweise versteht man den Prozess des Setzen und Absetzen von Gründen auch als jenen Teil der Normkonkretisierung, durch den – wie immer zweifelnd und nach Sprache suchend – eine Überzeugung Ausdruck findet. Sie wird und soll zweifelnd gebildet werden. Sie soll aber auch – damit sie noch als Entscheidung des konkreten Verfahrens gelten kann – schnell getroffen werden. Das Verfahren fordert in den Worten von Kronenberger dazu auf, „sich mit dem Zeit nehmen zu beeilen“,46 so dass die dringliche Verfahrensfrage dahin geht, wie lange die Entscheidung durch Widerstreit aufgeschoben werden darf. Neben, hinter und zwischen den dargestellten Gründen steht deshalb immer noch ein Drittes,47 das im Hinweis auf die Gewaltsamkeit der Sprache nur unvollkommen ausgedrückt wird, denn neben die Gewalt – oder als deren Transformation – gesellt sich die Zeit als Beschränkungsfaktor. Jede Urteilsbegründung muss zum Verkündungsdatum vorliegen, und es interessiert dann erst sekundär, ob sie gut oder schlecht ist, ob und mit welcher Tiefenwirkung sie überzeugt. In erster Linie muss es den Text überhaupt geben. Terminsgerecht muss der Grund auftauchen, sonst begründet er nicht mehr. Mit dem Verkündungszeitpunkt beginnt etwas Drittes, das von den Gründen abführt, und es drängt sich an allen Stellen eines Textes als Drittes wieder auf und mischt sich ein. Neben dem Zeitpunkt gibt es eine Reihe weiterer Verfahrensumstände, die 44

Ebd., Rdnr. 513. Lyotard, Widerstreit, Nr. 22. 46 Kronenberger im Abschnitt C. I. 1. über die „Paradoxie der Verantwortung“. 47 Dessen Herausarbeitung anhand der Arbeiten von Lyotard über den Affekt-Satz und Serres (von dessen „Parasit“ die Arbeit sich im Titel inspirieren lässt) steht bei Kronenberger im Zentrum der sprachtheoretischen Rekonstruktion der richterlichen Überzeugungsbildung. 45

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sich in die Entscheidung drängen und jedem konkreten Urteil den Charakter eines letzten Worts zur Sache nehmen. Gerade wenn ein Grund gut begründet, so zeigt sich seine Qualität daran, dass er nicht nur den vorgefundenen Fall entscheidet, sondern Ausdruck einer allgemein plausiblen Regel ist. Er sagt etwas über den Fall hinaus, und dieses „Darüber hinaus“ als obiter dictum interessiert. Dieses Interesse ist der regelgenerierende Faktor für jede enthymematische Begründung (s. o. III.). Schon deshalb braucht ein konkreter Urteilstext die Regel seiner Verknüpfung mit anderen Texten nicht zu formulieren. Man sucht sie in den meisten Urteilen auch vergebens; und doch drängt die Rede vom „Fall“ die Frage nach der Regel auf. Keine Begründung kann sie verscheuchen.48 In dieser Lage gibt es Vermeidungsstrategien. Eine davon empfiehlt, auf Entscheidungen lieber zu verzichten. Denn mit der Entscheidung lässt man einen Dritten die Wahl zwischen Möglichkeiten treffen. Das ist gefährlich und notorisch unvorhersehbar. Man weiß vor der Entscheidung nicht, welches Ergebnis sie haben wird. Vor Gericht ist alles möglich – auch und gerade vor dem Bundesgerichtshof. Jede Idee, das Recht „sicher“, also vorhersehbar zu machen, ist zum Scheitern verurteilt, wenn Entscheidungen ergehen. Aber Entscheidungen kann man verhindern, etwa indem man sich selbst entscheidet, einer Lösung zuzustimmen, die als Verfahrensende gelten kann: dem Vergleich, der Einstellung des Verfahrens unter Zahlung einer Geldauflage oder anderen Formen der Beendigung ohne Begründung. Auch das ist eine Entscheidung; „sie trägt das Unbewusste in sich und bleibt doch verantwortlich“.49 Literatur Aristoteles: Rhetorik, zit. n. Übers. v. F. G. Sieveke, München 1980. Ballweg, Ottmar: Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, Basel 1970. Egli, Urs: Vergleichsdruck im Zivilprozess. Eine rechtstatsächliche Untersuchung, Berlin 1996. Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Wien 1988 (Orig.: Marges de la philosophie, Paris 1972). – Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ (Orig.: Force of Law, 1990), dt.: Frankfurt a. M. 1991. – Falschgeld. Zeit geben I, München 1993 (Orig.: Donner le temps I: La fausse monnaie Paris 1991). – Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000 (Orig.: Paris 1994).

48 Zur Aporie der Regelbestimmung vgl. Derrida, Gesetzeskraft, S. 46 ff.; rechtstheoretisch dazu Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rdnr. 184. 49 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 106.

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Gast, Wolfgang: Juristische Rhetorik. 4. Aufl. Heidelberg 2006. Goebel, Joachim: Rechtsgespräch und kreativer Dissens. Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Sprache in der interpretativen Praxis des Zivilprozesses, Berlin 2001. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes (1830), Werke Bd. 10, Frankfurt a. M. 1986. Kronenberger, Matthias: Der Parasit der Überzeugungsbildung, jur. Diss., Frankfurt a. M. 2007. Lautmann, Rüdiger: Justiz – die stille Gewalt, Frankfurt a. M. 1972. Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Neuwied u. a. 1969. – Rechtssoziologie, 2 Bde., Reinbek 1972. – Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993. – Organisation und Entscheidung, Opladen/Wiesbaden 2000. Lyotard, Jean-François: Le différend, Paris 1983 (dt.: Der Widerstreit, München 1987). Mittermaier, Carl Joseph Anton: Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht in ihrer Durchführung in den verschiedenen Gesetzgebungen dargestellt und nach den Forderungen des Rechts und der Zweckmäßigkeit mit Rücksicht auf die Erfahrungen der verschiedenen Länder geprüft, Stuttgart u. a. 1845. Müller, Friedrich: Recht – Sprache – Gewalt. Elemente einer Verfassungstheorie I, 2. Aufl. Berlin 1994. – ,Richterrecht‘. Elemente einer Verfassungstheorie IV, Berlin 1986. – „Virtualität im Rahmen der strukturierenden Rechtslehre“, in: Krawietz, W./Morlok, M. (Hrsg.), Vom Scheitern und der Wiederbelebung juristischer Methodik im Rechtsalltag – ein Bruch zwischen Theorie und Praxis, Rechtstheorie 32 (2001), S. 359–371. Müller, Friedrich/Christensen, Ralph: Juristische Methodik I. Grundlagen, öffentliches Recht, 8. Aufl. Berlin 2002. Müller, Friedrich/Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael: Rechtstext und Textarbeit. Berlin 1997. Posner, Richard: Overcoming Law, Harvard 1995. Sarstedt, Werner/Hamm, Rainer: Die Revision in Strafsachen, Berlin/New York 1998. Schlieffen, Katharina Gräfin von: „Rhetorik und rechtsmethodologische Aufklärung“, in: Krawietz, W./Morlok, M. (Hrsg.), Vom Scheitern und der Wiederbelebung juristischer Methodik im Rechtsalltag – ein Bruch zwischen Theorie und Praxis?, Rechtstheorie 32 (2001), S. 175–196. Seibert, Thomas-M.: „Der aktuelle Stil der juristischen différance“, in: Plett, H.-F. (Hrsg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996, S. 120–138. – Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs, Berlin 1996.

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Sobota, Katharina: Sachlichkeit, rhetorische Kunst der Juristen, Frankfurt a. M. u. a. 1990. – „Don’t Mention the Norm!“ International Journal for the Semiotics of Law IV (1991), S. 45–60. Wörner, Markus H.: „Enthymeme – ein Rückgriff auf Aristoteles in systematischer Absicht“, in: Ottmar Ballweg/Thomas-Michael Seibert (Hrsg.): Rhetorische Rechtstheorie. Zum 75. Geburtstag von Theodor Viehweg. – Freiburg 1982, S. 73–98.

Neue Steuerungsinstrumente der Schulaufsicht und ihre Anwendung auf Ersatzschulen Von Johann Peter Vogel

I. Problemstellung Der Satz von der Erhaltung der staatlichen Schulaufsicht könnte lauten: Die Summe der schulaufsichtlichen Befugnisse bleibt immer gleich. In den letzten Jahren sind wir Zeugen geworden eines Umbaus der Schulaufsicht: Auf der einen Seite führte die Diskussion um die „autonome Schule“ zu einer partiellen Selbstverwaltung der staatlichen Einzelschule mit individuellem Profil, verbunden mit einer Umwandlung der Schulaufsicht von der Kontrolle zur Beratung, auch einer Umwandlung der Lehrpläne zu Rahmenrichtlinien und „Bildungsstandards“1. Auf der anderen Seite wurden zentrale Abschlussprüfungen eingeführt und entstanden, ausgelöst durch den „PISA-Schock“, neue Felder schulaufsichtlicher Betätigung: die zentrale Fremdevaluation, die zentralen Vergleichstests und die zentrale Schülerdatenerfassung über das Internet. Offenbar ist die Schulverwaltung bestrebt, das, was sie auf der Seite des „inputs“, also der Vorgabe des Lehrplans, an Kontrolle eingebüßt hat, durch Steuerungsinstrumente auf der Seite des „outputs“, also der Leistungskontrolle, zu kompensieren. Zwar scheint das Prinzip für jeden plausibel, dass nämlich bei einer gewissen Freigabe der Inhalte notwendigerweise am Schluss nach landeseinheitlichen Kriterien das Ergebnis geprüft werden müsse – individuelle Profilierung bedürfe des Gegengewichts einheitlicher Abschlussprüfung –, doch gerät dabei aus dem Blick, dass das individuelle Profil der Schule und die damit erzeugten, individuell unterschiedlichen Leistungen der Schüler auf ein einheitliches Niveau zurückgeführt werden. Es ist nämlich ein Gerücht, dass mit einer Prüfung nur geprüft werde, was ohnehin gelehrt und gelernt wurde. Tatsächlich greifen zentral verordnete Prüfungsaufgaben massiv in den individuellen Lehrplan der Schule ein; die Erfahrung zeigt, dass im Interesse ihrer Schüler und ihres Rufes jede Schule ihr Lehrangebot auf das ausrichtet, was am Schluss geprüft wird. Zugleich bringt es die gerichtliche Überprüfbarkeit der Zensuren mit sich, dass 1 Dazu im Einzelnen Judith Müller, Schulische Eigenverantwortung und staatliche Aufsicht, Baden-Baden 2006.

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nur Leistungen geprüft werden, die nach „objektiven“ Kriterien nachvollzogen werden können; das schränkt den Bereich der prüfbaren Leistungen erheblich ein und wirft die Frage auf, ob statt Bildung nicht eher nur Wissen verlangt wird. Entsprechend sind denn auch die von der KMK erarbeiteten „Bildungsstandards“ lediglich Leistungsstandards2, weit davon entfernt, nur „Mindeststandards“ zu sein3. Die früher in den meisten Bundesländern geltende, pädagogisch angemessene Prüfungsform – die Schule schlägt die Aufgaben vor, die Schulaufsicht stellt die Entsprechung zu den festgelegten Standards fest und korrigiert gegebenenfalls – ist leider dem Nach-PISA-Aktionismus geopfert worden. Auch die Gestaltungsfreiheit der Ersatzschulen ist tangiert. Es besteht die starke Tendenz, die neuen zentral eingreifenden Instrumente der Schulaufsicht auch auf freie Schulen, jedenfalls auf Ersatzschulen anzuwenden. Das wirft die Frage nach den Befugnissen der Schulaufsicht gegenüber Ersatzschulen erneut auf. Da wird die staatliche Fremdevaluation zum integralen Bestandteil der Schulaufsicht auch gegenüber Ersatzschulen erklärt, zentrale Vergleichstests in jeder zweiten Klassenstufe werden auch auf Ersatzschulen angewendet. Für die Prüfung, wo die Grenzen zwischen verfassungsrechtlicher Gestaltungsfreiheit der freien Schulen und den zentralen Regelungen der Schulaufsicht liegen, hat Friedrich Müller in seinem Buch „Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz“ (1980) – der ersten Darstellung, die nicht auf der Tradition der Weimarer Zeit, sondern allein auf der neu eingeführten Privatschulgarantie des Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG aufbaut – das Instrumentarium bereit gestellt. Es sei im folgenden auch auf die genannten konkreten Fälle angewandt. II. Staatliche Fremdevaluation „Evaluation“ ist ein Diagnoseinstrument für die Bewertung der Arbeit einer Schule; zu unterscheiden ist die interne (Selbst-) von der externen (Fremd-) Evaluation. Die interne ist eine Verabredung des Kollegiums, ggf. mit weiteren Beteiligten an einer Schule und dient der Reflexion und Selbstvergewisserung des Kollegiums über sein schulisches Handeln, insbesondere hinsichtlich der Einhaltung des entwickelten Profils und seiner Ziele sowie der Fortentwicklung entsprechend den Bedürfnissen der Schule und ihrer Schülerschaft. Die externe Evaluation wird von außen an eine Schule herangetragen. Sie hilft der Schule bei ihren eigenen Evaluationsbemühungen zum einen als unbefangener betriebsferner Blick und zum anderen durch den Vergleich mit anderen ähnlichen Schulen; ihr Ziel ist der Erhalt eines übergeordneten Standards. Jede Evaluation, die 2 Dazu Hartmut Holzapfel, R&B 3/05, S. 2 ff.; Wolfgang Harder, R&B 4/05, S. 2 f.; Annemarie von der Groeben, R&B 2/06, S. 3 ff. 3 Dafür spricht allein schon der Umfang der Bildungsstandards.

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den Namen verdient, befasst sich mit ausgewählten, potentiell mit allen Details der Schule: mit der Schulverfassung und ihrem Profil, mit den Inhalten und der Organisation des Unterrichts, mit der Zuordnung und der Qualität der Lehrer, ggf. auch mit den sächlichen Einrichtungen und den Verhältnissen zwischen den Beteiligten in der Schule. Sie ist ein die gesamte Schule umfassendes Diagnoseinstrument. Dies spielt bei der Beurteilung, wie weit Ersatzschulen der staatlichen Fremdevaluation unterworfen werden können, eine erhebliche Rolle. Ein Beispiel für die Einführung der staatlichen externen Evaluation ist das Schreiben des bayerischen Kultusministeriums vom 6.10.2005 an die freien Schulträger. Darin steht, dass „nach dem von der Qualitätsagentur am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in enger Abstimmung mit dem Staatsministerium entwickelten Evaluationskonzept die externe Schulevaluation als integraler Bestandteil der Schulaufsicht definiert“ sei; „dient sie doch der Unterstützung der Schulen auf dem Weg der Qualitätssicherung und -entwicklung, die nach unserem Verständnis eine der schulaufsichtlichen Kernaufgaben ist“. Eine Prüfung durch das Schulrechtsreferat habe ergeben, „dass die Einbeziehung von Schulen in freier Trägerschaft in eine als Bestandteil der Schulaufsicht konzipierte externe Evaluation zulässig ist und im Einklang mit den Vorgaben des Art. 7 GG sowie des Art. 134 BV steht, sofern es sich dabei um staatlich anerkannte Ersatzschulen im Sinne des Art. 100 BayEUG handelt“. Immerhin wird den freien Trägern die Möglichkeit eingeräumt, bei der externen Evaluation einer Schule in freier Trägerschaft ein vom jeweiligen Träger benanntes Mitglied in das Evaluationsteam zu entsenden. III. Zentrale Vergleichstests Vergleichsarbeiten der Schüler kennen wir bereits bei nationalen und internationalen Schuluntersuchungen. Sie dienen dem Zweck, durch Vorgabe einer bestimmten zentralen Aufgabenstellung mit bestimmten Beurteilungskriterien in Klassenarbeiten auf bestimmten Klassenstufen in bestimmten Fächern landesweit oder Länder übergreifend durch Vergleich festzustellen, ob und wie unterschiedlich die Leistungen der Schüler sind. Solche Vergleichsarbeiten werden aber auch als Instrumente der externen Evaluation4 vorgesehen, und zwar auf verschiedenen Klassenstufen in verschiedenen Schularten und verschiedenen Fächern. Es gibt auch Vergleichsarbeiten, die zusätzlich zu den vorgeschriebenen Klassenarbeiten hinzutreten; sie unterscheiden sich von den üblichen Klassenarbeiten dadurch, dass sie zentral gestellte Themen haben. Ihre Zensuren wirken sich auf die Zeugnisnote des jeweiligen Faches proportional aus; mithin 4 Ob vom Sinn der Evaluation her Vergleichsarbeiten ein richtiges Instrument sind, bleibe dahingestellt. Evaluation bewertet die Leistungen der Schule, Vergleichsarbeiten die Leistung der Schüler.

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dienen sie nicht nur dem landesweiten Vergleich, sondern auch dem Berechtigungswesen. Ein Beispiel: Mit Schreiben vom 7.3.2006 teilte das baden-württembergische Kultusministerium den allgemeinbildenden Schulen in freier Trägerschaft mit, die Vergleichsarbeiten seien „zwar auch Instrumente der Evaluation, werden aber zugleich als zentrale Klassenarbeiten definiert. Sie sind damit auch für die Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien in freier Trägerschaft verbindlich“. Nicht genug damit – das Kultusministerium stellt weiter fest, dass diese Schulen einerseits öffentliche Berechtigungen verleihen dürfen, dafür andererseits aber „an das Anforderungsprofil der öffentlichen Schule gebunden sind, das sie nicht unterschreiten dürfen. Hierzu gehören die Stundentafel und der Bildungsplan, die Versetzungsordnung, die Notenbildungsordnung und die Abschlussprüfungsordnung“. IV. Umfang der Schulaufsicht über Ersatzschulen 1. Der Staat kann die externe Evaluation und zentrale Vergleichsarbeiten – in welcher Form auch immer – gem. Art. 7 Abs. 1 GG (Aufsicht über das gesamte Schulwesen) einführen, uneingeschränkt allerdings nur gegenüber den ihm untergebenen staatlichen Schulen. Er sollte dabei berücksichtigen, dass Diagnose und Beratung einerseits, Kontrolle und Weisung andererseits auseinandergehalten werden. Externe Evaluation – das lehrt das niederländische Beispiel5 – sollte durch eine von der staatlichen Schulaufsicht möglichst unabhängige Instanz vorgenommen werden, also gerade nicht Instrument der Schulaufsicht sein, um einen möglichst vorbehaltlosen Diskurs zwischen Beratern und Schule über alle inhaltlichen und personellen Details der Schule zu ermöglichen. In einigen Bundesländern ist deshalb die Evaluation aus der Schulaufsicht ausgelagert worden auf spezielle Institute6. Freilich dient die Auslagerung nur dort ihrem Zweck, wo das Institut in seinem Handeln unabhängig von der Schulverwaltung ist und wo die Ergebnisse der Evaluation nicht anschließend der Schulaufsicht zur Kontrolle vorgelegt werden müssen. Wo wie in Baden-Württemberg7 der Evaluationsbericht von einem Institut gemacht und der Schule ausgehändigt wird, danach aber der staatlichen Schulaufsicht vorzulegen ist, damit diese die Konsequenzen daraus zieht, dürfte die Unabhängigkeit zweifelhaft sein. 5 Theo Liket, Freiheit und Verantwortung, 1993, S. 150. Siehe auch Frank-Rüdiger Jach, Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Europa, Berlin 1999, S. 166 ff. (168); Judith Müller (Fn. 1), S. 98 ff. (107 ff.). 6 Am unabhängigsten wohl Niedersachsen, § 120 Abs. 1 SchG. 7 So der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes LTDs. 14/445 vom 17.10.2006, mit der die Evaluation in Baden-Württemberg eingeführt werden soll.

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2. Gegenüber freien Schulen ist das umfassende Dispositions- und Kontrollrecht des Staates durch die Privatschulgarantie des Art. 7 Abs. 4 GG eingeschränkt. Hier liegt der Kern der Frage: Wie weit kann die staatliche Schulaufsicht gegenüber Ersatzschulen externe Evaluation und zentrale Vergleichsarbeiten durchsetzen?8 a) Das Grundrecht von jedermann, Schulen in freier Trägerschaft zu errichten und zu betreiben (Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG), ist bereits im GG durch die Notwendigkeit einer staatlichen Genehmigung für Ersatzschulen eingeschränkt (Art. 7 Abs. 4 Sätze 3 und 4 GG). Diese Einschränkung ist eine Ausnahme gegenüber dem umfassenden Grundrecht und deshalb eng auszulegen9. Folgende verfassungsrechtliche Einschränkungen sind gegeben: – Die Schule darf in ihren Lehrzielen, Einrichtungen und der wissenschaftlichen Ausbildung der Lehrkräfte nicht hinter entsprechenden staatlichen Schulen zurückstehen, – die Lehrkräfte müssen rechtlich und wirtschaftlich genügend gesichert sein und – eine Sonderung der Schüler nach ihren finanziellen Verhältnissen darf nicht gefördert werden. Dieser Katalog ist abschließend und umreißt zugleich den Umfang der staatlichen Schulaufsicht über Ersatzschulen. Eine Erweiterung dieser drei Voraussetzungen kann der Landesgesetzgeber nicht vornehmen10. In manchen Landesbestimmungen findet sich die Formel, gleichwertig müsse der „gesamte innere und äußere Schulbetrieb“ sein (z. B. § 5 Abs. 2 PSchG BW); dies überschreitet bei weitem die grundgesetzlichen Anforderungen11. Denn außerhalb der Lehrziele, Einrichtungen und der wissenschaftlichen Ausbildung der Lehrer muss die Schule nicht einmal gleichwertig sein. Gerade der selbständigen Entscheidung der freien Träger über ihre eigene Prägung, ihre Unterrichtsinhalte und -methoden und ihre Schulorganisation misst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen hohen Wert zu; der Staat müsse den freien Schulen „die Möglichkeit geben, sich ihrer Eigenart entsprechend zu verwirklichen. Ohne Selbst8 Zur Einführung der staatlichen Evaluation in Bayern Rüdeger Baron, Grenzen der Schulaufsicht und externe Evaluation, R&B 1/06, S. 2 ff.; und sehr ausführlich Gernot Fritz, Verstößt die vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus im Rahmen der staatlichen Schulaufsicht vorgesehene externe Evaluation auch staatlich anerkannter Ersatzschulen gegen Art. 7 Abs. 4 GG bzw. Art. 134 der Verfassung des Freistaates Bayern? Unveröffentlichtes Rechtsgutachten vom 28.2.2006. Auf beide Arbeiten greift die obige Darstellung zurück, ohne sie in jedem Punkt zu zitieren. 9 s. Friedrich Müller, Das Recht der Freien Schulen nach dem Grundgesetz, 2. Aufl., Berlin 1982, S. 190 ff. 10 s. Friedrich Müller (Fn. 9), S. 112. 11 Friedrich Müller (Fn. 9), S. 129 ff. Die entsprechende Formulierung in § 37 Abs. 3a SchOG NW ist nur eingeschränkt interpretiert – als Nichtzurückstehen in Lehrzielen und Einrichtungen – verfassungskonform.

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bestimmung im schulischen Wirkungsbereich bleibt das Recht auf Errichtung von privaten Ersatzschulen inhaltslos“. Grund der so nachdrücklich betonten Selbstbestimmung ist die vom GG gewollte, den individuellen Werten der Grundrechte und der demokratischen Bürgergesellschaft entsprechende Vielfalt im Schulwesen12 – die Vielfalt der den eigenen Bildungsvorstellungen von Bürgern entsprechenden Bildungsangebote. b) Bei anerkannten Ersatzschulen ist die Schulaufsicht erweitert. Unter den Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 GG ist die Anerkennung nicht erwähnt. Ihre Funktion ist die Beleihung des freien Trägers mit dem Hoheitsrecht, Berechtigungen mit öffentlicher Wirkung wie staatliche Schulen auszusprechen. Nach Auffassung des BVerfG13 ist die mit ihr verbundene Erweiterung der Aufsicht aber dadurch gerechtfertigt, dass die „herkömmlich“ nicht mit der Genehmigung verbundene Beleihung wegen des dem Berechtigungswesen innewohnenden Gleichbehandlungsgrundsatzes zusätzlicher Einschränkungen der Gestaltungsfreiheit der Ersatzschule bedarf. So kommt das BVerfG zu einer Konkordanz zwischen den Erfordernissen der staatlichen Ordnung des Berechtigungswesens einerseits und der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmung der Ersatzschule andererseits. Einerseits „liegt es im Wesen derartiger Berechtigungen, dass das Prinzip der Gleichwertigkeit gegenüber dem Prinzip der Gleichartigkeit weitgehend zurücktreten muss“, weil „mit der Ordnung des Berechtigungswesens notwendig die Aufsicht darüber verbunden ist, dass die Berechtigungen nur den Schülern zuerkannt werden, die den entsprechenden Bildungsgrad erworben haben“; andererseits „dürfen die Länder das Institut der Anerkennung nicht dazu benutzen, die Ersatzschulen zur Anpassung an die öffentlichen Schulen in einem der Sache nach nicht gebotenen Umfang zu veranlassen. Es würde mit Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren sein, wenn die Ersatzschulen ohne sachlichen Grund zur Aufgabe ihrer Selbstbestimmung veranlasst werden würden“. Das Gebot der „Gleichartigkeit“ gilt mithin nur für den eng umrissenen Bereich der Vergabe öffentlicher Berechtigungen. Anerkannte Ersatzschulen müssen, so die Landesgesetze14, bei der Aufnahme, Versetzung und Prüfung die gleichen Regelungen wie entsprechende staatliche Schulen anwenden. Allerdings wird in Baden-Württemberg die Anerkennung gem. § 10 Abs. 1 PSchG BW einer Ersatzschule verliehen, wenn sie „die Gewähr dafür bietet, dass sie dauernd die aufgrund des Gesetzes an entsprechende öffentliche Schulen gestellten Anforderungen erfüllt“.15 Diese sehr globale Feststellung ist inter12

BVerfGE 27, 195 ff. (D I 1 und 5); 75, 40 ff. (C II 1). BVerfGE 27, 195 ff. (D I 3–5). 14 Außer Nordrhein-Westfalen, das die öffentlichen Berechtigungen zugleich mit der Genehmigung verleiht. 15 Zu den unterschiedlichen Formulierungen der Landesgesetze s. Hermann Avenarius, Schulrechtskunde, 7. Aufl. 2000, S. 216, Fn. 76. 13

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pretationsbedürftig; sie ist nur dann mit der Selbstbestimmung der Ersatzschule zu vereinbaren, wenn sie auf das hin präzisiert wird, was als Anpassung an staatliche Regelungen für die Vergabe öffentlicher Berechtigungen sachangemessen ist. Das ist nach Auffassung der überwiegenden Zahl der Landesgesetzgeber die dauernde Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen und im Übrigen die Befolgung der staatlichen Regelungen für Schüleraufnahme, Versetzungen und Prüfungen16. V. Staatliche externe Evaluation im Rahmen der Schulaufsicht über Ersatzschulen 1. Unbestritten hat der Staat gegenüber genehmigten Ersatzschulen die Rechtsaufsicht darüber, ob die oben [IV.2.a)] genannten drei Voraussetzungen eingehalten sind17. Er hat aber weder eine Rechts- noch eine Fachaufsicht über den Weg zu den Zielen, also über Unterrichtsinhalte, -methoden und -organisation. Hier liegt der Kernbereich der Gestaltungsfreiheit der Ersatzschule18. Dazu gehört auch die Qualitätssicherung an Ersatzschulen; sie ist nicht Aufgabe der staatlichen Schulaufsicht, sondern des freien Trägers. Eine aufsichtlich betriebene, staatliche externe Evaluation freier Schulen überschreitet in ihren dargestellten Maßnahmen die Befugnisse der Rechtsaufsicht. Eine umfassende Fachaufsicht wäre erforderlich, um eine externe Evaluation über eine Ersatzschule durchzuführen, und diese ist nicht zulässig. 2. Was schon allgemein von der Begrenzung der Aufsicht her gilt, wird verstärkt durch den Gehalt der Genehmigungsvoraussetzungen: von ihnen her lässt sich eine staatliche Evaluation erst recht nicht auf genehmigte Ersatzschulen erstrecken. a) Nur die Lehrziele unterliegen der Prüfung, ob sie nicht hinter staatlichen Lehrzielen zurückstehen, nicht auch der Weg dorthin19. Evaluation hat aber nicht nur mit den Zielen, sondern gerade auch mit dem Weg dorthin zu tun. Ein derart umfassendes staatliches Eindringen in alle Details einer freien Schule ist durch das auf die Lehrziele begrenzte „Nichtzurückstehen“ nicht gedeckt. Außerdem stellt sich die Frage, ob staatliche Evaluation den durch das „Nichtzurückstehen“ umrissenen Freiheitsraum verletzt, indem sie mit ihren zentralen

16 Auch auf diesen Fall sind die Erkenntnisse Friedrich Müllers zu § 37 Abs. 3a SchOG NW (Fn. 9, S. 129 ff.) anwendbar, da in NW die Genehmigung zugleich das Recht der Verleihung öffentlicher Berechtigungen enthält. 17 Friedrich Müller (Fn. 9), S. 116. In NRW sind genehmigte Ersatzschulen mit öffentlichen Berechtigungen beliehen; für sie gilt das zu anerkannten Ersatzschulen Gesagte. 18 Friedrich Müller (Fn. 9), S. 118 f. 19 Friedrich Müller (Fn. 9), S. 133 ff.

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Vorgaben Kriterien anwendet, die geeignet sind, freie Schulen zu fremdbestimmten staatlichen Positionen zu zwingen. b) Als „Einrichtung“ i. S. Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG kann nicht jede Einrichtung der Schule verstanden werden, sondern nur die, die mit den Lehrzielen funktional in Verbindung steht20. Die staatliche Evaluation geht weit über die Lehrziele hinaus und gehört deshalb nicht unter die „Einrichtungen“ i. S. Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG. Und selbst wenn die Evaluation an sich, ähnlich der Schülermitwirkung, eine „Einrichtung“ im Sinne der Genehmigungsvoraussetzungen wäre, so könnte allenfalls gefordert werden, dass die Schule überhaupt über eine (eigene) Form externer Evaluation verfügt, die nicht hinter der staatlichen Evaluation zurücksteht21. c) Daran ändert sich auch nichts, wenn in das staatliche Evaluationsteam ein Vertreter der zu evaluierenden Ersatzschule aufgenommen wird; die staatliche Evaluation wird dadurch nicht zu einer eigenen der Schule. 3. Das gilt auch für anerkannte Ersatzschulen. Die Evaluation gehört nicht zum öffentlichen Berechtigungswesen, sondern dient einer allgemeinen Qualitätsverbesserung, die externe Evaluation darüber hinaus dem Vergleich von Schulen und ihren Leistungen, also eigenen Zwecken der Schulaufsicht. Einige Bundesländer haben daher mit Recht den anerkannten Ersatzschulen freigestellt, freiwillig an der staatlichen Evaluation teilzunehmen. 4. Ein Sonderfall ist die Grundschule in freier Trägerschaft. Sie ist regelmäßig anerkannte Ersatzschule. Außer den Genehmigungsvoraussetzungen und den Anerkennungserfordernissen ist bei ihr auch, soweit sie keine Bekenntnisschule ist, gem. Art. 7 Abs. 5 GG ein „besonderes pädagogisches Interesse“ anzuerkennen. Das besondere pädagogische Interesse stellt weder auf die Interessen der Betreiber noch der Eltern noch der Schulverwaltung ab, sondern richtet sich darauf, auch im Grundschulbereich Vielfalt anzubieten. Die Schule muss also eine besondere pädagogische Prägung besitzen. Diese ist vom Betreiber (wissenschaftlich fundiert) vorzutragen; eine Ablehnung durch die Verwaltung muss nachvollziehbar begründet werden22. Die Rechtsaufsicht der Schulaufsicht mag hier zu einem kleinen Teil mit Fachaufsicht gemischt sein; sie beschränkt sich aber auf die Feststellung, ob die besondere pädagogische Prägung gegeben ist. Keineswegs unterliegt damit die Grundschule in vollem Umfang der Fachaufsicht, wie dies für die Durchführung einer externen Evaluation erforderlich wäre. Die Feststellung der besonderen pädagogischen Prägung war auch schon bisher (ohne Evaluation) ohne wei20

Friedrich Müller (Fn. 9), S. 130 ff. Zu ähnlich gelagerten Fällen Norbert Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 3. Aufl. 2000, Bd. I, Rn. 249. 22 BVerfGE 88, 40 ff.; so auch Niehues (Fn. 21), Rn. 259 ff. 21

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teres möglich. Externe Evaluation wäre deshalb zur Feststellung der besonderen pädagogischen Prägung ein unverhältnismäßig eingreifendes Mittel. Die Schulaufsicht würde also im Übermaß wahrgenommen23. Dies umso mehr, als die besondere pädagogische Prägung sich ja gerade einer einheitlichen, auf die Regelgrundschule abgestellten externen Evaluation widersetzt. 5. Es gibt also keinen rechtlichen Gesichtspunkt, unter dem eine schulaufsichtliche Evaluation auf freie Schulen erstreckt werden könnte24. Nebenbei: es ist auch pädagogisch unsinnig, Schulen mit Kriterien zu messen und beraten zu wollen, die an Schulen entwickelt sind, die andere Profile haben. VI. Vergleichsarbeiten im Rahmen der Schulaufsicht über Ersatzschulen Für Vergleichtests z. B. im Rahmen nationaler wie internationaler Vergleichsuntersuchungen gilt allgemein, dass sie weder zur Schulaufsicht über die Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzungen noch zum Berechtigungswesen gehören. Das ergibt sich aus dem bereits Gesagten. Für Vergleichsarbeiten als Teil der staatlichen externen Evaluation muss dasselbe gelten wie für Vergleichstests schlechthin und für die externe Evaluation insgesamt. 1. Zunächst ist wieder festzustellen, dass bloß genehmigte Ersatzschulen Vergleichsarbeiten nicht unterworfen werden können. Ihnen gegenüber obliegt der Schulaufsicht einzig die Rechtsaufsicht darüber, ob die Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 Sätze 3 und 4 GG erfüllt sind [s. o. IV.2.a)]. Vergleichstests sind kein Instrument dieser Rechtsaufsicht. 2. Dies gilt auch für anerkannte Ersatzschulen. Die Anforderungen an die Anerkennung umfassen nur die staatlichen Regelungen im Bereich des öffentlichen Berechtigungswesens. Die Ersatzschule muss die Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 GG dauerhaft erfüllen und ist verpflichtet, nach den staatlichen Vorschriften Prüfungen abzuhalten und Zeugnisse zu erteilen [s. o. IV.2.b)]. Vergleichsarbeiten dienen nicht dem öffentlichen Berechtigungswesen, sondern internen Zwecken der Schulaufsicht (Evaluation des staatlichen Schulwesens) [s. o. II.]. 3. Das könnte anders aussehen, wenn die Vergleichsarbeit zugleich mit Zeugniswirksamkeit gekoppelt wird. Sie diente damit dem Berechtigungswesen; dies spräche dafür, dass anerkannte Ersatzschulen in derartige Vergleichstests einbezogen werden könnten. Eine differenziertere Prüfung ist angebracht.

23 24

Dazu Friedrich Müller (Fn. 9), S. 176 ff. Zu diesem Ergebnis kommen auch Baron und Fritz (Fn. 8).

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a) Anerkannte Ersatzschulen haben die staatlichen Vorschriften für die Abhaltung von Prüfungen und die Erteilung von Zeugnissen einzuhalten. Maßgeblich sind mithin die staatlichen Regelungen für Prüfungen, Versetzungen und Aufnahme in die Schule, wie sie in Gesetzen und Verordnungen niedergelegt sind. Freilich kann dies nicht heißen, dass solche Regelungswerke pauschal zu übernehmen seien. Zum einen können sich in ihnen Bestimmungen finden, die der Verordnungsgeber in ihnen untergebracht hat, ohne dass sie systematisch dort ihren Platz haben müssten. Zum anderen können Bestimmungen das der Sache nach notwendige Maß überschreiten und eine weitergehende Anpassung der Ersatzschule fordern, als zur Gewährleistung der Ordnung des Berechtigungswesens erforderlich ist. b) Prinzip der für das Berechtigungswesen relevanten Ordnungen ist, dass es sich um formale Verfahrensregeln (Notenraster, Fächer, Zahl der Arbeiten, Anrechnungen etc.) handelt, die von den Schulen und ihren Lehrern im Rahmen von Curricula oder Bildungsstandards fachlich-inhaltlich zu füllen sind. Der Lehrer soll nur zu einem Mindestmaß in der konkreten Gestaltung seines Unterrichts begrenzt werden25. Er nimmt im Rahmen der Verfahrensregeln die Leistungsmessung der Schüler durch schriftliche und mündliche Arbeiten mit selbstgestellter, auf seinen Unterricht bezogener Thematik nach je eigenen Beurteilungsmaßstäben vor. Die erbrachte Schülerleistung dient nicht nur dem Vergleich innerhalb der Klasse, sondern auch als Rückmeldung für den Lehrer hinsichtlich seines Lehrerfolges. Nur bei den schriftlichen Arbeiten in den Abschlussprüfungen ist neuerdings in allen Bundesländern die Möglichkeit vorgesehen, landesweit zentral thematisch fixierte Aufgaben zu stellen, die Vorgaben auch für Inhalt und Beurteilungsmaßstäbe, unabhängig vom konkret erfolgten Unterricht der Schule, enthalten. Dies mag damit rechtfertigt werden, dass im Blick auf die Berufschancen der Schüler sowohl eine möglichste Gleichbehandlung der Schüler als auch eine landesweite Vergleichbarkeit der Standarderfüllung an „autonomen“ Schulen angestrebt wird. Es ist nicht zu leugnen, dass ein starker Sog der zentral gestellten Themen auf die Unterrichtsgestaltung der Abschlussklasse stattfindet. Die neuen Vergleichtests müssen zentral thematisch fixiert sein, wenn sie den Zweck eines landesweiten Leistungsvergleichs erfüllen sollen. Werden sie zugleich als normale Klassenarbeiten zur individuellen Notengebung benutzt, bilden sie einen Fremdkörper insofern, als sie nicht das Gelernte, sondern etwas zentral Gesetztes zum Gegenstand haben. Mit diesen zentralen Setzungen greifen sie in die Kontinuität des vom Lehrer mit der Klasse betriebenen Unterrichts ein. Die Vergleichsarbeit prüft im Zweifel etwas anderes, als zu diesem Zeitpunkt im Unterricht geübt worden ist. Verglichen mit der thematisch vom 25

So ausdrücklich I. der Vorbemerkungen der NotenbildungsVO BW.

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Lehrer bestimmten Klassenarbeit ist sie für die notwendige Rückmeldung über Leistungsstand der Klasse und Lehrerfolg des Unterrichts ungeeignet. Ist sie zugleich Klassenarbeit und damit Faktor der Notengebung, wird die mit ihr verbundene Stoffvorgabe zudem bewirken, dass sich der Unterricht inhaltlich auf sie hin orientiert, aus den berechtigten Gründen, die Schüler nicht falsch vorzubereiten und den Ruf der Klasse und der Schule nicht zu gefährden. Insofern ist die Stoffvorgabe der Vergleichs/Klassenarbeit auch eine Stoffvorgabe für den Unterricht. Statt eines Mindestmaßes findet hier ein Höchstmaß an Vorgabe für die Unterrichtsgestaltung des Lehrers statt. Dies gilt umso mehr, als angesichts der allgemeinen Zentralisierungstendenz bei Qualifikationsmaßnahmen keineswegs sicher ist, ob es bei den verordneten Vergleichsarbeiten bleibt; prinzipiell ist dieses Modell auf alle Klassenstufen und Fächer sowie zahlenmäßig beliebig auszuweiten. Das Ergebnis wäre eine völlige Lehrplansteuerung über zentrale Stoffvorgaben in verordneten Tests. Was für die Profilierung der Einzelschule freigegeben worden war, wird durch output-Kontrolle wieder eingeholt. Betroffen sind insbesondere Schulen mit besonderen Profilen, vor allem Schulen in freier Trägerschaft. c) Dem Staat ist unbenommen, eine derartige Regelung für die staatlichen Schulen einzuführen; gegenüber Schulen in freier Trägerschaft hat er aber deren verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmung zu berücksichtigen. Bei seiner Abwägung zwischen dem Gebot der Gleichheit der Startchancen einerseits und des Rechts der Ersatzschule auf eigene gleichwertige Gestaltung andererseits ging das BVerfG [s. o. IV.2.b)] davon aus, dass die mit der Ordnung des Berechtigungswesens notwendig verbundene Aufsicht über das Erreichen eines bestimmten Bildungsgrades „ebenso wenig wie die Ordnung des Berechtigungswesens innere Schulangelegenheiten betrifft“. Dieser Auffassung konnte das BVerfG deshalb sein, weil 1969 die zu beurteilenden staatlichen Regelungen in Hessen für die Leistungsmessung in Zeugnissen und Prüfungen keine zentralen fachlich-inhaltlichen Aufgabenstellungen vorsahen, innere Schulangelegenheiten der Ersatzschule mithin nicht betrafen. In die Selbstbestimmung der anerkannten Ersatzschule hinsichtlich der Unterrichtsinhalte wurde also in der Tat nicht eingegriffen. Wie sich das BVerfG entschieden hätte, wenn es über zentrale Stoffvorgaben hätte urteilen müssen, steht dahin, denn zentrale inhaltliche Vorgaben greifen, wie oben festgestellt, immer in das individuelle Profil einer Schule – insbesondere einer Schule in freier Trägerschaft – ein und haben notwendigerweise eine Anpassung an staatliche Schulen zur Folge. Mag dies bei Abschlussprüfungen mit zentralen Stoffvorgaben hingenommen werden, weil es nur die jeweilige Abschlussklassenstufe und nur die schriftlichen Prüfungsarbeiten betrifft; mag zudem die Anpassung beim Abschlusszeugnis mit öffentlicher Wirkung wegen des „Gebots der Gleichheit der Startchancen“ zwar nicht unvermeidlich, aber sachgerecht sein. Ein milderes Mittel im Sinne des Übermaßverbots als die Gleichartigkeit in diesem Punkt ist dann nicht denkbar.

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Wenn also bei Abschlusszeugnissen bis zu einem gewissen Umfang eine Gleichartigkeit der inhaltlichen Fragestellungen hingenommen werden muss, gilt dies nicht ohne weiteres auch für die Notwendigkeit inhaltlicher Anpassung in den Klassenstufen. Klassenarbeiten mit zentraler Stoffvorgabe sind wegen der mit ihnen einhergehenden Steuerung der Unterrichtsinhalte während des Schuljahres ein sehr viel gravierenderer Eingriff in den Selbstbestimmungsbereich, also in die inneren Schulangelegenheiten der anerkannten Ersatzschule. Dieser ist durch die Ordnung des Berechtigungswesens nicht gerechtfertigt. Wenn das BVerfG daraufhinweist, dass „es im Wesen derartiger Berechtigungen liegt, dass das Prinzip der Gleichwertigkeit gegenüber dem Prinzip der Gleichartigkeit weitgehend zurücktreten muss“, dann gilt dies eben nicht für die inneren Schulangelegenheiten, die ja nach Meinung des Gerichts nicht betroffen sind, sondern für die Übernahme der Ordnung des Berechtigungswesens. „Herkömmlich“ – um eine beliebte Argumentationsfigur des BVerfG zu benutzen – war bisher zur Feststellung vergleichbarer Leistungen für ein Halbjahres- oder Versetzungszeugnis eine zentrale Stoffvorgabe nicht erforderlich. Für die Außenwirkung des Versetzungszeugnisses ist die Note der Vergleichsarbeit nahezu unerheblich, da die Vergleichsarbeit neben mehreren Klassenarbeiten ohne Stoffvorgabe gewertet wird. Brauchte man für die Leistungsmessung mehr Klassenarbeiten, gäbe es ein milderes Mittel: die Anordnung einer weiteren Klassenarbeit ohne Stoffvorgabe. Zentrale Stoffvorgaben in Klassenarbeiten erklären sich einzig aus ihrer Vergleichsfunktion; gäbe es diese nicht, unterblieben sie. Sie sind von der Ordnung des Berechtigungswesens her nicht geboten, sie greifen übermäßig in den Selbstbestimmungsbereich der anerkannten Ersatzschule ein. Somit verstößt eine solche zentral vorgegebene Klassenarbeit auch gegen das Übermaßverbot. Die Mahnung des BVerfG, die Ersatzschulen nicht mehr als nötig zur Anpassung an staatliche Vorgaben zu zwingen, darf nicht nur als captatio benevolentiae verstanden werden, sondern muss, da eine Einschränkung der grundrechtlichen Privatschulgarantie vorgenommen werden soll, ernst genommen werden. 4. Festzustellen ist also ein rechtswidriges Übermaß an Anpassung in einem in der Sache nicht gebotenen Umfang. Es ist dem Verordnungsgeber unbenommen, eine weitere Klassenarbeit in bestimmten Klassenstufen und Fächern vorzusehen; eine Stoffvorgabe aber muss unterbleiben. Ersatzschulen können sich freiwillig an den Vergleichsarbeiten beteiligen, ein Zwang dazu aber kann nicht ausgeübt werden. VII. Evaluation an freien Schulen Die rechtliche Unzulässigkeit der Erstreckung staatlicher Evaluation über Ersatzschulen sollte nicht den Schluss zulassen, als sei an Ersatzschulen keine Evaluation erforderlich. Evaluation kann als solche durchaus als „Einrichtung“

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i. S. der Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG verstanden werden [s. o. IV.2.b)] und könnte in einer eigenen Form, die nicht hinter der an staatlichen Schulen zurücksteht, von der Schulaufsicht gefordert werden. Es erscheint zudem fruchtbar, wenn die Veranstalter unterschiedlicher Evaluationsmethoden in einen Dialog eintreten. Abgesehen davon sollte Evaluation auch als Element der Öffentlichkeitsarbeit ernst genommen werden. Das Argument einzelner freier Schulen, sie bräuchten keine Evaluation, weil die Elternnachfrage genügend über die Qualität der Schule aussage, ist deshalb auch in dieser Hinsicht zweifelhaft. Schon verbreitet sich in Ländern mit Evaluation der staatlichen Schulen das Gerücht, diese Schulen seien qualifizierter als nichtevaluierte. Freie Schulen sollten sich also bemühen, eine eigene, ihren jeweiligen Profilen angemessene Evaluation aufzubauen. Jede Schule kann sich selbst evaluieren; gleichwohl darf vermutet werden, dass eine freiwillig eingegangene externe Evaluation eine beträchtliche Steigerung der Selbstevaluation ist26. Wenn freie Schulen an der staatlichen Evaluation freiwillig teilnehmen wollen, mögen sie das tun. Sie müssten aber stets vorher prüfen, wie hoch der Deckungsgrad der Evaluationskriterien einerseits, ihrer eigenen Schulprofile andererseits ist. Man kann davon ausgehen, dass sich eine freie Schule nicht scheuen muss, dem Staat einen so starken Einblick in die Schule, wie ihn die Evaluation zulässt, zu gewähren; es gibt allerdings Erfahrungen auf anderen Gebieten, dass der Staat gewonnene Einsichten nicht nur zugunsten der freien Schule verwendet; der Staat ist als eigener Schulbetreiber nicht neutral27, sondern Konkurrent, und gerade in Zeiten des Schülerschwundes und zunehmender Gründungen freier Schulen kann die verschärfte Konkurrenz dazu verleiten, nachteilige Feststellungen aus der Evaluation, z. B. ein niedrigeres Ranking28, in die öffentliche Diskussion zu tragen. Deshalb seien alle freien Schulen nachdrücklich ermutigt, eigene, den schulaufsichtlichen Systemen gleichwertige Evaluationssysteme und -netze aufzubauen.

26 Die Internatsschulen in der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime beginnen z. B. eine gemeinsame Evaluation nach SEIS (s. Erika Risse, Selbstevaluation mit SEIS, R&B 3/06, S. 6 ff.). 27 BVerfGE 88, 40 ff. (C III 1). 28 Zwar beteuern alle Kultusminister, dass Evaluation und Vergleichsarbeiten nicht für ein Ranking eingesetzt werden sollen. In Niedersachsen geschieht es inoffiziell aber doch.

Einstellungen zu Normen aus sprachlicher Sicht Von Rainer Wimmer I. Regeln und Normen Soziale Normen, um die es im Folgenden gehen soll, haben immer mit Sprache zu tun. Die Verhaltens- und Handlungsmuster, die alle Menschen von ihrer frühen Kindheit an im Laufe ihres Lebens unvermeidbar und notwendigerweise lernen, werden normalerweise nicht bewusst reflektiert; es sind „blind“ befolgte Regeln, um eine Formulierung von Ludwig Wittgenstein aufzunehmen. Solche Regeln erwirbt man beispielsweise durch Imitation, meistens zwanglos und gewissermaßen natürlich. Normen sind im Unterschied zu solchen blind und unreflektiert befolgten Regeln mit positiven und negativen Sanktionen (Lob und Tadel) verbunden und auch mit mehr oder weniger unausweichlichen Zwängen. Hinter den Normen stehen Normierer (Normenquellen) mit ihren Interessen, z. B. Eltern, Lehrerinnen, Freunde, Nachbarn, Auftraggeber; und Normen haben mehr oder weniger klare Adressaten, z. B. die Kinder des Nachbarn, Schüler, Bedienstete, Bürger, Steuerzahler. Normen sind im Unterschied zu unreflektiert befolgten Regeln konfliktträchtig, dadurch dass Interessen kollidieren können und dass Haltungen, Einstellungen und Meinungen in einen Gegensatz zueinander geraten können. Konflikte werden in zivilisierten Gesellschaften sprachlichkommunikativ ausgetragen. Die Alternative zum Sprachhandeln wäre pure Gewalt, die unter ethischen Gesichtspunkten aber nicht als menschenwürdig gilt. Normenkonfliktpartner neigen dazu, ihre Normen sprachlich zu formulieren, weil explizite Formulierungen die Bezugnahme auf Normen (und auch Regeln) sowie ihre Charakterisierung, nähere Bestimmung und Fixierung erleichtern. Die meisten Normenkonflikte verlangen geradezu nach expliziten Normformulierungen, weil nur diese eine eingehende Reflexion über die Normen und eine Umsetzung der Normen in Befehle, Anweisungen u. ä. ermöglichen. So sind soziale Normen stets eng mit Sprache und mit sprachlichem Handeln verknüpft. Wenn man aus sprachlicher (und das heißt auch: linguistischer) Perspektive Verhaltens- und Handlungsweisen sowie Einstellungen gegenüber Normen betrachtet, so liegt es durchaus nahe, einen Vergleich mit Normen im Recht anzustellen. Das Recht ist sprachlich; es ist in Sprache gefasst; und es wird sprachlich-kommunikativ vermittelt und durchgesetzt. Ein auffälliger, erhellender und wesentlicher Unterschied zwischen Rechtsnormen und Normen in der Gemein-

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sprache liegt aber darin, dass hinter Rechtsnormen die Staatsgewalt steht. Der Befehlscharakter von Normen, die Normenquellen und die Normadressaten werden dadurch besonders markant. Rechtsnormen sind immer formulierungsgestützt, zumindest in Gesellschaften mit einer Schriftkultur. Die obersten Gerichte entscheiden vor allem auch über Formulierungen der Normen; sie setzen Bedeutungen der sprachlichen Fassungen von Rechtsnormen für den Normbereich der Gesetze fest. Diese Eigenschaften machen Rechtsnormen zu prototypischen Ausprägungen sprachlicher Normen. Die spezifisch normativen Eigenschaften treten in Rechtsnormen besonders deutlich hervor. In der natürlichen Sprache – so wie sie in der Gemeinsprache in Erscheinung tritt – sind nur die wenigsten geltenden und normalerweise befolgten Normen explizit formuliert. Die Normenquellen und die Adressaten sind oft unbestimmt und diffus, so etwa: wenn Eltern ihren Kindern in Anwesenheit von Gästen den Gebrauch sog. Tabuwörter wie Scheiße, Pisse usw. verbieten. Die Sanktionen sind situationsabhängig und liegen im mehr oder weniger freien persönlichen Ermessen der Beteiligten. Wenn von den Beteiligten verlangt würde, Formulierungen für die Normen anzubieten, hätten sie Schwierigkeiten und vor allem würden sie kaum zu einem klaren Konsens unter allen Beteiligten kommen – selbst in einem so einfachen, überschaubaren und schlichten Fall nicht. Sie könnten sich vielleicht schon auf irgendeinen im Handel befindlichen Knigge berufen. Aber ein Blick in eines der vielen Jugendsprachen-„Wörterbücher“ könnte jede Berufung auf einen „Knigge“-Text konterkarieren. Im Kern und von Natur aus ist die natürliche Sprache nicht normativ – unter dem Normbegriff, den ich zu erläutern versucht habe. Normen sind gesellschaftlich (mehr oder weniger explizit) fixierte Konventionen des (sprachlichkommunikativen) Umgangs miteinander. Solche Konventionen sind aufgrund der naturgegebenen Sprachfähigkeit des Menschen, die auf das GegenseitigSich-Verstehen zielt (was etwas anderes ist als Konsensbildung bzw. Verständigung), nicht erforderlich. Man stelle sich folgende halb-fiktionale Situation vor: Captain Cook und seine Mannschaft kommen im 18. Jahrhundert auf eine Südseeinsel. Sie kennen natürlich nicht die gesellschaftlichen Konventionen und erst recht nicht die Sprache der Eingeborenen. Trotzdem stellt sich nach einer Anzahl von Tagen ein rudimentäres, sprachlich-kommunikatives Verstehen ein. Das geht sogar so weit, dass Cook sagen kann: Mit dem Ausdruck/Wort X meinen die Eingeborenen Y. Ein solches Gegenseitig-Sich-Verstehen ist möglich auf der Basis von natürlichen, reziproken Hypothesen: Der Andere will mir (indem er spricht) etwas zu verstehen geben. Und er meint es ernst. Und er glaubt, dass das, was er sagt, für mich relevant ist. Und er denkt, dass die Art und Weise, wie er es sagt, für mich so verständlich/so geeignet ist wie (angesichts der Situation) möglich. – Solche dem natürlichen Sprachgebrauch zugrundeliegenden Hypothesen („Maximen“) sind von dem Philosophen H. P. Grice formuliert worden (vgl. Grice). Er fasst sie auch unter dem Ausdruck Koopera-

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tionsprinzip zusammen. Die dem Verstehen zugrundeliegende Kooperativität des Menschen ist Teil seiner Rationalität. Neurophysiologen sagen uns, dass diese Kooperativität in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns begründet ist (vgl. Bauer). Die hier angedeuteten Einsichten in die naturbedingte Kooperativität des Menschen, die sich in der natürlichen Sprache manifestiert, haben weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Bedeutungen natürlichsprachlicher Ausdrucksformen. Sprachliche Ausdrücke sind in ihren Verwendungsweisen (Bedeutungen) grundsätzlich offen – je nach den Praxen (den Handlungszusammenhängen), in die sie eingebettet sind. Konventionalisierte Bedeutungen (Normen) sind sekundär. Sie entstehen in gewohnheitsmäßigen, gesellschaftlichen Verfestigungen von Praxen. Aber auch in und nach solchen Verfestigungen bleiben die Ausdrucksformen offen in der Interpretation; die Ausdrucksformen sind letztlich nur Hinweise auf Interpretations- und Verstehensmöglichkeiten. Der bedeutungstheoretisch springende Punkt im sprachlichen Verstehen liegt in den oben angeführten Grice’schen Hypothesen bzw. Konversationsmaximen (vgl. Kemmerling). Metaphorisch gesprochen stellen wir bei einem Kommunikationsversuch jeweils ein Räsonnement („Grice’sches Räsonnement“) an (wie Captain Cook), in dem wir nach Informativität, Ernsthaftigkeit/Wahrhaftigkeit, Relevanz und Verständlichkeit suchen. Konventionen, die wir aus der gewissermaßen automatisierten Routine-Kommunikation kennen, mögen dem Verstehen in sehr vielen Fällen dienlich und hilfreich sein. In kritischen Fällen – und in rechtlichen Auseinandersetzungen haben wir es meistens mit kritischen Fällen zu tun – bieten Konventionen (Normen) nicht den letzten Halt und Grund. Jedenfalls sind normative Konventionen nichts außerkommunikativ Gegebenes, das uns wie ein Bedeutungssteinbruch zur Verfügung stünde. „Normativität ist also in der Tat kein Naturprodukt der Sprache, das man abbauen kann wie Bodenschätze“ (Christensen/Kudlich, S. 176). II. Einstellungen zu Normen Man mag mit dem, was kommunikativer Erfolg ist oder was als solcher gilt, sehr viele verschiedene Vorstellungen verbinden. Im Kern spielt wohl immer die entscheidende Rolle, dass die Überzeugungen und das Meinen des Einen auch die Überzeugungen und das Meinen des Anderen werden; oder anders ausgedrückt: dass der Eine vom Anderen verstanden wird. Vieles, was gemeinhin unter einem Kommunikationserfolg verstanden wird, ist Folge dieses Sich-Gegenseitig-Verstehens. Zum Beispiel, dass der Andere das tut, was man will, oder: dass der Andere sagt, was einem gefällt, oder: dass Konsensbildungen über strittige Fragen möglich werden. Normen sind – gemäß dem oben Gesagten – dem kommunikativen Erfolg eher hinderlich. Sie stellen in vielen Fällen Barrieren dar, weil sie konventionalisierte und automatisierte Handlungs- und Sprachgebrauchsmuster zur Geltung

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bringen, die den lebenspraktischen Erfahrungen des jeweils Anderen nicht entsprechen. Natürlich gibt es auch immer wieder den Fall, dass konventionalisierte Normen von Kommunikationspartnern weitgehend geteilt werden. Das mag es vor allem bei Liebenden, Lebenspartnern und engen Freunden geben, aber meistens auch nicht in allen Lagen und Situationen. „Deckungsgleichheit“ von Lebensformen und Lebenserfahrungen wird es wohl nicht geben. In rechtlichen Auseinandersetzungen sind die Konfrontation und die Unvereinbarkeit von Normen der Normalfall. Angesichts der störenden Rolle von Normen ist es für das Erzielen von kooperativen Kommunikationserfolgen wichtig, zu eruieren (auch zu analysieren und zu beschreiben), welche Einstellungen die Kommunikationsbeteiligten zu Normen haben. Das gilt im Großen und im Kleinen. Im Kleinen etwa, wenn sich Lebenspartner darüber unterhalten, wie viel Zeit sie miteinander verbringen können und wie sie dementsprechend ihre Zeitplanung einrichten mögen. Der eine Partner ist es gewohnt, jederzeit darüber Bescheid zu wissen, wo sich der andere Partner aufhält und was er tut. Und er möchte dem anderen Partner nahebringen, diese Norm anzuerkennen; sie ist für ihn unverzichtbar. Der andere Partner ist es dagegen gewohnt, jederzeit über „seine Zeit“ zu verfügen, und zwar „frei“, so dass er oft nicht sagen kann, wann er sich wo aufhält und was er zu einer bestimmten Zeit tut. Wenn die Partner ihre gegenseitige Bindung durch Verstehen verstärken wollten, müssten sie ihre Einstellungen zu den hier in Frage stehenden Normen überprüfen. – Im Großen oder etwas Größeren etwa, wenn sich Nachbarn über die Lärmemission aus gegenüberliegenden Fenstern streiten. Die Nachbarn – wenn sie denn weiter erträglich zusammen leben wollen – werden sich über Normen für die Lärmpegel, aber auch über Normen für Empfindlichkeiten, über gegenseitige Rücksichtnahme usw. unterhalten müssen. Man kann Einstellungen zu und gegenüber Normen unterscheiden nach den Handlungen (vor allem auch Sprechhandlungen), die Menschen machen oder zu denen sie neigen, wenn sie mit Normen umgehen oder wenn sie mit ihnen konfrontiert sind. Charakteristisch sind Sprechhandlungen wie (Normen) rechtfertigen, gutheißen, kritisieren, hinterfragen. Ich unterscheide im Folgenden – mehr oder weniger tentativ – sieben Typen von Einstellungen gegenüber Normen. 1. Normenakzeptierer

Charakteristisch sind (Sprech)handlungsverben wie: akzeptieren, anwenden, ertragen, erleiden, imitieren, pflegen, rechtfertigen, verbreiten, sich anpassen, sich fügen. Wenn Kinder eine Sprache (ihre Muttersprache) lernen, so sind sie mit der Sprache (ihrer Grammatik, ihrem Wortschatz und ihren Verwendungsregeln) konfrontiert wie mit einem Gegenstand, dem sie nicht ausweichen können. Sie können nicht anders als die sprachlichen Regeln, die ihnen von ihren Eltern und anderen als Normen vorgegeben werden, zu imitieren, zu akzeptie-

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ren und anzuwenden. Auch viele Jugendliche und Erwachsene verhalten sich im Bezug auf die Regeln und Normen, mit denen sie leben und kommunizieren, so relativ passiv. Sie neigen zur Pflege und Rechtfertigung dessen, was sie gelernt haben, was ihnen genützt und weitergeholfen hat. Wenn Erwachsene mit Fachsprachen konfrontiert werden, z. B. beim Arztbesuch, in der Autowerkstatt oder in der Rechtsberatung, so neigen sie – natürlicherweise und zu ihrem eigenen Nutzen und Vorteil – auch zu einer solchen rezeptiven Einstellung. 2. Normenverwalter

Charakteristisch sind (Sprech)handlungsverben wie: beschreiben, ordnen, klären, klarstellen, zusammenfassen, dokumentieren, archivieren, weitergeben, vermitteln, belegen, beraten. In Gesellschaften mit komplexen Strukturen bilden sich immer mehr Normen heraus, die auch beschrieben, formuliert und in verschiedenen Arten von Normtexten festgehalten werden. Es entsteht ein differenziertes Spektrum von Berufen, in denen sich die dort Tätigen entsprechenden Aufgaben widmen. Bibliothekare, Dokumentare, Archivare, Medienmanager konservieren Normtexte und Kommentare, die sich auf diese beziehen. Pädagogen und Lehrer formulieren Lehr- und Lernziele, Sprachpfleger verfassen Sprachratgeber und verbreiten und propagieren Normen für den Sprachgebrauch. Rechtspfleger beschreiben (in allgemeinverständlicher Form) wichtige Rechtsnormen und beraten diejenigen, die nicht von Haus aus rechtskundig sind. 3. Normenverteidiger

Charakteristisch sind (Sprech)handlungsverben wie: belegen, rechtfertigen, begründen, zitieren, appellieren. Normen sind – wie gesagt – konfliktträchtig, Sie stoßen in den sich natürlich und evolutionär entwickelnden Lebensformen auf Widerstände. Sie werden abgelehnt, kritisiert, ignoriert. Auseinandersetzungen über Normen rufen Normenverteidigter auf den Plan. Ihre Aufgabe ist es, Normen zu rechtfertigen, sie zu begründen, auf ihre Nützlichkeit hinzuweisen und die mit ihnen verbundenen Ziele zu propagieren. Politiker – zum Beispiel – pochen in ihren öffentlichen Auftritten auf die parteipolitischen Ziele, die sie durch Gesetzesvorhaben „umsetzen“ wollen. Sie versuchen, ihre Aktionen durch Verweis auf die Akzeptabilität des „Erreichten“ zu legitimieren. Oder: Sprachpfleger rechtfertigen in Sprachglossen in den Medien den erreichten Normierungsstandard im (öffentlichen) Sprachgebrauch und warnen vor „Sprachverfall“. 4. Normenverfasser

Charakteristisch sind (Sprech)handlungsverben wie: formulieren, explizieren, erläutern, strukturieren, zitieren, paraphrasieren. Die Normenverfasser bzw.

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-schreiber par excellence sind natürlich die Juristen und Beamten, die Gesetzestexte (Normtexte) schreiben/formulieren und dem Gesetzgeber zur Beschlussfassung vorschlagen. Aber auch im Bezug auf den allgemeinen Sprachgebrauch gibt es natürlich professionelle Normenformulierer wie z. B. Lexikographen, Grammatiker, Stilkundler, Sprachhistoriker, die versuchen, ihr empirisches Material (Äußerungen, Texte, Zitate usw.) zu strukturieren, im Hinblick auf Konventionalisiertes zu sichten und darüber Sprachgebrauchsnormen zu fixieren. Die Normenbeschreibungen können den Normenverteidigern dann wiederum als „Beweise“ dienen. 5. Normendurchsetzer

Charakteristisch sind (Sprech)handlungsverben wie: urteilen, verurteilen, verkünden, befehlen, anweisen, vorschreiben, zensieren, empfehlen, anklagen, appellieren. Solche Handlungen auszuführen ist das Geschäft der Richter, das Geschäft von Gerichten, Behörden und anderen staatlich autorisierten Stellen – auch das Geschäft der Polizei. Durch die Handlungen manifestieren sich die Normen als Instrumente der Herrschaftsausübung. Auch Lehrer setzen natürlich Normen durch, indem sie beurteilen, zensieren, gutachten, belehren usw. 6. Normenkritiker

Charakteristische (Sprech)handlungsverben sind z. B.: analysieren, beschreiben, kritisieren, befragen, hinterfragen, abwägen, reflektieren, bezweifeln, angreifen, diffamieren, offen legen, begründen, rechtfertigen. Wenn sprachliches Verstehen und Kommunizieren von der entsprechenden Struktur und Funktionalität des menschlichen Gehirns her auf Kooperation (in dem oben beschriebenen Sinne) zielt, dann ist Kritik an Normen, die das Verstehen ihrer Tendenz nach immer stören bzw. ihm hinderlich sind, notwendig, um erfolgreich zu kommunizieren. Normenkritik wird oft als in Kauf zu nehmendes Beiwerk der sprachlichen Kommunikation verstanden – dies natürlich vor allem von den Normendurchsetzern. Das Vermögen zur Sprachnormenkritik ist Teil der normalen Sprachkompetenz des Menschen. Bereits Kinder werden im frühkindlichen Spracherwerb ständig mit Korrekturen an ihrem kommunikativen Verhalten und mit normativen Mustern der Erwachsenen konfrontiert; und sie lernen dabei den kritischen Umgang mit Normen. Besonders auffällig ist der normenkritische Schub im Kommunikationsverhalten während der Pubertät. Wesentliche Teilhandlungen des Kritisierens sind das Analysieren, das Beschreiben, das Bewerten und das Begründen. Das wird bei einem flinken Gebrauch von kritisieren und Kritik oft vergessen bzw. unterschlagen. Jeder negativen Bewertung einer Sprechhandlung, einer Konvention oder einer Norm geht eine Wahrnehmung voraus, die beim Wahrnehmenden wenigstens mit dem Be-

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merken einer Abweichung, eines Störenden, eines Konfliktträchtigen verbunden ist. Keiner würde normalerweise alles und jedes kritisieren. Die Wahrnehmung als Kritikanlass wird nur in wenigen Fällen in eine regelrechte Analyse und Beschreibung des Wahrgenommenen übergehen; gezielte Analyse und ausführliche Beschreibung des Sachverhalts wären in den meisten Fällen aber möglich. Ähnlich verhält es sich mit der Beteiligung von Begründungen. Normenkritiker haben ihre Gründe für eine negative Bewertung. Die Gründe werden sie zuweilen – nach Bedarf und Möglichkeit – auch explizieren (können). Sprachkritik ist eine komplexe Handlung (vgl. Wimmer 2003), die als Teil einer Interpretationsbemühung aufgefasst werden kann. Als eine solche stellt sie auch einen Verstehensversuch dar, der letztlich auf eine Erhaltung oder auf eine Wiederherstellung der Kooperativität in der Kommunikation zielt. 7. Normenforscher

Charakteristisch sind (Sprech)handlungsverben wie: analysieren, beschreiben, konzeptionieren, strukturieren, historisieren. Die Konfliktträchtigkeit von Normierungen und Normen führt zu Auseinandersetzungen in allen Bereichen der Gesellschaft, die in irgendeiner Form einer ordnenden Regelung unterliegen, z. B. in der Politik, in der Verwaltung, im Bildungswesen, im Justizwesen, in Industrieunternehmen, in der Familie usw. Dies ruft Normenforscher aus verschiedenen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen auf den Plan, z. B. aus der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Politischen Wissenschaft, der Psychologie, der Sprachgeschichtsforschung, der Lexikographie. Es geht um Bestandsaufnahmen, Analysen, Beschreibungen, die der Orientierung in der Gesellschaft dienen können [vgl. Stegmaier (Hrsg.)]. Die Abgrenzungen zwischen den vorgeschlagenen Einstellungen zu Normen sind nicht trennscharf, was man bereits daran erkennen kann, dass die charakterisierenden Handlungsverben unter verschiedenen Überschriften vorkommen. Starke Trennschärfe ist auch nicht möglich und nicht erstrebenswert, da die Normativität sich in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft evolutionär entwickelt. Gesellschaft entwickelt sich eben nicht nach einem vorgegebenen Schema und nicht entlang prognostizierbarer Grenzlinien. Trotzdem haben die markierten Einstellungen zu Normen jeweils ein gewisses Profil, das auch mit Berufsprofilen zusammenhängt. Rechtspfleger und Sprachpfleger sind vor allem Normenverwalter. Richter sind im Wesentlichen Normendurchsetzer. Die Liste macht deutlich, wie eng Sprache und Recht miteinander verzahnt sind. Es ist eine Binsenwahrheit, dass das Recht sprachförmig ist. Wichtig ist, zu betrachten, wie sich dies im Umgang mit Normen zeigt. Linguisten betrachten die „Sprache des Rechts“ als eine Fachsprache unter anderen, als eine Fachsprache, die ihre Basis selbstverständlich in der Gemeinsprache hat und aus und mit ihr lebt. Die Lexikographen (Normenverfasser) unter den Linguisten mar-

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kieren in ihren Wörterbüchern rechtssprachliche Ausdrücke als „fachspr., jur.“ und stellen die Ausdrücke damit auf eine Ebene mit anderen Fachsprachen. Juristen neigen dagegen oft dazu, für ihre „Rechtssprache“ einen Sonderstatus zu reklamieren, was damit zusammenhängen mag, dass – wie oben erwähnt – in Rechtsverfahren durch Gerichte über die Bedeutungen von Ausdrücken wie Gewalt, Mord, Totschlag, Sache, Diebstahl usw. entschieden wird. Richter (Normendurchsetzer) legen sog. Wortlautgrenzen fest, um zu Entscheidungen zu kommen. In semantischen Theorien von Linguisten spielt der Ausdruck Wortlautgrenze eigentlich keine Rolle, jedenfalls niemals eine wesentliche. Eine krasse Formulierung des juristischen Dominanzanspruchs in Bezug auf den Sprachgebrauch findet sich bei dem Strafrechtler Ulfried Neumann. Er betrachtet Fälle, in denen vor Gericht die gemeinsprachliche Verstehens- und Interpretationskompetenz und die juristisch-fachsprachliche Verstehens- und Interpretationskompetenz kontrovers aufeinander treffen, und er fragt, welche Seite hier die „Kompetenz-Kompetenz“ habe. Für ihn steht fest, dass die KompetenzKompetenz bei den Juristen liegt. Das ergibt sich für ihn „aus der Funktion des Rechts, Deutungsschemata für soziale Handlungen bereitzustellen“ (Neumann, S. 119; vgl. auch Wimmer 1998, S. 20 f.). Es kommt Neumann nicht in den Blick, dass „Deutungsschemata“ – verbunden mit Bräuchen, Sitten, Konventionen und Normen – in allen möglichen Bereichen der Gesellschaft gleichermaßen produziert werden und dass für deren Beschreibung und Formulierung auch – und vielleicht in erster Linie – viele andere Wissenschaften „zuständig“ sind, z. B. die Soziologie, die Literaturwissenschaft, die Philosophie, die Politologie, die Naturwissenschaften, die Wirtschaftswissenschaften, die Ethnologie, die Religionswissenschaften – eigentlich alle Wissenschaften. Eine gewisse Arroganz wird sichtbar. Die Liste der Einstellungen zu Normen gewichtet nicht das unterschiedliche Engagement von Juristen und Linguisten in Normierungsfragen. Normen und Normierungsfragen stehen nicht im Mittelpunkt des Interesses von Linguisten; ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Deskription von Erscheinungsformen von natürlichen Sprachen. Sie wissen, dass natürliche Sprachen weder reine Naturprodukte noch allein von Menschen gemachte Gebilde (Artefakte) sind, sondern Phänomene der „dritten Art“: evolutionär sich entwickelnde Phänomene (vgl. Keller). Sie wissen aus der Sprachgeschichte insbesondere, dass gezielte normative Sprachlenkungsmaßnahmen nur sehr geringen Einfluss auf die Sprachentwicklung haben. Ganz anders das Geschäft der Juristen. Für sie stehen Normtexte im Mittelpunkt des Interesses. Sie sind vorzugsweise als Normenverfasser (Beamte in den Ministerien der Regierung, Parlamentarier, Rechtswissenschaftler, Richter), als Normendurchsetzer (Richter), als Normenverwalter (Rechtspfleger, Anwälte), als Normenverteidiger (Politiker, Richter, Rechtswissenschaftler), als Normenforscher (Rechtshistoriker, Rechtstheoretiker) und als Normenkritiker (Politiker, Rechtswissenschaftler) tätig.

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Für Rechtspositivisten heute sind gesetzte Rechtsnormen das A und O der gesellschaftlichen Ordnung. Rechtsphilosophie ist für sie Normierungsphilosophie. Als Beispiel für diese (extreme) Position möchte ich die Position des Juristen Norbert Hoerster erwähnen. Inwieweit seine Position exemplarisch für die Mehrheit der (positivistisch orientierten) Juristen heute ist, vermag ich nicht abzuschätzen. Es scheint aber so zu sein, dass juristische Methodik und Sprachphilosophie (in ihrer Relevanz für das juristische Zentralmedium Sprache) in der Juristenzunft heute nicht hoch im Kurs stehen, weder in der Ausbildungspraxis noch in der juristischen Alltagspraxis noch in der etablierten Rechtswissenschaft. Bei der Begründung seines Rechtspositivismus hilft Hoerster eine Bedeutungstheorie (Semantik), die natürlichsprachliche Bedeutungen als rein konventionalistisch ansieht. Er sagt: „Die Bedeutung richtet sich nach der Konvention innerhalb der betreffenden Sprachgemeinschaft“ (Hoerster, S. 121). Er unterscheidet strikt zwischen dem „Kernbereich“ und dem „Grenzbereich“ eines gemeinsprachlichen Ausdrucks (er sagt auch „Begriff“ statt „Ausdruck“), und er hält die Grenzbereichsfälle im Erfassen von Bedeutungen für die Ausnahmefälle. Dass der bedeutungstheoretisch springende Punkt beim natürlichsprachlichen Verstehen im Nicht-Konventionellen liegt (wie ich anfangs darzulegen versucht habe), kommt Hoerster nicht einmal ansatzweise in den Sinn. Auch sieht er nicht, dass es in Auseinandersetzungen um sprachliche Bedeutungen vor Gericht im Wesentlichen immer um die „Grenzfälle“ geht. Auch die Normtexte in Gesetzen handeln im Wesentlichen von „Grenzfällen“. Im § 923 BGB geht es nicht um die gemeinsprachliche (vielleicht konventionalisierte) Bedeutung des Lexems Baum, sondern um den „Grenzbaum“. Aus linguistischer Sicht darf man sagen: Eine so krude, empirisch unbegründete und erfahrungsgemäß unplausible Bedeutungstheorie, wie sie Hoerster propagiert, ist (um in den letzten 200 Jahren zu bleiben) seit Wilhelm v. Humboldt über die Linguisten Hermann Paul und Ferdinand de Saussure, über den Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein bis zu den heutigen Semantikern und Sprachphilosophen von reflektierenden Wissenschaftlern nicht vertreten worden. Seine Art der Semantik dient Hoerster dazu, seine Sicht der juristischen Urteilsfindung zu begründen. Bei der Beschreibung der Subsumtion einer Sachverhaltsbeschreibung unter einen Normtext (Gesetzestext) hebt er zwei Tätigkeiten hervor: die Bedeutungsfeststellung der Sachverhaltsbeschreibung (Zuordnung zu einer Rechtsnorm) und den logischen Schluss. „Beide genannten Tätigkeiten kann zweifelsohne auch der Rechtswissenschaftler – in seiner Funktion als Wissenschaftler – ausführen: Er kann zum einen durch empirische Untersuchungen sprachlicher Konventionen die Anwendbarkeit der Rechtsnormen einer Gesellschaft in ihrem Kernbereich erkennen und darstellen. Und er kann zum anderen durch logische Schlüsse ableitbare Konsequenzen der Rechtsnormen einer Gesellschaft erkennen und darstellen sowie eventuell bestehende logische Widersprüche zwischen verschiedenen Rechtsnormen einer Rechtsordnung aufdecken“ (Hoerster,

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S. 123). – Dann braucht man in unserer Gesellschaft keine Linguisten, Sprachphilosophen usw. mehr und auch keine Rechtsmethodiker. Letztere rechnet er wohl zu denen, von denen er despektierlich als „von unseren Rechtswissenschaftlern mit philosophischem Anspruch“ (Hoerster, S. 128) spricht. III. Bemerkungen zur Strukturierenden Rechtslehre In seiner Strukturierenden Rechtslehre entwickelt Friedrich Müller (Müller, 1994) ein differenziertes Bild von (juristischen) Normen und von den Wirkungen von Normen in unserer Gesellschaft. Als Jurist ist er natürlich ein Normenforscher, aber keiner, der Rechtsnormen als etwas von Natur aus Gegebenes ansieht. Er ontisiert die Rechtsnormen nicht, wie es bei Rechtspositivisten üblich ist. Für ihn sind Normen gesellschaftlich – durch die evolutionäre Verfestigung von Lebensformen – produzierte Konventionen, die es zu analysieren, zu beschreiben, in ihrer Wirkungsweise zu untersuchen und zu bewerten gilt. Sein juristisch-methodisches Programm ist ein Programm der Normkonkretisierung. So ist ein wesentlicher Zug der Strukturierenden Rechtslehre, dass sie das ganze Spektrum des Sprachgebrauchs in den Blick nimmt, angefangen von den individualsprachlichen Gebrauchsmustern Einzelner über die Verwendungsregeln in Gruppen bis hin zu gemeinsprachlichen Regeln, die für ganze Sprachen wie das Französische, das Englische, das Japanische und das Deutsche Geltung haben. Schließlich sollen rechtliche Normtexte potentiell für alle (alle!) Geltung beanspruchen können, die in einem Normbereich (einem „Rechtsraum“, z. B. dem Geltungsbereich einer Verfassung) leben und sprachlich handeln, z. B. für alle Bürger eines Staates, für alle Bürger der EU, für Bürger aller Staaten, die Mitglieder der UNO sind. Ich habe verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Normen und Normierungen wegen ihrer Konfliktträchtigkeit nach Begründungen und Rechtfertigungen verlangen. Dabei reichen die Gründe und Rechtfertigungen, die Gesetzgeber beim Herstellen und Verfassen von Normtexten haben, keineswegs aus. Rechtsunterworfene Bürger erwarten zu Recht immer wieder während der Geltungsdauer einer Rechtsnorm, dass Gründe angesprochen, diskutiert und hinterfragt werden, dass Rechtfertigungen bestätigt und/oder erneuert werden. Sie wollen einen Zusammenhang zu ihren alltäglichen Lebensformen und Lebensumständen hergestellt sehen. Sie wollen die Relevanz dessen, was der Gesetzgeber ihnen „sagt“, erleben (vgl. die Konversationsmaximen oben unter I.). Die Strukturierende Rechtslehre lässt sich auf diese Anforderungen nicht nur ein, sie macht sie zu einem wesentlichen Teil ihres Strukturierungsplans. Friedrich Müller entwickelt damit eine realistische Konzeption des Zusammenhangs zwischen der von Bürgern alltagsweltlich erfahrenen Wirklichkeit und den normativen Anforderungen des Rechts. Zur Strukturierenden Rechtslehre gehört eine linguistisch avancierte Bedeutungstheorie, die der Wirklichkeit des Sprachgebrauchs und des Sprechhandelns

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in der Gesellschaft gerecht werden kann. Es wundert daher nicht, dass die Strukturierende Rechtslehre die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften sucht, die die (sprachliche) Lebenswirklichkeit untersuchen und beschreiben: „Daß strukturierende Methodik und Rechtslehre auch auf andere Wissenschaften und deren Methoden verweisen, gehört gerade zu den Eigenschaften, die sie als nach-positivistisch bezeichnen lassen. Der, immer noch fortwirkende, Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts blieb mit seinem illusionären Pochen auf ,rein juristische‘ Argumente gegenüber der Realität der gesellschaftlichen Vorgänge von Rechtsproduktion und Rechtsdurchsetzung auf dramatische Weise unterkomplex“ (Müller 1997, S. 330). Für Müller ist das juristische Handeln eine semantische Praxis, die die Gebrauchsweisen von sprachlichen Ausdrücken in allen (allen!) Texten in den Blick nimmt, die in einem Rechtsverfahren eine Rolle spielen (von Texten, die betroffene Bürger zu Protokoll geben, über Schriftsätze der verschiedensten Art und Urteilstexte bis zu Normtexten und den diese Normtexte stützenden historischen Dokumenten). Die semantische Praxis der Strukturierenden Rechtslehre stützt sich deshalb nicht nur auch auf eine philosophische Semantik der Lebensformen und eine praktisch-pragmatische, linguistische Semantik der Gemeinsprache, sondern sie arbeitet mit und in den Konzepten dieser Theorien/Sprachtheorien. Der Rechtspositivismus (vgl. Hoerster) musste die vermeintlichen Unbestimmtheiten und Vagheiten der natürlichen Gemeinsprache als Defekte sehen. Für die Strukturierende Rechtslehre „läßt sich das Scheitern des positivistischen Modells an den sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit nicht länger über Mängel oder Unzulänglichkeiten der Sprache rechtfertigen. Vielmehr ist die Vieldeutigkeit und Beweglichkeit, mit der sich die Sprache jeder geschlossenen Herrschaftsordnung entzieht, eine positive Voraussetzung dafür, daß man eine unabgeschlossene Fülle praktischer Streitfragen anhand der wenigen vom Gesetzgeber hergestellten Normtexte überhaupt diskutieren kann. Statt von den Bedingungen des Subsumtionsmodells her Sprachtheorie zu betreiben, sollte man also die Bindungen richterlichen Handelns in den realen Argumentationsvorgängen alltäglicher Rechtsarbeit einfordern“ (Müller/Christensen/Sokolowski, S. 31). Der „Rechtsarbeiter“ ist ein Textarbeiter, der bei der Bearbeitung eines konkreten Falls eine ganze Reihe von Arbeitsschritten zu machen hat, um einen begründbaren und verantwortbaren Zusammenhang zwischen der Wirklichkeit und einem vorliegenden Normtext/Gesetzestext herzustellen. Mindestens folgende Arbeitsschritte sind notwendig (vgl. die Übersicht in Müller 1994, S. 434): a) Faktenhypothesen werden mit Normtexthypothesen in Zusammenhang gebracht. Fragen sind z. B.: Wie ist der Sachverhalt – auch aus der Sicht der betroffenen Bürger/innen – zu beschreiben? Welche juristischen Normtexte können/müssen mit der Sachverhaltsbeschreibung in Zusammenhang gebracht werden? b) Normprogrammhypothesen. Das Normprogramm nimmt das rele-

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vante juristische Wissen zu dem Fall in den Blick. Es können relevant werden: verschiedene Normtexte, die Rechtssystematik, die Genese des Normtextes, die Rechtsgeschichte, die Teleologik des Normtextes, Methodenfragen, die Rechtsdogmatik, die Verfassungstheorie, die Rechtspolitik. c) Normbereichsanalyse. Wie steht es mit der gesellschaftlichen Reichweite der relevanten Normtexte? Die Reichweitenfrage erlangt ganz neue Dimensionen im Europarecht (vgl. Müller/Christensen 2003). d) Die Herstellung einer Rechtsnorm für den konkreten Fall. e) Die Entscheidung des Falls. – Die Normkonkretisierung – bezogen auf einen konkreten Fall – ist demnach ein recht komplexer Vorgang. Er muss so sein, wenn er den Wirklichkeitsanforderungen gerecht werden will. ThomasM. Seibert schreibt zu der Strukturierenden Rechtslehre Friedrich Müllers: „Die Theorie hat damit zwei früher unbekannte Bereiche entdeckt: zum einen die tatsächliche juristische Arbeit, so wie sie sich im Berufsalltag als Geschäft jeden Praktikers darstellt, und zum anderen die Herausarbeitung und Empfehlung von Arbeitsschritten, die eine größtmögliche Rationalität in dieser Arbeit ermöglichen“ (Seibert, S. 120 f.). Für die Strukturierende Rechtslehre sind von ihrem Ansatz her alle unter II aufgeführten Einstellungen zu Normen relevant. Es ist geradezu ein Markenzeichen der Strukturierenden Rechtslehre, dass sie das gesamte Spektrum des Umgangs mit Normen im Blick hat. Es ergeben sich jedoch naturgemäß Interessenschwerpunkte, und zwar zum einen aufgrund der immer notwendigen Begrenzung des (wissenschaftlichen) Gegenstands, zum anderen aufgrund der wissenschaftlichen Situation, in der sich die Strukturierende Rechtslehre befindet. Was den ersten Punkt angeht: Die Strukturierende Rechtslehre ist eine Rechtstheorie und eine Methodenlehre, die in ihrem theoretischen Blick und in ihren methodischen Absichten aber ganz eng an der juristischen Alltagspraxis orientiert ist. Letzteres sollte durch das Vorangehende deutlich geworden sein. Theorie und Methodik müssen die Arbeit von Normenverwaltern, Normenakzeptierern und Normendurchsetzern (beispielsweise) aber weitgehend ausblenden. Auch bei solchen Einschränkungen finden in der „Rekonstruktion des juristischen Sprachspiels“ (Forgó/Somek, S. 285) entlang der Konzepte Norm, Normtext, Normbereich und Normprogramm alle nur denkbaren Handlungen in Bezug auf Normen Berücksichtigung. Was den zweiten Punkt angeht: Wissenschaftsgeschichtlich stehen Friedrich Müller und seine „Schule“ (vgl. Forgó/Somek, S. 285) im Zusammenhang des „nachpositivistischen Rechtsdenkens“. Ein solches Rechtsdenken muss viel Kraft und Arbeit darauf konzentrieren, sich mit dem fortwirkenden und in vielen Bereichen des juristischen Handelns dominierenden Rechtpositivismus auseinanderzusetzen. Mit scheint es sehr plausibel, dass der Rechtspositivismus in unserer Gesellschaft immer wieder erneuert und gestärkt wird durch die Herrschafts- und Machtbindung des Rechts. „Vermachtung und Kommodifizierung zählen zu den Existenzbedingungen des Rechts“ (Somek, S. 17). Unter „Kommodifizierung“ sind die Ökonomisierung und Ver-

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marktung (Vermarktung z. B. von Rechtsgutachten) des Rechts zu verstehen. Dagegen die konfliktbewältigende Kommunikation und die soziale Integration zu setzen – wie Friedrich Müller es tut – ist ein anstrengendes und zeitraubendes Geschäft. Nikolaus Forgó und Alexander Somek haben die Fragen aufgeworfen: „Und wie hält es das nachpositivistische Rechtsdenken mit der Moral? Ist der Anspruch auf kritische Nachfolge des Positivismus nicht notwendig begleitet von einem Bekenntnis zum moralischen Relativismus?“ (Forgo/Somek, S. 287). Die Relativismusfrage halte ich für sekundär, weil zu formal und wenig substantiell. Einer Position Relativismus vorzuhalten ist ein Leichtes; man muss nur die geeigneten Bezugspunkte und die dazugehörenden Relationen finden. Festigkeit oder gar Dogmatismus begründen noch keinen Standpunkt. Die wichtigere Frage ist: Wie kann man einen moralischen Standpunkt begründen? Und dazu kann man m. E. in Bezug auf die Strukturierende Rechtslehre etwas sagen. Ich habe anfangs auf das Grice’sche Kooperationsprinzip und die dieses Prinzip erläuternden Konversationsmaximen hingewiesen. Das Prinzip und die Maximen spezifizieren die naturgegebene Reziprozität im Gegenseitig-Sich-Verstehen und beschreiben das, was in der Philosophiegeschichte (besonders seit Kant) als gegenseitige Achtung und Anerkennung (vgl. auch Honneth) gekennzeichnet worden ist. Die Grice’schen Konversationsmaximen können als Basisprogramm einer kommunikativen Ethik verstanden werden. Sie geben an, was es heißt, in der sprachlichen Kommunikation auf das Gegenseitig-Sich-Verstehen zu setzen und den jeweils Anderen dabei als ebenfalls mit Verstehenspotential und Verstehensorientierung ausgestatteten Menschen anzuerkennen. Eine solche kommunikative Ethik liegt der Strukturierenden Rechtslehre zugrunde. Das zeigt sich z. B. an verschiedenen Orten der Theorie dieser Rechtslehre. Beispielsweise in der Semantik: Die Bedeutungstheorie der Strukturierenden Rechtslehre lehnt die konventionalistisch-normative (positivistische) Bedeutungsauffassung ab. Sie vertritt im Wittgensteinschen Sinne die Auffassung von der grundsätzlichen Offenheit der Bedeutungen; sie ist verstehensorientiert. Oder in der Normkonkretisierung: Wie ich verschiedentlich betont habe, nimmt die Strukturierende Rechtslehre die Äußerungen und Texte aller (aller!) in der Gesellschaft am Recht Beteiligten in den Blick, und zwar grundsätzlich gleichermaßen. In der anthropologischen Ethik Ernst Tugendhats ist der Symmetriebegriff zentral. Symmetrie im gesellschaftlichen Handeln meint: „Nicht einer entscheidet und bestimmt, sondern alle entscheiden gemeinsam, und das heißt daß alle gleichermaßen dazu beitragen, wie gehandelt wird. Hier hat nach meiner Meinung der Gleichheitsbegriff seinen Ursprung. Ist das richtig, dann heißt das, die Gleichheit hat ihren Ursprung darin, daß es diese Möglichkeit gibt (und daß wir diese Möglichkeit positiv bewerten können), daß die gemeinsame Handlung nicht durch Macht entschieden wird“ (Tugendhat, S. 144). Tugendhats Ethik hat das Attribut anthropologisch, weil sie ohne metaphysische oder religiöse

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Begründungen (auch ohne den idealisierenden Vernunftbegriff Kants) auskommt. Sie beruht auf der Analyse der (menschlichen) Gesellschaft. Tugendhat sieht die Symmetrie im menschlichen Handeln als einen „anthropologischen Grundtatbestand“ [Tugendhat in: Scarano/Suàrez (Hrsg.), S. 292]. Wer in einer Gesellschaft mit einem anderen eine Gemeinschaft eingeht, hat aufgrund seines Willens – nach Tugendhat – grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder er handelt autoritativ-machtbestimmt oder er handelt symmetrisch. Ethisch ist der Möglichkeit der Symmetrie der Vorzug zu geben. Tugendhat erläutert: „Wer diese Möglichkeit einer symmetrischen Gemeinsamkeit leugnet, sollte von Gerechtigkeit überhaupt nicht sprechen, denn unter einer gerechten Beziehung zwischen mehreren meinen wir einfach, daß ihr Verhältnis zueinander nicht machtbestimmt ist“ [Tugendhat in: Scarano/Suàrez (Hrsg.), S. 293]. – Ich möchte sagen, dass der Strukturierenden Rechtslehre Friedrich Müllers eine Ethik im Sinne Tugendhats zugrundeliegt. Wie differenziert und ethisch sensibel Friedrich Müller die Kommunikation in der Gesellschaft wahrnimmt, zeigt sich auch in den von ihm publizierten Gedichten. Ich möchte schließen, indem ich ein Gedicht zitiere (Müller 1991, S. 23): ich wohne in einer korrekten Straße die Prostituierte im Nebenhaus von der das Bürgersöhnchen dem dies Haus gehört das ich bewohne sagt sie sei eine Prostituierte er finde das aber sehr gut es sei hochinteressant sich mit ihr zu unterhalten wohnt in einer korrekten Straße

Literatur Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, 2. Aufl., Hamburg 2006. Christensen, Ralph/Kudlich, Hans: Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001. Forgó, Nikolaus/Somek, Alexander: Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Sonja Buckel, Ralph Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 2006, S. 263–289. Glüer, Kathrin: Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung, Berlin 1999. Grice, Herbert Paul: Logik und Konversation, in: Georg Meggle (Hrsg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt a. M. 1979, S. 243–265. Hoerster, Norbert: Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München 2006.

Einstellungen zu Normen aus sprachlicher Sicht

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Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992. Keller, Rudi: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, 2. Aufl., Tübingen 1994. Kemmerling, Andreas: Der bedeutungstheoretisch springende Punkt sprachlicher Verständigung, in: Geert-Lueke Lueken (Hrsg.): Kommunikationsversuche. Theorien der Kommunikation, Leipzig 1997, S. 60–106. Müller, Fedja: Gedichte vom Zustand, Trier 1991. Müller, Friedrich: Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., Berlin 1994. – Juristische Methodik, 7. Aufl., hg. von Ralph Christensen, Berlin 1997. Müller, Friedrich/Christensen, Ralph: Juristische Methodik. Bd. I: Grundlagen. Öffentliches Recht, 8. Aufl., Berlin 2002; Bd. II: Europarecht, Berlin 2003. Müller, Friedrich/Christensen, Ralph/Sokolowski, Michael: Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997. Neumann, Ulfried: Juristische Fachsprache und Umgangssprache, in: Günther Grewendorf (Hrsg.): Rechtskultur als Sprachkultur. Zur forensischen Sprachanalyse, Frankfurt a. M. 1992. Scarano, Nico/Suárez, Mauricio (Hrsg.): Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen, München 2006. Seibert, Thomas-M.: Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semantik des Rechts, Berlin 1996. Somek, Alexander: Rechtliches Wissen, Frankfurt a. M. 2006. Stegmaier, Werner (Hrsg.): Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt a. M. 2005. Tugendhat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007. Wimmer, Rainer: Zur juristischen Fachsprache aus linguistischer Sicht, in: Sprache und Literatur, Heft 81/1998, S. 8–23. – Wie kann man Sprachkritik begründen? In: Angelika Linke/Hanspeter Ortner/Paul R. Portmann-Tselikas (Hrsg.): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis, Tübingen 2003, S. 417–450.

Lebenslauf von Friedrich Müller Geboren am 22. Januar 1938. Studium in Erlangen-Nürnberg und Freiburg im Breisgau. Erste und Zweite Juristische Staatsprüfung 1962 und 1967. Promotion zum Dr. iur. 1964 in Freiburg i. Br. Habilitation ebd. 1968. Venia legendi für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht, Rechts- und Staatsphilosophie, Rechtstheorie. 1968 bis 1971 Privat- und Universitätsdozent in Freiburg i. Br. Seit 1971 Lehrstuhl an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg. 1973 bis 1975 Leiter der Fachgruppe Öffentliches Recht. 1974/75 und 1979/ 80 Dekan der Juristischen Fakultät. Seit 1989 freier Forscher und wissenschaftlicher Publizist. Internationale Lehr- und Forschungstätigkeit, vor allem in Südafrika und Brasilien. Seit 1998 Gastprofessor am Department of Public Law, University of Stellenbosch (Province of Western Cape). Seit 2000 Research Fellow an der University of Stellenbosch. Seit 2002 Gastprofessor im Pós-Graduação an der Universidade de Fortaleza (UNIFOR), Ceará-Brasilien. Seit 2003 freier Berater der Bundesregierung in Brasília. Zugleich Lyriker, Prosaist, Übersetzer und Cineast. Veröffentlicht seit Anfang der 80er Jahre Gedichte und Prosa. Er war u. a. Mitherausgeber der literarischen Zeitschrift „Van Goghs Ohr“.

Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller (Stand: März 2007) I. Selbstständig erschienene Schriften Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz Berlin 1965, 370 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 21) Schulgesetzgebung und Reichskonkordat. Freiburg/Basel/Wien 1966, 150 S. Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, Berlin 1966, 232 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 8) Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Berlin 1968, 34 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 82) Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik. Berlin 1969, 106 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 100) Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, Berlin 1969, 161 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 102) Entfremdung. Zur anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx, Berlin 1970, 91 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 22) – dass., Japanische Ausgabe, übersetzt von Masanori Shimizu und Michio Yamamoto, Tokyo 1974 (Fukumura Shuppansha) Juristische Methodik. Berlin 1971, 202 S. Strafverfolgung und Rundfunkfreiheit. Eine Fallstudie zum strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrecht der Rundfunkangehörigen (mit B. Pieroth, F. Rottmann), Berlin 1973, 86 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 222) Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach. Eine Fallstudie zu den Verfassungsfragen seiner Versetzungserheblichkeit (mit B. Pieroth), Berlin 1974, 132 S. (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Band 4) Fallanalysen zur juristischen Methodik, Berlin 1974, 87 S. Recht-Sprache-Gewalt. Elemente einer Verfassungstheorie I, Berlin 1975, 43 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 39) – dass., Chinesische Ausgabe, übersetzt von Senrong Lin, Taipei 1986 – dass., Brasilianische Ausgabe, übersetzt von Peter Naumann, Porto Alegre 1995 – dass., 2. Auflage, in: Escritos, Sao Paulo 2004

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Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller

Politische Freiheitsrechte der Rundfunkmitarbeiter (mit B. Pieroth), Berlin 1976, 93 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 292) Juristische Methodik, 2., neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 1976, 327 S. Juristische Methodik und Politisches System. Elemente einer Verfassungstheorie II, Berlin 1976, 127 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 51) Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik. Beiträge zu Öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- und Staatstheorie, Berlin 1977, 300 S. Die Einheit der Verfassung. Elemente einer Verfassungstheorie III, Berlin 1979, 268 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 76) Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz als Maßstab für Gesetzgebung und Exekutivpraxis der Länder, Berlin 1980, 378 S. (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Band 12) Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie. Untersucht an der staatlichen Förderung Freier Schulen (mit B. Pieroth, L. H. Fohmann), Berlin 1982, 329 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 406) Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz, 2., bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 1982, 537 S. (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Band 12) Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984, 457 S. – dass. (brasilianische Ausgabe), Teoria Estruturante do Direito, Vol. I, übersetzt von Eurides Avance de Souza und Peter Naumann, Sao Paulo 2007 Entfremdung. Folgeprobleme der anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx, 2., bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 1985, 234 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 22) ,Richterrecht‘. Elemente einer Verfassungstheorie IV, Berlin 1986, 140 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 119) Zukunftsperspektiven der Freien Schule. Dokumentation, Diskussion und praktische Folgen des Finanzhilfe-Urteils des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.), Berlin 1988, 240 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 529) Juristische Methodik, 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 1989, 344 S. Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik (Hrsg.), Berlin 1989, 244 S. (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 133) Fallanalysen zur juristischen Methodik, 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 1989, 95 S. Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, 2., erweiterte Auflage, Berlin 1990, 151 S. (Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 100)

I. Selbstständig erschienene Schriften

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Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, herausgegeben von Ralph Christensen, Berlin 1990, 235 S. Juristische Methodik, 4., neu bearbeitete Auflage, Berlin 1990, 345 S. Juristische Methodik, 5., auf neuestem Stand bearbeitete und ergänzte Auflage, Berlin 1993, 351 S. Strukturierende Rechtslehre, 2., vollständig neu bearbeitete und ergänzte Auflage, Berlin 1994, 464 S. Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes. Elemente einer Verfassungstheorie V (herausgegeben von Klaus Rohrbacher), Berlin 1995, 91 S. Juristische Methodik, 6., erweiterte und neu bearbeitete Auflage, Berlin 1995, 382 S. Direito – Linguagem – Violência. Elementos de uma teoria constitucional I. Traducão de Peter Naumann. Revisão de Paulo Bonavides e Willis Guerra Santiago Filho, Porto Alegre 1995 (Sergio Antonio Fabris Editor) Zukunftsperspektiven der Freien Schule. Dokumentation, Diskussion und praktische Folgen seit dem Finanzhilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg., mit Bernd Jeand’Heur), 2., bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 1996, 274 S. (Schriften zum öffentlichen Recht, Band 529) Discours de la Méthode juridique. Traduit et présenté par Olivier Jouanjan, Paris 1996 (Presses Universitaires de France) Rechtstext und Textarbeit (mit Ralph Christensen, Michael Sokolowski), Berlin 1997, 197 S. Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie – Elemente einer Verfassungstheorie VI (herausgegeben von Ralph Christensen), Berlin 1997, 62 S. Juristische Methodik, 7., stark erweiterte und bearbeitete Auflage (herausgegeben von Ralph Christensen), Berlin 1997, 443 S. Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995–1997), herausgegeben von Ralph Christensen, Berlin 1997, 92 S. Quem é o Povo? A Questao Fundamental da Democracia (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), Sao Paulo 1998 (Max Limonad) Métodos de Trabalho do Direito Constitucional (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann; Einleitung von Paulo Bonavides), Porto Alegre 1999 (Síntese; Edicao especial da Revista da Faculdade de Direito da UFRGS) Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur (Hrsg., mit W. Erbguth, V. Neumann), Berlin 1999, 448 S. Quem é o Povo? A Questao Fundamental da Democracia, 2. Aufl., Sao Paulo 2000 (Max Limonad) Métodos de Trabalho do Direito Constitucional, 2., bearbeitete Auflage, Sao Paulo 2000 (Max Limonad) Que Grau de Exclusao Social ainda pode ser tolerado por um Sistema Democrático? (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), Porto Alegre 2000,

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Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller

(Unidade Editorial da Secretaria Municipal da Cultura – Revista da ProcuradoriaGeral, Edicao Especial) Demokratie in der Defensive. Funktionale Abnutzung – soziale Exklusion – Globalisierung. Elemente einer Verfassungstheorie VII, Berlin 2001, 96 S. Neue Studien zur Rechtslinguistik (Hrsg., mit R. Wimmer), Berlin 2001, 256 S. Juristische Methodik, Band I: Grundlagen. Öffentliches Recht, 8., neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage (mit Ralph Christensen), Berlin 2002, 546 S. Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht. Nationale, staatlose und globale Formen menschenrechtsgestützter Demokratisierung. Elemente einer Verfassungstheorie VIII, Berlin 2003, 152 S. Quem é o Povo? A Questao Fundamental da Democracia, 3., bearbeitete und erweiterte Auflage, Sao Paulo 2003 (Max Limonad) Juristische Methodik, Band II: Europarecht (mit Ralph Christensen), Berlin 2003, 507 S. Métodos de Trabalho do Direito Constitucional, 3., bearbeitete und erweiterte Auflage, Rio de Janeiro 2004 (Renovar) Juristische Methodik, Band I: Grundlagen. Öffentliches Recht (mit Ralph Christensen), 9., neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 2004, 639 S. Rechtssprache Europas. Reflexion der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht (Hrsg., mit I. Burr), Berlin 2004, 419 S. Fragmento (sobre) O Poder Constituinte do Povo (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), Sao Paulo 2004 (Revista dos Tribunais) Rechtstext und Textarbeit (mit Ralph Christensen, Michael Sokolowski), koreanische Ausgabe, Seoul 2005 Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts/Métodos de trabajo del Derecho constitucional (zweisprachige Ausgabe), Madrid 2006 (Marcial Pons, Ediciones Jurídicas y Sociales) Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts (Hrsg.), Berlin 2007 (i. E.) Die Einheit der Verfassung – Kritik des juristischen Holismus. Elemente einer Verfassungstheorie III, 2., erweiterte Auflage, Berlin 2007, 276 S. Juristische Methodik, Band II, Europarecht (mit Ralph Christensen), 2., stark erweiterte Auflage, Berlin 2007, 622 S. O Novo Paradigma do Direito. Introducao à Teoria e Metódica Estruturantes do Direito, Sao Paulo 2007 Democracia entre Direito Nacional e Direito Mundial, Sao Paulo 2007 Avant Dire Droit (mit Olivier Jouanjan), Québec 2007

II. Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften

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II. Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften Landesverfassung und Reichskonkordat. Fragen der Schulform in Baden-Württemberg, Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt 1965, S. 177 ff. Mittelbare und unmittelbare Sachkosten der unteren Verwaltungsbehörde, Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt 1966, S. 39 f. Zur Christlichen Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Fragen der Rechtsgültigkeit des verfassungsändernden Gesetzes vom 8. Februar 1967, Deutsches Verwaltungsblatt 1968, S. 98 ff. Zur Problematik der Antragsbefugnis der Diözesen im verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren (Bemerkungen zum Beschluß des VGH Baden-Württemberg vom 14.2.1967 – IV 777/66 – DÖV 1967, S. 309), Die Öffentliche Verwaltung 1968, S. 67 ff. Rechtsschutz und objektive Rechtskontrolle. Zur Funktion der behördlichen Antragsbefugnis im Verfahren nach § 47 Verwaltungsgerichtsordnung, Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt 1969, S. 65 ff. Neue Verfassungsprobleme im Schulrecht Baden-Württembergs. Vorfragen zur Auslegung des Art. 15 Abs. 1 der Landesverfassung, Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt 1969, S. 49 ff. Christliche Gemeinschaftsschule und weltanschauliche Neutralität des Staates, Die Öffentliche Verwaltung 1969, S. 441 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 63 ff. Strafrecht, Jugendschutz und Freiheit der Kunst. Fragen zur Begrenzung vorbehaltlos verbürgter Grundrechte, Juristenzeitung 1970, S. 87 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 75 ff. Fragen einer Theorie der Praxis, Archiv des öffentlichen Rechts 95 (1970), S. 154 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 128 ff. Vorverfahren und Untätigkeitsklage. Bemerkungen zur Kontroverse um die Auslegung von § 76 Verwaltungsgerichtsordnung, Neue Juristische Wochenschrift 1970, S. 1073 ff. Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Vol. LVI/4 (1970), S. 493 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 257 ff. Staatslehre und Anthropologie bei Karl Marx, Archiv des öffentlichen Rechts 95 (1970), S. 513 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 242 ff. – dass., Übersetzung ins Japanische von Masanori Shimizu und Michio Yamamoto, in: Sogai to kokka, Tokyo 1974, S. 159–182 Der Denkansatz der Staatsphilosophie bei Rousseau und Hegel, Der Staat 10 (1971), S. 215 ff.

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Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller

– dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 229 ff. Zugang zu öffentlichen Ämtern und verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbote, Blätter für deutsche und internationale Politik 1972, S. 134 ff. – dass. in: Wortlaut und Kritik der verfassungswidrigen Januarbeschlüsse, Köln 1972, S. 39 ff. – dass. in: H. Knirsch/B. Nagel/W. Voegeli (Hrsg.), „Radikale im öffentlichen Dienst“, Frankfurt am Main 1973, S. 125 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 95 ff. Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, in: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden Bd. 11, München und Wien 1972, S. 123 ff. – dass. in: Hans-Joachim Koch (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, Frankfurt am Main 1977, S. 508 ff. (gekürzt) – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 145 ff. Jenseits der Verfassung. Konkordatsprofessuren am Maßstab des Grundgesetzes, Demokratie und Recht 1976, S. 175 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 110 ff. Grundlinien der juristischen Methodik, in: Probleme der Verfassungsinterpretation, herausgegeben von R. Dreier und F. Schwegmann, Baden-Baden 1976, S. 248 ff. Rechtsgefühl oder Rechtsmethodik?, Archiv des öffentlichen Rechts 101 (1976), S. 270 ff. Rechtsstaatliche Methodik und politische Rechtstheorie, RECHTSTHEORIE 8 (1977), S. 73 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 271 ff. Nachschrift zur Freiheit der Kunst sowie zur Normbereichsanalyse und Rechtspolitik, in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 90 ff. Nachschrift zur Radikalenfrage, in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 105 ff. Gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (mit B. Pieroth), in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Öffentlichen Recht, Neuwied und Darmstadt 1981, S. 213 ff. Verfassungsmäßigkeit des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr (mit B. Pieroth), in: ebd., S. 228 ff. Noch einmal: Die Grundrechte des Grundgesetzes, in: Juristische Schulung 1981, S. 643 f. Zur Verfassungsmäßigkeit staatlicher Prüfungsordnungen für anerkannte Ersatzschulen (mit M. Kromer), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1984, S. 77 ff. Richterrecht – rechtstheoretisch formuliert, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Erscheinungsformen, Auftrag, Grenzen. Festschrift der juristischen Fakultät zur 600-JahrFeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, herausgegeben von den Hoch-

II. Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften

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schullehrern der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, Heidelberg 1986, S. 65 ff. Ist eine marxistische Rechtstheorie möglich? Ein Streitgespräch zu Rousseau, Marx und Bloch (mit J. Perels), Bloch-Almanach, 6. Folge (1986), S. 65 ff. – dass. in: Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, Berlin 1990, S. 64 ff. Artikel „Einheit der Rechtsordnung“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, herausgegeben von N. Achterberg, Darmstadt, Neuwied 1986, 2/80 – dass. in: Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, Berlin 1990, S. 23 ff. Artikel „Positivismus“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, herausgegeben von N. Achterberg, Darmstadt, Neuwied 1986, 2/400 – dass. in: Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, Berlin 1990, S. 5 ff. Entsprechungen zwischen Rechtstheorie und Sprachtheorie: Strukturierende Rechtslehre und praktische Semantik, in: III. Congresso Brasileiro de Filosofia do Direito. Conferências, Paraîba 1988, S. 181 ff. Diskussionsbeiträge, in: Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S. 189, 190, 192, 196 f., 200 ff., 204 ff., 213 ff., 217 f., 221 f., 225 f. Gleichheit und Gleichheitssätze. Kleines Triptychon für Helmut Ridder, in: Festschrift für Helmut Ridder, Darmstadt, Neuwied 1989, S. 159 ff. – dass. in: Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, Berlin 1990, S. 197 ff. Tesis acerca de la estructura de la normas jurídicas (Spanisch, traducción: Luis Villacorta Mancebo), in: Revista Española de Derecho Constitucional 1989, S. 111 ff. Strafrecht, Jugendschutz und Freiheit der Kunst. Fragen der Begrenzung vorbehaltlos verbürgter Grundrechte (Japanisch, übersetzt von Kunihiro Onodera und Kentaro Shimazaki), in: Journal of Saitama University. Social Science, Vol. 41, Tokyo 1993, S. 51–75 Thesen zur Struktur von Rechtsnormen (Koreanisch, übersetzt von Hee-Yol Kay), in: Hee-Yol Kay (Hrsg.), Verfassungsinterpretation, Corea University Press, Seoul 1993, S. 252 ff. Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik (Koreanisch, übersetzt von Hee-Yol Kay), in: ebd., S. 270 ff. Juristische Methodik – Ein Gespräch im Umkreis der Rechtstheorie, Verwaltungsrundschau 1994, S. 133 ff. Concepções modernas e a interpretação dos Direitos Humanos, in: Teses de XV Conferência Nacional da Ordem dos Advogados do Brasil, Foz do Iguaçu 1994, S. 100–106 Thesen zur Grundrechtsdogmatik (Japanisch, übersetzt von Kunihiro Onodera und Kentaro Shimazaki), in: Journal of Saitama University/Liberal arts/Vol. 13, 1994, S. 145 ff. Interpretação e concepções atuais dos Direitos do Homen (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Anais da XV Conferência Nacional da Ordem dos Advogados do Brasil, Sao Paulo 1995, S. 535–545

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Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller

La Lingua del Diritto. Atti del Primo Convegno Internazionale „La lingua del Diritto“ dell’ Università Bocconi herausgegeben von L. Schena, Milano 1996, Roma 1997, S. 88 ff. Préface à l’édition francaise (Französisch, übersetzt von Olivier Jouanjan), in: Friedrich Müller, Discours de la Méthode Juridique, Paris 1996 (Presses Universitaires de France), S. 25 ff. A Questao Central da Democracia: Quem è o Povo? (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Livro de Teses, Tema 1: As Transformacoes da Sociedade e do Estado, XVI Conferência Nacional dos Advogados, Fortaleza-Ce 1996, S. 7 ff. Übersetzung von: Paulo Bonavides, Die Entpolitisierung der Legitimität (A Despolitizacao da Legitimidade) (mit Peter Naumann), Der Staat 1996, S. 583 ff. Fundamentos Atuais da Democracia: Cidadania e Participacão (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Anais da XVI Conferência Nacional dos Advogados, Sao Paulo 1997, S. 57 ff. Bernd Jeand’Heur, Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 1549 Kleiner Metatext, in: Friedrich Müller, Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie, Berlin 1997, S. 14 f. – dass. (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Quem é o Povo? Sao Paulo 1998, S. 44 ff. – Ebd., 2. Auflage 2000; 3. Auflage 2003 Testo Giurudico e Lavoro sul Testo nella Strukturierende Rechtslehre (mit Ralph Christensen), in: Ars Interpretandi. Annuario di ermeneutica guirida/Journal of legal hermeneutics, Vol. 2: Testo e Diritto/Text and Law, Mailand 1997 (Cedam), S. 75 ff. – dass., Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre (mit Ralph Christensen), ebd. S. 305 ff. Sätze. Für Jacques Derrida, in: Sprache und Literatur, 29. Jg. 1998, Heft 81, S. 76 ff. Beiträge zu: Diskussion Rechtslinguistik, in: Sprache und Literatur, 29. Jg 1998, Heft 81, S. 85 ff. Übersetzung von: Bernd Jeand’Heur, Science du langage et science du droit: problématiques communes du point de vue de la Théorie Structurante du droit (Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre) (mit Olivier Jouanjan), in: Droits. Revue Francaise de Théorie Juridique, 1999, S. 143 ff. Présentation: Bernd Jeand’Heur (mit Olivier Jouanjan), in: Droits, 1999, S. 141 f. Legitimidade como Conflito concreto do Direito Positivo, in: Cadernos da Escola do Legislativo, Band 9, Belo Horizonte 1999, S. 13 ff. Warum Rechtslinguistik?, in: W. Erbguth/F. Müller/V. Neumann (Hrsg.), Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur, Berlin 1999, S. 29 ff.

II. Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften

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Aktuelle Legitimationsfragen des Wahlrechts in Deutschland und Brasilien, in: A. Rathjen (Hrsg.), Neue Aspekte des Wahlrechts und gewerblichen Rechtsschutzes in Brasilien und Deutschland, Frankfurt am Main 1999, S. 13 ff. Demokratie und juristische Methodik, in: H. Brunkhorst/P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, Frankfurt am Main 1999, S. 191 ff. Basic Questions of Constitutional Concretization (Englisch, übersetzt von Loammi Blaauw-Wolf und Lourens du Plessis), in: Stellenbosch Law Revies, Vol. 10, 1999, S. 269 ff. – dass. in: Rutgers Law Journal, Vol. 31, 2000, S. 325 ff. Positivismo (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Boletim dos Procuradores da República, Nr. 29, Brasília 2000, S. 5 ff. Unidade do Ordinamento Jurídico (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Boletim dos Procuradores da República, Nr. 30, Brasília 2000, S. 8 ff. Textarbeit, Rechtsarbeit. Zur Frage der Linguistik in der Strukturierenden Rechtslehre, in: F. Müller/R. Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, Berlin 2001, S. 11 ff. Virtualität im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre, in: RECHTSTHEORIE 32 (2001), S. 359 ff. As Medidas Provisórias no Brasil diante do Pano de Fundo das Experiêncieas Alemas (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: E. R. Grau/W. S. Guerra Filho (Hrsg.), Direito Constitucional. Estudos em Homenagem a Paulo Bonavides, Sao Paulo 2001 (Malheiros), S. 337 ff. Globalização, exclusão social, democracia, in: Anais do 2. Seminário Internacional: Sociedade Inclusiva, Belo Horizonte 2001 (Pontifícia Universidade Católica de Minas Gerais), S. 71 ff. Globalisierung, Soziale Exklusion, Demokratie, in: Revista do Instituto Brasileiro de Direitos Humanos, Ano 3, Vol. 3, 2002 (Fortaleza-Ce), S. 117 ff. Observations on the role of precedent in modern continental European Law from the perspective of „structuring legal theory“ (Englisch, übersetzt von Loammi BlaauwWolf und Lourens du Plessis), in: Stellenbosch Law Review, Vol. 11, 2002, S. 426 ff. Legitimidade como Conflito Concreto do Direito Positivo. Uma Comparacão atual entre as Constituicoes Alema e Brasileira, in: Revista da Procuradoria-Geral do Estado do Rio Grande do Sul, Porto Alegre 2002, S. 11 ff. Die Zukunft des Nationalstaats und unser Kampf gegen die Turboglobalisierung, in: N. Petersen/D. Gonzaga de Souza (Hrsg.), Globalizacao e Justica/Globalisierung und Gerechtigkeit, Porto Alegre 2002 (EDIPUCRS), S. 19 ff. O futuro do Estado-Nacao e a nossa luta contra a turboglobalização (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), ebd., S. 27 ff. Was die Globalisierung der Demokratie antut und was Demokraten gegen die Globalisierung tun können, ebd., S. 35 ff.

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Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller

O que a globalizacao faz contra a democracia e o que os democratas podem fazer contra a globalizacao (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), ebd., S. 59 ff. Que Grau de Exclusao social ainda pode ser tolerado por um Sistema Democrático? (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: F. Piovesan (Hrsg.), Direitos Humanos, Globalizacao Econômica e Integracao Regional. Desafios do Direito Constitucional Internacional, Sao Paulo 2002 (Max Limonad), S. 567 ff. A Democracia, a Globalizacao e a Exclusao Social (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Anais da SVIII Conferência Nacional dos Advogados: Cidadania, Ética e Estado, Vol. I, Brasília 2003, S. 263 ff. Igualdade e Normas de Igualdade (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Revista Brasileira de Direito Constitucional, Vol. 1: Justica Constitucional, Sao Paulo 2003 (Editora Método), S. 11 ff. Prefácio (Deutsch und brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Martonio Mont’Alverne Barreto Lima), in: C. Pereira de Souza Neto/Gilberto Bercovici/José Filomeno de Moraes Filho/Martonio Mont’Alverne Barreto Lima, Teoria da Constituicao. Estudos sobre o Lugar da Política no Direito Constitucional, Rio de Janeiro 2003 (Editora Lumen Juris), S. XI ff., XV ff. Teoria moderna e Interpretacao dos Direitos Fundamentais. Especialmente com Base na Teoria Estruturante do Direito (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional, Vol. 7 (2003), S. 315 ff. Die Nichtigkerklärung verfassungswidriger Gesetze und ihre zeitlichen Dimensionen, in: Francisco Fernández Segado (Hrsg.), The Spanish Constitution in the European Constitutional Context – La Constitución Española en el Contexto Constitucional Europeo, Madrid 2003 (Dykinson), S. 1079 ff. Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik, in: Kwangwoon. Comparative Law Journal (Seoul), Vol. 3/4 (2003), S. 197 ff. A Globalização e Possíveis Estratégias de Resistência, in: St. Hollensteiner (Hrsg.), Estado e Sociedade Civil no Processo de Reformas no Brasil e na Alemanha, Rio de Janeiro 2004 (Editora Lumen Juris), S. 37 ff. Mehrsprachigkeit oder das eine Recht in vielen Sprachen (mit Ralph Christensen), in: F. Müller/I. Burr (Hrsg.), Rechtssprache Europas. Reflexion der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht, Berlin 2004, S. 9 ff. Dez Propostas para a Reforma do Judiciário na República Federativa do Brasil, in: Revista Latino-Americana de Estudos Constitucionais, Nr. 4 (2004), S. 13 ff. Sobre Constituicoes, in: Revista Opiniao Jurídica 2004/2, S. 316 ff. Über Verfassungen, ebd., S. 323 ff. Dez Propostas para a Reforma do Judiciário na República Federativa do Brasil, in: Revista do Instituto de Hermenêutica Jurídica, Vol. 1 Nr. 3, Porto Alegre 2005, S. 27 ff.

II. Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften

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Democracia e Exclusao Social, in: P. G. Pimentel jr. (coord.), Direito Constitucional em Evolucao. Perspectivas, Curitiba 2005, S. 251 ff. Vorwort/Prefácio, in: Alexandre Coutinho Pagliarini, A Constituicao Européia como Signo: Da Suparacao dos Dogmas do Estado Nacional, Rio de Janeiro 2005, S. XV ff., XXI ff. Democracia e Exclusao Social em Face da Globalizacao, in: Revista Jurídica da Presidência da República, Vol. 7 Nr. 72 (Mai 2005), S. 1 ff. Prefácio, in: Rodrigo Meyer Bornholdt, Métodos para Resolucao do Conflito entre Direitos Fundamentais, Sao Paulo 2005, S. 11 f. Die Brasilianische Verfassung und die modernen Verfassungen der Welt im 21. Jahrhundert. Verbindungen zur Globalisierung und zu den internationalen Wirtschaftsblöcken, in: F. L. Ximenes Rocha/F. Moraes (coord.s), Direito Constitucional Contemporâneo. Estudos em Homenagem ao Professor Paulo Bonavides, Belo Horizonte 2005, S. 263 ff. Entrevista com Friedrich Müller, in: Sequência. Estudos Jurídicos e Políticos, Nr. 51, Ano XXV, Florianópolis 2005, S. 9 ff. Democracia e República, in: Revista Jurídica da Presidência da República, Vol. 8 (März 2006) Democracia e Exclusao Social face à Globalizacao (bilingue), in: Opiniao Jurídica, 2006/1 Die Demokratie neu denken, in: Revista Latino-Americana de Estudos Constitucionais, Nr. 6 (2006) A Limitacao das Possibilidades de Atuacao do Estado-Nacao face à crescente Globalizacao e o Papel da Sociedade Civil em possíveis Estratégias de Resistência, in: Estudos em Homenagem ao Prof. J. J. Gomes Canotilho, Rio de Janeiro 2006 Democracia e República, in: República – Poder – Cidadania. Anais da XIX Conferência Nacional dos Advogados, Brasília 2006, Vol. 1, S. 735 ff. Vorwort, in: F. Hufen/J. P. Vogel (Hrsg.), Keine Zukunftsperspektiven für Schulen in freier Trägerschaft? Rechtsprechung und Realität im Schutzbereich eines bedrohten Grundrechts, Berlin 2006, S. 7 ff. Sprachen des Rechts. Überblick über eine Entwicklung in der Rechtstheorie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2007, S. 270 ff. Teoria e Interpretacao dos Direitos Humanos Nacionais e Internacionais – Especialmente na Ótica da Teoria Estruturante do Direito, in: C. M. Clève/I. W. Sarlet/ A. C. Pagliarini (coord.s), Direitos Humanos e Democracia, Rio de Janeiro 2007, S. 45 ff. Einige Probleme der gegenwärtigen Rechtstheorie – Ein deutsch-amerikanisches Gespräch (mit Dennis Patterson, Ralph Christensen, Michael Sokolowski), in: RECHTSTHEORIE 2007 (i. E.)

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Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller III. Besprechungen und kürzere Beiträge (Auswahl)

Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1965, S. 561 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 215 ff. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Auflage 1966, Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte 1967, S. 541 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik –, Berlin 1977, S. 221 ff. The Main Features of the Constitutional Law of the Federal Republic of Germany (Besprechung von: Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1967, 2. Aufl. 1968), Modern Law and Society, Vol. I (1968), S. 17 ff. Constitutional Provisions relating to Political Structure (Besprechung von: Ion Contiades, Verfassungsgesetzliche Staatsstrukturbestimmungen, 1967), Modern Law and Society, Vol. I (1968), S. 134 ff. Heinz Wagner, Die Vorstellung der Eigenständigkeit in der Rechtswissenschaft, 1967, Archiv des öffentlichen Rechts 94 (1969), S. 173 ff. – dass. in: Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, Berlin 1977, S. 121 ff. German Endowed Institutions 1948–1966. Theory and practice (Besprechung von Franz/Liermann/zur Nedden/v. Pölitz (Hrsg.), Deutsches Stiftungswesen 1948– 1966, 1968), Modern Law and Society, Vol. II (1969), S. 24 ff. Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, Juristenzeitung 1969, S. 307 f. Günter Erbel, Inhalt und Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966, Archiv des öffentlichen Rechts 94 (1969), S. 633 ff. Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften. Ringvorlesung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br., Wintersemester 1966/67, 1967, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1969, S. 245 ff. Heinrich Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, 1969, Der Staat 9 (1970), S. 573 f. Henri Levy-Bruhl, Soziologische Aspekte des Rechts, 1970, Archiv des öffentlichen Rechts 96 (1971), S. 594 f. Manfred Friedrich, Zwischen Positivismus und materialem Verfassungsdenken. Albert Hänel und seine Bedeutung für die deutsche Staatsrechtswissenschaft, 1971, Archiv des öffentlichen Rechts 97 (1972), S. 436 f. Detlef Christoph Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung. Verfassungskonkretisierung als Methoden-Kompetenzproblem, 1969, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LVIII/ 4 (1972), S. 583 ff. Joachim Burmeister, Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz für Staatsfunktionen, 1971, Die Verwaltung 6 (1973), S. 375 f.

III. Besprechungen und kürzere Beiträge (Auswahl)

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Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes. Ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, 1970, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LIX/4 (1973), S. 584 ff. Yves Gaudemet, Les Méthodes du Juge Administratif, 1972, Archiv des öffentlichen Rechts 98 (1973), S. 655 ff. Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, 1973, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1975, S. 584 f. – dass. in: Die Verwaltung 10 (1977), S. 257 ff. Die Freiheit der Rundfunkmitarbeiter zu politischer Betätigung, in: funk report 1975, Beilage zu Heft 19, S. 1 ff. Leitsätze zur politischen Betätigung von Rundfunkmitarbeitern, in: funk report 1976, Heft 4, S. 21 ff. J. Muck (Hrsg.), Verfassungsrecht. Mit Beiträgen von W. Abendroth, Th. Ellwein, G. Hoffmann, J. Muck, H. Ridder, Bad Wildunger Beiträge zur Gemeinschaftskunde, Band 5, 1975, Der Staat 1976, S. 421 ff. Karl Jürgen Bieback, Die öffentliche Körperschaft. Ihre Entstehung, die Entwicklung ihres Begriffs und die Lehre vom Staat und den innerstaatlichen Verbänden in der Epoche des Konstitutionalismus in Deutschland, 1976, Archiv des öffentlichen Rechts 102 (1977), S. 622 ff. Dieter Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, Neue Juristische Wochenschrift 1977, S. 290 f. Diskussionsbeiträge zu: Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 35 (1977), S. 115 ff., 138 f. Göldner, Detlef, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat. Bemerkungen zur Doppelfunktion von Einheit und Gegensatz im System des Bonner Grundgesetzes, 1977, Zeitschrift für Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht 39 (1979), S. 143 ff. Begrüßung, in: Ansprachen aus Anlaß der Einweihung des Max-Gutzwiller-Saales, Heidelberg 1982, S. 9 f. Otto Luchterhandt, Der verstaatlichte Mensch. Die Grundpflichten des Bürgers in der DDR, 1985, Der Staat 25 (1986), S. 629 ff. Vorwort, in: Zukunftsperspektiven der Freien Schule, Berlin 1988, S. 5 Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlagen einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, 1988, in: Hessischer Rundfunk (2. Programm), 26.5.1988 Artikel Drei ODER Im Westen nichts Neues, in: Das Urteil, 11. Ausgabe, Heidelberg Juni 1989, S. 34 f. Vorwort, in: Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S. 5 Leserbrief zu: Klaus Harpprecht, „Bruder Heinrich“ (Heinrich Mann), in: DIE ZEIT, Nr. 12 v. 13.3.1992, S. 57

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Veröffentlichungen zur Rechtswissenschaft von Friedrich Müller

A ética absoluta, in: Jornal da XV Conferência Nacional da Ordem dos Advogados do Brasil, 8.9.1994, S. 10 Wolfgang Bittner, Niemandsland. Roman, 1992 (Forum Verlag), Kritische Justiz 27 (1994), S. 131 f. Legalität und Legitimität in der Rechtsvergleichung – Gespräch (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Peter Naumann), in: Direito Hoje, Nr. 1 (1999), S. 6 (Natal – Rio Grande do Norte) Dom Helder: um de nós (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Claudia Leitão und Peter Naumann), in: O Povo (Fortaleza-Ce) v. 4.9.1999, S. 7 A Texto para a Abertura do Tribunal Internacional dos Crimes do Latifúndio e da Política Governemental de Violacão dos Direitos Humanos no Paraná/Brasil (brasilianisches Portugiesisch, übersetzt von Linda Gondim und Peter Naumann), Curitiba 2000 Que pode vir pela frente? In: Jornal do Brasil (Rio de Janeiro), v. 8.10.2001, S. 7 A Guerra contra o Iraque viola o Direito Internacional Público, in: Revista Jurídica Consulex, Brasília 2003, S. 20 f. Vor dem Golf-Krieg: Deutschland muss sich mit völkerrechtlichen Fragen auseinander setzen. Die USA verstricken sich in Widersprüche, in: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 66 v. 19.3.2003, S. 2 IV. Festschrift Democracia, Direito e Política. Estudos Internacionais em Homenagem a Friedrich Müller, organizado por Martonio Mont’Alverne Barreto, Lima/Paulo Antonio de Menezes, Albuquerque, Florianópolis 2006

Autorenverzeichnis Brunkhorst, Prof. Dr. Hauke, Universität Flensburg Busse, Prof. Dr. Dietrich, Universität Düsseldorf Christensen, Dr. Ralph, Repetitor in Bonn, Köln und Würzburg Felder, Prof. Dr. Ekkehard, Universität Heidelberg Goerlich, Prof. Dr. Helmut, Universität Leipzig Grasnick, Prof. Dr. Walter, Oberstaatsanwalt a.D., Universität Marburg Jouanjan, Prof. Dr. Olivier, Universitäten Straßburg/Frankreich und Freiburg Kudlich, Prof. Dr. Hans, Universität Erlangen Neumann, Prof. Dr. Volker, Humboldt-Universität Berlin Pieroth, Prof. Dr. Bodo, Universität Münster du Plessis, Prof. Dr. Lourens Marthinus, Universität Stellenbosch/Südafrika Rottmann, Prof. Dr. Frank, Rechtsanwalt, Universität Leipzig Sag˘lam, Prof. Dr. Fazıl, Verfassungsrichter a.D., Yildiz-Universität Istanbul/Türkei Seibert, Dr. Thomas-Michael, Vorsitzender Richter, Frankfurt a. M. Vogel, Prof. Dr. Johann Peter, Rechtsanwalt, Universität Marburg Wimmer, Prof. Dr. Rainer, Universität Trier