Friedrich Nicolai, 1733-1811 : Essays zum 250. Geburtstag 3875841166


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German Pages 304 [324] Year 1983

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Friedrich Nicolai, 1733-1811 : Essays zum 250. Geburtstag
 3875841166

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NUNC COGNOSCO EX PARTE

THOMAS J. BATA LIBRARY TRENT UNIVERSITY

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https://archive.org/details/friedrichnicolaiOOOOunse

FRIEDRICH NICOLAI 1733

1811

FRIEDRICH NICOLAI 1733-1811 ESSAYS ZUM 250. GEBURTSTAG

Herausgegeben von Bernhard Fabian

Nicolaische Verlagsbuchhandlung Berlin



Umschlagbild: Friedrich August Tischbein »Bildnis Friedrich Nicolai«, 1796 Öl auf Leinwand, 112 x77cm Die Fotografien der Abbildungen stellten die Besitzer, die Landesbildstelle Berlin und das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz zur Verfügung. Reproduktion des Umschlagbildes: Freiherr von Werthern Layout: Dieter Winzens © 1983 Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin Alle Rechte Vorbehalten Satz: Nagel Fototype, Berlin Offsetlithos: O.R.T. Kirchner & Graser GmbH, Berlin Druck: Passavia, Passau Einband: Lüderitz& Bauer, Berlin Printed in Germany ISBN 3-87584-116-6

INHALT Vorbemerkung

I Eva J. Engel Vivida vis animi: Der Nicolai der frühen Jahre (1753-1759) 9

II Paul Raabe Der Verleger Friedrich Nicolai 58

III Rudolf Vierhaus Friedrich Nicolai und die Berliner Gesellschaft 87

IV Wolf gang Martens Ein Bürger auf Reisen 99

V Helmut Börsch-Supan Bemerkungen zu Friedrich Nicolais Umgang mit der Kunst 124

VI Horst Möller Friedrich Nicolai als Historiker 139

VII Bernhard Fabian Nicolai und England 174

VIII W ilhelm Schmidt-Biggemann Nicolai oder vom Altern der Wahrheit 198 Marie-L uise Spieckermann Bibliographie der Werke Friedrich Nicolais 257

Die Autoren Helmut Börsch-Supan Stellvertretender Direktor bei der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten in Berlin Eva J. Engel Professor of German, Wellesley College, Wellesley, Mass., USA Bernhard Fabian Professor für Englische Philologie, Universität Münster Wolf gang Martens Professor für Neuere deutsche Uiteraturgeschichte, Universität München Horst Möller Professor für Neuere Geschichte, Universität Erlangen-Nürnberg Paul Baabe Professor für Neuere deutsche Uiteraturgeschichte, Direktor der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel Wilhelm Schmidt-Biggemann Dozent für Philosophie, Freie Universität Berlin Marie-Luise Spieckermann Wiss. Mitarbeiterin am Englischen Seminar, Universität Münster Budolf Vierhaus Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Direktor am Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen

VORBEMERKUNG Friedrich Nicolai, dessen Geburtstag sich am 18. März 1983 zum zweihundertfünfzigsten Male jährt, ist uns vertraut und zugleich auch unbekannt. Der uns vertraute Nicolai ist ein ältlicher, in Ber¬ lin etablierter Buchhändler und Verleger, der das Büchermachen aus Profession so erfolgreich betrieb, daß man daran Anstoß neh¬ men konnte. Sein größtes Unternehmen war eine weitverbreitete Zeitschrift, der eine gewisse Bedeutung nicht abzusprechen ist, die aber wenig mehr als eine seichte Popularphilosophie verbreitete und insgesamt zu lange existierte. Er schrieb auch selbst-Essays, Romane, Satiren und ein vielbändiges Reisebuch - doch fast alles, was er zu Papier brachte, war von platter Gescheitheit. Ein Mann von »inhaltsleeren und unbestimmten Aufklärungsideen«, ent¬ behrte er »Tiefe und Ursprünglichkeit der Leidenschaft, die volle und ganze Menschennatur, Geist und Phantasie«. So etwa sieht der Nicolai der landläufigen Literaturgeschichte aus, die sich seit jeher mit ihm schwergetan hat. Zugegeben: es ist nicht einfach, jemandem gerecht zu werden, über den Goethe, Kant und Fichte gespottet oder abschätzig geurteilt haben, auch dann nicht, wenn seine Jugendfreunde und Weggefährten Lessing und Moses Mendelssohn hießen. Überdies war Nicolai nicht unbedingt im Recht, als er zwar mannhaft und ehrbar, aber nicht immer ge¬ witzt und schlagfertig genug seinen Streit mit denen austrug, die nach ihm kamen und über ihn hinausragten, so daß sie über ihn hinweggehen konnten. Die Literaturhistorie hat es lange als selbst¬ verständlich hingenommen, »daß ihn unsere größten Dichter und Denker als den Urtypus aller Leerköpfe und Querköpfe, als den dünkelhaftesten Philister dem Gedächtnis der Nachwelt überlie¬ ferten«. Die Revision des tradierten Nicolai-Bildes ist seit einiger Zeit im Gange, und sie macht in dem Maße Fortschritte, wie die Epoche der Aufklärung in Deutschland nicht als bloße geschichtliche Durch¬ gangsphase verstanden wird, sondern als ein Zeitraum suigeneris, der aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus begriffen sein will. Die Aufkärung war, wie es ein englischer Buchhistoriker jüngst formulierte, »a bookish movement«, eine ganz Europa erfas¬ sende Bewegung, deren treibende Kraft der gedruckte Text war. Damit wird der Verleger, der Buchhändler zu einer Schlüsselfigur der Epoche, und ihre Literaturgeschichte gewinnt eine neue Dimension. Sie ist nicht mehr nur eine Literaturgeschichte des Autors und des Lesers, sie wird auch zu einer Literaturgeschichte des Verlegers. Rang und Rolle Friedrich Nicolais sind zunächst dadurch be¬ stimmt, daß er zu jenen vielleicht zwanzig europäischen Verlegern 7

und Buchhändlern gehört, die als Verleger und Buchhändler der Aufklärung bezeichnet werden müssen. Das gilt für das Volumen ihres Geschäfts und für die Reichweite ihrer Ausstrahlung. Es gilt vor allem für die Auffassung, die sie von sich und ihrer Funktion hatten - sowohl als Vermittler zwischen einem sich schnell wan¬ delnden Autorenstand und einem sich rapid ausweitenden Lese¬ publikum wie als Verbreiter von Ideen durch ein Medium, dessen Verwendung und Gestaltung sie als ihre ureigene Aufgabe ver¬ standen. Von diesem Zentralpunkt werden wir uns Nicolai in Zukunft zu erschließen haben - seine >BuchmachereiEhrenrettung< Nicolais ab, die schon Egon Friedeil als ein nützliches Unternehmen empfahl. Sie markieren deutlich die unverkennbaren Grenzen Nicolais, und sie suchen auch die Gründe dafür auf, daß die Grenzen dort verlaufen, wo sie wahrzunehmen sind. Andererseits legen sie einige jener Linien fest, die unser Bild von Nicolai aufweisen muß, wenn es seiner Eigenart gerecht werden soll. Nicolai war Autor und Verleger, Kaufmann und Literat in einer Kombination, wie es sie kaum ein zweites Mal in seiner Epoche und vielleicht auch in der deutschen Literaturgeschichte gegeben hat. Er war der echte Berliner und zugleich jemand, dessen Blick weit über Deutschland hinausging. Die Essays zu Nicolais zweihundertfünfzigstem Geburtstag bie¬ ten keinen Ersatz für eine Darstellung von Leben und Werk, die bis heute fehlt. Sollte sie je geschrieben werden, dann würde sie in hohem Maße die Geschichte der Aufklärung in Deutschland in sich aufnehmen. Jede einzelne der Studien birgt, explizit oder implizit, die Forderung nach einer solchen Darstellung in sich. Und eine kleine Notiz in der Bibliographie seiner Werke ruft ins Gedächtnis, daß es für Nicolai und darüber hinaus für das deutsche Geistes¬ leben in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine ein¬ zigartige Quelle gibt, aus der sich, würde sie je ausgeschöpft, ein unvergleichlich detailreiches Panorama gewinnen ließe: die über achtzig Bände seiner bislang nur in Bruchstücken ausgewerteten Korrespondenz. Sie stellt ein Vermächtnis Nicolais dar, an dem wir uns zu bewähren haben. B. F. 8

I VIVIDA VIS ANIMI DER NICOLAI DER FRÜHEN JAHRE (1753-1759) Eva./. Engel

Kurz nach 1804 notierte sich Nicolai ad usum proprium, »ein Buch muß aus innerem Triebe kommen. ...Ich danke der Vorsehung, daß ich nie in dem Falle gewesen bin, aus anderen Ursachen als aus innerm Triebe zu schreiben.«1 Die Schriften, über deren Entste¬ hung der Siebzigjährige sich äußerte, waren seit 1753, also im Laufe eines halben Jahrhunderts entstanden. Die kritische Bio¬ graphie dieses fanatisch aufklärerischen Kopfes, der uns als Re¬ zensent, als Übersetzer, als Begründer literarisch-kritischer Pro¬ grammschriften, als Romancier, als Sprachwissenschaftler, als erbitterter Anti-Jesuit, als Ethnograph, als Philosoph begegnet, ließe sich in all seiner Vielseitigkeit an Hand seiner Werke2 mosaik¬ artig aufbauen und zusammensetzen.5 Ganz besonders trifft dies für das Werk des jungen Nicolai zu. Um aber zu verstehen, wie der knapp Zwanzigjährige im Jahre 1753 schon in seiner ersten Veröffentlichung ein Musterbeispiel einer sorgfältig fundierten Studie vorlegen konnte, welche ohne eingehende Kenntnis fremdsprachiger Quellen und englischer wie deutscher zeitgenössischer Zeitschriften undenkbar gewesen wäre, sind wir auf Nicolais eigene Aufzeichnungen über seinen Bildungsgang angewiesen. Erhalten blieben: Nicolais Anmerkun¬ gen zu Lessings Briefwechsel mit Ramler, Eschenburg und Nico¬ lai... und Mendelssohn (1794); Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie (1799); Christoph Fried¬ rich NicolaPs Bildnis und Selbstbiographie, die er auf das Ver¬ langen des Porträtisten M. C. Lowe verfaßte (1806); L. F. G. von Göekingk (Hrsg.), Friedrich Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß {1820). Hinzu kommt der reichhaltige Briefwechsel Nico¬ lais mit seinen Mitarbeitern und Freunden, aus dem aber für den Zeitraum 1753-1759 gedruckt eigentlich nur der Briefwechsel Nicolai-Lessing-Mendelssohn vorliegt.4 9

I. Nicolais Bildungsgang Die knappe Zusammenfassung der Tatsachen, wie sie J.E.Biester in der Nicolai Denkrede am 5. Juli 1812 in der Königlichen Akade¬ mie in Berlin vorlegte, erhält erst durch Nicolais 1797, 1806 und 1820 veröffentlichte autobiographische Aufzeichnungen und sein »Schreiben an den Hrn Professor Lichtenberg in Göttingen« (12. Okt. 1782) ihre wesentlichen Züge. So z. B. berichtet Biester (S. 21): »Er kam hierauf in die lateinische Schule, erst in Berlin, dann auf das Waisenhaus zu Halle, wo der Unterricht pedantisch und verkehrt genug gewesen seyn mag« und ihm nur die Anfangs¬ gründe »der gelehrten Sprachen und der Geschichte« vermittelte. Nicolai jedoch erwähnt, schon in Berlin am Cicero entdeckt zu haben, »daß man ein lateinisches Buch lesen könne. Bisher hatte ich nur gewußt, daß ein alter Autor könne exponirt, analysirt und construirt werden. ...Dieß war, aus eigenem Antriebe, der Anfang meines Privatfleißes« (5,8). In Halle, nach anderthalb Jahren Schul¬ griechisch, merkte Nicolai mit Erstaunen, daß »außer dem neuen Testamente etwas Griechisches vorhanden« wäre. Er, der sich sel¬ ber damals als Dichter betrachtete, begeisterte sich in Freyers Fasciculus poetarum graecoruni, den ihm ein älterer Schüler lieh, an Homer, von dem er nie gehört hatte. Er begegnete ihm im 7. Gesang der Ilias und wünschte sich brennend, seine ganze Dichtung lesen zn können (5,9). Es dauerte aber nicht lange, bis ihm alle weltliche Literatur und vor allem deutsche, als »Contrebande« im Waisenhaus be¬ schlagnahmt wurde. Glücklicherweise kam Nicolai ein paar Monate später auf die kürzlich gegründete Realschule in Berlin. Sie war ausdrücklich für Schüler bestimmt, die, wie Nicolai, auf des Vaters Wunsch nie auf die Universität gelangen würden. Doch gerade hier traf Nicolai den Lehrer seines Lebens, Pfarrer Berthold, und »eine ganz neue Welt« öffnete sich ihm. Dem Mathematiker Berthold verdankte Nicolai die »Anfangs¬ gründe wahrer Gelehrsamkeit«, die Lust am »eifrigen Studiren« und »gelehrten Beschäftigungen«, eine erste Begegnung mit ange¬ wandter Mathematik, mit Botanik, Anatomie, Physik (Elektrizität), Mechanik, mit Kunstunterricht samt Aktzeichnen. Die Methodik des Lehrers eröffnete dem Jungen Einsicht in Mathematik als Weg zu diszipliniertem Denken, und im Einzelunterricht verdankte Nicolai ihm die Einführung zu Virgil, den Oden des Horaz und der deutschen Übersetzung des Paradise Lost (»als Muster deutscher Poesie«). Im Banne dieses gewaltigen Epos wurde der junge Nicolai eige¬ ner Poetasterei gegenüber sehr kritisch. Von nun an las er Ge¬ dichte, statt sie zu verfassen, und machte sich um so eifriger an die

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vom Lehrer gestellte Aufgabe, täglich einen Brief über vom Lehrer festgesetzte Themen zu komponieren, um Stil, Methodik und Phan¬ tasie gelenkiger und weniger pedantisch zu gestalten (4,19). Vor allem erzog der Lehrer zu Kritik an eigenem Gedankengut. Beson¬ ders intensiv grübelte der Schüler über den Zusammenhang mathematischer Wahrheiten nach, so daß der Lehrer ihm dann Algebra, Geometrie und Trigonometrie beibrachte und anwies, Lehrsätze selbst zu beweisen (4,24). Doch dem Vater Nicolai war es um möglichst baldige Ausbil¬ dung der beiden Söhne zu tun, die er für den Buchhandel bestimmt hatte. So kam der Jüngste, Friedrich, schon 1749 nach Frankfurt an der Oder in die Lehre. Nicolai beschrieb, mit welchem Eifer er jede freie Minute, die ihm sein gutmütiger Chef beließ, aufs Studium verwandte, daß er den ihm täglich für das Frühstück zugesproche¬ nen »Dreyer« nicht auf Brot, sondern auf den Kauf einer Lampe und des dazu benötigten Öls anwandte, um dann über Papier und seinen wenigen Büchern »vergnügter als ein König« die langen Winterabende, an denen der ungeheizte Laden geschlossen blieb, zu verbringen (4,25). Dem sechzehnjährigen Buchhändlerlehrling mit mathemati¬ schen Neigungen,5 mit blendendem Gedächtnis und gutem Denk¬ vermögen bot gerade Frankfurt a. d.Oder damals ungewöhnliche Gelegenheit. Nicolai beschrieb, wie er am Türspalt die Vorlesun¬ gen Alexander Baumgartens über Logik, Metaphysik und die ganz neue Wissenschaft: Ästhetik mithörte und so mit »spekulativer Phi¬ losophie« in Berührung kam, mittels ihm geliehener Kolleghefte das Gehörte abschreiben und so systematisch mit zum Teil noch unveröffentlichter Materie Schritt halten konnte. Auch Wolffs Logik las er in jenen Jahren und diskutierte mit studentischen Freunden auf Lateinisch metaphysische und ontologische Sätze (4,27). »Ich machte gewöhnlich den Opponenten, weil mir Zweifeln damals schon der Weg zur Wahrheit schien« (4,28). Es ist offen¬ sichtlich, warum Wolffs more geometrico Methodik Nicolai beein¬ drucken mußte. Nicolais Lernbegier war ebenso vielseitig wie zielbewußt. Neben den »philosophischen Lektüren« und »metaphysischen Dis¬ putationen« hatte er »aus Liebe zum Milton« begonnen, »durch eigenen Fleiß ohne Anweisung« Englisch zu lernen (4,30). Dann näherte er sich dem Dichter Ewald, bekam von diesem Thomsons Jahreszeiten, Popes Lehrgedichte und Rape of the Lock zum Ab¬ schreiben, und außerdem die Gelegenheit, sein mündliches Eng¬ lisch auszuproben und zu verbessern. Ewald lieh ihm auch diverse griechische Texte, und Nicolai verdankte ihm außer seiner ersten Lektüre der gesamten Ilias und Odyssee (4,30) die Bekanntschaft mit dem Dichter Ewald von Kleist. Aus dem Bestreben, zu den vie-

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len ihm unbekannten Schriften, auf die er bei der Inventarauf¬ nahme des Buchladens stieß, die nötige Perspektive zu erlangen, verfiel er auf »die gelehrte Geschichte, die mir ohnedies für einen Buchhändler nöthig schien« (4,32). So stürzte er sich z. B. auf das ihm bisher unbekannte Kritische Wörterbuch des Pierre Bayle und schrieb diesem einen wesentlichen Einfluß auf seinen Denkstil, ja sogar auf seine Schreibart zu. Es entstand der Wunsch, sich auch einen Überblick über die Geschichte der Philosophie zu verschaf¬ fen. Daraus ergaben sich Hinweise auf weitere philosophische Lehrgebäude, zu denen dann die Buchhandlung als Bibliothek diente, um ihn unter anderem zu Descartes zu führen. Obwohl Nicolai aßes verschlang, was in die Buchhandlung ge¬ liefert wurde (u.a.neun »kritische Journale«, s. 5,14), sehnte er sich, Zugang zu Fachbibliotheken zu haben; und dies scheint erstaun¬ licherweise dem Achtzehnjährigen gelungen zu sein: »Außer Ewald, interessirten sich der Professor Pesler, der Syndicus v.Toll, und andre Gelehrte, für die Wißbegierde des Jünglings, und verstatteten ihm den Gebrauch ihrer Bibliotheken« (5,16). Dabei ist es wesentlich, daß er nicht blindlings las, sondern lernte, »beständig Begriffe zu verbinden und als Ursache und Wirkung [zu] betrach¬ ten« (4,37). Nach drei Jahren eines solchen Lernidylls wurde Nicolai vom Vater im Januar 1752 nach Berlin zurückgerufen. Als dieser wenige Wochen später starb, mußte Nicolai als Gehilfe in die vom ältesten Bruder übernommene Buchhandlung eintreten. Trotzdem wurde auch hier jede freie Minute zum Lesen und Nachdenken verbracht. Musik war seine einzige Zerstreuung. Die Lektüre dieser Jahre scheint ausschließlich auf klassische Dichtung und Prosa und auf mittelalterliche und neue deutsche Dichtung beschränkt gewesen zu sein. Sein Versuch, dem ihm unbegreiflichen Parteiwesen, das damals die deutsche Literatur beherrschte und zerfleischte, Heilung zu verschaffen, resultierte in den Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1754/55). Lessing soll die Aushängebogen der Schrift beim Verleger Voss aufgestöbert haben. Sein Wunsch, dem anonymen Verfasser zu begegnen, brachte ihn im Spätherbst 1754 mit Nicolai und diesen kurz danach mit Mendelssohn zusammen. »Die innigste Freundschaft verband mich bald mit beyden, und sie hat bis zum Tode dieser großen Män¬ ner fortgedauert« (5,17). »Wir waren damals alle drey in der Blüte unsrer Jahre, alle drey voll Wahrheitsliebe und Eifer, alle drey von unbefangenem Geiste, und hatten keine andre Absicht, als wissen¬ schaftliche Ideen aller Art in uns zu entwickeln« (5,18). Nach Lessings Abreise ein knappes Jahr später, im Oktober 1755, wurde die Interessengemeinschaft seitens Nicolais zu Mendels12

sohn immer enger. Mendelssohn verdankte er die nähere Kenntnis der »spekulativen Philosophie« und die Bekanntschaft mit Spinoza, der Kabbala und Shaftesbury6. Aber vor allem war es der intensive Gedankenaustausch zu dritt (erst mit Mendelssohn und Lessing, später, nach Lessings Fortgang, mit Mendelssohn und dem Hallen¬ ser Professor Eberhard), der den Horizont des jungen Autodidak¬ ten erweiterte. Durch die Debatten wie durch den Beitritt zu Müchlers »Gelehrtem Kaffeehaus« und dem von J.G.Schultheß 1749 ge¬ gründeten Montagsclub lernte der Autodidakt Nicolai im Umgang mit Gesprächspartnern sich in die Denkungsart vieler anregender Männer zu versetzen. Hatten die Briefe über den... Zustand dem zweiundzwanzigjährigen Nicolai zu solchem Ruhm verholfen, daß ihn Graf Moritz Brühl 1756 als deutschen Mitarbeiter für das Pariser JournalEtranger gewinnen wollte, so hatte der Niederschlag des Berliner Ideen¬ austausches Nicolai nahe gelegt, seinerseits der deutschen Litera¬ tur Hilfe zu verschaffen. Er verfaßte hierzu eine Abhandlung vom Trauerspiel (1756), die eigentlich die »Spielregeln« für einen Wett¬ bewerb um das beste Trauerspiel abgeben sollte. Den Wettbewerb selber und den dazu in Aussicht gestellten Preis gab Nicolai im September 1756 in der Vorläufigen Nachricht, einer Voranzeige sei¬ ner Bibliothek der schönen ff issenschaften und derfreyen Künste, bekannt. In der Didaktik seines Programmes, das dieser Zeitschrif¬ tengründung Rahmen, Methodik und Zielrichtung verhieß, liefen zwar Fäden zusammen, die Nicolai bereits in früheren Schriften gesponnen hatte, aber die Programmschrift selber und später die Durchführung des Vorhabens wies unter Nicolais und Mendels¬ sohns Redaktion und Mitarbeit vier Bände lang ein so qualitativ bedeutendes Niveau an Kritik und Kenntnisbereicherung auf, daß Herder noch zehn Jahre später in seinen Fragmenten (27,146) ein¬ gehend Rolle und Einfluß der Bibliothek der schönen ff issenschaf¬ ten besprach. Der Zeitpunkt, ein so großes Unternehmen in die Wege zu leiten, war trotz des Ausbruchs des Siebenjährigen Krieges (August 1756) und seiner Unruhen ein günstiger für Nicolai, da er hoffte, daß ihm die Zinsen seiner kleinen väterlichen Erbschaft auf immer ermög¬ lichen würden, ausschließlich seinen Neigungen als Privatgelehr¬ ter nachzugehen. Ehe er im Herbst 1758 durch den plötzlichen Tod des ältesten Bruders sich gezwungen sah, das väterliche Geschäft zu überneh¬ men und es aus schwerer Verschuldung zu retten,7 hatte er sich wohl unter dem Eindruck der Winckelmannschen Gedanken über die Nachahmung griechischer Werke in der Malerei und Bildhauer¬ kunst (1755) - besonders mit Kunst beschäftigt (18,19), aber auch mit Sprachen, mit der »musikalischen Setzkunst«, der Elemen13

tarlehre der Musik. »Übrigens trieb ihn seine Wißbegierde von Sprache zu Sprache, von Wissenschaft, zu Wissenschaft, ...bloß aus Durst nach Vermehrung der Kenntnisse« (18,21). Eine geplante Englandreise in das Land der »Freiheit, Toleranz und [der] Grossmuth« kam nie zustande, da er sich nicht von Lessing und Mendels¬ sohn trennen mochte. Mittlerweile lag bereits im Hochsommer 1756 das erste Stück des ersten Bandes der Bibliothek der schönen Wissenschaften druck¬ fertig vor, und der Niederschlag der Nicolaischen Geistesbildung läßt sich an seinen Beiträgen zu dieser Veröffentlichung verfolgen. Vorarbeit und Niederschrift müssen zeitlich enorme Anforderun¬ gen an ihn gestellt haben, denn Nicolai bestritt mehr als die Hälfte aller Beiträge. Er verwandte auf die Vielfalt der Rezensionen oft viele Wochen Arbeit. Zusätzlich zu den Rezensionsartikeln und Übersetzungen kamen eingehende Berichte über Kunstsammlun¬ gen und das Übersetzen der Nachrichten des Chevalier d’Arcq über die Darbietungen der Pariser Theater. Briefen an Lessing zufolge fallen in die Jahre 1756/1757 auch die Vorarbeiten zur Tätigkeit am Journal Etranger. Mit der Übernahme der Nicolaischen Buchhandlung begann eine unglaublich tätige Existenz als Verleger. Daher ließen ihn die Anforderungen seiner neuen Aufgaben nach 1758 eigentlich pro Jahr nur von Ende Januar bis Mitte Februar, das heißt: drei Wochen lang zu Atem kommen. Allein die jährliche Geschäftsreise nach Danzig schluckte zwei volle Monate. So ist es nicht verwunderlich, daß Nicolai weniger Zeit zu schriftlichen Ausarbeitungen zu haben schien, und gleichzeitig eindrucksvoll, wie er sein Ziel, die deutsche Literatur durch unparteiische Kritik zu beleben, zu stär¬ ken und selbständig zu machen, nun als Verleger mit größter Inten¬ sität vorwärts trieb. Aus Buchhändlerrücksichten wurde die in Leipzig verlegte Bibliothek der schönen Wissenschaften nicht weiter von Nicolai, der nun selber Verleger war, geführt. Stattdessen wurde das Pro¬ gramm der Wiederbelebung und Stärkung in zwei Neugründun¬ gen weitergeführt. Nicolais erstes Verlagsunternehmen, die sechs¬ bändige, sehr verdienstliche Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1759-63) brachte Übersetzungen ästhetischer Aufsätze aus an¬ tiken und modernen Sprachen, das heißt: die damals wichtigsten Beiträge zum Stand der Literatur- und Kunstwissenschaft. Hier er¬ schien der F.Resewitz zugeschriebene Artikel Über das Genie, der sichtlich den gedanklichen Niederschlag des Berliner Freundes¬ kreises, vor allem Mendelssohns und Sulzers, zu diesem Thema bildet. Er verdiente endlich in den Rahmen der zeitgenössischen europäischen Diskussion eingegliedert zu werden. 14

Die Beförderung von »Geschmack« durch Besprechung zeit¬ genössischer Literatur, das Hauptziel der Bibliothek der schönen Wissenschaften, übernahmen die von Nicolai und Lessing 1758 ge¬ planten Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, die vom Januar 1759 sieben Jahre lang auf das geistvollste Deutschland erregten und befruchteten. Als Rezensent beteiligte sich Nicolai zuerst kaum daran. Zwischen Januar 1756 und Ende Dezember 1760 (Brief 1-137) stammen daher nur sechzehn Briefe von Nicolai. Ihnen lag, wie allen Literaturbriefen, das Motto »Beförderung freymüthiger Kritik« und dadurch »Heben des Geschmackes« zu¬ grunde; aber ihr primum movens, wie Nicolai fast fünfzig Jahre später noch betonte, war der brennende Drang, aufs intensivste der Wahrheit naehzugehen - »nur um der Wahrheit willen, nicht etwa um mit Neuerungen zu glänzen« (18, 24 f.). Das heißt, angefangen mit der 1753 veröffentlichten Erstlings¬ schrift, von dort zu den Briefen überden itzigen Zustand(1754/55), zur Abhandlung vom Trauerspiel (1756/57), zur Geschichte der englischen Schaubühne (1756/57), zu dem Programm der Biblio¬ thek der schönen Wissenschaften (17561.) und der Zeitschrift selber, zu den Briefen, die Neueste Litteratur betreffend, (1759 f.) und schließlich zur Zentralisierung des Wissens in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (1765 f.) hat Nicolai jahrzehntelang die eige¬ nen Kenntnisse ausschließlich zur Aufklärung anderer bewußt an¬ gewandt. Durch Rezensionen, Preisausschreiben als Anreiz zum Verfas¬ sen besserer deutscher Trauerspiele, durch Übersetzungen alter und moderner theoretischer Schriften, mit der Planung eines Wör¬ terbuches (s. LB 125; 17,228-237) sowie in reichhaltigem Brief¬ material hatte Nicolai unentwegt »Reinigkeit und Richtigkeit der Sprache«, »Hebung des Geschmacks«, autochthone Kunst, Autono¬ mie des Kunstwerks gefordert und durch Behebung von Vorurtei¬ len, durch stetigen Kampf gegen jede Art von Mittelmäßigkeit, durch Förderung junger Talente, durch begeistertes Anerkennen wahrer Genies gefördert. Zwischen 1753 und 1759, das heißt: vom zwanzigsten bis zum sechsundzwanzigsten Lebensjahre, hatte Nicolai sich unersättlich Wissen angeeignet. Es war sowohl ein blinder Drang, der ihn trieb, wie ein instinktmäßiger Versuch, dies Wissen durch Programm¬ schriften, Rezensionen, kritische, buchlange Aufsätze, durch die Gründung von Zeitschriften auszuschöpfen, um endlich die deut¬ sche Literatur, die deutschen Dichter, das deutsche Publikum aus ihrem Dornröschenschlaf aufzurütteln. Von den Schriften dieser frühen Jahre wäre als Beispiel eigenen Könnens und Wirkens Nicolais Ehrung des Freundes und Dichters Ewald Christian von Kleist herauszuheben. Seit ihrem Erschei15

nen (1759) stellt sie das Musterbeispiel eines wahren, feinfühlig gerechten Charakterbildes dar, und sie hat Neuland eröffnet.

II. Nicolais Jugendwerk 1. Untersuchung ob Milton sein Verlohrnes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe (Frankfurt und Leipzig, 1753).8 Die am 27. Dezember 1753 in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen besprochene Widerlegung der Gottschedschen Anklage war anonym erschienen. Nicolai erwähnt sie nirgends, aber seine Verfasserschaft ist seit dem achtzehnten Jahrhundert unbestritten. Die GGA vom 16. Februar 1754 beziehen sich auf einen von der Redaktion erhaltenen Brief, der auf Nicolai als Verfasser zu deuten scheint, besonders wenn man sich erinnert, daß der Verfasser von sich sagte, daß er nicht in Leipzig lebe, Gottsched nicht persönlich kenne und im übrigen ein Kaufmann sei. Dieser Kaufmann aber muß, dem Inhalt seiner Schrift nach, Zugang zu vielen, meist engli¬ schen kritischen Schriften gehabt haben. Die zur Benutzung not¬ wendigen englischen Kenntnisse und das Zurhandsein solcher Schriften sind bei Nicolai in der Buehhändlerlehrzeit in Frankfurt an der Oder (1749-51) ausdrücklich belegt. Der Anlaß zu Nicolais Verteidigung Miltons und Nicolais Em¬ pörung über die Anklage war nicht Lauders Anschuldigung von 1749-50, die dieser bereits 1750 hatte widerrufen müssen, sondern die hämische Unehrlichkeit Gottscheds, mit der er 1752 in einer vier Bogen langen Rezension im Neuesten aus der anmuthigen Ge¬ lehrsamkeit die Lauderschen Behauptungen als bewiesen und ge¬ rechtfertigt hinstellte. Nicolais >Anti-Gottsched< und seine >Rettung< Miltons begann mit einer unbetitelten Einführung in die Materie (S.A2f.) und des Verfassers Stellungnahme zu der Anklage gegen Milton. Von den der Einführung folgenden Abschnitten der Nicolaischen Schrift trägt die erste (S.7ff.) die Überschrift: »Von Veranlassung des Lauderischen Werkes von Miltons Nachahmung der Neuern in seinem verlohrnen Paradies, und andern dahin gehörigen Schriften«. Der zweite Abschnitt (S. 26 ff.) hat den Titel »Anmerkungen zu den Recensionen der Lauderischen Schrift«, und der dritte Abschnitt (S.82 ff.) enthält »Anmerkungen über einige Stellen des Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit«. Hier belegte Nicolai die par¬ teiischen, bissigen, chauvinistischen und kenntnisarmen Urteile, die das Leipziger Journal Gottscheds gebracht hatte und beleuch¬ tete die fragwürdigen Urteile, die sich die Zeitschrift anmaßte. 16

Die Göttingischen Anzeigen hatten seit 1751 den Lauderschen Streit auf ihre gewissenhafte, gesetzte Art verfolgt. Doch am 27. De¬ zember 1753 wurde im 156. Stück mit dieser Tradition insoweit ge¬ brochen, als das Für und Wider der Anklage unparteiisch auf die Waagschale gelegt wurde, ohne daß die Göttingisehen Anzeigen den Mut ihrer Überzeugung bewiesen hatten. Gottsched bekam keineswegs so unverblümt den Kopf zurechtgesetzt wie der unbe¬ kannte Verfasser Nicolai, mit dessen Gedanken sie doch eigentlich übereinstimmten :9 Er will es dem berühmtem Hm Prof. Gottsched, als Verfasser des Neuesten... nicht blos zur Unwissenheit sondern auch zur Partheylichkeit auslegen, daß er Lawders Anklagen widerhohlt hat: denn er meint gewiß zu seyn, daß er vorher schon von demLawderischen W ider-Ruf gehört oder gelesen haben müsse, ehe er aus seinen Un¬ wahrheiten Auszüge machte, und sie vor Wahrheit ausgab. Die Geschichte des Streits erzählt der Hr. V. ausführlich, und gedenckt dabey noch einer von uns nicht gesehenen oder recensirten Apology ...Im 2ten Abschnitte beleuchtet der Hr. V die Recension der Lawderischen Schrift im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsam¬ keitnäher, und wirft ihr eine Partheylichkeit, Fehler, Unwissenheit des Lateinischen, Misdeutung der Worte der Schrift, welche sie lobt und recensirt, und Unhöflichkeit, über die andere vor.... Uns ist es genug, unsere Leser zu benachrichtigen, wo sie auch im deutschen die Ehrenrettung eines so grossen Geistes als Milton war, finden können: ohne an dem übrigen Antheil zu nehmen, darin der Hr. Verf. nicht an Scharfsichtigkeit die Fehler eines Gegeners zu ent¬ decken, noch auch an Lebhaftigkeit, sie nur allzu empfindlich vor¬ zurücken. Bey allem Streit von dieser Art sind wir lieber Leser und Zuschauer, als Parthey. Das wünschten wir aber aufrichtig, daß Hr. G. die in England herausgekommenen Widerlegungen des Law¬ ders, nebst dessen eigenen Bekäntnissen einer Lesung und Anzeige in dem Neuesten würdigen, und uns über sie sein Urteil gleichfalls gönnen möge. (27. Dezember 1753, S. 1393 ff.) Als Ganzes war die Rezension wesentlich eingehender, als es bei den Göttingischen Anzeigen meist der Fall war, aber selbst diese Mischung an Zitatparaphrase und gelegentlichem Kommentar be¬ zog sich in keiner Weise auf das, was uns heute noch an Nicolais Schrift wichtig scheinen muß: seine Einsichten und Überlegungen zu den Themen Literaturkritik und Übersetzungskunst (20,33 ff. 64) und zu Begriffen, die sich von nun an wie ein roter Faden durch Nicolais Veröffentlichungen zogen: die Notwendigkeit, den »Geschmack«, das heißt: die Fähigkeit zum Urteil über Werke der Literatur und Kunst zu bilden (20,27) und zu heben (20,83), der vollständige Mangel an guten deutschen Schauspielen (20,9), Ein¬ sicht in die Geschichte der schönen Wissenschaften (20,83), die 17

»Würde des Kunstwerks« (20,66,79), die generischen Unterschiede zwischen Drama und Epos (20,90) und der fundamentale Gegen¬ satz von historischer und poetischer »Wahrheit« (20,92). Historisch gesehen, liegen hier die Ansatzpunkte literaturästhe¬ tischer Begriffe, die sich bei Mendelssohn, Lessing, Karl Philipp Moritz und vor allem bei Schiller kristallisierten und das gedank¬ liche Fundament für die Erneuerung der deutschen Literatur, be¬ sonders des Dramas, bilden. Worum es Nicolai am meisten ging, war das Entstehen und För¬ dern geistiger Selbständigkeit, das heißt: wahrer Urteilskraft, wie sie ihm in England vorhanden zu sein schien. Nur so konnten Publikum und Künstler von der Diktatur des Partei wesens, die da¬ mals die deutsche Literatur tyrannisierten, befreit werden: »man«, das heißt: der Kunstrichter war entweder für Gottsched oder für »die Züricher«, und der Leser ein Tor, der von ihnen belehrt wer¬ den sollte. Was Nicolai überdies am Herzen lag, war der Mangel an Respekt für die eigene Sprache: Hier ist der Hr R[ezensent] so schlau, den deutschen Lesern die alte seltsame Uebersezzung des von Bergen10 vorzulegen und sie zu ver¬ sicheren, das dieser am getreulichsten und der Urschrift am ähnlich¬ sten übersezze; Er sucht seine Leser dadurch verdekkt zu über¬ reden, daß Milton im engländischen ebenso kauderwälsch rede als sein Uebersezzer im Deutschen. Ich kan wenigstens keine andere Ursache einsehen, denn wir haben ia sonsten eine neuere, reinere und gewiß treuere Uebersezzung (20,33). Nach dieser Einleitung des Themas stellt Nicolai den Urtext und die Bergsche Übersetzung einander gegenüber und kommt zu dem Schluß: Man muß einen besondern Geist haben, um zu behaupten, daß das deutsche dem englischen ähnlich sei. Milton schreibt rein,flüssencl, mahlerisch und starck... Bergen schreibt rauh, verwirrt, und drukket kaum die Hauptzüge des Originals aus... Er schreibt gar nicht der Natur der englischen Sprache gemäß, ob er gleich alle Augen¬ blicke wider die Natur der deutschen Sprache anstöst (20,35). Aber der Übersetzer muß nicht nur Spraehkenntnisse zur Ver¬ fügung haben, er muß auch die Materie verstehen und sich auf sie konzentrieren: Eben auf dieser Seite zeiget der Herr R daß er entweder noch ein geringer Schüler in der engländischen Sprache ist, oder seine Ge¬ danken gar nicht zusammen gehabt hat, als er die Stelle aus Hrn Laudern übersezt (20,64). Noch größer sind die Anforderungen an den Übersetzer, wenn es sich nur darum handelt, ein einzelnes Werk, sondern eine ganze ausländische Literatur zu würdigen: 18

Wann ie den Ausländern von der deutschen Literatur ein vortheilhafter Begriff soll beigebracht werden, so wird er auf diese Weisen durch einen Mann geschehen müssen, der einen aufgeklärten Geschmakk mit einer genauen Kenntniß der Deutschen und mit einer besondern Stärke und Zierlichkeit in der französischen Sprache verbindet. Nichts aber ist ungeschikkter dazu, als der lächerliche Haß, den unser He Neuigkeitssamler auf allen Seiten wider alles was nicht deutsch ist, blikken läßt (20,95 f.). In erster Linie bekämpfte Nicolais Untersuchung Lauder und Gottsched als Verkenner des »göttlichen Gedichts« von Milton, in zweiter Linie Gottscheds Unkenntnis der Materie, über welche er sich ein Urteil anmaßte, und letztlich den verbrecherischen Mi߬ brauch, den Gottsched in Nicolais Augen mit der Rolle des Kunst¬ richters getrieben hatte, so z. B. in puncto »Nationaleifer« (das heißt: Patriotismus und Chauvinismus), wo Gottsched »von ge¬ zwungenen Verunglimpfungen der Franzosen« zu »lächerlichen Erhebungen der Deutschen« (20,83) vorstieß und das eigentliche Thema aus den Augen verlor. Im Beschreiben und Analysieren dieser Unsitte gelang Nicolai nebenbei eine Feststellung, deren Bedeutung in Schillers Ästhetik und Dramatik eine so zentrale Rolle spielen sollte: der Konflikt zwischen dichterischer und historischer »Wahrheit«. Nicolai bezog Gottscheds »unmaßgebliche Gedanken« auf das Thema »christ¬ liche Epopöe« und folgerte: Er bedenkt nicht, daß die Dichter eben dadurch, daß sie Gedichte, und nicht Historien schreiben, die Erlaubniß erhalten, zu dichten, ... und daß man eben aus dem Grunde, den er anführet, gar keine Gedichte würde machen dürfen, weil uns die historische Wahrheit ebenfalls sehr schäzbar sein muß, und Virgil also sehr unrecht gethan haben würde, daß er die Dido wider die Zeitrechnung und Geschichte in die Zeiten des Aeneas sezzet (20,91 f.). Gottscheds Mißbrauch seiner Rolle als Kunstrichter kontra¬ stierte Nicolai mit einem Loblieb auf das »wirklich Schöne«: Leute die geschikkt sind, das edle Vergnügen aus den schönen Wis¬ senschaften zu schöpfen, das sich einem feinen Geschmak in densel¬ ben darbietet, widmen sich ganz diesen liebenswürdigen Schönhei¬ ten, ohne sich auf Nebendinge einzulassen... Die Begierde zu tadeln hat nicht so viel Macht über sie, daß sie ihre Augen vor wirklichen Schönheiten zuschliessen sollten (20,102). Und von solcher Begegnung mit dem Schönen sagte der Zwanzig¬ jährige: »Es giebt Schönheiten, die wie Pope sagte, nur die Hand eines Meisters erreichen kan, und in ieder weniger behutsamen Hand verunglükken würden« (20,66). 19

2. Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (Berlin, 1755).11 Die Abbitte und der Widerruf, um den die Göttingischen Anzei¬ gen (1756, S.1396) Gottsched gebeten hatten, erfolgten nie (s. den 10. der Briefe S. 78 ff.). Die moralische Unterstützung der Göttingi¬ schen Anzeigen hatte den jungen Nicolai vermutlich bestärkt, den Ursachen und Folgen der unseligen literarischen »Partheywirt¬ schaft« in Deutschland intensiv nachzuforschen. Wir wissen, daß Nicolai nach seiner Rückkehr nach Berlin im Januar 1752 jede freie Minute zum Lesen benutzte und ausdrück¬ lich die Lektüre alter und moderner deutscher Dichtung erwähnt. Anregung und Grund zu weiterem Nachdenken müssen ihm die Buchanzeigen in der damals von Lessing redigierten Sparte »Von gelehrten Sachen« in der Berlinischen Privilegirten Zeitung und dessen lange Rezensionsartikel in der Monatsbeilage der Zeitung, die zwischen April und Dezember 1751 unter dem Titel »Das Neu¬ este aus dem Reich des Witzes« erschienen war, geboten haben. Auch in den Königlich privilegirten Berliner Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen entstammten in deren Beilage »Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit« viele Be¬ sprechungen der Feder des jungen Lessing. Es besteht aber kein Zweifel, daß Nicolai den um vier Jahre älteren Verfasser dieser zum Teil scharfen Besprechungen erst kennenlernte, nachdem dieser 1754 zufällig die ersten Druckfahnen der Briefe überden Zu¬ stand bei dem Verleger Voss fand. Auch diese Schrift Nicolais wurde anonym veröffentlicht und zunächst im Januar 1756 in den Göttingischen Anzeigen Nicolais älterem Bruder zugeschrieben. Ende Mai folgte ein Dementi. Un¬ bewiesen bleibt die Behauptung, Lessing könnte den späteren Teil der Briefe beeinflußt haben (J,xiif.). Daß Nicolai der Verfasser war, wird durch seine Selbstbiographie (s. Lowe) und durch Nicolais bisher ungedruckten Brief vom 26. März 1759 an den Dichter Uz12 bestätigt. In seiner für Lowe verfaßten Autobiographie beschreibt Nicolai, wie er nach seiner Rückkehr nach Berlin (Januar 1752) im »Hand¬ lungsgeschäfte« kräftig mithalf, aber alle Freizeit zum Lesen und zum Nachdenken über das Gelesene ausnutzte und während die¬ ser Zeit hauptsächlich griechische und lateinische Klassiker sowie deutsche Dichter las. »Unbekannt aber mit der Welt und mit den Leidenschaften der Menschen, konnte der Jüngling den Zustand der damals durch zwei Partheyen getheilten deutschen Literatur nicht begreifen«. Da er niemand um sich hatte, mit dem er hätte darüber sprechen können, mußte er »alles in sich selbst suchen« und grübelte über diese »unbegreifliche Einseitigkeit« der kämp¬ fenden Literati, »um dadurch der Wahrheit näher zu kommen, die 20

zwischen beyden Partheyen lag« {18,12 ff.). Daß Nicolai zur Brief¬ form griff, um seine Ansichten zu dokumentieren, mag bewußtes Echo auf Bodmers Discourse der Mahlern sein, könnte aber ebenso gut durch die sokratische Tradition oder zeitgenössische englische Romane angeregt worden sein. Boten die Streitigkeiten der Zürcher und Leipziger den Anlaß, sich mit der damaligen deutschen Literatur zu befassen, so ver¬ dichtete sich im Laufe der Briefe gewissermaßen die Diagnose der »Zustände der schönen Wissenschaften in Deutschland«, und aus der Diagnose erwuchsen Anregungen, wie eine Besserung einge¬ leitet werden könne und müsse. Auf diesen Anregungen fußen ihrerseits die weiteren Unterneh¬ men des jungen Nicolai: seine Abhandlung vom Trauerspiel (1756), das von ihm dotierte Preisausschreiben für das beste deutsche Trauerspiel (1756), das Programm für die Bibliothek der schönen Wissenschaften und derfreyen Künste (1756-59), sein Ver¬ sprechen, sich am Pariser Journal Etranger zu beteiligen (1756), die Briefe, die Neueste Litteratur betreffend (1759-1765) und die von ihm veranlaßte und verlegte sechsbändige Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1759-1763). Als Nicolai 1758 das Leben als Privatgelehrter und freier Schrift¬ steller aufgeben mußte, um den Verlag und die Nicolaische Buch¬ handlung zu übernehmen, konnte er seine Pläne nun im eigenen Verlag fördern. Wie nötig selbst 1759 noch eine Besserung des »itzigen Zustands« in Deutschland schien und wie sehr eine Besserung Nicolai am Herzen lag, läßt sein Brief vom 26. März 1759 an den Dichter Uz erkennen. Damals dachte Nicolai auch an eine neue Auflage der Briefe: Dero Beifall belohnet mich vollkommen, und macht daß ich das Schreien einiger mittelmäßiger Schriftsteller leicht vergeßen kan. Inzwischen sind Sie alzu gelinde und ich bin mir meiner Einschrän¬ kung bewußt; Bei der großen Dürre in dem deutschen kritischen Reiche, kan zwar vielleicht meine Bemühung einige Verdienste haben, hauptsächlich wegen der Offenherzigkeit damit ich allezeit meine Mein ung gesagt habe. - Aber ich weiß wohl was noch mehr gethan werden könte - Eine iugendliche Hitze, und der Verdruß daß sich alles lobte und streichelte, gaben mir bei den Briefen die Feder in die Hand, und hernach auch bei der Bibliothek, ich schrieb um den Schlechten Schriftstellern den Verdruß empfinden zu laßen den Sie mir im Lesen machten. Ich warf mich gleichsam in diese Bahn ohne zu bedenken wie viele Mühe mich erwartete. Her Moses half mir hernach, und bloß seine Freundschaft gegen mich macht, daß er sich noch mit den schönen Wißenschaften beschäftiget, da sonst dieselben eigentlich sein Werk nicht sind... 21

Meine Briefe denke ich ganz umzuarbeiten und zwei kleine Octavbändgen daraus zu machen. Ich stehe itzt mit dem Verleger im Streite, der sie, so wie sie sind, wieder druken will; Ich hoffe aber doch daß ich es hintertreiben will, denn ich bin mit vielen darin be¬ findlichen Dingen gar nicht zufrieden -Allenfalls desavouire ich die neue Auflage, und druke sie hernach selber. Eher als Ostern 1760 möchten sie wohl nicht fertig werden. Dieser Plan belegt den fortdauernden Anreiz der vier Jahre vor¬ her veröffentlichten Schrift, denn Nicolai würde dem schwer ver¬ schuldeten Verlag keine unverkäufliche oder schwer verkäufliche Neuauflage zugemutet haben. Die ausgesprochen positive Bespre¬ chung in den Göttingischen Anzeigen vom 5. Januar 1756 (3. Stück, S. 17-20) hatte der Schrift zu frühem Ruhm verholfen: Großentheils en thalten sie Urtheile über die beiden Seiten des poeti¬ schen Geschmaks, in die jetzt Deutschland bis auf einige wenige Dichter und Kunstrichter, getheilet ist. Wir werden zwar bey keiner Parthey durch unser Bekenntniß danck verdienen: allein wir mäßen es gestehen, daß wir noch nirgends etwas diese Streitigkei¬ ten betreffendes gelesen haben, welches mit unsern Gedancken so sehr, und in so vielen Stücken übereinstimmete: vielleicht ist es eine Partheylichkeit vor unsern allzu sehr in der Mitte gehenden Ge¬ schmack, wenn wir wünschen, diese Briefe, von deren Inhalt wir nur kleine Proben geben können, selbst in den Händen unserer Leser zu sehen. Wenigstens werden sie alsdann die Gründe aus¬ geführt finden, die uns bewegen, oft anders oder zurückhaltender zu urtheilen, als man es von beiden Seiten haben will... Da bey der Gelegenheit noch so vieler andern Dinge gedacht wird, die Herrn Gjottsched] vorgeworfen zu werden pflegen, sonderlich der unverantwortlich-widerhohlten Unwahrheiten Lawders wider Milton, so gefällt uns doch besonders, daß er an andern Orten (S.190,191) Herrn G. erste Verdienste um die deutsche Sprache und Geschmack, aufrichtig und unpartheyisch erkennet. Die darauffol¬ genden Gedancken, von den Ursachen des in Deutschland noch so wenig gereinigten Geschmacks verdienen eine sorgfältige Durch¬ lesung. Mäcenaten verlangt er nicht, nicht besoldete Poeten, und da der Poet, wenn er gut dichten soll nur einen kleinen Theil seiner Zeit auf das Vergnügen wenden darf, so siehet er es gern, daß der Dichter sich von einem andern Amt nähret. Hingegen mangelt uns eine Hauptstadt, die in England und Frankreich den Geschmack besser bestimmet, als bey uns ein Kunstrichter, und das Lob der all¬ zu freundschaftlichen Zeitungs-Schreiber verdirbt bey uns den Dichterehe er zu seiner Größe gekommen ist. Wir sind gewiß, daß dis Lob die geschworne Feindin einiger der größesten Geister in Deutschland gewesen ist: allein er bemerckt zugleich, wie empfind¬ lich bey uns die Dichter auch über den freundschaftlichsten unter 22

das wahre Lob gestreuten Tadel sind. Die Erfahrung hievon, und die Furcht uns den gantzen poetischen Haß, den diese Briefe er¬ regen werden, zuzuziehen, macht uns so behutsam, daß wir noch zuletzt dis Bekenntniß ablegen: wir sind nicht in allen Stücken mit dem Inhalt dieser Briefe einig, sondern gehen in einigen wenigen Stücken ab; und jedermann bitten, aus Liebe zu hoffen, daß es eben das Unangenehme, so von ihm geurtheilt ist, seyn möchte, darin wir nicht mit Hrn N. übereinstimmen. Wieder ging diese Besprechung, so bejahend sie war (und so ausführlich sie Nicolais Anregungen paraphrasierend brachte), auf das Wesentliche an Nicolais Briefen nicht ein. Nicht um die Tat¬ sachen der literarischen Fehde war es Nicolai zu tun gewesen (und die Verdienste sowohl Bodmers wie Gottscheds wurden von ihm anerkannt), nicht darum, »ein Lehrgebäude über den itzigen Zu¬ stand der schönen Wissenschaften hey uns zu liefern«, sondern um »Gelegenheit zu der Bestreitung gewisser allgemeiner Vorurtheile zu geben, die Aufmerksamkeit meiner Landsleute auf gewisse Gegenstände zu erwekken, auf die man bisher nicht genuch acht gegeben hat, den Streitigkeiten über den Gesehmakk einiges Licht zu geben, und die Leser zu vergnügen, ohne das Ansehen zu haben, daß man sie unterrichten wolle« (J,7). Die Ausführung dieser dreifachen Absicht verlief, wie die Kapi¬ telüberschriften (und Nicolais Selbstrezensionen in Bibliothekll) belegen, bewußt unpedantisch, ja unsystematisch. Die Beibehal¬ tung des Plaudertons der Briefform führte gelegentlich zu Längen, die jeder heutige Leser Nicolais ermüdend findet. Um so wichtiger scheint es, das Wesentliche dieser historischen Schrift, die eine so entscheidende, durchgreifende Wirkung hatte, wieder in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Es handelte sich in Nicolais Ausführungen nicht um die Schwächen einzelner Dichter und Schulen, sondern um die Anerkennung wahren Dichtertums und um die Einsicht in die Bedingungen, die solchem Dichtertum zu Grunde lagen und ohne die es nicht leben und blühen konnte. Nicolai stellte sich und den Lesern spezifische Fragen, deren Er¬ örterung die Briefsehreiber über achtzehn Briefe verteilten. Die Suche nach dem Quell des Schönen ist der Ausgangspunkt, und über die Etappen »Dichtertum«, »Dichter«, »Sprache«, »Kunstwerk« nähert er sich einer Definition dessen, was ihm zu wahrer Er¬ kenntnis der Dichtkunst erforderlich schien. Die nachdrückliche Betonung und Forderung dreier Programmpunkte: wahrer und wirklicher Kritik, Kenntnis der Schönheiten der Alten und Neueren und richtige Bestimmung dieser Schönheiten (4,148) war befreiend und bewirkte ein revolutionäres Klima für die deutsche Dichtung und Kritik. Nicolai stellte diese drei Forderungen an jeden »Lieb¬ haber« der Künste, in verstärktem Maße aber an den Kunstrichter. 23

Das Schöne verlegte Nicolai in »alle Arten der schönen Künste«, sowohl in einzelne Künste wie auch, in gewissen Fällen, in meh¬ rere vereinte Künste (L,24), das heißt: er entwickelte hier Gedan¬ ken, die fünfzig Jahre später in Friedrich Schlegels Ideal der Uni¬ versalpoesie gipfelten. Für Nicolai wie für seine Zeitgenossen war das Urbild des »wahren Schönen« identisch mit der Natur. In sei¬ nen Augen war der Weg der Natur »die einzige Quelle aller Schön¬ heiten«, der nur dem Genie offensteht. Denn aus den Geboten, die er dem Schriftsteller vorlegte, um die Natur als Kunstwerk zu er¬ arbeiten, sticht unter der prosaischen »Richtigkeit der Gedanken«, »Genauigkeit des Ausdrukks«, »Schönheit des Ganzen« (A,43f.) die eine mysteriöse Zutat hervor: der »poetische Geist, der dem Dich¬ ter nie das gehörige Feuer mangeln lässt«. Um aber diesen Funken »des göttlichen Feuers« zum Lodern zu bringen, bedarf es der vivida vis animi, der innewohnenden Kraft, die Nicolai mit »Genie«13 bezeichnete und ohne die man nie ein »schöner Geist«, ein Dichter wird. Das Genie, die vivida vis animi, ist die einzige Tür zu dem Vortreflichen in den schönen Wissenschaften, die Gelehrsamkeit und die Arbeitsamkeit, mit denen unsere schlechten Schriftsteller dasselbe ersezzen wollen, dienen nur den Mangel desselben noch mehr zu verrathen... Das Genie ist der wahre Probierstein eines schönen Geistes, nicht Regeln und eine übel angebrachte Gelehrsamkeit a,146). Jedoch: Es ist wahr, dass das Genie für sich nicht hinlänglich ist, und daß es weiter bearbeitet werden muß: Ich behaupte aber auch, daß es unsern angehenden Schriftstellern, die noch Genie haben, an einem vornehmen Mittel fehlet, dasselbe mehr zu excoliren, näm¬ lich an Kennte iß und an Umgang mit der grossen Welt... Sie [unsere jungen Dichter] kennen nichts als ihr Cabinet, ihr Collegium, ihre Universität, auf der sie schreiben: die Welt für die sie schreiben, ist ihnen unbekannt (A,147). Daher müssen alle, die sich Dichter nennen, und auch der von der Natur begabte Künstler lernen, wie die Leser Winckelmanns, »den Pinsel in den Verstand zu tauchen«. Der Dichter muß Sprache und Ausdruck zu Gebote haben. Nicolai führt an, daß der Franzose lernt, sich nicht nur der Sprache des Herzens, sondern auch der Sprache des »Witzes« zu bedienen, sich warmherzig sowie geist¬ reich auszudrücken; daß der Engländer durch »ernsthaftes Nach¬ denken« und »die fleißige Lesung der Alten« lerne (J,147). Hin¬ gegen fand Nicolai, deutsche Dichter hätten »seitOpizens Zeiten.... mehr aus einem Ohngefähr, als aus einer richtigen Kenntnis des Schönen, ihre besten Werke hervorgebracht«. »In den Werken unserer meisten Dichter findet man eben so viel Spuren der Pedanterei, als der Nachläßigkeit« (A,67):

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Ich wünschte, daß alle unsere Schriftsteller anfingen, sich mehr um die Sprache zu beküm m ern, als es bisher geschehen ist. Es wäre eine Unternehmung, die nicht vielen Schwierigkeiten unterworfen sein, und dennoch einen unausbleiblichen Nuzzen mit sich führen würde, wann man anfinge, auf die Bedeutungen, und Verbindun¬ gen der Wörter, näher acht zu geben, und einen Versuch machte, Anmerkungen über unsere Sprache... herauszugeben. Sonderlich wäre es ein Werk von einem unbeschreiblichen Nuzzen, wann jemand ein Werk von den Gallicismen unserer Sprache schrieb,... aber der Verfasser eines solchen Werks, müste kein Pedant sein, der gute und zierliche Redensarten, darum verwürfe, weil man in der französischen Sprache ähnlich lautende hat, sondern er müste das Genie beider Sprachen wohl kennen. Die deutschen Gesellschaften würden diesen Namen besser verdienen, wann sie sich die Mühe gäben, die herauskommende Bücher in Absicht auf die Sprache zu kritisiren, neugebrauchte Redensarten zu prüfen, die Wortfügun¬ gen zu untersuchen und zu bestimmen, unsern häufigen Uebersezzern, besser deutsch zu lehren, und also durch eine oft wiederholte Kritik das Vorurtheil zu vertilgen, daß es unanständig sei, sich um das was die Sprache angehet, zu bekümmern, welches leider nur alzusehr bei uns im Schwange ist. Nur wegen gewisser Leute muß ich erinnern, daß sie eine Mittelstrasse beobachten müsten, um die Sprache nicht satt zu machen, anstatt sie zu poliren. Wann dann also unsere Sprache in eine etwas bessere Ordnung gebracht, und auf mehr als eine Art, der Weg zu einem volständigen deutschen Wörterbuche gebahnet sein wird, So könte es vielleicht einer Gesellschaft vernünftiger und erfarner Männer, denen es an gehörigen Hilfsmitteln, an Sprachen u. s. w. nicht fehlet, wann sie vorhero eine Zeitlang gesammelt, gelingen, ein so wichtiges Werk zu Stande zu bringen, welches dem Deutschen so viel Nuzzen als Ehre bringen wird (T104f).14 Daher ergibt sieh für alle deutschen Schriftsteller, auch für den mit »Genie« begabten Dichter, daß er zunächst die eigne Sprache und deren Ausdrucksmöglichkeiten auf das einfühligste meistern muß, denn Worte sind Symbole: »Die Wörter sind Zeichen der Ge¬ danken: Gebet uns dunkle, verwirrte und unansehnliche Zeichen, so wird uns das Bezeichnete dunkel, verwirrt und unansehnlich Vorkommen« (4,110). Diese Umsetzung von Gedanken in Wörter und Wendungen ist sowohl der wortmalerischen Fähigkeit des modernen Dichters wie seinen Kenntnissen und Einsichten unterworfen. Die Beispiele, die Nicolai anführt, um die Notwendigkeit und die Gefahren im Gebrauch der dem Thema zeitgemäßen, das heißt: »natürlichen« Sprache zu illustrieren, zog er aus Klopstocks biblischem Epos Messias und Bodmers Übertragung der Minnesinger-Dichtung. Er

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verweist nachdrücklich auf den vom Dichter zu vermeidenden Zu¬ sammenprall von »natürlich«/»unnatürlich«, von »naiv«/»sentimentalisch« in Gedanke und Sprachwendung (7,56) und umreißt die so entstehende ästhetische Verwicklung: Wenn man hingegen in dem engsten Verstände die Natur nach¬ ahmet, indem man sie schildert, wie sie ist,ohne ihr die Reize der Kunst zu leihen, so waget man ein ungleich schwereres Unterneh¬ men; weil man die schönste Seite der zu schildernden Sache wäh¬ len muß, weil die Wendungen unnüz und schädlich werden, oder wenigstens so unmerklich sein müssen, daß sie von der Einfalt der Natur unmittelbar hervorgebracht scheinen. Die natürlichen Ge¬ danken gleichen den hellen Farben auf welchen der kleinste Flekk zu sehen ist, und es ist im übrigen nichts leichter geschehen, als daß ein unbedachtsamer Dichter sophistische Schlüsse denienigen in den Mund leget, aus denen die blosse Natur reden soll, und, daß er ein süsses Spiel von spitzfindigen Concetti an die Stelle der edlen Einfalt sezet. (5,57 f.) Somit scheint es, als ob Nicolai im Laufe der Briefe »Natur« in vierfacher Weise anwandte: die freie Natur als Quelle des Schönen, als Modell für den Künstler, aber auch als »Natur des Menschen« und als »der Natur des Gedankens gemäß«, ffingegen verband Nicolai mit dem Begriff des »Klassischen« in der Kunst schon 175455 die Vorstellung der harmonischen Übereinstimmung von Form und Inhalt, von Gedanke und Ausdruck. In diesem Sinne betrach¬ tete er den Prosaisten von Mosheim, die Dichter Canitz und Geliert als klassisch und erkannte die Dichtungen von Haller, Klopstock, Uz, Wernike, Zachariä, das Drama von J.Elias Schlegel, das bürger¬ liche Trauerspiel Lessings und das Wirken der »Bremischen Bei¬ träger« an, die so sehr geholfen hätten, »den guten Geschmakk algemeiner zu machen« (7,142). Was aber ließ sich tun, um »eine nüzliche Bevolution in der ge¬ lehrten Welt zu beschleunigen« (7,30), das »kritische Dienstbotentum« der Rezensionen abzuschaffen, die Mittelmäßigkeit vieler deutscher Schriftsteller und solcher, die als Dichter gelten wollten, zu beheben? Nicolai verneinte emphatisch, daß Dichter durch »Mäcenaten« oder durch Besoldung schöpferischer würden: »Mich dünkt aber, es fehlet den meisten unter ihnen etwas, das sie durch keine Besoldungen und durch nichts in der Welt erlangen könen, nemlich Genie [d. h. Inspiration]« (7,145). Ihnen allen, dem Leser, Kritiker, Dichter, kann nur auf zwei Wegen geholfen werden: durch Kritik und Kenntnisse. Nicolai plädierte für »eine genaue und gesunde Kritik, das einzige Mittel den guten Geschmakk zu er¬ halten und zu bestimmen« (7, 134): Die Hülfe der Kritik ist uns nur desto unentbehrlicher, da wir an¬ fangen müssen, die feinen Schönheiten zu erreichen, und die feinen

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Fehler zu vermeiden, die nicht, gleich den grobem, sogleich in die Sinne fallen und auf die wir bisher zu wenig Acht gegeben haben... Sind nicht Richtigkeit, Genauigkeit, Ueberlegung, Ordnung, die Eigenschaften aller Werke, die den algemeinen Beifall erhalten haben, den sie verdienen? Haben diese grosse Geister nicht selbst ihre Werke der genauesten Prüfung unterworfen, und sind sie als¬ dann noch eben so groß, wann sie diese Prüfung verabsäumet haben? Warum solten wir unsere übrigen Schrifsteller nicht einer eben so genauen Prüfung unterwerfen? ... Solten wir nicht ver¬ pflichtet sein, dem Publico den schwer zufrieden zu stellenden Geschmakk beizubringen, der allein Volkommenheiten richtig beurtheilet, und welcher verhindert, daß niemand auf den Titel eines grossen Geistes Anspruch machen darf, als der ihn verdienet (5,136 f.). Zur Bekräftigung seiner Meinung zitierte Nicolai »den Grafen von Shaftesbury«, einen Mann »den ich unendlich hoch schäzze, und dem niemand seine Hochachtung versagen kan, der ihn kennet«: Dieser berühmte Schriftsteller, der dem Geschmakk nicht allein die Herrschaft über das Reich des Wissens einräumet, sondern der auch die Fertigkeit in der Weltweisheit und Sittenlehre, das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden, einen Geschmakk zu nennen beliebt, und dadurch die schönen und hohem Wissenschaften auf einen einigen Grund zu bauen gedenkt, dem also der Begriff des Geschmakks weit wichtiger und fruchtbarer war, als er nach der gemeinen Erklärung ist, giebt gleich wohl die Bemühungen der Kritik als das einzige Mittel an, einen richtigen und sichern Ge¬ schmakk zu erhalten (5,137). Dieser Meinung pflichtete Nicolai nun auf das kräftigste bei: Die Kritik ist die einzige Helferin, die indem sie unsere Unvollkom¬ menheiten aufdekt, in uns zugleich die Begierde nach hohem Voll¬ kommenheiten anfachen kan. Der Zustand der schönen Wissenschaften bei uns, mag er nun sein wie er wolle, so ist es gewiß, daß die genaueste Kritik uns un¬ entbehrlich ist. Wann man von deutschen Genies Werke erwarten soll, die der Achtung der Nachwelt würdig sind: noch weit unent¬ behrlicher aber ist sie uns, wann wir noch nicht wahre Schön heiten von Flittergolde zu unterscheiden wissen,... (5,138). Der Kritiker muß »bedachtsam« (verantwortlich) aus »einer wahren Kenntniß der Eigenschaften des Schönen«, des »wahren Schönen«, des »wahren Wesens der Dichtkunst« (5,148) heraus Dichter und Kunstwerk beurteilen. Lob muß berechtigt, Tadel ver¬ nünftig bleiben, und dem Mittelmäßigen muß »die Hoffnung auf unsern Beifall gänzlich abgeschnitten werden« (5,140). Nur so wird man auf wahre Kunstwerke, gute Dichter, gute Dichtung und gute Trauerspiele zählen können.

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Nun gab es eine Dichtungsart, bei der es Nicolai besonders dringlich schien, daß die Postulate »Kritik« und »Geschmack« auf sie angewandt würden: das deutsche Drama. Gottscheds fanati¬ scher Fremdenhaß, sein »Nationeneifer«, der nur alles Deutsche lobte und Mittelmäßige bis in den Himmel hob, sollte endlich durch Einsicht in die Verdienste der Dramatiker in Klassik und Moderne, durch vernünftige Anwendung der Einheiten von Ort und Zeit, durch Kenntnis der »Spielregeln« eines Theaterstückes von Aristo¬ teles bis zu den Modernen ersetzt werden und dem deutschen Drama zu guten »Originalstiikken« verhelfen. Nirgends schien es Nicolai so sehr der Reformen zu bedürfen: Wir vermissen, vielleicht nirgends so sehr, den Mangel einer Haupt¬ stadt, deren Geschmakk der algemeine Geschmakk des ganzen Landes ist, und nach der sich der Geschmakk der übrigen bildet... Die wenigsten unserer Städte haben eine beständig offene Schau¬ bühne. In denienigen Städten, wo noch welche sind, sind die Schau¬ spieler, denen oft die Regeln der dramatischen Dichtkunst, un¬ bekannt genug sind, fast die einzigen Richter über die Wahl und die Güte der Stükke; diese sind der schlechten Originalstükke ge¬ wohnt, ... sie spielen sie, und sie spielen sie wieder, und die Zu¬ schauer ... werden des Mittelmäßigen gewohnt, oder lassen sich durch die Kunst des Schauspielers hintergehen ... Man ist zu be¬ quem, oder zu unwissend, oder zu gefällig, diese und andere wesentliche Fehler anzumerken, und zu rügen; eine solche Gelin¬ digkeit ist schuld, daß unsere Schaubühne immer in ihrer Kindheit bleibt (J,85). Dies schien Nicolai besonders bei dem deutschen Lustspiel der Fall zu sein, und er schrieb es der Tatsache zu, daß die deutschen Schriftsteller »aus dem Innersten ihres Cabinets« Stücke verfaßten. Aber: Wie kann er die Welt schildern, die er nicht kennt, und wie werden ihm die feinen Wendungen, die Scherze ohne Kunst, die aus der Natur der SachefHissen müssen, gelingen; wann er sie nicht in dem Umgänge, mit Leuten, von Erziehung, von Geschmakk, und fei¬ nem Sitten gelernet hat? Es ist aber n ichtgen ug, in der grossen Welt zu leben, man muß sich die Mühe geben, die Menschen zu kennen, und die verschiedene Charaktere, nebst ihren noch verschiedenen Wendungen und Wirkungen zu entwikkeln wissen (T,86). Es ist historisch wichtig, daran zn erinnern, daß Nicolai hier, das heißt: mindestens vier Jahre vor Lessings 17. Literaturbrief (16.Feh. 1759), das Lob Shakespeares sang und die englische Schaubühne der französischen »in ihrer Art« für ebenbürtig hielt (5,ST), ja fest¬ stellte, daß der Stoff der englischen Komödie viel mannigfaltiger sei. »Ich sehe in denselben allezeit die Menschen unter den ver¬ schiedensten Gestalten und sehr öfters mit den feinsten Auswikke-

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lungen ihrer Neigungen. In den meisten französischen Komödien, weiß ich schon voraus, was ich sehen werde, einen verliebten Herrn, einen lustigen Diener, und ein Kammermädgen, das wizziger ist als ihre Gebieterin« (J,88). Unter den deutschen Komödienschreibern pries Nicolai nach dem schon verstorbenen J.E.Schlegel nur Lessing, »von dessen be¬ sonderer Einsicht in die theatralische Diskussion sich die deutsche Schaubühne viele Vortheile versprechen kan«. Doch zu Nicolais Be¬ dauern glaubte Lessing, als deutscher Dramatiker, nicht auch als Kritiker deutscher dramatischer Werke auftreten zu können. Noch schlimmer stand es nach Nicolais Ansicht allerdings mit »unsern Trauerspielen«, an denen er die »wahren Eigenschaften der tragi¬ schen Schreibart vermisste« - obwohl darüber, wie er in Erin¬ nerung rief, eine gute Abhandlung von J.E.Schlegel Vorlage (7,90). Aus dem Bedauern über diese große Lücke in der deutschen Dichtkunst entstand Nicolais Plan zu einem Preisausschreiben für das beste neue deutsche Trauerspiel und als Erklärung seiner Ab¬ sicht die Abhandlung vom Trauerspiel, welche im Sommer 1756 abgeschlossen wurde.

3. Beiträge zu Journal Etranger ou Notice exacte et detaillee des ouvrages de toutes les nations etrangeres, en fait d’arts, de Science, de litterature, 1756-57 (Paris, 1754-82).15 Zwischen dem Abschluß der Briefe und der Abhandlung vom Trauerspiel lagen bis in den Oktober des Jahres 1755 die intensiven, »fast täglichen«, mehrstündigen Diskussionen zwischen Nicolai, Lessing und Mendelssohn.16 Hinzu kam Nicolais Aufnahme in Miichlers Gelehrtes Kaffeehaus, wo er mit Gelehrten zusammentraf und sich in einer Welt des regen geistigen Austausches bewegen lernte. Der Ruhm, den ihm seine freimütigen Briefe eingetragen hatten, verschaffte ihm 1756 die Mitgliedschaft im Montagsclub (zu dessen 100 Mitgliedern er bis zu seinem Tode zählte), veranlaßte Lessing, ihm das Kapitel über die Englische Schaubühne in der Theatrali¬ schen Bibliothek anzutragen und bewegte den Leipziger Dichter und Professor der Poetik, J.E.Geliert, dem Grafen Moritz von Brühl Nicolai als geeignetsten deutschen Mitarbeiter für das Pariser Journal Etranger vorzuschlagen. Lessing leitete die Anfrage von Leipzig aus am 28. April 1756 an Nicolai (/J,56); doch dieser teilte erst am 31. August dem Freunde mit: Zu der Correspondenz nach Frankreich habe ich mich endlich auf das sehr höfliche Schreiben des Hm. Gr v. Brühl entschließen müs¬ sen. Doch verlange ich nichts dafür, und will mich auch zu nichts gewissem engagiren. ... Ich habe den Franzosen vor der Hand 29

nichts geschickt, als einen Catalogue raisonne von den jetzt in Deutschland bekannten Journalen (/ Charakters »Charakterentwickiung< Wesentliches beizufügen hatte. Diese Feststellungen sowie der Nachdruck auf eine dem Sprecher und den Umständen gemäße Sprache und Ausdrucksweise bildeten später das Funda¬ ment des Dramas der Genieperiode und sind daher von literar¬ historischer Bedeutung. In der Abhandlung vom Trauerspiel stellte Nicolai seine Ansichten völlig in den Dienst der Forderung eines deutschen Originaldramas, das dem englischen und französischen ebenbürtig sein müsse. 5. Geschichte der englischen Schaubühne (August 1756). Druck in Lessing, Theatralische Bibliothek (1758), 1-49 Da das englische Theater weitgehend unbekannt und unter¬ schätzt war, wollte Nicolai im 2. Stück der Bibliothek seine »kurze Geschichte der englischen Schaubühne bis auf die Revolution un¬ ter Carl II« bringen. Wir wissen von dieser Schrift, daß sie bereits am 31. August 1756 fertig vorlag. Durch die Erbteilung unter den Brüdern Nicolai und den Ausbruch des Zweiten Schlesischen Krie¬ ges und die hierdurch entstandenen Veröffentlichungsschwierig¬ keiten kam die Englische Schaubühne zunächst nicht zu ihrem Recht und erschien erst 1758 an anderer Stelle. Wie lebhaft Nicolai sich noch nach Abschluß der Schrift mit der Materie beschäftigte, zeigt der Brief vom 27. Dezember 1756 an Lessing: »Mein ganzes Leben seit ungefähr anderthalb Monaten, ist wie eine englische Komödie, voller Verwirrung ohne Plan, voller närrischer Scenen, über welche die Zuschauer lachen, und nur die spielenden Perso¬ nen sich ärgern; ein Incidentpunkt folgt dem andern, und man kan keine Auflösung absehen« (16,59). 34

Erst 1758 erschien der zum Teil skizzenartige Entwurf in Lessings Theatralischer Bibliothek direkt vor Lessings Beitrag »Von Johan Dryden und dessen dramatischen Werken. Insbesondere von dessen Versuch über die dramatische Dichtkunst« (26,50-128). In seiner Einleitung erklärt Nicolai kurz, daß es sich hier wohl um die älteste Theatertradition Europas handele, die, von Mönchen begonnen und durch wandernde »Mummers« (Spieler in einem Mummenschanz) fortgesetzt, zuerst Mysterienspiele über Themen des Alten und Neuen Testaments, dann bis zur Reformation »Moralities« geboten habe, und zwar in kurzen, eher dialogmäßigen als dramatischen und dem Lustspiel nahen Szenen. Die Bezeichnung moralities und die Wahl deren Themen wurde von Nicolai auf den zeitgemäßen Kern der Moral zurückgeführt, »denn die Religion war damals ein Hauptgegenstand. Wenn die Moralities noch jetzt in England gewöhnlich wären, so würden sie eben so fleißig von politischen Sachen handeln« (24,12). Erst 1561 kommen wir endlich auf das erste englische Stück, wel¬ ches den Namen eines Trauerspiels verdient (nämlich Thomas Sackville, Lord Buckhurst, s. 24,14), während Nicolai in dem »wah¬ ren Anfang der eigentlichen englischen Komödie« damals noch »nichts besseres als Possenspiele« zu sehen vermochte (24,18). Knappe biographische Skizzen beweisen erhebliche Kenntnisse der Alten und Neuen. So erfolgt z.B. in der Biographie John Hey¬ woods ein Abstecher zum Drama Senecas (24,21). Doch der eigent¬ liche, historisch wichtige Kern der Schrift Nicolais liegt in der ekstatischen Anerkennung, die Nicolai (im Gegensatz zu J.E.Schle¬ gel) dem englischen Theater des siebzehnten Jahrhunderts zollt und mit der er seine einleitende Übersicht beendet: Endlich ward zu Anfänge des vorigen Jahrhunderts das engländische Theater auf eine weit höhere Staffel der Vollkommenheit gebracht. Shakespear, Beaumont, Fletcher und Ben Johnson waren die großen Genies, die es mit unsterblichen Werken bereicherten, und es auf einmal zu einem Theater machten, welches, nach dem Griechischen, für einen Kenner der schönen Wissenschaften das aller interessanteste ist, und dem Ansehen nach auch bleiben wird (24,23). Die nun folgende Biographie Shakespeares enthält knappe Lebensdaten, Titel und Datum seines ersten Stückes und biblio¬ graphische Hinweise auf die erste Folioausgabe und »die vorzüg¬ lichsten von den nachherigen Ausgaben«. Marlowe, Chapman u.a. werden dann mit Bezug auf Shakespeare besprochen. Nach 22 Kurzbiographien erfolgen nur Namensaufzählungen auch heute (bis auf John Webster) vergessener Dramatiker. Der Bezug auf R. Dodsleys Miscellanies (1745) erlaubt die Vermutung, daß Nico35

lais Kennntnisse nicht nur aus den Quellen, sondern auch aus An¬ thologien und Sekundärliteratur stammten. Wichtig für Nicolais und Mendelssohns Arbeiten, in geringerem Maße für die Lessings, sind die Lobpreisung Shakespeares und die Verweise auf George Lillo und Thomas Otway23. Es bliebe zu unter¬ suchen, inwieweit Lessings Interesse an Dryden und dem Essay of Dramatick Poesie auf Nicolai zurückzuführen ist. 6. Bibliothek der Schönen Wissenschaften und der Freyen Künste (Leipzig, Juli 1756-Ostermesse 1759).24 Nicolais Vorläufige Nachricht der Bibliothek, in der er das Pro¬ gramm einer ehrgeizigen literarischen Zeitschrift entwarf, wurde zunächst im Sommer und, in kürzerer Form, im Oktober 1756 sepa¬ rat bei dem Berliner Verleger Lange gedruckt (JJ,49). Am 3.Novem¬ ber 1756 schrieb er an Lessing: Unser Verleger in Berlin ist ein Phlegmaticus, mit dem nichts anzu¬ fangen ist. Der Krieg liegt ihm im Kopfe; es fehlt an Papier; der Buchdrucker, bey dem das Manuscript schon seit einem halben Jahre ist, hat viel zu thun; kurz es ist noch nicht angefangen zu drucken. Ich habe deswegen in der Messe eine kleine zweyte Nach¬ richt drucken lassen; aber Gott weiß, was er damit gemacht, und ob er sie auf der Messe ausgetheilet hat. Hier wenigstens hat sie noch kein Mensch gesehen. Ich schicke Ihnen aber ein Exemplar hierbey. Thun Sie mir doch die Liebe, und lassen es in den Leipziger gelehrten Zeitungen bekant machen. Als schließlich durch Lessings Vermittlung der dritte der befrag¬ ten Verleger, J.G.Dyck, sich bereit erklärte, die neue Zeitschrift in seinen Verlag aufzunehmen, wurde die Vorankündigung unter dem Titel »Vorläufige Nachricht, welche anfänglich besonders her¬ ausgekommen« in das erste Stück des ersten Bandes (S. 1—16) auf¬ genommen. Diese in ihrer Art beachtliche und aufschlußreiche Programmschrift legte Rechenschaft ab über Zweck und Ziel, be¬ absichtigte Inhaltsgebiete und Methodik der Kritik. Nicolai beginnt die unsignierte Vorankündigung mit drei Absät¬ zen über den Einfluß der schönen Wissenschaften auf die Bildung des Geschmacks und auf Kritik als Mittel zu dessen Läuterung: Die schönen Wissenschaften sind so reizend, und die Beschäftigung mit denselben ist so angenehm, daß die Mühe auf das reich lichste belohnet wird, die man anwendet, um zur Vollkommenheit in den¬ selben zu gelangen. Ausser dem Einfluß, den sie in die ernsthaftere Wissenschaften und in alle Theile des bürgerlichen Lebens haben, erstrecket sich ihre Herrschaft über alle Kräfte unserer Seele, deren Wirkungen sie verbessern und dieselben mit einem Vergnügen durchflechten, das sich über alle unsere Handlungen ausbreitet. Ein Liebhaber der schönen Wissenschaften, empfindet die heiter36

sten Aussichten des menschlichen Lebens in ihrem vollkommensten Schmuck; die ganze Natur liegt vor ihm; ihre Gestalt, ihre Worte, ihre Töne rufen ihm Vergnügen zu, wann der Verächter der schönen Wissenschaften, dabey, als bey einer Sprache, die er nicht versteht, unempfindlich bleibet. Ganze Völker; werden durch den Einfluß der schönen Wissenschaften gesitteter und geselliger... Ein Volk bey dem die schönen Wissenschaften blühen, kann also der Hochachtung anderer Völker und der Nachwelt, gewiß seyn; aber es kann derselben, nur alsdenn gewiß seyn, wann sein Geschmack vollkommen ist, und das Mittelmäßige so wie das Schlechte ver¬ dammet. Zu dieser Genauigkeit des Geschmacks, welche die höchste Staffel der Bliithe der schönen Wissenschaften ist, und welche eine Nation zu einer Lehrerinn anderer Nationen machet, werden wir nie gelangen, wann wir uns nicht bemühen die Gründe der schönen Wissenschaften aufs genaueste zu untersuchen. So lange man die schönen Wissenschaften nur aus einer Art von Instinkt treibt, so lange man die Wahl verschiedener Schönheiten eines Werkes, nur durch ein Gerathewohl bestimmet, so lange man aus Gefälligkeit gegen sich selbst und gegen andere, kleine Fehler so wenig achtet, als kleine Schönheiten; kurz so lange man nichts mehr wünschet als nur mittelmäßig zu seyn, so lange wird man nie hoffen können, zu einer erhabnen Staffel des Geschmacks zu gelangen. Die Kritik ist es also ganz allein, die unsern Geschmack läutern, und ihm die Feinheit und Sicherheit geben kann, durch die er so¬ gleich die Schönheiten und die Fehler eines Werkes einsieh t; und ein feiner Geschmack ist nichts anders, als eine Fertigkeit die Kritik jederzeit auf die beste Art anzu wenden. Wann man ausser diesem den Geschmack zum Richter die Werke der schönen Künste machen wollte, so würde man nie gründlich und übereinstimmend urtheilen, und ein und eben derselbe Gegenstand, würde nach dem Eigen¬ sinne jeder einzelnen Person, bald schön, bald häßlich heißen müs¬ sen. Wir werden hingegen nie befürchten dürfen, falsch zu urtheilen, wann wir die Urtheile unsers Geschmacks jederzeit durch die Gründe der Kritik, bestätigen können. Um genügend für die Beförderung der schönen Wissenschaften und des guten Geschmacks unter den Deutschen zu tun, beabsich¬ tigte Nicolai, »alles, was uns zur Kenntniß der Geschichte und der Verbesserung der schönen Künste« des In- und Auslands, beson¬ ders auf dem Gebiet der Beredsamkeit und der Dichtkunst, zweck¬ dienlich schien, vorzulegen. Er entwickelte hier erstaunlich selb¬ ständige Gedanken über das Thema Kunst: Weil wir aber überzeugt sind, daß die schönen Künste durch die ge¬ naueste Bande mit einander verknüpft sind, so werden wir von der Malerey, Kupferstecher-Bildhauer- und Baukunst, wie auch von der Musik und Tanzkunst öfter handeln [und solche Berichte mit 37

Kommentar versehen, so daß] die richtige Kenntniß derselben be¬ fördert werden kann. Wir werden uns besonders bemühen ihre Uebereinstimmung mit den übrigen schönen Künsten, darzuthun, und zu zeigen, daß des Eigenen ohnerachtet, das jede Kunst für sich hat, dennoch alle in ihren Grundregeln übereinstimmen (29,4). Nicolai wollte von deutschen, englischen, französischen Werken »Nachricht geben«, und zwar auf sehr verantwortungsbewußte Weise: Unsere vornehmste Sorge, wird dabeyseyn, den Lesern einen richti¬ gen Begriff von dein Buche... beyzubringen. Wir werden daher von prosaischen Abhandlungen von einer Wichtigkeit, aneinanderhängende Auszüge geben, worinn der wahre Sinn des Verfassers ge¬ treulich vorgetragen werden soll. Wenigstens wird das Neue und Besondere eines Buches jederzeit cmgezeiget werden; ... Diesem werden wir... unsere Urtheile hinzufügen; wir werden sie aber nie vor dictatorische Machtansprüche geben, sondern es werden viel¬ mehr die Leser, durch den vorangeschickten Vortrag des Inhalts und der Meynungen des Buchs, in den Stand gesetzt seyn, zu ent¬ scheiden, ob die Folgerungen, die wir daraus ziehen, richtig sind. Wir werden uns dabey vornehmlich der Unpartheyligkeit befleißi¬ gen. Die Gründe der schönen Wissenschaften,werden uns leiten, nicht der Ruhm oder die Freundschaft eines Verfassers. Wir sind kühn genug auch dem berühmtesten zu sagen, daß er gefehlt habe, und wir werden seine übrigen Verdienste dadurch nicht zu schmä¬ lern suchen (29,5 f.). Nicolai betonte nachdrücklich den Wunsch, »völlig neutral« und »keiner Partheyen Freund oder Feind zu sein« (29,6), nicht aus »unzeitiger Gefälligkeit Fehler für Schönheiten auszugeben«, sich »jederzeit in den Schranken der Wahrheit zu halten suchen« (29,7), eigene Fehler zu gestehen, Bitterkeit zu vermeiden, aber »ein jedes Ding hei seinem Namen, einen elenden Schriftsteller einen elen¬ den Schriftsteller und einen öden Kopf, einen öden Kopf nennen« (29,7): Unsere Aufrichtigkeit wird uns nichts destoweniger nicht hindern, in den gehörigen Fällen Nachsicht zu gebrauchen. Wir werden auf¬ blühende Genies, nie durch unzeitig scharfe Kritiken abschrecken, so wenig als wir sie durch unzeitige Lobsprüche verderben werden. Wir erinnern hierbey, daß wir die Werke der jungen deutschen Liebhaber der schönen Wissenschaften häufiger anführen und ge¬ nauer beurtheilen werden, als es vielleicht sonst gewöhnlich ge¬ wesen ist. Wir halten die Beurtheilung der Werke junger Leute, der Beförderung der schönen Wissenschaften noch zuträglicher, als die Beurtheilung bejahrter Schriftsteller (29,7 f.). Nicolai ging dann auf die literarische Fehde auf deutschem Sprachgebiet ein: 38

Ob wir gleich unsere Schrift nicht zu einem Schauplatz der Strei¬ tigkeiten und des Wortgezänks machen wollen, so werden wir doch die Streitigkeiten, die sich auf Privataffekten, sondern auf eine wahre Liebe zu den schönen Wissenschef ten gründen, nicht daraus verbannen... Wir bieten daher unsere Schrift denen mit Vergnügen an, die streitige Punkte untersuchen wollen, wann anders ihre Untersuchungen wirklich nützlich sind, und in den Schranken der Artigkeit und des Wohlstandes bleiben (29,8 f.). Über die Formulierung »Meinung sagen« geriet Nicolai zum Thema des Sprachgebrauchs: Weil wir die Reinigkeit der Sprache und die Richtigkeit des Aus¬ drucks für zwey Stücke halten, die bisher von unsern deutschen Schriftstellern nicht allein vielfältig mit einander verwechselt, son¬ dern auch auf eine kaum glaubliche Art vernachläßigt worden sind, so werden wir diese wichtigen Theile der schönen Schreibart nicht allein selbst zu beobachten suchen, sondern auch bey den Schriften, die wir beurtheilen, sorgfältig darauf Acht geben, und werden daher manche Schriften, deren Vorwurf sonst eigentlich nicht in unser Fach gehöret hätte, in Absicht auf die Schreibart be¬ urtheilen, um das Vorurtheil bey uns immer mehr auszurotten, daß man in Schriften, die die schönen Wissenschaften nicht zum End¬ zweck haben, nicht schön schreiben dürfe (29,9). Doch die Ribliothek wollte neben Rezensionen auch kritische Abhandlungen liefern: Wir sind überzeugt, daß man ohne gründliche Kenntniß, und die genauste Restimmung und Rerichtigung der Regeln, nie etwas vor¬ zügliches in den schönen Wissenschaften leisten kann... Es kann also nichts nützlicher seyn, als die Theile der schönen Wissenschaf¬ ten einzeln zu untersuchen, und den Schriftstellern Gelegenheit zu geben, über die Vorwürfe, die sie bearbeiten wollen, vorher wohl nachzudenken (29,10). Mit ein paar anerkennenden Worten über Breitinger beklagte sich Nicolai über den sonstigen Mangel an deutschen kritischen Abhandlungen: Wir werden der Spur großer Kunstrichter alter und neuerer Zeiten nachgehen, und entweder unsere Gedanken mit den ihrigen be¬ währen, oderauch wann wir es nützlichfinden, ganze Abhandlun¬ gen von ihnen übersetzen und einrücken. Wir werden suchen falsche Regriffe, die man bisher gehabt hat, zu widerlegen, Sätze die ununtersucht geblieben sind, in ein helleres Licht zu setzen, streitige Punkte zu erörtern, Fehler zu verbessern und richtige Ge¬ danken noch mehr zu bestätigen. Wir hoffen durch diese Bemühun¬ gen die Aufmerksamkeit auf die wahre Schönheiten der Werke des Genies rege zu machen (29,11). 39

Als weitere wichtige Interessensphäre betrachtete Nicolai die »Geschichte der schönen Wissenschaften, die Verbesserung des Theaters in Deutschland, und die deutsche Theatergeschichte«, da ja leider Lessing, »dessen Feder dazu ohnstreitig weit geschickter gewesen wäre, als die unsrige, diesen gemeinnützigen Gegenstand aus einer fast zu tadelnden Bescheidenheit aus seiner theatrali¬ schen Bibliothek verbannet hat«. Wir hoffen besonders von den neuesten Begebenheiten des Franzö¬ sischen Theaters ordentlich Nachricht geben zu können, wie auch das engländische Theater aus einem solchen Augenpunkte zu zei¬ gen, daß man sehen wird, wie schätzbar es ist, und wie elend die Urtheile einiger seichten Köpfen sind, die es verachten ohne es anders zu kennen, als aus den Machtsprüchen eingebildeter Kunstrichter, die weder das Theater überhaupt, noch die Sprache und das Genie der engländischen Nation zu beurtheilen wissen (29,11 f.) Auch biographische Notizen über berühmte Dichter wurden versprochen und Beispiele guter Dichtung. Um Beiträge wurde ein direkter Appell an die Leser der Vorankündigung gemacht. Nicolai beendete sie mit dem Vorschlag, einen Preis auszusetzen für »gewisse Ausarbeitungen aus der Beredsamkeit und Dichtkunst«, ein Vorschlag, »der aus unserer Liebe zu den schönen Wissen¬ schaften entsprossen ist, und für einen Versuch, ob sie vielleicht auch mittelbar, auf eine in Deutschland bisher nicht gewöhnliche Art befördert werden könnten« (29,14). Dies war des dreiundzwanzigjährigen Nicolai Programm für eine Zeitschrift, die zuerst zur Ostermesse 1757 erschien, die pro Vierteljahr ein Stück zu etwa 14 Bogen brachte und von der, als Nicolai unter dem Druck eigener Verlagstätigkeit drohte, sie nicht länger fortzuführen, Uz knapp zwei Jahre später, am 25. Januar 1759, an Gleim schrieb: »Es wäre für Deutschland ein unersetzli¬ cher Verlust, wenn ein Journal das seines Gleichen nicht hat, so bald aufhören sollte.« Bereits im Juli 1756 hatte Mendelssohn sich zur Mitarbeit über¬ reden lassen.25 Lessings Anteil bestand außer in der Besprechung einer Theokrit-Übersetzung (II.2, Januar 1758, Nr.V) hauptsächlich im Finden eines Leipziger Verlegers und in der Übernahme der Korrekturen. Im Februar 1757 hatte sich der Chevalier d’Arcq be¬ reiterklärt (16,67), Theaternachrichten aus Paris zu liefern. Diese blieben unsigniert. Über die sonstigen Mitarbeiter gab Nicolai im Anhang zu Rand 3 &4 der Bibliothek im April 1760 in einer Fußnote zu Seite *7 mehrere Hinweise. Als »fremde Aufsätze« bezeichnete er dort die in Band 11.2, Nr.5; 11.2, Nr.6; IV.2, Nr.4 und 6. Nicht aus¬ drücklich als »fremd« bezeichnet, aber inhaltlich als von anderer Hand erkennbar sind der Bericht über die Dresdner Gemäldegale¬ rie (IL1, Nr.6; H.2, Nr.2), der ein Auszug aus C.L.von Hagedorn 40

Eclaircissemens sui- la Peinture ist; von Wille stammte der »Brief« an F. C. Fuesli über die Maler in der Schweiz (III.2, Nr.l); von J. F. Löwen kam das »Schreiben an die Verfasser« (IV.l, Nr.ll), in dem er die tadelnde Kritik seines Billewerder anerkannte. Alle sonstigen Beiträge der vier ersten Bände der Bibliothek wurden neben der Herausgebertätigkeit, neben Mendelssohns eigentlicher Tagesar¬ beit, die den Lebensunterhalt sicherte, neben sonstigen schriftli¬ chen Arbeiten von Mendelssohn und Nicolai allein beigetragen. Ebenso methodisch wie der Plan der Zeitschrift war die Struktur des einzelnen Stückes (von denen zwei einen Band ausmachten). Bis auf das zweite Stück des letzten Bandes, das noch 1758 hätte erscheinen sollen, aber durch Nicolais neue Pflichten erst im Frühsommer 1759 erschien, wurde jedes durch eine ästhetische Ab¬ handlung eröffnet. Mendelssohns zwei wichtige Arbeiten erschie¬ nen in Band 1.2 und II.2. Band III.2 eröffnete das »Schreiben von Herrn Wille an Hern Fuißli in Zürich«. Nicolai lieferte zu Band 1.1 seine eigene Abhandlung vom Trauerspiel, für II.l die Überset¬ zung von Shaftesburys A notion of the historical draught or tabulature of the judgment of Hercules (1713).26 In Band III.1 und IV.l brachte Nicolai eine Übersetzung aus Dubos’ Beflexions sur la Poe¬ sie et la Peinture (1719). Nicolai zeichnete Eigenes mit einer der Chiffren N,J,C,L,A außer in den unsignierten Beiträgen des 1. Stückes im Band I. Im Band 1II.1 ist Nr.9 (Virgil, Bucolicd) mit der Chiffre S unterzeichnet; es bleibt zu beweisen, ob diese Besprechung von Nicolai her¬ rührte.27 Von Nicolai stammen die Vorberichte des Herausgebers zu Band I (20.April 1757), Band II (1.Oktober 1757) und Band IV.2 (l.Mai 1759), die Vorrede zum Anhang zu Band 3 & 4 (4. April 1760), außer¬ dem ein Großteil der »Nachrichten« sowie die Bedaktion der Thea¬ terberichte aus Paris und London. Zu der eigenen Abhandlung vom Trauerspiel kamen die Selbstrezension seiner Briefe überden Zustand (1.1) und die Übersetzungen aus Dubos (III.l, IV.l) und Shaftesbury (II.l). Da zu dem Urteil des Herkules bereits in Gott¬ scheds Neuem Büchersaal eine deutsche Fassung vorlag, begrün¬ dete Nicolai die Notwendigkeit einer neuen Übersetzung mit der einsichtigen Kenntnis der Malerei und der richtigen Kenntnis des englischen Sprachgebrauchs (Vorbericht zu II.l). Im Bereich des Dramas hatte Nicolai Wesentliches zu Lillos The London Merchant zu sagen (1.1). Den in Deutschland fast unbe¬ kannten Goldoni besprach Nicolai in sieben ausführlichen Berich¬ ten.28 Mit Gottscheds Nöthigem Vorrath der deutschen dramati¬ schen Schaubühne befaßte er sich in III.l. Im Bereich der Lyrik und des Lehrgedichts besprach Nicolai Cramers Übersetzung der Psal¬ men (1.1), Lieberkühns ungenügende Übersetzung des Theokrit,29 die gerade veröffentlichte Gedichtsammlung E.von Kleists (III.2), 41

die Gedichte des Hamburger J. F. Löwen (III.l), den Tempel der Liebe des J. P. Uz (III.2), die Consolations dans Tlnfortune des G.L.von Bar (III.2) und, sehr kritisch, das Werk des Altonaer Schul¬ rektors J. J. Dusch (1.2, III.l, IV.l). Zur Epik lieferte Nicolai eine Rezension über Klopstocks Messias (1.2), an der er vier Wochen arbeitete (/Genie< einzelner Sprachen. Diese Weiterführung der angeschla¬ genen Themen begann schon mit Mendelssohns Besprechung von Robert Low ths De sacra poesi Hebraeorum mit den Hinweisen auf das Wesen der hebräischen Dichtung (die wiederum Herder mehr¬ fach beeinflussen sollte) oder Mendelssohns Untersuchung der Baumgartenschen Definition von Dichtung als vollkommen sinn¬ liche und sinnlich vollkommene Rede. Interessant und wesentlich zur Einschätzung von Nicolais Methodik ist seine Besprechung der bürgerlichen Tragödie Li Ilos, die vermutlich schon im Sommer 1756 im Zusammenhang mit der Geschichte der englischen Schaubühne entstanden war. Im ersten 42

Stück der Bibliothek folgte sie unmittelbar auf die Rezension von Ein halbes Hundert Prophezeyungen auf das Jahr 1756. In dieser Rezension machte Nicolai Bemerkungen wie »Die Kunst die Wahr¬ heit auf eine lachende Art zu sagen, hat ohnstreitig viel Vorzüge« (1.1,156) und beklagte die Unsitte, die französische Literatur zu loben, die englische aber zu verkennen und diese durch »hurtige Uebersezzer« zu »tödten« (1.1.157f.). So käme die deutsche Sprache nicht zu ihrem Recht (1.1,158), und die deutschen Kritiker erwiesen sich als zu zahm (1.1,160). Hier hakte die Rezension des »London-marchant« ein. Nicolai wußte, daß das Drama in Deutschland in der aus dem französi¬ schen übersetzten und um eine wichtige Szene gekürzten Fassung bekannt war und daß diese Übersetzung auch sonst Unrichtig¬ keiten aufwies. Er berichtigte diese und übersetzte seinerseits die ausgelassene letzte Szene. Ähnlich wie Nicolai ursprünglich die Einladung zur Mitarbeit am Journal Etranger abgelehnt hatte, weil er »bereits verbunden wäre eine periodische Schrift auszuarbeiten«, so zog er sich ange¬ sichts der bevorstehenden neuen Tätigkeiten und weiterer ver¬ legerischer Pläne nach Beendung des vierten Bandes aus der Redaktion zurück. Die Abschlußworte der ersten von Nicolai ver¬ legten kritischen Zeitschrift finden sich in der Vorrede zum An¬ hang zu dem 3 & 4 Bande. Unter dem Datum vom 4. April 1760 bezieht sich Nicolai auf den schwachen Erfolg seines Preisaus¬ schreibens. Er rät den Teilnehmern, vorerst nicht weiter zu dich¬ ten, sondern »vielmehr die Stücke der Alten und unter den Neuern sonderlich die Engländer fleißig zu studiren, und sich zugleich auf das Studium der Leidenschaften und der verschiedenen Falten des menschlichen Herzens zu legen« (30,2v). Um sich gegen die heftigen und ehrenrührigen Behauptungen des in der Bibliothek besprochenen Dusch zu verteidigen, erwähnt Nicolai neben dem »Beyfall für unsere Bemühungen« von beinahe »allen größten Geistern, die Deutschland in allen Theilen der schö¬ nen Wissenschaften aufweisen kan« (30*3), nochmals die Ziele und Beweggründe der Bibliothek (*5f.), darunter seinen Wunsch, »beständig unbekannt zu bleiben, damit mich keine Verbindung, kein Ansehen der Person, kein geheimer Wink hindern dürfte, meine Meinung recht offenherzig zu sagen« (5r). In einer Anmer¬ kung (6 v) gab Nicolai seine Chiffren und die Mendelssohns be¬ kannt und gab im einzelnen (aber unvollständig) an, wer welche Arbeit geliefert hatte. Der Entschluß zur Abgabe der Zeitschrift an C.F. W'eisse fiel im Spätherbst 1758, ungefähr anderthalb Jahre, nachdem das erste Stück der Bibliothek im Druck erschienen war. Die gleichen anderthalb Jahre, vom März 1757 bis Oktober 1758, hatte Nicolai 43

sich von der Buchhandlung zurückgezogen und als Privatgelehrter eigenen Studien hingegeben, den ästhetischen Briefwechsel mit Lessing bis Mai 1757 fortgesetzt, die Bibliothek redigiert und mit Beiträgen aus eigener Feder versehen und anscheinend auch dem Journal Etranger Arbeiten zugeschickt. Zwischen dem 7. Septem¬ ber 1757 und März 1758 (16,111,116,126) plante Nicolai eine Fortset¬ zung (in Briefform) zu Mendelssohns Quellen und Verbindungen der schönen Künste (17,509 f.) Da aber Lessing im Mai 1758 nach Berlin kam und bis zum 7. November 1760 dort blieb, werden die für Bibliothek III.l geplanten »Briefe« zwischen Theophrast und Euphranor zunächst mündlich ausgearbeitet worden sein. Schrift¬ liche Hinweise sind nicht überliefert. Mit dem plötzlichen Tod des ältesten Bruders am 2.Oktober 1758 nahm das Idyll des fünfundzwanzigjährigen Privatgelehrten ein Ende. Für die Bibliothek erschien erst im Vorsommer 1759 das für Dezember 1758 vorgesehene 2. Stück der Bibliothek, IV. Der An¬ hangzu Band 3 & 4 erschien erst zur Ostermesse 1760. Seine ande¬ ren Pläne gelangten nicht zur Reife, weil Nicolai nun als Besitzer eines (schwer verschuldeten) Verlages ganz anders disponieren konnte, um die deutsche Literatur zu beleben. Doch selbst unter dem Druck der Verantwortung für Verlag und Buchhandlung leistete er 1759 Beachtliches. Von der Bibliothek er¬ schien Band IV.2. Zwischen dem 11. Januar und dem 27. Dezember verfaßte er zehn der Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, plante im März 1759 eine zweite Auflage der Briefe überden itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland im eigenen Verlag und veröffentlichte die ersten drei Bände der sechsbändigen Sammlung Vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften, die zwischen 1759 und 1763 im Nicolaischen Verlag erschienen. 7. Plan zur zweiten Auflage der Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (März 1759) Inhaltlich stellt die Sammlung Vermischter Schriften die Fortset¬ zung der didaktischen Bestrebungen der Bibliothek dar. Ähnliches ließ sich von Nicolais Plan zu einer zweiten Ausgabe seiner Briefe überden Zustand sagen, von dem ein ungedruckter Brief Nicolais an den Dichter Uz unter dem Datum des 26.März 1759 berichtet: Meine Briefe denke ich ganz umzuarbeiten und zwei kleine Octavbändgen daraus zu machen. Ich stehe izt mit dem Verleger im Streite, der sie, so wie sie sind wieder druken will; Ich hoffe aber doch daß ich es hinter treiben will, denn ich bin mit vielen darin be¬ findlichen Dingen gar nicht zufrieden -Allenfalls desavouire ich die neue Auflage, und druke sie hernach selber. Eher als Ostern 1760 möchten sie wohl nicht fertig werden.™ 44

8. Sammlung Vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und derfreyen Künste (Berlin, 1759-60), 3 Bände31. Die Sammlung benutzte das gleiche Format wie Bibliothek und wie diese für jeden Band einen Porträtkupferstich als Titelbild. Die >Misehung< der Schriften betraf Herkunft aus verschiedenen Sprachen und Themen aus Runsttheorie und Kunstwissenschaft. Aus dem Vorbericht (1.1) geht hervor, daß Mendelssohn und Nicolai für die Auswahl der Themen und Aufsätze verantwortlich waren und bewußt die Kunsttheorie in den Bereich der allgemeinen Bil¬ dung einbeziehen wollten. Diese Sammlung hat, wie der Titel anzeiget, die Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste zum Endzwecke. Niemand wird zweifeln, daß sie befördert werden, wenn man den Liebhabern Gelegenheit an die Hand giebt, über verschiedene Theile derselben besonders nachzudenken. Wir haben uns daher vorgenommen, die kleinen Schriften aus verschiedenen Sprachen zu sammlen, welche die schönen Wissenschaften und die freyen Künste betreffen. Dergleichen kleine Schriften werden bald vergrif¬ fen, und werden daher öfters nicht so bekannt, als sie es verdienten. Oder wenn sie ja den Gelehrten bekannt sind, so sind sie es öfters nur dem Namen nach... Doch wollen wir uns eben nicht gänzlich auf Abhandlungen auswärtiger Schriftsteller einschränken; auch deutsche Originalschriften und selbst Werke der Dichtkunst und Beredsamkeit, sollen, wenn sie uns zu Händen kommen in der gegenwärtigen Sammlung Platz finden ... Wir haben also ein sehr weitläuftiges Feld vor uns, und dürfen nicht befürchten, daß es uns am Stoffe fehlen wird. Im Gegentheil wird die Menge der Stoffe öfters die Wahl schwer machen... Viel¬ leicht können wir auch hierüber unsere Leser beruhigen, wenn wir ihnen sagen, daß die Wahl der einzurückenden Stücke von den Herren Verfassern der vier ersten Bände der Bibliothek... abhange, ohne deren Bewilligung keine Schrift eingerückt werden wird. Für die Güte der Uebersetzung aber wird jeder Uebersetzer selbst stehen. Diese Absicht wurde sichtlich ausgeführt. Der Vergleich der Aufsätze in der Sammlung mit den zwischen 1758 und 1760 erschie¬ nenen Arbeiten von Mendelssohn und Nicolai (Lessing beschäf¬ tigte sich damals hauptsächlich mit der Fabel und mit Vorstudien zu Laokoon) erweist deutlich die Überschneidung der Interessen: Nicolais am Schäfer ge dicht, an der Kunst, am Genie; Mendels¬ sohns am Erhabenen, an Popes Werk, am Wesen der Dichtkunst, am Genie.32 Von den dreizehn Abhandlungen der zweieinhalb Bände, die Nicolai zwischen April 1759 und der Herbstmesse 1760 erscheinen 45

ließ, waren zwei deutscher Herkunft, die übrigen Übersetzungen aus dem Lateinischen (1), Italienischen (1), Griechischen (1), Fran¬ zösischen (4) und Englischen (4). Zwei der Aufsätze betrafen Male¬ rei und Kunstgeschichte, andere die Tanzkunst, die Künste der Juweliere und Kupferstecher. Die wichtigsten Schriften betrafen Poetik und Literaturwissenschaft, und unter diesen verdiente die einzig wirklich anonyme Abhandlung Über das Genie eine noch ausstehende eingehende Studie. Traditionell wird Über das Genie F.G.Resewitz, dem damaligen Mitglied des Berliner Kreises um Nicolai, zugeschrieben, da Resewitz den Aufsatz 1759 im Gelehrten Kaffeehaus vorgetragen hatte.33 Dies braucht nicht auf Verfasserschaft zu deuten: wir wissen von Nicolai, daß Mendelssohns Ausführungnen Über die Wahrschein¬ lichkeit in seinem Beisein von jemand anders vorgetragen wurden. Es bliebe zu untersuchen, wieweit Mendelssohn und Sulzer für die in Über das Genie vorgetragenen Ideen verantwortlich waren, das heißt: ob der Aufsatz zwar von Resewitz vorgelesen wurde, aber aus anderer F'eder stammte. Vielleicht ist er auch das Resultat ge¬ meinsamer Überlegungen, wie z. B. der Nicolai-MendelssohnLessing Brief vom 14. Mai 1757. Daß der Aufsatz in Sammlung an¬ onym blieb, sollte zu denken geben. Wie sehr das Thema Genie um 1758/59 im Brennpunkt gelehrter Diskussion stand, ergibt sich aus Mendelssohns Ausführungen Über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (Januar 1758) und seinen Versuchen, den Begriff schon 1757/58 in den Rezensionsartikeln der Bibliothek zu definieren; Alexander Gerards Aberdeener Vortrag von 1758 (der allerdings erst 1774 als An Essay on Genius gedruckt vorlag); J.G.Hamanns Sokratische Denkwürdigkeiten, 1759, und Edward Youngs Conjectures on Ori¬ ginal Composition, 1759. Der durch Nicolai veröffentlichte an¬ onyme deutsche Beitrag zum Begriff Genie hat, zusammen mit Mendelssohns Ausführungen in den Literaturbriefen, bisher nicht die Würdigung und Untersuchung erhalten, die ihm zusteht. Mit Recht wurde die Sammlung Vermischter Schriften als Pen¬ dant zur Bibliothek angesehen, und die in der Vorankündigung geforderte Kenntnis der Theorie des Schönen wurde hier geboten. 9. Briefe, die Neueste Litteratur betreffend (Berlin, 1759)34 Die Ausgabe der Werke Lessings von Lachmann-Muncker bringt in Band VIII,3 und XIV,246 eine Zusammenfassung der Ent¬ stehung dieses Unternehmens, nach der es auf Lessings Vorschlag begonnen wurde, damit man sich mit dem gemeinsamen Dichter¬ freund, dem Major Ewald von Kleist, auch während dessen Ab¬ wesenheit im Felde über literarische Neuerscheinungen verstän¬ digen konnte. 46

Nicolai schilderte die Entstehungsgeschichte anders. Daß er es zu Lebzeiten Mendelssohns tat, verleiht seiner Fassung den Stem¬ pel großer Wahrscheinlichkeit: Lessing dachte über die damaligeLitteratur eben so wie ich. Da wir fast täglich beysammen waren, so kamen wir immer wieder auf eben die Gedanken zurück, welche sich durch beständige Erörte¬ rung immer mehr entwickelten, besonders durch unsern lieben Moses, der bey uns war, was bey den alten Schauspielen der Chor. Er war gewöhnlich unserer lebhaften Dispüten kaltblütiger Zu¬ hörer, und zog unvermuthet, und wenn wir noch weit vom Ziele zu seyn glaubten, in wenig Worten ein treffendes Resultat, das uns alle befriedigte;... Fast bey jedem neuen Buche, über das wir sprachen, erneuerte sich der Verdruß über die schiefe Wendung, die alles nahm. Hieraus entstand endlich das Verlangen, diesem Uebel abzu¬ helfen. Die damaligen Journale waren fast alle frostig, seicht, partheyisch, voll Komplimente. Die Gedanken, daß man ein besseres schreiben sollte, worinne besonders die Wahrheit ganz deutsch her¬ ausgesagt würde, war sehr natürlich,... Oft hieß es unter uns im Scherze: Man dürfte ja nur schreiben was wir so oft sagen. Indessen war noch von keinem von uns ernstlich daran gedacht, dieses Vor¬ haben auszuführen. Im November 1758 war ich einmahl mit Lessing zusammen, als auf eine damals neu herausgekommene Schrift eines noch lebenden Autors die Rede kam. Wir hatten mancherley auszusetzen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beyden zuerst wieder das zu schreibende Journal, von dem wir mehrmals gesprochen hatten, aufs Tapet brachte. Dießmal redeten wir doch ernstlicher davon; denn wir be¬ trachteten die Schwierigkeiten einer solchen Arbeit, welche weni¬ gen Verfassern bald zu beschwerlich wird, wovon ich schon bey der Bibliothek... die Erfahrung hatte. Wir kamen überein, daJJ wir ein solches Werk nicht ausführen konnten, und doch wünschten wir, es möchte ausgeführt werden. Endlich fiel mir ein: Wir haben so oft gesagt, man sollte schreiben, was wir sagen. Wir wollen also in Briefen niederschreiben was wir in unsern täglichen Unterredun¬ gen sagen, wollen uns keinen bestimmten Zweck vorstellen, wollen anfangen, wenn es uns gefällt, reden, wovon es uns gefällt; gerade so wie wir es machen, wenn wir zusammen plaudern. Dieser Vorschlag gefiel Lessingen, und er ward auf der Stelle näher bestimmt. Der damalige Krieg spannete alles mit Enthusias¬ mus an. Um also doch einigermaßen etwas Vollständiges zu haben, und sich nicht in ein zu grosses Feld einzulassen, ward beschlossen, die Litteratur seit dem Anfänge des Krieges zu übersehen, und diese Uebersicht bis zum Frieden fortzusezen, den man damals nicht weit entfernt glaubte (10,394-6). 47

Der Plan wurde in die Tat umgesetzt. Da aber Lessing zur Zeit der Entstehung der Literaturbriefe und bis zum 7. November 1760 in Berlin war, fehlen briefliche Hinweise. Bis Ende September 1759 beteiligte er sich intensiv, nach seiner Abreise mehrere Jahre kaum an diesem Unternehmen. Die Briefe, die vom 4. Januar 1759 an jeden Donnerstag erschienen,35 stellen das erste Verlagswerk Nicolais dar. Um das nötige Kapital zu beschaffen und Verlags¬ schulden abzutragen, machte Nicolai »den größten Theil des alten werthvollen Lagers zu Gelde« (21,6). Keine seiner Veröffentlichungen trug mehr zur Aufklärung in Deutschland bei als diese geistreichen Briefe, »ein Werk, in seiner Art einzig, durch Einkleidung, Vortrag und Gehalt« (7,24), von dem Herder 1767 versicherte, daß es »die Augen von ganz Deutschland auf sich richtete, und... auch bis an sein Ende auf sich erhielt; das den Geschmack bessern wollte, und ihn auch merklich gebessert hat« (27,133). Von der Gesamtzahl der über 330 Briefe36 stammen nur 54 von Lessing. Der Hauptanteil, und daher eigentlich auch der Buhm, ge¬ bührt Mendelssohn, der über ein Drittel aller Briefe beisteuerte. Von Nicolai rührten im Laufe des ersten Erscheinungsjahres zehn, im zweiten acht der bis dahin 137 Briefe, denn »ich verband mich zu nichts, als wenn Manuscript fehlen sollte, hin und wieder zur Aus¬ füllung etwas zu machen« (an Herder, 1768). Seine Rolle war die oft dornige, kitzlige des Verlegers und Herausgebers: Nicolai hat, nach seiner durchgängigen Rechtlichkeit, sich nie mehr von dem Werke zugeschrieben, als das wenige, was er in jener für ihn unruhigen Zeit geben konnte: aber er wird immer dabei ge¬ nannt werden, weil es ohne ihn nicht zu Stande gekommen wäre, weil er das Ganze Zusammenhalten mußte, auch weil die, durch eine bisher in Deutschland unerhörte Freimüthigkeit aufgeregten Wespen schwärme zunächst um ihn, als Verleger und Herausgeber, sumsten (7,25). Nicolais Briefe waren daher nichts in sich Abgeschlossenes, Ab¬ gewogenes, sondern in der Eile verfaßte Addenda, die bei allem Witz und trotz oft gelungener epigrammatischer Formulierung meist zu sehr ins Plaudern gerieten. Außerdem paßten sich Nico¬ lais Beiträge leider zu sehr dem rein polemischen Stil an, mit dem Lessing eingesetzt hatte, der aber den eigentlichen Aufgaben - Auf¬ klärung, Besserung - im Wege stand. Da die Literaturbriefe als Ganzes wie als Summe jedes einzelnen Hauptmitarbeiters (Men¬ delssohn, Abbt, Lessing, Nicolai) noch zu untersuchen sind, folgt hier lediglich eine Aufzählung der Briefe Nicolais aus dem Jahre 1759 mit einer knappen und daher oft nur bruchstückartigen Zu¬ sammenfassung des Inhalts: 48

6 (11. Januar): Spott über schlechte Schriftsteller. 12 (25. Januar): Spott über Wielands Empfindungen eines Christen. 46 (12. Juli): Das Lächerliche. Zweifelhafter Nutzen der akad. Kadettenschulen. 47 (19. und 26. Juli): »Alle Künstler und Handwerker müssen nichts zur Verzierung annehmen, als was der Natur der Sache gemäß ist.« 57 (29.September): Thucydides in der Hand eines guten Übersetzers. 58 (4. Oktober): Nachahmer sind in Deutschland zu Hause - doch es gibt ein paar »Originalköpfe«. 59 (4. Oktober): Nachahmer von Gessners Prosagedichten. »O wenn doch kein Dichter Empfindungen ausdrücken wollte, die ihm fremde sind.« 68 (15.November): Interesse am Leben Karl XII. - aber bewahre uns vor Voltaires Version! 69 (15. und 23. November): Nachweis, daß sich Voltaires Geschichte nicht an »geschehen« hält. 76 (27. Dezember): Die Literaturbriefe, die Ziele ihrer Verfasser, die Reaktion der besprochenen Schriftsteller. Somit ist Brief 76 Rückschau und Fazit des ersten Jahres der Literaturbriefe. Als Apologie ist der Brief zu lang, aber er gewährt einen Einblick in die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte und in die Reaktion der Leser:37 Inzwischen ists wahr, auf sehen (!) haben diese Briefe gemacht. Die Horcher in der gelehrten Welt, diese gefährlichen Leute, die alle Umständchen wissen müssen, die einen Schriftsteller oder eine Schrift angehen, haben allen ihren Witz erschöpfet, um die Absich¬ ten der Verfasser der an Sie geschriebenen Briefe zu errathen. Es sind geheime besondere Absichten sagen sie; Lieber Gott! was für geheimer Absichten brauchts dann, um seine Meinung frei und deutsch wegzusagen. Was brauchts für Cabalen, oder geheime Ränke um zu sagen, daßB[erge] ein schlechter Uebersetzer, D[useh] ein schlechter Schriftsteller, G[ottsched] ein unwissender Prahler und W[ieland] ein affectirter Beiesprit ist! Sie wissen es, wie unsere Briefe entstanden sind; wir haben fast nichts gethan, als daß wir die Beden, die wir bey unsern Zusam¬ menkünften, über die neueste Litteratur zu wechseln pflegen, auf¬ geschrieben und Ihnen überschickt haben. ... was hätte uns auch wohl abhalten sollen, unsere Meinungfrey heraus zu sagen. Mehr aber haben wir nicht gethan, denn daß das, was wir gesagt haben wirklich unsere Meinung sey werden uns wohl selbst unsere Geg¬ ner nicht streitig machen. Was können wir aber dafür, daß wir von gewissen Schriftstellern die Meinung haben, daß sie schlecht sind? warum schreiben die Leute nicht etwas gutes. 49

Freilich müssen wir es uns gefallen lassen, von jedermann beurtheilt zu werden, unsere Leser kaufen Ihr Recht dazu, so wie wir das unsrige; und es ist zuweilen sehr natürlich, daß unsere Beurtheilungen manchem Schriftsteller eben so sehr mißfallen, als uns seine Schrift. Dis verdrießt uns gar nicht, sondern es freut uns, wenn jedermann so offenherzig ist wie wir (LB 76). Dies hinderte Nicolai aber nicht, im Verlauf der nun folgenden Sei¬ ten in leichtem, spitzem Ton einem dieser »gewissen Schriftsteller« Rede zu stehen. 10. Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist (Berlin, 1789)38 Nach Wochen größter Ungewißheit schrieb Gleim nach der Rückkehr aus Magdeburg am 13. September 1759 an Lessing nach Berlin: »Die Königin und der ganze Hof, beklagte den Tod eines gewißen Herrn von Kleist«. Wie sich aus dem Briefwechsel zwischen Lessing und Gleim miterleben läßt, traf die Todesnachricht des bei Kunersdorf am 12. August verwundeten dreiundvierzigjährigen Majors die Dichterfreunde und Gesprächspartner hart. Er starb am 24. August in Frankfurt an der Oder im Hause und »unter dem Gebete« des Professors G. S. Nicolai. Am 1. Oktober 1759 erwähnte Gleim besorgt: »Der Berlinische Herr Nicolai hat...Nachrichten zu dem Leben, oder wie er sagt, zu einer historischen Lobschrift auf unsern Kleist von mir verlangt; er will sie auf itzige Messe fertig liefern«. Gleim dünkte die Zeit zu kurz »als daß etwas Rechtes, seiner Würdiges aufgesetzt werden könne«, und er bat Lessing die »Eilfertigkeit« Nicolais im Zaum zu halten. Am 23. Oktober konnte ihn Lessing beruhigen: Die Lobrede auf unsern Kleist istfertig, und Herr Rammler und ich haben sie gelesen. Unser Rath dabey ist dieser gewesen, daß man seiner Freunde darinn ganz und garnicht gedenken müße, damit es nicht scheine, als ob einer von Ihnen Anteil daran habe. Dieser Nachruf auf Kleist ist wohl das Beste, was Nicolai je ver¬ faßt hat. Im Gegensatz zu den Leichenpredigten und Trauergedich¬ ten der Zeit entstand hier das lebensnahe Bild einer geliebten, verehrenswürdigen Persönlichkeit: Man darf in dem gegen wärtigen Aufsatz weder den Schmuck des Redners, noch den verschraubten Witz des Panegyristen suchen. Diese kurze Erzählung ist allein, in der Absicht geschrieben, die Hochachtung gegen den seligen Herrn von Kleist, bey denen zu ver¬ mehren, die ihn persön lich nicht gekan n t haben. Man solle denken, daß ein wahrhaftig grosser Mann durch die Bekanntmachung sei¬ ner Lebensumstände, mehr geebnet würde, als durch zwanzig mit¬ telmäßige Trauergedichte; gleichwohl wählet man in Deutschland gemeiniglich diese letztere Art des Lobes. Haben wir nicht einen 50

Hagedorn nach seinem Tode allenthalben besingen hören? und sein Leben ist noch ganz unbekannt (sig. A2). Nicolai erzählt geschickt und knapp von Kleists Eltern, der Ge¬ burt im Jahre 1715, der Jugend in der Stille auf dem Lande, der Er¬ ziehung (Hofmeister - 1724 Jesuitenschule - 1729 Gymnasium in Danzig -1731 Königsberger Universität), von Kleists Wissensdrang (Sprachen, schöne Wissenschaften, Philosophie, Physik, Mathema¬ tik, Geschichte, Kriegskunst), seinen ersten, anonymen Gedichten in den Bremischen Beiträgen und in Schwabes Belustigungen des Verstandes und des Witzes, seinen Kriegsdiensten in Dänemark und (nach 1740) in Preußen, und berichtet, wie Kleist im Anschluß an eine Dienstfahrt eine kurze Reise nach Zürich zu Bodmer unter¬ nehmen konnte. Im Dienste Friedrichs II. war sein Standquartier Potsdam: Er teilte... seine Zeit in die Pflichten des Kriegsdienstes, und in die Reize der Freundschaft und der Dichtkunst. ...Bey seinen täglichen einsamen Spaziergängen betrachtete er die Schönheiten der Natur, er bemerkte die besondern Wirkungen verschiedener ländlicher Aussichten, verschiedener ländlicher Auftritte und Begebenheiten. Dieses pflegte er im Scherz seine poetische Bilderjagd zu nennen. Er machte viele einzelne poetische Schilderungen, von Aussichten, die ihn besonders gerühret hatten. Endlich nahm er sich vor, die ge¬ machten Schilderungen mit einander zu verbinden; hieraus ent¬ stand denn das berühmte Gedicht, das unter dem Namen des Früh¬ lings bekannt ist. Niemals hat wohl ein deutsches Gedicht, und zwar von einem Verfasser, der dazumahl noch ganz unbekannt war, einen so ge¬ schwinden und glänzenden Beifall erhalten. Das Urtheil des deut¬ schen Publici ist sonst langsam, es trauet selten seinen Empfindun¬ gen allein, ein vorhergehender Ruf bestimmet sein Urtheil weit eher. Ohne Empfehlung eines berühmten Namens pflegt ein ange¬ hender Dichter selten sein Glück zu machen, wenigstens gehöret einige Zeit dazu, ehe man seinen poetischen Gaben trauet. Bey dem Frühlinge aber war es ganz an ders, wiederholte Ausgaben reichten kaum hin, die Neugierde der Leser zu befriedigen. Allenthalben hörte man den Namen des LIerrn von Kleist; Er genoß die Beloh¬ nung eines Genies, das seine Lehrlingsstücke vor den Augen der Welt zu verbergen weiß, und sie mit einem mahle durch ein Meister¬ stück überraschet (S. 6 f.). (Wir erinnern, daß Nicolai schon als Sechzehnjähriger 1749 dieses Gedicht kannte und einen Auszug in eigner englischer Überset¬ zung 1754 im 16. der Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland gebracht hatte.) Bei weitem den größten Teil des Kleistschen Ehrengedächtnisses (S. 8-21) verwendet Nicolai auf den Major Kleist und die Schilde51

rung von dessen pflichteifriger Tapferkeit, menschenfreundlicher Pflichterfüllung, »edlen Denkungsart«, »alleruneigennützigsten Betragen« und auf Kleists literarische Arbeiten, die er selbst wäh¬ rend der Kriegsjahre fortführte. Den kleinen »kriegerischen Roman« (Cißides) betrachtet Nicolai als Kleists Schwanengesang: »Der eigne Charakter des Verfassers zeiget sich darin allenthalben, der tapfere großmiithige Krieger, vereiniget mit dem Dichter voll Einbildungskraft und Feuer« (S. 11). Die Schlacht, die Verwundung, die Fährnisse nach der Schlacht, die letzten Stunden im Hause des Professors Nicolai runden das Bild dieses Dichters und preußischen Offiziers, den selbst der Feind im Tode auf unerwartete Weise ehrte (S.18f.). Die Bilanz, die Nicolai zog, ehrt in gleicher Weise die Feinfühligkeit des sechs¬ undzwanzigjährigen Autodidakten Nicolai und die geistvolle, mit¬ leidende Natur des welterfahrenen, um so viel älteren adligen Freundes. Der Nicolai der Jahre 1753-59 war Wegbahner und Auf¬ klärer, Mentor und Reformator, Planer und Vollzieher, Freund. Die vivida vis animi des Toten konnte nur der zurückstrahlen, den sie selber belebte.

Anmerkungen Die zitierten Werke sind in numerierter und alphabetischer Reihenfolge der im Text und in den Anmerkungen verwendeten Zahlen und Abkürzun¬ gen hinter den Anmerkungen zusammengestellt. 1 Göckingk, S.109. 2 Parthey, S. 7, zitiert J. J. Engel, »andere Leute haben nur ein Steckenpferd, aber Nicolai hat einen ganzen Stall voll«. 3 Nach Parthey, S.6,64,182 und 183, enthielt Nicolais Privatbibliothek bei sei¬ nem Tode 16000 Bände, 6800 Portraitblätter und eine große Musikalien¬ sammlung. F iir die Aufstellung war in dem von Zelter umgebauten Haus in der Brüderstraße von 1787 an einer der drei Säle für die Bibliothek vorge¬ sehen. Diese Bücher hat Altenkrüger (S.32) noch 1894 benutzen können. Über Nicolais Pult war ein vollständiges Exemplar der Allgemeinen deut¬ schen Bibliothek. Alle Bücher waren in gelbes Papier gebunden, trugen innen die Nummer des Bücherbretts, auf dem sie in alphabetischer Reihen¬ folge aufgestellt waren. Zu diesen Bücherbrettern gab es einen »Situazionsplan«, und der Katalog enthielt die Bücherbrettnummer und das For¬ mat jedes Buches. Auf dem von Chodowiecki gestochenen Ex-libris (auf dem ein kleiner Genius ein Buch hält, in dem ein anderer Genius buch¬ stabiert) steht als Motto Friderici Nicolai et amicorum. 4 Der lebenslange Briefwechsel privater und geschäftlicher Natur, den Nico¬ lai hinterließ, ist noch unerforscht. 52

5 Bildung, S.28f. Nicolai setzte hinzu, daß sein Bestreben, mehr Mathematik zu treiben, daran scheiterte, daß seine Freunde alle Theologen seien, das heißt: daß ihm keine Vorlesungsnotizen zu Gebote standen. Erst mit Men¬ delssohn trieb er dann (1757) »ein Jahr lang eine fortdauernde Unterhal¬ tung über Newton’s Principia philosophica naturalis et mathematica, welche wohl Lehrstunden gleich geschätzt ja vorgezogen zu werden ver¬ dienten; denn ich konnte durch meinen Freund alles was mir dunkel war sogleich erläutert, meine Zweifel sogleich aufgelöst sehen...Etwa drey Jahre darauf hatte ich einige Unterhaltungen mit ihm über Newton’s Optica.« 6 Bildung, S.43f., gibt Nicolai eine eindrucksvolle Beschreibung der philoso¬ phischen Kenntnisse, die er Mendelssohn verdankt. 7 Lowe, 21. Nicolai brauchte siebzehn Jahre dazu, trotz genialer Ideen zur Steigerung der Verlagseinnahmen, wie z.B. die 6000 »Berloquenkalender«, die er zu Ehren des Friedens auf den Markt brachte und die reißenden Ab¬ satz fanden. 8 Hierzu Rezensionen in GGA: 1751, 564 f. (über die Schriften von Douglas und Lauder); 27. Dezember 1753, 1393; 16. Februar 1754, 169. Zu Nicolais Kenntnis des Englischen: Biester, S.22; Bildung, S.30ff.; Göckingk, S.ll, 12, 14,15. Zu Nicolai und Milton: Biester, S.22; Bildung, S.18f.; Göckingk, S.ll f.; Altenkrüger, S. 36-40. 9 Vgl. auch GGA 1754, 169. 10 Vgl. dazu Leopold Magon, »Die drei ersten deutschen Versuche einer Über¬ setzung von Miltons >Paradise Loste Zur Geschichte der deutsch-engli¬ schen Beziehungen im 17. Jahrhundert«, Gedenkschrift für Ferdinand J osef Schneider (1879-1954), hrsg. von Karl Bischoff (Weimar, 1956), S. 39-82. 11 Neudruck in Berliner Neudruck (III,2), hrsg. von Georg Ellinger (Berlin, 1894). Besprechungen: GGA 5.Januar 1756,17-20; 29.Mai 1756, 552. Biblio¬ thek: 1.1 (1757), 107-121 (Selbstrezension); Lowe, S.12ff.; Biester, S.24; Ellin¬ ger, Einleitung. 12 Band 76 der Korrespondenz Nicolais in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin. 13 >Genie< wurde von Nicolai noch wahllos für (1) die angeborene Gabe der In¬ spiration, (2) für den, der sie besitzt und (3) für das einer Sache Ange¬ borene und Naturgemäße, wie in »Genie der Sprache«, verwendet. 14 Zum Plan eines Wörterbuchs siehe Nicolais interessante Ausführungen in LSS, S. 228-337. 15 Rezensionen: GGA 1755, 631; Bibliothek, 1.2,430; Nicolai im 4. Brief der Briefe über den itzigen Zustand. 16 Hierzu vgl. LSS, Band XV; Göttingisches Magazin, 111.2, 394f. 17 Zu den Einzelheiten vgl. Altenkrüger. Folgende Briefe wurden gewechselt: Brühl an Geliert, September-Oktober 1755; Geliert an Brühl, 24.November 1755 (/, 18); Lessing an Nicolai, 28. April 1756 (15,56); Geliert an Nicolai, 8. Mai 1756 (ungedruckt); Nicolai an Brühl, 18.Mai 1756 (ungedruckt); Nico¬ lai an Lessing, 31. August 1756 (/w.

Christian Gottlieb Geyser nach Daniel Chodowiecki, Friedrich Nicolai

Kupferstich, 18,1x12,3

Johann Elias Haid nach Daniel Chodowiecki, Friedrich Nicolai Kupferstich, ca. 1780, 22,3x14,0

Anna Dorothea Therbusch, Friedrich Nicolai mit seiner Familie Öl auf Leinwand, ca. 1780, verschollen

Historisches Nicolai-Haus, Berlin, Brüderstraße 13 Postkarte veröffentlicht zum 200. Geburtstag der Buchhandlung im Jahr 1913

$riebrtd) üfticolai iiad) einer Slei^eicfinung feiner £o'cf)ter (im SSefifi ber gamilie ^Sartfjetj)

Wilhelmine Nicolai, Friedrich Nicolai nach einer Bleistiftzeichnung, ca. 1786

Anton Graff, Friedrich Nicolai Öl auf Leinwand, ca. 1795, 96,5x73,0 Leipzig-Bibliothek der Karl-Marx-Universität

f]IH.ERlBD.5jlC01AI.

Friedrich Lehmann nach unbekannter Vorlage, Friedrich Nicolai Kupferstich, 14,0x9,5

Johann Gottfried Schadow, Friedrich Nicolai Ton, angestrichen, 1798, 52,0 (H), Halle-Bibliothek der Martin-Luther-Universität

in jüdischen Salons - entstanden, die in Nicolais älterem Vorstel¬ lungshorizont unseriös und unordentlich erscheinen mußten. Zwischen den altgewordenen Aufklärern und den jungen Poe¬ ten und Intellektuellen gab es keine Brücken, so sehr diese sich der sprachlichen und Kommunikationsmittel, der Kritik und literari¬ schen Diskussionsformen bedienten, die jene geschaffen hatten. Sie setzten voraus, was durch jene erst in Gang gekommen war: einen leistungsfähigen Buchmarkt, ein Publikum mit breitem In¬ teressenspektrum, ein bereits artikuliertes Selbstbewußtsein der Schriftsteller, die sich gleichsam selber zur führenden Elite im Prozeß der Bewußtseinsentwicklung gemacht hatten. Sie taten sich leicht in der arroganten Abwertung alles Vorausgehenden - so August Wilhelm Sehlegel in seinen Berliner Vorlesungen von 1802 »Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deut¬ schen Literatur« dennoch lebten sie weit mehr, als sie wahr¬ haben wollten, von dem, was vor ihnen getan war. Ein Mann wie Nicolai mußte sich von ihnen ungerecht behandelt fühlen; aber er hat es den Kritikern mit der Selbstsicherheit und Selbstgerechtig¬ keit seiner Urteile, mit dem Festhalten an älterem Geschmack und seiner pedantischen Lehrhaftigkeit doch auch leicht gemacht. Daß ihn als überzeugten Preußen auch der jämmerliche Zu¬ sammenbruch von 1806/07 und die französische Besatzung der Hauptstadt bedrückt hat, darf angenommen werden. Auch nach¬ dem die Franzosen 1808 abgezogen waren, schrieb Nicolai: »Wir leben hier immer noch in ziemlichem Druck und haben wenig Hoffnung zur Erleichterung und Besserung. Ich habe nie geklagt und klage noch nicht, aber der müßte kein Patriot sein, welcher sein einst von vielen anderen Ländern so sehr glückliches Vater¬ land hinschwinden sieht, ohne Hoffnung, zu erleben, daß es sich erhole, und dem nicht oft Tränen in die Augen treten. Ich ziehe mich in mich selbst zurück, und die Wissenschaften sind mein Trost.«22 Anmerkungen 1 F. L. G. v. Göckingk, Friedrich Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß (Berlin, 1820), S.28f. 2 Vgl. ebenda, S. 73 ff. Horst Möller, Aufklärung in Preußen: Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (Berlin, 1974), S.229f. 3 Göckingk (Anm. 1), S. 85 f. 4 Möller (Anm. 2), S. 238ff. 5 Vgl. dazu Göckingk (Anm.l), S.89ff.; Möller (Anm.2), S.230 ff. Dazu auch: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, hrsg. von Norbert Hinske (Darmstadt, 1973), Einleitung S.XX1V ff.

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6 Hinske, ebenda, S. XXVI. 7 Vgl. Fritz Valjavec, »Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschicht¬ liche Bedeutung«, Historisches Jahrbuch, 72 (1953), 386-400. 8 Zitiert bei Möller (Anm. 2), S.212. 9 Zitiert ebenda, S.214. 10 Göckingk (Anm. 1), S. 91 f. 11 Zitiert bei Ilinske (Anm. 5), S.XXIX. 12 Vgl. dazu Rudolf Vierhaus, »Heinrich von Kleist und die Krise des preußi¬ schen Staates um 1800«, Kleist-Jahrbuch, 1980, 9-33. 13 Dazu Ludwig Geiger, Berlin 1688-1840: Geschich te des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt (Berlin, 1892-95), 2 Bde.; Herbert Scurla, Rahel Farnhagen: Die große Frauengestalt der deutschen Romantik. Eine Bio¬ graphie (Frankfurt a.M., 1980); Karl Hillebrand, »Die Berliner Gesellschaft in den Jahren 1789 bis 1815« (1870), in Unbekannte Essays, hrsg. von Her¬ mann Uhde-Bernays (Bern, 1955), S. 13-81. 14 Germaine de Stael, Über Deutschland, hrsg. von Sigrid Metken (Stuttgart, 1962), S. 127ff. 15 Zitiert bei Möller (Anm. 2), S. 11. 16 Ebenda., S. 26. 17 Göckingk (Anm. 1), S.84f. 18 Ebenda., S. 87. 19 Möller (Anm. 2), S. 30. 20 Vgl.RichardNewald, FonKlopstock bis zu Goethes Tod, 1750-1832:Teil 1, Ge¬ schichte der deutschen Literatur VI, 1 (München, 1957), S. 122. 21 Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. (Berlin u. Stettin, 1783-1796), 12 Bde. 22 In einem Brief an Böttiger; zit. bei Scurla (Anm. 13), S. 126 f.

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IV EIN BÜRGER AUF REISEN Wolfgang Martens

Nicolais Reisebeschreibung ist eines der merkwürdigsten Doku¬ mente engagierter Aufklärung vom Ende des Aufklärungsjahr¬ hunderts. Sie mutet dem heutigen Leser einiges an Ausdauer und Verständnisbereitschaft zu, und bereits für das zeitgenössische Publikum war es eine nicht gerade immer schmackhafte Rost, was der rüstige Berliner ihm da in Form von schließlich zwölf kräftigen Großoktavbänden vorgesetzt hatte.1 Die Reise war im Sommer 1781 unternommen worden und hatte Nicolai, begleitet von seinem ältesten Sohn, von Berlin über Leip¬ zig, Nürnberg, Regensburg nach Wien und Preßburg, von dort über München, Augsburg, Ulm, Stuttgart, Tübingen in die Schweiz und zurück über Straßburg, Frankfurt, Hannover, Braunschweig wieder nach Berlin geführt. Von der Schweiz schon ist in der Be¬ schreibung eigentlich nicht mehr die Rede; der Bericht endet im Band XII mit der Ankunft in Schaffhausen. Dieser zwölfte Band aber ist erst 1796 erschienen - fünfzehn Jahre nach Reisebeginn, während die ersten beiden Bände 1783 und die nächsten dann in den folgenden Jahren herausgekommen waren, wobei zwischen Band VIII und Band IX eine Lücke von acht Jahren klafft. Schon damit ist dieser Reisebericht nicht ein Werk aus einem Guß. Er ist eher ein mit Fleiß und Ausdauer erstelltes Fortsetzungswerk, halbwegs zu Ende gebracht wohl nur durch den Umstand, daß sein Verfasser zugleich auch der Verleger war, der solche Verschleppung ökonomisch absicherte. Bei der Bestimmung der Form dieser Reisebeschreibung ist man denn auch in Verlegenheit.2 Nicolais Produkt entzieht sich einer eindeutigen Kategorisierung. Obwohl der Verfasser als Autor satirischer Romane hervorgetreten war, vermeidet er hier jede Fiktionalisierung, jede epische Integration. Er erzählt nicht - er trägt vor, dokumentiert und urteilt. Eine Kunstgestalt ist nicht ange¬ strebt. Weder die Briefform, in zeitgenössischen Reiseberichten sehr beliebt, noch die Form des Essays dient der Strukturierung des Vorgebrachten, geschweige denn daß hier nach Art der emp¬ findsamen Reisen ein fingiertes Ich Reisedaten zum Anlaß nähme, um uns in ein Gewebe von Phantasie und Laune einzuspinnen. In Nicolais Bericht regieren zunächst die Fakten, Daten und Befunde. 99

Das Berichtsmaterial ist von Reiseetappe zu Reiseetappe je nach Beschaffenheit und Informationsanfall gruppiert, der Berichter¬ statter verwaltet es, führt es vor und gibt seine Meinung dazu. Keine zufälligen Impressionen, kaum je erlebnishafte Szenen mit Atmosphäre und Kolorit, kein anekdotisches Verweilen, kein Plau¬ dern oder Abschweifen. Statt dessen Beobachtungen, Notizen, Reflexionen und Urteile. Gegenstand sind die Bildungs-, Wirt¬ schafts- und Verfassungszustände, die Sitten und Moden, Fröm¬ migkeit, Verkehr, Topographisches, Wohlfahrtseinrichtungen usw. in den bereisten Gebieten. Statistisches paradiert; Tabellen mit Geburts- und Sterbeziffern oder Getreidepreisen füllen viele der insgesamt rund 5000 Seiten. Dokumente aller Art sind mit ab¬ gedruckt, um das Ausgeführte abzusichern. Zahllose Fußnoten traktieren offenbar Wissenswertes. Nicolai hat bei der Niederschrift nicht nur ein Reisetagebuch ausgewertet, er breitet zugleich die Früchte seiner vorbereitenden Lektüre aus, er teilt mit, was er seither zur Sache gelesen hat, er druckt Nachrichten von Gewährsmännern ab, er veröffentlicht ganze Abhandlungen von fremder Hand, so daß Teile seiner Reise¬ beschreibung manchmal an Zeitschriftenbände, etwa an Schlözers Briefwechsel, meist statistischen Inhalts, erinnern. Die späteren Bände enthalten überdies Zusätze, Ergänzungen, Korrekturen zu den früheren Bänden sowie Entgegnungen zu unterdessen lautge¬ wordenen Stellungnahmen. Der Typus dieser unförmig-monströ¬ sen Reiserelation entspricht am ehesten der von Anton Friedrich Biisching, dem Berliner Landsmann Nicolais, geübten Art, von Rei¬ sen zu berichten: ohne jede Absicht unterhaltsamer Belustigung mit wissenschaftlichem Eifer Realdaten, Fakten, Statistisches und Topographisches über das bereiste Gebiet zusammenzustellen.3 Fragen wir nach den Intentionen, die solchem Unternehmen zu¬ grunde liegen, so ist der aufklärerische Impuls unübersehbar. Es geht um die Ausbreitung von Kenntnissen zum allgemeinen Nut¬ zen. Eine interessierte Öffentlichkeit soll ins Bild gesetzt werden über die Lebensverhältnisse in deutschen Ländern, kritisches Ur¬ teil soll Besserung bewirken. Nicolais Reisebeschreibung versteht sich als ein Lnterrichtswerk in angewandter Gesellschaftskunde.4 »Ich habe«, bemerkt er einmal, »von Anfang an mehr versprochen, als eine bloße Reisebeschreibung. Diese sollte, meinem Plane ge¬ mäß, der Faden seyn, worauf ich Beobachtungen, Gedanken, Vor¬ schläge aller Art, die mir für unser deutsches Vaterland nützlich schienen, reihen wollte« (XI, Vorr. S. XXVI). Daß das Ergebnis solcher Aufreihung alle konventionellen Darbietungsformen sprengte, hat ihn, den zum Formen und Feilen ohtiehin zu viel Be¬ schäftigten, nicht gestört. Der Nutzen mußte vor ästhetischer An¬ nehmlichkeit rangieren. 100

Bereits diese Einstellung zur Frage der Form, zur Rolle des Ästhetischen, könnte als bürgerlich qualifiziert werden. Und so sollen uns im folgenden die »Beobachtungen, Gedanken, Vor¬ schläge« Nicolais vor allem im Hinblick darauf interessieren, inwieweit in ihnen bürgerliche Gesichtspunkte zur Geltung kom¬ men. Solche Gesichtspunkte machen sich, so scheint uns, kombi¬ niert mit aufklärerischer Optik, allenthalben geltend.5 Bürgerliche Züge zeigt zunächst die ganze Art und Weise, mit der diese Reise überhaupt unternommen wird. Nicolai reist nicht genießend, er sucht weder Abenteuer noch Zerstreuung, absolviert keine Kavaliersreise, auch keine eigentliche Bildungsreise, denn Kunst und Altertümer interessieren ihn nur am Rande, und noch viel weniger natürlich zieht er als romantischer Taugenichts in lockende Fernen. Was Nicolai veranstaltet, ist eine Arbeitsreise. Sie ist systematisch vorbereitet; nichts ist dem Zufall überlassen. Er hat ein Programm; für plötzliche Eingebungen, für Improvisatio¬ nen bleibt kein Raum. Und so rational wie die Reisevorbereitung ist die Begegnung mit der Welt und die Verarbeitung des Erfahrenen. Die große Fülle von Daten, Fakten, Informationen, topographischem und statistischem Material, die Nicolai zusammenträgt, besagt zugleich für sein Weltverständnis: daß diese Welt habhaft ist für uns in Daten, Fak¬ ten und Informationen. Wir können sie ganz erfassen, begreifen, messen. Topographie0 und Statistik7 sind besonders geeignete Mit¬ tel dazu. Ein Zauber des Wunderbaren liegt nicht über dieser Welt. Und auch eine Transzendenz über ihr gehört nicht ins Konzept. Daß etwa die Dinge Verweisungscharakter hätten, über sich hin¬ aus auf ein Anderes, Höheres deuteten, wie es fromme Christen auf ihrer Reise zur ewigen Seligkeit noch im siebzehnten Jahrhundert zu erfahren wußten und wie es die Romantiker dann noch einmal spekulativ zu repetieren suchen, das verbietet sich dem aufgeklär¬ ten bürgerlichen Denken. Nicolai reist mit einem Wegemesser, einer Art Fahrtenschreiber, der jede zurückgelegte Entfernung nach den Radumdrehungen des Reisewagens genau verzeichnet, und er hat diese ingeniöse Erfindung mit Stolz beschrieben8: Es gibt hier nur noch die Dimension des Diesseitigen; sie ist meßbar, sie ist verfügbar. Halb verwundert, halb indigniert äußert sich Nicolai über die »träumenden Antiquare«, wie er die Reisebe¬ schreiber früherer Jahrhunderte nennt, die es versäumten, die Augen vor der Wirklichkeit aufzumachen (11,588). Das totale Un¬ verständnis gegenüber Äußerungen christlicher Jenseitsgläubig¬ keit, denen er vor allem im katholischen Süden begegnet, gehört in diesen Zusammenhang, ebenso sein in den letzten Bänden ge¬ äußerter Widerwille gegen die schwäbischen Theosophen und die spekulative Philosophie des deutschen Idealismus. Alles ist er101

kennbar in dieser Welt in Fakten, Daten, Topographie und Statistik. Nach drüben ist, mit Faust zu sprechen, die Aussicht uns verrannt; man stehe fest und schaue hier sich um. Der aufgeklärte Bürger Nicolai schaut sich um auf seiner Reise. Er sieht die Welt als Objekt vernünftiger Erkenntnis und als Feld nützlichen Handelns. Nützlichkeit ist ein Prinzip, das die Gedanken des bürgerlichen Aufklärers auf Schritt und Tritt leitet. So wie die ganze Reisebe¬ schreibung ihre Legitimation aus der Gemeinnützigkeit ihrer Dar¬ legungen bezieht, so unterwirft Nicolai im einzelnen alles, was er auf seiner Reise notiert und erfährt, dem Kriterium des Nutzens oder Schadens für die Allgemeinheit. Das beginnt mit seinem Interesse für das »Policey«-Wesen - sei¬ ner kritischen Musterung von Straßenpflasterung, Straßenbe¬ leuchtung, Straßenreinigung (in Wien sprengt man an trockenen Tagen die Straßen!), von Brunnen, der Anlage von Nutzgärten, von Feuerschutz, der Inokulation gegen die Pocken, von Hebammen¬ ausbildung usw. Der herrliche Stephansdom in Wien braucht einen Blitzableiter (11,660); das Stift St. Blasien hat ein kunstrei¬ ches Kuppeldach, seinem Gebälk ist D. Glasers brandabhaltender Anstrich zu empfehlen (XII, 117). Das setzt sich fort im mißfälligen Notieren unnützer, überflüssiger, dem Luxus dienender Beschäfti¬ gungen. In Graz, das entnimmt der reisende Bürger einer Orts¬ beschreibung, gibt es unter 24 000 bis höchstens 30 000 Einwoh¬ nern nur acht Tuchmacher, zwei Seidenzeugmacher, einen Wollzeugmacher und vier Fabriken. »Dagegen sind da 1 Theater, 1 Hetz¬ platz, 12 Kaffeehäuser, 34 Gasthäuser in der Stadt und 192 in den Vorstädten. Summa 226 Gasthäuser. Schreibe zweyhundert und sechs und zwanzig Gasthäuser. Sollte man es glauben!« (11,526). Das gleiche Unheil ist von München zu vermelden. In Berlin lebt jeder fünfte von einem Gewerbe, in München nur jeder dreizehnte (VI,589). Laut Westenrieders Statistik der Münchner Meister ver¬ schiedener Gewerbe gibt es dort: 8 Bildhauer, 18 Kaffeesieder, die Kaffeehäuser haben, 6 Chocolatemacher, 16 Goldschmiede, 7 Lakirer, 6 Lebzelter oder Pfefferküchler, 24 Maler, 27 Perukenmacher. Hingegen sind nur 2 Leinwand¬ drucker (Leineweber sind gar nicht angezeigt, scheinen also nicht vorhanden zu seyn), 6 Riemer, 15 Tuchmacher, 17 Wollkrämer, Streicher und Spinner, 4 Zeugmacher. Es ist gar kein Verhältniß zwischen der vorhandenen Anzahl derjenigen, die sich mit den nöthigen, und denen, die sich mit den entbehrlichen Professionen beschäftigen. Eben so viele Chocolatemacher und Pfefferküchler als Riemer, und mehr Goldschmiede und Perukenmacher als Tuch¬ macher! (VI,5 91). Vor allem die Bildungseinrichtungen sollten nützlich sein und greifbar zur Hebung des Gemeinwohls beitragen; Nicolai erklärt 102

das bei der Besichtigung jeder größeren Stadt. Bibliotheken müs¬ sen zugänglich sein, sollen nicht exklusiver antiquarischer Gelehr¬ samkeit dienen, ihre Säle nicht leerem Prunk. Mit dem Latein ist dem Bürger wenig gedient. »Sonderbar ists immer, daß bloß das Lateinschreiben den Werth eines Studenten oder Magisters bestimmen soll« (XI,64). Latein macht Pedanten und ist dem nützlichen Bürger unzugänglich. Lateinschulen wären also wohl entbehrlich. In einer Reichsstadt wie Ulm braucht man »warlich gar sehr wenige lateinische Gelehrte, aber man braucht Bürger von allen Ständen, welche früh ihren Verstand ent¬ wickelt haben, welche früh zu den im gemeinen Leben nützlichen Kenntnissen angeführt werden. [...] Nirgends auch wohl wäre eine wohleingerichtete Realschule zweckmäßiger« (IX,93 ff.). Über¬ haupt gibt es zu viele Gelehrte, zu viele Studierte. »Diese werden doch offenbar dem Landbaue und der Industrie entzogen« (X,205). Sollte man nicht lieber den auf dem Latein basierenden württembergisehen Klosterschulen das Klösterliche nehmen und daraus »Industrieschulen« machen? Es scheint, dem Lande und vielen Schulen würde besser gerathen seyn, wenn ein Theil derjenigen, welche an den Klosterschulen Kut¬ ten tragen, lieber Kutten machten (X,205f.). Und: Alle Schulen soll¬ ten billig Realsch ulen seyn, d. h. man sollte den Kindern nicht leere Worte, sondern richtige und gemeinnützige Begriffe beybringen (IV,791).9 Als äußerst lobenswert befindet es der aufgeklärte Bürger, daß die Akademie in Augsburg außer den bildenden auch die mechanischen Künste zu ihrem Gegenstände erwählt [hat], welches, meines Erachtens, höchlich zu billigen ist, zumal in einer Reichsstadt, und in jedem Staate, der sei¬ nen Wohlstand nicht auf leeren Luxus, sondern auf nützliche In¬ dustrie gründet. Mittelmäßige Köpfe mittelmäßig zeichnen oder malen zu lehren, ist wenig Gewinn für den Staat. Aber ein mittel¬ mäßiger Kopf kann ein guter Tischler, Goldschmied, Maurermei¬ ster werden (VIII,134). Die Kunst, die Welt des Schönen, ist gewiß etwas Unverächtliches, aber die Sicherung der Notdurft des bürgerlichen Lebens ist wichtiger. Eben deswegen scheint es Nicolai auch beklagenswert, daß auf der Hohen Karlsschule zu Stuttgart der Unterricht in den schönen Künsten »allzusehr begünstigt« ist (X,66). Anleitung zu den mechanischen Künsten, zum Hobeln, Drechseln, Uhrmachen, wäre zweckmäßiger. Eine ganze Welt unnützen, fehlgeleiteten, dem patriotischen Ge¬ meinsinn widersprechenden Handelns tut sich dem reisenden Bürger auf im geistlich-kirchlichen Bereich, der ihm vor allem im katholischen Süden unerwartet lebendig unter die Augen kommt. 103

Schon im protestantischen Wittenberg ist der Wiederaufbau der im Siebenjährigen Krieg mit einem Teil der Stadt abgebrannten Universitätskirche zu rügen: Ich dächte, wenn von den Kosten, welche diese ziemlich entbehr¬ liche Kirche verursachte, nur zehn oder zwölf Bürgerhäuser wieder auf gebaut wären und die Studenten künftig ihren Gottesdienst in der Pfarrkirche verrichtet hätten, so wäre der Stadt und selbst dem Lande besser gerathen gewesen (1,28). Erst recht in St. Pölten, wo man 1783 eine Dreifaltigkeitssäule für 40 000 Gulden errichtet und mit großer Prozession und nachfol¬ gendem großem Schmause eingeweiht hat: Es ist wohl nicht leicht eine solche Summe unnützer ausgegeben worden. Waren in St. Pölten keine Waisen zu erziehen, keine Arme mit den Nothwendigkeiten des Lebens zu versorgen, keine vernünf¬ tige Schule zu errichten? (VI,453). Dreifaltigkeitssäulen und Prozessionen sind keine wirksamen In¬ vestitionen. In Wien hat man, um die Pest abzuwenden, 1713 die Karlskirche erbaut. Auch das erscheint Nicolai als bedauerliche Verirrung im Einsatz von Mitteln. Effektiv wäre ganz etwas anderes: Joseph II würde freylich, um diesen Zweck zu erreichen, eher die sorgfältige Aufsicht an der türkischen und ungarischen Grenze haben verdoppeln, als eine Kirche in den Vorstädten von Wien bauen lassen (11,39). So vertretbar für Nicolai eine vernünftige Andacht ist, die den Menschen an seine Pflichten erinnert, »so unnütz, ja schädlich sind in Bayern und Österreich zu beobachtende Devotionsformen und religiöse Gebräuche. Bilder- und Beliquienverehrung, Prozessio¬ nen, Wallfahrten, Messen, Litaneien sind für einen aufgeklärten Bürger Zeitverschwendung. Schon eine tägliche Morgenandacht im protestantischen Nürnberg ist Nicolai eine »elende Ceremonie [...] von der alle überzeugt sind, daß sie keinen Zweck und keinen Nutzen hat« (1,305), und daß man im ebenfalls protestantischen Ulmer Münster auch an jedem Werktag eine Predigt hält und an Donnerstagen gar zwei, ist Zeitvertreib für die Geistlichen, von de¬ nen manche nebenher Professoren sind, und »für die Bürger und Bürgerinnen, welche die Zeit mit Arbeiten zubringen sollten, um ihre Familie zu ernähren, damit sie nicht ins Hospital komme!« (IX,39). Entsprechend ist das Absingen des Chors im katholischen Regensburg für Nicolai »ein Opus operatum, das mir beständig zu¬ wider gewesen ist, weil es gar keinen Nutzen hat, und nur die edle Zeit verdirbt« (11,364). Statt sich auf Wallfahrten zu begeben, hätte man lieber Äcker und Gärten bestellen, Kinder erziehen oder das Hauswesen besorgen sollen. Sonderbarerweise nehmen in Öster104

reich auch Personen von Stand und Erziehung an Wallfahrten teil (II, Beil. S. 35 ff.). Höchst fragwürdig ist dem aufgeklärten Bürger natürlich auch die Institution der Klöster. Ihre Insassen sind mit ihrer kontempla¬ tiven Existenz der Gesellschaft offenbar nichts nütze. Zwar muß eingeräumt werden, »daß ein Mönch, wenn er Kranke wartet, der menschlichen Gesellschaft nützlicher ist, als wenn er bettelt oder Horas singt« (111,222), aber selbst bei den Barmherzigen Brüdern, konstatiert Nicolai, ist es nur ein Viertel der Mönche, das Kranke pflegt, die anderen kollektieren oder versehen den Chor. Wie wün¬ schenswert wäre es dagegen, wenn man in den Klöstern Natur¬ wissenschaften triebe, wenn hier »Kenner der Naturgeschichte, Physik, Botanik, Meteorologie, Chemie und Mineralogie« wirkten (XII,141f.), oder wenn überhaupt »die Klöster, anstatt einer mönchi¬ schen Ascese gewidmet zu seyn, in Stiftungen für gelehrte Leute verwandelt werden könnten« (XII,159). Theologen - das gibt Nicolai mehrfach zu erkennen - benötigt man ohnehin nicht in dieser Fülle, so daß z. B. der Vorrang der Theologenausbildung in Württemberg zu bedauern ist, wo man doch »hauptsächlich auch Rechtsgelehrte, Ärzte, Kameralisten, Ökonomien, mechanische Künstler und überhaupt Bürger, die für den Staat nützlich sind«, braucht (X,70). Wenn man aber Theolo¬ gen hat, so sollten sie jedenfalls etwas Sinnvolles predigen. Zum Beispiel: »Es würde freylich [...] sehr gut seyn, wenn die Landpredi¬ ger die Bauern aufmerksam machen könnten, daß sie ihre Kinder nicht mit Mehlbrey früh verfüttern müssen und daß sie sich mit Brantewein die Wassersucht zuziehen« (XII,10). Bewältigung der Realien, Bewirkung von praktischem Nutzen, Förderung des Gemeinwohls, das ist das Programm des aufgeklär¬ ten, des »patriotisch« denkenden Bürgers, der sich in dieser Welt einrichtet. Das Heil - eigentlicher Gegenstand theologischer Ver¬ kündigung - ist offenbar ein leerer Begriff geworden, ebenso wie die geistlichen Kategorien Sünde, Gnade und Erlösung. Sie figu¬ rieren nicht mehr in Nicolais System. Sein Feld ist das gesell¬ schaftliche Leben in dieser Welt als der einzigen begreifbaren Wirklichkeit. Religion und Kirche haben entsprechend nur noch Daseinsberechtigung, wenn sie der irdischen, der gesellschaft¬ lichen Wohlfahrt förderlich sind. Dem Programm patriotischer Gemeinnützigkeit10 entsprechen bestimmte bürgerliche Tugenden, die Nicolai in seinem Reise¬ bericht immer wieder als solche erhebt: Tätigkeit, Fleiß, Spar¬ samkeit, ökonomische Vorsorge - Tugenden, wie sie auch in Carl Friedrich Bahrdts Handbuch der Moralfür den Bürgerstand (1789) figurieren.11 Wo er solche Tugenden antrifft, lobt er, wo er sie bei seiner Inspektion vermissen muß, tadelt er kopfschüttelnd und 105

besorgt. Und nur zu sehr lassen die südlichen, vor allem die katho¬ lischen Landschaften da zu wünschen übrig. Müßiggang, Sorg¬ losigkeit, Genußsucht sind allenthalben festzustellen. Schon mit ihren vielen Feiertagen verführt die römische Religion zur Un¬ tätigkeit (11,342). Überhaupt ist in den katholischen Ländern mehr »Gemächlichkeit« zu verzeichnen. »Sie vegetieren zwischen Beten, Essen und Trinken«, muß Nicolai von den Passauern konstatieren (11,469). »Industrie muß man in Passau nicht suchen, so wie fast in keinem geistlichen Lande« (11,467). (Industrie-das Wort besitzt für Nicolai eine Art Verheißungswert - meint angewandten gewerb¬ lichen Fleiß; auch bei Bahrdt gehört »Liebe zur Industrie« zum rechten Bürger.12) Nicolai registriert auch, daß man in benachbar¬ ten protestantischen Gebieten wesentlich aktiver sei: Bei den Protestanten in Erlangen sind nicht so viel äußerliche Reli¬ gionsübungen, und mehr Thätigkeit und Industrie. In Bamberg sieht man auf den Straßen angemalte Heiligenbilder, feyerliche Processionen, gemächliche andächtelnde Gesichter, Domherren und Mönche; in Erlangen nichts von alledem. Die Manufakturisten arbeiten in den Häusern, wer auf den Straßen ist, geht bloß geschäfte halber; sogar der Gang ist hier lebhafter (I,161).13 »Aufmunterung zur Thätigkeit« tut not (11,342). »Menschen sind nicht gemacht, um ruhig zu seyn, sie sollen thätig, geschäftig, voll Sorgen seyn, ihr eigenes Wohl und das Wohl der Gesellschaft zu be¬ fördern« (1,114). Hinter diesen bürgerlichen Maximen Nicolais steckt unver¬ kennbar altes lutherisches Arbeitsethos. Den Mangel eines solchen Ethos in katholischen Landschaften hat er mit Befremden als Hang zu »Gemächlichkeit« und zu Müßiggang registriert. Das geistliche Komplement freilich zur lutherischen Vermahnung zur Arbeit, die Anhaltung zum Gebet, ist dem aufgeklärten Bürger durchaus ent¬ behrlich. Der Doppelimperativ »Bete und Arbeite!« ist bei Nicolai aufgelöst. Ja das Beten - wir haben schon Belege dafür kennen¬ gelernt - kann die Arbeitsmoral des Menschen behindern. Und so ist denn auch für das Waisenhaus in Ulm eine Industrieschule zu fordern: »Die würde ihnen nützlicher seyn, als das gedankenlose Beten für Dinge, von deren Zwecke und Ausgang sie nichts wis¬ sen« (IX,98). Besonders verderblich im Hinblick auf Beförderung von Arbeit¬ samkeit und Fleiß scheint dem aufgeklärten Bürger ein Sektor frommer Aktivitäten: die Armenpflege.14 Frommes Almosengeben fördert den Müßiggang, züchtet förmlich die Bettelei. Almosen¬ geben ist unpädagogisch und volkswirtschaftich unproduktiv. »Ganz elende Armen müssen freylich ganz verpflegt werden. Je mehr man aber andern Almosen giebt, desto mehr erstickt man Fleiß und Industrie« (VII,72). Armenpflege, sagte Nicolai, sollte vor 106

allem nicht als »Religionssache«, sondern als »Sache der Men¬ schenliebe und Policey« betrachtet werden: »Eine gute Policey aber wird es mit sich bringen, daß man denjenigen Leuten, welche keine Arbeit finden können, nicht Almosen, wodurch sie nur er¬ niedrigt werden, sondern soviel Arbeit verschaffen muß, daß sie sich davon ernähren können« (VI,27). Das besagt: dem aufgeklär¬ ten Bürger ist der Arme nicht mehr, wie einst für den Frommen, ein Abbild Christi, dem mit guten Werken »um Gottes willen«, wie die alte Bittformel lautete, geholfen werden muß, sondern der Arme ist ein Gegenstand der Sozialpolitik, eine volkswirtschaftliche Größe, die produktiv gemacht werden kann und muß.15 Daher ist wahre Armenfürsorge nicht Almosengeben, sondern Arbeitsbeschaffung. Der Nutzeffekt ist zu bedenken; die Rechte muß durchaus wissen, was die Linke tut. »An jedem verarmten Bürger erleidet der Staat einen doppelten Verlust. 1) das Almosen, das ihm gereicht wird, 2) die Abnahme der Steuereinkünfte« (IX, Beil.S.21). Richtige Armen¬ pflege ist Aktivierung zur Arbeit und hat einen gemeinnützigen Effekt. Als nicht recht verständlich und höchst bedenklich erscheint Nicolai die Sorglosigkeit, mit der man in manchen Landschaften, statt fleißig zu sein, zu erwerben, anzuschaffen und seine Habe zu sichern, dem Lebensgenuß obliegt. Mit warnendem Zeigefinger hat er die wienerische Genußfreudigkeit moniert, die zu einer Art Rentnergesinnung führt, unter welcher man möglichst bald sein Gewerbe niederlegt, um gemächlich nur noch von den Zinsen zu leben (111,148). »Besonders sind Pracht und Wohlleben, übermäßi¬ ger Hang zum Genüsse, Weichlichkeit und Zerstreuung, Sorglosig¬ keit und Leichtsinn von je her für charakteristische Eigenschaften der Einwohner Wiens gehalten worden«; schon Aeneas Sylvius habe das um 1450 bemerkt (V,187). Die Begierde zu genießen, welche in Wien so allgemein ist, er¬ streckt sich auch bis auf die untersten Stände. Die beständige Be¬ gierde nach Genuß aber, nebst dem damit verknüpften Zeitverlust und Zerstreuung, kann dem Bestreben nach Erwerb, welches doch die Mutter der Industrie ist, nicht zuträglich seyn (IV,486). Der vernünftige Bürger, das wird Nicolai nicht müde zu be¬ tonen, ist rührig und fleißig, er hält haus mit seinen Mitteln und hütet sich vor Sorglosigkeit und Leichtsinn. Daß die zu beobach¬ tende Sorglosigkeit, der Leichtsinn der Wiener, Ausdruck länd¬ lichen Gottvertrauens sein könnte, vermag der Aufklärer aus dem protestantischen Norden nicht zu erwägen. Er muß hier vielmehr Verantwortungslosigkeit im Schwange sehen, ein Abirren von der Bestimmung des Menschen, zu arbeiten, zu erwerben und vor¬ zusorgen. Freilich ist für die Wiener noch nicht alle Hoffnung ver107

loren, denn Joseph II. sucht zum Glück »seine Unterthanen aus dem Schlummer, in welchem sie bisher gelegen haben«, zu erwecken (11,507). Besonders interessant ist, daß Nicolai unbürgerliche Sorglosig¬ keit, mangelnde ökonomische Absicherung, nicht nur etwa bei den genußfreudigen Wienern feststellt, sondern auch bei einer neuen, sich gerade erst herausbildenden sozialen Schicht, den Arbeitern. Bei der Schilderung der Wirtschaftsverhältnisse in Ulm kommt er auf das Verhältnis von Manufakturarbeitern zu ihren Unterneh¬ mern zu sprechen: Die Arbeiter [...] überlegen gemeiniglich nicht, daß sie ohne den Unternehmer gar keine Arbeit haben würden [...]. Sie denken ge¬ meiniglich nicht an den andern Morgen, da der Unternehmer auf Jahre lang denken und sorgen muß. Sie leben selten wirthschaftlich und legen nie etwas zurück. [...] Wenn der gemeine Handwerks¬ mann und Handarbeiter durch den Fleiß eines Unternehmers Arbeit vollauf hat: so denkt er oft, die Arbeit wird und muß immer so gehen. Er fängt an, besser zu leben, anstatt auf die Noth etwas zurückzulegen; und was noch schlimmer ist, aus Lust zum guten Leben fällt er oft in Müßiggang und arbeitet weniger. Will er diese Lebensart fortführen, so wird das Arbeitslohn, folglich die Waare, zu theuer. Der Debit fehlt also, giebt also weniger Arbeit, die Nach¬ baren ein paar Meilen weiter [...] sind fleißiger und sparsamer, und so geht die Nahrung weg. [...] Solltees wohl nicht nöthig seyn, unter der großen Menge unnützer Predigten, welche im Münster gehal¬ ten werden, monathlich eine nützliche Predigt wider den Müßig¬ gang und die Sorglosigkeit zu lesen? (IX,60 ff.). An den anderen Morgen denken, wirtschaftlich leben, Eigentum bilden, Vorsorge treffen - solchen Mahnungen stand in der christ¬ lichen Verkündigung bislang das »Sorget nicht!« der Bergpredigt entgegen mit dem Hinweis auf die Vögel unter dem Himmel, die nicht säen und nicht ernten und doch vom himmlischen Vater er¬ nährt werden (Matth. 6,25 ff.). Der aufgeklärte Bürger aber erwar¬ tete von der Kirche praktische Anleitung zur diesseitigen Lebens¬ sicherung, gerade weil auf göttliche Verheißungen kein Verlaß mehr für ihn ist (wie denn auch das Aufklärungsjahrhundert die ersten Versicherungsgesellschaften zeitigt). Für uns dürfte die zitierte Stelle ein sehr früher Beleg sein für einen Befund, der auch heute noch dem Sozialpolitiker zu schaffen macht: für die »unbür¬ gerliehe« Mentalität des abhängigen Lohnarbeiters. Sparen, Haus¬ halten, für Übermorgen sorgen, sich ökonomisch sichern ent¬ spricht dagegen bürgerlichem Konzept. Freilich verlangt der aufgeklärte Bürger, wie Nicolai ihn reprä¬ sentiert, bei aller Kritik an Leichtsinn und Genußgesinnung nicht völligen Verzicht auf die Freuden dieses Lebens. Ein rechtes, öko108

nomisch vertretbares, den vernünftigen Mittelweg nicht verlassen¬ des Vergnügen ist jedermann zu gönnen. Innerweltliche Askese calvinistischen Zuschnitts, puritanische Strenge und Disziplin, wie sie z. B. in den Lebens- und Wirtschaftsprinzipien Benjamin Franklins16 nachwirken, liegen dem aus dem lutherischen Norden kommenden Bürger nicht nahe. Der Bürger wie überhaupt das arbeitsame Volk soll seine Freuden haben, wenn sie in den Gren¬ zen des Ordentlichen, des Wohlanständigen bleiben. Der »Musik¬ impost«, eine Musiksteuer in Wien, ist zu verwerfen: »Alle Auf¬ lage auf die Freude des Volks hat für mich einen sehr widrigen Begriff« (IV,559). Die strengen kirchlichen Gebote und Verbote bei Lustbarkeiten in Württemberg sind abzulehnen: »Der gemeine Mann muß nach schwerer Arbeit auch Freude nach seiner Art haben« (X,214); solch kirchlicher Zwang macht nur Separatisten und Schwärmer und begünstigt die Auswanderung. Mit Beifall ver¬ merkt Nicolai kleinstädtische Volksfröhlichkeit auf einem Jahr¬ markt in Thüringen: Der Anblick so vieler vergnügter Gesichter in diesem einsamen Thale war mir ein sehr angenehmes Schauspiel. In dem Erdge¬ schosse des recht gut und steinern gebauten Rathhauses ließen sich ein Chor blasender Musikanten hören. Alles war gechäftig und alles war fröhlich. Die Mädchen wurden beschenkt, und beschenk¬ ten ihre Liebhaber. Sie sahen eben nicht schön, aber sehr gesund und frisch aus. Ich bemerkte, daß sie alle Tuchkamisöler anhatten, vermutlich aus Landesmanufaktur« (1,65 f.). Alles vollzieht sich in Ordnung und Solidität, es ist ein Stück wohlverdienten irdischen Vergnügens ohne ökonomische Bedenk¬ lichkeiten. Der gegebene Ort irdischen Vergnügens aber für den Bürger ist vornehmlich der Kreis der Familie. So wie Nicolai einst in seiner Werther-Fortsetzung die Freuden Werthers, des Mannes im Schoße der Familie, ausgemalt hatte-Werther und Lotte sind »durch Fleiß und Sparsamkeit« wohlhabend geworden, besitzen Haus und Gar¬ ten und genießen im Kreis ihrer acht Kinder »in reichem Maße die Vergnügungen des häuslichen Lebens, die sich so tief empfinden und so wenig beschreiben lassen«17 - so verweist er auch jetzt auf diese segensreiche Einrichtung der Familie als den Platz geord¬ neter, legitimer Glückseligkeit des Bürgers. Die eheliche Liebe ist »das edelste Band des menschlichen Geschlechts« (und Leuten, die es nicht kennen, nämlich den Mönchen, sollte daher die Erziehung der Jugend nicht anvertraut werden, VI,623). In Tübingen, wo so Mel theologische Spekulation in den Köpfen spukt, ist doch wenig¬ stens eines beglückend zu konstatieren: »Zur Zeit meiner An¬ wesenheit in Tübingen waren fast alle Gattinnen der dortigen Professoren entweder im Wochenbette oder hatten es nicht lange 109

verlassen, oder waren im Begriffe hineinzukommen, und alle hat¬ ten ein gesundes und frohes Aussehen« (XI,174f.). Wieviel betrüb¬ licher dagegen ist die Geburtenstatistik von München mit so vielen unehelichen Kindern: »Dieß gibt eine traurige Aussicht auf Aus¬ schweifungen und Unsittlichkeit« (VI,562). Unterwegs bei Passau hat Nicolais Sohn, sein Begleiter, Geburtstag. Das gibt Anlaß, in zärtlichen Gefühlen der zurückgelassenen Familie in Berlin zu ge¬ denken (11,471 f.). Überhaupt ist dem vernünftigen Bürger hier, im Familienkreis, einmal warmes Gefühl verstauet, und daneben noch in einem wei¬ teren Bereich, nämlich in dem der freien Natur. Es mutet in Nico¬ lais Reisebeschreibung zuweilen sonderbar an, aber inmitten der Statistik, der Fakten und Befunde seiner Erhebungen und unter all der Rationalität und Nüchternheit der dazu vorgebrachten Urteile erlaubt sich Nicolai bei Gelegenheit empfindungsreiche Naturschilderungen und Naturgefühl. Eine nächtliche Fahrt auf der Donau bei Vollmond und Gesang der Schiffsleute, ein Blick vom Wienerwald herab auf Wien bei Abendsonne (111,113), ein Sonnen¬ untergang (der einem künstlichen Feuerwerk weit vorzuziehen ist, IV,628), eine Gewitterszene mit Sonnenuntergang bei Melk, eine ähnliche in Oberbayern lassen den Reisenden zur Sprache der Empfindung finden, die er sich sonst als registrierender und prü¬ fender Aufklärer nicht gestattet. Die großen Szenen der Natur machen einen Eindruck, den kein menschliches Schauspiel erreicht, nirgends aber sind sie majestäti¬ scher als in bergichten Ländern. [...] Aber, nur wenigen ist das Herz zur Empfindung geöffnet (VI,464 f.). - Und unsere Seelen wurden voll von Empfindungen des Danks [...].- Und unsere Empfindun¬ gen stiegen zur Feierlichkeit... (VI,498 f.). Hier in der Natur wie dort im Refugium der Familie darf ein auf¬ geklärter Bürger weich sein und wohlanständige Rührung zeigen, bevor ihn die gesellschaftlichen Pflichten des Erwerbs und der Nützlichkeit wieder mit Beschlag belegen. Wie aber reagiert der aufgeklärte Bürger auf seiner Reise auf die verschiedenen Verfassungszustände, die Obrigkeitsformen, die ständische Gliederung, die Welt der Höfe und des Adels? Auch da¬ für gibt Nicolais Bericht etliches her. Zunächst: Die jeweiligen Gegebenheiten können vielfältiger Kritik unterzogen werden, an gewaltsame Umänderung denkt Nicolai jedoch nirgends. Auch die Jahre der Französischen Revolu¬ tion, die zwischen dem Erscheinen des Bandes VIII und dem des Bandes IX liegen, haben da keine Änderung bewirkt, ja praktisch hat dieses säkulare Ereignis in den danach redigierten Bänden keine erkennbaren Spuren hinterlassen. Horst Möller hat in seiner vortrefflichen Nicolai-Monographie festgestellt, daß nirgends in

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Nicolais Schriften, und so auch nicht in der Reisebeschreibung, die Forderung nach Beseitigung des Adels als eines privilegierten Standes laut wird18, und ebensowenig die Forderung nach Abschaf¬ fung des monarchischen Prinzips.19 Nicolai zeigt Mißstände auf, er will Reformen, er hat oft genug Rezepte, aber er scheut den radika¬ len Eingriff in gewachsene Wirklichkeiten. Er zeigt, im Gegensatz zu anderen bürgerlichen Aufklärern am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, einen konservativ-reformerischen Zug. Sein Ideal ist der Wohlfahrtsstaat welcher Form auch immer, der allen Ein¬ wohnern, allen Ständen Entfaltung und Glück sichert. Der auf¬ geklärte Absolutismus, wie er ihn unter Friedrichll.in Preußen er¬ lebt hat und wie er zur Zeit seiner Reise unter Joseph II. in Öster¬ reich sich zu etablieren beginnt, besitzt für ihn viele Vorzüge; ge¬ meinnütziges Handeln, wie er es erstrebt, scheint ihm unter dieser Verfassungsform durchaus praktizierbar.20 Die traditionsstarren Strukturen in manchen freien Reichsstädten, etwa in Nürnberg, scheinen ihm dagegen viel eher bürgerlich-gemeinnützige Reg¬ samkeit zu behindern. Angesichts der Patriziatsverfassung der Reichsstadt Ulm urteilt er so: »Jede Regierungsform hat ihre desideranda und deploranda, und vielleicht die aristokratische am meisten« (IX, Beil. S. 33). Doch es soll im folgenden nicht nach Nicolais möglichen politi¬ schen Vorstellungen und etwa nach expliziter Verfassungskritik in seinem Reisebericht gefragt werden, sondern nach moralischen Prinzipien und Wertvorstellungen, die er angesichts der auf seiner Reise angetroffenen politischen und sozialen Realitäten äußert. Bürgerliche Gesichtspunkte machen sich auch hier allenthalben geltend. Der Unterschied nach Ständen ist für den vernünftigen Bürger ein historisch bedingtes Übel, das mit dem wahren Wert eines Menschen nichts zu tun hat. Dem »Vorurtheil der Geburt« (VIII,318) ist die eigene Leistung, das Verdienst um das Gemein¬ wohl, entgegenzusetzen; bereits die frühe Aufklärung hat diese Position vertreten. »Wo der Adel über die Maßen erhoben wird, muß Menschheit weniger gelten«, urteilt Nicolai über Wien, wo nur Standespersonen zu zählen scheinen und jedermann als »Herr von...« tituliert wird (V,283). Wer sich, wie dort üblich, für bares Geld nobilitieren läßt, handelt töricht, weil »solche Art der Standes¬ erhöhung für denjenigen, welcher weiß, worin der Werth des Men¬ schen bestehet, gar nichts ist« (V,286). Übrigens ist es ebenso töricht, den Sohn eines Handwerkers oder Kaufmanns, wenn er einen akademischen Grad erlangt hat, alsbald, wie in Ulm, »Hoch¬ edelgeboren« zu nennen, »als ob der academische Gradus etwas an seiner Geburt geändert hat« (IX,118). Ein gesellschaftlicher Sonderstatus kann dem Gelehrten nicht zukommen.

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Adelskritik übt Nicolai in seinem Bericht verhältnismäßig sel¬ ten; Kritik am Bürger, der Nobilitierungssehnsüchte hat, über¬ wiegt. Nicolai verurteilt es, wenn die adligen Gutsherren armer Bauern im Luxus leben (1,149), er mißbilligt, daß der Adel aufgrund von Privilegien nicht oder zu niedrig besteuert wird (III, Beil. S.131ff.). Aber Standeshochmut, seigneurales Gebaren, repräsenta¬ tiver Lebensstil, das aristokratische Sich-in-Beputation-Setzen, feudaler Ehrbegriff oder auch Schuldenmacherei oder Unbildung werden kaum je von ihm notiert, oder besser: alles das wird igno¬ riert. Nicolai übersieht weitgehend die feudale Welt, die ihm unter¬ wegs auf Schritt und Tritt begegnet sein muß - er übersieht sie offenbar bewußt in bürgerlichem Selbstgefühl. Er sucht sie nicht etwa auf, um sich des Umgangs mit großen Herren rühmen zu kön¬ nen. Wenn er von der Begegnung mit einer Standesperson berich¬ tet, so ohne jedes besondere Aufheben. Es handelt sich dann, wie etwa in Wien, um Persönlichkeiten, die sich um die Wissenschaft oder um das Gemeinwesen in irgendeiner Weise verdient gemacht haben, mit denen ihn ein gemeinsames Interesse verbindet. Ganz besonders deutlich wird diese Distanz, wenn es sich um die höfische Sphäre und um Fürstlichkeiten handelt. Eine Audienz beim Herzog von Coburg, die auf dessen Verlangen zustande kam, wird von Nicolai mit wenigen komplimentierenden Sätzen ab¬ getan21, ein gleich darauf stattfindender Besuch beim Coburger Bürger Adam Gottfried Wetzel und seinen von ihm erfundenen elektrischen Apparaturen dagegen ist in aller Ausführlichkeit be¬ schrieben (1,89ff.). Gewiß, der Fürst Kaunitz ist als Beförderer von Wissenschaft und Kunst und als Freund der Aufklärung zu preisen (111,61) - JosephII., den Nicolai bewundert, ist gerade abwesend von Wien -, aber die monarchische Sphäre selbst, der Hof mit seinem Glanz, seiner Attraktion, ist, ob nun kaiserlich oder fürstlich, dem wertbewußten Bürger etwas, was man übersehen kann, wenn man es nicht sogar verurteilen muß. Von Fürstenschlössern ist kein Aufhebens zu machen. Beisebeschreibungen, die sich gerade auf die fragwürdigen Herrlichkeiten von Schloßbauten konzentriert haben, empfangen bei Nicolai gelinden Spott: Dieser Verfasser scheint seine Lustreisen hauptsächlich um fürst¬ licher Schlösser willen gethan zu haben, die er mit einer ihm eige¬ nen Umständlichkeit beschreibt und nicht leicht die Beschaffenheit der Tapete eines Zimmers oder die Anzahl der Kronleuchter in einem Saal vergißt. Es ist ganz gut, daß alles dieß irgendwo ange¬ zeigt ist, für die welche es zu wissen verlangen.22 Nicolai selber vermerkt hinsichtlich an seinem Wege liegender Schlösser mehrmals, er habe sich die Besichtigung und eine ent¬ sprechende Beschreibung geschenkt: »Bechts ließen wir das be¬ rühmte kaiserliche Lustschloß Laxenburg ohne Bedauern liegen.

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weil das Besehen von Schlössern mit ihren Annehmlichkeiten kein eigentlicher Theil unsers Planes war« (VI,328). Oder, bei Gelegen¬ heit des Schlosses Esterhasz am Neusiedler See: »Indessen gehörte es nicht eigentlich in meinen Plan, prächtige Schlösser zu besehen. Die geringste Spur des Wohlstandes und der Industrie des gemei¬ nen Mannes ist mir ein viel angenehmer Schauspiel als die größte Pracht« (VI,438f.). Und erneut beim Schloß Ludwigsburg in Würt¬ temberg: »Aber das Schloß inwendig zu besehen, hatten wir nicht die geringste Lust; die merkwürdigen Industrieanstalten waren uns lieber« (X,160).23 Der aufgeklärte Bürger setzt hier unmißver¬ ständlich seine Prioritäten. Wenn er aber einmal ein Schloß in Augenschein nimmt, wie Nymphenburg bei München, so bleibt der Besucher betont unbe¬ eindruckt von Pracht und Glanz. Abgesehen von moralischem Mi߬ fallen über hier, wie man hören muß, vorgefallene unziemliche Ausschweifungen allerhöchster Personen ist es der sozialökono¬ mische Aspekt solcher aufwendigen Anlagen, der das Urteil be¬ stimmt: Wenn der zwanzigste Theil dessen, was an Nymphenburg und des¬ sen ungeheure große Gärten verschwendet ward, auf die Kultur dieser Gegend wäre gewendet worden, so könnte sie weit und breit grünen, große Heerden Vieh erhalten und eine große Anzahl Men¬ schen könnte darauf in gutem Wohlstände leben (VII,27). Ein aufgeklärter Bürger läßt sich von Pracht und sonstigen ästheti¬ schen Valeurs nicht blenden, sondern berechnet die Rosten und fragt nach dem gemeinnützigen Effekt. Auch für Gemäldegalerien, Münz- und Antiquitätensammlungen als Vehikel fürstlicher Repräsentation kann er sich nicht erwärmen. Im übrigen hat das höfische Personal eine volkswirtschaftlich unverantwortliche Exi¬ stenz: »Aber wahr ist es, daß niemand verhältnißweise im Staate mehr zu der sterilen verzehrenden Klasse gehört, als der Hofbe¬ diente« (VI,577). Daß höfische Festivitäten nicht nach dem Geschmacke des Bür¬ gers sind, läßt Nicolai durchblicken. Der aufwendige Stil bei Hofe, die dort kultivierte Vergnügungslust kann vor allem böse Folgen für die Einstellung der Bürger im Lande haben. In Stuttgart glaubt Nicolai als Auswirkung schlechten höfischen Vorbilds einen »Hang nach Vergnügen« und »Bedürfnisse des Luxus« unter den Einwoh¬ nern konstatieren zu müssen: »Beides disponirt nicht zu anhalten¬ der Arbeit« (X,45). Wenn man bereits Pracht, Aufwand, Luxus in der Sphäre des Fürsten und des Adels für fragwürdig halten muß, so sind sie für den Bürger jedenfalls absolut unpassend. Bequemlichkeit, Solidi¬ tät zwar sind dem Bürger vergönnt, und wo das in Bürgerhäusern zu vermissen ist, wird es bedauernd konstatiert.24 Alles darüber

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hinaus aber ist vom Übel. Um so erfreulicher denn auch, wenn man an Herrenhäusern Züge bürgerlichen Geschmacks, bürgerlicher Ökonomie feststellen kann. Nicolai berichtet mit Sympathie von einem Besuch auf dem adligen Landsitz Majorhaz in der Nähe von Preßburg: Der ländliche Aufenthalt in Majorhaz zeigte keine Pracht, aber alle Merkmale der Ordnung und des Triebes zur Verbesserung. [...] Das Haus war nicht prächtig, aber bequem von Steinen erbauet, und ward eben erweitert. Die Lage war anmuthig, ganz in der Nähe ein kleiner Park, dessen schattigte Gänge uns in der Mittags¬ hitze sehr zustatten kamen ; und nicht weit davon in einem andern Wäldchen eine kleine Fasanerie, schöne Viehzucht und Ackerbau, wohl angelegte Küchengärten und Treibhäuser in demselben, und überhaupt alle Anlagen in bester Ordnung (VI,441). Hier zeigt sich ein Herrensitz bequem, wirtschaftlich, ohne allen Luxus, ohne feudale Ostentation angelegt (die Gärten sind Nutz¬ gärten, nicht Ziergärten). Prädikat: lobenswert. Ähnlich Erfreuliches ist vom Fürstabt von St. Blasien zu berich¬ ten - einem der wenigen geistlichen katholischen Würdenträger, die sich bei Nicolai keine schlechten Noten geholt haben: Die Wohnung des Fürsten Abts war wohlangelegt, simpel und ge¬ schmackvoll möblirt, aber nicht prächtig (XII,131). Seine Tafel war nicht fürstlich prächtig; aber alles wohl zubereitet und anständig eingerichtet. Bei manchem Gerichte sagte Er mit Wohlgefallen, daß es aus seinem Lande sey. [...] Sein Betragen war äußerst verbind¬ lich, ohne den Hofton, der zur Schau trägt, etwas Verbindliches zu sagen. Sein Gesicht war offen, seine Mienen, der Blick seiner Augen aufmerksam und verständig; sein ganzes Wesen unbefangen und freundlich (11,84). Wohnung, Einrichtung, Tafel und Lmgangsformen haben also nicht das höfische Air, nichts vom feudalen Repräsentationsstil, sie kommen offenbar dem bürgerlich-privaten Zuschnitt nahe. Zumal die Kennzeichnung des Gesichts als offen beruft deutlich den Gegensatz zur auf dem höfischen Parkett gepflegten Manier feiner gefälliger Undurchdringlichkeit.25 Ein rechter Bürger gibt sich offen, unverstellt, ehrlich, freundlich, mitmenschlich.26 Ein bürgerliches Selbstbewußtsein, ein Selbstwertgefühl, das sich indirekt in der beobachteten Distanz Nicolais zur Aristokratie und zur Welt des Hofes äußert, tritt in seiner Reisebeschreibung nun aber auch gelegentlich direkt zutage. Der nützliche, in prakti¬ scher Arbeit Werte schaffende Bürgerstand ist der Kraftquell eines Landes; Handel und Wandel, »Nahrung« und »Industrie« und damit der Wohlstand des Gemeinwesens werden durch ihn befördert - das sucht Nicolai immer wieder deutlich zu machen, nicht zuletzt dadurch, daß er sich gerade mit den Lebens- und Schaffensbedin-

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gungen des Bürgerstandes in den Städten immer wieder beschäf¬ tigt, während er der Landbevölkerung kaum je Aufmerksamkeit gönnt. Bürgerlichem Fleiß, bürgerlicher Sparsamkeit, bürgerli¬ cher Ordnungsliebe, Erfindungsgabe und Unternehmungslust ist der Fortschritt zum Besseren zu danken. Für den physiokratischen Ideologen, der lediglich im Bauernstand die produktive Klasse sehen will, hat Nicolai bezeichnenderweise nichts übrig. Zum Gegenbeweis dient ihm die gesunde, durch Gewerbe und Handel prosperierende Reichsstadt Augsburg, die über keine Agrargebiete verfügt und in welcher doch »notorisch so viel Industrie, bürger¬ licher Wohlstand und Genügsamkeit« herrschen (VIII, 16): »Oder will man die physiokratische Wortkrämerey, die zu so vielen von der Erfahrung widerlegten Schlüssen führt, so weit treiben, zu sagen: Alle so fleißige Einwohner producirten nichts, weil sie kein Getreide bauen können?« (VIII,4). Der solide, nützliche Bürger hat Gewicht. Er sollte in seiner Wichtigkeit gewürdigt werden. In einer Stadt wie Wien, die nur auf den Adel schaut, ist etwas nicht in Ordnung: »Die Sitte, daß jeder Mensch, der nicht zum niedrigen Stande gehört, ein Edelmann seyn will, deutet auf ein Land, wo der tiers-etat entweder nicht vor¬ handen, oder nicht in der Achtung ist, in der er billig seyn sollte« (V,282). Der Tiers-etat verdient Anerkennung. Denn von ihm, vom Bür¬ gerstand, lebt nicht nur die Wirtschaft, sondern lebt in Wahrheit auch die Kultur und die Aufklärung eines Landes. Das behauptet Nicolai einmal sehr prononciert, wobei er der Neigung, nach dem Konzept des aufgeklärten Absolutismus Besserung, kulturellen Fortschritt und Aufklärung von oben, von obrigkeitlicher Lenkung zu erwarten, klar widerspricht: Gott verhüte, daß Männer, die nicht Hof sehranzen sind, den Mon¬ archen ferner einbilden wollen, alles, und besonders die Kultur einer Nation und die Aufklärung in Gelehrsamkeit und Religion, müsse allein von ihnen herkommen! Diese wohlthätigen Verbesse¬ rungen, wenn man ihnen einen dauerhaften Einfluß versprechen soll, werden am sichersten aus der mittlern Klasse des Volks entste¬ hen, wenn diese für die nöthigsten Bedürfnisse des Körpers zu sor¬ gen nicht nöthig hat und so vorbereitet ist, daß sie nachdenken und thätig seyn will und kann. Sie in diesen Zustand zu bringen, ist die höchste Kunst eines Regenten, und befördert das dauerhafte Wohl einer Nation gewiß mehr, als alle direkte Verordnung und Befehle. Aus der mittlern Klasse werden sich Kultur und Aufklärung sehr bald in die untern Klassen des Volks ausbreiten, wenn deren Geist nicht durch Armuth, Aberglauben, Faulheit und stumpfe Sinnlich¬ keit niedergedrückt ist; und sie werden sich von da aus auch in die höhern Stände verbreiten, wenn diese nicht durch Stolz, Reich115

thum, Aberglauben, Faulheit und verfeinerte Sinnlichkeit für das, was der Menschheit wichtig ist, unempfindlich geworden sind. Ist dies wahr, so wie es die Geschichte allenthalben bestätigt, so ist auch offenbar, daß sowohl Kultur als Aufklärung nicht nothwendig in einer Residenzstadt zuerst aufkeimen, am wenigsten aber vom Hofe aus eingeführt werden müssen (IV,923 f.). Die »mittlere Klasse« ist hier als der eigentliche Träger von Kul¬ tur und Aufklärung aufgefaßt. Das Faktum, daß in einigen deut¬ schen Staaten, namentlich im zeitgenössischen Österreich, die Aufklärung von oben her gleichsam verordnet wird, erscheint hier als durchaus fragwürdig.27 Die Aufgabe eines weisen Regenten ist es nach Nicolai lediglich, den Mittelstand materiell in die Lage zu setzen, daß er sich rühren kann. Wirksam aber wird nur die freige¬ setzte bürgerliche Initiative sein. Bürgerliches Selbstbewußtsein ist in diesen Sätzen unüberhörbar, ja sogar ein gewisser bürger¬ licher Führungsanspruch scheint sich hier zu melden, ohne daß freilich daraus für den Tiers-etat noch irgendwelche politischen Folgerungen abgeleitet würden. Bürgerlicher Initiative, bürgerlicher Regsamkeit, die im Zeit¬ alter des fürstlichen Absolutismus vielfach gebremst worden waren, hat Nicolai in seinem Reisebericht immer wieder das Wort geredet. Es gehört in diesen Zusammenhang, wenn er militärische Zucht in Waisenhäusern ablehnt. Das Militärische ist überhaupt eine Welt, die dem Bürger fremd ist. Heroismus ist nicht seine Sache und ebenso wenig das Kommandieren und Gehorchen. Auch Kinder in Erziehungsanstalten sollten, befindet Nicolai, nicht kom¬ mandiert werden; vielmehr müssen Neigungen und Kräfte bei ihnen entwickelt werden (111,230). Der militärische Drill auf der Hohen Karlsschule in Württemberg ist schädlich. Junge Leute sollen später nicht blinden Gehorsam beobachten, sondern selb¬ ständig werden (X,58). Auch sollte niemand außer dem Militär Uniformen tragen.28 Das Militärische, die Uniform, der Drill-dies äußert der Bürger aus dem als Militärstaat großgewordenen Preu¬ ßen -verhindert das Selbständigwerden. Die »freie Betriebsamkeit des Bürgers«, um eine Lieblingsformulierung Georg Försters aus seinen (in die Zeit von Nicolais Reisebericht fallenden) Ansichten vom Niederrhein zu gebrauchen29, ist auf jede Weise zu begünsti¬ gen und zu befördern. Vor allem natürlich auf dem ökonomischen Gebiet. Bezeich¬ nend, daß sich Nicolai mehrfach gegen obrigkeitliche Eingriffe, etwa gegen staatliche Einmischung in Wirtschaftsunternehmen, gewandt hat. Der Merkantilismus darf nicht so weit getrieben wer¬ den, daß bürgerliche Rührigkeit erlahmt. Statt einer Fabrikation von Monturen in staatlichen Ökonomiehäusern-Nicolai beobach¬ tet das in Österreich: ein großer Saal, wo unter militärischer Dis116

ziplin gearbeitet wird-sollte man die Produktion dezentralisieren und einzelnen Handwerksbetrieben übertragen (11,555). Staats¬ kredite sollten dem Privatkredit nicht durch gesetzlich festgelegte Konditionen Abbruch tun, so daß der »unternehmende Kaufmann« (IV,415) Schaden erleidet. Überhaupt »sollten die Gesetze hierin [sc. in der Zinsgebarung] den Geschäften des nützlichen Bürgers ganz freyen Lauf lassen« (IV,417). Daß der Herzog von Württemberg die Handelsgeschäfte der Leinwandmanufaktur von Urach auf eigene Rechnung durch seine Beamten treiben ließ, war ein Fehler: Das Geschäft stockte, und erst als er mit zwei tüchtigen Handelsleuten Gesellschaft machte, kam es wieder in Gang: Einige Jahre hernach ward der Herzog noch gescheidter, nahm sein Kapital zurück und überließ den ganzen Handel jenen beiden Männern allein. Seinem Fürstl. Haus aber verschaffte er durch die¬ sen Handel ein jährliches Einkommen von etlichen 1000 Fl., und dieß allein durch den Zoll (X, Beil. S. 43).50 Fazit: Der tüchtige »unternehmende Kaufmann« muß sich allein rühren können, dann profitiert das ganze Gemeinwesen. Die Fol¬ gerung, daß für die wirklich freie Entfaltung aller Kräfte im Wirt¬ schaftsleben liberale Verfassungszustände Voraussetzung wären, diese Folgerung, zu der Förster in seinen Ansichten vom Nieder¬ rhein gelangt31, zieht Nicolai freilich nicht. Ganz offenkundig ist, daß dem tüchtigen unternehmenden Kaufmann Nicolais Sympathie gilt. Er ist für ihn, der selber ein erfolgreicher Buchhändler und Verleger war, gleichsam der erste Beruf im Bürgerstande. Jeder Bürger sollte ein homo oeconomicus sein - deshalb auch unterrichtet Nicolai seine Leser immer wieder über Preise, Löhne, Zölle, Wechselkurse, Kredit- und Münzwe¬ sen -, der Kaufmann aber ist es in idealer Form. Auf ihn kann sich bürgerliches Selbstgefühl mit besonderer Berechtigung grün¬ den.32 Mehrfach hat Nicolai in seinem Reisebericht seine wohltäti¬ gen Leistungen hervorgehoben. Ein Beispiel in Augsburg: Die Kattundruckerey des Hrn. Joachim Heinrich von Schüle ist in Deutschland sehr berühmt. Dieser fleißige und geschickte Unter¬ nehmer ist ein Wohlthäter vieler tausend Menschen geworden, welche durch ihn Arbeit und Verdienst fanden. Er selbst ist ein rühmliches Beyspiel für viele, indem er durch Fleiß, Ordnung und Unternehmungsgeist aus ganz geringen Umständen selbst ein sehr großes Vermögen erworben und zugleich die Industrie in Augs¬ burg auf eine unglaubliche Weise vermehrt hat (VIII,24). Die Initiative des Unternehmers schafft Arbeit und Lebensmög¬ lichkeit; er ist ein Wohltäter seiner Mitbürger.33 Ihm als dem eigentlichen Motor florierender Wirtschaft gilt Nicolais Verständ¬ nis. Bezeichnend, daß er bereits im Jahre 1795 (im Band IX) Kapital¬ einsatz und Unternehmergewinn im Verhältnis zur Lage der 117

Arbeiter verteidigt mit Argumenten, die noch heute in der Kapita¬ lismusdebatte zählen. In einem Beitrag über die »Nahrung« von Ulm spricht er von Textilmanufakturen: Es ist mehrentheils sehr schwer, in Manufaktursachen zwischen den Unternehmern oder den großen Kaufleuten und den Arbeitern zu entscheiden, auf wessen Seite jedesmal Recht und Billigkeit ist. Die allgemeine Stimme erklärt sich freylich gewöhnlich gegen den Unternehmer, weil in die Augen fällt, daß er sich besser befindet, und wohl gar reich wird. Man vergißt aber, daß der Unternehmer schon sehr wohlhabend seyn muß, ehe er Einkäufe ins Große unter¬ nehmen kann. Es ist ihm also nicht zu verdenken, daß er sein Ver¬ mögen erhalten und vermehren will. Man vergißt, daß der Einkäu¬ fer beständig baar Geld in der Hand haben muß, um den Weber baar zu bezahlen, daher ihm die Zinsen, wenn die Remessen spät eingehen, oft sehr hoch können zu stehen kommen. Man vergißt, daß der Kaufmann clel credere stehen und also ein großes Risiko tragen muß; der Arbeiter hingegen trägt keins, sondern wird von dem Kaufmanne bezahlt, sobald er die Arbeit abliefert. Der Kauf¬ mann muß den arbeitenden Theil oft mit seinem Schaden in Exi¬ stenz erhalten (wie dieß in Absicht auf den Leinwandhandel jetzt, indem ich dieses schreibe, wohl im größten Theil von Europa der Fall ist); daher ist er denn freylich genöthigt, auch auf seinen Vortheil zu sehen, wenn die Umstände ihm solches anbieten. Die glücklichen Vorfälle werden mehrentheils bekannt, und dem Unternehmer vom Publikum hoch angerechnet. Von den Unglücks¬ fällen hingegen spricht niemand, und der Unternehmer verhehlt sie oft sehr fleißig, um seinen Kredit zu erhalten (IX,59 f.). (Es folgt der bereits zitierte Passus über die fehlende Spargesin¬ nung des Arbeiters.) Die Welt von Soll und Haben mit ihren Möglichkeiten und Zwän¬ gen ist von Nicolai hier - wie an anderen Stellen seines Reisebe¬ richts - sehr sachkundig erfaßt - lange vor Gustav Freytags Roman und gewiß nicht realitätsferner als die die Kaufmannschaft betref¬ fenden Kapitel im Wilhelm Meister, an dem Goethe fast zur glei¬ chen Zeit arbeitet, oder als Johann Jakob Engels ebenfalls in dieser Zeit entstehender Kaufmannsroman Herr Lorenz Stark. (Als Romancier hatte Nicolai bereits 20 Jahre vorher in seinem Sebaldus Nothanker mit den Kapiteln über das Buch- und Verlagsgeschäft analoge Sachkunde bewiesen.) Wichtig scheint in diesem Zusammenhang, daß bei allem Preis unternehmender Kaufmannschaft nirgends in Nicolais Reisebe¬ schreibung reinem Gewinnstreben das Wort geredet wird. Kauf¬ männische Regsamkeit ist nur gesund in gemeinnützigen Gren¬ zen. Ein rücksichtsloses kapitalistisches Profitdenken ist Nicolai in einer Zeit, deren Manufakturen noch keine Dampfkraft kennen, 118

fremd. Aber auch eine naive Bereicherungslust, wie sie im Goetheschen Roman der Kaufmann Werner an den Tag legt34, ist aus Nicolais Äußerungen nicht herauszulesen. Ja offenbar ist ein gro¬ ßer Reichtum für ihn überhaupt kein anzustrebendes Ziel. Der goldene Mittelweg, an dem sich der Bürger des Aufklärungsjahrhunderts orientiert, gilt auch im Wirtschaftsleben. Zu große Un¬ ternehmen scheinen Nicolai ein Übel zu sein, mögen sie nun in staatlicher Hand sein oder nicht. Vor allem große Handlungsgesell¬ schaften mit verschiedenen Teilhabern können nach seiner Mei¬ nung nicht so gedeihen wie mittlere und kleinere Unternehmen, in denen Verantwortung und Initiative des einzelnen bestimmend sind: Ich muß gestehen, daß ich über große Handlungsgesellschaften denke wie [...] die meisten erfahrenen Kaufleute. Niemals wird ein Handlungsgeschäft, sonderlich ein neuer Handlungszweig, durch solche große Gesellschaften mit dem Erfolge getrieben werden kön¬ nen, als durch Privatindustrie (VI,375). Die gemäße Form nützlicher und befriedigender Tätigkeit ist das vom selbständigen Kaufmann betriebene, überschaubare Ge¬ schäft. Dort auch wird der Arbeiter nicht übervorteilt werden kön¬ nen, wie das in den anonymen großen Unternehmen offenbar mög¬ lich ist. Nicolai berichtete in diesem Zusammenhang von Klagen über die damals wegen ihrer Größe berühmte Linzer Tuchmanu¬ faktur, »daß die Manufaktur den Arbeitern auf eine ungerechte Art beständig den Lohn vermindere«, und sehr aufschlußreich setzt er hinzu: »Welches allenthalben der Fall ist, wo man lieber große in die Augen fallende Manufakturen von ein paar reichen Leuten haben will, als Meie Manufakturen von mittelmäßiger Größe, wel¬ che wohlhabende und industriöse Bürger veranlassen« (VI,468). Die hier berührte Alternative ist kennzeichnend. Nicht einige große Manufakturen mit ein paar reichen Besitzern, sondern Meie mittlere Unternehmen unter wohlhabenden und industriösen Bür¬ gern, das entspricht Nicolais Ideal. Hier ist eigene Verantwortung und Initiative möglich, hier liegt der gemeine Nutzen in den rech¬ ten Händen - wobei wir wieder beim wichtigsten Gesichtspunkt Nicolais angelangt sind: der gemeine Nutzen steht ihm beständig vor Augen (und das übrigens nicht nur in der Theorie).35 Ein patriotisch-gemeinnütziges Konzept, ähnlich wie es im Wilhelm Meister Lothario vertritt36, ist für den unternehmenden Kauf¬ mann, wie ihn Nicolai wünscht, noch eine Selbstverständlichkeit.37 Und das heißt mit anderen Worten: Der moralische Impuls, der der bürgerlichen Aufklärung von Anfang an innewohnt, ist hier am Ende des Jahrhunderts in Nicolais Reisebericht auch in der Sphäre des Ökonomischen noch lebendig.38

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Anmerkungen 1 Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten (Berlin und Stettin) l.Bd. 1783,2.Bd. 1783, 3.Bd. 1784,4.Bd. 1785,6.Bd. 1785, 7. Bd.1786,8.Bd.l787,9.Bd.1795,10.Bd.1795, ll.Bd.l796,12.Bd.l796.-Im folgen¬ den werden die Bände mit römischen, die Seitenzahlen mit arabischen Zif¬ fern bezeichnet. 2 Zur literarischen Gattung der Reisebeschreibung s. Manfred Link, Der Rei¬ sebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, Diss. Köln 1963; Joseph Strelka, »Der literarische Reisebericht«, Jahrbuch für Internatio¬ nale Germanistik, 3 (Frankfurt, 1971), 63-75; zu Nicolais Reisebeschrei¬ bung speziell: Ernst Kaeber, »Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland im Jahre 1781, ein Beitrag zu seiner Charakteristik«, in: Der Bär von Berlin: Jahrbuch des Vereinsfür die Geschichte Berlins, 6.Folge (Berlin-Grunewald, 1965), 29-76; Günter Niklewski, »Ein Preuße in Schwaben: Friedrich Nico¬ lai«, Schwäbische Heimat, 27 (1976), 216-221; Horst Möller, »Landeskunde und Zeitkritik im 18. Jahrhundert: Die Bedeutung der Reisebeschreibung Friedrich Nicolais als regional- und sozialgeschichtliche Quelle«, Hessi¬ sches Jahrbuch für Landesgeschichte, 27 (Marburg, 1977), 107-134; eine philosophische Stilübung, für unsere Fragestellung unergiebig, HansJoachim Piechotta, »Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Be¬ schreibung: Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781«, in: Reise und Utopie: Zur Literatur der Spätaufklärung, hrsg. von H. J. Piechotta (Frankfurt, 1976). 3 Zum Beispiel Anton Friedrich Büsching, Beschreibung seiner Reise von Ber¬ lin nach Kyritz in der Priegnitz (Leipzig, 1780); ders: Beschreibung seiner Reise von Berlin über Potsdam nachRekahn un weit Brandenburg^. Ausg. (Frankfurt und Leipzig, 1780). 4 »Hätte ich nur wollen zu Werke gehen wie die meisten Reisebeschreiber, so hätte ich freylich sehr viel Mühe sparen können. Den Leser bloß zu amüsie¬ ren, ist dem ziemlich leicht, der einiges Talent dazu hat« (IX, Vorr. S.Vf.). 5 Unsere Fragestellung berührt sich in vielen Fällen mit den Untersuchun¬ gen von Horst Möller, Aufklärung in Preußen: Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (Berlin, 1974), bes. S.99ff. und 30 ff. sowie mit dem bereits in Anm.2 genannten Aufsatz des gleichen Verfassers. Vgl. zum Thema auch Wolfgang Martens, »Bürgerlichkeit in der frühen Auf¬ klärung«, Jahrbuch für Geschichte der oberdeutschen Reichsstädte, 16 (1970), 106-120, erneut abgedruckt in: Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Auf¬ klärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland (München, 1976), 347-363. 6 Der Topographie gilt eine besondere Liebe Nicolais, vgl. dazu seine Be¬ schreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam (Berlin, 1769). 7 Nicolai nennt einmal »die Lust an statistischen Vergleichungen« seine »Erbsünde« (X,I14). 8 »Beschreibung des Catelschen an einen Wagen angebrachten Wegmes¬ sers« (I, Beil. S. 3-22).

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9 Hier ist daran zu erinnern, daß Nicolai selber mit 15 Jahren eine gerade in Berlin eingerichtete Realschule, die Heckersche Realschule, als dankbarer Schüler besucht hat. Den zuvor besuchten Gelehrtenschulen, dem Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin und der Lateinschule des Franckeschen Waisenhauses in Halle, hat er nichts abgewinnen können, vgl. dazu Möller (Anm. 5), S. 12 ff. 10 Dies Programm ist bereits in der frühen Aufklärung aufgestellt, z.B. in den deutschen Schriften Christan Wolffs, ebenso in den frühen Moralischen Wochenschriften, profiliert z.B. im Hamburger Patrioten (1724-1726), vgl. dazu Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend: Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften (Stuttgart, 1968), bes. S. 285 ff. 11 Diese Tugenden figurieren auch in Carl Friedrich Bahrdts Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Tübingen, 1789), S. 198 ff. Vgl. auch Johann Heinrich Gottlob von Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückselig¬ keit der Staaten; oder ausführliche Vorstellung der gesummten Policey-Wissenschaft (Königsberg und Leipzig, 1761), II, 193 ff.: »Von denen bürgerli¬ chen Tugenden zu Erhaltung der inneren Sicherheit und Beförderung des gemeinschaftlichen Besten.« 12 »Liebe zur Industrie« gehört auch in C.F. Bahrdts Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Anm. 11, S. 157) zum rechten Bürger. 13 Einen ähnlichen Vergleich stellt Georg Förster in seinen Ansichten vom Niederrhein an zwischen den Einwohnern des katholischen Köln und de¬ nen des protestantischen Frankfurt am Main (Georg Förster, Werke in vier Bänden, hrsg. von Gerhard Steiner (Leipzig, o. J.), II, 411 ff.). 14 Vgl. dazu Möller (Anm. 5), S. 287 ff. 15 Diese Sichtweise findet sich schon in der frühen Aufklärung, z.B. in der Göttinger Moralischen Wochenschrift Der Bürger (1732); vgl. dazu Martens (Anm. 10), S. 401 ff. 16 Vgl. dazu die Autobiographie Benjamin Franklin, sein Leben von ihm selbst erzählt, Vorwort von Edgar N. Johnson (Berlin 1946), bes. S. 99 ff. 17 Friedrich Nicolai, Freuden des jungen Werthers (Berlin, 1775), in: Jacob Minor (Hrsg.), Lessings Jugendfreunde (Berlin und Stuttgart, o.J.), Kürsch¬ ners Deutsche National-Litteratur, Bd. LXXII, S. 365 ff., hier S. 383, 382. 18 Möller (Anm. 5), S. 293 ff. 19 Freilich können bei diesem Befund Rücksichten auf die preußische Zensur, vor allem seit 1788, nicht ausgeschlossen werden. 20 So kann Nicolai nur mit Verwunderung konstatieren, daß die Württemberger, welche wegen ihrer Landesverfassung sich dünken, »eine Art von freyen Bürgern zu seyn«, Preußen für unmäßig despotisch halten und auf die Brandenburger »wie auf Sklaven herab« sehen (X,25). 21 »Nachmittags waren wir im Begriffe, verschiedene koburgische Gelehrte zu besuchen, als wir Nachricht erhielten, daß der Herzog verlangte, wir sollten Ihm aufwarten. Se. Durchlaucht so wie Ihro Durchl.die Herzoginn, Schwester der Königinn von Preußen und der verwittweten Königinn von

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Dännemark, unterhielten sich mit uns auf eine besonders gnädige Art, und sprachen von interessanten Sachen. Der Erbprinz ist ein schöner Mann, und wenn Physiognomie gilt, ein Menschenfreund; dabey in den Wissen¬ schaften, die den Verstand kultivieren und das Herz verbessern, wohl unterrichtet, daher das Land von Ihm sich mit Recht die beste Hoffnung macht« (1,89). 22 Über das Buch, »Lustreisen durch Bayern, Wirtemberg, Pfalz, Sachsen, Brandenburg, Ostreich, Mähren, Böhmen und Ungarn«, Leipzig 1792 (X,174). 23 Vgl. auch Schloß Solitude (X,137). 24 Vgl. VI,552 in München. 25 Vgl. dazu Barbara Zaehle, Knigges Umgang mit Menschen und seine Vor¬ läufer, ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaftsethik(Heidelberg, 1933), Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft: Untersuchungn zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (Neuwied-Berlin, 1969); neuer¬ dings Dieter ßorchmeyer, Höfische Gesellschaft und französische Revolu¬ tion bei Goethe: Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weima¬ rer Klassik (Kronberg/Taunus, 1977). 26 Vgl. dazu auch Martens (Anm. 10), S. 342 ff, 350 f. 27 Noch deutlicher wird Nicolai an einer anderen Stelle: »Es gibt Leute, welche alles von dem Monarchen erwarten, und überhaupt sich einzubil¬ den scheinen, daß alle Verbesserung von oben herab kommen müsse. So sehr man alles, was ein Monarch zur Verbesserung thut, dankbar erkennen muß; so wird doch in allen Ländern zu wenig daran gedacht, daß jede Ver¬ besserung, welche von den untern Ständen, aus eigenem Triebe, den An¬ fang nimmt, ungleich ausgebreiteter und sicherer ist. Bloß mit Befehlen, mit Anstalten, mit Aufwand des Regenten kann keineswegs alles aus¬ gerichtet werden« (IV,642 f.). 28 »Ich bekenne offenherzig, es scheint mir, der Nachteil aller Civiluniformen, I lofuniformen und wie sie sonst heißen mögen (besonders auch deswegen, weil sie einen militärischen Zuschnitt haben) überwiege bey weitem den Vortheil« (X,59). - »Aber am wenigsten kann ich es billigen, wenn man in Erziehungsanstalten den jungen Knaben Uniformen giebt« (X,61). 29 Förster (Anm. 13), S. 418. 30 Ganz ähnlich Förster in seinen Ansichten vom Niederrhein: Fabriken soll¬ ten das Werk der freien Betriebsamkeit des Bürgers und nicht Finanz¬ spekulation der Regierung sein (ebda, S.485). 31 Zum Beispiel für Spanien; ebenda, S.493. 32 Um so unerträglicher dünkt es Nicolai, wenn ein solcher Kaufmann sich bewogen fühlt, in den Adelsstand zu treten -, wenn er also offenbar kein bürgerliches Selbstwertgefühl besitzt: »Der Kaufmann kann sein edelstes Geschäft, die Beförderung der Industrie, nur alsdenn mit vollkommenem Eifer treiben, nur alsdenn für sich am glücklichsten und dem Staate am nützlichsten seyn, wenn der Geist auf ihm ruhet, mit seinem Stande zufrie¬ den zu seyn und die demselben eigene weitausgebreitete Wirksamkeit im¬ mer weiter zu verfolgen. Da einmal die Unterschiede der Stände nach der

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jetzigen Verfassung der Staaten unvermeidlich sind; so ists nicht einerley, in seinem Stande der erste, oder in einem andern der letzte zu seyn« (IV,405 f.). 33 Ganz ähnlich Förster in den Ansichten vom Niederrhein : Beneidenswerth ist das Schicksal eines Mannes, dessen Unternehmungsgeist vielen Tausen¬ den zur Quelle des Wohlstandes und des häuslichen Glückes wird (Anm.13, S. 490). 34 Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 8. Buch, 2. Kapitel (Hamburger Ausgabe, VII, 506 ff). 35 So hat Nicolai seiner Heimatstadt, die unter französischer Besetzung litt, im Alter den größten Teil seines Vermögens vermacht. 36 Goethe (Anm. 34), VII, 508. 37 Vgl. dazu auch Möller (Anm. 5), S. 293. 38 Der vorliegende Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, der am 2. März 1978 in Wolfenbüttel im Rahmen der-von Rudolf Vierhaus geleite¬ ten - Frühjahrstagung der Lessing-Akademie über »Bürger und Bürger¬ lichkeit in der Aufklärung« gehalten wurde. Zuerst veröffentlicht in Zeit¬ schrift für deutsche Philologie, 97 (1978). Inzwischen erschienen zwei wei¬ tere Aufsätze zum Thema: Wolfgang Martens, »Zum Bild Österreichs in Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781«, Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 116 (Wien, 1979), 45-67; »Kleine Nebenreise nach Ungarn: Zu Friedrich Nicolais Ungarnbild«, Kul¬ turbeziehungen in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert: Fest¬ schrift für Heinz Ischreyt (Berlin, 1982), S. 147-154.

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V BEMERKUNGEN ZU FRIEDRICH NICOLAIS UMGANG MIT DER KUNST Helmut Börsch-Supan

Friedrich Nicolais Verdienst für die Kunstgeschichte besteht haupt¬ sächlich in seinem Werk Beschreibung der Königlichen Besidenzstädte Berlin und Potsdam und aller daselbst befindlichen Merk¬ würdigkeiten, das 1769 in einer ersten, 1779 in einer zweiten erheb¬ lich verbesserten und erweiterten und 1786 in einer dritten Auflage erschien1 und vorbildlich für andere Stadtbesehreibungen wurde, die in Deutschland nach dem Siebenjährigen Krieg in wachsender Zahl für ein reisefreudiges Publikum verfaßt wurden. Für die Ber¬ liner Kunst vor 1800 ist Nicolais Werk die ergiebigste und zuverläs¬ sigste Quelle. Hervorzuheben ist auch die Übersichtlichkeit, mit der die vielfältigen Sachgebiete geordnet sind, denn Nicolai sieht die Stadt samt ihrer Umgebung im Zusammmenhang aller Lebens¬ bereiche. Die bildende Kunst und die Architektur sind nur zwei unter anderen. Es ist der auf Nützlichkeit bedachte, klare, nüch¬ terne, wenngleich vom Patriotismus beflügelte Geist eines Vertre¬ ters des enzyklopädischen Zeitalters, der hier ein Handbuch über die Hauptstadt eines Landes vorlegen will, das sich soeben durch seine zähe Behauptung in einem langen Krieg den Respekt der ganzen Welt erworben hatte. Es sollte dem Einheimischen wie dem Reisenden umfassende Auskunft geben. Die Vorzüge von Nicolais Werk fallen sogleich ins Auge bei einem Vergleich mit Johann Chri¬ stoph Müllers und Georg Gottfried Küsters Folianten Altes und Neues Berlin, der 1737 bis 1769 in vier Teilen erschien und eine un¬ systematische Anhäufung von Mitteilungen ist. Unförmig und um¬ ständlich macht es seinen Inhalt nur dem geduldigen Leser zu¬ gänglich. Durch Vollständigkeit und Sachlichkeit der Information zeigt sieh Nicolais Buch auch den Schriften Matthias Österreichs über¬ legen, der bald nach dem Siebenjährigen Krieg in verschiedenen Katalogen die Kunstschätze der Schlösser Friedrichs des Großen in Potsdam und Charlottenburg beschrieb.2 Österreich gehörte zu den Malern, deren Fähigkeit zur Verwaltung von Kunstbesitz das eigene künstlerische Talent übersteigt, und wurde so 1757 aus Dresden zum Inspektor der Bildergalerie von Sanssouci berufen. 124

Nicolai urteilt über den Wert dieser Kataloge: »Sie enthalten viele nützliche Nachrichten, aber auch viel unrichtiges, und die Be¬ schreibungen der Gemälde sind meist mit einer wortreichen und zwecklosen Kritik verlängert, die den Leser ermüdet.«3 Bei der Fülle der Gegenstände, auf die er eingeht, und bei der Absicht, sie möglichst detailliert vorzuführen, kann Nicolai sich immer nur knapp äußern. Auf Werturteile verzichtet er weit¬ gehend und begnügt sich mit Adjektiven wie »berühmt« oder »prächtig«. Das Äußerste, was er sich an Kolorit gestattet, sind Sätze wie bei Schlüters Beiterdenkmal des Großen Kurfürsten: »Dies mit Recht allgemein bewunderte Kunstwerk hat der be¬ rühmte Schlüter angegeben«4 oder bei dessen Kanzel in der Marienkirche: »Dieses kühne Unternehmen, vielleicht das einzige in seiner Art, verdient die Aufmerksamkeit und den ßeyfall der Kenner.«5 Aber wo es ihm geboten scheint, erwähnt er kurz die Ge¬ schichte des Bau- oder Kunstdenkmals, geht auch in Anmerkungen auf Irrtümer früherer Autoren ein und gibt damit seine Gelehr¬ samkeit zu erkennen. Nicolais Beschreibung berücksichtigt auch die Kunstwerke in den Kirchen, Schlössern und Palais, dies allerdings mit unter¬ schiedlicher Ausführlichkeit. Während er zum Beispiel im Berli¬ ner und im Potsdamer Stadtschloß, in Schloß Sanssouci, im Neuen Palais und in der Bildergalerie nahezu alle Gemälde und sonstigen bemerkenswerten Kunstwerke aufführt, soweit sie sich in Räumen befanden, die ihm zugänglich waren, faßt er sich bei der Be¬ handlung des Schlosses Charlottenburg kürzer. In den Schlössern Oranienburg und Friedrichsfelde werden nur wenige Gemälde er¬ wähnt. Bei den Schlössern Grunewald, Köpenick, Schwedt, Schön¬ hausen und Rheinsberg verzichtet er ganz auf die Nennung einzel¬ ner Ausstattungsstücke. Über das Inventar des Palais des Prinzen Heinrich und der beiden der Prinzessin Amalie wird nur summa¬ risch berichtet. Was der Prinz von Preußen und der Prinz Ferdi¬ nand in ihren Palästen besaßen, wird überhaupt nicht angespro¬ chen. Besondere Mühe bereitete Nicolai die Beschreibung der Innenräume des Berliner Schlosses, und zwar nicht nur wegen ihrer großen Zahl und der Menge der in ihnen enthaltenen Kunst¬ werke, allein fast 900 Gemälde. Konnte er bei den Potsdamer Schlössern und bei Charlottenburg auf Österreichs Arbeiten zurückgreifen, so war er beim Berliner Schloß vermutlich auf die mangelhaften Kenntnisse eines Kastellans und auf eigenes Urteil angewiesen, denn die älteren Inventare waren mit der Angabe von Künstlernamen höchst sparsam. Selbst von den Bildern, die man für so bedeutend hielt, daß sie in einer Bildergalerie vereinigt wur¬ den, wußte Nicolai in vielen Fällen die Künstler nicht zu nennen. Nicht selten bereitete ihm auch die genauere Bestimmung des

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Sujets Schwierigkeiten. Er behalf sieh dann mit Bezeichnungen wie »ein großes historisches Stück«. Erst Johann Gottlieb Puhl¬ mann, dem 1787 die Aufsicht über die Gemälde in den Schlössern übertragen wurde, nutzte seine bescheidenen kunstgeschichtli¬ chen Kenntnisse dazu, allen Bildern einen Künstlernamen zu geben, wenn auch nur selten den richtigen.6 Nicolai verhielt sich hier vorsichtiger, aber er verfügte doch nicht über den Sachver¬ stand, zu hoch gegriffene Zuschreibungen, die sich in Menge unter den Bildern der Galerie befanden, zu bezweifeln. Als er 1781 das Schloß Pommersfelden besuchte, tadelte er an dem 1719 von Johann Rudolf Byß verfaßten Katalog, dem ersten übrigens, der von einer deutschen Galerie erschienen ist, den Unsinn der unkritischen Bildtaufen.7 Von großem Wert sind die Angaben über Berliner Privatsamm¬ lungen. Es sind 1779 nicht weniger als einunddreißig, 1786 sogar neununddreißig, die fast durchweg bürgerlichen Kunstliebhabern gehörten. Es war nach dem Siebenjährigen Krieg Mode geworden, Bilder zu sammeln.8 Teils gibt Nicolai Aufzählungen der wichtig¬ sten Werke, teils begnügt er sich mit der Nennung der vertretenen Künstler, oder er beschränkt sich auf eine kurze Charakterisierung der Sammlung in einem Satz. Was die zweite Auflage des Werkes gegenüber der ersten vor allem bereichert und seinen größten Wert für die Kunstgeschichte ausmacht, ist ein mit Fleiß zusammengestellter Anhang »Nach¬ richten von Künstlern, die ehemals in Berlin gewesen, und deren Werke daselbst noch zum Theil vorhanden sind.« Es ist ein Lexikon Berliner Künstler, das von der dritten Auflage abgetrennt wurde und 1786 als eigenes Buch unter dem Titel erschien: Nachricht von den Baumeistern, Bildhauern, Kupferstechern, Malern, Stukkaturern und andern Künstlern, welche vom dreyzehnten Jahr¬ hunderte bis jetzt in und um Berlin sich aufgehalten haben, und deren Kunstwerke zum Theil daselbst noch vorhanden sind. Voran geht diesem Anhang eine Zusammenstellung der »Jetztlebenden Künstler, Maler, Bildhauer, Wachsbossirer, Kupferstecher, Stahl¬ schneider u. s. w. nebst kurzer Nachricht von ihrem Leben.« Einhundertundein Künstler werden auf einunddreißig Seiten vorge¬ stellt. ln seinem Anhang verzeichnet Nicolai die festgestellten Ereig¬ nisse bis zur Zeit des Großen Kurfürsten in chronologischer Ord¬ nung. Von da ab liefert er für die Epoche jedes Herrschers bis hin zu Friedrich dem Großen in jeweils alphabetischer Reihenfolge eine Aufstellung der Künstler mit Angaben über ihr Leben und ihre Werke. Der Anbang ist ein Nebenprodukt der umfassenden Litera¬ tur-, Archiv- und Denkmalstudien, die Nicolai für die topogra¬ phische Beschreibung getrieben hat. Das merkt man an der aus-

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führlicheren Behandlung der Architekten gegenüber den Malern und Bildhauern. Der aktuelle Wert der Arbeit beruht jedoch beson¬ ders auf den Notizen über wenig bekannte Person]ichkeiten. Man¬ chen Künstler kennen wir auch heute nicht besser als Nicolai ihn gekannt hat. Viele Archivalien, die er benutzte, sind nicht mehr vor¬ handen. Was Nicolai zu seiner mühseligen Arbeit motivierte, war, wie aus einer kurzen Vorrede hervorgeht, die Korrektur der Verge߬ lichkeit früherer Generationen.9 Er empfand es als ungerecht, daß tüchtige Künstler und Handwerker nicht mehr mit ihrem Namen weiterleben sollten, selbst wenn keine Werke mehr von ihnen nachweisbar sind. Seine Zusammenstellung der Berliner Künstler sollte gleichsam ein Wald von Denkmälern sein. Bezeichnend für diese Denkweise ist eine spätere Bemerkung im Zusammenhang mit einer Behandlung des Ulmer Münsters. Nicolai beklagt, daß nicht die Baumeister-mit Ausnahme von Mat¬ thäus Ensinger - überliefert seien, sondern nur der Name dessen, der den Grundstein gelegt, sonst aber keinen Verdienst um den Bau habe.10 Das demütige Zurücktreten des mittelalterlichen Künstlers in die Anonymität war dem selbstbewußten Humanisten unbe¬ greiflich. Die Betonung künstlerischen Verdienstes gerade dort, wo es un¬ gerechterweise geschmälert worden war, lag ihm besonders am Herzen. Das herausragende Beispiel für die schlechte Behandlung eines Genies in Berlin war der Fall Andreas Schlüter. Ihm widmet Nicolai nicht nur mit siebeneinhalb Seiten den weitaus längsten Artikel, er schlägt in ihm auch einen ungewöhnlich persönlichen Ton an und erregt sich über die Zurücksetzung, die Schlüter durch das Ränkespiel Johann Eosander Göthes erfahren hat.11 In dem Artikel über diesen, mit zweieinhalb Seiten der zweitlängste der Arbeit, ereifert er sich nochmals darüber.12 Sonst weiß Nicolai bei den einzelnen Künstlern die Besonderheit ihres Stils und die Be¬ deutung ihrer Leistung kaum zu benennen. Knobelsdorff wird mit zwanzig Zeilen, Pesne gar nur mit sechzehn Zeilen bedacht.13 Eine unübersehbare Menge von Einzelheiten hat Nicolai festge¬ halten, aber er konnte oder wollte sie nicht aus einem Abstand sehen, bewerten und zu kunstgeschichtlichen Zusammenhängen ordnen. Es fehlte ihm dazu wohl der Sinn für künstlerische Quali¬ tät und überhaupt für die sichtbare Erscheinung eines Werkes. So gewinnt auch bei dem topographischen Teil der Beschreibung der Residenzstädte derjenige, der die Bauten nicht aus der Anschau¬ ung kennt, kaum eine Vorstellung von dem Charakteristischen ihrer Gestalt. Mit seinen biographischen Notizen folgt Nicolai einem älteren Unternehmen, übertrifft dieses jedoch bei weitem durch die Zahl 127

der erwähnten Künstler. Der Major Abraham Humbert, der 1761 starb, hatte Aufzeichnungen über Berliner Künstler gesammelt, die der Maler Joachim Martin Falbe vervollständigte und Heinrich Heinecken 1768 in seinem Werk Nachrichten von Künstlern und Kunstsachen veröffentlichte. Dennoch hat Nicolai das Verdienst, das erste lokal begrenzte Künstlerlexikon in Deutschland zusam¬ mengestellt zu haben. Vorher hatte es solche Werke hauptsächlich über die Kunst einzelner italienischer Städte gegeben.14 Heinrich Sebastian Hüsgen folgte 1780 mit seinen Nachrichten von Frank¬ furter Künstlern und Kunstsachen. Es entsteht der Eindruck, als habe Nicolai mit seinem Werk Berlin als Kunststadt propagieren wollen, gerade wei I es in dieser Hinsicht hinter anderen Städten, in Deutschland vor allem hinter Dresden, zurückstand. Wie Nicolai Kunst erlebte, was er bemerkte und was er übersah, können am besten wohl die zwölf Bände seiner 1785-1796 erschie¬ nenen Beschreibung einer Reise durch Deutschland und in die Schweiz im Jahre 1781 lehren. Der Weg führte ihn über Coburg nach Bamberg, Würzburg und Nürnberg, von dort nach Regensburg, Passau und per Schiff weiter nach Wien, wo er sich lange aufhielt und Zeit fand, die Stadt gründlich zu studieren. Ein Abstecher führte ihn nach Preßburg. Dann ging die Reise nach München, Augsburg, Ulm und Stuttgart. Ausführlich wurden die Verhältnisse in Tübingen beschrieben. St. Blasien im Schwarzwald, wo der von Nicolai wegen seiner Gelehrsamkeit geschätzte Fürst Martin II. Gerbert regierte, war die letzte Station, die ihn zu längeren Berich¬ ten veranlaßte. Mit der Ankunft in Schaffhausen bricht das Werk dann etwas unvermittelt ab. Die Vielseitigkeit der Interessen, die die Beschreibung der Residenzstädte im Verein mit gründlicher Forschungsarbeit zu einem so erschöpfenden Kompendium wer¬ den ließ, führte bei dem Reisebericht zu einer oft kurios anmuten¬ den, recht unsystematischen Anhäufung von allerlei Wissenswer¬ tem. Hier ist Nicolai nicht der objektiv unterrichtende Cicerone, sondern der kämpferische Aufklärer, der seinen Standpunkt ver¬ tritt, Aberglauben und jede Art von Rückständigkeit, oft mit Spott, kritisiert, ohne sich intensiver um ein Verständnis anderer Lebensformen in der Zweckmäßigkeit ihrer Zusammenhänge zu bemühen. Als einem Vertreter seiner Generation ist ihm die soeben verblühte künstlerische Kultur des Rokoko so gleichgültig, daß er sie noch nicht einmal einer Verurteilung würdigt. Es wäre jedoch ungerecht, ihm aus der Sicht des Kunsthistori¬ kers vorzuwerfen, daß er keine Kunstreise unternommen und dar¬ über so detailliert wie in seinem Berlin-Werk berichtet hat, erklärt er doch ausdrücklich: »Mein Hauptzweck war: Menschen zu beob¬ achten. Alles, was menschliche Thätigkeit, Industrie, Scharfsinn, Sitten, Gelehrsamkeit, Religion u. s. w. betritt, war für mich das 128

wichtigste.«15 Die Kunst war eine Äußerung des Menschen neben anderen und fand so ihren Platz in seinem Werk, das ihn selbst so treffend charakterisiert. Das Bewußtsein, mit der Beschreibung Berlins ein vorbildliches Werk geliefert zu haben, gab Nicolai das Gefühl der Überlegenheit, das sich in jeder größeren Stadt, in der er verweilte, in der Kritik der Ortsbeschreibung anderer Autoren zu erkennen gibt. Diese Selbstsicherheit erhält jedoch einen Zug von unfreiwilliger Komik, wenn ihm bei Bauten, die er sieht, wenig passende Berliner Ver¬ gleichsbeispiele einfallen, so bei dem derben Stuck des Riesen¬ saales von Schloß Ehrenburg in Coburg Schlüters Dekorationen.16 Als er bei der Beschreibung von Regensburg auch auf den Turm des Straßburger Münsters zu sprechen kommt, dessen Schönheit er mit einfühlsamen Worten erklärt, meint er, Graels Turm der Sophienkirche in der Spandauer Vorstadt komme dem Straßburger am nächsten.17 Diese Berlin-Erinnerungen verlieren sich im Laufe der Reise. Wenn Nicolai am Schluß die Abteikirche von St. Blasien mit der Hedwigskirche in Berlin vergleicht, so ist dieses eine durchaus gerechtfertigte Überlegung.18 Hatte Nicolai in Berlin den wenigen mittelalterlichen Bauten als aussagekräftigen Ge¬ schichtszeugnissen großes Interesse entgegengebracht, so beach¬ tete er auf seiner Reise die großen romanischen und gotischen Dome nur manchmal. Während er über den Naumburger Dom notiert »ein sehr guthes gotisches Gebäude, das mir schon bey einer vorigen Durchreise gefallen hatte«,19 bemerkt er über den Bamberger lediglich: »Auch habe ich das Domstift nur von außen, nicht aber dessen Kirchenschatz und Heiligthümer gesehen.«20 Beim Regensburger Dom scheint er fast zu bedauern, daß er nicht wie St. Emmeran, das er anschließend beschreibt, innen barockisiert ist: »Inwendig ist diese Kirche zwar sehr verzieret, aber noch ganz nach alter Art.«21 In Wien verliert er über St. Stephan kein Wort, nur später, bei einer ausführlicheren Besprechung des Ulmer Münsters, zieht er einen Vergleich mit St. Stephan - er nennt die Kirche irrtümlich »Sophienkirche« - und dem Straßburger Mün¬ ster, veranschaulicht seine Ausführungen auch durch einen Kup¬ ferstich mit den Grundrissen der drei Bauten.22 Auch die Frauen¬ kirche in München und der Dom in Augsburg bleiben unerwähnt. Wenn er beim Vergleich der Innenräume des Ulmer mit dem des Straßburger Münsters letzterem den Vorzug gibt, so spricht aus diesem Urteil der Klassizist, denn es sind die schöneren Verhält¬ nisse des dreizehnten Jahrhunderts, die er der zum Extremen neigenden Gestaltung des vierzehnten und fünfzehnten vorzieht. Aber nur den Großbauten der Gotik schenkt Nicolai Beachtung. Als er von Ulm nach Stuttgart reiste und in Esslingen Station machte, hatte er für die dortige Frauenkirche, diese Perle der

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schwäbischen Gotik, trotz ihrer engen Beziehungen zur Ulmer Bauhütte, keine Augen. An mittelalterliche Wohnhäuser legte Nicolai den Maßstab der Bequemlichkeit seiner Zeit an. Die Atmosphäre vergangener Jahr¬ hunderte in alten Stadtvierteln zu erleben, reizte ihn nicht. Er sieht hier die ungesunden Lebensbedingungen und spürt hinter den Fassaden eine rückschrittliche Denkweise. Für das alte Nürnberg, das erst die Romantiker in seiner Schönheit entdeckten, hat er fast nur Spott. »In Einrichtungen der Zimmer, und gutem Gebrauch des Platzes in den Häusern, ist Nürnberg, unter allen ansehnlichen Städten vielleicht am weitesten, wenigstens einhundertfünfzig Jahre zurück.« Der Renaissancebau des Rathauses ist das einzige Gebäude in Nürnberg, das er lobt. Auch in Ulm und besonders in Tübingen entrüstet er sich über die alten Häuser: »Das Aeußere der Häuser in den unebenen engen und schmutzigen Gassen dieser Stadt ist höchst elend. Ich kenne keine Stadt in Deutschland von einiger Bedeutung, deren äußeres Ansehen so häßlich wäre, als diese. Die Häuser in der Altstadt Kassel, der Altstadt Hannover, die räucherigen Häuser in dem alten und engen Theile von Braunschweig, die aus dem vierzehnten Jahrhunderte noch übrigen Häuser mit spitzen Giebeln in Lübeck, sind gegen die meisten Häuser in Tübingen noch zierlich zu nen¬ nen.«24 Bereits in Regensburg hatte Nicolai Gelegenheit gefunden, sich an Lübeck zu erinnern und an seine »Wohnhäuser aus dem vierzehnten Jahrhundert, die ein abscheuliches Ansehen haben.«25 Wie er in Nürnberg im Rathaus den Geist der Renaissance mit seiner rational einsehbaren Schönheit als eine dem eigenen Den¬ ken verwandte Haltung begrüßte, hat er auch in anderen süddeut¬ schen Städten die bedeutenden Zeugnisse der Baukunst um 1600 bewundert, so in München die Jesuitenkirche und in Augsburg das Rathaus. Im lebhaften Bejahen des Geistesverwandten erwärmt sieh der sonst eher kühle Kritiker. »Die edle Simplicität in der An¬ lage und in der Verzierung, die großen wohlverbundenen Massen, vereinigen sich in Einen großen und frappanten Eindruck. Es ist in ganz Deutschland schwerlich ein Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhunderte, das so erhaben und edel in seiner Anlage ist«,26 schreibt er von St. Michael. Das Augsburger Rathaus ist für ihn be¬ reits eine »moderne« Architektur, die » zu den allervorzüglichsten Gebäuden des damaligen Zeitalters gehöret.«27 Bei der Beschreibung der barocken Kirchen spürt man manch¬ mal den Widerstand, den der Protestant der auf die Sinne ein¬ stürmenden Gewalt dieser katholischen Architektur entgegen¬ setzt. Liber die Klosterkirche von Banz mit ihrer genialen Gewölbe¬ konstruktion, die Balthasar Neumanns kühne Lösungen vorberei¬ tet, schreibt er, sie sei »in dem gewöhnlichen Geschmackmoderner 130

Kirchen«, und habe »außer ein Paar ganz guter Gemälde nichts merkwürdiges«28. Doch gerade die Gemälde sind in Banz viel un¬ bedeutender als die Architektur. Die frühere Stilstufe, die unter üppigem Stuck noch eine klare, tektonische Ordnung erkennen läßt und die Farbe auf begrenzte Bildfelder beschränkt, entsprach Nicolais Geschmack eher. Vom Passauer Dom empfing er einen tiefen Eindruck. »Ich hatte lange bey einem Gebäude nicht der¬ gleichen empfunden. Die helle geputzte Kirche zu St.Emmeran in Regensburg, an der freilich nichts gespart ist, tut nicht einen gro¬ ßen Effekt, sondern mehrere kleine.«29 Mit ihren klassizistischen Zügen begeistert ihn auch die Karlskirche in Wien. Doch da »indes¬ sen dieß Gebäude gewiß zu den schönsten modernen Kirchen ge¬ hört, so habe ich nachher in Gedanken oft eine andere vortreffliche moderne Kirche, die vom Stifte St. Blasien im Schwarzwalde, da¬ gegen gehalten. Welch ein Unterschied in der inneren Anordnung! Zu St. Blasien wird ein rundes Gebäude mit einer nicht übermäßig hohen, nicht übermäßig beleuchteten Kuppel von sechszehn frey¬ stehenden korinthischen Säulen getragen. Das einige Fuß höher liegende Chor wird durch ein schönes und sehr simples Gitter ge¬ sondert, und von freystehenden marmornen korinthischen Säulen getragen. Alles in großen einfachen und zugleich in reinem wohl¬ stimmenden Verhältnisse. Dieß wird durch nichts gestört, durch keine Schnörkel, keine Verkröpfungen, keine sich kreuzende Bogenstellung, keine bunte Farben. Die ganze Kirche ist weiß an¬ gestrichen, das Chor ist mit einem sehr blaß rothen Marmor beklei¬ det. Alles ist edel und groß, alles trifft zusammen Einen großen bleibenden Eindruck zu wirken. Die Kirche zu St. Blasien ist bei weitem das vollkommenste moderne geistliche Gebäude in Deutschland, das ich wenigstens gesehen habe.«30 So gilt für Nico¬ lai der erst 1783, also zwei Jahre nach seinem Besuch geweihte Bau d’Ixnards, in dem sich für uns, ungeachtet seiner Großartigkeit, der Frost zu erkennen gibt, der das Leben des süddeutschen Barock in diesen Jahren erstarren läßt, als der Höhepunkt einer Entwicklung. An Schlössern zeigt sich Nicolai nur mäßig interessiert. Diese wichtigste Bauaufgabe der Zeit des Absolutismus stand für ihn nicht mehr im Vordergrund. Wie das Volk wohnt, beschäftigt ihn stärker. Am Lustschloß Laxenburg reist er »ohne Bedauern« vor¬ bei, »Weil das Besehen von Schlössern und ihren Herrlichkeiten kein eigentlicher Theil unseres Planes war.«31 Und über Ludwigs¬ burg notiert er: »Aber das Schloß inwendig zu sehen, hatten wir nicht die geringste Lust; die merkwürdigen Industrieanstalten waren uns lieber.«32 Doch Nicolai macht daraus kein unumstö߬ liches Prinzip. Er besichtigte die Schlösser Coburg, Seehof, Pommersfelden, die beiden Belvedere in Wien, Schloß Schönbrunn, das

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Preßburger Schloß, die Residenz in München und Schloß Nym¬ phenburg samt den Parkbauten, von denen er besonders ausführ¬ lich und verständnisvoll die Badenburg würdigt, und schließlich das Schloß Solitude bei Stuttgart, wo er als Kastellan Schillers Vater begrüßte. Die Urteile, die er über die Qualität der Bauten äußerte, sind größtenteils treffend. In Seehof interessierte ihn mehr als das Schloß der Garten, den er ausführlich beschrieb. Modernem Emp¬ finden gemäß kritisierte er das Beschneiden der Bäume. Ohne aus¬ gesprochenen Tadel vermerkte er, der Fürstbischof habe gerade fast alle Parkskulpturen von Ferdinand Diez, nicht weniger als 378, aus dem Garten entfernen lassen. Nicolai würdigte auch den sei¬ nerzeit berühmten Garten von Neuwaldegg bei Wfen. Auf einen Sinn für Gärten läßt sich bei Nicolai vielleicht auch aus dem Umstand schließen, daß in seinem Roman Leben und Mei¬ nungen des Herrn Alagisters Sebaldus Nothanker die einzige wirk¬ lich anschauliche und farbige Ortsbeschreibung eine Schilderung des Berliner Tiergartens ist.33 Als Klassizist besitzt Nicolai ein empfindliches Auge für Skulp¬ tur, allerdings nur für neuzeitliche. Gotische Bildwerke bemerkt er nicht. »Von der Bildhauerey ist gar nichts merkwürdiges in der Stadt«, sagt er von Ulm und übersieht dabei beispielsweise Hans Multschers kraftvollen Christus an der Vorhalle des Münsters, während er die mittelalterlichen Glasfenster immerhin noch als »des Alterthnms wegen merkwürdig« erwähnt.54 Die frühbarocke Bronzeskulptur in München und Augsburg erkennt er jedoch in ihrem Wert. Über Hans Reichels Erzengel Michael am Augsburger Zeughaus urteilt er, er sei »treflich gearbeitet« und verbindet damit die Rüge, daß er »fast in allen Büchern über Augsburg nicht aufgeführt sei.«35 Auch hier sieht Nicolai seine Aufgabe als Schrift¬ steller, für die gerechte Verteilung des Ruhmes zu sorgen. Die anti¬ protestantische Tendenz der Skulptur stört ihn hier ebensowenig wie bei Krümpers »trefflicher« Gruppe des gleichen Themas an der Michaelskirche in München56, während ihn diese Propaganda an der dortigen Mariensäule mit der bekrönenden Statue von Hubert Gerhard abstieß. »Wir hielten diese als Kunstwerk höchst mittel¬ mäßige Bildsäule für ein Denkmal stumpfer Bigotterie.«37 In Wien und Preßburg fielen ihm die Werke Georg Raffael Donners als eines Wegbereiters des Klassizismus auf. Einen guten Blick bewies er mit der Beobachtung, es sei »etwas in den Hälsen der Figuren dieses sonst wackeren Künstlers, das ihnen ein sonderbares An¬ sehen gibt.«38 Im Park von Schloß Schönbrunn bewunderte er die Werke des von Winckelmann beeinflußten Christian Friedrich Wilhelm Beyer, der sich schon um 1760 einer vornehm beruhigten Stilhal¬ tung befleißigte, und meinte über ihn: »Dieser vortreffliche Künst-

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ler gehört zu den vorzüglichsten jetzt lebenden Bildhauern. Er ist für seine großen Talente nicht bekannt genug.«39 Über keinen Künstler äußert er sich so ausführlich - auf zwanzig Seiten - wie über Franz Xaver Messerschmidt, dessen absonderliche physiognomische Studien sein lebhaftes Interesse erregten.40 Weniger entwickelt war Nicolais Sinn für die Malerei. Die Vor¬ behalte des Klassizisten gegen die barocke Deckenmalerei, die das Wunderbare und nicht zu Durchschauende, dazu eine esoterische Gelehrsamkeit zum Aufbau von Autorität benutzt, spricht er mit naiv anmutender Klarheit unter den Deckengemälden von St.Emmeran in Regensburg aus: »Wenn die Pracht eines großes Saales oder einer Kirche es durchaus erforderte, daß an die Decke etwas mußte gemalt seyn, so mußten es entweder wohl übereinstim¬ mende architektonische Verzierungen, oder ein durchaus simpler Gegenstand seyn, der mit Einem Blicke ganz übersehen werden kann. Wer wird den ganzen Körper zurücklegen, und sich die Augen verderben wollen, um aus einer Menge übereinandergeworfener Figuren, die Vorstellung einer uninteressanten Be¬ gebenheit herauszusuchen, oder eine schiefe Allegorie heraus¬ zuklauben, die oft, wenn sie endlich entziffert ist, nicht die Mühe belohnen kann, daß man darüber nachgesonnen hat.«41 Schon in Banz hatte Nicolai bemängelt, daß Geschehnisse, die sich auf der Erde ereignen, an der Decke dargestellt werden. Ganz unverständ¬ lich ist ihm unter diesem Aspekt Johann Baptist Zimmermanns großes, dem Genius loci huldigendes Deckengemälde in Schloß Nymphenburg »Das Reich Floras und der Nymphen«, das er »höchst mittelmäßig« findet. »Man sieht an dieser Decke Wolken, Bäume, grüne Lauben, u. d. gl. ohne allen Sinn hingemahlt.«42 Bedeuten¬ deren Leistungen der Deckenmalerei aus den ersten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts bringt Nicolai dennoch Respekt entgegen, so Rottmayrs Fresken in der Karlskirche in Wien und Trogers Deckengemälden in Melk. Wie lückenhaft seine Kenntnisse auf dem Gebiet der zeitgenös¬ sischen Malerei waren, zeigt ein Verzeichnis der »vorzüglichsten Künstler« Wiens.43 Er nennt vierundzwanzig Namen. Als Verleger interessieren ihn die Stecher, von denen er sechs aufführt, dazu einen Silhouettenschneider. Bildhauer, Medailleure und Münz¬ graveure sind mit neun Namen vertreten. Unter den Malern vergaß er die bedeutendsten: Franz Anton Maulpertseh und Johann Chri¬ stian Brand, den einen vielleicht wegen dessen Bindungen an das Rokoko, den anderen wohl, weil er keinen Sinn für die Land¬ schaftsmalerei besaß. Auch Franz Sigrist und Vinzenz Fischer feh¬ len, während Kaspar Franz Sambach, dessen Sohn Christian sowie Ignaz Unterberger, der unbedeutende Bruder von Christoph Unter¬ berger, Erwähnung finden. Neben dem Bildnismaler Joseph Hickel

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führt er auch einen Franz Hickel auf, der so wenig bekannt ist, daß die Forschung eine Erwähnung seines Namens an anderer Stelle für einen Irrtum angesehen und Franz und Joseph zu einer Person vereinigt hat.44 Nicolai fehlte es anscheinend an Zeit, aber wohl auch an Interesse, das Spiel der widerstreitenden Richtungen in ihren verschiedenen Vertretern zu studieren und hielt schlicht das Fortschrittliche für das Nennenswerte, ohne indes die Anhänger des Rokoko gänzlich zu verschweigen. Ähnlich zufällig bleiben die Notizen über die Augsburger Künstler45. Auch hier nennt er den bedeutendsten, der 1781 noch lebte, nicht: Matthäus Günther. Wenn Nicolai der Bildnismalerei relativ viel Aufmerksamkeit entgegen¬ brachte, so mögen hier seine Anteilnahme am Mitmenschen, sein Sinn für das Denkmal als Form des Überlebens der verdienstvollen Persönlichkeit und seine klassizistische Vorliebe für die klar über¬ schaubare Einheit Zusammenwirken, bestand doch auch sein eige¬ ner Kunstbesitz, soweit wir wissen, hauptsächlich aus Bildnissen ihm nahestehender Personen.46 Eine Anziehungskraft übten auf ihn aber auch als getreuer Spie¬ gel einer Gesellschaftsschicht die vielfigurigen Gruppenporträts in Darstellungen höfischer Ereignisse aus, die er in Schönbrunn und in Nymphenburg sah, hier die Festlichkeiten am Hof Josephs II. von Martin van Meytens und dort die Darstellung der kurbayerischen und kursächsischen Familie beim Musizieren von Peter Jakob Horemans. Bei Meytens bemerkte er treffsicher spottend: »Einem physiognomischen Beobachter, der etwa einmal das Flache des Charakters, das sich auf den meisten Hofgesichtern zeigt, mit Muße studieren und auseinandersetzen wollte, könnten diese Bild¬ nisse gute Dienste tun.«47 Seine höchste Bewunderung galt van Dyck, wobei er dem allge¬ meinen Urteil seit dem siebzehnten Jahrhundert folgte und die selbstbewußte Pose für geläuterte Natur ansah. Van Dycks Bild¬ nisse studierte er in der kaiserlichen Galerie im Belvedere, in der Galerie Liechtenstein, in der Münchner Galerie und der dortigen Residenz. »Hier ist die höchste Schönheit der niederländischen Schule in den Bildnissen dieses großen Malers; die getreueste Dar¬ stellung der Natur, über welche doch das Ideal der Schönheit als ein leichtes Lüftchen weht«,48 bemerkt er über den van Dyck-Saal des Belvedere. Von dem Bildnis der Maria Luise de Tassis in der Liech¬ tensteinischen Sammlung schreibt er, es sei »ausbündig schön. Dieß Gesicht konnte ich nicht genug anschauen«49 Aber Nicolai kann sich dann auch der Dramatik der Historienbilder von Rubens nicht entziehen. In der gleichen Galerie lobt er den Decius-MusZyklus, und im Belvedere ist er ergriffen von der Gewalt dieser Kunst. »Man ist in Erstaunen verlohren über diesen Anblick, und empfindet, daß liier die ganze Macht der Kunst erschöpft ist.«50 134

Van Dyck ist »schön«, Rubens aber ist »erhaben«. Dennoch kann es sich Nicolai nicht versagen, in einer Fußnote den Aufklärer spre¬ chen zu lassen und Rubens zu tadeln, weil er sich durch seine Dar¬ stellungen der Wunder der Jesuitenheiligen Ignatius von Loyola und Franz Xaver den Verführungskünsten dieses Ordens zur Ver¬ fügung gestellt habe. Auch in der Münchner Galerie, die 1781 noch nicht eingerichtet war, von der er jedoch einige Werke sehen konnte, kritisiert er an Rubens »Bethlehemitischem Rindermord« die Wahl des Sujets, ist dann jedoch versöhnt beim Anblick der Helene Fourment mit ihrem nackten Söhnchen auf dem Schoß.51 In den großen Galerien wirkt Nicolai merkwürdig hilflos. In der Liechtensteinischen Sammlung macht er einige unwesentliche, wenn nicht kleinliche Bemerkungen zu dem Katalog. In der Münchner Galerie kommt er von Raffael, Rubens, Domenichino und van Dyck sehr schnell auf den unbedeutenden Zeitgenossen Johann Jacob Dorner zu sprechen, dessen »treffliche Staffeleystücke« er lobt. Seine Bilder seien »voll Wahrheit in der Vorstellung und von einer Endigung und Glätte in der Ausführung, von einer Ruhe im Kolorit, fast wie Terburgs Stücke, aber noch von besserer Zeichnung.«52 Anscheinend hat der Umstand, daß er Dorner per¬ sönlich kennenlernte, sein Urteil so günstig beeinflußt. So werden auch in Stuttgart Nicolas Guibal, der Freund und Schüler von Mengs, und Adolf Friedrich Harper genannt, den Nicolai aber als den Deckenbildmaler im Schloß Charlottenburg mit seinem Vater Johannes Harper verwechselt. Der bedeutendere und moderne Philipp Friedrich Hetsch befand sich 1781 gerade in Paris und wurde daher nicht erwähnt. Nicolai scheint von dem Glauben durchdrungen gewesen zu sein, daß das, was er auf dieser Reise persönlich erforscht und er¬ fahren hat, mehr als eine zufällige Auswahl aus einer schier un¬ übersehbaren Fülle sei. Die persönliche Beziehung, die er zu Men¬ schen und Dingen gewonnen hat, scheint ihm eine objektive und ziemlich vollständige Darstellung der bereisten Gegend verbürgt zu haben. Das wirkt gerade wegen aller aufklärerischen Schärfe des Urteils naiv, aber nicht unsympathisch, denn es kommt die Lebenswärme der Subjektivität in dieses Panorama, und Nicolai liefert nicht nur ein Bild seiner Umwelt, sondern unversehens auch eines von sich selbst.

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Anmerkungen 1 Von der 3. Auflage erschien 1968 ein Reprint in der Hände &Spenerschen Verlagsbuchhandlung, Berlin. 2 Beschreibung der Königlichen Bildergallerie und des Kabinetts in SansSouci (Potsdam, 1764), 2. Auf!. 1770; Beschreibung aller Seltenheiten der Kunst und übrigen Altertümer, besonders Statuen in dem königl. Lust¬ schlosse Charlottenburg bey der Besidenz-Stadt Berlin (Berlin, 1768); Be¬ schreibung von allen Gemählden und Antiquen wie auch verschiedenen andern Kostbarkeiten im Neuen Schlosse bey Sanssouci (Potsdam, 1772); Beschreibung aller Gemälde, Antiquitäten..., so in den beyden Schlössern von Sans-Souci und Charlottenburg enthalten sind (Berlin, 1773); Beschrei¬ bung von den neuerbauten Zimmern, zwey Sälen und zwey Gallerien, in dem gewesenen Orangenhause in Sanssouci (Potsdam, 1775). 3 Beschreibung der königlichen Besidenzstädte Berlin und Potsdam, 2. Auf!. (Berlin und Stettin, 1779), 4. Anhang, S. 106 (im folgenden zitiert: Nicolai 1779). 4 Beschreibung der königlichen Besidenzstädte Berlin und Potsdam, 3. Aull. (Berlin und Stettin, 1786), S.69 (im folgenden zitiert: Nicolai 1786). 5 Nicolai 1786, S. 857. 6 Die Puhlmannschen Bildtaufen übernahm Johann Daniel Friedrich Rumpf, Beschreibung der äußeren und inneren Merkwürdigkeiten der Königlichen Schlösser in Berlin, Charlottenburg, Schönhausen in und bey Potsdam (Berlin, 1794). 7 Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Sch weiz im Jahre 1781 (Berlin und Stettin, 1783), I, S.151 (im folgenden zitiert: Nicolai, Reise). 8 Ernst Graf von Lehndorff beklagt sich 1763 in seinem Tagebuch über den Luxus, den durch kriegsgewinne reich gewordene Bürger entfalten, wäh¬ rend der Adel verarmt, und schildert die Zustände in Berlin, »wo man Ver¬ goldungen, Statuen, Gemälde und große Wohnungen bloß noch bei den Geschäftsleuten zu sehen bekam.« Aus den Tagebüchern des Grafen Lehn¬ dorff , lirsg. und eingeleitet von Haug von Kuenheim (Berlin, 1982), S.148. 9 Nicolai 1779, 4. Anhang, 1,2. 10 Nicolai, Reise, IX (1795), 26. 11 Nicolai 1779, 4. Anhang, 74-81. 12 Ebenda, 4. Anhang, 59-61. 13 Ebenda, 4. Anhang, 104, 72. 14 Z.B. Pitture e sculture di Brescia, 1760; Longhi, Compendio delle vite de pittori veneziani historici, piu renomati del secolo XVIIt, 1763; Malvasia, FelAna pittrice, vite de pittori Bolognesi, 1678; in Deutschland ist zu nennen: Johann Gabriel Doppelmayr, Historische Nachrichten von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern (Nürnberg, 1730). 15 Nicolai, Reise, I (1783), 87. 16 Ebenda, I (1783), 89. 136

17 Ebenda, 11 (1783), 347. 18 Ebenda, XII (1796), 108. 19 Ebenda, I (1783), 43. 20 Ebenda, I (1783), 147. 21 Ebenda, II (1783), 338. 22 Ebenda, IX (1795), 18-25. 23 Ebenda, I (1783), 201. 24 Ebenda, XI (1796), 7. 25 Ebenda, II (1783), 246. 26 Ebenda, VI (1785), 535. 27 Ebenda, VII (1786), 49. 28 Ebenda, I (1783), 97. 29 Ebenda, II (1783), 459. 30 Ebenda, III (1784), 43. 31 Ebenda, VI (1785), 328. 32 Ebenda, X (1795), 159. 33 4. Auflage (Berlin und Stettin), 11,25-31. 34 Nicolai, Reise, IX (1795), 86. 35 Ebenda, VII (1786), 50. 36 Ebenda, VI (1785), 529. 37 Ebenda, VI (1785), 512. 38 Ebenda, VI (1785), 344. 39 Ebenda, III (1784), 93. 40 Ebenda, VI (1785), 401-420. 41 Ebenda, II (1783), 343. 42 Ebenda, VII (1786), 5, 6. 43 Ebenda, IV (1784), 512-523. 44 Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler XVII, 1924. 45 Nicolai, Reise, VIII (1787), 127. 46 Gustav Parthey, Jugenderinnerungen, hrsg.von Ernst Friedei (Berlin, 1907), S.7, 39, 64, 65. Das Hauptstück seiner Porträtsammlung, Graffs Bildnis der Elisa von der Recke, befindet sich seit 1981 im Schloß Charlottenburg. 47 Nicolai Reise, III (1784), 90. Fünf von ihnen sind in Ausschnitten abgebildet im Katalog Maria Theresia und ihre Zeit, Ausstellung 1980, Wien, Schloß Schönbrunn, Titelbild und S.221, 222, 232, 241. 48 Nicolai, Reise, IV (1784), 499.

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49 Ebenda, IV (1784), 508. 50 Ebenda, IV (1784), 499, 500. 51 Ebenda, VI (1785), 704, 705. 52 Ebenda, VI (1785), 705. Die von Nicolai genannten Bilder Dorners sind ab¬ gebildet nnd behandelt von Barbara Hardtwig, Naeh-Barock und Klassizis¬ mus, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek München, Gemäldekatalog Bd. III (München 1978), 33-35, 40-42.

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VI FRIEDRICH NICOLAI ALS HISTORIKER Horst Möller

Das achtzehnte Jahrhundert findet seit einigen Jahren zuneh¬ mendes Interesse der Historiker, Philosophen und Literaturge¬ schichtler. Ein Schwerpunkt der Forschungen richtet sich dabei auf Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung jener Epoche1, zumal gerade dieses Thema über Generationen hinweg unter dem verzerrenden Blickwinkel der historischen Schule des neunzehn¬ ten Jahrhunderts und der Romantik gesehen wurde. Auch die Neubewertung, die das erwachende Geschichtsbewußtsein des achtzehnten Jahrhunderts in den großen ideengeschichtlich orien¬ tierten Interpretationen von Dilthey2, Meinecke3, Cassirer4 und anderen erlebte, stand noch unter dem Verdikt eines »unhistori¬ schen Denkens«, das vor allem der Aufklärung attestiert wurde. Die »Gratwanderung«, die beispielsweise Meinecke so eindrucks¬ voll unternahm, richtete sich auf geniale Vorläufer des Historis¬ mus, nicht aber auf das »durchschnittliche« Geschichtsbewußtsein des achtzehnten Jahrhunderts. Die hier zugrundeliegende Ein¬ schätzung findet sich auch heute noch in vielen historischen Hand¬ büchern und Monographien, wenngleich sie durch wichtige For¬ schungen des letzten Jahrzehnts endgültig revidiert worden ist. Diese Revision erfolgte im Zuge der seit einiger Zeit eingeleiteten Neuinterpretation der Aufklärung und infolge der Wandlung methodologischer und historiographischer Fragestellungen. Auch auf diesem Feld wirkt es sich jedoch nachteilig aus, daß eine modernen Ansprüchen genügende Geschichte der Historiographie bislang fehlt. Bereiteten die geistlichen Forschungszentren, vor allem der Be¬ nediktiner, schon seit dem ausgehenden siebzehnten Jahrhundert die moderne historische Methode vor, so wurden im Denken der europäischen Aufklärung während des siebzehnten und achtzehn¬ ten Jahrhunderts die Fundamente des neuzeitlichen Geschichts¬ bewußtseins gelegt, entstand schießlich nach dem großen, aber weitgehend folgenlosen Vorläufer Giambattista Vico die moderne Geschichtsphilosophie. Die moderne Forschung der letzten einein¬ halb Jahrzehnte hat gezeigt, in welchem Maße die Prinzipien moderner Geschichtsschreibung und modernen Geschichtsbe¬ wußtseins im achtzehnten Jahrhundert vorbereitet wurden, gleichwohl machen sich auch zahlreiche neuere Darstellungen 139

noch nicht vom Klischee einer vermeintlich »ahistorischen« Auf¬ klärung frei. Nach wie vor wird die »unprofessionelle« Historio¬ graphie dieser Zeit nicht angemessen berücksichtigt. Gerade die Untersuchung eines »durchschnittlichen« Aufklärers vom T"ypus Friedrich Nicolais ist jedoch für die Entwicklungsgeschichte der Historie außerordentlich fruchtbar, einmal abgesehen von der Tatsache, daß die Professionalisierung und Spezialisierung im Zeitalter der Aufklärung noch nicht weit gediehen war und sich Gelehrsamkeit keineswegs auf eine kleine Schar von Wissen¬ schaftlern beschränkte. I. Die historischen Werke Nicolais Friedrich Nicolai war als Historiker bis vor einigen Jahren nahezu unbekannt. Aus diesem Grunde ist es unumgänglich, einige An¬ gaben über die Themen seiner historischen Forschungen zu machen, bevor die Eigenart seiner historischen Methode und die ihm in der Geschichte der Historiographie zukommende Stellung erörtert werden soll. Erst aufgrund der Kenntnis des Materials kann über die Prämissen von Nicolais historischem Verständnis zureichend gesprochen werden. Nicolais historische Forschungen lassen sich in vier Gruppen einteilen: 1. Historische Landeskunde Berlins und Brandenburg-Preußens.5 2. Kirchengesehichtliche Arbeiten, vor allem die Erforschung des Templerordens sowie diejenige der älteren Rosenkreuzer.6 Im engen Zusammenhang hiermit steht die dritte Gruppe: 3. Nicolais Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Frei¬ maurerei.7 4. Kultur- und spraehgeschichtliche Arbeiten.8 Außer den erwähnten historischen Publikationen Nicolais fin¬ den sich zahlreiche kürzere historische Erläuterungen über sein gesamtes schriftstellerisches Werk verstreut. Die genannten Schriften Nicolais sind nur zum Teil zweckbezogen-aktuellem, gelegentlich politischem Interesse entsprungen, selbst in diesen Fällen aber geht ihr Inhalt über das unmittelbar Verwertbare weit hinaus. Da in den Titeln die zahlreichen Themen, die in diesen Untersuchungen erörtert werden, nicht hinreichend zum Aus¬ druck kommen, ist es erforderlich, einige der von Nicolai behan¬ delten Inhalte zu umreißen.

Geschichte Berlin-Brandenburgs Am Beginn von Nicolais historischer Forschung steht die BerlinBeschreibung. Diese Topographie erschien erstmals 1769. Für die 140

zweite und dritte Auflage begann Nicolai umfangreiche und gründliche Archivstudien zu treiben.9 Seine große historische Ein¬ leitung, die von den Anfängen der Besiedlung Berlins bis zu seiner Gegenwart reicht, steht besonders die Bevölkerungsentwicklung und den damit verknüpften wirtschaftlichen Aufschwung Preu¬ ßens dar. Nicolais positive Urteile über die merkantilistische »Peuplierungspolitik« stützen sich auf gründliche statistische Erhebun¬ gen, deren Hauptquelle kirchliche Eheschließungs-, Geburts- und Sterbelisten waren. Seine Aufgliederungen berücksichtigen ver¬ schiedene Aspekte wie Geschlecht, Konfession, Nationalität, stän¬ dische Zugehörigkeit u. a. m. Die Auswertung erfolgt nach der Methode, die der Berliner Konsistorialrat Süßmilch in seinem Buch Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des mensch¬ lichen Geschlechts10 entwickelt hatte. Nicolai ergänzt diese Methode, indem er die statistischen Daten vor dem jeweiligen historischen Hintergrund analysiert. Zum Beispiel setzt er Kriege, Epidemien, Hungersnöte, Mißernten und Teuerungen zur Bevöl¬ kerungszahl in Beziehung. Hat Nicolai auch keine Pionierarbeit in der Bevölkerungsstatistik geleistet, so hat er doch - in konsequen¬ ter Anwendung der zu seiner Zeit bekannten Methoden und unter Auswertung des irgend erreichbaren Materials - bevölkerungswissensehaftliche Erkenntnisse für die Geschichtsschreibung ge¬ nutzt und ihr damit eine für wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschungen unentbehrliche Grundlage erschlossen. Zieht Nico¬ lai in seiner Reisebeschreibung ähnliche Methoden heran, um der Bevölkerungspolitik seiner Zeit Maßstäbe zu geben, so dient die demographische Methode hier der Erforschung der Vergangen¬ heit, wenn auch mit der gegenwartsbezogenen Nebenabsicht, die Erfolge merkantilistischer Wirtschaftspolitik herauszustehen. In einem Brief an den Freiherrn Gebier in Wien beschreibt Nico¬ lai seine Arbeit an der Berlin-Topographie: »...da ich mich bemüht habe den successiven Anbau und andere historische Umstände kürzl. zu erleitern, so bin ich in diplomatisch historische Unter¬ suchungen so tief hinein gerathen, daß ich mich noch nicht wieder heraus zu finden weis. In der Tat ist die Begierde historischer Untersuchungen wie ein Irrlicht das uns führt, wohin wir sonst nicht gekommen wären. Die Geschichte der Stadt führt in die Landesgeschichte, diese in die Geschichte der benachbarten Länder, diese in die Reichsgeschichte ... so geht es auch mit einzelnen Untersuchungen, ich habe oft Wochen lang bestäubte Archiv Acten durchgesehen und excerpirt die meine Neugierde gereitzt, aber mir zu meinem eigentl. Zweck oft nur sehr wenig genützt haben.. ,«n In dieser Aussage Nicolais wird ähnlich wie in seinem Werk selbst sichtbar, wie weit sein historisches Interesse über den ursprünglich gesetzten Zweck hinausführte, der bereits für sich 141

genommen den der Aufklärung gern unterstellten Utilitarismus im Dienste der eigenen Gegenwart überstieg. Das Zitat wie das Werk belegen, daß sich Nicolai eine historische Fundierung der Topographie zum Ziel gesetzt hatte, die nur auf dem Wege intensi¬ ver Quellenforschung zu erreichen war. Nicolais Beschreibung Berlins, deren zahlreiche Detailunter¬ suchungen hier nicht wiedergegeben werden können, gehört auf¬ grund der gründlichen und produktiven Quellenkenntnis ihres Verfassers, der methodisch korrekten Auswertung des Materials sowie der umfassenden Fragestellung, mit der er das gesamte Leben einer Zeit erfassen wollte, als Musterbeispiel seiner topo¬ graphischen und historischen Arbeit in die Beihe derjenigen Lokal- und Territorialgeschichten des achtzehnten Jahrhunderts, die zu den Meilensteinen der deutschen Geschichtsschreibung zählen: zu der epochalen Osnabrückischen Geschichte seines Freundes Möser12, die in seinem Verlag erschien, und auch zu den Landesgeschichten Spittlers13, über dessen Hannoversche Ge¬ schichte Nicolai urteilte, sie sei ein »Muster einer jeden Landesge¬ schichte aus ächten Quellen«, sie zeige vorzüglich die innere Lan¬ desverfassung und mache sichtbar, wie sich der Staat nach und nach zu seiner jetzigen Lage gebildet habe14. Nicolai führte die landesgeschichtlichen Forschungen in seinen Publikationen über Friedrich II. von Preußen fort. Während die Anekdoten-Sammlung und Nicolais Einleitungen dazu tatsächlich der Person des Königs gewidmet sind, werden in den Anmerkun¬ gen über Zimmermanns Fragmente über weite Strecken allge¬ meine Probleme der brandenburgisch-preußischen Geschichte zur Zeit Friedrichs II. behandelt; nur ein Teil des Werkes ist ein Beitrag zur Biographie des Herrschers. Die Anekdoten-Sammlung zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß Nicolais Edition, vergli¬ chen mit den zahlreichen zeitgenössischen Ausgaben, methodisch solider gearbeitet ist. Nicolai nennt nicht nur nach Möglichkeit seine Gewährsmänner und beschränkt sich meist auf die Origi¬ nalquelle, überdies merzt er zahllose Irrtümer der vorhergehen¬ den Anekdoten-Sannnlungen aus und kennzeichnet das Zweifel¬ hafte15. Seine Einleitungen geben Auskunft, wie sehr er den König schätzte; vor allem ist interessant, welche Fähigkeiten und Taten ihn zu diesem Urteil bewogen: »Man hielt ihn fast allgemein für einen bloßen Soldaten, dessen Plane nur auf Krieg gerichtet wären . . . Bey näherer Aufmerksamkeit auf des Königs Betragen fand man es aber ganz anders«16. Das Erkenntnisinteresse Nicolais ist damit angedeutet: Die Kriegstaten des Königs finden zwar Er¬ wähnung, nehmen aber im ganzen seiner Nachforschungen einen verschwindend geringen Raum ein. Der weitaus größte Teil ist wirtschafts-, sozial- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen ge142

widmet. Daneben hebt Nicolai kulturelle Leistungen sowie immer wieder die Gewährung der »Denkfreiheit« durch den König her¬ vor.17 Schon die Vorrede zu den Anekdoten rückt von neuem diejeni¬ gen Themen ins Blickfeld, denen schon in der Berlin-Beschreibung zentrale Bedeutung zukam und die besonders die Anmerkungen über Zimmermann bestimmten. Nicolai sagt darüber: »Alle merk¬ würdige öffentliche Begebenheiten, nicht nur Verordnungen und wirkliche Anstalten, sondern auch unausgeführte Plane zur Beför¬ derung des Ackerbaues, der Handlung, der Industrie, usw. suchte ich, so viel möglich, ihrer eigentlichen Veranlassung und ihrer wahren Tendenz nach kennen zu lernen, besonders die welche von ihm selbst herkamen .. ,«18 Die Anmerkungen richteten sich gegen Publikationen des Schweizer Schriftstellers Ritter von Zimmermann, Hofrat und Leibarzt des englischen Königs in Hannover, der jahrzehntelang mit Nicolai befreundet gewesen war, bevor er sich durch seine Ver¬ öffentlichungen über Friedrich II., der ihn kurz vor seinem Tode konsultiert hatte, mit den Berliner Aufklärern überwarf.19 In sei¬ nen Schriften fanden sich - neben Aufschlußreichem zur Person nicht nur zahlreiche Irrtiimer über die Geschichte Friedrichs, son¬ dern auch Polemiken gegen die »Berliner Aufklärerpartei«. Nicolai hat die Anmerkungen nicht allein verfaßt, vielmehr hatte er als ihr Redakteur kenntnisreiche Mitarbeiter, unter ihnen ein¬ flußreiche Staatsmänner.20 Von ihm selbst stammt die methodische Verarbeitung, die Überprüfung und Ergänzung des Materials. Kernstück seines eigenen Anteils aber ist die Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Geschichtsschreibung Zimmermanns. Die Voraussetzungen, die ein Historiograph Friedrichs II. nach seiner Meinung erfüllen mußte, umriß Nicolai folgendermaßen: »Er muß ... nicht ganz unwissend seyn in der Lehre vom Finanzwesen...; es muß ihm nicht an allen Begriffen von den Verhältnissen fehlen, welche Handlung, Industrie, Manufakturen und Fabriken dazu haben können, und er muß besonders Sorgfalt angewendet haben, das Finanz-, Industrie- und Handelswesen der preußischen Staa¬ ten unter Friedrich II. so richtig und vollkommen zu lernen, als es einem Privatmanne möglich ist.«21 Hiermit sind die Kernthemen des Buches genannt, die wiederum mit demographischen und sta¬ tistischen Methoden untersucht werden. Es fehlt kaum ein wichti¬ ger Bereich staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nicolai ließ nichts unberücksichtigt, nichts ungeprüft, nicht einmal Fried¬ richs II. Angaben in der Geschichte meiner Zeit22. Nicolais For¬ schungsergebnisse sind sachlich sehr wertvoll, wie schon der beste Kenner der Geschichte Friedrichs II., Reinhold Koser, geurteilt hat23 und wie auch noch der Vergleich mit dem jüngsten For143

schungsstand zeigt24. Die zentrale Bedeutung, die Nicolai diesen Themen zumißt, bedingt auch seine sehr positive Beurteilung Friedrich Wilhelms I.25 Nicolai würdigt besonders »Ordnung und äußerste Sparsamkeit in der Staatsverwaltung, Beförderung jedes nützlichen Fleißes, besonders der Manufakturen« als »das große Verdienst Friedrich Wilhelms I.«26 Er rühmt als weitere Leistun¬ gen dieses Königs unter anderem, er habe Häuser-, Kirchen- und Brückenbau unterstützt, die Urbarmachung sumpfiger Gegenden gefördert, eine Verbesserung der Landwirtschaft und der Domä¬ nenbewirtschaftung betrieben und vor allem das preußische Litauen wieder bevölkert. Bemerkenswert ist nicht nur die Bestätigung von Nicolais An¬ gaben durch die moderne Forschung, sondern vornehmlich, welche sozialen und politischen Motivationen der positiven Be¬ wertung Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. zugrunde liegen. Nicolais Wertmaßstäbe manifestieren sich zunächst darin, welche Herrscher er unerwähnt läßt, sodann aber auch in den impliziten und expliziten Begründungen seiner Darstellung. Die Beurteilung der genannten Herrscher erfolgt nach den sozialen Wertvorstel¬ lungen des bürgerlichen Aufklärers. Der Landesherr wird nicht an den Maßstäben höfischen Lebens gemessen, sondern am »Berufs¬ ethos« des aufgeklärten bürgerlichen Standes, der in der Welt der Arbeit und der gelehrten Kultur sein Selbstverständnis und seine innerweltliche Bewährung fand. Hierdurch hob der Dritte Stand sich ab von den beiden ersten Ständen, von Geistlichkeit und Adel. In diesen Bereichen gewann der bürgerliche Stand einen Freiraum von absolutistischer Allmacht und kirchlicher Bevormundung. Der Landesherr wurde so zum »ersten Diener« seines Staates, und er wurde gemessen an seiner Leistung. Damit wurde er prinzipiell kritisierbar, wenn auch in Preußen vorerst noch indirekt und wenig grundsätzlich. Wie noch zu zeigen ist, betonte Nicolai nach¬ drücklich, daß die wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritte in einem Land nicht nur dem Landesherrn zuzuschreiben seien. Hierin zeigte sich die Kehrseite der thematischen Verlagerung des Schwerpunktes in Nicolais Geschichtsschreibung von der Fürstenund Kriegsgeschichte zur Wirtschafts-, Sozial- und Geistesge¬ schichte: Nicht mehr ausschließlich der bewunderte Landesherr war nun Gegenstand der Geschichtsschreibung, sondern die »Unterthanen« traten in die Geschichte ein. Auch die großen ge¬ schichtsphilosophischen Entwürfe des achtzehnten Jahrhunderts sind durch diese Schwerpunktverlagerung charakterisiert. In die¬ sem Sinne hatte Nicolai 1774 in der Allgemeinen Deutschen Biblio¬ thek unter der Überschrift Voltaire der Reformator geschrieben: »Die allgemeine Historie der Welt war bis auf ihn die Lebensge¬ schichte der Regenten, er machte sie zuerst zur Geschichte der 144

Menschen. Er ordnete zuerst die Begebenheiten nicht nach den Regierungen der Beherrscher, sondern den Schicksalen der Be¬ herrschten... Dabey mußten freylich die Begebenheiten eine ganz andere Würdigung und Stellung bekommen als die gewöhn¬ liche...«27 Schon aus den Inhalten dieser Geschichtsschreibung läßt sich ablesen, daß ihre Autoren nicht Hofhistoriographen waren, sondern zu einem guten Teil die Leistungen ihres eigenen Standes in der Geschichte aufsuchten und darstellten. Die Erweiterung des Erkenntnisinteresses ging, wie noch zu zeigen ist, Hand in Hand mit einem entscheidenden Fortschritt der historischen Methode. Die Tatsache, daß es sich bei Nicolais Werken über Friedrich II. um Zeitgeschichtsschreibung handelte, hatte mehrere Konsequen¬ zen: Er konnte für seine Arbeiten nicht das Archiv benutzen und war, sieht man von dem relativ spärlichen öffentlich zugänglichen Material ab, auf die Mitteilungen von Gewährsleuten angewie¬ sen.28 Dies zwang ihn, sein Wissen so anzuwenden, daß seine Quelle unbekannt blieb, und Kritik möglichst indirekt zu äußern. In dieser Form der Kritik wandte sich Nicolai sowohl gegen historisch gewordene Entscheidungen verstorbener Landesher¬ ren als auch gegen Mißstände in der Gegenwart, die aus der Ver¬ gangenheit herrührten.29 Der umgekehrte Fall einer indirekten politischen Kritik lag in dem Verfahren, frühere Fürsten als vorbildhaft darzustellen und über den gegenwärtigen Landesherrn, den man nicht offen anzu¬ greifen wagte, nur wenige belanglose Bemerkungen zu machen. Die Geschichtsschreibung erlangte so den durchaus beabsichtig¬ ten Nebeneffekt, ein »Fürstenspiegel« zu sein. Zimmermanns Aperpu in einem Brief an Nicolai ist trotz dessen gegenteiliger Ver¬ sicherung durchaus treffend: »Das Lob der vergangenen Zeit ist gar oft eine Kritik der gegenwärtigen.«30

Kirchengeschichte und Entstehungsgeschichte der Freimaurer Nicolais 1781 publizierte Untersuchung über den Prozeß gegen den Templerorden, den Papst Clemens V. auf Drängen des französi¬ schen Königs Philipp IV. beim Konzil zu Vienne 1312 nach einem spektakulären Prozeß auflöste, befaßte sich detailliert mit den Vor¬ würfen, die den Tempelherren seit 1305 zur Last gelegt wurden: unsittliche Bräuche und ketzerische Geheimlehren. Nicolais Buch entstand im Zusammenhang mit seiner Kritik an der katholischen Kirche, seiner Auseinandersetzung mit der Frei¬ maurerei sowie seiner Reise in die katholischen Länder Süd¬ deutschlands im Jahre 1781, die für Nicolais theologisch-politische Haltung eine einschneidende Bedeutung hatte. Seit dieser Reise, in der er, wie er selbst betonte, erstmals in nähere Berührung mit der

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katholischen Kirche kam31, verlagerte sich seine theologische Kri¬ tik von der protestantischen Orthodoxie auf den Katholizismus, insbesondere auf den Jesuitenorden. Nach dessen Aufhebung durch Papst Clemens XIV. im Jahre 1773 entfaltete sieh die Wirk¬ samkeit der Jesuiten nach Nicolais Meinung in den der Öffent¬ lichkeit entzogenen Geheimorden. Nicolai befürchtete, daß die Jesuiten unerkannt Freimaurer-Orden unterwanderten und sich dabei der in diesen verbreiteten Arkanpraxis bedienten. Da inner¬ halb der Orden das hierarchisch strukturierte Hochgradsystem der »Strikten Observanz« mit dem Prinzip des absoluten Gehorsams gegen »Unbekannte Obere« an Boden gewann, nahm Nicolai an, daß unter diesen Jesuiten sein könnten. Diese Befürchtungen32, deren reale Hintergründe hier nicht analysiert werden können, orientierten sich an wesentlichen Prinzipien der Aufklärung: Das Arkanum der Orden widersprach der Forderung nach Publizität und begünstigte die Mythenbildung; Hierarchie und absoluter Ge¬ horsam verhinderten die unparteiische Kritik und das Suchen nach Wahrheit, wodurch allein die Ausbreitung der »gesunden Ver¬ nunft« befördert werden könne. Unter dem Deckmantel der Ge¬ heimhaltung, so schien es Nicolai, verbanden sich die Mächte der Finsternis gegen die Aufklärung; insofern war es kein Zufall, daß er hier verschieden gerichtete Erkenntnisinteressen verquickte und einen Orden der mittelalterlichen Kirche und die Freimaurer¬ orden der eigenen Zeit einer historischen Aufklärung unterzog, zumal schon vor seiner Untersuchung Zusammenhänge zwischen beiden behauptet worden waren. Über diese Fragestellung hinaus ist es für eine angemessene Be¬ urteilung der Schrift von Belang, daß sich im Templerprozeß eine Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat vollzog, die der französische König für sich entscheiden konnte: Das Verhältnis von kirchlicher und staatlicher Macht war ein Problem, das auch die Aufklärer engagiert diskutierten, wobei Nicolai und wohl die meisten seiner Gesinnungsgenossen jegliche kirchliche oder gar päpstliche Einflußnahme auf den Staat prinzipiell ablehnten. Schließlich wurde der Templerprozeß von den Aufklärern, die sich mit ihm beschäftigt hatten, als charakteristischer Fall mittelalter¬ licher Inhumanität angesehen, wodurch zum Beispiel bei Chri¬ stian Thomasius und bei Herder die geschichtliche Darstellung des Problems zu einer Anklage unmenschlicher Justiz und zu einer Apologie des Ordens geriet. Hiermit setzte sich Nicolai aus¬ einander, ohne das auch für ihn verpflichtende Postulat der Huma¬ nität aufzugehen: »Es war natürlich, daß der Abscheu für die Grau¬ samkeit, mit welcher man die Tempelherren als Ketzer hinrichtete, Menschenfreunde geneigt machte die Unterdrückten zu vertheidigen; so wie es auch sehr begreiflich ist, daß französische Schrift146

steiler ihres Königs, und katholische des Pabstes sich annahmen. Wenn ich aber nicht irre, so haben sich alle Theile von ihrer Nei¬ gung zu weit treiben lassen.«33 Wichtig an diesem Urteil aber ist vor allem, daß Nicolai eine Trennung des aufgeklärt-moralischen Urteils von der historischen Forschung und Darstellung forderte und darüber hinaus jede Parteilichkeit, stünde sie nun im Dienste kirchlicher oder weltlicher Macht beziehungsweise im Dienste der Humanität, für die Geschichtsschreibung ablehnte: Nicolai for¬ derte also Objektivität historischer Erkenntnis. So ist diese Dar¬ stellung Nicolais nicht zuletzt Kritik am Einfluß von Ideologien und moralischen Wertungen auf die Geschichtsschreibung. Die Untersuchung Nicolais dokumentiert auch hier ein bis in Detailprobleme gehendes Interesse an ganz speziellen, geradezu antiquarischen Fragen. Sie zeigt eine erstaunliche Kenntnis der katholischen Dogmengeschichte sowie eine überraschende Auf¬ geschlossenheit für Probleme, die einem Aufklärer-dem gängigen Urteil zufolge-fern liegen mußten: Wie alle Schriften Nicolais be¬ weist sie ein genuin historisches Interesse, das den jeweiligen durchaus vorhandenen aktuellen Anlaß im Prozeß der Forschung bald hinter sich ließ, wenn auch gelegentlich aufgeklärte Maßstäbe in der Interpretation nachweisbar sind, so zum Beispiel wenn Nicolai die Intoleranz der mittelalterlichen Kirche gegen ver¬ meintliche oder tatsächliche Häresien anprangerte.34 Die eigentliche Aktualität der Schrift lag aber nicht in aufge¬ klärtem Antiklerikalismus, sondern in der schon erwähnten Be¬ ziehung, in der sie zur Freimaurerei stand. Von einem Teil der freimaurerischen Hochgrade wurde die Behauptung verbreitet, die Maurerei habe in unmittelbarer Beziehung zu dem aufgehobe¬ nen Templerorden gestanden. Mit Hilfe von Arkanum und Mythen¬ bildung versuchten diese Gruppe, eine historische Legende zu schaffen, die ihren Einfluß vergrößern sollte. In der Fortsetzung von Lessings Freimaurergesprächen Ernst und Falk war, wenn auch in verschlüsselter Form, von den »neuen Tempelherren« die Rede gewesen. Danach empfand sich das Hochgradsystem der »Strikten Observanz« als legitimer Nachfolger des TempelherrenOrdens und ahmte dessen Brauchtum nach.35 Außer Lessings Be¬ hauptungen zur Geschichte der Freimaurerei in Ernst und Falk sowie Entwürfen dazu sah sich Nicolai einer Flut von Schriften und Legenden gegenüber.36 Nicolai selbst übte zunehmend Kritik an der Arkanpraxis und dem Hochgradsystem der Freimaurer-Orden. Höhepunkt seiner Auseinandersetzungen in dieser Angelegenheit war 1788 seine Öffentliche Erklärung, nachdem er bereits vorher aus der »Loge zu den drei Weltkugeln« ausgetreten war.37 Zur Zeit seiner Untersu¬ chung über die Entstehungsgeschichte der Freimaurerei war er 147

jedoch noch Mitglied, und so ist sein Bemühen um historische Ob¬ jektivität auch in der Entstehungsgeschichte der Freimaurerei ebenso hervorzuheben wie sein Mut, über diese Materie eine sach¬ liche Untersuchung zu liefern: Der Versuch kam einer »Entmythologisierung« der Geschichte der Maurerei gleich und verfolgte so einen »aufklärenden« Zweck. Der nächste Bereich seiner Untersuchungen steht ebenfalls in enger Verbindung mit der Entstehungsgeschichte der Freimaure¬ rei. Es handelt sich hierbei um die Geschichte der älteren Rosen¬ kreuzer und Johann Valentin Andreäs (1586-1654), dem in Nicolais Erklärungsversuch und Hypothesenbildung eine wichtige Bedeu¬ tung zukommt.38 Nicolai hob ihn scharf ab von den einflußreichen gegenaufklärerischen Tendenzen der Gold- und Rosenkreuzer um die späteren preußischen Minister Bischoffwerder und Woellner, deren religiöses Schwärmertum Einfluß auf den zukünftigen König Friedrich Wilhelm II. gewonnen hatte. Auch in diesem Fall übte Nicolai auf dem Umweg über die Ge¬ schichte Kritik an der politischen Entwicklung, aber wie in den anderen Schriften ließ er sich nicht dazu verführen, seine For¬ schungen durch einen zu engen Bezug zur Gegenwart verküm¬ mern zu lassen und so die Vergangenheit auf bloße Vorgeschichte der jeweiligen Gegenwart zu reduzieren. Nicolais Geschichts¬ schreibung hatte so eine doppelte Funktion: Sie diente der Aufklä¬ rung der Vergangenheit ebenso wie derjenigen der Gegenwart. Letzteres aber auf indirektem Wege: indem Geschichtslegenden zerstört wurden, mit deren Hilfe gegenwärtige Mächte sich eine Legitimation zu verschaffen suchten, die ihnen nicht zukam.39 Der Hauptgewinn40 liegt jedoch auch in diesen Schriften Nico¬ lais auf dem Gebiet der historischen Methode. Bevor über diese ge¬ sprochen wird, soll mit wenigen Strichen das letzte zentrale Gebiet Nicolaischer Geschichtsschreibung Umrissen werden. Kulturgeschichte Die sprachgeschichtlichen Arbeiten werden hier ausgeklammert zugunsten einer Darstellung der kulturgeschichtlichen Haupt¬ arbeit, der 1801 erschienenen Geschichte der falschen Haare und Perrucken41, die exemplarisch Nicolais historisches Interesse be¬ legt, das sich mit dem gleichen Eifer einer zunächst vollkommen »antiquarischen« Historie wie der aktualitätsbezogenen zuwandte. Indem er aber auf eine vordergründige Gesellschaftsrelevanz ver¬ zichtete, gelang es ihm, in den Schlußabschnitten seiner Schrift, moderne Fragestellungen vorwegnehmend, Kulturgeschichte mit Sozialgeschiehte zu verquicken und auch wirtschaftspolitische Aspekte der Mode zu berücksichtigen. 148

Die Perückengeschichte Nicolais ist ausschließlich aus eigenem Quellenstudium erwachsen. Außer den genannten Bildnissen zog er Münzen, Texte antiker Autoren sowie der Kirchenväter, Predig¬ ten, Synodalbeschlüsse, mittelalterliche Chroniken, landesherr¬ liche Erlasse, Steuerverordnungen und anderes mehr heran und wertete dieses Material methodisch korrekt aus. Die Studie, die von der Antike bis zum achtzehnten Jahrhundert reicht, behandelt das Vorkommen der Perücken in mehreren europäischen Ländern. Nicolai beschrieb verschiedene Faktoren, die die Verbreitung der Perückenmode begünstigten. Er interpretierte die Mode aufgrund des Materials sozialgeschichtlich und nahm schließlich Bezug auf aktuelle Änderungen der Mode im Verlauf der Französischen Revo¬ lution. Gegen Schluß seiner Untersuchung überschritt er die Gren¬ zen einer streng wissenschaftlichen Darstellung der Perückenge¬ schichte und gelangte zu einer weitreichenden Interpretation: Die Perücke gewinnt die Dignität eines Symbols für alles Nutzlose im Prunk des absolutistischen Hofes, sie wird zu einer Belastung nicht nur des Kopfes, sondern auch einer vernünftig-aufgeklärten Politik, und so schaffte König Friedrich Wilhelm I. die Perücke bei Hofe ab, woraus Nicolai schloß: Ohne diese Veränderung wäre »der preußische Staat... nie geworden... was er geworden ist: denn mit der großen Perrucke warf Friedrich Wilhelm I. zugleich allen andern Prunk und alle Ceremonien weg, die soviel Zeit und Geld kosteten und ernsthafter als die Landesverbesserungen behandelt wurden.«42 Die weiteren Ausführungen und Wertungen Nicolais verdeutli¬ chen, welchen Kontrast er hier sah: dem vom Hofleben bestimmten französischen Königtum und dem brandenburgisch-preußischen König Friedrich I. stellte er dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm I. und Kaiser Joseph II. gegenüber, denen in Nicolais Augen auf¬ geklärt-bürgerliche Rationalität Richtschnur ihres Handeln war und die daher allen überflüssigen Prunk, sonst Kennzeichen des Hoflebens, ablehnten. Auf diese Weise schafften sie geistigen und finanziellen Raum für die Maßnahmen, die dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft dienten, die Preußen zu seiner Bedeu¬ tung verholfen und es von überholten Traditionen wie von über¬ flüssigem Ballast befreit hatten. Die Abschaffung der Perücken interpretierte Nicolai als Ausdruck einer Haltung, die Moden nicht über sich herrschen ließ - Moden, die er auch im philosophischen Bereich herrschen sah: Aus der Geschichte der Perücken folgerte Nicolai, diese könnten »sowohl in Rücksicht ihrer veränderlichen Gestalt als ihrer Vergänglichkeit, und gewissermaßen auch in der Rücksicht, daß sie mein' scheinen als sind, noch für bessere Sinn¬ bilder philosophischer Systeme« gehalten werden als die Hüte.43 149

II. Die historische Methode Nicolais Kritik und Interpretation der Quellen Liegt bereits in den Inhalten der Geschichtsschreibung Nicolais manches, was ihn für eine Geschichte der Historiographie inter¬ essant macht, so gilt das in noch weitaus größerem Maße für seine methodischen Erkenntnisse. An erster Stelle ist hier nach seiner Auffassung vom Wert der Quellen und der Methode ihrer Auswer¬ tung zu fragen. In allen historischen Schriften betrieb Nicolai intensive Quel¬ lenforschung. Gegen Herder, der seine Untersuchungen über Templer und Freimaurer unsachlich und ohne hinreichende Quel¬ lenkenntnis angegriffen hatte, wandte Nicolai ein: »...e'me Aufklä¬ rung ohne Gründe, eine historische Aufklärung ohne Dokumente, ist gar keine Aufklärung.«44 In den Anmerkungen über Zimmer¬ mann betonte der Redakteur Nicolai, er habe »bey jedem Satz des Hrn. v.Z., von dem er spricht, allezeit die Wahrheit oder Falschheit derselben aufs genauste aus den Quellen untersucht.«45 In der Templergeschichte weist Nicolai distanzierend auf Autoren hin, die anders als er vorgegangen waren. Die eigenen Prinzipien faßte er in folgender Passage zusammen: »Will man eine wahre Ge¬ schichte liefern, so muß man nichts als gewiß behaupten, wovon man nicht einen historischen Beweis führen kann, und dieser muß aus den rechten Quellen, aus gleichzeitigen Geschichtsschreibern und aus Urkunden geführt werden, und noch müssen hierbey alle Umstände wohl erwogen werden. Besonders muß man bedenken, daß nicht alle ähnliche Dinge, die zu verschiedenen Zeiten ge¬ wesen sind, deshalb zu einer Klasse gehören: Post hoc non est propter hoc!... Muthmaßungen und Hypothesen sind nicht histo¬ rische Beweise. Sie können, in Ermangelung dieser, ihren Werth haben, hauptsächlich Spuren in der Dunkelheit der Geschichte zu finden, doch können sie nur beybehalten werden, in so fern sie mit andern sichern Nachrichten übereinstimmen, und durch Zusam¬ menstellung mehrerer Umstände können wahrscheinlich gemacht werden. Aber Thatsachen die nicht zusammengehören zusam¬ menzwingen, Jahrhunderte überspringen, und keine Wider¬ sprüche mit der Geschichte achten, wenn man nur etwas herbeyziehen kann, was zu einem Vorgesetzten Zwecke dienlich scheint, heißt nicht Geschichte schreiben, sondern träumen.«4® In nuce de¬ monstrieren diese Sätze die methodische Quintessenz von Nicolais Geschichtsschreibung: die zeitgenössische Quelle als Grundlage jeder historischen Arbeit, ihre Interpretation im spezifischen historischen Kontext, die Trennung des mit Hilfe der Quellen Be¬ weisbaren vom bloß Wahrscheinlichen, Hypothesenbildung sowie, voneinander geschieden, Chronologie und Kausalität. Diese Pro150

grammpunkte, die noch einer etwas genaueren Beleuchtung be¬ dürfen, zeigen an, daß den gleichzeitigen historischen Quellen in Nicolais Methode zwar Autorität zukommt, daß er aber nicht der Meinung war, damit seien die Probleme wissenschaftlicher Ge¬ schichtsschreibung schon gelöst47. Vielmehr erkannte er auch die weiteren Grundbestandteile der modernen Geschichtsforschung: Erstens forderte er eine gründliche Quellenkritik und zweitens er¬ örterte er das Problem der Quelleninterpretation. Nicolai hatte sich in seinen Anekdoten FriedrichsII. und in sei¬ nen Anmerkungen über Zimmermann zum Teil auf Zeitgenossen stützen müssen, die an den Ereignissen unmittelbar beteiligt waren. So erkannte er die Problematik von Zeugenaussagen, als er der »wahren Beschaffenheit mancher Anekdoten gleich bey ihrem Ursprünge nachforschte. Nachher gehen sie noch dazu gemeinig¬ lich aus Mund in Mund, jeder setzt zu oder nimmt ab, nach eige¬ nem Wohlgefallen, und so sind sie am Ende entweder als Schnee¬ bälle vergrößert, oder fahren als Dunst auseinander, so daß fast nichts mehr übrig bleibt.«48 In den Anmerkungen über Zimmer¬ mann versuchte er zum Beispiel mit Hilfe von Stiluntersuchungen sowie unter Berücksichtigung charakterlicher Eigenheiten nach¬ zuprüfen, ob bestimmte Aussagen einer historischen Person tat¬ sächlich von ihr stammten, wie es Zimmermann behauptet hatte. Und er hielt Zimmermann vor, er hätte bei der Quellenauswertung »behutsam und mit historischer Kritik zu Werke gehen, wenigstens entweder seine Gründe für die vermeinte Zuverlässigkeit deutlich anführen, oder sie nicht für zuverlässig ausgeben müssen.«49 Ähn¬ liche Äußerungen zur Quellenkritikfinden sich in Nicolais histori¬ schen Schriften zuhauf.

Hypothesenbildung Die sinnvolle Interpretation von Quellen ist, wie Nicolai immer wieder betonte, nur in Kenntnis ihres Kontextes möglich. »Der Bedakteur dieser Anmerkungen hat alles, was von dieser Ge¬ schichte, sowohl durch mündliche Erzählungen solcher Personen denen man Kenntniß davon Zutrauen kann, als in gedruckten Schriften aufzufinden gewesen ist, sorgfältig und unpartheyisch gesammelt, und diese Nachrichten sowohl unter sich selbst, als mit der gleichzeitigen Geschichte verglichen.«50 Aus der Forderung, die Quelleninterpretation im Horizont der als sicher bekannten historischen Fakten eines Problems durchzu¬ führen, ergab sich - wie der zitierte Abschnitt zeigt - ein weiterer konstitutiver Bestandteil von Nicolais historischer Methode. Da es, wie Nicolai in seinen eigenen Forschungen, besonders zur Ge¬ schichte der Freimaurer und Templer, oft bemerkt hatte, die Quel151

lenlage häufig nicht zuläßt, die zu untersuchenden Probleme zwei¬ felsfrei aus den Primärquellen zu klären, bedarf der Historiker der Hypothesenbildung, wozu auch Analogieschlüsse zählen. Hier gilt wie für die Quellenbewertung das Prinzip, die Hypothesen dürfen den bewiesenen Fakten und gesicherten Quellen nicht widerspre¬ chen. In Anwendung auf einen konkreten Fall schrieb Nicolai: »Indessen kann man immer über die Wahrscheinlichkeit oder Un¬ wahrscheinlichkeit der verschiedenen Vermuthungen durch sorg¬ fältige Vergleichung bekannter Umstände urtheilen.«51 Nicolais Kombination von Quellenforschung und Hypothesenbildung manifestiert sich in folgendem Zitat: »Allerdings ist eine Ge¬ schichte, ohne alle Dokumente, und nur auf Hypothesen gebauet, so gut als gar nichts; allein wenige oder eigentlich durchaus keine Geschichten sind ja auf lauter fortgehenden Dokumenten gegrün¬ det, und Niemand darf sagen, daß wo zuweilen Dokumente fehlen nur Hypothesen zu erwarten ständen. Wenn über alte und neue Be¬ gebenheiten zwey oder drey glaubwürdige Erzähler sich wider¬ sprechen, muß man alsdann nicht das Wahrscheinlichste wählen, oder die verschiedenen Nachrichten zu vereinigen suchen? Dies geschieht aber durch geprüfte Hypothesen. Ihr Werth ist unver¬ kennbar, und eben bey ihnen kann die echte historische Kritik vor¬ züglich gebraucht werden.«52 Der Bedingungszusammenhang, in dem Nicolai zufolge eine Hypothesenbildung erfolgen muß, geht jedoch über das unmittelbare Umfeld eines Einzelproblems weit hinaus: Eine Hypothese muß dem Geist der Zeit entsprechen. Auf dieses zentrale Postulat ist noch einzugehen. Erklären und Verstehen Immer ging es Nicolai darum zu erklären, wie etwas entstand, wie etwas war, wodurch das Handeln historischer Persönlichkeiten motiviert wurde und wie die Motive erklärbar sind. In bezug auf diese Fragen ist er Anhänger der pragmatischen Methode53, die un¬ verzichtbarer Bestandteil der Geschichtsschreibung der Aufklä¬ rung war und die schon Polybios begründet hatte. Mit Hilfe dieser Methode wurde die bloß chronologisch verfahrende Annalistik überwunden beziehungsweise ergänzt: Zur zeitlichen Dimension der Geschichte trat die kausale. Es war das Ziel, die Gründe histori¬ scher Ereignisse und deren innere Zusammenhänge aufzudecken. Darüber hinaus hatte pragmatische Geschichtsschreibung zur Aufgabe, die Nachgeborenen zu belehren. Zu diesen Zielen der Historie bekannten sich außer Nicolai - um nur einige zu nennen auch Kant, Möser, Gatterer, Johannes von Müller. Von Bedeutung für die Geschichte der Historiographie ist es, daß Nicolai das Prin¬ zip kausaler Herleitung und Zuordnung historischer Ereignisse 152

ergänzte: Außer Ursache und Wirkung, außer den Konditionen, in denen eine historische Person steht, berücksichtigte er auch deren Intentionen. Und dies in einem doppelten Sinn: einmal im pragma¬ tischen Sinn der Erklärung von Handlungen, dann aber vor allem in dem Sinn, etwas aufgrund seines zeitlichen Abstandes und seiner individuellen Unterschiedenheit Fremdes verstehbar zu machen. So forderte Nicolai, Zimmermann hätte sich ganz in den Gesichtspunkt Friedrichs II. setzen müssen, um ein bestimmtes Problem lösen zu können. An diesem Punkt des konsequentesten Pragmatismus beginnt seine Überwindung. Sie gründete zunächst im Ansatz zum Verstehensbegriff54, und sie hatte eine weitere Ur¬ sache in der schon erwähnten Erweiterung der Zahl der historicae personae um die Untertanen, denen bei Nicolai ein Nationalcha¬ rakter zugesprochen wurde, den der Monarch nicht prinzipiell ändern könne.55 Der Regent stand zwar in den Anmerkungen über Zimmermann aufgrund seiner realen Macht im Mittelpunkt der Darstellung, doch führte Nicolai keineswegs mehr jede wichtige Wirkung innerhalb des Staats wesens auf ihn zurück: An Stelle einliniger Kausalitätsbeziehung trat eine Wechselwirkung, in der die Untertanen in den Prozeß von Beharrung und Veränderung inner¬ halb einer historischen Situation einbezogen wurden. Daß Nicolai diesen Schritt über den bloßen Pragmatismus hinaus gerade am Beispiel des bedeutendsten Herrschers seiner Zeit vollzog, bei dem die Anwendung der rein pragmatischen Methode näher gelegen hätte als im Falle eines unbedeutenden und schwachen Regenten, spricht für seinen historischen Sinn. Eben dadurch sowie durch die Erweiterung der Themen auf wirtschafts- und bevölkerungsgeschichtliche, kirchen- und kultur¬ geschichtliche Fragestellungen entstand eine Komplexität histori¬ schen Lebens und einzelner Situationen, die nur noch partiell mit dem Schema Ursache-Wirkung erfaßt werden konnte. Eine solche Methode, die noch zur Erklärung des Herrscherwillens hinreichte, war allein nicht mehr geeignet, die Fülle geschichtlichen Lebens adäquat zu erfassen: Es gab eine zu große Zahl historischer Sub¬ jekte und anonymer Ursachen, eine zu große Zahl historischer Pro¬ bleme, es gab das allzu Fremde in der Vergangenheit. Der bloßen kausalen Erklärung mit Hilfe der Kategorien von Ursache und Wir¬ kung fehlte allein schon aufgrund des historischen Quellenbestan¬ des häufig die Möglichkeit, einzelne Ursachen als zureichend und zwingend zu interpretieren. Dieses Verfahren reichte nicht aus, Individualitäten als solche zu erfassen, da sein überzeitlich-logi¬ scher Charakter ungeeignet war, das je Spezifische der Historie an gemessen auszudrücken. Hier überschritt Nicolai die Grenze der pragmatischen Methode in einem weiteren, schon kurz angedeute¬ ten Bereich, ohne sie freilich aufzugeben.

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Nicolai kritisierte an zahlreichen Stellen seines Werkes die Übertragung der eigenen zeitbedingten Maßstäbe auf vergangene Epochen. Zum Beispiel bemängelte er, daß Mirabeau in seinem Buch Sur la monarchie prussienne die Wirtschaftspolitik Fried¬ richs II. nicht nach dessen merkantilistischen Prinzipien - die Nicolai teilte sondern nach den eigenen physiokratischen Vor¬ aussetzungen beurteilt und mißverstanden habe.56 Eine ähnliche Kritik findet sich in seiner Tempelherrenuntersuchung, wenn er sich dagegen verwahrte, die Beschuldigungen, die den Templern gemacht wurden, schon deshalb als ungerechtfertigt anzusehen, weil sie nicht den Vorstellungen des achtzehnten Jahrhunderts ent¬ sprachen. Die Eigenheit von Nicolais Interpretation lag in der De¬ monstration solch epochaler Spezifik: Für die damalige Zeit, ihre besonderen Verhältnisse und die geistlichen Voraussetzungen der Tempelherren seien diese Vorwürfe keineswegs so absurd und un¬ wahrscheinlich wie der Maßstab des achtzehnten Jahrhunderts nahelege. Nicolai wollte dieses Problem der mittelalterlichen Ge¬ schichte ausdrücklich mit Hilfe des Rückgriffs auf damals mögliche Vorstellungen lösen, nicht mittels ahistorischer Projektionen der eigenen Zeit: »Es ist wenigstens unrecht, übereinstimmende historische Zeugnisse, ja sogar eigene Bekenntnisse, bloß durch eine nicht einmahl richtige Vergleichung mit unsern jetzigen Sit¬ ten, umstoßen zu wollen.«57 Ein weiteres Zitat stehe statt \ieler ähnlicher Aussagen: »Es sind... so viele Beyspiele vorhanden, daß die ungereimtesten Lehren zumal in der Theologie, mit dem besten Willen, und aus dem besten Herzen entstanden sind. Es käme darauf an, sich sorgfältig umzusehen, ob nicht in der Ge¬ schichte, in den Sitten, in den Lehren, in den Meynungen der da¬ maligen und damals schon vergangenen Zeit etwas bekannt seyn könnte, wodurch die Tempelherren hätten auf diese Sache ge¬ bracht werden können.«58 Der Begriff Geist der Zeiten, Zeitgeist, erstmals 1769 von Herder in den Kritischen Wäldern benutzt59, nachdem vorher schon Zinzendorf 1739 vom »Genius unserer Zeit« gesprochen hatte, tauchte im letzten Jahrhundertdrittel bei verschiedenen Historikern auf.60 Selbst wenn es sich bei den Geschichtsschreibern des achtzehnten Jahrhunderts immer noch mehr um »der Herren eignen Geist« handelte, wie Goethe im Faust sagte61, so wurde mit dem Begriff doch allmählich auch das Phänomen erfaßt: Dies galt in hervor¬ ragendem Maße für Nicolai, der kaum einmal auf die Forderung verzichtete, historische Phänomene nach den Voraussetzungen ihres eigenen zeitlichen Kontextes zu beurteilen. Ein Beispiel un¬ ter vielen ist es, wenn er in der Reisebeschreibung über die alten Häuser in Augsburg schrieb, sie seien nicht nach »Winckelmanns Maßstäben« zu beurteilen, vielmehr seien sie »Bilder des Zeit-

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alters, wo sie gebauet waren. Sie sind Denkmäler des ehemaligen Flors dieser Stadt.« Beurteilen könne man sie nur dann, wenn man sie mit den »bürgerlichen Häusern« ihres Zeitalters »in Verglei¬ chung setze«.62 Im gleichen Sinne stellte Nicolai in seiner Auseinandersetzung mit dem kantianischen Historiker Pölitz einen Altphilologen als vorbildlich hin, der versuche, »mit großer Sorgfalt die eigentlichen Meynungen der alten Philosophen und deren Zusammenhang, aus den Quellen, ohne Rücksicht auf irgend eine neue Philosophie dar¬ zulegen!«63 Rein Zweifel: Nicolai gehört zu denjenigen, die die Eigenart - in geringerem Maße auch die Eigenwertigkeit - des Historischen erfaßten und dadurch einem neuen geschichtlichen Bewußtsein Bahn brachen. Sein Bemühen, »Geist der Lehrart einer jeden Zeit,... wie sie sich nach und nach bis auf die jetzige ver¬ ändert hat, als auch die Sitten jeder Zeit, ihre Abstufung und schnelle Veränderung .. ,«64 zu begreifen, prädestinierte Nicolai dafür, zwei entscheidende Voraussetzungen historischen Den¬ kens - Individualität und Totalität historischer Phänomene - zu erfassen.65

Das Prinzip der Objektivität Die zeitliche Distanz zum Forschungsobjekt wurde in Nicolais ge¬ schichtlichem Denken zu einer qualitativen. Aus dieser Einsicht empfing der letzte Kerngedanke Nicolaischer Geschichtsfor¬ schung Impulse, nämlich das schon erwähnte Postulat der Ob¬ jektivität. So hatte er vom Geschichtsschreiber (Friedrichs II.) gefordert: »Insonderheit muß er viel Fleiß, Wahrheitsliebe und Unpartheylichkeit haben, nebst einer gezüchtigten Einbildungskraft. Diese werden ihm dienen, die richtigen Nachrichten aufzusuchen und sorgfältig zu prüfen, hernach aber auch die Vorfälle genau so darzustellen, wie sie wirklich durch diese Nachrichten bestimmt werden, und weder etwas dazu noch davon zu thun ...«66 Nicolai, der mit diesen Sätzen schon nahe an dem ist, was Ranke später als Aufgabe der Geschichtsschreibung bestimmte, nämlich darzu¬ stellen, »wie es eigentlich gewesen ist«, postulierte hier, wie an anderen Stellen, Objektivität als Richtschnur der historischen For¬ schung, womit er das regulative Prinzip von Wissenschaft über¬ haupt aussprach. Es ist bei dieser Wurzel bürgerlicher Wissen¬ schaft, der bei Nicolai und anderen Autoren der Zeit der Terminus »Unpartheylichkeit«67 zugrunde hegt, natürlich zu beachten, daß das Postulat noch nicht die Ausführung verbürgt und sich inner¬ halb der Aufklärung wie anderswo zahlreiche Beispiele für Partei¬ lichkeit finden lassen. Von Bedeutung aber ist, daß solche Forde¬ rung innerhalb der Geschichtsforschung dieser Zeit überhaupt

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erhoben wurde. Objektivität galt Nicolai als verpflichtendes Ziel des Geschichtsschreibers - ohne Rücksicht auf das Urteil der Gegenwart und seine von ihm bestimmte persönliche Meinung: sie blieb durchaus erhalten, hier als Urteil des aufgeklärten Men¬ schenfreundes, dessen humanitäre Ideale eine kritische Haltung zum Gegenstand der Untersuchung bewirkten, doch durfte diese persönliche Meinung - und das ist entscheidend - keine Relevanz für die Untersuchung selbst beanspruchen. Die Trennung des Menschen des achtzehnten Jahrhunderts vom Erforscher einer historischen Epoche ist hier Programm. Der berechtigten und be¬ wahrten Parteilichkeit des Menschenfreundes und seinen morali¬ schen Wertungen wird-ohne die erstere aufzuheben-die unerlä߬ liche Unparteilichkeit und Wahrheitsliebe des Geschichtsforschers zugesellt. Nicolai problematisierte allerdings das Kriterium der Objektivität nicht, er reflektierte nicht hinreichend, daß auch jede empirische Erkenntnis von Voraussetzungen bedingt ist, die außerhalb des Erkenntnisgegenstandes liegen, und daß die bloße Forderung nach »Wahrheitsliebe« und »Unpartheylichkeit« nicht ausreicht, eine »objektive« Erkenntnis zu gewährleisten. Hier zeigte sich - wie in seinen erkenntnistheoretischen Prinzipien überhaupt - die Grenze seiner philosophischen Reflexion. Es war Nicolai unmöglich, Kants Kritik der Erkenntnis nachzuvollziehen: Obwohl er sich zeitlebens mit Kant auseinandergesetzt hatte, blieb Nicolai Anhänger eines wenig reflektierten Empirismus. Trotz des Fehlens einer eingehenderen Diskussion seines Objektivitäts¬ postulats war es aber ein großer Gewinn für die Wissenschaftlich¬ keit der Geschichtsschreibung gewesen, daß Nicolai diese Forde¬ rung überhaupt erhob, zumal er sie in seinen Forschungen und prinzipiellen Erörterungen mit Bausteinen einer Methodenlehre verband, die für die praktische Forschungsarbeit klare und in die Zukunft weisende Maximen beinhaltete. III. Die philosophischen Aspekte der Geschichtsauffassung Nicolais Vom Nutzen der Historie für die Aufklärung Es ist gezeigt worden, daß Nicolais historischen Schriften ein gro¬ ßes Verständnis für die Geschichte eignet, daß sie in thematischer wie methodischer Hinsicht zu denjenigen gehören, in denen Zu¬ kunftsweisendes für die Geschichtsforschung geleistet worden ist. Wie stellte sich nun im Werke Nicolais das Verhältnis von Aufklä¬ rung und Geschichte grundsätzlich dar, und in welcher Beziehung stand Nicolai zu geschichtsphilosophischen Ansätzen seiner Zeit? Nicolai setzte sich in der Mehrzahl seiner historischen Arbeiten mit der Geschichtsschreibung seiner Vorgänger auf den jeweiligen 156

Gebieten auseinander: Seine Untersuchungen sind über weite Strecken Kritik. Nicht im theoretischen Vorgriff entstand seine Methodenlehre, sondern in stückweiser Erarbeitung seiner methodischen Prinzipien als Kritik; sie erst klärte seine eigene Position. Insofern stand er in der Tradition eines Protagonisten der Aufklärung, Pierre Bayles, der wie Cassirer bemerkt, in seinem Dictionnaire historique et critique68 ein »Register von Fehlern« geben wollte. »Nirgends zuvor war mit solcher Strenge und Uner¬ bittlichkeit, mit solcher minutiösen Genauigkeit die Kritik der Überlieferung durehgeführt worden ... Und hier erst kommt seine wirkliche Genialität als Historiker zutage. Sie besteht... nicht in der Entdeckung des Wahren, sondern in der Entdeckung des Falschen.«69 Im Denken Nicolais diente die Kritik im gleichen Maß der Ge¬ schichtsforschung, wie diese im Dienste der Aufklärung stand: »Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor. In der Theolo¬ gie und Philosophie ist dieses sehr sichtlich; der, welcher nicht die allmähliche Entstehung und Veränderung der theologischen Dog¬ men, und die Meinungen der Philosophen ernstlich studirte, wel¬ cher sieh nie darum bekümmerte, wie eine aus der andern nach und nach entstand und hergeleitet ward, wird immer ein sehr ein¬ seitiger, kurzsichtiger Theolog und Philosoph bleiben.«70 Diese Sätze enthalten eine weitere Komponente der Geschichts¬ auffassung Nicolais: Die Geschichte erschien wie schon bei Cicero, in der Rolle einer »magistra vitae«. Sie leistete darüber hinaus einen Beitrag zur aufgeklärten philosophischen Anthropologie, in¬ dem sie eine tiefere Kenntnis der Mensc.hen-Natur vermittelte. Theologie und Philosophie wurden in ihrer Geschichtlichkeit er¬ faßt; indem sie Bestandteil der Entwicklung des menschlichen Gei¬ stes wurden, unterlagen ihre Aussagen historischer Relativität. Jede Zeit gewinnt so einen Horizont des ihr Möglichen und Ange¬ messenen, über den ein historisches Individuum bei aller Mannig¬ faltigkeit der Meinungen nicht hinausgelangen kann. In diesem Sinne bemerkte Nicolai über Philipp Jakob Spener: Bestimmte »dogmatische(n) Spitzfündigkeiten, die er gern vermieden hätte«, konnte er »nach dem Genius seines Zeitalters nicht vermeiden.«71

Tradition und Emanzipation In Nicolais Geschichtsauffassung gewann jede Kultur in ihrer Gesamtheit Individualität: Einzelne ihrer Bereiche nach Kriterien zu beurteilen, die ihr nicht gemäß sind, galt ihm als ebenso falsch wie der Versuch einer gewaltsamen, revolutionären Änderung des Ganzen oder einzelner Teile: »Alle Kultur ist relativ. Jede Kultur, welche höher ist als die Verfassung (im weitläufigsten Verstände

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genommen: Regierung, Lebensart, Kenntnisse, Industrie mit ein¬ begriffen) ist gewiß schädlich. Verfassung und Kultur und Natio¬ nalcharakter müssen schlechterdings einander entsprechen. Alle drey müssen nur verhältnismäßig verbessert werden, wenn die Verbesserung gründlich und nicht bloß glänzend werden soll.«72 Nicolai war in mancher Beziehung ein Gegner des Traditionalismus, gleichwohl leugnete er nicht die Tradition. Historische Konti¬ nuität stand neben historischem Wandel; Natur und Kultur des Menschen erkannte Nicolai - trotz mancher überhistorisch men¬ schenrechtlichen Implikationen seines Denkens - so als prinzipiell geschichtliche. Er ordnete sich und sein Zeitalter - Gesinnungs¬ genossen wie Gegner-an einem bestimmten Punkt innerhalb der historischen Entwicklung ein. Gleichwohl war sein Entwicklungs¬ begriff weder organologischen noch teleologischen Charakters. Nicolais Grunderfahrung ist das Bewmßtsein von der Wandlung alles Menschlichen im Verlauf der Geschichte. So bemerkte er 1775 in seinem Roman Sebaldus Nothanker. »... je mehr ich den Gang, den der menschliche Verstand in seiner Entwicklung von je her ge¬ nommen hat, bedenke, desto unmöglicher scheint es mir, daß alles so bleiben sollte, wie es vor zweihundert Jahren gewesen ist, und desto ungereimter scheint es mir, daß man, durch Vorschriften von irgendeiner Art, die Veränderungen der Meinungen und ihren Fortgang hindern will.«73 Ein Entwicklungsgedanke dieser allge¬ meinen Art findet sich sehr häufig im achtzehnten Jahrhundert. Nicolai hat jedoch die Ansätze zu einer Naturgeschichte des Men¬ schen, wie sie im achtzehnten Jahrhundert zum Beispiel in Her¬ ders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit anzu¬ treffen waren, nicht ausdrücklich bereichert. Gleichwohl akzep¬ tierte auch er aufgrund seines historischen Denkens die Prämisse einer solchen naturgeschichtlich fundierten Anthropologie, in der Natur- und Geschichtsbetrachtung koinzidieren konnten. Diese besonders durch Diderot74 vermittelte Prämisse beinhaltete die Umwandlung eines statisch-mechanistischen in ein dynamisch¬ organisches Weltbild. Die Konsequenzen dieses Vorgangs wurden grundlegend für das Verhältnis von Aufklärung und Geschichte: 1. Der Entwicklungsgedanke war die Voraussetzung zum Ver¬ ständnis der historischen Veränderungen und Verschiedenheiten in Geschichte und Gegenwart der Völker. 2. Der Statik gegenwärtiger Zustände wurde durch Dynamisie¬ rung der sie tragenden Vergangenheit der Boden entzogen. Gegen¬ wart als gewordene interpretiert, verflüssigt diese zur werdenden. Das nun anthropozentrische Weltbild ermöglichte es, aktiv in die¬ ses Werden einzugreifen und Geschichte zu gestalten. Aufgeklär¬ tes Geschichtsverständnis und aufgeklärtes Menschenbild standen so in Wechselwirkung. 158

3. Die Emanzipation des Menschen von der Herkunft zur Zu¬ kunft wurde durch die Wendung zur Vergangenheit konsequent fortgesetzt. Die Ablösung von Tradition durch Progression war - wie besonders das Werk Herders zeigt - durch das beginnende historistische Geschichtsverständnis mitbedingt. Nicolai, der in die Frühgeschichte des Historismus gehört, entwickelte ein spezifisch historisches Verständnis, indem er die Stufen der Zeit-Vergangen¬ heit, Gegenwart, Zukunft-aufeinander bezog. Sie erschienen ihm nicht durch einen Graben getrennt, sondern durch zahllose Über¬ gänge, Rückstände und Fortschritte verbunden. Die frühere unhistorische Kritik einiger Aufklärer hatte die erstarrten Traditio¬ nen, die auf der Gegenwart lasteten, erschüttert. Die auf diese Weise negativ belebte Geschichte konnte, nachdem die Gegenwart sich ihr anfangs als absoluter Fortschritt gegenübergestellt hatte, Eigenwert gewinnen, indem sie als Entwicklungsstufe dieses Fort¬ gangs angesehen wurde. Schließlich lag es in der Konsequenz, die Gegenwart selbst lediglich als jeweiliges Zwischenprodukt zu ver¬ stehen, das zur Zukunft hin offen war und von der Vergangenheit herkam. Die Gegenwart erfuhr dadurch eine zweifache Relativie¬ rung: Die neu entdeckte Vergangenheit nahm der Gegenwart ihr Monopol auf Aufklärung, ebenso stellte die Dimension Zukunft das Erreichte in Frage, historisierte Gegenwart, noch bevor sie Ver¬ gangenheit geworden war. Für beide Arten der Relativierung lie¬ ferte Nicolai ßeispiele; für die erste, wenn er die mittelalterliche Aristoteles-Rezeption aufgrund des arabischen Kultureinflusses analysierte und darin einen von außen kommenden Akt der Auf¬ klärung des Abendlandes sah75. Der zweite Aspekt findet sich bei Nicolai, wenn er den Absolutheitsanspruch vieler Kantianer in doppelter Zielrichtung bestritt, einmal durch Rerufung auf die Ge¬ schichte der Philosophie, zum Reispiel auf die erkenntnistheoreti sehen Eeistungen von Feibniz, zum andern durch den Hinweis auf die Zukunft: »Die Zeit würdigt alle Systeme, und wird auch von den Prätensionen der kritischen Philosophie soviel stehen lassen und soviel wegnehmen, als davon stehenzulassen und wegzuneh¬ men ist.«76

Empirische Geschichtsschreibung und normative Geschichtsphilosophie Es stellt sich die Frage, in welchem Maße Nicolai die Geschichte als Fortschritt betrachtete. In Nicolais Geschichtsauffassung hatte der Fortschrittsgedanke seinen Platz: Der Verwirklichung des Fort¬ schritts diente seine literarische und verlegerische Aufklärungs¬ praxis, doch war auch dieses Prinzip seinem Relativismus unter¬ worfen. Wie zum Beispiel Wieland bemaß er die Möglichkeiten des 159

Fortschritts an den historisch-empirisch erfaßbaren Wirklichkei¬ ten des Menschengeschlechts. Wielands Diktum umriß auch Nico¬ lais Position: »Um herauszubringen, was dem Menschen möglich ist, muß man wissen, was er wirklich ist und wirklich geleistet hat ... Im Grunde ist also alle ächte Menschenkenntniß historisch.«71 Die Aufklärung der Vergangenheit galt so als Teil der Aufklärung überhaupt, die auf dem Wege der »Erziehung des Menschenge¬ schlechts«78 den Fortschritt der Gattung herbeiführte. Das Werden der Vernunft in der Geschichte war identisch mit dem Weg des Fortschritts und der Aufklärung. So heißt es 1806 in Nicolais letzter historischer Schrift: »Die gesunde Vernunft entwickelt sich nur nach und nach, aber man ist auf dem besten Wege dazu, wenn man durch gesellschaftliche Bemühung und Gedankenwechsel Ueberlegung mit Erfahrung zu verbinden anfängt.«79 Diese Erfahrung ist nicht zuletzt historische Erfahrung. In ihr lag eine der Ursachen dafür, daß Nicolai die Transformierung der historischen Entwicklungs- und Fortschrittslehre in Geschichts¬ philosophie, wie sie unter anderem Kant vollzog, nicht mitmachte, sondern sich ihr scharf entgegenstellte. Kant nahm an, »daß, da das menschliche Geschlecht beständig im Fortrücken in Ansehung der Cultur, als dem Naturzwecke des¬ selben, ist, es auch im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei, und daß dieses zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen sein werde.«80 Die Notwendigkeit der menschlichen Naturanlage wurde hier zum Ursprung und Ziel einer vernünftigen Geschichte erklärt, die so lediglich in der Ausführung eines Vorgesetzten Zwecks bestand. Einen verifizierbaren Endzweck der Geschichte, in sie projiziert und durch eine normative philosophische Anthro¬ pologie, lehnte Nicolai hingegen ab. Bevor liier die Positionen gegenübergestellt werden sollen, ist ein Blick auf deren Konsequenzen und sozialgeschichtliche Inten¬ tionen von Interesse. Nicolais geschichtliches Denken führte zur modernen Geschichtsforschung, Kants Interpretation der Ge¬ schichte beeinflußte entscheidend die Geschichtsphilosophie. Er¬ innern wir uns der Gemeinsamkeiten in den Grundgedanken von Entwicklung und Fortschritt, so ist daraufhinzuweisen, daß diese Prinzipien nicht allein auf die Geistesgesehichte begrenzt waren, sondern hei Kant, bei Wieland und anderen politische Ziele impli¬ zierten. Deren soziale Basis war auch in der Geschichtsforschung Nicolais als neu erschlossener Themenbereich anzutreffen: als die nicht-höfische Welt der Arbeit und der Kultur, die Domäne des bür¬ gerlichen Standes, der gerade durch sie als der fortschrittliche Stand angesehen wurde. Die »bürgerliche Gesellschaft« galt als Gegenwelt einerseits zum natürlichen Zustand der Gattung

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Mensch, andererseits zur höfischen Gesellschaft, als die bis dahin letzte, an den rationalen Maximen der Aufklärung orientierte Ge¬ sellschaftsform. Mündete die Geschichte in sie, so zeigte der Gesehiehtsverlauf eine Tendenz zur Verbürgerlichung in Abwendung vom primär kirchengeschichtlich erfaßten geistlich-adligen Mit¬ telalter. Die weitere Entwicklung dieser geschichts-philosophischen Interpretation, von der sich Nicolai an einer bezeichnenden Stelle abwandte, verlief dann von impliziter sozialer Tendenz bei der bürgerlichen Aufklärung zur expliziten sozialen Parteilichkeit der Geschichtsauffassung bei Karl Marx: Er verstand den vierten Stand als den allgemeinen Stand81, analog zu den Intentionen, die den dritten Stand in der Französischen Revolution veranlaßt hatten, sich zur Nation zu erklären. Die Implikationen der auf¬ geklärten Geschichtsbetrachtung, Emanzipation und Parteilich¬ keit, wurden wenige Generationen später in der ausgebauten bürgerlichen Gesellschaft gegen deren Träger gewendet. An eben dem Punkt, an dem der Fortschritt innerhalb ge¬ schichtsphilosophischer Konzeptionen zur Notwendigkeit erklärt und zur theoretisch antizipierbaren Wirklichkeit wurde, berief sich Nicolai auf den empirischen Geschichtsverlauf und forderte seine objektive Erforschung. Darin unterschied sich Nicolai von allen Positionen, deren Geschichtsbetrachtung - wie Karl Löwith gezeigt hat - eine Säkularisierung des göttlichen Heilsplanes zur Geschichtsphilosophie82 zugrunde lag und die dadurch eine Ratio¬ nalisierung der Geschichte zu erreichen suchten. Dieser Prozeß enthüllte sich bei Kant als Wechselspiel von Geschichtsdeutung und Zukunftshoffnung. Seine Geschichtskonzeption mündete in das Postulat der Identität von Geschichtemachen und Geschichte¬ schreiben.83 Die Welt wurde so in der »wahrsagenden Geschichte der Menschheit« zu dem geformt, was sie sein sollte. In seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht exiphzierte Kant diesen Gedanken: »Ein philosophischer Versuch, die all¬ gemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich und selbst für diese Natur¬ absicht beförderlich angesehen werden.«M Auf diese Weise nahm die Geschichtsphilosophie selbst Einfluß auf die Geschichte, indem der philosophische Entwurf auf sie zurückwirkte. Nicolai sah in Kants geschichtsphilosophischer Konstruktion die Absicht, den Kategorischen Imperativ zur Herrschaft bringen zu wollen.85 Lehnte er ohnehin eine Tugendlehre ab, die absolute Geltung beanspruchte, die davon ausging, wie der Mensch sein soll, nicht wie er sich in Vergangenheit und Gegenwart tatsächlich gezeigt hatte, so erschien ihm dieser Entwurf als ßeispiel verfehl-

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ter Anwendung philosophischer Spekulation auf die »wirkliche« Geschichte. Nicolai selbst zog aus der Historie vielmehr die Lehre, daß sie jeden Absolutheitsanspruch theologischer und philosophi¬ scher Provenienz relativiere.86 Mit welchem Kerngedanken sich der Geschichtsschreiber Nico¬ lai geschichtsphilosophischem Denken entgegenstellte, dokumen¬ tiert die Auseinandersetzung mit dem schon erwähnten Pölitz: Über Geschichte könne man »nicht a priori argumentieren«.87 Er verwarf mit einem kantischen Terminus den »Dogmatismus in der Geschichtsschreibung« und kritisierte, Pölitz habe die ganze Uni¬ versalhistorie auf ein Prinzip zurückgeführt. »Hat er nicht dadurch die Geschichte, worin sonst der blöde Menschenverstand eine be¬ ständige Mannigfaltigkeit von verschiedenen Gesichtspunkten zu bemerken glaubte, völlig neu eingerichtet?«88 Die Gegensätzlich¬ keit beider Auffassungen verdeutlicht ein Zitat von Pölitz und Nicolais Kommentar dazu: »Wenn die Geschichte für ein vernünfti¬ ges Wesen Werth und Interesse haben soll, so muß sie uns den Gang entwickeln, den das menschliche Geschlecht von seinem En tstehen an bis jetzt genommen hat, um sich dem Zweck seiner Reife zu nähern!« Nicolais Anmerkung lautet: »Dieß hat bisher keine Ge¬ schichte gethan, und thun können, weil der Zweck der Reife des menschlichen Geschlechts neu erfundene Theorie ist...«89 Nicolais Ablehnung einer überhistorischen Determination des Menschen führte zur Zurückweisung jeder Gesehichtsteleologie. Diese lag in der Konsequenz des Schrittes von der Kausalität zur Teleologie, den innerhalb der Geschichtsbetrachtung des achtzehnten Jahr¬ hunderts Turgot (1751) vollzog.90 Aufgrund seines historisch-empirischen Menschenbildes und seiner klar entwickelten historischen Methode erklärte Nicolai, man müsse die Geschichte »nur nach dem, was man in historischen sichern Quellen findet, keineswegs aber nach einem vorher an¬ genommenen Princip schreiben!«91 Er kannte nur eine Art, sich angemessen mit der Geschichte zu befassen, nämlich die oben dar¬ gestellte Art der Geschichtsforschung. Er trennte nicht die Erfor¬ schung der Geschichte vom Denken über die Geschichte. Kant -und nach ihm Hegel-hatten diesen Unterschied betont, den Kants Epigonen, mit denen Nicolai sich vornehmlich auseinandersetzte, nicht immer berücksichtigten. Kant selbst hatte zu dieser Diffe¬ renz bemerkt, er wolle keineswegs mit seiner »Idee einer Welt¬ geschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen.. ,«92 Selbst wenn Nicolai nicht das erkenntnistheoretische a priori Kants als ein bloß temporales »vorher« mißverstehen würde, könnte er Kants Folgerung nicht akzeptieren, daß man die

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»Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen« könne.93 Wenn auch Nicolai gelegentlich von einem »philosophischen Geschichts¬ schreiber« sprach, so dachte er vor al lern an Voltaire94, von dem der Terminus »Philosophie de l’histoire« stammt. Nicolai würde aller¬ dings in dem weiten Sinne, den der Begriff Philosophie in der Aufklärung hatte, auch sich selbst als »philosophischen Geschichts¬ schreiber« einstufen, gemäß der Definition Christian Wolffs, für den »philosophische Geschichte« die »Anwendung der Urteils¬ kraft« auf eine Tatsache bedeutete. Im Unterschied hierzu begnüg¬ ten sich demnach die Gelehrten mit der bloßen Feststellung von Tatsachen.95 Nicolai tat beides, aber er suchte nicht nach einem Ziel der Geschichte. Die Rationalisierung der Vergangenheit er¬ strebte er vorwiegend in abgegrenzten Themen der Geschichts¬ forschung. Dabei konnte er mit anderen Aufklärern durchaus das Interesse gemein haben, mittels der Erforschung der Geschichte historisch bedingte Rechtspositionen der alten Mächte Kirche und Adel (weniger solche des Staates) anzugreifen, aber regelmäßig trieb ihn sein historisches Interesse darüber hinaus. Gleichwohl hatte Nicolais Art, Geschichte zu treiben, eine politische Konse¬ quenz, wie auch diejenige Kants zur Politik führte. Das zeigte sich in beider Verhältnis zur Französischen Revolution. Kant hatte seit seiner skeptischen Haltung in dem Aufsatz Was ist Aufklärung? (1784) seine Einstellung zur Revolution96 modifi¬ ziert, indem er bestimmte moralisch-geistige Elemente, die er in der Französischen Revolution und in ihren geistigen Wirkungen wahrzunehmen glaubte, bejahte. Im Abschnitt »Wahrsagende Ge¬ schichte der Menschheit« im Streit der Fakultäten erklärte er 1798: »ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der mensch¬ lichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politi¬ ker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprincipien im Menschengeschlechte vereinigt.. .«97 Nicolai stand der Revolution schon von Beginn an skeptisch gegenüber und lehnte sie schließlich ab.98 Er sah in ihr weniger das Vermögen der menschlichen Natur als ihr Unvermögen. Die Revo¬ lution hatte in ihrem tatsächlichen Verlauf den »Despotism der Freiheit« demonstriert.99 Kant dagegen suchte in der Revolution wie auch in der Ge¬ schichtsbetrachtung, was er aus ihnen als zukunftsweisende prin¬ zipielle Aussagen eruieren konnte. Er kam zu dem Schluß, daß die Möglichkeit der menschlichen Natur in der Zukunft zu ihrer wah¬ ren Bestimmung gelangen würde. Zufällig würde nur der Zeit¬ punkt sein.100 163

Kant fragte, »was wir thun« können, um den »immerwährenden Fortschritt zum Besseren« zu erhalten, und er antwortete, der Er¬ folg hänge allein davon ab, »was die menschliche Natur in und mit uns thun wird, um uns in ein Gleis zu nöthigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden«.101 Der Fortschritt in der Ge¬ schichte erlangte so einen unabänderlichen Charakter und ein Ziel, das der Philosoph in der »wahrsagenden Geschichte« bestim¬ men konnte, weil er die moralische »Anlage im Menschenge¬ schlecht« als Ursache und Ziel der Geschichte verstand. Diese drückte sich nach Kants Meinung in der geistig-sittlichen Anteil¬ nahme an der Französischen Revolution aus.102 Die hier allein interessierende Frage, was der Mensch seiner Anlage gemäß sein soll, kann nur die Ethik beantworten. Die zeit¬ liche Dimension dieses Sollens hatte eine Hinwendung zur Zu¬ kunft im Gefolge. Die geistig-sittliche Grundlage der Revolution wurde so als Vorspiel zukünftiger Verwirklichung des Postulats interpretiert. Der tatsächliche Verlauf der Revolution wurde eben¬ so zweitrangig103 wie die Frage nach der Realisierung der »wahren moralischen Natur des Menschen« in der Geschichte, ein Zwang zu politischer Praxis bestand hier nicht. Gegenüber dieser Annahme einer letztlich überhistorischen Menschennatur richtete Nicolai seine anthropologischen Prämis¬ sen wie seine politischen Folgerungen an der Vielfalt der ge¬ schichtlichen Existenz des Menschen aus: Nicht die ethisch be¬ gründete Möglichkeit des Menschen in der Zukunft galt ihm als Richtschnur, sondern die Wirklichkeit des Menschen in der Ge¬ schichte, aus ihr leitete er pragmatisch Folgerungen für die Beurteilung seiner gegenwärtigen Möglichkeiten ab. Alle echte Menschenkenntnis sei historisch: so hatte Wieland diese Position charakterisiert. Aber Nicolai drang darüber hinaus zum Gedanken der Eigenwertigkeit des Historischen vor und erschloß somit der Aufklärung, auf andere Weise als Kant, auf ähnliche Weise wie Möser, eine neue anthropologische Dimension.

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Anmerkungen 1 Vgl. zuletzt: Historische Forschung im 18. Jahrhundert: Organisation, Ziel¬ setzung, Ergebnisse. 12. Deutsch-Französisches Historikerkolloquium des Deutschen Historischen Instituts Paris (“Pariser Historische Studien 13), hrsg. von Karl Hammer und Jürgen Voss (Bonn, 1976). Die vorliegenden Überlegungen habe ich in einer früheren Fassung veröffentlicht unter dem Titel »Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung bei Friedrich Nico¬ lai: Zum Verhältnis von Aufklärung und Geschichte«, International Studies in Philosophy 7 (1975), 111-144. In größerem Zusammenhang bzw. unter anderer Thematik habe ich Nicolais Werk im Kontext seiner Zeit darge¬ stellt in Aufklärung in Preußen: Der Verleger, Publizist und Geschichts¬ schreiber Friedrich Nicolai, Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 15 (Berlin, 1974) sowie in »Landeskunde und Zeit¬ kritik im 18. Jahrhundert: Die Bedeutung der Reisebeschreibung Friedrich Nicolais als regional- und sozialgeschichtliche Quelle«, Hessisches Jahr¬ buch für Landesgeschichte 27 (1977), 107-134 und »Friedrich Christoph Nicolai - Rehabilitation durch Edition?«, Jahrbuch für Internationale Ger¬ manistik, Reihe A, 9 (1981), 105-112. 2 Wilhelm Dilthey, Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt (1901), in Gesammelte Schriften III, hrsg. von Paul Ritter (Stuttgart-Göttin¬ gen, 1969), 219-268. 3 Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus (2. München, 1946). 4 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (Tübingen, 1932), 2. 263-312. 5 Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend (Berlin-Stettin, 1786); photomechanischer Nachdruck Berlin, 1969. Im fol¬ genden abgekürzt zitiert als Berlin-Beschreibung. - Anekdoten von König Friedrich dem Zweyten von Preußen, und von einigen Personen, die um ihn waren; nebst einigen Zweifeln und Berichtigungen über schon gedruckte Anekdoten (Berlin-Stettin, 1788-92). Im folgenden abgekürzt zitiert als Anekdoten. - Freymüthige Anmerkungen über des Herrn Ritters von Zim¬ mermann Fragmente über Friedrich den Großen von ein igen brandenburgischen Patrioten (Berlin-Stettin, 1791-92). Im folgenden abgekürzt zitiert als Anmerkungen über Zimmermann. 6 Versuch über die Beschuldigungen, welche dem Tempelherrenorden ge¬ macht worden: Nebst einem Anhänge über das Entstehen der Freymaurer¬ gesellschaft (Berlin-Stettin, 1782). Im folgenden zitiert als Tempelherren. 7 Außer dem Anhang der in Anm. 6 genannten Schrift Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freymaurer, Veranlaßt durch die sogenannte historisch-kritische Untersuchung des Herrn Hofraths Buhle über diesen Gegenstand (Berlin-Stettin, 1806). Im folgenden zitiert als Anti-Buhle. 8 Über den Gebrauch derfalschen Haare und Perrucken in alten und neuern Zeiten. Eine historische Untersuchung (Berlin-Stettin, 1801). Im folgenden abgekürzt zitiert als Perückengeschichte. Zu dieser Rubrik gehören außer165

dem zahlreiche kleinere Beiträge, die zum größten Teil in der Berlinischen Monatsschrift, hrsg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester, Berlin 1783 ff. publiziert worden sind. Außerdem sind zu dieser Gruppe die sprachhistorischen Arbeiten zu zählen, die in den Anhängen des umfang¬ reichsten Werkes von Nicolai erschienen, der zwölfbändigen Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781: Nebst Bemer¬ kungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten (Berlin-Stettin, 1783/1796). Im folgenden zitiert als Reisebeschreibung. 9 Vgl. den Brief Nicolais an Gebier vom 10. Oktober 1779 in Bichard Maria Werner (Hrsg.), Aus dem josephinischen Wien. Gebler’s undNicolai’s Brief¬ wechsel während der Jahre 1771-1786 (Berlin, 1888), S.99f. Die zu dieser Zeit keineswegs selbstverständliche Erlaubnis zur Benutzung des Archivs erhielt Nicolai durch den Minister von Hertzberg. Vgl. Friedrich Nicolai, Berlin-Beschreibung, Band I, Vorrede. 10 Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflan¬ zung desselben erwiesen (Berlin, 1741). 11 Nicolai an Gebier, 10. Oktober 1777. In R. M. Werner (Hrsg.), Aus dem jose¬ phinischen Wien, S.87. Hervorhebung vom Verfasser, im übrigen stammen alle Hervorhebungen, die nicht ausdrücklich gekennzeichnet sind, von den zitierten Autoren selbst. Die orthographischen und grammatischen Fehler erklären sich aus dem Umstand, daß Nicolai den Brief nicht eigenhändig geschrieben, sondern einem - offenbar ungeübten-Schreiber diktiert hat. 12 Justus Möser, Osnabrückische Geschichte (1768 ff.), in Justus Mosers sämt¬ liche Schriften, Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Oldenburg-Berlin, 1943 ff.), Bände XII.1, XII.2 und XIII (Oldenburg-Hamburg, 1964-71). 13 Ludwig Timotheus Spittler, Geschichte Württembergs unter der Regierung der Grafen und Herzoge (Göttingen, 1783). Ders., Geschichte des Fürsten¬ thums Hannover seit den Zeiten der Reformation bis zu Ende des 17. Jahr¬ hunderts (Göttingen, 1786). 14 Vgl. Nicolais Rezensionen zu Spittlers genannten historischen Werken in Allgemeine Deutsche Bibliothek, 79, 1. Stück (1788), 27-62, zit. 28. Außer¬ dem zu Spittler: Nicolai in Band 82,1.Stück (1788), 29-51 und Reisebeschrei¬ bung, Band X, 31. 15 F. Nicolai, Anekdoten, I, xxvii f. Vgl. das positive Urteil von Reinhold Koser, Geschichte Friedrichs des Großen (Stuttgart-Berlin, 1914) IV, 124 f. 16 Nicolai, Anekdoten, 1, 152. 17 Vgl. a. a. O., Vorrede, S. x. 18 A. a. O., S. xvii f. 19 Vgl. den Briefwechsel Nicolai-Zimmermann: Nachlaß Nicolai I, Band 84, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Handschriftensammlung. Johann Georg Ritter von Zimmermann (1728-1795) wurde berühmt durch seine Schriften De Irritabilitate (Göttingen, 1751), Über die Einsam¬ keit (Zürich, 1756), Vom Nationalstolze (Zürich, 1758). In seinen letzten Lebensjahren polemisierte er mehr und mehr gegen die Aufklärung, der er

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Feindschaft gegen die Religion sowie gegen die Fürsten vorwarf. Dies be¬ zeugen neben anderen die Schriften über FriedrichlL: UeberFriedrich den Großen und meine Unterredungen mit ihm kurz vor seinem Tode (Leipzig, 1788) sowie die Fragmente über Friedrich den Großen zur Geschichte seines Lebens, seiner Regierung und seines Charakters (Frankfurt-Leipzig, 1790). 20 Zum Beispiel den preußischen Minister (bis 1791) Graf von Hertzberg. 21 Nicolai, Anmerkungen über Zimmermann, 1,9. 22 A.a.O., S.69 und Die Werke Friedrichs des Großen, hrsg.von Georg Berthold Volz (Berlin, 1912-14), 11,18. 23 R. Roser, Geschichte Friedrichs des Großen, IV,128 f. 24 Vgl. zu dem in Anm. 22 erwähnten Einzelpunkt Herbert Hassinger, Poli¬ tische Kräfte und Wirtschaft 1350-1800, in: Handbuch der deutschen Wirt¬ schafts- und Sozialgeschichte, hrsg.von Herman Aubin und Wolfgang Zorn (Stuttgart, 1971), 1,653. 25 Ihm brachte angeblich - wie noch in einem der neuesten Handbücher zur Geschichte der frühen Neuzeit zu lesen ist - »das aufgeklärte 18. Jahrhun¬ dert« kein Verständnis entgegen (vgl. Walther Hubatsch, Das Zeitalter des Absolutismus 1600-1789 (Braunschweig, 1965), S. 164. Tatsächlich preist Nicolai, Anmerkungen über Zimmermann, 1,30, den König als einen Regenten, der »Wunderdinge in seinem Leben gethan« habe. 26 A.a.O., S. 32. 27 Nicolai, »Voltaire der Reformator«, Allgemeine Deutsche Bibliothek, 21 (1774), 2. Stück, 375 f. 28 Vgl. Nicolai, Anekdoten, I, xviif. 29 Kritisch äußert sich Nicolai zu einzelnen Funkten der Fianzpolitik Fried¬ richs II., insbesondere der Franzosen an vertrauten Regie; dazu Anmerkun¬ gen über Zimmermann, 11,93. 50 Zimmermann an Nicolai, 19. März 1788. In Nachlaß Nicolai I, Band 84. 31 Vgl.Nicolai, Öffentliche Erklärung über seine geheime Verbindung mit dem Illuminatenorden; nebst beyläufigen Digressionen betreffend Hm. Johann August Stark und Hm. Johann Kaspar Lavater (Berlin-Stettin, 1768), S. 154 ff. Auch einige Kritiker von Nicolais Darstellung des Katholizismus führen seine Polemik darauf zurück, daß ihm dieser bis 1781 relativ unbe¬ kannt gewesen sei; so zum Beispiel Johann Gottlieb Fichte 1801 in dem wohl schärfsten Pamphlet dieser Zeit: »Friedrich Nicolai’s Leben und son¬ derbare Meinungen. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts«, Fichtes Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte (rpt. Berlin, 1971), VIII,42. 32 Vgl. dazu die späteren Angaben: Nicolai, Anti-Buhle, S.3 ff und meine oben in Anm. 1 erwähnte Untersuchung über Nicolai. Jetzt auch: Horst Möller, »Die Gold- und Rosenkreuzer - Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft« in Geheime Gesellschaften, hrsg. von Peter C.Ludz, Wolfenbiitteler Studien zur Aufklärung V,1 (Heidelberg, 1979), S. 155-202.

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33 Nicolai, Tempelherren 1,2. 34 A.a.O., S. 2, 13. 35 Vgl. die Anmerkungen des Herausgebers zu Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk: Mit den Fortsetzungen Johann Gottfried Herders und Friedrich Schlegels, hrsg. von Ion Contiades (Frankfurt, 1958), S.103. 36 Es handelt sich um »unkritische Versuche«, »einerseits die Unschuld der Templer, andererseits die Abstammung der Freimaurer von ihnen nachzu¬ weisen«. K. Schottmüller, Der Untergang des Templer-Ordens (Berlin, 1887), 1,5. 37 Vgl. dazu die Angaben seines Enkels Gustav Parthey, Jugenderinnerungen: Handschrift für Freunde, hrsg. von Ernst Friedei (Berlin, 1907), 1,116. 38 Über diesen Zusammenhang hinaus ist es für Nicolais Interpretation wich¬ tig, daß er Andreas Beformpläne im Bereich von Kirche, Gelehrsamkeit und Sitten als Beitrag zur Aufklärung ansieht. Vgl. Tempelherren, 11,184 und I, Anhang, 167. 39 ln seiner Schlußfolgerung ist Nicolai wieder echter Rationalist: Es nehme der Freimaurerei nichts von dem Guten, was solche Gesellschaften trotz allem hätten, wenn sie nicht zu dem grauen Alter hinaufstiegen, das man ihnen gern zulege. A.a.O., 1,163. 40 Die Geschichtsschreibung Nicolais über die Freimaurer und die Rosen¬ kreuzer enthält neben Unrichtigem viele Ergebnisse, die durch die moderne Forschung bestätigt wurden. Das gilt nicht für Nicolais Unter¬ suchung des Templerprozesses. Dies aber liegt nur in geringem Maße an Nicolai, vielmehr jedoch in der damaligen Quellenlage begründet: Noch hundert Jahre nach seinem Buch kamen die Spezialisten der Templerfor¬ schung, sieht man von einigen Hypothesen Nicolais ab, zu ähnlichen Er¬ gebnissen wie er. Erst neue Quellenfunde ermöglichten es 1907 Heinrich Finke, dieses Forschungsproblem bis heute gültig zu lösen: Papsttum und Untergang des Templerordens, Vorreformatorische Forschungen, IV,5 (Münster, 1907).-Vergleiche zwischen Nicolais Ergebnissen und dem der¬ zeitigen Forschungsstand finden sich in meiner in Anm.l erwähnten Buch über Nicolai, 364 ff. 41 Die Veranlassung dieser Untersuchung mag Nicolai aus seiner 6000 Stück umfassenden Sammlung von Gelehrtenbildnissen gewonnen haben. Aus ihr ergaben sich »mancherley Erinnerungen aus der Geschichte und Be¬ trachtungen über ehemalige Gebräuche... zum lebhaften Bilde vergange¬ ner Zeit«. Perückengeschichte, S.I. Die Sammlung entstand vermutlich aus Nicolais Interesse an der Physiognomik, ein Steckenpferd, das im acht¬ zehnten Jahrhundert weit verbreitet war und vor allem durch das Werk Lavaters überliefert ist. Wie viele analoge Phänomene belegt auch die Phy¬ siognomik die zentrale Bedeutung, die die »Menschenkunde« in dieser Zeit gewann. 42 A.a.O., S. 115. 43 A. a. O., S. iv. 44 Tempelherren, 11,122.

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45 Anmerkungen über Zimmermann, 11,28 f. 46 Tempelherren, I, Anhang, S.165f. Zur Autorität der Quelle vgl. 1,45. 47 »Bloß die Quellen machen noch nicht den Geschichtsschreiber«, hatte Nico¬ lai in den Anmerkungen über Zimmermann betont. 48 Anekdoten, I,xxix. 49 Anmerkungen über Zimmermann, 1,81. 50 A.a.O., S. 81 f. 51 Ebenda. 52 Anti-Buhle, Anmerkungen S.21. 53 Die im Text folgenden Elemente der »pragmatischen Methode« finden sich in ähnlicher Weise bei vielen Geschichtsschreibern des achtzehnten Jahr¬ hunderts ausgesprochen. Nicolai formuliert die Aufgabe der Geschichts¬ schreibung an einem Beispiel dahingehend, daß sie ein »lebhaftes Bild wie es um 1250 in Europa herging«, die -»Verbindung der Begebenheiten unter¬ einander. .. und eine pragmatische Folge einer aus der andern« zu geben habe (Reisebeschreibung, IV, 746-751). Vgl. auch J. Möser, Osnabrückische Geschichte, in Sämtliche Werke (Hamburg, 1964), XII,i, S. 42. Weitere Angaben finden sich in meiner in Anm. 1 genannten Untersuchung über Nicolai, 485 ff. 54 Hierbei handelt es sich deshalb lediglich um einen Ansatz, weil Nicolai sich zwar zum Ziel setzte, die Intentionen der historischen Personen nachzu¬ vollziehen und aus ihrer Zeit heraus verstehbar zu machen, nicht aber den Versuch unternimmt, die Bedingung der Möglichkeit des Verstehensaktes zu untersuchen, wie es der ausgebildete Historismus unternimmt. So heißt es in Droysens Historik über den »verstehenden« Historiker: »Der Verste¬ hende, wie er selbst ein Ich, eine Totalität in sich ist, wie der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der einzelnen Äußerung und die einzelne Äußerung aus dessen Totalität« (Johann Gustav Droysen, Historik: Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Ge¬ schichte, hrsg. von Budolf Hübner (Darmstadt, 1960) S.25). Fundamentale Bedeutung gewann die Untersuchung der Verstehensproblematik in der Philosophie seit Dilthey für die Geisteswissenschaften, zum Beispiel in dem Werk von Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert {Tübingen, 1926/1933), sowie innerhalb der gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Diskus¬ sion durch die Hermeneutik Gadamers. Schon für Nicolais historisches Er¬ kennen konstitutiv ist immerhin der zweite Teil des Droysen-Zitats: die Er¬ schließung der Totalität einer Persönlichkeit aus einzelner Äußerung und Tätigkeit wie umgekehrt. Bei Nicolai fehlt noch der Versuch, das Verstehen zu erklären aus der Intuition des Forschers, der als Individuum selbst Tota¬ lität, teilhat an derjenigen anderer Individuen. Der Ansatz zu diesem Ver¬ stehensbegriff liegt in der romantischen Hermeneutik Schleiermachers. Vgl. hierzu Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen, 1965), insbesondere pp.l62ff. und 172ff. Schon lange vorher hatte Giambattista Vico, Principi di una scienza nuova d'intorno alla comune natura delle nazioni (1725), die historische Erkenntnis auf ein analoges Prinzip zurückgeführt: Vico

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schließt, daß, da »die historische Welt ganz gewiß von den Menschen ge¬ macht worden ist...darum ihr Wesen in den Modifikationen unseres eige¬ nen Geistes zu finden sein muß; denn es kann nirgends größere Gewißheit für die Geschichte geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch er¬ zählt« (Die neue Wissenschaft, übersetzt von E. Auerbach, Reinbek, 1966, S.59; vgl. auch S.51f.). Vico aber hatte auf die Entwicklung aufgeklärten Ge¬ schichtsbewußtseins keinen Einfluß, erst Herder entdeckte ihn. In Droysens Historik fehlt jeder Hinweis auf Vico. 55 Wenn Nicolai sich auch dafür interessierte, welche »Wendung...der Cha¬ rakter von Nationen durch ihre Regenten nimmt«, so bemerkte er doch auch, es gebe etwas im Charakter einer Nation, das nicht durch die Zunei¬ gung gegen ihn genommen« werde. Anekdoten, I,xii. 56 Vgl. Anmerkungen über Zimmermann, 11,7. 57 Tempelherren, I, 76. 58 Ebda., S.98. 59 Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder (1769). In Sämmtliche Werke, hrsg.von Rernhard Suphan (Berlin, 1877.1913; Neudruck Hildesheim 19671968), III, 470. 60 .1.Möser zum Beispiel spricht in der »Allgemeinen Einleitung« zu seiner Osnabrückischen Geschichte vom »Costume der Zeiten« (Sämtliche JVerke..., XII,i,43). Vgl. zum Gebrauch des Begriffs in der Geschichtsschreibung F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 102 ff., 351 f. und Andreas Kraus, Vernunft und Geschichte: Die Bedeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18Jahrhundert (Freiburg-Basel-Wien, 1963) S. 100. 61 Goethe, Faust: Der Tragödie erster Teil (1808), Vers 578 (Werke, Hamburger Ausgabe, 111,26). 62 Reisebeschreibung, VII,44 ff. 63 A.a.O., XI, 223. Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772-1838) begann seine Uni¬ versitätslaufbahn als Philosoph, wurde aber bald Professor der Geschichte. Er verfaßte zahlreiche historische und staatswissenschaftliche Werke, unter anderem ein Handbuch der Weltgeschichte (Leipzig, 1805). 64 Reisebeschreibung, 1,56. 65 Zentral ist bei Nicolai - wie bei Möser - die Auffassung der Staaten als In¬ dividualitäten. Vgl. Leben Justus Mosers (Berlin-Stettin, 1797), S.25 f. und den Brief Mösers an Abbt, 1. April 1765 in Briefe, hrsg.von Ernst Beins und Werner Pleister (Hannover-Osnabrück, 1939), S.183. Vgl.auch F.Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 344. 66 Anmerkungen über Zimmermann, 1,9. 67 Zur Wortgeschichte vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, XI,3. Abt.; Sp.1223. Grimm datiert den ersten Beleg auf das Jahr 1618. Die aufgeklärte Defini¬ tion des Begriffs findet sich bei Nicolais Freund Joachim Heinrich Campe. In dessen Wörterbuch der deutschen Sprache, V.Teil (Braunschweig, 1811) S. 179 heißt es: »Die Neigung und Gewohnheit nicht nach Vorliebe, Vor-

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urtheil, sondern bloß nach gehöriger vernünftiger Prüfung zu urtheilen und zu handeln ...Von ihr verschieden ist die Parteilosigkeit (Neutralität) d. i. die Enthaltung von aller Parteinehmung und deren Äußerung...« 68 Rotterdam, 1697,2 vols. Fünfte erweiterte Auflage Amsterdam-Leiden 1740, 4 vols. Dieses Werk entsprang der Auseinandersetzung Bayles mit dem Werk des katholischen Theologen Louis Mordri, Le grand dictionnaire historique (1674), 10 vols. Bayle ist geradezu als der Protagonist quellen¬ kritischer Geschichtsschreibung anzusehen. 69 E.Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S.275. 70 Anti-Buhle, S.27. 71 Das Leben und die Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker (Berlin-Stettin, 1773-1776); neu hrsg. von Fritz Brüggemann (1938; 1967) in Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe Aufklärung vol. 15 (Darmstadt, 1938; 1967) S.155. Im folgenden abgekürzt zitiert als Sebaldus Nothanker. 72 Reisebeschreibung, VI,359. Diese Bestimmungen sind denjenigen von Mo¬ ses Mendelssohn sehr ähnlich. Vgl.»Ueber die Frage: was heißt aufklären?«, Berlinische Monatsschrift, 4 (1784), 194-197. 73 Sebaldus Nothanker, S. 153. Vgl. auch Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) in Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe (Ber¬ lin, 1900-1955), VIII,39. 74 Vgl. dazu Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 119 ff. 75 Vgl. Tempelherren, I,107ff., 115. 76 Reisebeschreibung, XI,249. 77 Wieland, Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller in der Absicht ihrer Nachrichten und Urtheile über Nationen, Regierungen und andere öffentliche Gegenstände (1785). In Werke, hrsg. von Heinrich Düntzer (Ber¬ lin, 1867-1879), XXXIII,173. 78 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780). In Sämtliche Schriften, hrsg. von Karl Lachmann und Franz Muncker (Stuttgart-Leipzig-Berlin, 1880-1924), XIII,415-436. 79 Anti-Buhle, S.62. 80 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793). In Gesammelte Schriften, VIII,308 f. 81 Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844). In Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut (Stuttgart, 1964), S.223. Ders., Die deutsche Ideologie (1845-1846), ebenda, S.367, 395,398. Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1848), ebenda, S. 345. 82 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen : Die theologischen Voraus¬ setzungen der Geschichtsphilosophie (Stuttgart, 1957). 83 Kant, Der Streit der Fakultäten (1798). In Gesammelte Schriften, VII,79 ff.

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84 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In Gesammelte Schriften, VIII,29. 85 Ueber meine gelehrte Bildung, ueber meine Kenntniß der kritischen Philosohie und meine Schriften dieselbe betreffend, und ueber die Herren Kant, Erhard und Fichte (Berlin, Stettin, 1799), S. 94-101. 86 Reisebeschreibung, XI,201. 87 Ebenda, XII, Anhang S. 11. 88 Ebenda, XI, 219 ff. 89 Ebenda, S. 219 f. 90 Vgl. A. Kraus, Vernunft und Geschichte, S.38 und K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S.951T. 91 Reisebeschreibung, XI,221. 92 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte. In Gesammelte Schriften, VIII, 30. 93 Ebenda, S. 27. 94 Voltaire.. .In Allgemeine Deutsche Bibliothek, 21,2. Stück (1774), 376. La Phi¬ losophie de l’histoire ist der Titel einer kleinen Schrift, die Voltaire 1765 ver¬ faßte und 1769 unter der Überschrift Introduction seinem Essai sur les mceurs et l’esprit des nations voranstellte. CEuvres completes (Paris, 1827), 111,15. Grundlegend für die moderne Geschichtsphilosophie wurde jedoch erst Herder mit seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch¬ heit (1784-1787). Dieser voran ging seine vor allem gegen Voltaire gerich¬ tete Studie Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Mensch¬ heit: Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (1774). In Sämmtliche Werke, V,486, wo es unter anderem heißt: »Unser Jahrhundert hat sich den Namen: Philosophie! mit Scheidewaßer vor die Stirn gezeichnet...ich habe also den Seitenblick dieser philosophischen Kritik der ältesten Zeiten, von der jetzt bekanntlich alle Philosophien der Geschichte und Geschichte der Philosophie voll sind, mit einem Seitenblicke obwohl Unwillens und Ekels, erwiedern müßen ...« 95 Kraus, Vernunft und Geschichte, S.45. Vgl. zur Entgegensetzung von Philo¬ sophie und Geschichte im Denken Wolffs Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 306 ff.: Gegenstand der Philosophie seien für Wolff die »Gründe«, Gegenstand der Historie die »Tatsachen«.-Jedoch muß für Nico¬ lai betont werden, daß schon die pragmatische Methode, von der oben die Rede war, eine derart scharfe Grenzziehung aussehließt. Vgl. dagegen Nor¬ bert Hinske (Hrsg.), Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift (Darmstadt, 1973), S. XVI f. 96 Bei allen Analysen über das Verhältnis zur Revolution im achtzehnten Jahr¬ hundert ist zu berücksichtigen, daß der Begriff »Revolution« bis 1789 meist im geistigen, seltener aber im politischen Sinn verwendet wurde. So sprach zum Beispiel Nicolai von der wohltätigen Revolution, die seine Allgemeine Deutsche Bibliothek verursacht habe. Auch noch nach 1789 wurde der Be¬ griff nicht immer in seiner politischen Bedeutung verwendet. Vgl. im übri¬ gen den wortgeschichtlichen Exkurs bei Reinhard Koselleck, Kritik und

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Krise: Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (Freiburg-Mün¬ chen, 1959), S. 208 ff. Zu Kant jetzt auch Peter Burg, Kant und die Franzö¬ sische Revolution (Berlin, 1974). 97 Kant, Der Streit der Fakultäten. In Gesammelte Schriften VII, 88. Im glei¬ chen Abschnitt wandte sich Kant dagegen, »daß ein Volk, welches eine mon¬ archistische Constitution hat, sich... das Recht anmaße, ja auch nur in sich geheim den Wunsch hege, sie abgeändert zu wissen« (S.86). Läßt man die Möglichkeit außer acht, daß Kant diese Anmerkung hier aus Gründen poli¬ tischer Opportunität einfügte, so bleibt eine gewisse Uneindeutigkeit sei¬ ner Haltung zur Revolution bestehen, denn er beschränkte seine zustim¬ menden Argumentationen keineswegs immer auf den geistig-moralischen Bereich. 98 Vgl. Nicolais satirische Darstellung der Mainzer Jakobiner in seinem Roman Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s, eines deutschen Philosophen. Nebst Zwey Urkunden der neuesten deutschen Philosophie (Berlin-Stettin, 1798), S. 234-245. 99 Perückengeschichte, S. 122. 100 Kant, Der Streit der Fakultäten. In Gesammelte Schriften, VII,88. 101 Kant, Über den Gemeinspruch... In Gesammelte Schriften, VIII,310. 102 Kant, Der Streit der Fakultäten. In Gesammelte Schriften, VII, 85 f. 103 Ebenda, S.85: »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern: sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenken¬ der Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Rosten zu machen nie beschließen würde,-diese Revolution...findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ur¬ sache haben kann.«

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VII NICOLA] UND ENGLAND* Bernhard Fabian

...weil er sich dieses Land... als den einzigen Sitz der Freyheit, der Toleranz und der Grossmuth vorstellte.

I Das achtzehnte Jahrhundert war eine Epoche der Entdeckungen, vielleicht die letzte in der europäischen Geschichte, in der es noch möglich war, in der Welt der unmittelbaren Erfahrung etwas Neues zu finden. Es war zunächst eine Epoche der geographischen Entdeckungen, in der Seewege und Inseln erkundet wurden und vor allem der letzte, bis dahin nur in der Spekulation existente Kontinent. Es war überdies eine Epoche der wissenschaftlichen Entdeckungen, in der die Struktur des Kosmos ergründet wurde wie auch die Natur des Lichts, das System der Pflanzen und die Grundlagen der Physiologie. Es war vor allem aber eine Epoche der politischen und, wie das Zeitalter zu sagen pflegte, der anthro¬ pologischen Entdeckungen. Im ersten Drittel des Jahrhunderts er¬ schloß sich, was den Menschen als Gattungswesen ausmacht, und in seinem letzten, was ihn als Individuum konstituiert. Dazwi¬ schen lagen jene neuen Erkenntnisse über die Verfassung des Staates und über das Wesen der Gesellschaft, die zum bleibenden Vermächtnis der Epoche gehören. Wer um die Mitte des Jahrhunderts in Deutschland lebte, hatte an nur wenigen dieser Entdeckungen direkten Anteil. Er war von den Zentren des Geschehens entfernt, und was sich >draußen< er¬ eignete, drang häufig nur in sekundären Berichten zu ihm. Aber er nahm, intensiver als andere, an einer der großen Entdeckungen teil, die man damals auf dem Kontinent machte: an der Entdeckung Englands, eines Landes, das geographisch und geistig lange an der Peripherie gelegen hatte, das sich nun aber - politisch wie ökono¬ misch, literarisch wie philosophisch - als eine Nation von hoher Individual ität offenbarte. Nachdem Voltaire in seinen Lettres philosophiques (1733) ein faszinierendes Profil Englands gezeichnet hatte,1 breitete sich über den Kontinent eine Welle des Interesses aus, die sich in wenigen Jahren zu einer Begeisterung steigerte,

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für die nurmehr die Bezeichnung >Anglomanie< angemessen er¬ schien. Was diese >Entdeckung< Englands für den Kontinent und beson¬ ders für Deutschland bedeutete, ist uns bislang nur in Umrissen bekannt.2 Eine Fülle von Anregungen wurde aufgenommen. Sie erstreckten sich nicht nur auf die Literatur, sondern auf praktisch alle Gebiete des zeitgenössischen Geisteslebens und darüber hin¬ aus in weite Bereiche der Lebenspraxis und der materiellen Kul¬ tur. Zwar verdrängte England Frankreich nicht völlig als das Vor¬ bild, an dem sich geistige Bemühungen und soziales Verhalten in Deutschland ausrichteten, aber es trat Frankreich ebenbürtig zur Seite, und es wurde zum Modell, an dem sich alle orientierten, die sich als die Avantgarde der Epoche verstanden. Aus England kam mehr als das Neue: aus England kam die Zukunft. Die >Entdeckung< Englands, die sich mit vielen Differenzierun¬ gen in fast allen Ländern des Kontinents ereignete, war ein kom¬ plexer Prozeß. In Deutschland war dieser Prozeß wegen der Breite und Intensität in der Aufnahme alles Englischen besonders viel¬ gestaltig, und er vollzog sich nicht nur über einen längeren Zeit¬ raum, sondern wegen der historischen Zersplitterung des Landes auch in kaleidoskopischer Streuung. Gleichwohl war es kein an¬ onymer Prozeß. Die >Aneignung< Englands war das Ergebnis des Zusammenwirkens einer Elite, einer kleinen, aber nicht in sich ge¬ schlossenen Gruppe, aus der wir bisher nur wenige so genau ken¬ nen, daß wir ihren Beitrag abwägen können. Sie kamen aus unter¬ schiedlichen Berufen. Nicht alle reisten nach England, um den Gegenstand ihres Interesses an Ort und Stelle zu besichtigen.3 Viele eigneten sich England in Deutschland an - über das ge¬ druckte Wort,4 und nicht wenige von denen, die England nie be¬ traten, zählten zu den wirksamsten Verbreitern und Vermittlern der neuen Entdeckung. Einer von ihnen war Friedrich Nicolai. II Nicolais frühe Begegnung mit England hätte für die Zeit kaum typischer sein können. Wer wie er in den fünfziger Jahren des acht¬ zehnten Jahrhunderts England literarisch »entdecktes ohne die Reise über den Kanal zu unternehmen, tat dies auf eine Weise, die mit englischen Augen gesehen fast skurril anmuten mußte. Eng¬ land hatte das Augusteische Zeitalter seiner Literatur hinter sich. Pope, Swift und Fielding gehörten der jüngsten Vergangenheit an, und nach dem Erscheinen von Richardsons letztem Roman bahnte sich ein Zeitalter an, in dem unterhalb der überragenden klassi¬ zistischen Figur Samuel Johnsons zwischen Epigonentum und 175

Empfindsamkeit wesentlich nachklassisehe Erscheinungen zu¬ tage treten sollten. Von diesem für ihn zeitgenössischen England war der deutsche >Entdecker< der englischen Literatur und Kultur in der Regel weit entfernt, besonders wenn er sich, wie Nicolai, in einer Stadt wie Frankfurt an der Oder befand. Englische Bücher waren um diese Zeit, wie in der ganzen ersten Jahrhunderthälfte, in Deutschland ausgesprochen rar. Noch um 1740 hatte die Gottschedin in der Mes¬ sestadt Leipzig größte Mühe, für ihre Übersetzung von Popes Rape of the Lock einen Originaltext zu erhalten.5 Die ersten Versuche, englische Bücher für den Messeverkauf nach Leipzig zu importie¬ ren, beginnen nicht vor der Mitte der fünfziger Jahre.6 Nicolais Sprachstudium von 1749 unterschied sich kaum von den mühsamen Versuchen anderer, sich das Englische anzueignen. Er mußte als Autodidakt lernen. Englischen Sprachunterricht gab es nur an verhältnismäßig wenigen Universitäten und Akademien. Selbst wenn um diese Zeit ein Sprachmeister an der Universität Frankfurt/Oder gelehrt haben sollte:7 der junge Buehhändlerlehrling war nicht für das Studium bestimmt, obwohl er gelegentlich etwas von den lateinischen Vorlesungen Alexander Baumgartens erlauschte. Die »Handlungsarbeiten« nahmen, wie es in der Autobiographie heißt, nur zwei Drittel von Nicolais Tag in Anspruch. Das restliche Drittel blieb ihm fürs Lesen und Lernen. Dabei nahm das Eng¬ lische die erste Stelle ein: Eine meiner ersten Beschäftigungen war, mit Hülfe einer Gramma¬ tik und einiger ganz alten, schlechten englischen Bücher, die ich im Laden fand, ohne irgend eine Anleitung, diese Sprache zu lernen. Ich sparte ziemlich lange das Frühstück, (täglich 3 Pf) und einige andre kleine Ausgaben, um mir Oel zu einer Lampe zu kaufen, da¬ mit ich im Winter in meiner, obwohl kalten Kammer, die Morgen und Abende zum Studiren anwenden könnte. Als ich im Sommer im Sparen weiterkam, so machte ich das Project, Milton’s Werke im Original zu verschreiben. Meine Freude als ich sie erhielt, kann sich nur der vorstellen, der mit mir im gleichen Falle gewesen ist.8 Am Anfang stand also Milton, der thematisch und sprachlich alles andere als ein Zeitgenosse des mittleren achtzehnten Jahr¬ hunderts war. Er blickte eher auf eine bis in die Antike reichende Tradition zurück, als daß er auf die Moderne vorauswies. Nicolai hatte ihn in deutscher Übersetzung schon in Berlin gelesen, und sein Lehrer hatte Milton »als einen Meister moderner Poesie« emp¬ fohlen.9 Auch das ist typisch. Die deutsche Begegnung mit eng¬ lischer Dichtung war zunächst eine Begegnung mit Milton, und diese wirkte noch lange und intensiv in der deutschen Literatur nach. Bodmer, der Milton im achtzehnten Jahrhundert zum ersten-

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mal übertrug, lernte Englisch ebenfalls anhand von Milton, und mit kaum geringeren Schwierigkeiten.10 Später erinnerte sich Nicolai »noch sehr lebhaft, welchen gewaltigen Eindruck die gigantischen Bilder dieses Gedichtes auf seine jugendliche Einbil¬ dungskraft machten«.11 Was zunächst seltsam erscheinen mag, erklärt sich damit ein¬ fach: daß Nicolais erste Schrift eine Ehrenrettung Miltons war.12 Der Angriff, gegen den er Milton verteidigte, war indessen bereits abgeschlagen, als seine Streitschrift erschien. William Lauder, der Milton des Plagiats beschuldigt hatte, versuchte 1754 eine letzte Verteidigung, ehe er nach Barbados emigrierte. Doch Lauder hatte für Nicolai nur eine vordergründige Bedeutung. Es ging weniger um Lauder selbst als um die Art, wie sein Angriff auf Milton in Deutschland durch Gottsched wenn nicht favorisiert, so doch ge¬ duldet wurde. Der wirkliche Angriffspunkt Nicolais war jene Mischung aus Unbelehrbarkeit und Vorurteil, die in Gottscheds Stellungnahme zutage trat. Der deutsche Widerhall des in London ausgetragenen Geplän¬ kels ist literarhistorisch eher eine Episode. Biographisch ist er jedoch höchst aufschlußreich. Er zeigt an einem konkreten Bei¬ spiel, welchen intellektuellen Rückhalt die englische Literatur jenen bot, die sich für eine Verbesserung der literarischen Zu¬ stände in Deutschland einsetzten. Nicolai war ein junger Mann, und seine polemische Sicherheit kam weniger aus ihm selbst als aus seiner Vertrautheit mit einem Klassiker, einer literarischen Figur, deren Bang nirgendwo in Europa mehr bestreitbar war. Nicolai blieb nicht bei Milton stehen. Durch Johann Joachim Ewald, damals Betreuer eines jungen Adligen, lernte er nicht nur Ewald von Kleist kennen, den späteren Adressaten der Briefe, die neueste Literatur betreffend, sondern auch weitere englische Lite¬ ratur, denn Ewald besaß »eine Sammlung von guten englischen Büchern, besonders Dichtern«, aus denen sich Nicolai einen gan¬ zen Band Gedichte abschrieb.13 Dies ist ein weiteres Mal typisch. Die Generation, bei der sich die Aufnahme der englischen Litera¬ tur produktiv auswirkte, wurde von einer nicht selten nur um ein geringeres älteren Generation mit Anregungen und vor allem mit Literatur versorgt. Für diese ältere Generation war die englische Literatur bereits im wirklichen und übertragenen Sinne gesicher¬ ter Besitz, ohne jedoch die Wirkung zu haben, die sie später hatte. Die Förderung von Johann Arnold Ebert durch Friedrich von Hagedorn ist ein anderes Beispiel, und es gibt davon eine ganze Beihe. Was einen Bildungsgang wie den Nicolais im Hinblick auf die Entdeckung Englands interessant macht, ist der Weg, der in kurzer Zeit zurückgelegt wurde. Bodmers Milton-Übersetzung und die

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damit verbundenen literaturtheoretischen Diskussionen gehören in die mittleren dreißiger und frühen vierziger Jahre.14 Unter einer europäischen Perspektive waren sie zur Zeit ihrer Entstehung be¬ reits antiquiert und um die Mitte der fünfziger Jahre auch unter der deutschen. Mit den Briefen, die neueste Literatur betreffend ein Werk Lessings und Nicolais-war der Anschluß erreicht, und in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auch das zeitgenössische Niveau. Man hatte die immense Distanz zwischen Milton und Sterne durchmessen und zugleich eine Brücke zu Shakespeare ge¬ schlagen. III »Er wäre im Anfänge des J.1758 vielleicht sogar einem gutgemein¬ ten, aber nicht wohlüberlegten Vorschläge nach England zu reisen gefolgt, weil er sich dieses Land damals als den einzigen Sitz der Freyheit, der Toleranz und der Grossmuth vorstellte. Aber so herr¬ lich ihm diese Aussicht schien, war es ihm doch unmöglich, sich von Moses Mendelssohn und Lessing zu trennen.« So Nicolai in seiner Autobiographie.15 Es dürfte schwerfallen, in der deutschen Literatur des späten achtzehnten Jahrhunderts eine zweite Äußerung zu finden, die für das Englandverständnis der Epoche und für das Selbstverständnis des Schreibers gleicher¬ weise charakteristisch ist. Nicht daß sie den Zustand von 1760 akkurat beschriebe - wie zutreffend die Charakteristik im Ver¬ gleich mit Deutschland auch gewesen sein mag. Nicolai stellte sich England als das Land der Freiheit und der Toleranz vor, und es war diese Vision von einem politischen und sozialen System, die ihn und seine Zeitgenossen zu bewegen vermochte. Freiheit und Toleranz taucht als Begriffspaar mehrfach bei Nico¬ lai auf, und es ist nicht schwer, den Platz zu erkennen, den es im geistigen Zentrum seiner Aufklärungswelt einnahm. Er sah sein Wirken als Schriftsteller und Verleger dadurch motiviert. Im Hin¬ blick auf Sebaldus Nothanher erklärt er ausdrücklich, es sei seine Absicht gewesen, »Geistesfreyheit und Toleranz« mit diesem Buch zu empfehlen. Um das Begriffspaar gruppieren sich andere Be¬ griffe von verwandtem Inhalt oder von ähnlicher Suggestionskraft. So gehörte etwa »Freymüthigkeit« zu deu Lieblingswörtern Nico¬ lais, mit denen er immer wieder seinen intellektuellen Charakter und seine literarische Handlungsweise beschrieb.16 Es ist hier weder nötig noch möglich, Nicolais Selbstportrait mit seinen teils sympathischen, teils aber auch leicht penetranten Zügen in allen Details zu reproduzieren. Denn es geht nicht dar¬ um, ob das Bild, das er von sich hatte, zutreffend war oder nicht. Es geht lediglich darum, wie er zu diesem Bild gekommen ist oder ge-

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kommen sein könnte. Und ich möchte die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß das Englandbild Nicolais sein Selbstverständnis in ent¬ scheidenden Punkten bestimmt hat. Unsere Kenntnis vom >Einfluß< Englands auf das deutsche Gei¬ stesleben des späten achtzehnten Jahrhunderts ist noch immer rudimentär. Vor allem haben wir keine Vorstellung davon, welche Wirkung die »Entdeckung« Englands im einzelnen Fall gehabt hat, welche Prozesse sich dabei abgespielt und welche Veränderungen sieh durch produktive Anverwandlung ergeben haben. Reisebeob¬ achtungen oder Lektüreerlebnisse sind meist dynamischer Natur. Sie verändern den, der sich solchen Erfahrungen aussetzt, so daß eine Analyse des »Einflusses« über die Feststellung der Tatsache einer Berührung hinaus das Neue zu konstatieren hat, das die Folge der Begegnung war. Es wäre verfrüht, an dieser Stelle zu behaupten, daß das, was Nicolai für das deutsche Geistesleben des späten achtzehnten Jahr¬ hunderts bedeutet, ausschließlich englischen Ursprungs ist. Aber es wäre unvorsichtig, nicht darauf zu achten, daß Nicolai eine jener Figuren ist, bei denen sich die Konsequenzen der Entdeckung Eng¬ lands zu erkennen geben. Ich meine damit eine Erweiterung des anthropologischen Horizonts: die Eröffnung neuer Möglichkeiten, von der Welt und von sich selbst Notiz zu nehmen und davon Rechenschaft zu geben. Im Dezember 1756 schrieb Nicolai an Lessing: »Mein ganzes Leben seit ungefähr anderthalb Monaten, ist wie eine englische Komödie, voller Verwirrung, ohne Plan, voller närrischer Scenen, über welche die Zuschauer lachen, und nur die spielenden Perso¬ nen sich ärgern, ein Incidentpunkt folgt dem andern, und man kan keine Auflösung absehen«.17 Hier gibt die Komödie ein Schema vor, nach dem sich die Erfahrung, so chaotisch sie in Wirklichkeit sein mag, auf eine bis dahin unbekannte Weise ordnen und übersehen läßt. In Nicolais Autobiographie steht: »Sein Freund Engel sagte da¬ her einmal von ihm: Jedermann pflege ein Steckenpferd zu haben, Nicolai aber habe einen Stall voll«.18 In dieser Weise konnte man sich über Lieblingsbeschäftigungen und deren zum Teil zwangs¬ hafte Ausübung erst verständigen, nachdem Tristram Shandy ins Deutsche übersetzt worden war. Davor war das Steckenpferd keine Marotte, sondern lediglich ein Kinderspielzeug, ein bloßer Stecken mit Pferdekopf. Solche Äußerungen lassen sich vor einem zeitgenössischen Hin¬ tergrund stellen. Herder und Hamann waren so von Tristram Shandy beeindruckt, daß sie sich gegenseitig als Sterne’sche Cha¬ raktere anredeten. Für Herder war Hamann Tobias Shandy, und für Hamann war Herder Yorick.19 Ein Scherz? Sicher, aber nicht 179

ohne Bedeutung. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hin¬ sicht unterschied Kant männliche und weibliche Tugenden und verdeutlichte: »Sie soll geduldig, Er muß duldend sein. Sie ist empfindlich, er empfindsam.«20 Als empfindsam konnte sich in Deutschland niemand betrachten, ehe Lessing Johann Joachim Bode bei seiner Sterne-Übersetzung empfahl, er solle für sentimen¬ tal ein neues Wort wagen: empfindsam.21 Goethe hat in einem späten Aufsatz darauf aufmerksam ge¬ macht, daß das achtzehnte Jahrhundert die konkrete Erfahrung des Individuellen und damit auch den Begriff des Individuums Sterne verdanke.22 »Eigenheiten...,« so verstand er Tristram Shandy, und mit ihm eine ganze Epoche, »sind das, was das Indivi¬ duum konstituiert; das Allgemeine wird dadurch spezifiziert«. Goethe schrieb dies, um Sternes anthropologischen Beitrag noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, denn »bei raschem Vorschreiten der literarischen sowohl als humanen Bildung« pflegen sich Ur¬ sprünge bald zu verlieren, und Vorstellungen und Auffassungen führen ein selbständiges Dasein. Nicolais Autobiographie scheint mir ein Punkt zu sein, an dem sich die neue >englische< Art, auf das Individuelle zu achten, prononciert zutage tritt. Seine Absicht, schreibt er, war nicht »eine blosse trockene Hererzählung dessen, was allen gelehrten Geschäftsleuten oder Schriftstellern gemein ist, sondern die Entwickelung der Individualität des Lebenden«.23 Keine Sterne’sche Wendung, aber eine Formulierung, die ohne Sterne schwerlich denkbar ist. Nicolais Werk weist auffällige autobiographische Züge auf, und die Bereitschaft zur intellektuellen Selbstdarstellung, wie sie sich etwa in Ueber meine gelehrte Bildung manifestiert, kann nicht un¬ bemerkt bleiben. Die Freude an der Polemik war sicher ein Motiv dafür, aber wohl nicht das alleinige. Die Verbindung von Autor, Ver¬ leger und Popularphilosoph, die Nicolai repräsentierte, war etwas Eigenes, und sie wurde von ihm auch so empfunden. An sich hatte die Art von Nicolais Persönlichkeit und Wirksamkeit nichts Engli¬ sches, sie war in vielem sogar genuin deutsch. Aber daß Nicolai sich in der Weise als individuelle Erscheinung verstehen konnte, wie er es offensichtlich tat, setzte eine neue anthropologische Dimension voraus, die sich aus der >Entdeckung< der englischen Literatur ergeben hatte. Damit stimmt zusammen, daß sich Nicolai als geistige Persön¬ lichkeit in hohem Maße in der Begegnung mit englischen Autoren gebildet hat. Die Geschichte der Philosophie erschloß sich dem jungen Nicolai durch Thomas Stanleys History ofPhilosophy: Containing the Lives, Opinions, Actions and Discourse ofthe Philosophers ofEvery Sect (1655-62), von der die lateinische Übersetzung in der Leipziger Ausgabe von 1711 »im Laden lag«.24 Mit Moses Men-

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delssohn las er nicht nur Locke und Newton, durcli ihn lernte er auch »zwey höchst verschiedene Philosophieen« kennen, die seinen »philosophischen Einsichten eine noch mannichfaltigere Wen¬ dung gaben«. Eine davon war englischer Provenienz: »Shaftesbury lehrte uns beiden die menschlichere Art zu philosophiren, welche bey aller Gründlichkeit des vonvornigen Philosophierens einen Blick in die wirkliche Welt thut«.25 Von der englischen Literatur war Nicolai nicht nur Milton ver¬ traut: er las auch die neueren Dichter ausführlich, Pope, Thomson und andere. Manche von ihnen waren ihm offenbar geläufig, ehe er sich die neuere deutsche Literatur aneignete.26 Rein Wunder, daß er sich im Rückblick mit einem Zitat aus Gibbon - »Hard assiduous study is the sole amusement of his independent leisure«27 - seine enorme Leseleistung verständlich machte, die er neben seiner um¬ fangreichen Arbeit zustande brachte. Rein Wunder aber auch, daß er, solcherart im Besitz >englischer< Maßstäbe, darüber zu speku¬ lieren begann, was im deutschen Geistesleben hätte anders sein können, wenn manche Autoren >engliseher< gewesen wären. »Was wäre«, überlegte er etwa, »Rant geworden, wenn er wieHume hätte schreiben können! Und er würde so geschrieben haben, wenn er, wie Hume, hätte Menschen kennen lernen, statt daß er bloße Stu¬ dierstube und Ratheder kannte.«28 Das hat fast etwas von einem jener Lichtenbergschen Gedankenexperimente an sich, die ja nicht selten auch durch einen englischen Auslöser zustande kamen. IV Schon bald nach der Übernahme des Verlags plante Nicolai die Verbreitung englischer Autoren in der Originalsprache. Er be¬ herrschte das Englische gut genug, um zu erkennen, daß vieles, was in Deutschland in Übersetzungen erschien, schlecht gemacht war - aus Mangel an Sprachkenntnissen oder aus Mangel an Sorg¬ falt. »Das Manufakturmäßige beym Uebersetzen«29 mißfiel ihm offenbar schon früh, und gelegentliche Bemerkungen in Rezensio¬ nen deuten darauf hin, daß er es nicht erst zu dem Zeitpunkt mi߬ billigte, als er Sebaldus Nothanker schrieb. Es bestand die Gefahr, äußerte er schon früh, durch »hurtige Übersetzer« zu »tödten«.30 Wie so oft im achtzehnten Jahrhundert war Shakespeare ein be¬ sonderer Problemfall. Nicolai hielt ihn für unübersetzbar. Zuerst war wohl Lessing der Meinung gewesen, »Shakespeare müsse nicht übersetzt, sondern blos studiert werden«.31 Darauf schrieb Nicolai kurz und bündig in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek aus Anlaß von Wielands Übersetzung: »Von Rechtswegen solte man einen Mann, wie Shakespear, gar nicht übersetzt haben. Ohne

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Känntniß der englischen Sprache, der englischen Sitten, des eng¬ lischen Humeurs, kann man an dem größten Theil seiner Werke wenig Geschmack finden; wer also das obige versteht, wird diesen trefflichen Schriftsteller englisch lesen, und wer es nicht versteht, solte ihn billig gar nicht lesen«.52 Beide revidierten später ihre Auf¬ fassung,53 aber um 1760 drängten sie, früher als andere, auf die englischen Originale, vor allem bei literarischen Texten. Es gab damals so gut wie keine in Deutschland gedruckten eng¬ lischen Bücher, ln den späten zwanziger Jahren war in Halle der Nachdruck einer englischen Klassiker-Ausgabe und in Jena ein Nachdruck der englischen Übersetzung von Fenelons Telemaque (1699) erschienen, jenem klassischen Erziehungsbuch, das eher als pädagogisch wertvolle Sprachlehrhilfe denn als Literaturwerk herausgekommen sein dürfte. Davon und von einigen Anthologien abgesehen, existierte nur ein einziger deutscher Druck eines eng¬ lischen Literaturwerks: eine Prachtausgabe im Quartformat von Alexander Popes Essay on Man, die der Altenburger Verlag Richter 1759 veröffentlicht hatte - offenbar in der Erwartung, daß Popes Versuch über die Natur des Menschen und seine Stellung im Kos¬ mos als europäisches Literaturereignis der dreißiger und vier¬ ziger Jahre guten Absatz finden müßte. Die Hoffnung scheint trü¬ gerisch gewesen zu sein, denn die angekündigte zweisprachige Ausgabe erschien nicht,54 und der Verlag brachte für rund fünf¬ zehn Jahre keinen englischen Titel mehr heraus. Nicolais erstes englisches Verlagsprojekt war ebenfalls eine Pope-Ausgabe. Anders als die Richters begnügte er sich jedoch nicht mit einem einzelnen Titel, sondern druckte sofort die gesam¬ melten Werke. Die erste Pope-Gesamtausgabe war 1751 in London erschienen, zusammengesteht von Popes literarischem Nachla߬ verwalter William Warburton.35 Sie umfaßte in neun Bänden das gesamte CEuvre einschließlich der Briefe. Diese Ausgabe erschien innerhalb eines Jahrzehnts neunmal, so daß sie in England, wie Nicolai gewußt haben dürfte, als verlegerischer Erfolg angesehen werden konnte. Die beiden ersten Bände des Nachdrucks, der auf der zehnbän¬ digen Ausgabe von 1754 oder 1757 basierte, kamen zur Ostermesse 1762 heraus, die Bände 111 bis VI folgten zur Ostermesse 1763, Band VII zur Michaelismesse 1763 und die restlichen drei Bände zur Ostermesse I764.36 Text und Layout der Titelseite entsprachen ex¬ akt dem Original, und für das Impressum hatte Nicolai, wie vor ihm schon der Leipziger Buchhändler Johann Wendler als erfolgrei¬ cher Importeur englischer Bücher um die Mitte der fünfziger Jahre, seinen Namen anglisiert: »Berlin, Printed for Fredrick Nico¬ lai Bookseller«. Die Umsetzung des Namens war allerdings nicht

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ganz geglückt, denn die korrekte Schreibung hätte »Frederick« sein müssen. Was der Ausgabe ein besonderes Interesse in der Geschichte der Rezeption der englischen Literatur in Deutschland verleiht, ist eine Verlegerankündigung, die ihr Nicolai mit auf den Weg gab. Sie ist in englischer Sprache abgefaßt, holperig und unidiomatisch, von jemandem geschrieben, der etwas Englisch konnte, aber nicht genug, um sich einwandfrei mitteilen zu können. Wahrscheinlich hat Nicolai seine Ankündigung selbst übersetzt, nachdem er schon in Frankfurt Gedichte von Ewald von Kleist ins Englische zu über¬ tragen versucht hatte.37

The Bookseller’s Advertisement on this new Edition English Litterature having found these many years ago, so mueh lovers in Germany and the adjacent countries, I doubt not, the design i have form’d to print neat Pocket-Editions of the English Classical Writers, will be very acceptable to the learned world. I thought best, to begin my Task with the Edition of Mn POPE’s Works, this Author beilig so universally esteemed by all those that have any taste of Poetry or Learning. All care possible has been taken to have this Edition correct as well, as necit, and, I hope, with so good a success, that the Reader will find but very few faults, that are of any Consequence. This Edition is more complet as the English Pocket-Editions, for it is printed on Mr. WARBURTON’S Edition in Great Octavo, and contains all his Notes and Commentaries. Yet in the English little Editions the Commentaries are left out. If this first Commencement should not wholly displease to the lovers of English Literature. The Editions of the Works of MIL¬ TON, ADDISON, THOMPSON, SHAKESPEARE, YOUNG, PRIOR AKENSIDE, and other classical English Writers shall follow immediatly the Edition of Mr. POPE’S Works, and shall be printed with the same neatness and correctness, adorned too with curious cuts done by the best hands. Berlin, May 3th. 1762. Ein grandioser Plan: die klassischen englischen Autoren in deutschen Taschenbuchausgaben. Es war der erste Plan seiner Art, eine Antizipation von Tauchnitz im Stil und im Rahmen des acht¬ zehnten Jahrhunderts. Schon die genannten Autoren machten mit ihren Werken eine stattliche Bandzahl aus, und zusammen mit 183

»anderen klassischen englischen Autoren« hätte das Ganze eine kleine Bibliothek ergeben. So charakteristisch der Beginn mit Pope, einem >AufklärungsAufklärungsLauneHumor< und der »Originalität« der Engländer delektierte. Daß Johann Joachim Bodes Überset¬ zung des Tristram Shandy 1774 und Sebaldus Nothanker 1775-76 erschien, kennzeichnet die Anglisierung des literarischen Klimas jener Jahre, in denen Nicolai auch eine Schrift von Lord Bolingbroke in der Übersetzung des Prinzen von Isenburg heraus¬ brachte.45 Die achtziger Jahre waren für Nicolai wie für die anderen deut¬ schen Verleger das Goldene Jahrzehnt der Übersetzungen aus dem Englischen. In seinen Titeln spiegelt sich das ganze Spektrum des¬ sen, was auf den Markt gebracht wurde. Im Vordergrund stand nicht die Literatur, sondern die Medizin zusammen mit den Natur¬ wissenschaften und der Technik. Nicolais bedeutendster engli¬ scher Autor war Richard Kirwan, der Nestor der englischen Che¬ mie. Von ihm brachte er alle wichtigen Schriften heraus, die von Lorenz von Crell, dem Helmstedter Chemiker, übersetzt und einge¬ leitet wurden.46 Daneben erschienen innerhalb von zwei Jahren drei Werke des Londoner Mediziners Gumperz Levison, darunter eine Beschreibung derLondonschen medicinischen Praxis (1782) 47 Technische Literatur über das Bierbrauen, den Blitzableiter, die Farben undurchsichtiger Körper u. ä., ein geographisches Werk über Schottland und der Bericht über die Reise eines Engländers durch Deutschland gehören ebenfalls zu der im großen Stil über¬ setzten >Sachliteratur< der Epoche.48 Johann Joachim Eschenburg steuerte die Übersetzung der Händel-Biographie des führenden englischen Musikschriftstellers Charles Burney zu Nicolais Verlagsprogramm bei,49 und vielleicht erschien auf Eschenburgs Empfehlung auch der Roman Camilla von Burneys Tochter Fanny bei Nicolai.50 Diese Übersetzung ge¬ hört allerdings schon in die neunziger Jahre, die insgesamt durch ein stärkeres Hervortreten der Belletristik und der Trivialliteratur in Nicolais Produktion gekennzeichnet sind. Titel wie Mary Robin¬ sons Walsingham, oder das Naturkind (1799) deuten dies an.51 Diese Tendenz setzte sich auch im folgenden Jahrzehnt bis zu Nico186

lais Tode fort. Allerdings fällt auf, daß um und gleich nach 1800 ei ne Anzahl von landwirtschaftlichen Titeln erschien, so Der praktische Pflanzer, oder Abhandlung über die Anpflanzung der Waldbäume (1800)52 oder Abhandlungen über den Zucker (1800).53 Alles in allem fällt diese Produktion nicht aus dem zeitgenössi¬ schen Rahmen. Sie ist in ihrer Breite typisch für die Aufnahme des englischen Schrifttums in Deutschland, und sie ist von der Zahl her nicht ungewöhnlich. Wäre sie Nicolais einziger verlegerischer Bei¬ trag, so käme ihm gewiß nicht die Sonderstellung unter den deut¬ schen Verlegern zu, die ihm im Hinblick auf die >Entdeckung< Eng¬ lands in der Tat zukommt.

V Wichtiger als alle Übersetzungen, die Nicolai veröffentlichte, war die >Übertragung< einer englischen Idee und eines englischen Kon¬ zepts, die er selbst bald nach dem Fiasko seiner Pope-Ausgabe vor¬ nahm. Nicolai experimentierte von Anfang an mit literarischen Formen, die er im Gegensatz zu der pedantischen deutschen Trak¬ tatform und ihrem akademischen Ambiente sah. Das zeigt sich be¬ reits an den Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissen¬ schaften in Deutschland und noch deutlicher an den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Es ging ihm um eine offenere, mitteil¬ samere Form, die ein breiteres Publikum erreichen konnte und zu¬ gleich der Tatsache Rechnung trug, daß das neue, sich langsam herausbildende Publikum ein anderes war als jenes gelehrte, an das sich der Traktat und das Periodikum herkömmlicher Art rich¬ teten. Unbeschadet der Tatsache, daß äußere Umstände Nicolai da¬ zu zwangen, die Herausgeberschaft der Bibliothek der Schönen Wissenschaften und der Freyen Künste in andere Hände zu legen, hat sein Rückzug von dieser Zeitschrift mit ihrem traditionellen Titel und trotz aller Neuerungen auch traditionellen Radius etwas von einer inneren Zwangsläufigkeit an sich. Der große Wurf, der Nicolai Anfang der sechziger Jahre gelang, war die Allgemeine Deutsche Bibliothek. In Anlage und Anspruch war sie in Deutschland etwas gänzlich Neues, und die Idee dazu kam von jenen beiden Zeitschriften, die sich in London einige Zeit zuvor etabliert hatten: von der Monthly Beview, 1749 von dem Lon¬ doner Buchhändler Ralph Griffiths begründet, und die Critical Review, 1756 von dem Edinburgher Buchhändler Archibald Hamil¬ ton ins Leben gerufen. In ihnen vollzog sich der Übergang vom gelehrten Rezensionsorgan mit großenteils fachspezifischer Aus¬ richtung zur literarischen Besprechungszeitschrift allgemeinen Charakters.54 Sie wandten sich an das »gebildete« Publikum der Zeit, dessen Interesse sich vorwiegend auf die Literatur im enge187

ren Sinne richtete, das aber bereit war, sich durch kompetente Rezensenten auch über andere Themen und Gegenstände unter¬ richten zu lassen. Zunächst bestanden die Rezensionen vielfach in Zusammenfassungen, die eher die Eigenart des Werkes als die Reaktion des Kritikers verdeutlichten, doch bildete sich nach und nach der kritische Essay als eigenes Genre heraus. Im Dezember 1763 skizzierte Nicolai seinen Plan dem Freunde Johann Peter Uz in Ansbach: Ich habe einmahl den Vorsatz gefaßt, wenn ich aus verschiedenen Wissenschaften nur 10 ä 12 geschätzte Mitarbeiter zusammenbrin¬ gen könnte, wollte ich unter dem Namen der deutschen Bibliothek ein Journal wie die Monthly review herausgeben, worin alle neue deutsche Schriften sollten recensiret werden, ich habe auch hin und wieder herumgeschrieben, aber niemand hat Lust, Hand anzu¬ legen. Insbesondere würde ich um das Feld der sch, W. sehr verlegen seyn, Denn ich selbst kann nicht daran denken, ein ordentlicher Mitarbeiter zu werden. Also wird wohl das ganze Projekt wie meh¬ rere andere zerstieben, ehe es zur Wirklichkeit kommt.55 Das pessimistische Urteil in diesem ältesten Dokument zur Ge¬ schichte der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erwies sich als un¬ begründet. Allen Schwierigkeiten zum Trotz erschien die erste Nummer bereits zur Ostermesse 1765, und von da an war die Zeit¬ schrift bis zum Ende des Jahrhunderts ein Faktor, der aus dem lite¬ rarischen Leben Deutschlands nicht mehr fortgedacht werden konnte. Die innere und die äußere Geschichte der Allgemeinen Deut¬ schen Bibliothek ist noch zu schreiben,56 und die Ausmaße dieses enormen Unternehmens, das Nicolai über Jahrzehnte fast allein trug, verbieten es, an dieser Stelle auch nur eine Zusammenfas¬ sung zu versuchen. Ich möchte die Zeitschrift hier nur aus dem Kontext herauslösen, in den sie meist gestellt wird. Sie stammt nicht aus der deutschen Tradition. Der Hinweis darauf, daß die erste deutsche Zeitschrift, die Acta Eru dito rum, bereits eine allge¬ meine Rezensionszeitschrift gewesen sei, verdeutlicht die Eigen¬ art von Nicolais Unternehmen nicht. Die Acta sind die Urform des gelehrten Rezensionsorgans, und ihre Weiterentwicklung in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hinein vollzog sich in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, deren Aufstieg zu einer führenden Position fast parallel zu dem der Allgemeinen Deutschen Bibliothek verlief. Im Kontrast zu den Göttingischen Ge¬ lehrten Anzeigen wird indessen deutlich, was Nicolai beabsich¬ tigte. Die Domäne der Göttingischen Gelehrten Anzeigen war, wenn der Ausdruck hier schon gebraucht werden darf, die wissen¬ schaftliche Weltliteratur. Sie wollten - wie vor ihnen die Acta- vor188

nehmlich darüber unterrichten, was sich im In- und Ausland in den Wissenschaften abspielte. Nicolai dagegen ging es ausschlie߬ lich um die deutsche Literatur. Die ADB war für ihn ein nationales Organ. Das Spannungsfeld, in dem die Allgemeine Deutsche Bibliothek ihr Profil gewann, war durch den Gegensatz von Provinz und Metropole geprägt. Wie fast alle sensibleren deutschen Schriftstel¬ ler der Epoche litt Nicolai unter dem provinziellen Zuschnitt des¬ sen, was sich im geistigen Leben Deutschlands abspielte. Deutsch¬ land war geistig nicht auf der Höhe der Zeit. Es fehlten, worauf Goethe später in seinem Aufsatz über den »Literarischen Sansculottismus« hinweisen sollte, in Nation und Gesellschaft die Vor¬ aussetzungen für die Entstehung klassischer Literaturwerke. Die bis heute immer wieder beschworene Vielfalt der deutschen Kul¬ tur wirkte in die Breite, nicht in die Höhe. So gab es gelehrte Zei¬ tungen an zahlreichen Orten, aber welche von ihnen besaß mehr als lokale Bedeutung? In dieser Situation richtete sich das Augenmerk eher auf Eng¬ land als auf Frankreich. Paris bot sieb traditionell als Gegenbild zur deutschen Provinz dar, aber in der Entfaltung von Pracht und Macht erwies es sieh als fernes, unerreichbares Ideal. Anders Lon¬ don, das sich seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts zuneh¬ mend zu einem Mittelpunkt des geistigen und wissenschaftlichen Lebens herausgebildet hatte. London war zugänglicher dimensio¬ niert, ohne den Prunk und Pomp von Paris, eher ein Zentrum der Kraft als der Macht, ein natürlicher Schwerpunkt, auf den das Leben im Lande bezogen war. Schon in den Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wis¬ senschaften stellte sich für Nicolai die fehlende Hauptstadt als ein Kernproblem des literarischen Lebens in Deutschland dar: In Paris, in London, ist der BichterStuhl des Wizzes in dem ganzen Lande, man beurtheilet daselbst den Werth der Gedichte, nach dein Beifall, den sie in den Gesellschaften, in den Coffeehäusern, in den Cabinettern der Personen von Geschmakk, erhalten. Deutschland ist viel zu weitläufig, und wird von zu verschiedenen Herren be¬ herrschet, als daß der Geschmakk einer Stadt, den Geschmakk der übrigen solte bilden können.51 Es fehlte also die prägende Kraft der Metropole, und ohne sie war das Mittelmaß kaum zu überwinden. »In einem Reiche, wo eine Hauptstadt ist«, notierte sich Nicolai weiter, »wird einem Dichter gleichsam ein allgemeiner Stempel aufgedrückt, wodurch er über¬ all für gut erkannt wird. In Deutschland hat jede Provinz ihren Nebenpoeten, den sie für gut und berühmt hält.« Besonders das Theater war davon betroffen, und hier wieder, wie Nicolai fast pro¬ phetisch erkannte, die Komödie. »Aus Mangel einer Hauptstadt (in 189

dem Sinne, wie es London und Paris ist) kann unsere Comödie niemals vollkommen werden.«58 Die Allgemeine Deutsche Bibliothek steht in gewisser Weise am Endpunkt solcher Überlegungen. Sie war, wie Nicolai sie verstand, nicht in erster Linie ein Medium zur Verbreitung der Aufklärung, sondern der Versuch, in einem fast heillos regionalisierten Land ein geistiges Zentrum zu schaffen, das der Verselbständigung des Provinziellen entgegenwirkte. Die Beurteilung der ADB in seiner Autobiographie stellt ebendies als Aufgabe und Wirkung der Zeit¬ schrift heraus: Die allgemeine Stimme schein t zu bestätigen, dass durch diese Zeit¬ schrift alle deutsche Länder in Absicht auf Literatur miteinander näher bekannt und ebendadurch näher verbunden worden sind, dass durch dieselbe nicht wenige Vorurtheile mit Erfolge bestritten, und beym Aufkommen neuer Systeme, woran Deutschland so er¬ giebig ist, durch Entgegenstellung der Gründe und Gegengründe die freyen Untersuchungen begünstigt worden sind, und dass da¬ her diese Zeitschrift bey vierzigjähriger Dauer auf den Fortgang aller Wissenschaften in Deutschland wichtigen Einfluss gehabt hat.59 Der künftige Historiograph der ADB wird seinen Gegenstand nicht nur, vielleicht nicht einmal zuerst, literarisch betrachten dür¬ fen. Die ADB ist ein eminent literatursoziologisches und auch ein politisches Phänomen. Sie etablierte Berlin geistig als Zentral¬ punkt auf der Landkarte Deutschlands, und das hatte Folgen, die über den Ausstrahlungsbereich einer Zeitschrift hinausgingen. Nicolai betrachtete die Situation, in der er wirkte, historisch. Das Denkmodell, an dem er sich orientierte, kam - keineswegs überraschend - aus der Geistesgeschichte Englands: Uns Deutschen geht es wie den Engländern zu Shakespear’s Zeiten. Wir haben in allen Theilen der schönen Wissenschaften Männer von den größten Talenten, aber der Geschmack der Nation ist im Ganzen noch nicht genug gebildet; also ist der Rest der Schriftstel¬ ler unleidlich. Shakespear und Bacon leben ewig; aber wer wird den damaligen Zustand der englischen Nation mit dem Zustande derselben zu Addison’s Zeiten, wo vielleicht nicht so ciusbiindige Genies aufstanden, vergleichen? Die Franzosen haben beides zu gleicher Zeit gehabt: ihre größten Genies, und ihren besten Ge¬ schmack."

VI Aul der Höhe seines Schaffens, um 1790, versuchte sich Nicolai nochmals an einem »englischem Projekt. Am 8. Mai 1789 schrieb er von Leipzig, wo er sich offenbar zur Messe aufhielt, an Johann Joa190

chim Eschenburg nach Braunschweig, dem wohl besten deutschen Renner der englischen Literatur in jener Zeit: Ich sende anbey ein Englisches Verzeichnis ietzt lebender Engli¬ scher Gelehrten. Da ich die neue Englische Litteratur liebe, so habe ich oft ein solches Buch vermißet und gewünscht, ud. es wird iedem, welcher Englisch ließt sehr angenehm seyn. Ich habe es daher ge¬ wagt im Meßcatalogus ein ietzt lebendes Gelehrtes England anzu¬ kündigen. Meine Meynung wäre, daß dies Buch in einer freyen Uebersetzung, (die Titre der Bücher aber müßten Englisch bleiben) zum Grundegelegt würde. Alsdann müßte das allgemeine Register des Monthly review zur Hand genommen werden ...Es würde auf diese Art zwar kein vollkommenes Buch entstehen, aber da wir einen gänzl. Mangel an diesen Nachrichten in Deutschland haben, so würde dadurch doch die Lücke einigermaßen ausgefüllt. Bios die Begierde dies zu bewerkstelligen brachte m ich auf diese Jdeef Nicolai konnte und wollte Eschenburg für diese Aufgabe nicht gewinnen, aber er fand, wie geplant, in Göttingen jemanden »zur Ausführung dieser Order«: Jeremias David Reuß. Ihm schickte Nicolai den 1788 in London anonym erschienenen Catalogue of Five Hundred Celebrated Authors of Great Britain mit der Bitte um schnelle Bearbeitung. Das Buch war in seiner Beschränkung auf die zeitgenössische Literatur neu und auf dem Buchmarkt zum Zeitpunkt seines Erscheinens konkurrenzlos. Aber es war, wie Reuß sofort erkannte, »für einen litterator... völlig unbrauchbar und höchst unvollkommenen«.62 Reuß schlug daher ein von dem englischen Catalogue losgelöstes bibliographisches Nachschlage¬ werk vor, und es kam zwischen Bearbeiter und Verleger auch bald zu einer Übereinkunft über den Charakter dieses Werkes. Das Modell, nach dem Reuß arbeitete, war Georg Christoph Hambergers Gelehrtes Teutschland, das später von Johann Georg Meusel überarbeitet wurde. In der Anlage der einzelnen Artikel, im Duktus der Einträge, in der Reduktion der für eine Bibliographie als beiläufig erachteten biographischen Information diente Hamberger als Vorbild. Ohne zu wissen, daß Nicolai sich von Anfang an für diesen Titel entschieden hatte, schlug Reuß als Titel vor: »Das neueste Gelehrte England. Handbuch der Neuesten Brittischen Lit¬ teratur enthaltend ein Schriften Verzeichnis aller Schriftsteller vom Jahr 1770-1790 oder Lexikon der englischen Schriftsteller von 1770-1790 nebst dem Verzeichnis ihrer Schriften«63 Das beschreibt exakt den Radius der Bibliographie und die Aufgabe, zu deren Lösung Reuß nur ein minimaler Zeitraum zur Verfügung stand. Im Hinblick auf die Titelwahl könnte man Verleger und Bear¬ beiter des Plagiats zeihen, zumal das Gelehrte Teutschland kein Verlagswerk Nicolais, sondern der Meyer’schen Buchhandlung in Lemgo war. Ein solcher posthumer Vorwurf wäre jedoch ange191

sichts des im späten achtzehnten Jahrhundert verhältnismäßig neuen Originalitätsbegriff verfehlt: er würde überdies auch einen wichtigen historischen Sachverhalt verdecken. Es ging Nicolai bei der Festlegung des Titels um etwas anderes: den, wie er Reuß er¬ klärte, »ganz gleichförmigen Zweck« der beiden Werke. Nicolai dachte offenbar in übergreifenden Zusammenhängen, und er scheint eine Art Informationskontinuum im Auge gehabt zu haben -zwei Werke, die es vermöge gleichartiger Prinzipien des Aufbaus und der Anlage dem Benutzer erlaubten, sich mühelos über die deutsche und die englische Literatur zu orientieren. Was die Entscheidung für das Gelehrte England letztlich bedeu¬ tete, wurde wenig später offenbar, als Johann Samuel Ersch Das gelehrte Frankreich oder Lexicon der französischen Schriftsteller von 1771 bis 1796 folgen ließ. Ersch war sich bewußt, damit eine Trias von bibliographischen Nachschlagewerken zu komplettie¬ ren,64 die dem deutschen Benutzer, wie sich im historischen Rück¬ blick erweist, seine eigene Gegenwartsliteratur und die der wich¬ tigsten Nachbarländer in einer Weise aufschloß und unmittelbar zugänglich machte, für die es anderswo kein Pendant gab. Aus der Korrespondenz zwischen Reuß und Nicolai lassen sich Entstehung und Fortgang des Gelehrten England in fast jedem De¬ tail verfolgen.65 Man gewinnt daraus nicht nur einen Eindruck von Nicolais täglicher Arbeit als Verleger, sondern auch von der Mühe, die er sich mit diesem Buche machte, das ihm als einem »Freund der englischen Literatur« besonders am Herzen lag. Jede Einzel¬ heit wurde zwischen Berlin und Göttingen erörtert - von der Ein¬ tragung bereits verstorbener Autoren bis zur typographischen Ge¬ staltung. Besondere Aufmerksamkeit fand die Frage, ob das Buch neben dem deutschen auch einen englischen Titel und ein engli¬ sches Vorwort erhalten solle, damit es in England auf den Markt kommen könnte. Nicolai versprach sich nicht viel davon (er hatte von seinen englischen Buchhändler-Kollegen keine hohe Mei¬ nung), w ollte aber schon im Hinblick auf die von Reuß investierte Arbeit für eine möglichst weite Verbreitung sorgen. Als das Buch in zwei Halbbänden zur Oster- und Michaelismesse 1791 erschien, trug es zusätzlich einen englischen Titel, der keine bloße Über¬ setzung des deutschen war, und es enthielt aus der Feder von Georg Förster ein englisches Vorwort, das es in England einführen sollte.60 Nicolai hatte mit der Bibliographie dreißig Jahre nach der mi߬ glückten Pope-Ausgabe ein weiteres Mal Pech. Reuß hatte eine große Leistung vollbracht, wie die Rezensenten in Deutschland allenthalben anerkannten. Er hatte ein vorzügliches Nachschlage¬ werk geschaffen, aber aus unerklärlichen Gründen ging das Buch nicht. Die Auflage scheint nicht mehr als 800 Exemplare betragen 192

zu haben,67 doch die meisten davon lagen noch auf dem Lager, als Reuß Nicolai zehn Jahre später eine Fortsetzung vorschlug. Das Supplement, das 1804 erschien, war umfangreicher als das Haupt¬ werk, und die Absatzchancen verschlechterten sich weiter. Alle Bemühungen von Reuß, der Bibliographie in England Reso¬ nanz zu verschaffen, schlugen fehl. Sie wurde nicht rezensiert, und die Autoren zweier englischer Werke, die kurz nach dem Gelehrten England in London erschienen, nahmen entweder keine Notiz da¬ von oder fällten ein abschätziges Urteil darüber.68 Die Anerken¬ nung kam erst zu einem Zeitpunkt, als Nicolai bereits tot war und Reuß nichts mehr daran gelegen sein konnte. »It ist surely not a little extraordinary,« schrieben die Verfasser des Biographical Dic¬ tionary of the Living Authors of Great Britain and Ireland im Jahre 1816, »that the plan of so useful a eatalogue as this should never have occured to any of our enterprising countrymen; but it is still more unaccountable that the biographical lists of Living Authors which have appeared among us should fall far short of the German work in extent and accuracy of information« (S.vi). Für Nicolai als Verleger ist es aufschlußreich, daß er Reuß sein Werk fortführen und in dem gewünschten und sachlich gebotenen Rahmen abschließen ließ, obwohl es ein Mißerfolg war. Er bestand darauf, es beim anfangs vereinbarten Honorar zu belassen. Und für Nicolai als >Freund der englischen Literatur» ist es kennzeich¬ nend, daß er ungeachtet finanzieller Verluste zu dem Projekt stand. »Ich habe dieses Werk,« schrieb er an Reuß, »so wie manches an¬ dere, das ich druckte, bloß aus Liebe zur Sache unternommen.«69 Nicolais Büchermachen war also nicht nur von der Art, die Kant ihm vorwarf. Und sein Urteil über die eigenen Verlagserzeugnisse hat zumindest im Falle des Gelehrten England bis heute Bestand: »Es ist und bleibt ein gutes Hülfsmittel zum Nachschlagen.« Aus der deutschen Buchproduktion des achtzehnten Jahrhunderts ist es das einzige Werk mit einem englischen Bezug, das noch heute mehr als historische Bedeutung hat. Dies allein schon würde Nico¬ lai unter den Vermittlern zwischen England und Deutschland einen besonderen Platz sichern.

Anmerkungen * Diese Studie ist im Zusammenhang mit Arbeiten zur Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland entstanden, die die Stif¬ tung Volkswagenwerk durch ein Akademie-Stipendium unterstützt hat. Ich möchte auch an dieser Stelle für die Förderung danken. 193

1 Vgl. neuerdings Voltaire and the English, Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 177 (Oxford, 1979); und Jürgen von Stackelberg, »Voltaire: Aufklärer, Rlassizist und Wegbereiter der Anglophilie in Frankreich«, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaften, Band 13: Europäische Auf¬ klärung III (Wiesbaden, 1980), S. 127-158. 2 Das deutsche Englandbild ist in den letzten Jahren unter verschiedenen Aspekten untersucht worden, die sich aber bislang noch nicht zu einer zu¬ reichenden Übersicht zusammenfügen. 3 Vgl. Ria Omasreiter, Travels Through the British Isles: DieFünktion des Rei¬ seberichts im 18. Jahrhundert, Anglistische Forschungen, 159 (Heidelberg, 1982); und >Der curieuse Passagierder Zweck aller Regierungen sey, die Regierung überflüssig zu machen:« so ist es wirklich zu verwundern, wie noch nicht alle Könige und Fürsten ihreScepter zu den Füßen des gedachten Hrn. Professors, des grö߬ ten aller Gelehrten haben niederlegen wollen. Zum Glücke von uns allen ist indeß leider! die ganze Welt, außer einigen Studirstuben und Kathedern, so tief ins Sinnliche und Empirische versunken, daß ich hoffe, ehe dieser glückliche Zeitpunkt eintritt, werde Hr. Prof. Fichte noch Zeit haben, die jetzt so nöthigen Verproviantirungen der Armeen nebst den Kabinettsnegociationen über den allgemeinen Frieden und die Schadlosigkeiten der kriegenden Theile, so wie auch über die Punkte der künftigen kaiserlichen Wahlkapitulation, - welche, Gott gebe es! erst spät im künftigen Jahrhunderte, wenn Hr. Prof. Fichte längst todt und vergessen seyn wird, nöthig seyn möge,-nebst mehrern für Menschen, so lange sie noch sinnlich bleiben, nöthigen Dingen, rein a priori aus dem kate¬ gorischen Imperativ, vermittelst einer allgemeinen Maxime herzu¬ leiten, nach welcher alle denkende Wesen - Gelehrte und höchste Menschen oder nicht - handeln müssen«.109 Als »philosophische Querköpfe«110 charakterisierte Nicolai die frühe kritische Schule: Heydenreich, Erhard, Niethammer, der schreibe, als habe ihn Fichte zum »Unteraufseher des mensch¬ lichen Geschlechts eingesetzt«,111 Maimon, Reinhold, schließlich Friedrich Schlegel, dessen »sehr schöne Abhandlung vom Werthe der griechischen Komödie« mit dem schulterklopfenden Gönnen des alten Kenners112 gelobt wurde - nur sei sie »hin und wieder durch Auswüchse scholastischer Terminologie ein wenig ent¬ stellt«. »Dadurch, so scheint es, hat sie ihr Verfasser recht gründ¬ lich, recht eindringlich machen wollen, und es erfolgt gerade das Gegentheil; denn die Gedanken werden dunkel, schielend und ein wenig pedantisch«.113 Und ebenso ergeht es - noch einmal - Schelling, den Nicolai un¬ ablässig auf den Pfad des gesunden Verstandes zurückzuholen sich bemüht: »Wenn sich Magister Schelling künftig mehr mit Sachen des gemeinen Menschenverstandes als mit seiner dürftigen Schul¬ spekulation beschäftigte, so könnte er, seinen natürlichen Talenten nach, wohl noch ein nützlicher und schätzbarer Mann werden; bleibt er aber bey der intellektuellen Anschauung seines Ich, so wird nichts aus ihm, als ein gelehrter Thor«.114 Nicolais Kritik war redundant. Sie lief zusammen in der Kritik der Kunstterminologie der kantischen und nachkantischen Pliilo232

sophie und in der generellen Ablehnung jedes Apriorismus, der »vonvornigen« Philosophie, gegen die Nicolai seine Erfahrungs¬ philosophie mit der Dickköpfigkeit eines Vaters beim Familienkrach verteidigte. Und derlei Argumentation vollzog sich nach dem Topos vom uneinholbaren Erfahrungsvorsprung: Die Erfahrung des Älteren war den Jungen prinzipiell überlegen. Hinter beiden Vorwürfen stand ein fundamentales Mißtrauen gegen jede Form von Metaphysik. Wie die eklektische Philosophie vor ihm, so ver¬ koppelte Nicolai einen ideologisch verteufelten Begriff von Scho¬ lastik mit einem ebenso ideologisch glorifizierten Begriff von Em¬ pirie; und das Scholastik-Verdikt wurde auf die Transzendentalphi¬ losophie übertragen: »Wie die Alten«, riet Nicolai als Quintessenz seiner ersten Idealismuskritik, »müssen sie schreiben, nicht aber wie die scholastischen Wortklauber aus den Zeiten des Duns Scotus oder Thomas von Aquino, sonst fället unsere Litteratur in die Zeiten des Scotus zurück und wird Leuten verächtlich, die schon weiter sehen und scholastische Wortphilosophie für leere Wort¬ philosophie halten«.115 Gut gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von gut gemacht: Diese Kritik war gut gemeint. Und sie fiel denn auch, der von Nico¬ lai so heftig befehdeten Kan tischen Willensethik zufolge, unter das Prädikat »moralisch gut«. Sachlich aber hatte Nicolai nicht begrif¬ fen, worauf es ankam. Er hatte nicht eingesehen, was apriorisch sei, daß eine apriorische Philosophie in der Lage sein müsse, ihrer¬ seits die empirische Philosophie zu begründen, ohne auf Empirie angewiesen zu sein; ja daß sie auch gar nicht auf Empirie angewie¬ sen sein durfte, wenn sie den Anspruch der transzendentalen Sub¬ jektivität nicht aufgeben wollte. Dieser Anspruch der transzen¬ dentalen Subjektivität, ob in der Setzung von Ich und Nicht-Ich, in der Synthesis der transzendentalen Apperzeption oder als kate¬ gorischer Imperativ mit der Gewißheit des Sittengesetzes - dieser Anspruch der transzendentalen Subjektivität war nicht die Privat¬ angelegenheit der Herren Kant, Fichte, Schiller, Heydenreich, Niet¬ hammer, Maimon oder Erhard gegen das empirische Bewußtsein des Philosophen Friedrich Nicolai, sondern war mit der Bewußt¬ seinsphilosophie schlechterdings gegeben. Nicolai hingegen machte aus der transzendentalen Apperzep¬ tion den zweckmäßig eklektischen Empirismus, bei dem das empi¬ rische Subjekt Erfahrungen bündelte und nach Zielen ordnete - nicht aber - und das verkannte Nicolai - als Bewußtsein die Ein¬ heit dieser Ideen erst konstituierte. Den Sprung von der empiri¬ schen Synthesis zur Synthesis a priori hat Nicolai nicht begriffen: »Wer sich«, versucht er die Transzendentalphilosophie als indivi¬ duelle Hybris zu denunzieren und sich damit zugleich zum morali233

sehen Richter zu machen, »auf seine eigene Ideen-Einheit ein¬ schränkt, und alles darnach beurtheilet, vergißt, daß selbst geistige Gegenstände uns nach dem Sehewinkel erscheinen unter denen wir sie betrachten, und daß wir uns nicht genug hüten können zu schließen, die Ideen anderer müßten klein und verächtlich seyn, weil sie von uns entfernt sind, und die unsrigen müßten groß und erhaben seyn, weil sie direkt vor uns stehen«.116 Diese Argumenta¬ tion verkannte den Maßstab. Denn daß das Denken selbst konsti¬ tuierend für die Denkinhalte war, diesem Argument konnte man nicht dadurch beikommen, daß es auch sonst noch Gedanken gibt, die man noch nicht gedacht haben mochte. Eine solche Kritik ver¬ kannte das Verhältnis von Ganzem und Teilen, verkannte die neue Dimension des Idealismus.

3. Eine Exekution in der Gelehrtenrepublik Wer sich auf die Kritik der Transzendentalphilosophie einläßt, ohne in der Lage zu sein, ihr den hermeneutischen Minimalkredit zu geben, daß man zunächst verstehen müsse, um kritisieren zu können, der kann nur Meinungen und Standpunkte vertreten, die er nicht mehr begründen kann - seine Argumente sind dann zwar gutgemeint, verfehlen aber die Sache: damit sind sie nur noch moralisch. Und falsche, aber moralische Urteile sind auf schwer erträgliche Weise larmoyant. Gleichwohl: Nicolai erreichte mit sei¬ nem Unverständnis einige Bewegung in der philosophischen und ästhetischen Provinz der Gelehrtenrepublik. Das prominenteste Opfer der Unruhen, die er auslöste, wurde er freilich selbst. Die leicht moralisierende Implikation von Nicolais Larmoyanz, mit der die vorkantische optimistische Moralphilosophie, die von der Einheit von gut, schön und zweckmäßig ausging, argumentierte, die Zugehörigkeit von Merkantilismus, Moral und Ästhetik war schon Ansatzpunkt von Nicolais Wertherkritik geworden. Und die¬ ser philosophische Maßstab wurde nun auch an die idealistische Ästhetik angelegt: sie sei nutzlos, Wortgeklingel und deshalb hirngespinstig. Die moralische Integrität von Nicolais Kritik - auch sein väter¬ lich-toleranter Versuch, zwischen dem Talent der jungen Kritiker und Philosophen, das durch die Trauszendentalphilosophie ver¬ führt sei, und seinen »eigentlichen« Fähigkeiten zu unterscheiden - wurde von den Betroffenen als penetrante Missionsabsicht in die Vergangenheit aufgefaßt. Nicolais moralisch gemeinten Versuche der Trennung von Person und Sache akzeptierten die gnadenlosen Xenien, die Goethe und Schiller im Musenalmanach auf 1797 ver¬ öffentlichten, nicht mehr. Hier wurde Nicolai in einem runden Dutzend Xenien hingerichtet: 234

Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen, aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg. begann die »Salve grobes Geschütz«117 gegen den elften Band der Reisen. A propos Tübingen! höhnten die Xenien, Dort sind Mädchen, die tragen die Zöpfe Lang geflochten auch dort gibt man die Horen heraus. Und dann wurde Nicolai das Opfer seines eigenen Witzes: Philosophische Querköpfe »Querkopf!» schreiet ergrimmt in unsere Wälder Herr Nickel, »Leerkopf« schallt es darauf lustig zum Walde heraus. Empirischer Querkopf Armer empirischer Teufel! du kennst nicht einmal das Dumme In dir selber: es ist, ach! a priori so dumm. Nach diesen parodistisch-satirischen Frontalattacken trafen die Xenien zunächst Nicolais Philosophie - und sie trafen gut - an¬ schließend richteten sie die Person. Die Philosophie: Formalphilosophie Allen Formen macht der den Krieg, er weiß wohl, zeitlebens Hat er mit Müh und Not Stoff nur zusammengeschleppt. Fichte und er Freilich tauchet der Mann kühn in die Tiefe des Meeres, Wenn du, auf leichtem Kahn, schwankest und Heringe fängst. Die Weidtasche Reget sich was, gleich schießt der Jäger; ihm scheinet die Schöpfung, Wie lebendig sie ist, nur für den Schnappsack gemacht. Die Xenien schließlich, die die Person Nicolai mit den Mängeln seiner Philosophie verbanden, um beide, Person und Philosophie, gemeinsam zu erschlagen, waren grausam, maßlos, tödlich tref¬ fend. Das grobe Organ Was du mit Händen nicht greifst, das scheint dir Blinden ein Un¬ ding. Und betastest du was, gleich ist das Ding auch beschmutzt. Pfahl im Fleisch Nenne Lessing nur nicht! Der Gute hat vieles gelitten, Und in des Märtyrers Kranz warst du ein schrecklicher Dorn.« 235

Verkehrte Wirkung Rührt sonst einen der Schlag, so stockt die Zunge gewöhnlich, Dieser, so lange gelähmt, schwatzt nur geläufiger fort. Der Glückliche Sehen möchte ich dich, Nickel, wenn du ein Späßchen erhaschest Und, von dem Fund entzückt, drauf dich im Spiegel besiehst. Der Wichtige Seine Meinung sagt er von seinem Jahrhundert, er sagt sie, Nochmals sagt er sie laut, hat sie gesagt und geht ab.m Nicolai hat sich von diesen Injurien publizistisch nicht mehr er¬ holt: und er stand hier als Aufklärungsrepräsentant der deutschen Klassik gegenüber. Hier wurde das Verdikt über die seichte Aufklä¬ rung gegründet, hier entstand die Gleichung von Aufklärung und Aufkläricht. Gegen die bösartige, giftige Brillanz dieser Xenien war im eklektischen Feld kein Kraut gewachsen. Nicolais Verteidigung konnte sich am Ende nur noch aufs Rechthaben oder auf die Mora¬ lität der eigenen Person stützen. Sachlich war er unterlegen. Des¬ halb hatten seine unaufhörlichen Verteidigungen etwas rührend Heldenhaftes an sich und etwas von unerträglicher Penetranz zu¬ gleich. Er wehrte sich. Der Anhang zu Friedrich Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1797119 versuchte, das im publizistischen Krieg verlorengegangene Terrain wieder zurückzuerobern. Aber die Waffen der eklektischen Philosophie waren stumpf geworden; und neue standen nicht zur Verfügung. Zwar, es stimmte: Die Xenien waren von einer unerträglichen Arroganz, es stimmte: »Egoismus verdunkelt das Genie, und trocknet es endlich ganz aus. Eigen¬ sucht verhindert Wohlwollen, wodurch Menschen mit Menschen verbunden werden; ohne Wohlwollen findet kein Verdienst statt, und ein Genie ohne alles Wohlwollen ist nicht ächt«.120 Aber die moralische Fundierung der Ästhetik, die Nicolai versuchte, funk¬ tionierte nicht mehr; die Frage nach der Spontaneität des geniali¬ schen Ich dominierte vor der Verortung der Kunst in einem poli¬ tisch-moralischen Erfahrungsfeld. Deshalb zog auch die psycholo¬ gische Moral nicht, mit der Nicolai die Arroganz der Xenien erklä¬ ren wollte: Schill r »Ich danke Gott mit Saitenspiel, das ich nicht , worden. Gothe Ich wär geschmeichelt worden viel und wäre baid verdorben!«121 Wo es auf die Konstitution der Welt durch das philosophische und ästhetische Subjekt ankam, konnte die Frage nach der Bedin¬ gung der Möglichkeit von Kunst nicht von deren möglichen inhalt236

liehen moralischen Bedingtheiten beantwortet werden. Nicolai hatte die Differenz zwischen der Konstitutionsleistung der Ver¬ nunft, als die Kant und der Idealismus die Kritik gefaßt hatten, und der auswählenden, witzig eklektischen Kritik nicht erfaßt. Nicolais Unverständnis und sein Einfluß auf die öffentliche Mei¬ nung waren wohl der Grund, weshalb der alte Kant in den Streit eingriff, den Nicolai mit der Rundumkritik der kritischen Philoso¬ phie im elften Band seiner Reisebeschreibung entfacht hatte. Kant machte zunächst nur eine bissige Bemerkung in der Rechtslehre der »Metaphysik der Sitten« zu Nicolais Terminologiekritik. Zwar verdiene der »Unfug«, die Terminologie der Transzendentalphilo¬ sophie auch im »öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen«, »ge¬ züchtigt zu werden«, »wie Herr Nicolai tut«. »Indessen läßt sich über den unpopulären Pedanten freilich viel lustiger lachen als über den unkritischen Ignoranten«.122 Der neue Titel Nicolais, »unkritischer Ignorant«, war hart, aber vermutlich zutreffend; an die Bösartigkeit der Xenien wollte Kant wohl nicht anschließen. Nicolai war zäh; und mittlerweiler hatte er sich eingeschossen. Nachdem er schon 1796 - im Jahr des Erscheinens der Horenkritik in den Reisen durch Deutschland und die Schweiz in der Deutschen Monatsschrift einen Aufsatz veröffentlicht hatte, der die Insuffi¬ zienz des kantischen kategorischen Imperativs für die mensch¬ liche Praxis darstellte,123 nachdem er auch in der Nachschrift zum Anhang zu Schülers Musenalmanach auf Kants Bemerkung repli¬ ziert hatte, wiederholte er seine Kritik in seiner besten philosophi¬ schen Satire: Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen Philosophen (1798). Natürlich geht es in diesem satirischen Roman, wie es in derlei satirischen Romanen gehen muß: Der Held, dem in Halle »die eklektische Philosophie« »so sehr« gefiel, daß »er wirklich in Ge¬ fahr« stand, »zu dieser Philosophie verführt zu werden«,124 wird »vonvorniger« Philosoph, ist aber auf seinem Wege durch Deutsch¬ land außerstande, die vonvornige Philosophie in die Praxis umzu¬ setzen, allerwegen erweist sich der gesunde Menschenverstand als zweckmäßiger für die Prosperität und das Glück von Staat und Bürger. Nicolais Dialoge sind kleine philosophische Abhandlun¬ gen - und wenn es nicht mit unverständiger Kritik am falschen Gegenstand geschehen wäre, so könnte man hier den Sinn der Phi¬ losophie für die Welt erkennen. Die Aufklärung, die im Sebaldus Nothanker gefordert wurde, war bei Sempronius Gundibert arri¬ viert genug, um gegen den scholastischen Unfug der Tanszendentalphilosophie zu bestehen, jedenfalls in der Satire. Nur besteht die Quintessenz des Sempronius Gundibert erneut in dem Versuch, die kritische Philosophie als terminologischen, erschlichenen 237

Taschenspielertrick aus eigentlich empirischem Denken zu de¬ nunzieren. Der noch nicht zum Empiristen bekehrte Kantianer Sempronius Gundibert klagt da: »Das Schlimmste aber von allem Schlimmen und wogegen wenig Rath zu finden seyn möchte, ist der Frevel gewisser empirischer Philosophen, welche nicht nur von hinten, sondern auch von vorn sehr scharf um sich gesehen haben, und nun behaupten, das Vonvorn der neuen deutschen Phi¬ losophen sey von hinten hergeholt, und gar nicht ein reines Von¬ vorn zu nennen, ja selbst die Tafel der Kategorieen sey aus Beob¬ achtungen über das Denken entstanden«.125 Auf Grund dieses Unverständnisses, das in den Neun Gesprä¬ chen zwischen Christian Wolff und einem Kantianer über Kants metaphysische Anfangsgründe der Rechts- und Tugendlehre126 noch einmal aufgewärmt wurde, platzte Kant der Kragen. Er unter¬ stellte Nicolai in zwei offenen Briefen Über die Buchmacherei seine, Nicolais, Kritik der Transzendentalphilosophie sei aus rei¬ nem merkantilen Interesse erfolgt; und dann folgte die philo¬ sophische Aburteilung: »Was aber die völlige Unwissenheit und Unfähigkeit dieser spöttisch nachäffenden Philosophen, über Vernunfturtheile abzusprechen, klar beweiset, ist: daß sie gar nicht zu begreifen scheinen, was Erkenntniß a priori (von ihnen sinnreich das Vonvornerkenntniß genannt) zum Unterschiede vom empiri¬ schen eigentlich sagen wolle. Die Kritik der r.V. hat es ihnen zwar oft und deutlich genug gesagt: daß es Sätze sind, die mit dem Be¬ wußtsein ihrer inneren Nothwendigkeit und absoluten Allgemein¬ heit (apodiktische) ausgesprochen, mithin nicht wiederum als von der Erfahrung abhängig anerkannt werden, die also an sich nicht so oder auch anders sein können; weil sonst die Eintheilung der Urtheile nach jenem possierlichen Beispiel ausfallen würde: >Braun waren Pharaons Kühe; doch auch von anderen Färbern. Aber niemand ist blinder, als der nicht sehen will, und dieses Nicht¬ wollen hat hier ein Interesse, nämlich durch die Seltsamkeit des Spectakels, wo Dinge, aus der natürlichen Eage gerückt, auf dem Kopf stehend vorgestellt werden, viel Neugierige herbei zu ziehen, um durch eine Menge von Zuschauern (wenigstens auf kurze Zeit) den Markt zu beleben und so im litterärischen Gewebe die Han¬ delsindustrie nicht einschlummern zu lassen; welches dann doch auch seinen, wenn gleich nicht eben beabsichtigten Nutzen hat, nämlich vom zuletzt anekelnden Possenspiel sich hernach desto ernstlicher zur gründlichen Bearbeitung der Wissenschaften an¬ zuschicken«.127 Mit Unterstellungen kommt Schärfe in die Polemik, die Schärfe ist zugleich die Folge von Larmoyanz. Denn unter der Bedingung von Unverständnis bleibt dem unverständigen Kritiker nur die Möglichkeit, seine Rechtschaffenheit zu verteidigen. 238

Der Vorwurf, ein Kritiker habe etwas nicht verstanden, kann stets nur mit zweierlei Argumenten begründet werden: mit der Böswilligkeit des Kritikers und/oder mit seiner Dummheit. Zum Konzept der eklektischen Philosophie gehörte ihre Bescheidenheit, gehörte die Voraussetzung, die Nicolai verteidigte bis zur Selbst¬ aufgabe: Dali die Universalität des Wissens für den Menschen nicht erreichbar sei - und daß man sieh folglich mit dem Nützli¬ chen zu begnügen habe. Fichtes Anspruch, daß die Wissenschafts¬ lehre als Wissenschaft aller Wissenschaft verbürgen müsse, »dass sie nicht nur alle bis jetzt bekannten und erfundenen, sondern auch alle erfindbaren und möglichen Wissenschaften begründete, und dass sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens vollkom¬ men erschöpft habe«,128 ein solcher Anspruch mußte einem Vertre¬ ter jener unreflektierten Bescheidenheitsmetaphysik schlechter¬ dings lächerlich Vorkommen. Gegen den Vorwurf des Unverständ¬ nisses, gegen die Alternative von Böswilligkeit oder Dummheit konnte ein eklektischer Philosoph seine Weisheit allerdings nicht beweisen - da ließ ihn seine skeptische Bescheidenheit im Stich. Für die Apologie gegen solche Insinuationen blieb also nur die lar¬ moyante Beteuerung der eigenen Redlichkeit: Und genau diese Argumentation verschärfte erneut den Ton. Denn gegen die Beteuerung, man habe es gut gemeint, gibt es nur noch den Zynis¬ mus, es sei aber nicht gut geworden. In dieser Schere, in der Polemik keine andere Wahl mehr hat als verletzend zu werden, bewegen sieh Nicolais Streitereien. Auf Kants Insinuation antwortete Nicolai mit einem Büchlein Über meine gelehrte Bildung, das die alten Argumente wiederholte, da¬ bei aber nicht müde in der Behauptung der eigenen Rechtschaffen¬ heit und Kompetenz wurde: eine autobiographische Apologie und Polemik gegen die kantische Moralphilosophie, darüber hinaus eine Wiederholung seiner Vorwürfe gegen Fichte und Erhard.129 In Fichte muß es lange gekocht haben, ehe er sich zu einer Reak¬ tion auf Nicolais unphilosophische Nörgelei entschloß - zu einer Kritik, die in ihrer verletzenden Schärfe nur um so deutlicher machte, daß der redliche Nicolai zwar moralisch gerechtfertigt, sachlich aber indiskutabel wurde. Die Satire wurde scharf; sie passierte die liberale Berliner Zen¬ sur nicht und wurde 1801 von August Wilhelm Schlegel just in dem Tübingen veröffentlicht, das den Anlaß zu Nicolais Rundumkritik der neueren Uiteratur und Philosophie abgegeben hatte. Die Tat¬ sache, daß die Schrift nicht durch die Zensur gekommen war, ver¬ schwieg Schlegel, als er die Einleitung schrieb zu Nicolais Leben und sonderbare Meinungen, Ein Beitrag zur Literargeschickte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts.13° Schlegel setzte auf einen Schelmen anderthalb und rechtfertigte 239

sich so: »Das Manuscript kam in dem Kreise seiner [Fichtes] Freunde an mich; ich bin durch keine Bevorwortung des Verfas¬ sers bei dem Gebrauche, davon möchte machen wollen, einge¬ schränkt, und so gestehe ich, dass ich mir ein Gewissen daraus machen würde, diese bündige und erschöpfende Charakteristik eines in seiner Art merkwürdigen Individuums dem Publicum vor¬ zuenthalten«. Diese gewissenlose Spielerei mit dem eigenen Ge¬ wissen setzte in souveräner Subjektivität voraus, was das Ergeb¬ nis der Xenienkritik war: Nicolais publizistische Vernichtung. Aber auch dieser Annihilation konnte mit dem Idealismus Fichtes abgeholfen werden: »Was Nicolai betrifft, so weiss ich wohl, dass ich ihm durch die Herausgabe dieser Schrift die grösste Wohlthat erweise. Was könnte ihm, der seine hauptsächlichen Gegener nicht einmal dahin bringen kann, seine weitläufigen Streitschriften zu lesen, geschweige denn zu beantworten, der ihnen höchstens nur einige hingeworfene Sarkasmen ablockt, glorreicheres begegnen, als dass Fichte auf ihn, als auf ein wirklich existierendes Wesen, sich förmlich einlässt, ihn aus Principien construirt, und ihn wo mög¬ lich sich selbst begreiflich macht? Der Tag, wo diese Schrift er¬ scheint, ist unstreitig der ruhmbekrönteste seines langen Lebens und man könnte besorgen, er werde bei seinem ohnehin schon schwachen Alter ein solches Übermass von Freude und Herrlich¬ keit nicht überleben«.131 August Wilhelm Schlegels Vorwort ist wohl die infamste Pole¬ mik, die in diesem Literatur krieg zustande gekommen ist - sie erfüllt den Tatbestand literarischer Leichenfledderei. Schlegels rüder Sarkasmus war von der literarisch spielerischen Unmoral, die Nicolai bekämpft hatte. Aber Nicolai blieb machtlos, vor allem, nachdem Lichte die philosophiehistorische Position der Berliner Aufklärung auf den Begriff brachte. Nicht nur nahm er im Titel die nicolaiische Standardformulierung »Leben und Meinungen« auf, freilich mit dem Zusatz: »sonderbare Meinungen«. Vielmehr be¬ schrieb er die philosophische Position Nicolais, indem er dessen intellektuelle Biographie präparierte und sie mit Erfahrung und Erkenntnis der gelehrten Geschichte seit der Mitte des achtzehn¬ ten Jahrhunderts identifizierte. Indem Fichte die Erfahrungsphilo¬ sophie Nicolais als das nahm, was sie war, nämlich seine persön¬ liche Erfahrung, indem er diese Erfahrung als Quintessenz von Nicolais Leben und philosophischen Meinungen auffaßte, indem er Nicolais philosophischen Anspruch und sein gelebtes Leben in Übereinstimmung sah, zugleich als einen Erfahrungsschatz, begriff Fichte Nicolais philosophische Position. Und damit war Nicolai so präpariert, daß Fichte Nicolais Meinungen vorführen konnte: »Nemlich ich scheue mich nicht zu gestehen, dass, seitdem ich die mich umgebende Welt kenne und selbst eine Meinung habe, 240

nichts mir verhasster und verächtlicher gewesen ist, als die elende Behandlung der Wissenschaften, da man allerlei Facta und Mei¬ nungen, wie sie uns unter die Hände kommen, zusammenrafft, ohne irgend einen Zusammenhang oder einen Zweck, ausser dem, sie zusammenzuraffen und über sie hin und her zu schwatzen; da man über alles für und wider disputirt, ohne sich für irgend etwas zu interessiren, oder es ergründen auch nur zu wollen, und in allen menschlichen Kenntnissen nichts erblickt, als den Stoff für ein müssiges Geplauder, dessen Haupterforderniss dies ist, dass es ebenso verständlich sey am Putztische, als auf dem Katheder; jene schaale Wisserei und Stümperei, Eklectizismus genannt, die ehe¬ mals beinahe allgemein waren, und auch gegenwärtig noch sehr häufig angetroffen werden«.132 Damit ist Nicolai nicht nur nicht mehr ernst genommen, er ist nicht nur Spiel und Zielscheibe von sarkastischem Spott, sondern er wird literarisch verteufelt. Fichte charakterisiert ihn als das »vollendetste Beispiel einer solchen radicalen Geisteszerrüttung und Verrückung in unserem Zeitalter«, als ein Wesen, dessen Bild er »allen studirenden Jünglingen, in denen ein Hang seyn könnte, seine Bahn zu betreten, und allen, die auf die Bildung dieser Jüng¬ linge Einfluss hätten, zum warnenden Beispiele hinstellen«133 wolle. Diese Kritik ist maßlos - und sie hat in der Maßlosigkeit ihrer eigenen Konfundation von moralischem Verdikt und intellektuel¬ ler Redlichkeit doch sachlich recht bis in die einzelnen Begriffe. Das macht eine Verteidigung Nicolais gegen Fichte fast zur Un¬ möglichkeit. Gleichwohl, Nicolai war unerschrocken in seiner Donquichotterie und reagierte erneut mit dem Versuch einer phi¬ losophischen Satire. Der Titel nahm die Unverschämtheiten August Wilhelm Schlegels auf und versuchte zugleich, Fichtes sati¬ rische Angriffe zu parieren: »Ueber die Art, wie vermittelst des transcendentalen Idealismus ein wirklich existirendes Wesen aus Principien konstruirt werden kann. Nebst merkwürdigen Proben der Wahrheitsliebe, reifen Überlegung, Bescheidenheit, Urbanität und gutgelaunten Großmuth des Stifters der neuesten Philoso¬ phie«.134 Nicolai berichtete zunächst den Hergang der Drucklegung des Fichteschen Pasquills, das wegen Personal Injurien die preußische Zensur nicht passieren konnte - und war dann gezwungen, seine alten Vorwürfe zu wiederholen: Fichtes Philosophie war ihm »scholastische Phantasie«, »dialektisches Spiel mit leeren Wor¬ ten«.135 Er, Nicolai, habe dagegen »so wie immer, die gesunde Ver¬ nunft nebst der Freyheit der Untersuchung des eigenen Urtheils, welche sie (Fichte und Schlegel) unterdrücken wollen, vertheidigt«.136 Er wird nicht müde, gegen die »sechs oder acht Leute« zu 241

wettern, die »ohne Beobachtung und Erfahrung, ohne auf Beurtheilung Anderer die geringste Rücksicht zu nehmen«, »...sich selbst und ihre paar Genossen mit der lächerlichsten Arroganz als die einzigen Philosophen ankündigen; welche alle andere philoso¬ phische Gedanken, die nicht die ihrigen sind, ausrotten wollten«.1 37 Er wurde eben auch nicht müde, sein Unverständnis der Transzen¬ dentalphilosophie zu demonstrieren. Immerhin war das Mißver¬ ständnis noch für einen satirischen Witz gut: Fichte hätte, ver¬ wahrte sich Nicolai bitter, bei seinem Ich bleiben, nicht Nicolai aus sich selbst produzieren sollen.138 Das war wohl die Quintessenz auch für die Philosophie Fichtes und Nicolais: Für den Idealismus war der Eklektizismus aufgehoben, für den Eklektizismus war ge¬ nau diese Aufhebung unverständlich. Wie hätte sich eine Philosophie aufheben lassen sollen, die sich als eine Theorie des gerechten Beurteilens, als eine Theorie kriti¬ scher Sachlichkeit verstand, die in dieser Theorie den Vollständig¬ keitsanspruch dessen, was ihr zukommen konnte, mit dem skepti¬ schen Bescheidenheitstopos verband. Dieser Eklektizismus war die Philosophie der affektierten Bescheidenheit-und darin lag ihre spezifische Blindheit. Wahrscheinlich war es der Anspruch, jeder Sache aus ihr selbst in der gebildeten Öffentlichkeit gerecht zu werden, der den blinden Fleck des Eklektizismus ausmachte. Denn die eklektischen Philosophen konnten und wollten nicht beschrei¬ ben, ob sich die Vollständigkeit ihres Wissens erweisen lasse. Die Voraussetzung der Dominanz des gesunden Menschenverstandes war, daß Logik und Metaphysik ausgeschaltet waren: polemische Kernbegriffe waren Scholastik und Pedanterie. Die Frage nach der Vollständigkeit menschlichen Wissens konnte aber nur in logi¬ schen, metaphysischen oder transzendentalen Zusammenhängen gestellt werden. Wäre sie gestellt worden, wären damit die Vor¬ aussetzungen der eklektischen und der empirischen Philosophie gleichermaßen infrage gestellt worden. Auf die formale Wissen¬ schaft vom Wissen, die durch die Fragestellung entstanden wäre, wie denn Wissen möglich sei und vollständig dargestellt werden könne, konnte sie sich nicht einlassen. Die eklektische Philosophie der deutschen Aufklärung stand ebenso wie der westeuropäische Empirismus in der Tradition der Skepsis, und skeptische Tradition war a limine gegen Universalwissen angetreten. Aber konnten skeptische Argumente wirklich etwas ausrichten gegen die Vor¬ stellung des Wissens allen Wissens? Immer konnten die Skeptiker mit der Beschränktheit ihrs eigenen Ansatzes konfrontiert wer¬ den: Wenn Skepsis auf Skepsis angewandt wurde, w ar die Skepsis selbst nur eine mögliche Position, die sich selbst nicht legitimieren konnte. 242

Allen Fragen also nach ihrem eigenen Status mußte die eklek¬ tische Philosophie ausweichen, weil sie kein Mittel hatte, sich selbst zu rechtfertigen. Eine Philosophie, deren Geschäft und deren Leistung die Empirie von Natur und Geschichte war, die sich immer nur in einem Bereich des Wissens agieren sah, konnte über sich selbst nicht befinden. Und so gab es innerhalb der eklekti¬ schen Philosophie doch einen Bereich, der historisch und empi¬ risch nicht auszumachen war: Das war die Legitimität der eigenen Position. Im genauen Sinne hatte der Cartesianismus für diese Phi¬ losophie nicht stattgefunden. Die Versicherung der Gewißheit in mir, die Vorstellung, mit der auch Christian Wolff seine Philosophie begonnen hatte, daß Selbstgewißheit als Voraussetzung der Be¬ wußtseinsphilosophie beschrieben werden mußte, Leibnizens prästabilisierte Harmonie und Kants transzendentale Apperzeption konnten im Eklektizismus nicht als Bedingung der Möglichkeit sicheren Erkennens erkannt werden, weil sie hier nur als wissen¬ schaftliche Topoi wie andere beschreibbar waren, nicht aber als Fundierungsbegriffe, die anderen Begriffen zugrundelagen. Der Eklektizismus war nicht in der Lage, Begründung und Folge, Fun¬ dierung und Konsequenz zu beschreiben. Seine Systematik war nur topisch, nicht metaphysisch begründbar.

IV. Hermeneutischer Beschluß über das Nichtverstehen Es mag sein, daß in dem Mißverhältnis von enzyklopädischem Anspruch des Eklektizismus und der Unbegründbarkeit dieses Anspruchs mit den Mitteln der eklektischen Philosophie die spe¬ zifische Borniertheit dieses Wissenschaftskonzepts lag. Wenn man diese These für die Veränderung der Popularphilosophie zur Trans¬ zendentalphilosophie zugrundelegt, bleibt die Frage, wieso der Interpret diese Veränderungen selbstverständlich konstatiert und ein Mann von der Versatiiität Nicolais den - freilich entscheiden¬ den -Unterschied in der Begründbarkeit philosophischer Positio¬ nen nicht begriff. Nicolais eklektische Mitphilosophen, Mendels¬ sohn, Garve, Eberhard, haben wohl in ähnlicher Weise wne Nicolai die Wende zur Transzendentalphilosophie nicht vollzogen, haben möglicherweise dieTranszendentalphilosophie auf ähnliche Weise mißverstanden wie Nicolai. Aber sie haben sich nicht in ähnlicher Weise und mit Hartnäckigkeit gegen diese Philosophie gewehrt. Ob sie deren Überlegenheit anerkannt haben, ist ungewiß; aber sie haben geschwiegen, sich durch ihre Ignoranz nicht lächerlich ge¬ macht und nicht machen lassen. Kant hatte in seinem zweiten Brief an Nicolai konstatiert: »Niemand ist blinder, als der nicht sehen will«,139 und er hatte damit die beiden Komponenten zusammen¬ gefaßt, die das Phänomen Borniertheit ausmachen: Entweder je243

mand ist außerstande, bestimmte Dinge einzusehen, oder er ist böswillig. Im ersten Fall ist er intellektuell unterlegen-dann kann er einem leid tun, wird als Gegner nicht mehr ernst genommen; im zweiten Fall gerät er in ein ethisches Verdikt. In jedem Fall geschieht es, daß die Einsicht in die Notwendigkeit nicht statthat, daß der Funke nicht überspringt, daß Unverständnis herrscht. Die Erklärung dieses Sachverhalts besteht zunächst in seiner Unerklärbarkeit - und in diesem Unerklärbaren kommen Wille und Vernunft in einer merkwürdigen Verschränkung zuein¬ ander. Die Theologie hat dieses Verhältnis von Unverständnis und Böswilligkeit an der Sündenlehre beschreiben müssen, die die¬ selbe Unerklärliehkeit vorfindet. Dort, in der theologischen Psy¬ chologie, gibt es einenTerminus für dieses unerklärliche Schillern zwischen Wille und Verstand: Verstocktheit. Die theologische Psychologie der »Verstocktheit« geht von einer inneren Dynamik der Seelenvermögen aus, in der theologische Wahrheit und Vernunft auf der einen, Wille und sinnliche Leiden¬ schaft auf der anderen Seite stehen. Innerhalb des schmalen ge¬ meinsamen Bereichs von Vernunft und Wille vollzieht sich der Kampf zwischen Selbstbezug und Wahrheitsdienst, ein Kampf, der entweder im Willen zur Wahrheit (was theologisch der Wille zur Unterwerfung und zum Dienst auch der göttlichen Wahrheit ist) oder in der Verstockung endet.140 Die Verstockung - Obstinatio gegen die göttliche Wahrheit wurde als Hinneigen zur Leiden¬ schaft erklärt, zugleich damit als Verhärten gegen die Wahrheit, als Verweigern ihres Dienstes: Obstinatio war das intellektuelle und moralische »Non serviam«. Die theologische Tradition der katholi¬ schen Scholastik faßte diesen Sachverhalt so: »Obstinata mente peccare, aggravat peccatum, et dicitur peccatum in Spiritum Sanctum, cuius triplex est causa, scilicet longa consuetudo peccandi, incredulitas de justitia Dei, et seductio inimici«.141 Johann Michael Sailer hat in seiner Vernunftlehre für die Men¬ schen wie sie sind142 in der Tradition der natürlichen Theologie argumentiert und die philosophische und theologische Wahrheit ineinandergeschoben, damit zugleich die Psychologie der Sünde als Psychologie der Wahrheitsverweigerung beschrieben. Es han¬ delte sich in seiner Verstocktheitstheorie nicht mehr um das Mi߬ trauen in die göttliche Gerechtigkeit, auch nicht um die Verfüh¬ rung durch den bösen Feind. Es blieb nur noch die Psychologisie¬ rung übrig, die die Plausibilitätssteigerung des Falschen erklärlich machte und die endlich zur böswillig gewollten Blindheit gegen die Wahrheit führte. Sailer ging traditionell von der Antithetik von Leidenschaft/Wille und Vernunft/Wahrheit aus. Er sah den Ansatz der Verstocktheit bereits darin, daß jemand versuchte, »nur aus dem Gesichtspunkte seiner Denkart, die er bereits mit der Wahr244

heit verwechselt hat«143 zu denken. Das war für Sailer der Gesichts¬ punkt von »Zärtlichkeit und Eigenliebe«.144 Der Mischbereich von Vernunft und Wille, in dem diese Psycho¬ logie argumentierte, machte es möglich, Gefühl und Intellekt so ineinanderzuschieben, daß die Verbindung von Zärtlichkeit und Eigenliebe schon den ersten Schritt auf dem Weg zur Verstocktheit darstellte. Sie war die Voraussetzung für das Plausibilitätsüber¬ gewicht der eigenen Position. Wo nicht Selbstdenken entscheidend war, sondern Dienst an der Wahrheit, wurde Selbstdenken selbst¬ genügsam, die Theorie damit selbstzufrieden. Diese Selbstzufriedenheit war ein psychologischer Leitbegriff, hatte also Bezug auf die Selbststabilisierung der Seele und auf den Anspruch der Wahrheit zugleich. Der Selbstbezug war der Drall zum Eigenwillen, der von der Wahrheit, die stets Dienst ist, allmäh¬ lich wegführte: »Die Leidenschaft schwächet anfangs die Lust zu sehen, daß man nicht mehr sehen will, was da ist, und schließt nach und nach das Auge zu, daß man nicht mehr sehen kann, was da ist. Es ist dies die Natur der herrschenden Neigung, oder Abneigung. Je gebietender z. B. das Wohlgefallen an sich selbst, und die Ver¬ liebtheit in sich selbst wird: desto mehr verlieren wir den freien Gebrauch der Vernunft in Bemerkung unserer Thorheiten«.145 Mit dem Verlust des Wahrheitssensoriums wächst die Herr¬ schaft der Neigungen und Leidenschaften-damit eröffnet sich der Bereich von Irrtum und Laster: Stolz, Eigensinn, Umkehrung der Ordnung. Die dynamische Psychologie der Wahrheitszuwendung und -Verweigerung entsprach der Theologie, der natürlichen Gnade oder der Sünde gegen den Heiligen Geist, einer Theologie, die Sailer zur Psychologie der Verweigerung der Wahrheitser¬ kenntnis depotenzierte: »Die Leidenschaft erzeuget die Wahrheits¬ feindliche Lust, die Dinge anders sehen zu wollen, als sie sind. Eigentlich sollte das Wollen nur auf das wahre Gut gerichtet seyn. Allein die Leidenschaft kehrt die Ordnung um.«146 Die Selbstgenügsamkeit jeder Argumentation hat innerhalb der theologischen Psychologie zur Lolge, zur Borniertheit zu verkom¬ men, ohne daß eine Schuld an der Unwahrheit in einem Moment auszumachen wäre: Der Prozeß insgesamt ist schuldhaft. Und das gilt gerade für Nicolais Philosophie. Die Plausibilität seiner Theo¬ rie liegt gewiß auch in der Unbestreitbarkeit ihrer Leitbegriffe. Dort freilich geht es Nicolai wie allen Skeptikern: So wenig wie man Skepsis auf Skepsis anwenden kann, ohne die Situation des Skeptikers gleichgültig zu machen, so wenig läßt sich gegenüber der Humanität human und gegenüber der Toleranz tolerant sein. Diese Begriffe haben den Drang, sich unabhängig zu machen und scheitern an ihrem Selbstwiderspruch, der in dieser Unabhängig¬ keit liegt. Die Theorie des Eklektizismus, die Humanität und Tole245

ranz zum Ziel und zur Grundlage hat, scheitert mithin an ihrer Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit. Auch wenn der Drang zum Absoluten für die Semantik der Leit¬ begriffe unabdingbar ist, für den Mischbereich der psychologi¬ schen Lehre vom Irrtum (und vom Bösen) bedeutet dieser Drall auch die Tendenz zur Selbstgenügsamkeit und damit zur Bornierung der Seele. Und da beginnt die Sünde, wenn nicht gegen den Heiligen Geist, so doch gegen die Wahrheit. Freilich: Eine solche Beschreibung begründet nicht, sie ver¬ sucht nur eine Erklärung auf Grund einer traditionellen, voridea¬ listischen rationalen Psychologie. Die Begrifflichkeit von Verstockt¬ heit begründet nicht, warum es möglich ist, sich einer Einsicht zu entziehen, sie erklärt auch nicht, ob es für Nicolai einen Ausweg aus der Donquichotterie seiner späten Polemik gegeben hätte. Wenn freilich eine solche Einsicht möglich wäre, dann wäre die Einsicht, daß man sich der Notwendigkeit der Vernunft entziehen könne, erneut eine Einsicht in die Notwendigkeit der Vernunftein¬ sicht: dann wäre Irrtum höhere Einsicht. Deshalb kommt man über die Konstatierung der Uneinsichtigkeit nicht hinaus. Aber der Begriff Verstocktheit enthält ein Quäntchen Selbstverantwortung (das die Freiheit zur Sünde ist) und beschreibt damit die Freiheit zum Wissen. So macht »Verstocktheit« etwas anderes deutlich: Die Möglichkeit, Dummheit und Borniertheit zugleich zu beschreiben, ist abhängig von dem Platonismus, daß das Gute auch das Wahre sei, und daß die Wahrheit den Anspruch stelle, eingesehen zu wer¬ den. Abhängig von solchen Voraussetzungen, sind Dummheit und Böswilligkeit das Negativ der Transzendentalien gut und wahr. Die Beurteilung Nicolais in der Polemik seiner Gegner, die Vernich¬ tung seines literarischen und persönlichen Renommees beruhte darauf, daß es unmöglich war, Mangel an Einsicht und Einsichts¬ verweigerung zu trennen. Die Verbindung der Transzendentalien gut und wahr war ein¬ sichtig, ihre Negation in Böswilligkeit und Dummheit schlechter¬ dings unerklärlich. Nicolai wurde, wo man ihn nicht mehr zu fürchten hatte, in der Polemik lächerlich, weil er als verstockte Person, die ihre Zeit überlebt hatte, unverständlich geworden war. Dieser Unverstand des späten Nicolai ist nicht mehr unserer. Selbst wo wir davon ausgehen, es sei unstrittig, daß Nicolais eklek¬ tische Philosophie durch die Transzendentalphilosophie aufge¬ hoben sei, billigen wir uns doch ein Verstehen von beiden philoso¬ phischen Modellen zu. Damit ist auch unser Zeitverhältnis zum Streit des alternden Nicolai verändert: Im Verstehen identifizieren wir uns nicht, sondern setzen uns ins Verhältnis von Fremdheit und Identifikation zugleich mit dem, was wir verstehen wollen. 246

Es geht ja nicht um Parteinahme, nicht um Sieg, sondern zu¬ nächst um den Versuch, positive Besehreibungskriterien dafür zu gewinnen, den Prozeß der Zeitlichkeit von Gedanken und Interpre¬ tationen, den Prozeß der Zeitlichkeit von Philosophie, die sich an der Person Nicolais zeigt, zu beschreiben, ohne die Zeitlichkeit der vorliegenden Interpretation zu verleugnen. Wenn Verstehen be¬ deutet, daß wir herausbekommen, was es mit dem andern als dem andern auf sich hat, dann sehen wir die Differenzen zwischen dem, was des anderen und was unseres ist. Verstehen ist das Erkennen des andern als des andern, Erkennen dagegen das Verständnis eben dieses Prozesses zwischen der Andersheit des andern und meinem Selbstverständnis. In diesem Prozeß läßt sich Wahrheit ausmachen, denn der Hermeneut kann, wo er sich selbst nicht aus der Zeit stehlen kann, die Frage nach der Wahrheit nur in der Form kennen, die ihre Geschichtlichkeit ausmacht. Und dann wird die Geschichte von Problembewältigungsversuchen zum Ort, wo Ver¬ stehen und Erkennen zusammenfällt. Hier reicht dem Interpreten die Einsicht, daß die Bedingung der Möglichkeit der Einsicht in die Differenz zwischen Fichtes und Nicolais Philosophie die permanente Veränderung, also die Zeit¬ lichkeit des Denkens selbst ist. Damit aber steht sowohl Nicolais als auch Fichtes Ziel der Philosophie in Frage. Nicolais Standort des Eklektizismus unterlag dann demselben Denken, das auch Fichtes Philosophie scheitern ließ, die alles Wissen mit einem »ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz«147 begründen, damit festset¬ zen wollte. Beide, Fichte wie Nicolai, dachten gegen die Zeitlichkeit ihres Denkens, nicht mit ihr. Im Erklären und Verstehen, im Den¬ ken, vollzieht sich Zeit, sie ist der Horizont des Verstehens. In dieser transzendentalen Zeitlichkeit gibt es keine theoretische An¬ schauung der Wahrheit, sondern sich ändernde Mosaike veränder¬ licher Begriffe. In dem Maße, in dem Wahrheit alt wurde, wird an ihr gearbeitet. Wahrheiten, die ewig jung bleiben sollen, veralten am schnellsten. Das war Nicolais Problem.

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Anmerkungen 1 Aristoteles, Physik 221 a 30. 2 Erich Schmidt, Lessing (Berlin, 1884) I, 301 f. 3 Die Polemik geht gegen Gottsched und dessen Meisterschüler Schönaich, vgl .Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutsch¬ land (1755) ed. Georg Ellinger (Berlin, 1894), Briefe 2, 10, 11. 4 Ebenda, 1. Brief. 5 Vgl.Richard Daunicht, Lessing im Gespräch (München, 1971), Nr. 588,592594. Lediglich in der Vorrede zu Karl Wilhelm Jerusalems (des WertherVorbilds) Philosophischen Aufsätzen (Braunschweig, 1776) hat sich Les¬ sing kurz öffentlich geäußert, aber er spielt nur auf den Werther an: »Das ermattende, Abzehrende, Entnervende, womit kränkelnde oder um ihre Gesundheit allzubesorgte Geister diese Art von Untersuchung, diese Ent¬ wickelung unserer Gefühle, diese Zergliederung des Schönen, so gern verschreyen, war ihm (Jerusalem) nicht im mindesten fürchterlich.« Jeru¬ salem, Philosophische Aufsätze, hrsg. von Paul Beer (Berlin, 1900), S. 4. 6 Vgl. zu diesem Zusammenhang W. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis: Eine Modellgeschichte der Wissenschaft in Humanismus und Barock (Hamburg, 1983). 7 Richard Simon, Histoire Critique du Vieux Testament (1680 und 1685); Histoire Critique du Texte du Nouveau Testament (1689)\ Histoire Critique des Versio ns du Nouveau Testament (1695); Histoire Critique des Principaux Commentateurs du Nouveau Testament (1693). 8 Jacob Brücker, Historia Critica Philosophiae (Leipzig, 1742-1744), 5 Bde. 9 Johann Christoph Gottsched, t'ersuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert (Leipzig, 1730 u. ö.). 10 Eriedrich Nicolai, Über meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J. B. Erhard, und Fichte (Berlin und Stettin, 1799; Nach¬ druck Brüssel, 1968), S.26. 11 Nicolai, Briefe (Anm. 3), S. 6. 12 Alexander Gottlieb Baumgarten, Medilationes Philosophicae deNonnullis ad Poema Pertinentibus (Halle, 1735) §9, S.7. 13 So ist die Erörterung der Frage, ob denn die Patriarchen Eierkuchen geges¬ sen hätten und ob diese Tatsache in einem Epos dargestellt werden dürfe, eine Frage nach dem ästhetischen Decorum. Briefe (Anm. 3) S.56 und der Kommentar S. XIX. 14 Briefe (Anm. 3) 6. Brief gegen Ende, S.49. 15 Zum Begriff des Geschmacks vgl. Alfred Bäumler, Das Irrationalitätspro¬ blem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Ur¬ teilskraft (1923; Darmstadt, 1967). 248

16 Briefe (Anm. 3) 6. Brief, S.47. 17 Briefe (Anm. 3) S. 6. 18 Briefe (Anm. 3) S. 9. 19 Vgl. dazu W.Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel: Jean Pauls Jugend¬ satiren nach ihrer Modellgeschichte (Freiburg, 1975) S. 210-216. 20 Vgl. Paul Böckmann, »Das Formprinzip des Witzes in der Frühzeit der deut¬ schen Aufklärung«, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1932-33), 51-130. 21 Z. B. bei Friedrich Christian Baumeister, Institutiones Metaphysicae... Methodo Wolfii adornatae:EditioNova Auctior et Correctior (W i ttenborg, 1744), S. 382 §568: »Cum plures res inter se conferimus, experientia nos edocet, nos faeile eognoscere, quid sit rerum plurimum praesentatione simile, quid dissimile. Facilitas similitudines rerum observandi, dicitur ingenium. (Witz).« 22 Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai, Brief¬ wechsel über das Trauerspiel [darin Nicolai, Abhandlung vom Trauer¬ spiele] ed. Jochen Schulte-Sasse (München, 1972), S. 11. 23 Der Wirkungsdefinition entspricht vor allem das zweite Buch der aristote¬ lischen Rhetorik, das die Psychologie der Wirkung behandelt. 24 Andre Dacier, La Poetique dAristote, Traduit en Francais, avec des remar¬ ques. (Paris, 1692) 25 Fenelon, Lettre a lAcademie Francaise sur la Grammaire, la rhetorique, la poetique et l’histoire; übersetzt von Gottsched in Sterbender Cato: Ein Trauerspiel (Leipzig, 1741), 3.Aufl. 26 Vgl. Gottsched, Vorwort zum Sterbenden Cato. Vgl. Horst Günther, »Trauer¬ spiel« in Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, IV (1981). 27 Aristoteles Dichtkunst ins Deutsche übersetzt, mit Anmerkungen und be¬ sonderen Anmerkungen versehen von M. C. Curtius (Hannover, 1753), S. 11. 28 Briefwechsel über das Trauerspiel (Anm.22), S.121, Nicolai an Lessing: »Ich weiß nicht, warum die Uebersetzer des Aristoteles das Wort (pößoc so unbe¬ stimmt übersetzt haben; auch kann ich nicht bestimmen, wie es eigentlich müsse übersetzt werden. Wollen Sie dieses von mir wissen, so müssen Sie künftigen Winter anfragen, wenn ich mich mit Moses wieder ins Grie¬ chische hinein werfen werde. Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich bey meiner Abhandlung die alten und neuern Kunstrichter nicht sonder¬ lich zu Rathe gezogen habe. Ich suchte aus meinen Empfindungen gewisse allgemeine Maximen zu abstrahiren, und aus diesen eine Art System zu machen; so ist meine Abhandlung entstanden. Es kann also wohl seyn, daß ich den Aristoteles nicht verstanden habe. Sie sagen, um seine Dichtkunst zu verstehen, müsse man seine Redekunst und seine Sittenlehre an Nicomachus gelesen haben...« Zum Komplex Trauerspiel und Tragödienwir¬ kung hat sich viel Literatur angesammelt. Umfassend informieren Max Kommerell, Lessing und Aristoteles: Untersuchung über die Theorie der Tragödie (Frankfurt, 1960), 3. Auflage; K.Gründer, »Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis«, in Epirrhosis: Festgabe für C. Schmitt II, Bern, 1968, S.495-528.

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29 Briefwechsel über das Trauerspiel (Anm. 22), S.12. 30 Baumgarten hat versucht, dies Problem mit seiner Unterscheidung von »materia 1) generalis, 2) actualis huius mundi 3) hetero-cosmica« anzuge¬ hen. »GENUS COGITANDI generalis sed eleganter exprimens est AESTHETICODOGMATICUM, actualia huius mundi venuste pingens ob exiguum futurorum strictissima in veritate sistendorum numerum dicamus AESTHETICOHISTORICUM. Genus tandem eleganter heterocosmica meditandi nominemus per novam aliquam syneedochen tune etiam, quando non exprimitur carminibus, GENUS COGITANDI POETICUM.« Aesthetica (Frankfurt/Oder, 1750) §566. 31 Vgl. Baumeister, Metaphysik (Anm.21) S.409 §618: »Appetitum sensitiuum uel auersationem sensitiuam uehementiorem, cum extraordina ia sangui¬ nis et fluidi neruei commotione coniunctam, dicimus affectum«. 32 Briefwechsel über das Trauerspiel (Anm. 22), S. 53. 33 Briefwechsel über das Trauerspiel (Anm.22), S.118. Vgl. dazu Bäumler, Irra¬ tionalitätsproblem (Anm. 15), S.19. 34 Untersuchung, ob Milton sein verlohrnes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe. Nebst einigen Anmerkungen übereine Becension des Lauderschen Buchs von Miltons Nachahmung der neuern Schriftstellern (Frankfurt-Leipzig, 1753). 34a Gellerts Schwedische Gräfin kommt zwar in den Briefen (Anm.3) S.8, vor, wird aber neben Briefen zur Handlung, satirischen Briefen und kritischen Briefen erwähnt, nicht als Roman. 35 Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (Berlin und Stettin, 1773-1776), 3 Bde. 36 Über meine gelehrte Bildung (Anm. 10), S. 42 f. 37 Ebenda, S. 41. 38 Zur Geschichte dieses wissenschaftlichen Verfahrens vgl. W. Schmidt-Big¬ gemann, Topica Universalis (Anm. 6). 39 Vgl. dazu besonders fforst Möller, Aufklärung in Preußen: Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (Berlin, 1974), S.322516. 40 Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend (Berlin, 1769). 41 Anekdoten von Friedrich dem Zweyten von Preußen (Berlin und Stettin, 1788-1792), 6 Hefte. - Freymüthige Anmerkungen über des Herrn Bitters von Zimmermann Fragmente über Friedrich den Großen (Berlin und Stet¬ tin, 1791-1792), 2 Bde. 42 Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. (Berlin und Stettin, 1783-1796), 12 Bde.

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43 Versuch über die Beschuldigungen, welche dem Tempelherrenorden ge¬ macht worden und über dessen Geheimnis (1782). - Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Bosenkreuzer und Freymaurer (Berlin und Stettin, 1806). 44 Vgl. Günter Ost, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek (Berlin, 1928); Gustav Parthey, Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek (Berlin, 1842). 45 Vgl. dazu Karl Aner, Der Aufklärer Friedrich Nicolai (Gießen, 1912). 46 Franz Budde, Institutiones PhilosophiaeEclecticae{Ed. Halle, 1724), §XLII, S. 96. 47 Lessing, Werke, ed. H.Göpfert u.a. (München, 1974), VI,390; Briefe antiqua¬ rischen Inhalts, Zweiter Teil, 55. Brief. 48 Reisen (Anm. 42), I,xi. 49 Über meine gelehrte Bildung (Anm. 10), S. 31. 50 Ebenda, S. 40. 51 Zu den Freimaurer- und Templerschriften vgl. Anm. 43. Ueber den Gebrauch der falschen Haare und Perrucken in alten und neuern Zeiten (Berlin und Stettin, 1801). 52 Vgl. Anm. 28. 53 Licht der Weißheit in denen nöthigsten Stücken der Wahren Gelehrsamkeit zur Erkänntniß menschlicher und göttlicher Dinge nach Anleitung der Philosophischen und Theologischen Grund-Sätze Herrn Johann Franc. Buddei, ... verfertiget von M. Musig (Frankfurt und Leipzig, 1709), 1,109. 54 Über meine gelehrte Bildung (Anm. 10), S. 43. 55 Gedächtnisschrift auf Johann August Eberhard (Berlin und Stettin, 1810), S. 31 f. 56 Emilio Bonfatti, La »Civil Conversazione« in Germania: Letteratura del comportamento da Stefano Guazzo a Adolph Knigge (Born, 1979). 57 Christian Thomasius, Introductio in Philosophiam Aulicam (Leipzig, 1688). 58 Christian Thomasius, Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit (Frank¬ furt und Leipzig, 1710). 59 Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik: Zur Geschichte der prak¬ tischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius (Hildesheim, New York, 1971). Vgl. auch Emilio Bonfatti (Anm. 56). 60 Grotius, De Imperio Summarum Potestatum circa Sacra (Paris, 1648). 61 Friedrich Nicolai’s Leben und literarischer Nachlaß, herausgegeben von Leopold Friedrich Günther v. Göckingk (Berlin, 1820), S. 16 f. 62 Johann Adolph Hoffmann, Zwey Bücher von der Zufriedenheit: Nach Anlei¬ tung der Vernunfft- und Glaubens-Gründe verfasset (1722; 5. Aufl. 1731; Nachdruck Frankfurt, 1972).

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63 Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Las¬ sen, Einleitung H.W.Arndt. Gesammelte Werkel,4 (Hildesheim, 1976), S. 78 f. §139. 64 Hoffmanns Zufriedenheit lag 1741 schon in der neunten Auflage vor, Wolffs Deutsche Ethik 1747 in der siebenten Auflage. 65 Vgl. dazu die Einleitung zu H.S.Reimarus und Johann Adolph Hoffmann, Neue Erklärung des Buches Hiob, hrsg.von W.Schmidt-Biggemann (Hildes¬ heim, 1983). 66 Hoffmann, Zwei Bücher von der Zufriedenheit (Anm. 62), S. 9. 67 Ebenda, S. 13. 68 Ebenda, S.246. 69 Ebenda, S.247. 70 Ebenda, S.247f. 71 Johann August Eberhard, Neue Apologie des Sokrates (Berlin, 1772). 72 Gedächtnisschrift auf Eberhard (Anm. 55), S. 15. 73 Aner, Der Aufklärer Friedrich Nicolai (Anm. 45), S. 75 f. 74 Daniel Georg Morhof, Polyhistor Literarius, Philosophicus, et Practicus (1687), editio quarta, cura J. Joachim Schwabe (Lübeck, 1747; Neudruck Aalen, 1970). 75 Zur Scholastikkritik: Musig übersetzt aus Budde den polemischen Standardtopos gegen die mittelalterlichen Philosophen: »Das meiste kam bey ihnen auf ein Wort-Gezäncke aus der Logica und Metaphysica, welche sie sonderlich aestimirten/an/indem der grösseste Theil nur seichtig in Fra¬ gen war.« Licht der Weisheit (Anm. 53), S.91. Die Kritik setzt sich über die Termini »Schulfüchserei« und »Pedanterie« über die Gelehrtenkritik der Charlataneria Eruditorum Johann Burkhard Menckes iiber Butlers Hudibras und die Dunciade (von Duns Scotus!) Popes zu Nicolais Sebaldus Nothanker und Sempronius Gundibert fort. 76 Das ist die Dissoziation von Metaphysica Generalis und Metaphysica Spe¬ cialis. 77 Beise (Anm. 42), VII, Anhang gegen Garve, S. 3. 78 Vgl. den Nachruf Nicolais auf Mendelssohn in Band LXV der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, S. 628: »Herr Jacobi schrieb, vielleicht ehe er die Materie genug durchdacht hatte, ein Buch über Lessing und Spinoza. Kann er wohl den Gegenstand recht durchschaut haben, wenn er uns vorbilden will, alle Philosophie führe zum Atheismus, und wenn er Glauben zum ersten Principium aller menschlichen Erkenntnis machen will? Es scheint mir, wenn er vorher hätte den ersten Theil der Morgenstunden abwarten wollen, würde er es nicht geschrieben haben. Moses, der seinen Freund Lessing kannte, und gewiß doch besser kannte als Hr Jacobi, suchte diese Materie ein wenig näher auseinander zu setzen.« 79 Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (Frankfurt und Leipzig, 1786), S.259.

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80 Ebenda, S. 58. 81 Vgl. dazu die vorsichtige Analyse von Franz Xaver Bantle, Unfehlbarkeit der Kirche in Aufklärung und Romantik: Eine dogmengeschichtliche Untersu¬ chung für die Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Freiburg, Basel, Wien, 1976), vor allem S. 128-206. 82 Reise (Anm.42), VII, Vorrede S. vii. 83 Christian Garves Kritik an Nicolais Katholizismusbild in Berlinische Monatsschrift 1785, Juli, S. 19 ff. und Dezember S. 488 ff. 84 Reise (Anm.42), VII, Anhang gegen Garve, S. 18. 84a Ebenda, S. 66. 85 München und Ingolstadt, 1783, 2 Bde. Zweite Aufl. München 1785, 6 Bde. Bis 1846 erschienen insgesamt zehn Auflagen. Vgl. die Bibliographie bei Hubert Schiel, J. M. Sailers Briefe (Regensburg, 1952), Nr. 23. Zur liturgi¬ schen Rolle dieses berühmten Gebetbuches Manfred Probst, Gottesdienst in Geist und Wahrheit: Die liturgischen Ansichten und Bestrebungen J.M. Sailers (Regensburg, 1976). 86 Reise (Anm. 42), VII, Anhang gegen Garve, S. 82. 87 Ebenda, S. 83. 88 Ebenda, S. 84. 89 Zur Verbreitung der Verschwörungs- und Drahtzieherargumente als poli¬ tische und historische Argumente in der Aufklärung vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776-1945: Philosophen, Freimaurer, Juden. Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung (Frankfurt, 1978), zweite Auflage. Freilich unterdrücken nicht nur Institutionen den Einzelnen mit dieser These, hier, scheint es, kann sie auch von emanzipierten Einzelnen zur Denunziation von Institu¬ tionen verwandt werden. Sailer selbst hat die Metapher der Drahtzieherei polemisch gegen Nicolai gewendet: Lavater werde als »heimliche Draht¬ puppe der Jesuiten« betrachtet. J.M.Sailer, Das einzige Märchen in seiner Art: Eine Denkschrift an Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786 (München, 1787), S. 178. 90 Reise (Anm.42), VII, Anhang gegen Garve, S.90. 91 Ebenda, S. 91 f. 92 Ob diese Paranoia mit Nicolais Krankheit (G. Sichelschmidt, Friedrich Nicolai: Geschichte seines Lebens, Herford, 1971, S.154f.) zusammenhängt, ist mir unbekannt. Goethe hat Nicolais Erscheinungen und die Geschichte der weißen Frau in Tegel in der Walpurgisnacht des Faust verspottet. Nico¬ lai, der seine Erscheinungen mit einer Blutegelkur, die bekanntlich am Gesäß (gr. (npcoxTÖc) angesetzt wurde, kurierte, wurde als Proktophantasmist von den höllischen Geistern zum besten gehalten und reagiert ärger¬ lich: Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört. Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel. Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel.

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Wie lang hab’ ich nicht am Wahn hinausgekehrt, und nie wird’s rein; das ist doch unerhört. Faust, Vers 4158 ff. In jedem Fall bleibt die Analyse der historisch leitenden Begrifflichkeit unabhängig von Nicolais Individualpsyehologie. 93 Mendelssohn, Morgenstunden (Anm. 79), S.259. 94 Sailer, Das einzige Märchen (Anm. 89), S.42. 95 Ebenda, S. 41. 96 Vgl. Nicolais Replique auf Sailers Märchen in Nicolai, Reise (Anm.42), VIII, Anhang: »Anmerkungen über das zweyte Blatt von Herrn J. C. Lavaters Rechenschaft an seine Freunde, und über Herrn P.J.M.Sailers zu Dillingen Märchen.« 97 Berlin 1775. 98 Friedrich Nicolais Leben, ed. Göckingk (Anm. 61), S.52f. 99 Berlin, 1777-78, 2 Bde. 100 Ebenda, Vorrede S. 5. 101 Weitgehend wirkungslos war auch noch seine letzte Satire auf Friedrich Sehlegels Lucinde und Schleiermachers zugehörige vertraute Briefe über Schlegels Lucinde: Vertraute Briefe von Adelheit B** an ihre Freundin Julie S** (Berlin-Stettin, 1799). 102 Nicolai, Reisen (Anm. 42), XI, S.110: »Besonders würde der apokalyptische Bengelianismus, der Mystizismus ä la Oetinger oder ä la Roos nicht so all¬ gemein geworden seyn, wenn nicht Erziehung und Unterricht in den Klo¬ sterschulen und besonders im Stifte so lange ganz allein dahin w äre gerich¬ tet gewesen.« 103 Ebenda, S. 128. 104 Ebenda, S. 116. 105 Ebenda, S.129f. 106 Ebenda, S.177. 107 Ebenda, S.179 »angenehmer Traum...« ebenda S.278. 108 Ebenda, S.185f. »Mißbrauch... unschuldig« S.250. 109 Ebenda, S. 226-229. 110 Laufender Kolumnentitel ebenda S. 206-231. 111 Ebenda, S.290. 112 Ebenda, S. 1771': »Es ist immer gut, Gegenstände, welche durch eine neue gelehrte Mode allzu einseitig angesehen werden, auch einmal von einer ganz andern Seite zu betrachten, weil auch treffliche Köpfe zuweilen auf nachtheilige Seiten der Gegenstände nicht aufmerken wenn sie Alles in einem voraus festgesetzten Gesichtspunkte betrachten, welche jene Seiten verdeckt. Vielleicht wird es mir, durch mehr als vierzigjährige Beobach¬ tung der deutschen Litteratur, leichter, dieselbe von mehrern Seiten zu überblicken...«

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113 Ebenda, S. 236. 114 Ebenda, S.290. 115 Ebenda, S. 301 f. 116 Ebenda, S.185. 117 Erich Trunz im Kommentar zu Goethes Werken, (Hamburg, 1964), Bd. I, S. 601. 118 Xenien zitiert nach Schiller, Sämtliche Werke, ed.H.Göpfert u.a. (München, 1962), Bd. I, S. 275-277. 119 Berlin und Stettin, 1797. 120 Ebenda, S. 134f. 121 Ebenda, S. 82. 122 Vorrede zur Metaphysik der Sitten AB X, Werke, ed. Weischedel (Darmstadt, 1968), IV,313. 123 Der Aufsatz ist erneut gedruckt im ersten Band von Nicolais Philosophi¬ schen Abhandlungen (Berlin und Stettin, 1808), S.3-50: »Ist Kants Moral¬ prinzip bey der Ausübung in allen Fällen hinreichend wo uns die bisheri¬ gen Grundsätze zuweilen verlassen sollen?« 124 Nicolai, Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen Philosophen (Berlin und Stettin, 1798), S. 49. 125 Ebenda, S. 15. 126 Berlin und Stettin, 1798. Walter Strauß hat in seiner Dissertation Friedrich Nicolai und die kritische Philosophie: Ein Beitrag zur Geschichte der Auf¬ klärung (Stuttgart, 1927) die Verfasserfrage geklärt: Nicolai hat in diesen Gesprächen die 74seitige Vorrede und das 6. Gespräch geschrieben, der Rest stammt von dem Stuttgarter Hofrat Schwab, dem Vater Gustav Sefrwabs. Vgl. S. 41 f. 127 Kant, Werke, Akademie-Ausgabe, VII (Berlin, 1912), 437f. 128 »Über den Begriff der Wissenschaftslehre«, Werke, ed.I.H.Fichte (Nd. Ber¬ lin, 1971), 1,55 f. 129 Vgl. Anm.10. 130 Abgedruckt in Fichte, Sämmtliche Werke, ed.I.H.Fichte, 3.Abteilung, Bd.III (Berlin, 1846), 1-93. 131 Ebenda, S.3f. Kursivstellung von mir. 132 Ebenda, S. 5. Kursivstellung von mir. 133 Ebenda, S.5f. 134 Eine Beylage zum LXI Bande der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek (Berlin und Stettin, 1801). 135 Ebenda, S. 9. 136 Ebenda.

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137 Ebenda, S. 8 und 10. 138 Ebenda, S. 51. 139 Vgl.Anm.127. 140 Vgl. Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon (Leipzig, 1775; Neu¬ druck Hildesheim 1968) Art. »Verstockung«: »Ist derjenige Zustand des Gemüths, da sich solches zwar in einer Unruhe befindet, welche aus der An¬ klage des Gewissens entstehet, wenn einen das Urtheil seiner Vernunft in¬ nerlich überzeuget, daß eine begangene That unvernünftig, und folglich sein Wille noch viel feindliches gegen die Vernunft, das ist gegen die göttli¬ chen Gesetze zur Verscherzung seiner Glückseligkeit an sich habe; aber dabey ohne Begierde ist, sich zu bessern. Und wenn ein solcher Mensch das Vertrauen nicht hat, daß er sich bessern könne, so stehet er in der Verzweif¬ lung.« 141 Registeranmerkung zu »Obstinatio« in der Ausgabe der Summa Theologiae des heiligen Thomas von Aquin (Köln, 1639) verweist auf 11,288,6 und 11,214,1. Vgl. Hieronimus de Montefortino, Joannis Duns Scoti Summa Theologiae (1730; ed. Rom, 1902), IV,811 zum selben Komplex der Sünde wider den Heiligen Geist: »Peccatum igitur in Spiritum Sanctum non est odium Dei, quia Deus nequit per se odio haberi. Cum igitur post dileetionem Dei, actus perfeetissimus quo voluntas tendit in Deum, sit actus spei, oppositum eius erit peccatum gravissimum, idque est peccatum desperationis, sive obstinationi in malo, cum desperatione, et proposito non poenitendi, atque eiusmodi est peccatum in Spiritum Sanctum.« Johann Arndt hat in protestantischer Wendung zur Rechtfertigung durch die Gnade des Glaubens in seinem »Paradiesgärtlein« das 2.Gebot in einem Emblem mit dem Topos der Verstocktheit gefaßt: Bild: Die Strahlen der Sonne öffnen die Blumen im Garten. Motto: Nisi de super. Subscriptio: Kommt nicht ein Gnaden strahl, von oben her geschossen, so bleibt das Hertz verstockt, die Blume zugeschlossen. Ausgabe Nürnberg o. J. (um 1740), gegenüber S. 40. 142 Zuerst (München, 1785), 2 Bde., zitiert die zweite Auflage (München, 1795), 3 Bde. 143 Ebenda, 11,10. 144 Ebenda, 11,11. 145 Ebenda, 11,12. 146 Ebenda, 11,13. 147 Eichte, »Wissenschaftslehre« §1, Werke, ed.I.H.Fichte (ed.Berlin, 1971), S.91.

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VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN FRIEDRICH NICOLAIS 1752-1811 Marie-Luise Spieckermann

Vorbemerkung Das folgende Verzeichnis erfaßt die zu Lebzeiten Nicolais selbstän¬ dig erschienenen Publikationen, die von ihm herausgegebenen Schriften und, soweit sie sich ermitteln ließen, seine Beiträge zu Zeitschriften und Sammlungen. Die Titel der selbständig erschienenen Schriften sind vollstän¬ dig transkribiert worden, jedoch nicht im strengen Sinne einer Faksimile-Transkription. Die Angaben zu den von Nicolai herausgegebenen und zu den nicht selbständig erschienenen Publikationen sind weniger detail¬ liert. Die Einträge enthalten in der Regel nur einen Kurztitel mit Orts- und Verlagsangabe. Die Titel der einzelnen Beiträge zu Zeit¬ schriften und Sammelwerken wurden in den meisten Fällen nach dem Inhaltsverzeichnis des jeweiligen Bandes zitiert und nicht nach der Überschrift des Beitrages. Auf Kollationsformeln und die Angabe des Exemplars wurde hier verzichtet. Die Beiträge Nicolais zur Allgemeinen deutschen Bibliothek sind so zahlreich, daß sie nicht im einzelnen verzeichnet werden können. Ich verweise nur auf die Chiffren, die von Gustav C.F. Par¬ they (Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai’s Allgemeiner Deutscher Bibliothek, 1842) als die Nicolais identifiziert worden sind.

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I. SCHRIFTEN FRIEDRICH NICOLAIS

1752 Beitrag zu: 1 Sammlung einiger Schriften der Gesellschaft der Freunde der schoenen Wissenschaften in Halle mit einer Vorrede und Anhang herausgegeben von M. Gottlob Samuel Nicolai... Halle, bey Chri¬ stian Kümmel 1752. Enthält Jugendgedicht Nicolais. Nicht eingesehen. Quelle: Ernst Altenkrüger, Friedrich Nicolais Jugend¬ schriften (Berlin 1894).

1755 2 Untersuchung ob Milton sein Verlohrnes Paradies aus neuern lateinischen Schriftstellern ausgeschrieben habe. Nebst einigen Anmerkungen über eine Recension des Lauderischen Buchs, von Miltons Nachahmung der neuern Schriftstellern. [Motto] Frank¬ furt und Leipzig, 1753. 8°. A-F8, G4. 103 Seiten. Exemplar: Landesbibliothek Oldenburg (Spr. XIV. 3/220). Bemerkung: Verlegt bei Schwetschke in Halle (Heinsius, Allgemeines Bücher-Lexikon).

1755 3 Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, [Motto] mit einer Vorrede von Gottlob Samuel Nico¬ lai, ordentlichem Professor der Philosophie in Frankfurt an der Oder. Berlin, bey Johann Christian Kleyb, 1755. 8°. )(-)( X8,

X X X6. A-N8

[42], 205 Seiten.

1756 4 Vorläufige Nachricht. [Programm der Bibliothek der schönen Wis¬ senschaften und der freyen Künste]. 1756. Nicht eingesehen. Quelle: Gotthold Ephraim Lessings Sämtliche Schriften, hrsg. K. Lachmann und F.Muncker, 3. Auf!., XVII (Leipzig 1904), 49.

5 Vorläufige Nachricht. Berlin: Lange 1756. Nicht eingesehen. Quelle: s. Nr. 4. Bemerkung: gekürzte Ausgabe von Nr. 4.

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1757 Herausgeber: 6 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Leipzig: Dyck) I, 1-2; 11,1. Beiträge zu I,1.

»Vorbericht« sig. X 2r-v. »Vorläufige Nachricht, welche anfänglich besonders herausgekommen«, 1 16 [im Jahre 1756 in zwei verschiedenen Fassungen separat veröffentlicht; s. Nrn. 4 und 5]. »Abhandlung vom Trauerspiele«, 17-67. »Cramers poetische Uebersetzung der Psalmen«, 69-86. »Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutsch¬ land«, 107-121. »Prophezeyungen auf das Jahr 1756«, 156-161. »The London Marchant« [sic], 161-168. Beiträge zu 1,2:

»Der Messias zweyter Band«, 297-331. »Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, 332-347. »Versuch in angenehmen und ernsthaften Gedichten«, 348-354. »Duschs Schooßhund ein komisches Heldengedicht«, 355-370. »Nouveaux Sujets de Peinture et de Seulpture«, 370-379. »Pensees sur Porigine et les differens emplois des Sciences et des beaux arts par Mr. Sulzer«, 380-390. »Lieder und Scherzgedichte«, 390-400. Beiträge zu 11,1.

»Vorbericht« sig *2r-5r. »Shaftesbury über das Gemälde vom Urtheil des Herkules«, 1-56. »D.Carl Goldoni Lustspiele«, 133-199.

1758 Beitrag zu: 7 Theatralische Bibliothek (Berlin: Voss) IV. »Geschichte der englischen Schaubühne«, 1-49 [Das Manuskript war be¬ reits 1756 abgeschlossen]. Herausgeber: 8 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Leipzig: Dyck) 11,2. Beiträge:

»Fortsetzung und Beschluß des Auszugs aus des Hrn. von Hagedorns Eclaircissemens historiques sur la Peinture«, 267-302. »Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni Tomo secondo«, 303-336. »The present State of the Arts in England by Mr. Rouquer«, 396-416. 9 Anhang zum ersten und zweyten Bande der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (ibid.).

259

10 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (ibid.) 111,1-2; IV,1. Beiträge zu 111,1: »Des Abts du Bos Anmerkungen über das Genie der Dichter und Mahler«, 1-29. »Der Billwerder von J.E. Löwen«, 78-84. »Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst von Johann Christoph Gottscheden«, 85-95. »Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni, Tomo III«, 106-118. »Die Hirtengedichte des P.Virgilius Maro, aus dem Lateinischen übersetzt«, 119-129. »Geschichte und Abbildung der besten Mahler in der Schweiz, erster und zweyter Theil«, 138-159. »Sittliche Gedichte zur Ermunterung des Gemüths«, 160-167. Beiträge zu III, 2: »Fortsetzung der Anmerkungen des Abts du Bos, über die Beschaffenheit des Genies der Dichter und Maler«, 215-227. »Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni, Tomo Quarto b Quinto«, 227-245. »Tableaux tires d’Ilomere & de Virgile par Mr. le Comte de Caylus«, 246262. »Neue Gedichte von dem Verfasser des Frühlings«, 335-341. »Der Tempel der Liebe, ein Gedicht in zwölf Gesängen«, 362-378. »Consolations dans l’Infortune, Poeme en sept Chants, par Mr. de Bar«, 378-386. Beiträge zu IV,1: »Beschluß der Anmerkungen des Abts du Bos über die Beschaffenheit des Genies der Dichter und Maler«, 411-438. »Le Commedie del Dottore Carlo Goldoni, Awocato Veneto, Tomo VI e VII«, 478-489. »Scherzhafte Lieder«, 490-500. »Vermischte kritische und satirische Schriften von J.J.Dusch«, 532-542. »Oden und vermischte Gedichte«, 542-551.

1759 Herausgeber: 11 Briefe, die neueste Litteratur betreffend (Berlin: Nicolai) Teil I-IV. Beiträge: I: »Nachricht«, Brief 6; II: »Vorbericht«; III: Briefe 46, 47, 57; IV: Briefe 58, 59, 68, 69, 76.

12 Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Berlin: Nicolai) 1,1-2; 11,1. »Vorbericht« 1,1, sig. 2r-3v. Bemerkung: Weitere Bände erschienen 1760 (Nr. 19), 1761 (Nr. 22) 1762 (Nr. 25), 1763 (Nr. 29).

260

13 Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Leipzig: Dyck) IV,2. Beiträge: »Vorbericht« sig 2r-v. »Recueil d’Estampes d’apres les plus celebres Tableaux de la Gallerie Royale de Dresde II Vol.«, 669-706. »Le Commedie del Dottore Carlo Goldon Tomo VIII e IX«, 767-776. »Leben Georg Philipp Rugendas und Johannes Rupetzki«, 803-815.

1760 14 Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist. [Vignette] Ber¬ lin, bey Friedrich Nicolai 1760. 4°. A3, B-C4, D2. [4], 22 Seiten. 1 Kupferstich, signiert »Lriedrich Rauke Sculpsit Berol: 1759.Kauke fec: aqua fortiSehleuen sc.5Q-, A-T8, X2, Y4. XXVIII, 309 [7] Seiten. 1 Falttabelle, 1 Karte. Exemplar: British Library London (574.C.9.).

294

Bemerkung: Erste Auflage 1793 (Nr. 168), neue Auflage 1799 (Nr.200). Diese Übersetzung wurde vermutlich von G.Mila in Zusammenarbeit mit Valen¬ tin Heinrich Schmidt angefertigt.

Herausgeber: 212 Neue allgemeine deutsche Bibliothek (Berlin: Nicolai) LXIXLXXTV, 1-2; Anhang zu den Bänden XXIX-LXVIII, 1. Chiffren Nicolais: R [Fraktur] (Physiognomie), Tn (Kant), Sd |Fraktur] (Anton), Wm [Fraktur] (Bambergiana), RI [Fraktur] (Zelters Leben), Bmn [Fraktur] (Juridica), Se (Gönner), Qa [Fraktur] (Diebitsch), Ah [Fraktur], Mz [Fraktur], Gt, St, Wh (Geschichte eines Kniffgenies).

Beiträge zu: 213 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) VII— VIII. »Einige Blumen auf das Grab Johann Heinrich Wlömers, eines allgemein verehrten Königl. Preußischen Geschäftsmannes« VII, 1-23. »Kleiner Beitrag zur Kunstgeschichte; nebst Anfrage wegen eines unge¬ wöhnlichen Vornamens« VII, 101-109. »Priesterkunst im Alterthum, verglichen mit einem neuern Kunststück« VII, 208-211. »Literarische Untersuchung über den Namen Dismas; und beiläufig: Ent¬ deckung eines ante-Jean-Paul-schen Katholischen Humors, hundert Jahre vor dem itzt lebenden Lutherischen Jean Paul« VIII, 364-387.

1803 Herausgeber: 214 Neue allgemeine deutsche Bibliothek (Berlin: Nicolai) LXXVLXXXIV, 1-2; Anhang zu den Bänden XXIX-LXVIII, 2-4. Chiffren Nicolais: s. Nr. 212.

Beiträge: 215 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) IX. [?] »Von der Beschaffenheit der Urteile der Engländer über die deutsche Nation und die deutsche Literatur« [Vgl. Vossisehe Zeitung Nr. 260, Sonn¬ tagsbeilage Nr.21, Berlin 23.Mai 1915, 162-164]. »Ernsthafte Untersuchung einer possenhaften Gewohnheit« [Aprilsehikken] 241-283.

216 Sammlung der deutschen Abhandlungen welche in der König¬ lichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen worden in den Jahren 1798-1800 (Berlin, gedruckt bey Georg Decker). »Ehrengedächtniss Ramlers von Friedrich Nicolai. Vorgelesen in der Königl. Akademie der Wissenschaften den 8. August 1799 von Herrn Kir¬ chenrath Meierotto in Abwesenheit des Verfassers« 1-8.

295

1804 Herausgeber: 217 Neue allgemeine deutsche Bibliothek (Berlin: Nicolai) LXXXVXCIV. Chiffren Nicolais: s. Nr. 212.

Beiträge zu: 218 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) XIXII. »Das gestörte Freundschaftsverhältniß zwischen Gleim und Ränder« XI, 52- 62. »Vermittelung über Maräne, Moräne und Muräne. An Herrn Biester« XII, 53- 64. Freygebigkeit einer Gesellschaft von Gelehrten zu Altona gegen Preußen« XII,'138-149. »Etatsrath Schiraeh und Dieudonne Thiebault« XII, 282-320.

1805 Herausgeber: 219 Neue allgemeine deutsche Bibliothek (Berlin: Nicolai) XCV-CIV, 1-2. Chiffren Nicolais: s. Nr. 212.

Beiträge zu: 220 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) XIII— XIV. »Ueber einige Nachrichten von dem verstorbenen Tonkünstler Hiller in der Allgemeinen Musikzeitung« XIII, 3-31. »Gespräch über das itzige verderbte Zeitalter« XIV, 92-116 [auch in Philoso¬ phische Abhandlungen, 1 (1808); s. Nr.230], »Ueber einen Beitrag zur Biographie Schillers in der Allg. Hall. Litteraturzeitung« XIV, 86-93.

221 Sammlung der deutschen Abhandlungen welche in der Königli¬ chen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen worden in den Jahren 1801 und 1802 (Berlin, gedruckt bey Georg Decker). »Einige Zweifel über die Gesetze, wodurch die Befugniss, über die mora¬ lische Beschaffenheit Anderer zu urtheilen, eingeschränkt wird. Von Herrn Nicolai«, 85-101 [vorgelesen am 5. November 1801]. Auch in Nr. 230. »Ueber Abstraktionen, ihre nothwendigen Unvollkommenheiten, und ihren öftern Mißbrauch« 113-134. Auch in Nr.230.

1806 222 Christ. Fr. Nicolai’s Bildniss und Selbstbiographie. Herausgegeben von M.S.Lowe. Berlin, 1806. Gedruckt und verlegt bei J.F.Starcke. Leipzig bei J. G. Mittler.

8°. n'2, A-C8, D4. [4], 56 Seiten. 1 Kupferblatt mit Nicolais Porträt (signiert »M.S.Lowe ad vivum del. et sc. 1806«) und Vignette (signiert »L N M«) Exemplar: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (8° H.Lit. biogr. I, 3022). 296

223 Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freymaurer, veranlaßt durch die sogenannte historisch-kritische Untersuchung des Herrn Hofraths Buhle über diesen Gegenstand. Von Friedrich Nicolai. Berlin und Stettin 1806.

8°. *7, **2, A-L2, M4, a-d8, e2. [2], xvi, 180, 68 Seiten. 1 Kupferstich. Exemplar: Universitätsbibliothek Münster (r1 2453). 224 Gedächtnißschrift auf Johann Jakob Engel. Von Friedrich Nicolai. Berlin und Stettin, 1806.

8°. A7, B8, C4. IV, [1], 6-38 Seiten. 1 Kupferstich von Daniel Chodowiecki. Exemplar: Universitätsbibliothek Tübingen (Kg 305a) Bemerkung: Der Kupferstich erschien ursprünglich als Titelkupfer zur All¬ gemeinen deutschen Bibliothek, XXXIX, 1,1779 (Engelmann Nr.312). S.auch Nr. 226. Herausgeber: 225 Neue allgemeine deutsche Bibliothek (Berlin: Nicolai) CV-CVII, 1-2. Chiffren Nicolais: s. Nr. 212.

Beiträge zu: 226 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai). XVI. »Zweifel und Bitte über eine Stelle in Böttigers Andeutungen zu archäolo¬ gischen Vorträgen« 332-352.

226 a Sammlung der deutschen Abhandlungen, welche in der König¬ lichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen worden in dem Jahre 1803 (Berlin, gedruckt bey Georg Decker). »Ehrengedächtniss des Herrn Professors Engel« 1-18. »Bemerkungen über den logischen Regressus, nach dem Begriffe der alten Kommentatoren des Aristoteles« 168-180. Auch in Nr. 230.

1807 227 Gedächtnißschrift auf Dr. Wilhelm Abraham Teller. Von Friedrich Nicolai. Berlin und Stettin, 1807.

8°. A7, B8. 30 Seiten. 1 Kupferstich von Daniel Chodowiecki Exemplar: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (8° Hist. lit. biogr. V, 773). Bemerkung: Vorgelesen vor der Königlichen Akademie der Wissenschaf¬ ten, Berlin, am 7. August 1806; veröffentlicht in den Abhandlungen... aus den Jahren 1804-1811 (1815). Der Kupferstich erschien ursprünglich als Titelkupfer zur Allgemeinen deutschen Bibliothek XXVIII, 1, 1776 (Engel¬ mann Nr. 142). Beiträge zu: 228 Almanach für Theater und Theaterfreunde auf das Jahr 1807 (Ber¬ lin: Oehmigke der Jüngere). »Ueber Eckhof« 31-49.

297

229 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) XVIIXVIII. »Fortsetzung der Berlinischen Nachlese« [Joachim II. und Johann Georg; Baumeister Kaspar Theis oder Thies; Anekdoten aus der Zeit Joachims II. -Das Zutrinken im 16.Jahrhundert; Paßgläser; Scharfrichter und Chirur¬ gen in Berlin; Der blinde Musiker von Erlach. - Anerbieten der Freimau¬ rer, Friedrich im 7jährigen Kriege zu helfen; Berlin der Sittenlosigkeit beschuldigt wegen Aufklärung; Patent für Otto von Graben zum Stein als Vizepräsidenten der Sozietät der Wissenschaften; Hofrath Morgenstern in Potsdam] XVII, 1-36, 84-102, 193-226, 227-298. »Ueber die Etymologie der Wörter Schallmei, Hautbois, Viola (Fiedel) und Fagott« XVII, 129-156. »Joh.Hübner und Hilmar Curas. - Black Monday und Querelle d’Allemand« XVII, 329-353. »Fortsetzung der Berlinischen Nachlese« [Das alte Schloß in Berlin von Theis. - Verbot der Litteraturbriefe in Berlin im J. 1762] XVIII, 3-16, 340359. »Ueber das Deutsche im Rabelais. - Ueber die Drechslerkunst der Alten« XVIII, 234-249. »Das Beste aus zwei schlechten Büchern. - Ueber Hörner und Hörner¬ träger« XVIII, 289-301.

1808 230 Philosophische Abhandlungen. Größtentheils vorgelesen in der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin von Friedrich Nicolai. Erster [Zweyter] Band. Berlin und Stettin, 1808.

8°. 2 Bände. I: ti1, (*)', (**)', x4, A-R8, S3 [G4 fehlsigniert als »G3«, P3 und R3 nicht signiert]. [2], X, [2], 280 Seiten. II: ti1, A-P8 [A4, B5, C5, I4, I5 nicht signiert], [2], 239 Seiten. Exemplar: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (8° Phil. I, 7161). Bemerkung: Vgl. Nrn. 196, 203, 216, 221, 226a.

Beiträge zu: 231 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) XIXXX. »Ueber einen unterrichteten deutschen Blinden« [vorgelesen in der Akade¬ mie der Wissenschaften am 13. Januar 1806] XIX, 1-31. »Ueber das Tarockspiel und über die erste Erfindung der Karten« XIX 65106. »Vom Gebrauch des gemeinschaftlichen Gesanges in Schulen und bei der Erziehung überhaupt« XIX, 129-143. »Zu Adelungs und Campes Wörterbuch«, XIX 193-210, 257f. »Fortsetzung der Berlinischen Nachlese« [Märkische Grammatiken; Streit zwischen Gleim und Spalding] XIX, 345-373. »Fortsetzung der Berlinischen Nachlese« [Reichshofsraths Konklusum gegen Bunkels Leben-Joh. Joachim Ewald; Ewald von Kleist-Körtes Aus¬ gabe der Werke Kleists] XX, 30-40, 257-290. »Zu Adelungs und Campes Wörterbuch« XX, 65,129, 193.

298

1809 Herausgeber: 232 Gotthold Ephraim Lessing’s sämmtliche Schriften. Sechs und zwanzigster Theil. Zweyte Auflage mit Veränderungen und Zusät¬ zen. Berlin und Stettin. Bey Friedrich Nicolai. 1809. Bemerkung: Zweite Auflage von Nr. 171.

233 Gotthold Ephraim Lessing’s sämmtliche Schriften. Sieben und zwanzigster Theil. Zweyte Auflage. Mit Veränderungen und Zusät¬ zen. Berlin und Stettin. Bey Friedrich Nicolai 1809. Nebentitel: Gotthold Ephraim Lessing’s Briefwechsel mit Karl Wilhelm Ramler, Johann Joachim Eschenburg und Friedrich Nicolai. Nebst einigen Anmerkungen über Lessing’s Briefwechsel mit Moses Mendelssohn. Zweyte Auflage. Mit Veränderungen und Zusätzen. Berlin und Stettin. Bey Friedrich Nicolai. 1809. Bemerkung: Zweite Auflage von Nr. 172.

Beiträge zu: 234 Johann George Sulzer’s ehedem Professors zu Berlin und Mitglie¬ des der Königlichen Akademie der Wissenschaften Lebensbe¬ schreibung, von ihm selbst aufgesetzt. Aus der Handschrift abge¬ druckt, mit Anmerkungen von Johann Bernhard Merian und Fried¬ rich Nicolai. Berlin und Stettin, 1809. Exemplar: Universitätsbibliothek Tübingen (Kg 217).

235 Des Türkischen Gesandten Resmi Ahmet Efendi Gesandtschaftliche Berichte von seinen Gesandtschaften in Wien im Jahre 1757, und in Berlin im Jahre 1763. Aus dem türkischen Originale über¬ setzt. Mit erläuternden Anmerkungen. Berlin und Stettin, bey Friedrich Nicolai 1809. »Vorbericht« III —X, datiert Berlin, 17. Dezember 1808.

236 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) XXIXXII. »Wer war der Witzling?« XXI, 35-43. »Fortsetzung der Berlinischen Nachlese« [Lambert. - Einführung der Akzise in Berlin. - Akzise in Kleve; Wie Herzberg Kurator der Akademie wurde. - Talmudisten] XIX, 75-90, 180-191, 216-232, 352-362. »Fortsetzung der Berlinischen Nachlese« [Wandernde Talmudisten; Rabbi Abba Glosk; Ueber die jüdischen Namen. - lleinitz Kurator der Kunstaka¬ demie; Nachtrag (über die jüdischen Namen) von David Friedländer.-Paul Gerhardt; Joh. Georg Ebeling] XXII, 23-48, 65-89, 103-197, 335-356. »Herleitung der Wörter Galimafree und Galimatias« XXII, 190-192.

1810 237 Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard. Von Friedrich Nicolai. Berlin und Stettin, 1810. 299

8°. Tt7, B-E8, F2 [D2 fehlsigniert als »B2«]. 82 Seiten. 1 Kupferstich von Daniel Chodowiecki. Exemplar: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (8° Hist. lit. biogr. V, 1677). Bemerkung: Der Kupferstich erschien ursprünglich als Titelkupfer zur All¬ gemeinen deutschen Bibliothek, XXXVII, 1, 1779 (Engelmann Nr. 271).

Beiträge zu: 238 Neue Berlinische Monatsschrift (Berlin und Stettin: Nicolai) XXIII-XXIV. »Etwas aus Mendelssohns Nachlaß« XXIII, 40-46, 298-311. »Fortsetzung der Berlinischen Nachlese« [Gilde-Artikel; Bischöfe in der Mark] XXIII, 172-177, 223-242. »Fernere Bruckstücke« [aus Mendelssohns Nachlaß] XXIV, 11-17, 92-104, 168-192.

1811 239 Verzeichniß einer Handbibliothek der nützlichsten deutschen Schriften zum Vergnügen und Unterrichte, wie auch der brauch¬ barsten Ausgaben der lateinischen und griechischen klassischen Autoren, und der in Deutschland gedruckten ausländischen Bücher, welche in Preußischen klingendem Kurrante, um beige¬ setzte Preise zu haben sind bei Friedrich Nicolai, in dessen Buch¬ handlungen zu Berlin und Stettin. Fünfte vermehrte und ganz um¬ gearbeitete Ausgabe. 1811.

8°, n3, A-Q8, R7, P2 [sig. Si-2 fehlsigniert als »P1-2«]. [6], 274 Seiten. Exemplar: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (Ad 18). Bemerkung: Erste Auflage 1780 (Nr. 102). Weitere Auflagen 1787 (Nr. 139), 1795 (Nr. 175); Übersetzung [?] Nr. 244.

II. ÜBERSETZUNGEN

240 Ehrengedächtniß Herrn Ewald Christian von Kleist (1760) Dänisch. Kopenhagen 1760. Französisch. Michael Huber, in Journal Etranger (1761).

241 Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam (1769) Niederländisch. Dordrecht 1771.

300

242 Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (1773-1776) Französisch. »Par un ami du heros« [i.e.Weiss oder Wyß], Londres [i.e.Lau¬ sanne! 1774, Band I. Wyß [zusammen veröffentlicht mit Moritz August von Thümmel, Wilhelmine] Bern 1774. Wyß, Londres [i. e. Lausanne] 1777, Bände I—III. Marie-Elisabeth Bouee Dame de Lafite und Heinrich Renfner, Den Haag 1775 [Auszüge]. Niederländisch. J.G. Faber und Abraham Arent van der Meersch, Amster¬ dam 1775-1776, 3 Bände. Dänisch. Kopenhagen 1774-1777, 1777. Schwedisch. Stockholm 1778. Er. Forssen, Gothenburg 1788, 3 Bände. Englisch. Thomas Dutton, London 1798.

243 Freuden des jungen Werthers (1775) Niederländisch. Amsterdam 1777. Schwedisch. 1798.

244 Verzeichniß einer Handbibliothek (1780) Englisch. Oxford und London 1788 [?].

245 Versuch über die Beschuldigungen welche dem Tempelherren¬ orden gemacht worden (1782) Französisch. Heinrich Renfner, Amsterdam 1783 [Ausgaben in 12° und 4°].

246 Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz (1783-1796) Niederländisch. Amsterdam 1790, Band I. Amsterdam 1793, Band VII.

247 Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen (1788-1792) Niederländisch. Amsterdam 1788.

248 Über den Gebrauch der falschen Haare und Perrucken (1801) Französisch. H. Jansen, Paris [1809].

249 [Verschiedene kleine Schriften] Dänisch. In Nachrichten von dem Zustand der Wissenschaften und Künste in den königlich Dänischen Reichen, hrsg. von Anton Friedrich Büsching, Kopenhagen 1753 ff.

Beiträge zu: 250 Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Französisch. In Memoires de VAcademie Royale des Sciences et Belles-Lettres (Berlin: Decker, 1805). »Ramlers Ehrengedächtniß« (»Eloge de Monsieur Ramler«) S. 35-38. »Ehrengedächtniß des Herrn Professors Engel« (»Eloge de Monsieur Engel«) S. 39-43. »Ueber Abstraktionen« (»Sur les abstractions«) S. 25-54. »Bemerkungen über den logischen Regressus« (»Sur le regressus logique« S. 55 -72.

301

III. NICOLAI ZUGESCHRIEBENE SCHRIFTEN

251 Menschen Thiere und Göthe, eine Farce. Voran ein Prologus an die Zuschauer und hinten ein Epilogus an den Herrn Doktor. [Orna¬ ment] 1775. Exemplar: Landesbibliothek Coburg. Bemerkung: Gedruckt in Zürich. Karl Goedeke, Grundriß der Geschichte der deutschen Dichtung (XII, 40) gibt Johann Jakob Hottinger als Verfasser an. Eine zweite Auflage erschien 1776 (Universitätsbibliothek Münster, 1E2902).

252 Neues Wörter-Buch auf eine andere Manier von dem Nothankeri¬ schen Schulmeister. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage. [Motto] Cosmopolis, 1776. Exemplar: British Library London (12548.b.7).

253 Briefe an einen Landgeistlichen das Gesangbuch zum gottes¬ dienstlichen Gebrauch in den Rönigl. Preuß. Landen betreffend, von Einem Weltmann in Berlin. [Ornament] Berlin, bey Friedrich Nicolai, Buchhändlern auf der Schloßfreyheit, im Audibertschen Hause, 1781. Exemplar: British Library London (5425.C.27).

254 Das Religions-Edikt. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Eine Skizze. Von Nicolai dem Jüngern. Thenakel, 1789. Gedruckt durch Johann Michael Bengel. [Band II:] Der Dritte und Vierte Aufzug des Lustspiels. Das Reli¬ gions-Edikt. Vollendet durch Nicolai den Jüngern. Thenakel, 1789. Gedruckt durch Johann Michael Bengel. Exemplar: Kreisbibliothek Eutin (LP 6).

255 Jeremias Reibedanz. Eine Geschichte zur Unterhaltung für Leser, welche ohne Ritter und Gespenster fertig werden können. [Vignette] Berlin und Leipzig, bei Carl August Nicolai. 1796. Exemplar: Universitätsbibliothek Heidelberg (Waldberg 2200).

256 Des alten Kauz Meditationen über Besenstiele, Stiefelknechte, Schubürsten, Schlafmützen, Quirl’ und Konsorten. Ein Buch zur Beförderung der Humanität. Berlin und Stettin, bei Friedrich Nico¬ lai. 1800. Exemplar: Landesbibliothek Stuttgart.

257 Der ßouilottenleuchter. Eine Goldgrube der Pariser Damen vom Ton. Berlin, 1800. Karl August Nicolai. Exemplar: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg.

302

258 Franz von Werden ein Roman von Nicolai. 4 Bände mit 6 Kupfern. Erster [Zweiter] [Dritter] [Vierter] Band. Penig 1802 bei Ferdinand Dienemann und Compagnie. Exemplar: Landesbibliothek Oldenburg (Man. I, 694-697).

259 Allgemeines Register sowohl der Namen als Sachen über den All¬ gemeinen Litterarischen Anzeiger und dessen Fortsetzungen, die Litterarischen Blätter und den Neuen Lit. Anzeiger zusammen von 1769 bis 1808. Durch Veranstaltung Friedrichs Nicolai. Mit einer Vorrede vom Bibliothekar Biester. Berlin und Stettin 1811, bey Friedrich Nicolai. Exemplar: Stadtbibliothek Wuppertal (Gl34).

IV. BRIEFE Manuskripte In der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, befinden sich 95 Bände des Nicolai-Nachlasses mit Briefen und Stamm¬ büchern. Ein Band (Nie. 29) befindet sich in der Deutschen Staats¬ bibliothek, Berlin. Ein in der Staatsbibliothek Preußischer Kultur¬ besitz vorhandenes alphabetisches Verzeichnis der Korresponden¬ ten (Manuskript) schlüsselt das gesamte Material rudimentär auf. Weitere Briefe sind enthalten in den Bänden 285-295 des Nico¬ lai-Nachlasses. Die Korrespondenten sind in dem Verzeichnis nicht erfaßt (vgl. »Zum Nachlaß des Berliner Buchhändlers Fried¬ rich Nicolai (1733-1811)«, Das Antiquariat, 18, 9-10,1966). In anderen Nachlässen und Sammlungen enthaltene Briefe Nicolais sind verzeichnet in Wilhelm Frels, Deutsche Dichterhand¬ schriften von 1400-1800 (1934; Neudruck 1970) und Karl-Heinz Hahn, Goethe- und Schiller-Archiv: Bestandsverzeichnis (1961). Gedruckte Briefe Zu Lebzeiten Nicolais erschienen Briefe in: Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften, 27. Teil (Berlin: Nicolai, 1794; 2. Auflage »Mit Veränderungen und Zusätzen«, Berlin und Stettin: Nicolai 1809). Thomas Abbts... Vermischte Werke, 3.Teil (Berlin und Stettin: Nico¬ lai 1771; neue Auflage 1782; Raubdruck, Frankfurt und Leipzig 1783). Vermischte Schriften von Justus Möser, 2. Teil (Berlin und Stettin: Nicolai 1798). Freundschaftliche Briefe von J. S. Patzke (Frankfurt und Leipzig: Kleyb 1754). 303

Hinweise auf Briefe Nicolais, die in Sammlungen und Korre¬ spondenzen anderer Autoren veröffentlicht wurden, finden sich in Karl Goedeke, Grundriß der Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, 3. Auflage, IV, 1 (Dresden 1906), 498-499, 11441145. Spätere Veröffentlichungen Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel, Philosophische Bibliothek, 121 (Leipzig: 1910; Nach¬ druck, Darmstadt 1967). Martin Sommerfeld, Friedrich Nicolai und der Sturm und Drang... Mit einem Anhang: Briefe aus Nicolais Nachlass (Halle 1921). Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, hrsg. von Jochen Schulte-Sasse (München 1972). Günter Schulz, »Christian Garve im Briefwechsel mit Friedrich Nicolai und Elisa von der Becke«, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, I (Bremen und Wolfenbüttel 1974). Johann Jacob Ferber, Briefe an Friedrich Nicolai aus Mitau und St. Petersburg, hrsg. von Heinz Ischreyt (Herford und Berlin 1974).

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DATE DUE

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CARR McLEAN, TORONTO FORM »38-297

PT 2440 ,N4 Z66 1983 Friedrich Nicolai, 1733-1811 :

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TRENT UNIVERSITY

PT2440 .N4Z66 1983 Friedrich Nicolai, 1733-1811 : Essays zum 250. Geburtstag

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