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German Pages XVII, 250 [263] Year 2020
Kölner Schriften zum Medizinrecht Christian Katzenmeier (Hrsg.)
Anna Maria Ernst
Rechtsfragen der Systemmedizin
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Kölner Schriften zum Medizinrecht Band 26 Reihenherausgeber Christian Katzenmeier
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/8204
Anna Maria Ernst
Rechtsfragen der Systemmedizin
Anna Maria Ernst Institut für Medizinrecht Universität zu Köln Köln, Deutschland
ISSN 1866-9662 ISSN 1866-9670 (electronic) Kölner Schriften zum Medizinrecht ISBN 978-3-662-62549-1 ISBN 978-3-662-62550-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62550-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Meiner Familie
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019/2020 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen und für die Veröffentlichung auf den Stand von April 2020 gebracht. Sie ist im Rahmen des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten interdisziplinären Verbundvorhabens „Systemmedizin und Gesundheitskompetenz – Theoretische, normative und empirische Untersuchung im Bereich psychischer Störungen“ entstanden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Christian Katzenmeier, der frühzeitig mein Interesse am Medizinrecht geweckt, mich während meiner Zeit als Mitarbeiterin an dem von ihm geleiteten Institut für Medizinrecht auf vielfältige Weise gefördert und dieses Werk in die Kölner Schriften zum Medizinrecht aufgenommen hat. Frau Prof. Dr. Christiane Woopen danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie für die wertvollen Anregungen aus medizinischer und medizin-ethischer Sicht. Ferner möchte ich mich bei Dr. Anna Genske, Dr. Judith Hofmann, Dr. Christoph Jansen, Dr. Miriam Keil, Marie Kurz, Lisa Lambertz, Dr. Niclas Lauf, Silke Lenzen, Pauline Mantell, Lukas Reitebuch, Dr. Björn Schmitz-Luhn und Dr. Katrin Schumacher für die wertvolle Unterstützung bei den Korrekturarbeiten und für die vielen hilfreichen Gespräche, Anregungen und Aufmunterungen herzlich bedanken. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich meinen Eltern, die mich auf meinem bisherigen Lebensweg stets tatkräftig unterstützt und gefördert haben. Durch ihren Rückhalt und Zuspruch haben sie maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Köln, im Juni 2020
Anna Maria Ernst
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... XIII Einleitung ................................................................................................................ 1 Kapitel 1: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin ....................................... 5 Begriff der Systemmedizin ......................................................................... 5 I. Verschiedene Definitionsansätze ......................................................... 5 1. Definition der Europäischen Kommission.................................... 5 2. Definition des Bundesministeriums für Bildung und Forschung . 6 3. Zusammenführung zu einer Arbeitsdefinition .............................. 6 II. Abgrenzung gegenüber verwandten Begriffen .................................... 7 1. Systembiologie ............................................................................. 7 2. Individualisierte Medizin .............................................................. 8 3. Gendiagnostik ............................................................................... 9 Ziele der Systemmedizin .......................................................................... 11 I. Gegenwärtige Herausforderungen im Gesundheitssystem ................ 12 II. Wissenschaftlicher Lösungsansatz: Systemmedizin ......................... 13 III. Fazit ................................................................................................... 16 Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung ............ 17 I. Ärztliche Behandlung ........................................................................ 18 1. Standardbehandlung ................................................................... 18 2. Versuchsbehandlung ................................................................... 18 II. Medizinische Forschung .................................................................... 20 III. Abgrenzung ....................................................................................... 20 1. Kriterien zur Feststellung der Zweckrichtung ............................ 22 2. Bewertung sog. Mischfälle ......................................................... 24 3. Fazit ............................................................................................ 25 IV. Einordnung systemmedizinischer Maßnahmen ................................. 26 Kapitel 2: Herausforderungen und Voraussetzungen der Integration systemmedizinischer Ansätze in das Gesundheitssystem............. 29 Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung .............. 29 I. Grundlagen des informationellen Selbstbestimmungsrechts ............. 31 1. Schutzumfang ............................................................................. 31 a) Personenbezogene Daten i. S. d. Art. 4 Nr. 1 DS-GVO ...... 32 b) Personenbezug in der Systemmedizin ................................. 33 2. Regelungsadressaten ................................................................... 36 3. Beschränkungen .......................................................................... 38 II. Recht auf Nichtwissen ....................................................................... 40 1. Rechtstheoretische und -dogmatische Herleitung....................... 41 2. Anwendungsbereich ................................................................... 42 3. Normative Durchsetzungsschwierigkeiten ................................. 44
X
Inhaltsverzeichnis
4. Verhältnis zum Recht auf Wissen............................................... 45 5. Zwischenfazit .............................................................................. 46 III. Fazit ................................................................................................... 47 Rechtliche Vorgaben für den Umgang mit Daten in der Systemmedizin ............................................................................... 48 I. Art der zu erhebenden Daten ............................................................. 48 1. Gesundheitsdaten ........................................................................ 49 2. Sozialdaten .................................................................................. 52 3. Leistungsdaten ............................................................................ 54 4. Sonstige Begriffe ........................................................................ 55 5. Fazit ............................................................................................ 56 II. Involvierte Protagonisten und ihre Interessen an den Daten ............. 57 1. Traditionelle Protagonisten im Gesundheitswesen ..................... 57 a) Patient .................................................................................. 58 b) Leistungserbringer ............................................................... 58 c) Leistungsträger ..................................................................... 59 2. Innovative Akteure ..................................................................... 60 3. Fazit ............................................................................................ 61 III. Rechtsquellen..................................................................................... 61 1. Unionsrecht ................................................................................. 61 a) Anwendungsbereich ............................................................. 62 b) Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung ............................... 67 c) Betroffenenrechte ................................................................. 79 d) Verhältnis zum nationalen Recht: Anwendungsvorrang ..... 82 2. Nationales Recht ......................................................................... 84 a) Allgemeines Datenschutzrecht............................................. 84 b) Bereichsspezifisches Datenschutzrecht ............................... 88 IV. Fazit ................................................................................................... 94 Diskriminierungsgefahren – am Beispiel des privatrechtlichen Versicherungssektors ................................................... 95 I. Vorvertragliche Anzeigepflichten des Versicherungsnehmers gemäß VVG ................................................. 97 1. § 19 VVG .................................................................................... 97 2. § 213 VVG .................................................................................. 99 II. Besonderer Schutz genetischer Daten ............................................. 100 1. Selbstverpflichtungserklärung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V............................ 100 2. § 18 GenDG .............................................................................. 101 a) Grundsatz: Verbote des § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG .............. 101 b) Ausnahmen vom Verbot des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG ........................................... 103 III. Übertragung der Grundsätze auf die Systemmedizin ...................... 106 1. VVG .......................................................................................... 106 2. GenDG ...................................................................................... 107 3. Fazit .......................................................................................... 107 IV. Exkurs: Systemmedizin und genetischer Exzeptionalismus ........... 108 1. Begriff des genetischen Exzeptionalismus ............................... 109
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2. Eine Debatte auf zwei Ebenen .................................................. 110 a) Erste Ebene: Epistemologischer Sonderstatus ................... 110 b) Zweite Ebene: Sonderstatus aufgrund normativ-ethischer Aspekte ............................................... 113 c) Fazit.................................................................................... 117 3. Relativierung durch die Systemmedizin ................................... 119 Kapitel 3: Auswirkungen der Systemmedizin auf das Verhältnis von Arzt und Patient ....................................................................... 121 Auswirkungen auf das Gepräge der Arzt-Patient-Beziehung ................ 121 Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns ...... 125 I. Indikation ......................................................................................... 126 1. Krankheit als traditioneller Bezugspunkt der medizinischen Indikation .......................................................... 128 2. Öffnung des Indikationskonzepts ............................................. 130 a) Sachliche Ausdehnung ....................................................... 130 b) Zeitliche Ausdehnung ........................................................ 131 c) Auswirkungen der Systemmedizin .................................... 132 3. Bewertung möglicher Alternativkonzepte ................................ 133 4. Fazit .......................................................................................... 134 II. Fachgerechte Behandlung................................................................ 134 1. Begriff des Standards ................................................................ 135 a) Vorrangstellung wissenschaftlicher Evidenz ..................... 136 b) Dynamische Ausgestaltung des Standards......................... 137 c) Auswirkungen der Systemmedizin .................................... 138 2. Standardverfehlung ................................................................... 140 a) Grundlagen ......................................................................... 140 b) Auswirkungen der Systemmedizin auf die Behandlungsfehlerhaftung des Arztes ............................... 143 3. Leitlinien und Standard............................................................. 145 a) Begriff und Bedeutung von Leitlinien im Haftungsrecht .. 145 b) Leitlinien in der Systemmedizin ........................................ 148 4. Fazit .......................................................................................... 150 III. Einwilligung nach ärztlicher Aufklärung ........................................ 150 1. Aufklärung als notwendige Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung................................................ 152 a) Grundlagen der ärztlichen Aufklärungspflicht .................. 153 b) Behandlungsalternativen .................................................... 154 c) Umfang und Intensität........................................................ 157 d) Zusätzliche Aufklärungspflichten ...................................... 158 e) Fazit.................................................................................... 159 2. Wirksame Einwilligung des Patienten ...................................... 160 3. Fazit und Ausblick .................................................................... 162 Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten ...................................... 164 I. Informationspflichten im weiteren Sinne ........................................ 164 1. Therapeutische Information ...................................................... 164 2. Wirtschaftliche Information...................................................... 166
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3. Genetische Beratung ................................................................. 168 4. Datenschutzrechtliche Informationspflichten ........................... 171 II. Schweigepflicht des Arztes ............................................................. 173 1. Grundlagen der ärztlichen Schweigepflicht.............................. 173 2. Spezialgesetzliche Ausprägung in § 11 GenDG ....................... 175 3. Verhältnis zum allgemeinen Datenschutzrecht......................... 176 4. Ärztliche Schweigepflicht in der arbeitsteiligen Medizin ........ 177 5. Spannungsverhältnis zwischen Schweigepflicht und Drittinteressen .................................................................... 181 a) Konfligierende Patienten- und Drittinteressen................... 182 b) Lösung de lege lata hinsichtlich genetischer Daten: § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG .................................................... 183 c) Richterrechtliche Lösung hinsichtlich sonstiger Gesundheitsinformationen ................................................. 185 d) Lösungsansatz für die Systemmedizin ............................... 187 6. Fazit .......................................................................................... 189 Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln in der Systemmedizin ....... 190 I. Legitimationsvoraussetzungen medizinischen Erprobungshandelns ........................................................................ 190 1. Individueller Heilversuch ......................................................... 191 2. Forschungseingriff .................................................................... 193 3. Datenschutzrechtliche Anforderungen ..................................... 195 II. Zufallsbefunde in der Systemmedizin ............................................. 196 1. Begriff und Bedeutung ............................................................. 197 2. Umgang mit Zufallsbefunden ................................................... 198 a) Behandlungskontext ........................................................... 198 b) Forschungskontext ............................................................. 199 c) Fazit.................................................................................... 201 Kapitel 4: Zusammenfassung und Ausblick .................................................... 203 Begriff und Bedeutung der Systemmedizin ........................................... 203 Herausforderungen und Voraussetzungen der Integration systemmedizinischer Ansätze in das Gesundheitssystem ...................... 204 I. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung...... 204 II. Datenschutzrechtlicher Rahmen ...................................................... 205 III. Diskriminierungsgefahren ............................................................... 207 Auswirkungen der Systemmedizin auf das Verhältnis von Arzt und Patient ............................................................................... 208 I. Auswirkungen auf das Gepräge der Arzt-Patient-Beziehung.......... 208 II. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns und sonstige ärztliche Pflichten ....................................... 209 III. Medizinisches Erprobungshandeln in der Systemmedizin .............. 212 Gesamtfazit ............................................................................................. 213 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 215
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
a. A. ABl. Abs. AcP AEUV a. F. AGG AMG Anm. AöR APMIS Art. AWMF BÄK BAnz. BBAW Bd. BDSG BeckOK Begr. Beschl. Bespr. BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BMBF BMJ BR-Drs. BRCA BSG BSGE Bsp. bspw. BT-Drs. BuGBl.
andere Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte(r) Fassung Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Arzneimittelgesetz Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) acta pathologica, microbiologica, et immunologica Scandinavica (Zeitschrift) Artikel Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften Bundesärztekammer Bundesanzeiger Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Band Bundesdatenschutzgesetz Beck’scher Online-Kommentar Begründer Beschluss Besprechung Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesministerium für Bildung und Forschung British Medical Journal (Zeitschrift) Bundesratsdrucksache breast cancer Bundessozialgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundessozialgerichts Beispiel(e) beispielsweise Bundestagsdrucksache Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz (Zeitschrift)
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Abkürzungsverzeichnis
BVerfG BVerfGE bzgl. bzw. ca. CR DÄBl. DANA ders. DFG DGIM d. h. dies. DJT DMW DNS DÖV DSAnpUG-EU DS-GVO DSRITB DSRL DuD DVBl. e. A. ebd. EbM Ed. Eg. Einl. et al. etc. Ethik Med e. V. EU EUV EuZW f. ff. FAZ FG Fn. FS GDV GEKO
Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich beziehungsweise circa Computer und Recht (Zeitschrift) Deutsches Ärzteblatt (Zeitschrift) Datenschutznachrichten (Zeitschrift) derselbe Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Gesellschaft für innere Medizin das heißt dieselbe(n) Deutscher Juristentag Deutsche Medizinische Wochenschrift (Zeitschrift) Desoxyribonukleinsäure Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Datenschutzanpassungs- und Umsetzungsgesetz EU Datenschutz-Grundverordnung Tagungsband Deutsche Stiftung für Recht und Informatik-Herbstakademie Datenschutz-RL 95/46/EG Datenschutz und Datensicherheit (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) eine Ansicht ebenda Evidenzbasierte Medizin Edition Erwägungsgrund Einleitung et alii/aliae/alia et cetera Ethik in der Medizin (Zeitschrift) eingetragener Verein Europäische Union Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgende fortfolgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Festgabe Fußnote Festschrift Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Gendiagnostik-Kommission
Abkürzungsverzeichnis
GenDG GesR GG ggf. ggü. GKV GRCh Grüne GS GUMG GuP HIV HK-AKM h. M. Hrsg. hrsgg. Hs. i. d. F. IfSG IGeL insbes. i. R. d. i. S. d./v. i. V. m. i. w. S. IT JR Jura JZ K&R Kap. KassKomm KastrG krit. KritV LG m. m. w. N. MBO-Ä MDR MedR medstra Mio.
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Gendiagnostikgesetz Gesundheitsrecht (Zeitschrift) Grundgesetz gegebenenfalls gegenüber Gesetzliche Krankenversicherung Charta der Grundrechte der Europäischen Union BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gedächtnisschrift Schweizer Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen Gesundheit und Pflege (Zeitschrift) Humanes Immundefizienz-Virus Heidelberger Kommentar Arztrecht Krankenhausrecht Medizinrecht herrschende(r) Meinung Herausgeber herausgegeben Halbsatz in der Fassung Infektionsschutzgesetz Individuelle Gesundheitsleistung(en) insbesondere im Rahmen der/des im Sinne der/des/von in Verbindung mit im weiteren Sinne Informationstechnik Juristische Rundschau (Zeitschrift) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Kommunikation und Recht (Zeitschrift) Kapitel Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht Kastrationsgesetz kritisch(e) Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Landgericht mit mit weiteren Nachweisen (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärtzinnen und Ärzte Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift) Medizinrecht (Zeitschrift) Zeitschrift für Medizinstrafrecht Millionen
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MMT MPG MRT MüKo NJW NK-BGB Nr. NVwZ NZS OLG PatRG PKV RDV RGSt RGZ RL Rn. RNS RöV Rs. Rspr. S. s. SGb SGB Slg. sog. Sp. SPD st. StGB StrlSchV SysKomp TFG Tz. u. u. a. Urt. v. VAG Var. VersR vgl. Vorb. VSSR VuR
MultiMedia und Recht (Zeitschrift) Medizinproduktegesetz Magnetresonanztomographie Münchener Kommentar Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NomosKommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Oberlandesgericht Patientenrechtegesetz Private Krankenversicherung Recht der Datenverarbeitung (Zeitschrift) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Richtlinie Randnummer Ribonukleinsäure Röntgenverordnung Rechtssache Rechtsprechung Seite, Satz siehe Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Sammlung sogenannt(e/er/es) Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands ständige(r) Strafgesetzbuch Strahlenschutzverordnung Verbundprojekt Gesundheitskompetenz und Systemmedizin Transfusionsgesetz Textziffer und und andere/unter anderem Urteil vom/von Versicherungsaufsichtsgesetz Variante Versicherungsrecht (Zeitschrift) vergleiche Vorbemerkung Vierteljahresschrift für Sozialrecht (Zeitschrift) Verbraucher und Recht (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis
VVG WHO zahlr. z. B. ZD ZEFQ ZMGR ZRP ZStW zust. ZVersWiss
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Versicherungsvertragsgesetz Weltgesundheitsorganisation zahlreich(en) zum Beispiel Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen Zeitschrift für das gesamte Medizin- und Gesundheitsrecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zustimmend Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft
Einleitung Einleitung
Die Digitalisierung erhält in nahezu alle Bereiche des öffentlichen, wirtschaftlichen und privaten Lebens Einzug; sie ist allgegenwärtig. Moderne Informationsund Kommunikationstechnologien werden sowohl im privaten Raum als auch zur Optimierung zahlreicher Arbeitsprozesse eingesetzt. Ein Stichwort, das in untrennbarem Zusammenhang mit dieser Entwicklung steht, ist Big Data.1 Big Data bezeichnet die Auswertung großer Datenmengen mit dem Ziel Muster zu erkennen und daraus neue Einsichten zu gewinnen. Hierfür werden, angesichts der Fülle und Vielfalt der Daten sowie der Geschwindigkeit, mit der sie erfasst, analysiert und neu verknüpft werden, innovative, kontinuierlich weiterentwickelte informationstechnologische Ansätze genutzt.2 Nach dieser Begriffsbestimmung lassen sich insbesondere drei Charakteristika von Big Data identifizieren, die vielfach aufgrund ihrer Alliteration im Englischen auch als „die drei Vs“ bezeichnet werden3: Datenmenge (volume), Datenvielfalt (variety) und Geschwindigkeit der Auswertung (velocity).4 Ein weiteres Kernmerkmal von Big Data ist die kontinuierliche De- und Rekontextualisierung der Daten, die durch die Kombination bisher nicht aufeinander bezogener Daten zu einer neuen Qualität der erzielten Ergebnisse führt.5 Die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns durch Entdeckung unerwarteter Korrelationen und Zusammenhänge wird zunehmend auch im Gesundheitsbereich genutzt.6 So kann Big Data etwa zur Vorhersage von Krankheiten verwendet werden. Zudem kann die algorithmische Auswertung großer Datenmengen bei der ärztlichen Diagnose und Therapie unterstützend eingesetzt werden.7 Mit dem 1
Eingehende Darstellung, wie Big Data viele Lebensbereiche bereits verändert hat und andere noch verändern wird, bei Mayer-Schönberger/Cukier, Big Data, S. 7 ff.; s. auch Krüger-Brand, DÄBl. 2014, A-904; zu den Rechtsfragen der Digitalisierung des Gesundheitswesens Katzenmeier, MedR 2019, 259. 2 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 54; Schefzig, DSRITB 2014, 103, 109; E. Becker/Schwab, ZD 2015, 151; Spindler, MedR 2016, 691. 3 Vgl. etwa die Definition im Gartner-IT-Glossar: „Big data is high-volume, highvelocity and/or high-variety information assets that demand cost-effective, innovative forms of information processing that enable enhanced insight, decision making, and process automation.“, abrufbar unter: https://www.gartner.com/en/information-technology /glossary/big-data (Zugriff: 13.4.2020). 4 Weichert, ZD 2013, 251, 252; I. Timm, MedR 2016, 686, 689; Augsberg/v. Ulmenstein, GesR 2018, 341; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Big Data, S. 2. Daneben werden weitere Zielgrößen von Big Data diskutiert, wie bspw. Sicherstellung der Datenqualität, (validity oder auch veracity im Sinne von Glaubwürdigkeit) sowie unternehmerischer Wert (value), Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 54. 5 Augsberg/v. Ulmenstein, GesR 2018, 341; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Big Data, S. 2; ähnlich Weichert, ZD 2013, 251; Ladeur, DuD 2016, 360, 361. 6 Zur Entwicklung der Informationsverarbeitung in der Medizin, s. I. Timm, MedR 2016, 686, 687 ff. 7 E. Becker/Schwab, ZD 2015, 151; Spindler, MedR 2016, 691; zu weiteren Zwecken gesundheitsspezifischer Big-Data-Analysen s. Weichert, DuD 2014, 831, 834.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 A. M. Ernst, Rechtsfragen der Systemmedizin, Kölner Schriften zum Medizinrecht 26, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62550-7_1
2
Einleitung
Begriff „datenbasierte Medizin“ lässt sich das Ziel der Nutzung von Big Data im Gesundheitsbereich treffend umschreiben. Im Gegensatz zur erfahrungs- oder evidenzbasierten Medizin existiert kein bestimmtes Untersuchungsdesign mit einer fest vorgegebenen Fragestellung. Vielmehr werden Daten ohne feste Zweckbindung erhoben, um diese über verschiedene Algorithmen nach produktiven Verknüpfungsmustern abzusuchen, mit dem Ziel Krankheitsverläufe oder Therapien vorauszusagen.8 Ein gewichtiges Merkmal von Big Data im Gesundheitssektor ist mithin die Verknüpfung unterschiedlicher Daten jenseits fester Kausalitätsmuster.9 Auch die Systemmedizin macht sich Big-Data-Analysen zu Nutze:10 die Auswertung vielfältiger Datenmengen aus verschiedensten Quellen soll durch die Bildung von Mustern neue Erkenntnisse im Bereich der Krankheitsentstehung, -vermeidung und -behandlung liefern.11 Ein Augenmerk liegt hierbei auf individuellen Krankheitsbildern, die von multikausalen Zusammenhängen geprägt sind. Das Ziel der Implementierung der Systemmedizin in das Gesundheitssystem ist mithin ebenfalls die „datenbasierte Medizin“. Für die erfolgreiche Implementierung erweisen sich vornehmlich zwei Entwicklungen als günstig: zum einen die zunehmende Bereitschaft der Bevölkerung technische Geräte, wie Smartphones oder sog. wearables, in ihrem täglichen Leben zur Sammlung und Auswertung von Daten einzusetzen und diese Daten mit Dritten zu teilen. Zum anderen fördern die kontinuierlichen Erkenntnisfortschritte in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen (Medizin, Biologie, Informatik) die erfolgreiche Einführung der Systemmedizin.12 Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten juristischen Teilprojekts des Verbundvorhabens „Systemmedizin und Gesundheitskompetenz – Theoretische, normative und empirische Untersuchung im Bereich psychischer Störungen“ (SysKomp) entstanden. SysKomp ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Fachbereiche Ethik, Recht und Gesundheitsökonomie. Die Initiatoren des Projekts haben sich die Aufgabe gestellt, Herausforderungen bei der Implementierung systemmedizinischer Ansätze aus empirischer, ethischer und juristischer Perspektive genauer in den Blick zu nehmen und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen zur Förderung der Gesundheitskompetenz zu entwickeln.13 In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, inwieweit die bestehenden gesetzlichen Regelungen dem holistischen Ansatz der Systemmedizin gerecht werden können. Dazu werden in einem ersten Kapitel Begriff und Bedeutung der Systemmedizin näher erläutert. Es soll zunächst eine Definition der Systemmedizin gefunden werden, bevor anschließend die Ziele dargelegt werden. Zudem wird die Stellung systemmedizinischer Maßnahmen zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung erörtert. Das zweite Kapitel gibt sodann einen Überblick über die Herausforderun8
Ladeur, DuD 2016, 360. Ladeur, DuD 2016, 360 f. 10 Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330; Hart, MedR 2016, 669. 11 Vgl. Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1331. 12 Ähnliche Entwicklungen haben bereits dazu geführt, dass die individualisierte Medizin zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit gerät, s. hierzu Spyra, GuP 2015, 142, 144 f. 13 Verbundantrag SysKomp; Abschlussbericht SysKomp. 9
Einleitung
3
gen und Voraussetzungen der Integration systemmedizinischer Ansätze in das Gesundheitssystem. Im Kern geht es um die Frage, wie sich das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des einzelnen Patienten angemessen schützen lässt. Hierfür werden vornehmlich die gesetzlichen Grundlagen für die Datenverarbeitung im Rahmen der Systemmedizin erörtert. Die durch systemmedizinische Erkenntnisse drohenden Diskriminierungsgefahren werden am Beispiel des privatrechtlichen Versicherungsvertrages dargestellt. Den Auswirkungen der Systemmedizin auf die Arzt-Patient-Beziehung widmet sich das dritte Kapitel. Zentrale Aspekte sind die Implikationen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns und die ärztliche Schweigepflicht. Darüber hinaus werden die Legitimationsvoraussetzungen medizinischen Erprobungshandeln erörtert. Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit in einem vierten Kapitel zusammengefasst.
Kapitel 1: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin 1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
Der Erhalt von Gesundheit und die Entstehung von Krankheit beruhen meist nicht auf einer einzigen Ursache, sondern sind das Ergebnis komplexer dynamischer Interaktionen – von der Ebene der molekularen Netzwerke der Zelle bis hin zu den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Die Systemmedizin will diese Zusammenhänge verstehen und daraus neue Möglichkeiten für die Erkennung und Behandlung von Krankheiten ableiten. Zu diesem Zweck führt sie die moderne biologische Forschung und Medizin, die Möglichkeiten der Informationswissenschaften und die Vorhersagekraft mathematischer Modelle zusammen.1
Begriff der Systemmedizin A. Begriff der Systemmedizin
Zur Einschätzung und Bewertung der rechtlichen Implikationen der Systemmedizin ist zunächst eine Begriffsklärung sowie eine Abgrenzung zu verwandten Begrifflichkeiten geboten.
I. Verschiedene Definitionsansätze Für den Begriff Systemmedizin existiert bislang keine einheitliche Definition.2 So besitzen sowohl die Europäische Kommission als auch das BMBF ein jeweils eigenes Begriffsverständnis. 1. Definition der Europäischen Kommission Zur Integration der Systemmedizin in Europa hat die Europäische Kommission das Konsortium CASyM (Coordination Action Systems Medicine) gegründet.3 Die Experten dieses Konsortiums einigten sich auf folgende Arbeitsdefinition: Systemmedizin stehe für die Übertragung von Methoden der Systembiologie4 in Medizin, Forschung und Praxis. Hierfür sei der wiederholte Informationsaustausch zwischen klinischen Untersuchungen und der Praxis mit Hilfe von rechnerischen, statistischen und mathematischen Multiskalenanalysen und der Modellierung von 1
BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 5; BMBF, Systemmedizin: Neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie, 2015, S. 62 f.; Kirschner et al., Genome Medicine 2015, 7:102; Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330; Fernau/ Schleidgen/Schickhardt/Oßa/Winkler, Ethik Med 2018, 307, 309. 2 Fernau/Schleidgen/Schickhardt/Fleischer/Oßa/Winkler, BMC Health Services Research 2017, 17:761 haben allein in 67 ausgewerteten Publikationen 98 verschiedene Definitionen ermittelt. 3 CASyM ist ein multidisziplinäres europäisches Konsortium, welches eine Strategie zur Implementierung der Systemmedizin in Europa entwickeln will. Zur Struktur und den genauen Zielen von CASyM: https://www.casym.eu/what-is-casym (Zugriff: 13.4.2020). 4 Zum Ansatz der Systembiologie s. unten A. II. 1. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 A. M. Ernst, Rechtsfragen der Systemmedizin, Kölner Schriften zum Medizinrecht 26, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62550-7_2
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
pathogenetischen Mechanismen, Krankheitsprogression und Remission, Krankheitsverbreitung und Heilung, Behandlungserfolgen und (unerwarteten) Komplikationen sowie Krankheitsprävention sowohl auf epidemiologischer als auch auf der individuellen Patientenebene erforderlich. Ziel der Systemmedizin sei es, eine messbare Verbesserung der Patientengesundheit aufgrund von systemorientierten Ansätzen und Praktiken zu erreichen.5 Schwerpunkt dieses Ansatzes ist die mathematische Modellierung komplexer Lebensprozesse. 2. Definition des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Das BMBF besitzt ein im Vergleich zur Europäischen Kommission erweitertes Verständnis von Systemmedizin. Der Begriff Systemmedizin sei nicht lediglich auf die Übertragung „systembiologischer Methoden“ beschränkt, sondern umfasse generell die Übertragung systemorientierter Ansätze in die Medizin.6 Hierbei würden Daten, die der Analyse des Erbguts, der Proteine oder der Stoffwechselprodukte entstammten, durch neuropsychologische, klinische und soziodemographische Patientendaten ergänzt und mit diesen in einem systemorientierten Ansatz verknüpft. Unter Zuhilfenahme von umfangreichen Datenanalysen, Computersimulationen und Überprüfung der Modellberechnungen in Experimenten solle es gelingen, komplexe physiologische und pathologische Prozesse in ihrer Gesamtheit besser zu verstehen.7 Aufbauend auf diesem zusätzlichen Wissen sollen Grundlagen für die Entwicklung innovativer Heilverfahren und Präventionsmaßnahmen geschaffen werden.8 3. Zusammenführung zu einer Arbeitsdefinition Die inhaltlichen Abweichungen der dargestellten Definitionen sind marginal. Während die Europäische Kommission den Begriff Systemmedizin mit der Übertragung von Methoden der Systembiologie in die Medizin eng fasst, besitzt das BMBF ein erweitertes Begriffsverständnis. Nach Ansicht des BMBF ist die generelle Übertragung systemorientierter Methoden unter den Terminus Systemmedizin zu subsumieren. Allerdings ist die Reduzierung der Systemmedizin auf biologische Daten nicht sinnvoll. Vielmehr sollten auch psychosoziale Aspekte integriert werden, um dem holistischen Ansatz der Systemmedizin gerecht zu werden. Aufgrund der geringen Aussagekraft für die Allgemeinbevölkerung sollten systembiologische Methoden nicht im Vordergrund stehen. Vorzugswürdig ist die Fokussierung auf die Bedeutung der Systemmedizin für das Individuum. Der einzelne Mensch sollte im Mittelpunkt stehen, da die Ergebnisse der systemmedizinischen Forschung (kurz: systemmedizinische Erkenntnis5
CASyM, The CASyM Roadmap, 2014, S. 7; CASyM, The CASyM Roadmap, 2015, S. 1 f. 6 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 3 Fn. 1. 7 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2015; Argo, systembiologie.de 2015, 24; http://www.sys-med.de/de/emed/ (Zugriff: 13.4.2020). 8 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2015; BMBF, Systemmedizin: Neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie, 2015, S. 15; http://www.sysmed.de/de/emed/ (Zugriff: 13.4.2020).
A. Begriff der Systemmedizin
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se) letztendlich ihm zugutekommen sollen. Die Systemmedizin ist ein interdisziplinärer Ansatz, der auf der Zusammenführung einer großen Menge und einer großen Vielfalt an biologischen, neuropsychologischen und sozialen Daten, zum Beispiel aus Bildgebung, molekularer Analyse, klinischer Untersuchung und Erhebung soziodemographischer Faktoren, beruht.9 Moderne Informationstechnologien ermöglichen eine derart komplexe Analyse, Integration und Anwendung von Daten.10 Auf dieser Grundlage sollen neue und präzisere Einsichten in Krankheitsentstehung und -entwicklung gewonnen und schließlich für die medizinische Versorgung fruchtbar gemacht werden.11 Ziel ist es, die Gesundheitsversorgung im Bereich individualisierter Gesundheitsförderung, Krankheitsvermeidung sowie Krankheitsbehandlung zu verbessern. Als Medizin der Zukunft strebt die Systemmedizin an, den Menschen ganzheitlich als System in den Blick zu nehmen.12 Der individuelle Patient steht mithin im Zentrum der Entwicklung.
II. Abgrenzung gegenüber verwandten Begriffen In der Systemmedizin sind Ansätze der Systembiologie und der individualisierten Medizin vereint. Zudem gibt es Schnittstellen mit der Gendiagnostik. Im Folgenden seien deshalb die Unterschiede dieser vier Entwicklungen herausgearbeitet. 1. Systembiologie Systembiologie,13 eine junge Forschungsdisziplin der Lebenswissenschaften, ist definiert als quantitative Analyse der dynamischen Interaktionen zwischen den Komponenten eines biologischen Systems, zum Beispiel eines Stoffwechselweges oder einer Zellorganelle. Ziel ist es, das Verhalten des Systems als Ganzes zu verstehen und Vorhersagen zu ermöglichen. Dies erfordert die Anwendung mathematischer Konzepte auf biologische Systeme. Es findet ein iterativer Prozess zwischen Laborexperiment und mathematischer Modellierung im Computer statt. Die systembiologische Forschung schafft die Grundlage für die Erschließung neuer Innovationspotenziale in der wissensbasierten Bioindustrie.14 9 Verbundantrag SysKomp, S. 1, 5; so auch Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43; Hart, MedR 2016, 669, 670. 10 Wolkenhauer et al., Pediatric Research 2013, 502. 11 Verbundantrag SysKomp, S. 3, 5; Hart, MedR 2016, 669, 670. 12 Verbundantrag SysKomp, S. 5; s. auch die von Fernau/Schleidgen/Schickhardt/Fleischer/Oßa/Winkler, BMC Health Services Research 2017, 17:761 entwickelte, auf einer systematischen Literaturanalyse basierende Definition von Systemmedizin. 13 Der Begriff Systembiologie entstand in den 1960er Jahren. Ursprünglich wurde er in Zusammenhang mit mathematischer Modellierung, dynamischen Interaktionen und der Simulation biologischer Signalwege verwendet, BMBF, Systemmedizin: Neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie, 2015, S. 5. 14 Forschungszentrum Jülich GmbH, Systembiologie, S. 6; Gramelsberger, in: Andersen et al., New Challenges to Philosophy of Science, S. 151; Auffray et al., Genome Medicine 2009, 2.1 f.; Wolkenhauer et al., Pediatric Research 2013, 502 f.; BMBF, Systembiologie, 2016, S. 5; Fernau/Schleidgen/Schickhardt/Fleischer/Oßa/Winkler, BMC Health Services Research 2017, 17:761.
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
Ebenso wie die Systembiologie ist auch die Systemmedizin ein interdisziplinärer Forschungsansatz, der ein biologisches System in seiner Gesamtheit betrachtet. Die Systemmedizin geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem sie die erzielten Erkenntnisse in die Medizin, Forschung und Praxis integriert und somit für den einzelnen Patienten nutzbar macht. Folglich ist die Systemmedizin die notwendige Fortführung der Systembiologie.15 2. Individualisierte Medizin Der Begriff individualisierte Medizin16 steht für die Anwendung molekularbiologischer Erkenntnisse und Verfahren in der Diagnose und Therapie von Erkrankungen in Patientengruppen mit gleichen oder ähnlichen genetischen Ausprägungen.17 Mithilfe dieses Ansatzes sollen Therapie- und Präventionskonzepte entwickelt werden, die nicht mehr flächendeckend auf größere Patientenkollektive ausgerichtet,18 sondern besser auf die biologischen, insbesondere genetischen Eigenarten des Patienten abgestimmt sind.19 Ein Individualisierungskonzept zur Erreichung dieses Ziel ist die Unterteilung von Patientenpopulationen in klinisch relevante Subgruppen anhand von Biomarkern20 (sog. Stratifizierung).21 Auch die individualisierte Medizin verkörpert einen interdisziplinären Forschungsansatz. Während der systemmedizinische Ansatz jedoch ein holistischer ist, ist die individualisierte Medizin ausschließlich biologisch ausgerichtet, der
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Wolkenhauer et al., Pediatric Research 2013, 502 f.; BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 5; BMBF, Systemmedizin: Neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie, 2015, S. 5; Fernau/Schleidgen/Schickhardt/Fleischer/Oßa/Winkler, BMC Health Services Research 2017, 17:761; R. Reschke, Gibt es eine Datengrundlage für die Systemmedizin?, S. 8. 16 Neben der Bezeichnung individualisierte Medizin werden häufig auch die Begriffe personalisierte Medizin (Damm, MedR 2011, 7; König/Junge, GuP 2015, 132), stratifizierte Medizin (Greiner/Kittel, in: Schumpelick/Vogel, Medizin nach Maß, S. 367, 369), präzisere Medizin (Lindpaitner, in: Forum Bioethik des Deutschen Ethikrats 2009, S. 13) und in letzter Zeit Präzisionsmedizin (Siegmund-Schultze, DÄBl. 2015, A-1137) verwendet. Eine terminologische Analyse des Begriffs der individualisierten Medizin findet sich bei Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 18 ff.; Müller, in: Jahrestagung Ethikrat Personalisierte Medizin 2012, S. 39; s. auch Prainsack, in: Jahrestagung Ethikrat Personalisierte Medizin 2012, S. 23. 17 BMBF, Aktionsplan Individualisierte Medizin, 2013, S. 3; s. auch König/Junge, GuP 2015, 132. 18 Teilweise wird von sog. one-size-fits-all-Konzepten gesprochen, s. Kollek, ZEFQ 2012, 40, 41; Woopen, in: Schumpelick/Vogel, Medizin nach Maß, S. 94, 95. 19 Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 1 ff. m. w. N.; TABZukunftsreport Individualisierte Medizin, 2009, S. 7 f. 20 Der Begriff Biomarker ist definiert als „eine objektive Messgröße zur Bewertung von normalen biologischen Prozessen, von pathologischen Prozessen, von pharmakologischen Reaktionen auf eine therapeutische Intervention oder von Reaktionen auf präventive oder andere Gesundheitsinterventionen“, s. TAB-Zukunftsreport Individualisierte Medizin, 2009, S. 37. 21 Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 8 ff.; zur sog. „Typologie der individualisierten Medizin“ s. TAB-Zukunftsreport Individualisierte Medizin, 2009, S. 7.
A. Begriff der Systemmedizin
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Forschungsschwerpunkt liegt auf einzelnen Biomarkern. Im Kontext der Systemmedizin wird hingegen eine Fülle von heterogenen Daten integriert.22 3. Gendiagnostik Im Rahmen der Gendiagnostik wird das menschliche Erbgut in Bezug auf genetische Veränderungen, die mit Krankheiten in Verbindung stehen können, untersucht.23 Aufgrund der bestehenden Uneinheitlichkeit der Terminologie24 werden den nachfolgenden Ausführungen die Begriffsbestimmungen des Gendiagnostikgesetzes (GenDG)25 zugrunde gelegt. Gemäß § 3 Nr. 1 GenDG ist eine genetische Untersuchung eine auf den Untersuchungszweck gerichtete genetische Analyse zur Feststellung genetischer Eigenschaften (lit. a) oder vorgeburtliche Risikoabklärung (lit. b) einschließlich der Beurteilung der jeweiligen Ergebnisse. Der Terminus genetische Untersuchung dient mithin als Oberbegriff, der sowohl die genetische Analyse als auch die vorgeburtliche Risikoabklärung umfasst. Ziel einer genetischen Analyse ist es, die genetische Struktur eines Objekts (Zelle, Gewebe, Organismus) aufzuklären.26 Hierbei werden insbesondere die Anzahl und mikroskopische Struktur der Chromosomen (sog. zytogenetische Analyse) oder die molekulare Feinstruktur (Sequenz) der DNS oder RNS (sog. molekulargenetische Analyse) oder von Genprodukten (sog. Genproduktanalyse) ermittelt, § 3 Nr. 2 GenDG.27 § 3 Nr. 3 GenDG definiert die vorgeburtliche Risikoabklärung als eine Untersuchung des Embryos oder Fötus, mit der die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen bestimmter genetischer Eigenschaften mit Bedeutung für eine Erkrankung oder gesundheitliche Störung des Embryos oder Fötus ermittelt werden soll.28 22
Verbundantrag SysKomp, S. 5; BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 3; Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 614; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 8 ff.; Fischer et al., MC Medical Ethics 2016, 17:32; Fernau/Schleidgen/Schickhardt/Fleischer/Oßa/Winkler, BMC Health Services Research 2017, 17:761. 23 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Stichwort: Gendiagnostik. 24 Vgl. zur weitergehenden Strukturierung des Begriffsfeldes der genetischen Diagnostik Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 27 ff. 25 Gesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen v. 31.7.2009, BGBl. 2009 I Nr. 50 S. 2529. 26 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Genetische Diagnostik, 2013, S. 14 ff. 27 Vgl. auch Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Genetische Diagnostik, 2013, S. 14; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Zytogenetik u. Molekulargenetik. Daneben gibt es noch genetische Untersuchungen auf der Ebene des äußeren Erscheinungsbildes einer Person (Phänotyp-Untersuchungen). Ein prominentes Beispiel ist die Familienanamnese. Da es sich hierbei nicht um labortechnische Untersuchungen handelt, werden diese vom Anwendungsbereich des GenDG grundsätzlich nicht erfasst. Eine Ausnahme gilt für die Pränataldiagnostik, BT-Drs. 16/10532, S. 17; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 6, 175 Fn. 625; Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29, 35; Hübner/Pühler, in: FS Dahm, S. 243, 245. 28 Der Begriff der vorgeburtlichen Risikoabklärung i. S. d. GenDG beinhaltet keine methodenbezogene Begrenzung, sodass dieser – anders als nachgeburtliche genetische Untersuchungen – auch Phänotyp-Untersuchungen erfasst, Stockter, in: Prütting, MedR Kom-
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
Es wird zwischen der prognostischen und der prädiktiven genetischen Diagnostik unterschieden, vgl. § 3 Nr. 6 GenDG. Während es bei der prognostischen genetischen Diagnostik darum geht, bei gegebener Diagnose einer Krankheit die Ursache der Erkrankung aufzuklären oder eine Vorhersage über den zu erwartenden weiteren Krankheitsverlauf zu treffen, vgl. § 3 Nr. 7 GenDG, gibt es bei der prädiktiven Diagnostik weder eine manifeste Krankheit noch eine Funktionseinschränkung. Vielmehr zielt die genetische Untersuchung hier auf eine Voraussage, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit und unter welchen sonstigen Bedingungen bei einer Person ein bestimmter Phänotyp29 entstehen könnte, § 3 Nr. 8 GenDG.30 Es geht also um eine Risikobestimmung. In der Gendiagnostik liegt der Fokus somit auf der Auswertung mittels genetischer Untersuchungen gewonnener genetischer Daten.31 Hierdurch sollen primär Krankheiten oder auch nur Krankheitsdispositionen ermittelt werden.32 Die Systemmedizin verfolgt hingegen einen umfassenderen Ansatz. Im Rahmen der systemmedizinischen Forschung werden sowohl genetische und zum Teil epigenetische33 Daten, als auch solche die durch die Analyse der Proteine oder der Stoffwechselprodukte gewonnen werden mit neuropsychologischen, klinischen und soziodemographischen Patientendaten zusammengeführt.34 Ziel der Systemmedizin ist nicht lediglich die Diagnose oder Prädiktion35 von Krankheiten, sondern ein verbessertes Verständnis komplexer physiologischer und pathologischer Prozesse mentar, § 3 GenDG Rn. 26; Hübner/Pühler, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper/ Stellpflug, HK-AKM, 2070 Rn. 10. 29 Phänotyp ist als (durch Erbanlagen und Umwelteinflüsse geprägtes) Erscheinungsbild eines Organismus definiert, s. Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Stichwort: Phänotyp; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Phänotyp. 30 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Genetische Diagnostik, 2013, S. 16; EnqueteKommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Schlussbericht 2002, BT-Drs. 14/9020, S. 120; zu den Anwendungsbereichen der Gendiagnostik s. Deutscher Ethikrat, ebd., S. 61 ff.; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 10 ff. 31 Zum Begriff der genetischen Daten i. S. d. GenDG s. unten 2. Kap., B. III. 2. b) aa). 32 Daneben gibt es aber auch Anwendungsfelder der Gendiagnostik, die der Feststellung des Geschlechts, der Identität oder der Abstammung einer Person dienen, s. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 6, 12. 33 Die Epigenetik ist eine Wissenschaft, die sich mit Mechanismen und Konsequenzen vererbbarer Chromosomen-Modifikationen, die nicht auf Veränderungen der DNS-Sequenz beruhen, befasst. Die wesentlichen epigenetischen Modifikationen sind nachträgliche Modifikationen bestimmter DNS-Basen (DNS-Methylierung) und die Veränderungen des Chromatins (Histon-Modifikationen), s. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Epigenetik. Zur Abgrenzung der Epigenetik zur Genetik s. Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Genetische Diagnostik, 2013, S. 8 ff. 34 S. hierzu bereits A. I. 35 Mit dem Begriff Prädiktion wird eine Aussage über das Risiko für eine Krankheit, die bisher nicht ausgebrochen ist, bezeichnet. Im Gegensatz hierzu beinhaltet die Prognose eine Beurteilung des voraussichtlichen Verlaufs, der Dauer und des Ausgangs einer gegenwärtig bestehenden Erkrankung. Krankheitsvorhersagen können sowohl Prädiktion als auch Prognose sein, s. Nationaler Ethikrat, Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, 2005, S. 61; ders., Stellungnahme Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen, 2007, S. 18; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Prognose.
B. Ziele der Systemmedizin
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in ihrer Gesamtheit. Denn dieses Wissen bietet die Chance neuartige Heilverfahren und Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.36
Ziele der Systemmedizin B. Ziele der Systemmedizin
Systemorientierte Forschungsmethoden haben seit der Jahrtausendwende die biomedizinische Forschung revolutioniert. Dank des rasanten Technologiefortschritts in den verschiedenen bioanalytischen Hochdurchsatzanalysetechniken37 wie Genomik38 oder Proteomik39 wird der Entwicklungsprozess in der Genomforschung und Systembiologie weiter vorangetrieben. Sinkende Kosten für die Datengenerierung und -verarbeitung40 tragen dazu bei, dass die Anwendung dieser Techniken für die Vorhersage, Diagnose und Therapie von Erkrankungen zur klinischen Routine werden wird.41 Mithilfe der Systemmedizin sollen diese neuen technischen und methodischen Ansätze nun in das Gesundheitssystem integriert werden, um auf die medizinischen Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren.
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S. hierzu ausführlich sogleich unter B. II. Zu den sog. Omics-Technologien s. Leopoldina, Lebenswissenschaften im Umbruch, 2014, S. 11. 38 Bei der Genomik handelt es sich um eine Wissenschaft, die sich mit der Identifizierung und Erforschung des Genoms beschäftigt, s. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Genomics. 39 Proteomik bezeichnet die Identifizierung, Quantifizierung und Charakterisierung aller Proteine eines Organismus, Organs, Gewebes, einer Zelle oder Zellorganelle unter definierten physiologischen Bedingungen, s. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Proteomics. 40 Die erstmalige Bestimmung der Basensequenz des menschlichen Erbguts mit seinen 3,2 Milliarden Bausteinen kostete etwa 3 Milliarden US-Dollar, s. Ropers, in: Schumpelick/ Vogel, Medizin nach Maß, S. 127, 130; gemeinsame Stellungnahme von Leopoldina et al., Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention, 2010, S. 6. Seit der Entwicklung neuer Hochdurchsatzverfahren für die DNS-Sequenzierung sind die Kosten für die Sequenzierung des menschlichen Genoms von etwa 100 Millionen US-Dollar im Jahre 2007 über 1 Million US-Dollar im Jahre 2008 auf ca. 3.000 US-Dollar Ende 2012 exponentiell gefallen, BBAW, Stellungnahme zu den neuen Sequenzierungstechniken und ihren Konsequenzen für die genetische Krankenversorgung, 2013, S. 9 m. w. N. Nach Erreichung des „1.000 Dollar-Genoms“ wenige Jahre später, erfolgt eine Genomsequenzierung heute innerhalb von 15 Minuten für ein paar hundert Dollar, sog. Next-GenerationSequencing, Eberbach, MedR 2019, 1, 2; vgl. auch Stockrahm, Zeitonline v. 4.3.2014, Gesundheit; Spyra, GuP 2015, 142, 144. In diesen Preisprojektionen nicht berücksichtigt sind jedoch die Kosten für die Interpretation der umfangreichen und komplexen Daten. Diese dürften trotz entsprechender Fortschritte in der Bioinformatik auch weiterhin hoch bleiben, vgl. Mardis, Genome Medicine 2010, 2:84; Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Genetische Diagnostik, 2013, S. 33 f.; MolnárGábor, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 25. 41 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 4; Leopoldina, Lebenswissenschaften im Umbruch, 2014, S. 12; Eberbach, MedR 2010, 155, 162. 37
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
I. Gegenwärtige Herausforderungen im Gesundheitssystem Aufgrund des medizinischen Fortschritts steigt die durchschnittliche Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung stetig. Während Frauen im Jahr 1950 noch im Schnitt 68,5 Jahre und Männer 64,6 Jahre alt wurden, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für weibliche Neugeborene heute bereits bei 83,3 Jahren und für männliche bei 78,5 Jahren.42 Um diese Entwicklung weiter voranzutreiben, gilt es, die aktuellen Herausforderungen in den Gesundheitssystemen der industrialisierten Länder zunächst zu bestimmen, um anschließend mögliche Lösungsansätze zu präsentieren. Eine erste große Herausforderung stellt die Zunahme der Volkskrankheiten, wie Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen sowie psychische,43 neuronale und metabolische Erkrankungen, aufgrund der demografischen Entwicklung dar.44 Diesen Krankheiten ist sowohl ihre hohe sozioökonomische Bedeutung45 als auch ihre große Komplexität in Entstehung und Verlauf gemein.46 Eine weitere Herausforderung liegt in der Wirkungslosigkeit vieler Medikamente und der fehlenden Effektivität zahlreicher Therapien. Dieses Phänomen lässt sich darauf zurückführen, dass sich zum einen die medizinische Diagnose häufig nur auf einige wenige Parameter stützt und zum anderen maßgebende Unterschiede zwischen den einzelnen Patienten oft unberücksichtigt bleiben. Bei gleichlautender Diagnose sind mithin häufig erhebliche Unterschiede in der Wirksamkeit einer Therapie von Patient zu Patient zu beobachten.47 Schließlich ist auch der Einfluss der Umwelt, von Erbanlagen und Lebensgewohnheiten auf den individuellen Gesundheitszustand nicht zu unterschätzen. Ein gesundheitsbewusster Lebensstil, mit ausreichender Bewegung und ausgewogener Ernährung, kann das Erkrankungsrisiko signifikant senken. Die Prävention birgt 42
Die Zahlen sind der allgemeinen Sterbetafel 2016/2018 des statistischen Bundesamtes (abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/ Sterbefaelle-Lebenserwartung/_inhalt.html#sprg233418 (Zugriff: 13.4.2020)) sowie einer Übersicht zur Entwicklung der Lebenserwartung seit 1901 (abrufbar unter: https://wwwgenesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=12621-0003& sachmerkmal=ALT577&sachschluessel=ALTVOLL000&startjahr=1901 (Zugriff: 13.4. 2020)) entnommen. 43 Stoppe/Bramesfeld/Schwartz, Volkskrankheit Depression?; Verbundantrag SysKomp, S. 6 f. 44 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 4; Stock et al., ersatzkasse magazin. 9./10.2012: Volkskrankheiten, 27; Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43. 45 Bloom et al., The global economic burden of non-communicable diseases; Statistisches Bundesamt, Krankheitskosten 2002, 2004, 2006 und 2008; Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43. 46 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 4; Kirschner et al., Genome Medicine 2015, 7:102; Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43. 47 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 4; Woopen, in: Schumpelick/Vogel, Medizin nach Maß, S. 94, 102 f.; Penk/Thor-Wiedemann/Brüderle/ Rahmel/Marx, in: Schumpelick/Vogel, Innovationen in Medizin und Gesundheitswesen, S. 292.
B. Ziele der Systemmedizin
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daher ein enormes Potenzial, um die Lebensqualität und damit einhergehend die Lebenserwartung des Einzelnen zu steigern.48 Zur Bewältigung dieser Herausforderungen ist die Abkehr von der isolierten Betrachtung einzelner Komponenten hin zu einer Würdigung des menschlichen Organismus, gerade auch im Wechselspiel mit externen Einflüssen, in seiner Gesamtheit notwendig.49
II. Wissenschaftlicher Lösungsansatz: Systemmedizin Ein vielsprechender Lösungsansatz für die dargelegten Herausforderungen ist die Systemmedizin, welche oft mit der Verheißung eines Paradigmenwechsels assoziiert wird.50 Sie gilt als Schlüssel zu einer modernen Medizin, deren Vorzeichen personalisiert, präventiv, prädiktiv sowie partizipierend sind, sog. P4 Medizin51 und basiert auf einer strukturierten interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Biologen, Mathematikern sowie Informatikern.52 Mithilfe dieses neuen Ansatzes soll es gelingen, das komplexe Zusammenspiel von externen Faktoren, wie Bewegung, Umwelteinflüssen, Ernährung und individuellen genetischen und physiologischen Vorgängen im Menschen zu erfassen und zu verstehen.53 Das Potenzial bislang noch ungenutzter Daten soll ausgeschöpft werden. Der menschliche Organismus als Ganzes rückt dabei in den wissenschaftlichen Fokus.54 Zu diesem Zweck werden die sog. Omics-Technologien eingesetzt, mit denen es bereits heute möglich ist, die Gesamtheit aller Moleküle einer bestimmten Klasse, wie DNS, Stoffwechselprodukte oder Proteine, gleichzeitig, d. h. auf das gesamte System bezogen, zu erfassen. Durch diese Technologien werden in Hochdurchsatzverfahren große medizinisch relevante Datenmen-
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BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 4; Bundesministerium für Gesundheit, Ratgeber zur Prävention und Gesundheitsförderung; Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43. 49 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 4 f. 50 Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 308. 51 https://www.systembiologie.de/de/foerderung/international/casym (Zugriff: 13.4.2020); Vandamme et al., QJM 2013, 891; Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 308; Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565. Zu den Vorteilen einer sog. P4 Medizin Hood/Galas, P4 Medicine: personalized, predictive, preventive, participatory, Computing Community Consortium-led White Papers, 2008. Eine eindrucksvolle Gegenüberstellung der wesentlichen Charakteristika der reaktiven evidenzbasierten Medizin und einer proaktiven P4 Medizin findet sich bei Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 622. 52 R. Reschke, Gibt es eine Datengrundlage für die Systemmedizin?, S. 9; Fernau/ Schleidgen/Schickhardt/Oßa/Winkler, Ethik Med 2018, 307, 309. 53 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 5; BMBF, Systemmedizin: Neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie, 2015, S. 15; Vandamme et al., QJM 2013, 891, 892; Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 614; http://www.sys-med.de/de/emed/ (Zugriff: 13.4.2020). 54 Vandamme et al., QJM 2013, 891, 892; Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565, 566; Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613; näher zum ganzheitlichen Ansatz der Systemmedizin Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307.
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
gen erhoben, die nur mittels moderner Informationstechnologien analysiert, integriert und schließlich angewendet werden können.55 Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse sollen innovative Therapien und maßgeschneiderte Präventionsmaßnahmen entwickelt werden.56 Ein Wandel, weg von einer one-size-fits-all-Medizin, hin zu einer personalisierten, auf den einzelnen Patienten abgestimmten Medizin, ist anvisiert.57 Darüber hinaus strebt die einen holistischen Ansatz verfolgende Systemmedizin an, Fortschritte im Verständnis, in der Erkennung und in der Vermeidung von Krankheiten zu erreichen und diese Erkenntnisse in die medizinische Praxis zu übertragen.58 Der Fokus soll mithin nicht mehr ausschließlich auf der Behandlung bereits diagnostizierter Krankheiten liegen, sondern vielmehr auf prädiktiven Bewertungen des Gesundheitszustands, um die Krankheitsprävention zu verbessern.59 Die systemmedizinischen Erkenntnisse sind umso fundierter und aussagekräftiger, je mehr Daten den Wissenschaftlern zur Verfügung stehen. Der Erfolg der Systemmedizin ist daher abhängig von der Bereitschaft eines Großteils der Bevölkerung, seine Daten zur Verfügung zu stellen.60 Zudem wird angestrebt den Patienten stärker in den Behandlungsprozess selbst einzubinden.61 Das setzt voraus, dass dieser über eine entsprechende Gesundheitskompetenz verfügt. Hiermit wird die Fähigkeit bezeichnet, sich zunächst Zugang zu Gesundheitsinformationen zu verschaffen, diese sodann zu verstehen und zu bewerten, um schließlich Entschei-
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BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 5; Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 311; R. Reschke, Gibt es eine Datengrundlage für die Systemmedizin?, S. 8. Ein Beispiel für den Einsatz der Omics-Technologien zur Vorhersage von Krankheitsrisiken und deren Entwicklung ist ein sog. iPOP (integrative personal omics profile). Hierbei handelt es sich um eine Analyse, die genomische, transkriptomische, proteomische, metabolomische und Antikörper Profile eines Individuums über einen Zeitraum von 14 Monaten kombiniert, s. Chen et al., Cell 2012, 1293. 56 http://www.sys-med.de/de/emed/ (Zugriff: 13.4.2020); BMBF, Systemmedizin: Neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie, 2015, S. 15; Vandamme et al., QJM 2013, 891, 893 f.; Fischer et al., MC Medical Ethics 2016, 17:32. 57 In diesem Punkt decken sich die Ziele der Systemmedizin mit denen der individualisierten Medizin, s. Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 308; zur individualisierten Medizin bereits oben A. II. 2. 58 BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 5; Verbundantrag SysKomp, S. 3; Kirschner et al., Genome Medicine 2015, 7:102; DGIM, DMW 2015, 523, 524; Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 616; Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43; http://www.sys-med.de/de/emed/ziele/ (Zugriff: 13.4.2020). 59 Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565; Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43; DGIM, DMW 2015, 523, 524. Die Optimierung des eigenen Gesundheitszustandes soll hierbei als etwas Positives empfunden werden, s. Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 308, 317. 60 Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565, 567, 571; Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 318. Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43 sprechen gar von einer gesellschaftlichen Verantwortung der Patienten, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Der Erfolg der Systemmedizin ist maßgeblich von der aktiven Beteiligung der Bevölkerung abhängig, Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 619, 621. 61 Vandamme et al., QJM 2013, 891, 894; Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 308.
B. Ziele der Systemmedizin
15
dungen im Zusammenhang mit Gesundheitsversorgung, Krankheitsvermeidung und Gesundheitsförderung treffen zu können.62 Ein weiteres (wenn auch mittelbares) Ziel der Systemmedizin ist die Kostensenkung im Gesundheitssektor,63 etwa mittels einer vereinfachten Stratifizierung von Patienten und Krankheiten in verschiedene Subgruppen. Eine derartige Unterteilung ermöglicht gezieltere Interventionen basierend auf präziseren Diagnosen. Darüber hinaus erlaubt sie die günstigere Herstellung wirksamerer Arzneimittel.64 Nach Flores et al. wird die Systemmedizin von fünf Säulen getragen, deren Errichtung zur Realisierung der gesteckten Ziele führen soll. Die erste Säule sind innovative Technologien für die Generierung multidimensionaler, gesundheitsrelevanter Daten jedes Individuums. Die sog. persönliche Datenwolke65 des Einzelnen, in der die erhobenen Daten gespeichert werden, verkörpert die zweite Säule. Als dritte Säule beschreiben Flores et al. die durch neue statistische Techniken ermöglichte Datenanalyse, aus der Handlungsempfehlungen für den Einzelnen abgeleitet werden können. Diese computergestützten Berechnungsmethoden allein reichen jedoch nicht aus, um die Komplexität des menschlichen Organismus zu erfassen. Vielmehr bedarf es für die Interpretation der riesigen Datenmengen eines vertieften und wachsenden Verständnisses biologischer Phänomene und Netzwerke, welches die vierte Säule bildet. Schließlich ist eine fünfte und letzte Säule in Form einer neuen digitalen Infrastruktur erforderlich, die Forschungseinrichtungen, klinische Institutionen und Patienten miteinander verbindet.66 Es gibt bereits heute einige Forschungsdisziplinen, in denen systemmedizinische Ansätze zur Anwendung kommen, wie beispielsweise bei der Erkennung und Behandlung des Neuroblastoms. Diese häufig im Kindesalter auftretende Krebserkrankung des peripheren Nervensystems soll als Modellsystem dienen, anhand dessen ein Konzept zur individuellen Tumorcharakterisierung, das alle verfügbaren Daten auf molekularer Ebene integriert, aufgebaut wird. Auf Basis dieses
62 Verbundantrag SysKomp, S. 1, 4, 8; Sørensen et al., BMC Public Health 2012, 12:80; zur Vielschichtigkeit des Begriffs Gesundheitskompetenz s. auch Soellner/Huber/Lenartz/ Rudinger, Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 2009, 105 m. w. N. 63 Zur finanziellen Situation im Gesundheitswesen, insbes. den zahlreichen Kostentreibern Eberbach, MedR 2010, 756, 757 f. 64 Anhand von genomischen Analysen lassen sich etwa Patienten in Subgruppen hinsichtlich ihrer Arzneimittelverträglichkeit, ihrer Krankheitsrisiken und anderer klinisch relevanter Faktoren einteilen, s. Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565, 567, 572; zu weiteren kostensenkenden Faktoren s. Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 621; krit. Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1332 f. 65 Der Begriff der Datenwolke steht in engem Zusammenhang mit dem sog. Cloud Computing, der Datenverarbeitung in der Datenwolke. Die Daten liegen hierbei nicht auf dem lokalen Rechner des Anwenders, sondern in einem Rechenzentrum. Das Konzept von Cloud Computing ist, dass verschiedene Dienste (Rechnerleistung), Services (OnlineSpeicher) und Anwendungen (Software) aus dem Rechenzentrum heraus mittels Internetverbindung auf dem lokalen Rechner bereitgestellt werden, vgl. Brockhaus Enzyklopädie Online, Stichwort Cloud Computing (Zugriff: 13.4.2020). 66 Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565, 568; s. auch Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 614 ff.
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
Konzepts sollen neue Diagnostik- und Therapieansätze zur Behandlung des Neuroblastoms, aber auch anderer Krebsleiden entwickelt werden.67 Zur vollständigen Etablierung der Systemmedizin in Deutschland hat das BMBF das Forschungsprogramm e:Med ins Leben gerufen. e:Med steht für die elektronische Prozessierung und Integration medizinisch relevanter Daten diverser Wissensebenen in der Systemmedizin.68
III. Fazit An die Systemmedizin sind hohe Erwartungen geknüpft: Zusätzlich zu neuen Erkenntnissen bezüglich Krankheitsursachen sowie der Behandlung und Vermeidung körperlicher Leiden soll sie zu einer Kostensenkung im Gesundheitsbereich beitragen. Die Einführung der Systemmedizin zieht tiefgreifende Veränderungen im Gesundheitssektor, aber auch in der Zivilgesellschaft selbst, nach sich. Im Mittelpunkt steht die stärkere Einbeziehung des Einzelnen in die Gesundheitsversorgung. Anstatt wissenschaftliche Untersuchungen mit limitierten Daten kleiner Testkohorten durchzuführen, basieren systemmedizinische Studien auf immensen Datenmengen einer Vielzahl von Personen. Die wissenschaftlich-basierte medizinische Versorgung wird sich von der klassischen Krankenbehandlung in der Klinik zunehmend auf eine Optimierung des persönlichen Wohlbefindens im Privatbereich, aber auch am Arbeitsplatz des Konsumenten erstrecken. Eine neue Wellnesswirtschaft und Lifestyle-Industrie beginnt sich am Markt zu etablieren, um die Bedürfnisse der Konsumenten nach mehr Informationen über ihren Gesundheitszustand zu bedienen. Hierzu zählen insbesondere sog. genetische direct-toconsumer-Konzerne,69 Informationsservices70 sowie Hersteller von Fitnessarm-
67
S. Pressemitteilung des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung v. 10.6.2015, abrufbar unter: https://www.mdc-berlin.de/44635836/de/news/archive/2015/20150610-vom_ neuroblastom_lernen__wie_sich_krebstum (Zugriff: 13.4.2020); weitere Beispiele für die erfolgreiche Implementierung von systemmedizinischen Ansätzen in das Gesundheitssystem finden sich bei Kirschner et al., Genome Medicine 2015, 7:102; den möglichen Einsatz systemmedizinischer Ansätze in der Behandlung der Pneumonie untersucht R. Reschke, Gibt es eine Datengrundlage für die Systemmedizin?. Zudem fördert das BMBF zahlreiche Projekte, in denen mit systemmedizinischen Ansätzen geforscht wird, s. BMBF, Systemmedizin: Neue Chancen in Forschung, Diagnose und Therapie, 2015, S. 17 ff. 68 http://www.sys-med.de/de/emed/ (Zugriff: 13.4.2020); Argo, systembiologie.de 2015, 24, 25; zu den einzelnen Modulen des e:Med-Konzepts s. BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 8 ff. Des Weiteren gibt es Bemühungen zur Etablierung der Systemmedizin auf europäischer Ebene, wie z. B. CASyM (s. Fn. 3). Eine Strategie zur Implementierung der Systemmedizin in das europäische Gesundheitssystem präsentieren Kirschner et al., Genome Medicine 2015, 7:102. Daneben existieren fach- und krankheitsspezifisch ausgerichtete europäische Forschungsnetzwerke, etwa PRONIA (Personalised Prognostic Tools for Early Psychosis Management), s. hierzu http://www.pronia.eu/ (Zugriff: 13.4.2020). 69 Z. B. 23andMe, http://www.23andme.com/ (Zugriff: 13.4.2020). 70 Z. B. WebMD, http://www.webmd.com/ (Zugriff: 13.4.2020).
C. Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung
17
bändern,71 die zahlreiche gesundheitsbezogene Informationen ihres Benutzers aufzeichnen.72
Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung C. Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung
Mit dem Fortschreiten der Systemmedizin wird die Datenerhebung neben einer Generierung abstrakter Daten für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn zunehmend auch den Zweck konkret-anwendungsorientierter Diagnose verfolgen. Dadurch gestaltet sich die eindeutige Zuordnung der einzelnen Maßnahmen in die unterschiedlichen Eingriffskategorien ärztlichen Handelns schwieriger. Insbesondere für das Arzthaftungsrecht hat eine solche Klassifizierung allerdings entscheidende Bedeutung, da von der Art des Eingriffs dessen Legitimationsvoraussetzungen abhängen.73 Auch die im Einzelnen zu beachtenden rechtlichen Anforderungen an ein Forschungsvorhaben werden von der Eingriffsart determiniert.74 Es werden grundsätzlich zwei Eingriffskategorien unterschieden: Medizinische Eingriffe, die der ärztlichen Versorgung und Behandlung dienen, sind der Kategorie der ärztlichen Behandlung zuzuordnen. Sie stellen sog. Heileingriffe dar. Steht hingegen die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse im Vordergrund, sind die Eingriffe Teil der medizinischen Forschung, sog. Forschungseingriffe.75
71
Z. B. Fitbit, Nike+FuelBand, Withings Smart Body Analyzer. Eine Tabelle mit weiteren Dienstanbietern, welche die digitale Selbstvermessung, dem sog. Quantified Self (QS), ermöglichen, findet sich bei Petrlic, DuD 2016, 94. 72 Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565, 569 ff.; Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 621 f.; vgl. auch Petrlic, DuD 2016, 94; Weichert, DuD 2014, 831, 833; ders., BuGBl. 2018, 285; Eberbach, MedR 2019, 1, 4. 73 Vgl. Kirchhof, MedR 2007, 147, 148; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 14 f., 23 f.; Kratz, VersR 2007, 1448, 1450. Der Heileingriff ist rechtlich legitimiert, wenn er medizinisch indiziert ist, mit Einwilligung des Patienten nach ordnungsgemäßer Aufklärung erfolgt und lege artis ausgeführt wird. Die Legitimation des Forschungseingriffs setzt seine sachliche Rechtfertigung, die Einwilligung nach Aufklärung und die Durchführung lege artis voraus, s. Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 29, 45 m. w. N. Ausführlich hierzu unten 3. Kap., B. u. D. 74 Wie etwa die Pflicht zur Vorlage des Forschungsvorhabens bei einer EthikKommission oder der Abschluss einer Probandenversicherung, Kollhosser/Krefft, MedR 1993, 93, 94 ff.; Deutsch, VersR 2005, 1009; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 22, 53 f. Zudem sind für die Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch Forschungseinrichtungen die Forschungsklauseln der DS-GVO und des BDSG zu berücksichtigen, dazu ausführlich unten 2. Kap., B. III. 75 Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 4 f.; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 14 f.; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 14 ff.; Kirchhof, MedR 2007, 147, 148 f. Sowohl die Trennlinie als auch die Terminologie ist oft nicht einheitlich, vgl. dazu Hart, MedR 1994, 94; 1998, 8, 15; Oswald, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 669, 677 ff.
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
I. Ärztliche Behandlung Der Ausgang eines medizinischen Eingriffs ist, unabhängig davon, ob es sich um einen experimentellen oder standardgemäßen handelt, stets ungewiss. Aus diesem Grund ist zwischen anerkannten und noch in der Entwicklung oder Erprobung befindlichen Methoden zu differenzieren und nicht zwischen sicheren und unsicheren diagnostischen oder therapeutischen Methoden:76 „Das Gegensatzpaar heißt nicht Versuch und Erfolg, sondern Versuchsbehandlung und Standardbehandlung.“77 1. Standardbehandlung Als Standardbehandlung wird die Heilbehandlung nach dem im Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards bezeichnet, vgl. § 630a Abs. 2 BGB.78 Es handelt sich mithin um eine medizinische Behandlung, die üblicherweise von Ärzten des betreffenden Faches oder in Kliniken dieser Spezialisierung angewendet wird.79 Ziel der Systemmedizin ist es, neue Behandlungstherapien aufbauend auf den Erkenntnissen der umfangreichen Datenanalysen zu entwickeln. Systemmedizinische Maßnahmen sind also zunächst keine medizinischen Standardbehandlungen. Im Idealfall werden sie jedoch langfristig als eine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung anerkannt. 2. Versuchsbehandlung Im Gegensatz zur Standardbehandlung ist die Versuchsbehandlung, der sog. Heilversuch,80 eine hypothesengeleitete Maßnahme, bei der noch in der Entwicklung 76
Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 131 Rn. 18; Deutsch, Medizin und Forschung vor Gericht, S. 42; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 14; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1294. 77 Deutsch, Medizin und Forschung vor Gericht, S. 42; s. auch Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1294. 78 Vgl. Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 9 f.; Carstensen, DÄBl. 1989, A-2431. Aufgrund der Individualität des menschlichen Organismus und des Behandlungsgeschehens hat jede Behandlung auch einen gewissen experimentellen Charakter. Die Risiken der Standardbehandlung sind jedoch vergleichsweise gering gegenüber denen der Versuchsbehandlung, Rippe, Ethik Med 1998, 91, 93. Ausführlich zur fachgerechten Behandlung s. unten 3. Kap., B. II. 79 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1294; Staak, in: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, S. 273, 277; s. auch Kirchhof, MedR 2007, 147, 148; Stock, Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen, S. 22. 80 Der Begriff des Heilversuchs geht auf den Strafrechtler Ludwig von Bar zurück, v. Bar, in: FG Regelsberger, S. 227, 230 f.: „Versuche, die auch im Interesse der Heilbehandlung der Person geschehen, an welcher sie vorgenommen werden, sind Heilversuche.“ Der Terminus Heilversuch wird sowohl innerhalb, als auch außerhalb von klinischen Prüfungen verwendet, s. hierzu Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2880; v. Dewitz, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2890; zur Abgrenzung s. v. Dewitz, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2480 Rn. 4; D. Bender,
C. Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung
19
oder Erprobung befindliche Methoden eingesetzt werden.81 Die Abweichung von einem medizinischen Behandlungsstandard oder dessen Fehlen unterscheiden den Heilversuch von der Heilbehandlung.82 Ziel ist es, den herrschenden ärztlichen Standard zu verändern, zu überprüfen oder gar einen neuen Standard zu begründen.83 Trotz der für den Heilversuch charakteristischen Abweichung vom etablierten Standard ergibt sich aus dem Hauptmotiv des Heilversuchs, die Heilung des (meist austherapierten) Patienten, seine Einordnung in die Kategorie der ärztlichen Behandlung.84 Heilversuche werden in der Regel an einzelnen oder einigen wenigen Personen durchgeführt, deshalb wird häufig auch vom individuellen85 Heilversuch gesprochen.86 Die den Heilversuchen zugrundliegenden Zielvorgaben entsprechen denen systemmedizinischer Maßnahmen. Im Rahmen des systemmedizinischen Ansatzes geht es um die Optimierung der standardgemäßen Therapien, aber auch die Entwicklung neuer Behandlungsformen zum Wohle des Patienten.
MedR 2005, 511, 512; zur unterschiedlichen Terminologie des Heilversuchs, Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 18. 81 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1294, 1332; Kirchhof, MedR 2007, 147, 148; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 16; Taupitz/Fröhlich, VersR 1997, 911, 913 f. Der BGH stufte jüngst den Einsatz eines in Deutschland noch nicht zugelassenen Medikaments als Heilversuch ein, s. BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 – Vigabatrin-Verordnung. 82 Deutsch, VersR 2005, 1009, 1010 f.; Vogeler, MedR 2008, 697, 701; Zuck, in: Quaas/ Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 60; Hart, FORUM DKG 1998, 206; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 138. 83 Hart, MedR 1994, 94, 95, 99, 101; ders., FORUM DKG 1998, 206, 207; Deutsch/ Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1294, 1332; Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 60. 84 Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 16; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 14, 28; Kirchhof, MedR 2007, 147, 148 f.; Vogeler, Ethik-Kommissionen, S. 32 f.; Hart, in: Lenk/Duttge/Fangerau, Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, S. 47, 48. 85 Hart unterscheidet grundsätzlich zwischen individuellen und systematischen Heilversuchen, s. hierzu und zu den einzelnen Differenzierungskriterien Hart, FORUM DKG 1998, 206, 207; ders., in: Lenk/Duttge/Fangerau, Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, S. 47 f.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 138. 86 Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 16. Neben dem individuellen Heilversuch oder Einzelversuch gibt es noch Reihen- bzw. Parallelheilversuche und Pilotstudien, s. Deutsch, VersR 2005, 1009, 1011 f. Der Heilversuch unterscheidet sich von der Neuland- und Außenseitermethode durch seinen einzelfallbezogenen Anwendungsbereich in einer konkreten Behandlungssituation, s. Vogeler, MedR 2008, 697, 701.
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
II. Medizinische Forschung Im Rahmen der medizinischen Forschung liegt der Akzent nicht auf der ärztlichen Versorgung und Behandlung des Patienten, sondern auf dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn.87 Zu der Kategorie der Forschungseingriffe zählen klinische oder wissenschaftliche Experimente,88 welche die Gesundheit des Probanden nicht oder nicht unmittelbar fördern. Der Fokus liegt auf der Erlangung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die zukünftig der Heilung anderer Patienten dienen sollen.89 Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn spielt auch im Rahmen der systemmedizinischen Forschung eine zentrale Rolle. Die Analyse der umfangreichen Datensammlungen soll Aufschlüsse über die Entstehung und Entwicklung zahlreicher Krankheiten geben.
III. Abgrenzung Die Grenzen zwischen den einzelnen Eingriffskategorien sind in der Praxis oft fließend, wodurch sich die exakte Abgrenzung und damit die eindeutige Zuord-
87
So bereits BGHZ 20, 61, 66 = NJW 1956, 629; s. auch Deutsch, Medizin und Forschung vor Gericht, S. 38; Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 4 f.; Kirchhof, MedR 2007, 147, 149; Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 32; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 15, 41; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 131 Rn. 21. Zum Begriff der medizinischen Forschung und den synonym verwendeten Termini s. Vogeler, Ethik-Kommissionen, S. 26 ff. Teilweise wird diese Kategorie noch weiter in therapeutische und rein wissenschaftliche Experimente unterteilt, s. hierzu Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 15, 19; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1295. 88 Die Terminologie ist freilich auch hier uneinheitlich. Neben dem Begriff klinisches/wissenschaftliches Experiment werden zur Bezeichnung dieser Eingriffskategorie u. a. die Termini medizinisch kontrolliertes Experiment, klinischer Versuch und Humanexperiment verwendet: vgl. Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 16 (klinisches Experiment); Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 32, 38 ff. (klinische Prüfung); Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1295 (medizinisch kontrolliertes Experiment); Hart, MedR 1994, 94; 2015, 766, 767 (Humanexperiment). 89 Rosenau, in: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, S. 63, 70; Staak, in: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, S. 273, 276 f.; Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 48; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 29 f. Aufgrund der zahlreichen Leerbegriffe und der fließenden Grenzen bevorzugt Eser eine negative Definierung des Humanexperiments: Humanexperiment ist alles, was nicht Heilbehandlung oder Heilversuch ist, s. Eser, in: GS Schröder, S. 191, 200. Ein typisches Beispiel für einen wissenschaftlichen Versuch ist etwa die medizinische Grundlagenforschung über Krankheitsursachen und -verläufe, s. Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 71.
C. Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung
21
nung einzelner Maßnahmen häufig schwierig gestaltet.90 Auch die Systemmedizin ist, wie dargelegt, von Elementen beider Eingriffskategorien geprägt. Die Unterscheidung zwischen Heilversuch und Forschungseingriff geht bereits zurück auf die „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“, erlassen vom Reichsministerium des Innern im Jahre 1931.91 Die neuartige Heilbehandlung, der Heilversuch, war nach diesen Richtlinien definiert als „Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen […], die der Heilbehandlung dienen, also in einem bestimmten einzelnen Behandlungsfall zur Erkennung, Heilung oder Verhütung einer Krankheit oder eines Leidens oder zur Beseitigung eines körperlichen Mangels vorgenommen werden, obwohl ihre Auswirkungen und Folgen auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht ausreichend zu übersehen sind“. Wissenschaftliche Versuche stellten hingegen „Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen […] [dar], die zu Forschungszwecken vorgenommen werden, ohne der Heilbehandlung im einzelnen Falle zu dienen, und deren Auswirkungen und Folgen aufgrund der bisherigen Erfahrungen noch nicht ausreichend zu übersehen sind“. Der BGH differenziert in seiner Rechtsprechung in vergleichbarer Weise.92 Das Gegensatzpaar Versuchs- und Standardbehandlung ist also um ein weiteres Paar – Heilversuch und wissenschaftliches Experiment – zu ergänzen.93 Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Grundtypen ist die Bedeutendste, zugleich aber auch die Schwierigste,94 wie sich exemplarisch an der Systemmedizin zeigt. Als Abgrenzungskriterium wird überwiegend der mit dem jeweiligen Eingriff verfolgte Zweck herangezogen.95 90
Vgl. zu beispielhaften Abgrenzungsschwierigkeiten Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 15. 91 DMW 1931, 509; zur historischen Entwicklung der Regelungen im Bereich von Heilversuchen und Forschungseingriffen Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 60 ff. 92 Vgl. BGHZ 20, 61 = NJW 1956, 629 (Thorotrastinjektion); BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 – Vigabatrin-Verordnung m. Anm. Katzenmeier, JZ 2007, 1108; zusammenfassender Überblick bei Vogeler, MedR 2008, 697. 93 Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 131 Rn. 19 ff.; Hart, MedR 1994, 94, 95. 94 Vgl. Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 42; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 21; s. zu Abgrenzungsproblemen Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 30 ff.; Kollhosser/Krefft, MedR 1993, 93, 96 f. 95 So bereits die Differenzierungen in den Richtlinien des Reichsministeriums des Innern von 1931 (Fn. 91) und des BGH in seiner Thorotrast-Entscheidung, BGHZ 20, 61, 66 = NJW 1956, 629; s. auch Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 4 f., 42 ff.; Kollhosser/Krefft, MedR 1993, 93, 94 ff.; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 18 ff.; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 20; Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 43; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 29 ff. m. w. N. Daneben wird auch nach dem äußeren Erscheinungsbild des medizinischen Erprobungshandelns unterschieden, Hart, MedR 1994, 94; übersichtliche Darstellung bei Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 86 ff. u. bei Hart, MedR 2015, 766, 768 f.
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
Der primäre Zweck eines Heilversuchs ist grundsätzlich ein therapeutischer, bezogen auf den konkreten Krankheitsfall. Das Erkenntnisstreben spielt lediglich eine untergeordnete Rolle. Bei Forschungseingriffen steht hingegen der verfolgte Forschungszweck, der Erkenntnisgewinn, im Vordergrund. Daneben kann der Eingriff aber auch der Behandlung dienen.96 Mit einer Maßnahme wird also meist mehr als ein Zweck verfolgt, was die Zuordnung in eine Eingriffskategorie freilich noch zusätzlich erschwert. Zunächst ist der Frage nachzugehen, anhand welcher Kriterien die Zweckrichtung des jeweiligen Eingriffs festzustellen ist, bevor die Behandlung sog. Mischfälle zu erörtern ist. 1. Kriterien zur Feststellung der Zweckrichtung Der mit einem Eingriff verfolgte Zweck lässt sich sowohl anhand subjektiver als auch objektiver Kriterien bestimmen.97 Als subjektive Kriterien werden der Wille und die Motivationslage des handelnden Arztes angeführt. Ausschlaggebend sei, ob der Arzt eine primäre Heilabsicht verfolge oder sein Forschungsinteresse überwiege.98 Da die mit dem Eingriff verfolgte Intention des Arztes oft nur schwer zu ermitteln ist und damit keine sichere Abgrenzung zwischen den einzelnen Eingriffsarten gewährleistet,99 wird überwiegend auf objektive Kriterien zur Bestimmung der Zwecksetzung zurückgegriffen. In Betracht kommt zunächst eine Differenzierung anhand der medizinischen Indikationsstellung des Eingriffs.100 Die Indikation einer medizinischen Behandlung ist gegeben, wenn die Anwendung eines bestimmten klinischen Verfahrens im Hinblick auf die Erkrankung und Verfassung des Patienten angezeigt, d. h.
96
Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 131 Rn. 20 ff.; Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 31 f., 59; Oswald, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 669, 677, 679 ff.; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 18 m. w. N. 97 Vgl. Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 20; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 26; Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 71 ff. 98 Eser, in: GS Schröder, S. 191, 198 ff.; Oswald, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 669, 679 ff.; Keller, MedR 1991, 11, 13; Kollhosser/Krefft, MedR 1993, 93, 94 f.; Stock, Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen, S. 22 ff., 41; Hägele, Arzneimittelprüfung am Menschen, S. 112 ff. 99 Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 74; Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 48. Zudem ist es mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit schwerlich vereinbar, die Anforderungen an die rechtliche Legitimation eines Eingriffs von der subjektiven Sichtweise des behandelnden Mediziners abhängig zu machen, Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 20 f. 100 Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 43 ff.; Trockel, NJW 1979, 2329, 2331; Biermann, Die Arzneimittelprüfung am Menschen, S. 94 ff.; Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 16; Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 48 f.
C. Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung
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geeignet und erforderlich, erscheint.101 Die Indikationsstellung stützt sich auf zwei Komponenten: die subjektive Überzeugung des Arztes und die objektive Geeignetheit der Maßnahme, einen gesundheitsbezogenen Nutzen für den Patienten zu erbringen.102 Hieraus ergibt sich, dass im Rahmen von Versuchshandeln, mangels gesicherten Erfahrungswissens über Nutzen und Risiken des zu erprobenden Verfahrens, ein eigener Indikationsbegriff heranzuziehen ist.103 Biermann spricht deshalb zutreffend von einer potenziellen Indikation.104 Eine solche ist zu bejahen, wenn plausible Anhaltspunkte vorliegen, dass die erprobte Maßnahme die Gesundheit des Patienten fördert.105 Allerdings sind die Anforderungen, die an eine plausible Prognose eines unmittelbaren Nutzens für den Probanden zu stellen sind, nur schwer bestimmbar,106 weshalb auch das Kriterium der Indikationsstellung keine sichere Abgrenzung von Heilversuch und wissenschaftlichem Experiment ermöglicht. Ein weiteres objektives Abgrenzungskriterium ist die Differenzierung zwischen gesunden und kranken Probanden.107 Versuche, die an kranken Personen, Patienten, durchgeführt werden, sind hiernach als Heilversuche zu klassifizieren,
101
Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Indikation; s. auch Biermann, Die Arzneimittelprüfung am Menschen, S. 94 f., der zwischen einem engen und weiten Indikationsbegriff differenziert. Näher zum Begriff der Indikation unten 3. Kap., B. I. 102 Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 76. Insofern ist der von Grahlmann verwendete Begriff subjektive Indikation missverständlich, vgl. Grahlmann, Heilbehandlung und Heilversuch, S. 26. 103 Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 76; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 33; s. ferner Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 43 f.; Grahlmann, Heilbehandlung und Heilversuch, S. 6 ff. 104 Biermann, Die Arzneimittelprüfung am Menschen, S. 101 f.; zustimmend Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 76. Hart verwendet den Begriff der Versuchsindikation, um die Unterscheidung zur Indikation im üblichen Sinne zu unterstreichen, s. Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 138. 105 Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 138; Hart, FORUM DKG 1998, 206, 207; vgl. dazu Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 76 f.; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 33. Dem entspricht der Ansatz von Helmchen/Lauter und Fröhlich, die nur dann einen Heilversuch annehmen wollen, wenn der Versuch einen individuellen gesundheitsbezogenen Nutzen für den Probanden erbringen kann, s. hierzu unten C. III. 3. Das zweite von Wölk herausgearbeitete Element der potenziellen Indikation, die Standardverbesserung, ist maßgebend für die Abgrenzung von Versuchs- und Standardbehandlung, vgl. hierzu Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 25 f. 106 Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 33; s. zu den Voraussetzungen für eine plausible Nutzenprognose Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 77. 107 D. Bender, MedR 2005, 511, 512. Vgl. hierzu auch mit Hinweis auf die gesetzliche Unterscheidung zwischen §§ 40 und 41 AMG Habermann/Lasch/Gödicke, NJW 2000, 3389, 3391 u. Holzhauer, NJW 1992, 2325, 2326, wobei diese Autoren im Kern eine Abgrenzung zwischen therapeutischem und wissenschaftlichem Versuch vornehmen. Denn der individuelle Heilversuch unterfällt nicht dem AMG, Kollhosser/Krefft, MedR 1993, 93, 94 m. w. N.
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
solche an gesunden hingegen als wissenschaftliche Experimente.108 Aber auch wenn dieses Differenzierungsmerkmal leicht handhabbar ist, ist es in seiner Anwendung nicht konsequent. Denn bei Vorliegen besonderer Umstände kann es notwendig sein, wissenschaftliche Experimente an Patienten durchzuführen, wie beispielsweise bei der Erprobung von Zytostatika,109 die aufgrund beträchtlicher Nebenwirkungen nicht an gesunde Probanden verabreicht werden dürfen.110 Es zeigt sich, dass die Anwendung eines einzelnen Abgrenzungskriteriums für sich allein nicht zu tragbaren Ergebnissen führt. Deshalb wird vielfach dafür plädiert, anhand objektivierbarer Indizien festzustellen, ob ein Eingriff der ärztlichen Behandlung und Versorgung des Patienten dient oder ob er dem medizinischen Erkenntnisgewinn verschrieben ist und damit zu Forschungszwecken erfolgt.111 Ein wichtiges Indiz für das Vorliegen eines wissenschaftlichen Versuchs ist etwa die systematische Behandlung der Patienten anhand einer strukturierten Vorgehensweise (Prüfplan).112 2. Bewertung sog. Mischfälle Auch mithilfe der vorgenannten Abgrenzungskriterien lassen sich nicht immer eindeutige Ergebnisse erzielen. Gerade die Behandlung sog. Mischfälle, bei denen Forschungs- und Heilinteressen zusammentreffen, bereitet Schwierigkeiten. Einige versuchen, dieser Problemfälle Herr zu werden, indem sie eine Zuordnung zu den einzelnen Eingriffskategorien anhand des Schwerpunkts des Eingriffs vornehmen: Dient die Maßnahme primär der Behandlung des Patienten oder der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse?113 Doch auch bei Eingriffen mit nur untergeordnetem Forschungszweck kollidieren die Forschungsinteressen des Arztes in empfindlicher Weise mit dem Bedürfnis des Individuums an körperlicher Unversehrtheit und (im Krankheitsfall) an 108
Vgl. D. Bender, MedR 2005, 511, 512; s. hierzu auch Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 73. 109 Zytostatika ist eine chemisch heterogene Gruppe zytotoxischer Substanzen, die das Zellwachstum, insbesondere die Zellteilung, verhindern oder verzögern, s. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Zytostatika. 110 Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 73 f.; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 32; Hart, MedR 2015, 766, 769. 111 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 26; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 20; Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 11 ff.; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 33; Vogeler, Ethik-Kommissionen, S. 32 f.; ähnlich auch Deutsch, VersR 2005, 1009, 1010 f. 112 Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 20 f.; Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 11 f. Weitere Indizien sind etwa die Bildung von Vergleichsgruppen, die statistische Auswertung und Objektivierung der Ergebnisse oder die Finanzierung durch Institutionen der Forschungsförderung, s. Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/ Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 26; Oswald, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 669, 682 ff. m. w. N. 113 Vgl. BGHZ 20, 61, 66 = NJW 1956, 629; Deutsch, VersR 2005, 1009, 1010 f.; Stock, Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen, S. 22 ff.; so auch Rehmann, AMG, Vorb. §§ 40–42b Rn. 3 bzgl. klinischer Prüfung eines Arzneimittels und Heilversuchs.
C. Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung
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bestmöglicher Behandlung. Der Gefahr der Instrumentalisierung des Betroffenen als bloßes Forschungsobjekt gilt es entgegenzuwirken.114 Daher ist wie folgt zu differenzieren: Umfasst ein Eingriff mehrere Maßnahmen, ist für jede Maßnahme einzeln festzustellen, welcher Zweck mit ihr verfolgt wird. Die jeweilige Zweckrichtung bestimmt die rechtlichen Legitimationsanforderungen.115 Dient eine konkrete Einzelmaßnahme hingegen sowohl einem, wenn auch nur untergeordnetem, Forschungszweck als auch der ärztlichen Behandlung, ist eine doppelte Legitimation, als Heil- sowie als Forschungseingriff, erforderlich.116 3. Fazit Festzuhalten bleibt, dass grundsätzlich der Eingriffszweck als Abgrenzungskriterium zwischen den einzelnen Kategorien ärztlichen Handelns dient. Die Zweckrichtung ist anhand objektivierbarer Indizien zu bestimmen. Da sich die genaue Abgrenzung, insbesondere bei sog. Mischfällen, oft schwierig gestaltet, wird die Einteilung in die Kategorien Heilversuch und wissenschaftlicher Versuch häufig kritisiert. Es wird angeführt, dass eine solche Differenzierung der Vielfalt der medizinischen Forschung nicht gerecht werde und eine sichere Grenzziehung zwischen den beiden Kategorien nicht zu leisten sei.117 Als mögliche Lösung dieser Problematik wird die Aufgabe der Unterscheidung zwischen Heilversuch (therapeutischer Versuch) und wissenschaftlichem Experiment (nichttherapeutischer Versuch) vorgeschlagen.118 Stattdessen sei für
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Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 22; ebenfalls krit. hinsichtlich des „Überwiegenskriteriums“ Freund, in: MüKo-StGB, §§ 40–42c AMG Rn. 8. Zu der bei Versuchen am Menschen charakteristischen Interessenkollision vgl. Stock, Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen, S. 22 ff.; Kollhosser/Krefft, MedR 1993, 93. 115 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 23; illustrativ Kratz, VersR 2007, 1448, 1451 f.; s. auch Oswald, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 669, 685 f. 116 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 24; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 22; Freund, in: MüKo-StGB, §§ 40– 42c AMG Rn. 8 f.; vgl. auch den von Deutsch gewählten teleologischen bzw. funktionalen Ansatz in VersR 2005, 1009, 1013. Zu den Legitimationsvoraussetzungen von Heil- und Forschungseingriffen s. unten 3. Kap., B. u. D. I. 117 Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, S. 11; Levine, Ethics and Regulation of Clinical Research, S. 8 ff.; Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 16 f.; Wildhaber, in: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, S. 186, 192; Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 49 ff. 118 So die American Medical Association (AMA) vor der Revision der Deklaration von Helsinki im Jahre 2000. Bislang wurde der Vorschlag nicht umgesetzt, vgl. dazu Background Document for the American Medical Association Proposed Revision of the World Medical Association Declaration of Helsinki, 17.CRev/97/B (abgedruckt in Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, S. 397, 399); Staak, in: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, S. 273; Taupitz, MedR 2001, 277, 278. Ebenfalls für die Aufgabe einer solchen Zweiteilung Wildhaber, in: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin,
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1. Kap.: Begriff und Bedeutung der Systemmedizin
jedes Vorhaben nach dem individuellen Nutzen für den Versuchsteilnehmer zu fragen. Eine derartige Differenzierung nach dem individuellen Nutzen ermögliche eine Herausbildung von Fallgruppen119 sowie eine exakte begriffliche Unterscheidung.120 Allerdings führt die Anwendung einer nutzenorientierten Typologie zur Verdeckung des Eingriffsziels (Behandlung oder Erkenntnisgewinn), welches insbesondere für die Festlegung der Anforderungen an die rechtliche Zulässigkeit des Eingriffs maßgebend ist.121 Zudem sind die einzelnen Fallgruppen begrifflich nicht genau zu bestimmen, was eine exakte Differenzierung erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.122
IV. Einordnung systemmedizinischer Maßnahmen Abschließend ist zu erörtern, wie sich systemmedizinische Maßnahmen in das differenzierte System ärztlicher Eingriffskategorien einfügen. Im Rahmen des systemmedizinischen Ansatzes werden Datenpools bestehend aus gesundheitsrelevanten Daten zahlreicher Individuen gebildet. Die Analyse der gesammelten Daten soll es ermöglichen, neue Einsichten in die Entstehung, Entwicklung und Behandlung von Krankheiten zu gewinnen. Zunächst bezieht sich die Systemmedizin daher primär auf den menschlichen Organismus im Allgemeinen und nicht auf Einzelpersonen im Rahmen einer konkreten Behandlung. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn steht hierbei im Vordergrund. Ziel ist es jedoch, die gewonnenen Erkenntnisse in die medizinische Versorgung zu überführen. Neu entwickelte Behandlungsmethoden sollen auf individuelle Patienten in konkreten Behandlungssituationen angewendet werden. Mit der Übertragung der systemmedizinischen Erkenntnisse in die medizinische Praxis tritt der Forschungszweck hinter die therapeutischen Zwecke zurück. S. 186, 191 ff.; Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, S. 11 ff.; Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 17 f. 119 Es werden vier Fallgruppen unterschieden: Forschung mit unmittelbarem, mittelbarem, gruppenspezifischem Nutzen und fremdnützige medizinische Forschung, s. Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 19. 120 Helmchen/Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, S. 11 ff.; Fröhlich, Forschung wider Willen, S. 17 ff.; zustimmend Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 49 f. Auch im „Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin“ des Europarates v. 4.4.1997 wird die nutzenorientierte Typologie in Art. 6 und 17 aufgegriffen, abrufbar unter https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/rms/090000168007 cf98 (Zugriff: 13.4.2020). 121 Um den ärztlichen Auftrag umfassend abzudecken, fordert Kirchhof deshalb eine differenziertere Typologie. Er schlägt eine Ergänzung der herkömmlichen Eingriffsarten um die Kategorie der Erneuerungseingriffe vor. Hierunter fiele etwa die operative Ausgleichung einer altersbedingten Hörschwäche, s. Kirchhof, MedR 2007, 147, 150 ff. 122 S. ausführlich hierzu Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 82 ff. m. w. N.; vgl. auch die Gründe gegen eine Aufgabe der herkömmlichen Differenzierung zwischen Heilversuch und wissenschaftlichen Experiment bei Staak, in: Deutsch/Taupitz, Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, S. 273, 287.
C. Systemmedizin zwischen Forschung und ärztlicher Behandlung
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Die Bewertung systemmedizinischer Eingriffe ist somit anhand einer Einzelfallbetrachtung vorzunehmen. Je nach Entwicklungsstadium des konkreten Eingriffs handelt es sich um einen Forschungs- oder Heileingriff. Auch Eingriffe, die Forschungs- und Heilinteressen in sich vereinen, sog. Mischfälle, sind denkbar. Die Grenze zwischen medizinischer Forschung und ärztlicher Behandlung ist bereits heute fließend. Durch die Systemmedizin wird diese Entwicklung weiter vorangetrieben, bis hin zu einer möglichen Grenzauflösung.
Kapitel 2: Herausforderungen und Voraussetzungen der Integration systemmedizinischer Ansätze in das Gesundheitssystem 2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Der rechtswissenschaftliche Erkenntnisstand im Hinblick auf das systemmedizinische Konzept ist derzeit noch gering.1 Den durch die Systemmedizin eröffneten Möglichkeiten begegnen Unsicherheiten im geltenden Rechtssystem, teilweise sind bestehende Normen nicht anwendbar, stellenweise fehlen rechtliche Regelungen vollständig. Deshalb sollen im Folgenden einige rechtliche Herausforderungen erörtert werden, die sich bei der Integration systemmedizinischer Ansätze in das deutsche Gesundheitssystem ergeben. Zu klären ist insbesondere, ob und inwieweit das geltende Recht angemessen vorbereitet ist und wo Spannungen bestehen oder zu befürchten sind.
Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
Die grundlegende rechtliche Herausforderung, die sich mit der Integration der Systemmedizin in das Gesundheitssystem stellt, ist der angemessene Schutz der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen. Im Rahmen der Systemmedizin werden einerseits eine Vielzahl von hochsensiblen, individuellen Daten erhoben und verarbeitet, andererseits gehen systemmedizinische, insbesondere genetische Erkenntnisse oft weit über die konkrete Behandlung einer spezifischen Erkrankung hinaus. Die mit dem Einsatz der Systemmedizin einhergehenden Schwierigkeiten beschränken sich vielfach nicht auf einzelne Sozialbeziehungen, wie das ArztPatient-Verhältnis, sondern umfassen auch in besonderem Maße bestehende und bevorstehende Bereichsvernetzungen.2 So können sich die durch systemmedizinische Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse sowohl positiv als auch negativ für die persönliche Lebensplanung des Einzelnen,3 seine Chancen auf dem Ar-
1
Die bislang durchgeführten juristischen Analysen sind überwiegend den mit der Systemmedizin verwandten Disziplinen gewidmet, wie etwa der individualisierten Medizin (Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin; Eberbach, MedR 2011, 757; Damm, MedR 2011, 7; Huster/Gottwald, GesR 2012, 449) oder der Gendiagnostik (Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz; Hahn, ZVersWiss 2013, 519; Feuerstein, in: Beer/Markus/Platzer, Was wissen wir vom Leben?, S. 169). 2 Vgl. Damm, MedR 1999, 437, 440. 3 Positiv können sich derartige Erkenntnisse auswirken, wenn etwa der drohende Krankheitsverlauf durch bestimmte Verhaltensweisen z. B. eine Diät günstig beeinflusst werden kann. Allerdings sind auch negative Folgen in Form von psychischen Belastungen durch das Wissen um die drohende Krankheit denkbar, vgl. Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 5; vgl. auch Tinnefeld, ZRP 2000, 10, 11; Genenger, NJW 2010, 113; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 38 f.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 A. M. Ernst, Rechtsfragen der Systemmedizin, Kölner Schriften zum Medizinrecht 26, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62550-7_3
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
beitsmarkt,4 seine Abschlussmöglichkeiten von privaten Versicherungsverträgen,5 aber auch für das persönliche Umfeld des Betroffenen6 sowie für die Solidarversicherungsgemeinschaft7 insgesamt auswirken. Zudem besteht die Gefahr, dass die kontinuierliche Datensammlung und -auswertung vermehrt zu Untersuchungsbefunden mit ungewisser Signifikanz, zu falsch positiven Testergebnissen sowie zur Überdiagnostik und -behandlung führt.8 Ein besonderes Augenmerk ist auf die Ergebnisse genetischer Untersuchungen zu richten, die weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen können. Das Wissen um die eigene genetische Konstitution, gerade die Kenntnis von genetisch bedingten Krankheitsanlagen, kann ganze Lebensplanungen verändern, wenn nicht sogar zerstören.9 Ein gelingender Persönlichkeitsschutz ist vor diesem Hintergrund von immenser Bedeutung für den Erfolg der Systemmedizin. Es geht hierbei in besonderer Weise um informationelle Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen.
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Das Risiko aufgrund von „schlechten“ Genen in der Arbeitswelt ausgegrenzt zu werden wächst mit fortschreitendem Erkenntnisgewinn in der Medizin und Biologie, Tinnefeld, ZRP 2000, 10, 11. Zu den Interessen der Arbeitgeber an sog. QS-Diensten, welche die Selbstvermessung ihrer (zukünftigen) Arbeitnehmer ermöglichen, Petrlic, DuD 2016, 94, 96. 5 Zu der Gefahr genetischer Diskriminierung Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 5; Lorenz, VersR 1999, 1309; s. auch Katzenmeier/Arnade/Franck, ZGMR 2004, 139. Ausführlich zur Diskriminierungsgefahr beim Abschluss privater Versicherungsverträge s. unten C. I.–III. 6 BGHZ 201, 263 = NJW 2014, 2190 = MedR 2015, 186: psychische Belastung der Ehefrau aufgrund der Kenntniserlangung von einer genetisch bedingten Erkrankung ihres Ehemannes und dem damit einhergehenden Risiko, dass die gemeinsamen Kinder auch Träger der Krankheit sein könnten. 7 Die Sozialversicherung ist vom Prinzip der Risikoneutralität geprägt: Die „schlechten“ Risiken der gesundheitlich belasteten Mitglieder werden durch die „guten“ Risiken der „gesunden“ Mitglieder ausgeglichen. Der Gesundheitsstatus des (zukünftig) Leistungsberechtigten ist ohne Relevanz für die Begründung eines Sozialversicherungsverhältnisses. Die Höhe der Versicherungsbeiträge bemisst sich vielmehr an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Die Solidarversicherungsgemeinschaft profitiert mithin von „gesunden“ Mitgliedern und wird durch „kranke“ finanziell belastet, vgl. Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 7 f. 8 Diamandis, BMC Medicine 2015, 13:5; Vogt et al., Med health Care and Philos 2016, 307, 320; speziell zur Gefahr der Überdiagnostik im Rahmen von Krebsvorsorgeuntersuchungen Brodersen et al., APMIS 2014, 683. 9 Vgl. BGHZ 201, 263, 269 f. = NJW 2014, 2190, 2191 = MedR 2015, 186, 188; BVerfGE 79, 256, 268 f. = NJW 1989, 891 f. (zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung); Wiese, in: FS Niederländer, S. 475, 481; Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 5; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 38 f.; Katzenmeier, DÄBl. 2006, A-1054 (zu sog. Mammographie-Screenings); Kröger, MedR 2010, 751; Genenger, NJW 2010, 113; Hardenberg, ZD 2014, 115, 116.
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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I. Grundlagen des informationellen Selbstbestimmungsrechts Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz normiert. Es wurde vom BVerfG in seinem berühmten Volkszählungsurteil aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht,10 Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, hergeleitet.11 Nach Ansicht des BVerfG setzt die freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe persönlicher Daten voraus. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht gewährleiste insoweit die Befugnis des Einzelnen grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.12 Kernanliegen ist mithin die Regulierung dessen, was Dritte über eine Person wissen oder sagen dürfen.13 Durch Einbeziehung der Persönlichkeitsgefährdung in den Schutzbereich flankiert und erweitert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung die grundrechtliche Gewährleistung von Verhaltensfreiheit und Privatheit.14 1. Schutzumfang Gegenstand des Schutzbereichs sind persönliche Daten, unabhängig davon, ob es sich um besonders sensible oder aussagekräftige Informationen handelt, die geheim oder auch allgemein verfügbar sind.15 Der Begriff der persönlichen Daten deckt sich mit der Legaldefinition der personenbezogenen Daten in Art. 4 Nr. 1 Datenschutz-Grundverordnung16 (DS-GVO), welcher eine einfachgesetzliche Konkretisierung des grundrechtlichen Schutzbereichs ist.17 10 Zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht in digitalen Systemen s. Di Fabio, Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen, S. 50 ff. 11 BVerfGE 65, 1, 41 ff. = NJW 1984, 419, 421 f. (Volkszählungsurteil v. 15.12.1983); eingehend zum dogmatischen Verhältnis des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und dem informationellen Selbstbestimmungsrecht Brink, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Grundlagen und bereichsspezifischer Datenschutz Syst. C Verfassungsrechtliche Grundlagen Rn. 59 ff. Auf europäischer Ebene findet das informationelle Selbstbestimmungsrecht seine normative Verankerung in Art. 8 GRCh und Art. 16 AEUV. 12 BVerfGE 65, 1, 43 = NJW 1984, 419, 422 (Volkszählungsurteil v. 15.12.1983); s. auch Di Fabio, Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen, S. 46 f. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist folglich nicht an bestimmte Arten der Datenverwendung gebunden, Schild, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, 22. Ed., § 3 BDSG Rn. 45. Dem entspricht der weit gefasste Verarbeitungsbegriff der DS-GVO, s. hierzu unten B. III. 1. a) bb). 13 Ausführlich zum Grundgedanken des informationellen Selbstbestimmungsrechts Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 143 ff.; vgl. auch Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 125 f. 14 BVerfGE 118, 168, 184 = NJW 2007, 2464, 2466; BVerfGE 120, 378, 397 = NJW 2008, 1505, 1506; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 179. 15 Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 150. Hierzu zählen auch sog. genetische Rohdaten, auf deren Herausgabe der Patient ein Recht hat. Zu den Einzelheiten eines solchen Herausgaberechts s. ausführlich Fleischer/Schickhardt/Taupitz/ Winkler, MedR 2016, 481. 16 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
a) Personenbezogene Daten i. S. d. Art. 4 Nr. 1 DS-GVO Personenbezogene Daten sind gemäß Art. 4 Nr. 1 DS-GVO alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen.18 In persönlicher Hinsicht sind von dieser Legaldefinition, wie schon in § 3 Abs. 1 BDSG a. F., nur natürliche Personen erfasst, juristische Personen, Personenmehrheiten und -gruppen sind ausgeschlossen.19 Für die Daten Verstorbener wird der Personenbezug verneint.20 Gemäß Art. 4 Nr. 1 DS-GVO weist ein Datum einen Personenbezug auf, wenn es einer identifizierten oder zumindest identifizierbaren Person zuzuordnen ist.21 Als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann, Art. 4 Nr. 1 DS-GVO.22 freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (DatenschutzGrundverordnung), ABl. L 119 v. 4.5.2016, S. 1 ff.; näher zur DS-GVO unten B. III. 1. 17 Vgl. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 175 u. Dreier, in: Dreier, GGKommentar, Art. 2 I Rn. 81 jeweils noch zu § 3 Abs. 1 BDSG a. F. 18 Die nationale Legaldefinition war bislang in § 3 Abs. 1 BDSG a. F. normiert. Art. 4 Nr. 1 DS-GVO orientiert sich weitestgehend an der bisherigen Definition personenbezogener Daten in Art. 2 lit. a) DSRL (Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. L 281 v. 23.11.1995, S. 31 ff.), Karg, DuD 2015, 520, 521; Buchner, DuD 2016, 155. 19 Eg. 14 DS-GVO; Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 4; Bergmann/Möhrle/Herb, Datenschutzrecht, Art. 4 DS-GVO Rn. 10; zum persönlichen Schutzumfang des § 3 Abs. 1 BDSG a. F. s. BT-Drs. 7/1027, S. 19; Dammann, in: Simitis, BDSG, § 3 Rn. 17 m. w. N. 20 Eg. 27 DS-GVO; Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 5; Kühling/Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 250. Dies steht im Einklang mit der überwiegenden Auslegung des BDSG a. F., wonach kein personenbezogenes Datum bei Angaben Verstorbener vorliegt, es sei denn diese weisen einen Bezug zu einer lebenden Person auf. Litt der Verstorbene bspw. an einer Erbkrankheit, ist diese Information hinsichtlich der Person des Verstorbenen kein personenbezogenes Datum. Im Verhältnis zu seinen noch lebenden Verwandten ist der Personenbezug hingegen zu bejahen, Kühling/Seidel/Sivridis, Datenschutzrecht, 3(2015), Rn. 214; a. A. Bergmann/Möhrle/Herb, Datenschutzrecht, § 3 BDSG a. F. Rn. 5 ff., die neben den Angaben Verstorbener auch solche des nasciturus als personenbezogen qualifizierten, da es sich bei diesen um zumindest bestimmbare Personen handelte. 21 In Art. 2 lit. a) DSRL und in § 3 Abs. 1 BDSG a. F. wurden statt „identifizierte oder identifizierbare“, die Begriffe „bestimmte oder bestimmbare“ Person verwendet. Als Auslegungshilfe für Art. 4 Nr. 1 DS-GVO wird man dennoch auf das BDSG a. F. und die DSRL zurückgreifen können, da mit den neuen Begrifflichkeiten keine inhaltliche Änderung einhergehen sollte, Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 6. 22 Im Vergleich zur DSRL wurde in Art. 4 Nr. 1 DS-GVO das Merkmal „genetische“ Identität ergänzend aufgenommen, wodurch die Bedeutung der Definition allerdings keine Veränderung erfährt, Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 7. Intensiv diskutiert wurde die Frage, ob dynamische IP-Adressen als personenbezogene Daten zu qualifizieren sind. Der EuGH hat nunmehr entschieden, dass dynamische IP-Adressen nicht
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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Der Aussagegehalt eines Datums ist abhängig vom jeweiligen Verwendungszusammenhang. Unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung gibt es kein schlechthin „belangloses“ Datum mehr.23 Auch eine scheinbar harmlose Information kann abhängig vom jeweiligen Kontext oder in Kombination mit anderen Informationen immense Auswirkungen auf die Freiheitsausübung des Betroffenen haben.24 Dies gilt insbesondere für Big-Data-Analysen, mit denen bislang unbekannte Zusammenhänge zwischen verschiedenen Daten aufgedeckt werden können.25 Speziell im Bereich der Gendiagnostik hat sich, um den mit ihr verbundenen informationellen Gefahren frühzeitig entgegenzuwirken, eine weitere Verfeinerung des informationellen Selbstbestimmungsrechts herausgebildet. So wird teilweise von einem „Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung“,26 einem „Persönlichkeitsrecht im Genbereich“27 oder auch einem „Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung“28 gesprochen.29 b) Personenbezug in der Systemmedizin Grundsätzlich ist es aus datenschutzrechtlicher Perspektive geboten, die verarbeiteten Daten frühestmöglich zu anonymisieren30 oder zu pseudonymisieren.31 Ein
nur für den Internetzugangsanbieter, sondern auch für den Webseitenbetreiber unter bestimmten Voraussetzungen als Information über eine bestimmbare bzw. identifizierbare natürliche Person, mithin als personenbezogenes Datum, einzustufen sind, EuGH NJW 2016, 3579, 3581 m. Anm. Mantz/Spittka; s. hierzu auch Eg. 30 DS-GVO. 23 BVerfGE 65, 1, 45 = NJW 1984, 419, 422 (Volkszählungsurteil v. 15.12.1983); BVerfGE 118, 168, 185 = NJW 2007, 2464, 2466; BVerfGE 128, 1, 44 f. = NVwZ 2011, 94, 100; s. auch Spindler, MedR 2016, 691, 692. 24 BVerfGE 118, 168, 184 f. = NJW 2007, 2464, 2466; BVerfGE 120, 274, 312 = NJW 2008, 822, 826 f. 25 Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 151, 273. 26 Heyers, MedR 2009, 507. 27 Wiese, RdA 1986, 120, 126. 28 Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung. 29 Für weitere Begriffsvarianten inkl. Nachweise s. Hardenberg, ZD 2014, 115, 116. In der Rspr. des BVerfG hat diese Ausdifferenzierung bislang jedoch keine Entsprechung gefunden, Hardenberg, ZD 2014, 115, 116 Fn. 27. 30 Anonymisieren ist das Verändern personenbezogener Daten derart, dass die Informationen sich nicht mehr auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen, Eg. 26 DS-GVO. In der alten Fassung des BDSG war in § 3 Abs. 6 BDSG die Legaldefinition des Anonymisierens normiert. S. hierzu auch Weichert, ZD 2013, 251, 258 f. 31 Pseudonymisieren ist das Ersetzen des Namens und anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen, sodass die Daten ohne Hinzuziehung zusätzlicher Informationen nicht mehr einer spezifischen betroffenen Person zugeordnet werden können, vgl. Art. 4 Nr. 5 DS-GVO. Gemäß Eg. 26 DS-GVO gelten pseudonymisierte Daten indes weiterhin als personenbezogene Daten, sofern der Rückbezug möglich ist, vgl. auch Eg. 28 DS-GVO; s. hierzu ebenfalls Weichert, DuD 2014, 831, 836 f.; Schild, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 4 DS-GVO Rn. 71 ff.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
bestehender Personenbezug ist, wann immer dies möglich ist, aufzulösen.32 Insbesondere im Hinblick auf Daten mit Gesundheitsbezug ist allerdings fraglich, ob sich ein Personenbezug im Zeitalter von Big Data generell vollständig vermeiden oder aufheben lässt.33 Bereits in der Vergangenheit wurde vielfach diskutiert, ob genetische Daten aufgrund ihrer Einzigartigkeit überhaupt anonymisierbar sind.34 Im Wege der systemorientierten Medizin sollen nun vielfältige Daten zwecks Analyse und Vorhersage des Gesundheitszustandes des Patienten zusammengeführt werden. Die Datensätze der Patienten werden somit zunehmend individueller. Je individueller ein Datensatz ist, umso leichter kann er durch in anderen Beständen enthaltenes Zusatzwissen konkretisiert und schließlich rückführbar auf einen konkreten Patienten gemacht werden.35 Eine wichtige Ressource für die Generierung von Zusatzwissen sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Informationen, die der Einzelne unbewusst oder auch bewusst durch sein Internetverhalten und die Nutzung von Gesundheitsapplikationen und sonstigen datenerhebenden Produkten generiert und preisgibt.36 Durch die Verbesserung der Analysewerkzeuge und die wachsenden verfügbaren Datenbestände sinkt der Reidentifizierungsaufwand stetig.37 Die Frage, ob sich ein Personenbezug in der Systemmedizin überhaupt vollständig vermeiden beziehungsweise beseitigen lässt, ist eng verknüpft mit der Frage, inwieweit und ab welchem Grad die Gefahr einer Reidentifizierung für sich genommen anonymisierter Daten für die Annahme eines Personenbezugs der Daten ausreichend ist. Hinsichtlich der Identifizierbarkeit einer Person ist es streitig, ob die Möglichkeit der Herstellung eines Personenbezugs nach absoluten (objektiven) oder relati-
32 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 138; Weichert, DuD 2014, 831, 836; Spyra, GuP 2015, 142, 149. Zum Grundsatz der Datenminimierung s. unten B. III. 1. b) aa) (3). 33 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 138; Weichert, DuD 2014, 831, 832; vgl. auch Ladeur, DuD 2016, 360, 363 f.; Molnár-Gabór/Korbel, ZD 2016, 274, 275 f.; Augsberg/v. Ulmenstein, GesR 2018, 341, 342; grundlegend zur Frage des Personenbezugs von Daten bei Big-Data-Analysen Schefzig, DSRITB 2014, 103; zur Eignung etablierter technischer Anonymitätskonzepte für Big Data Marnau, DuD 2016, 428. 34 S. hierzu Mand, MedR 2005, 565, 566 f. m. w. N., der eine zumindest faktische Anonymität im datenschutzrechtlichen Sinne annimmt; auch Dierks, DuD 2013, 143, 146 geht von einer noch ausreichenden Möglichkeit der Anonymisierbarkeit genetischer Daten aus; Vossenkuhl, Der Schutz genetischer Daten, S. 97 vertritt hingegen die Ansicht, dass eine Anonymisierung genetischer Daten nicht mehr zu leisten ist; ebenso Hardenberg, ZD 2014, 115, 117; Schaar, ZD 2016, 224, 225; jedenfalls zukünftig sei eine Anonymisierung wohl nicht mehr möglich, Fleischer, Rechtliche Aspekte der Systemmedizin, S. 268 ff. 35 Weichert, DuD 2014, 831, 836. 36 Vgl. Weichert, ZD 2013, 251, 252; Becker, JZ 2017, 170; Roßnagel/Nebel, DuD 2015, 455; Spyra, GuP 2015, 142, 149; I. Timm, MedR 2016, 686, 688 ff. 37 Weichert, DuD 2014, 831, 836; Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 138; vgl. auch Katko/Babaei-Beigi, MMR 2014, 360, 361 f.
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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ven Maßstäben zu beurteilen ist.38 Die Vertreter des absoluten Personenbezuges bejahen die Identifizierbarkeit einer Person bereits dann, wenn irgendjemand, der Verantwortliche selbst oder ein Dritter, von einem Datum auf eine Person schließen kann. Hierbei seien sämtliche zur Verfügung stehende Mittel und Kenntnisse zu berücksichtigen.39 Für die Anhänger der Gegenansicht sind hingegen nur die Identifizierungsmittel und -möglichkeiten maßgebend, zu denen der Verantwortliche realistischerweise Zugang hat.40 Ein und dasselbe Datum kann daher für eine Stelle zuordenbar und damit personenbezogen sein, für eine andere hingegen nicht.41 Der europäische Gesetzgeber beschreitet mit Erlass der DS-GVO einen Mittelweg. Gemäß Erwägungsgrund 26 DS-GVO42 sollen zur Feststellung, ob eine natürliche Person identifizierbar ist, alle Mittel berücksichtigt werden, die von dem Verantwortlichen oder einer anderen Person nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich genutzt werden, um die natürliche Person direkt oder indirekt zu identifizieren. Das Risiko von Zusatzinformationen oder technischen Mitteln zur Personenidentifizierung wird also mit einbezogen, allerdings kommt dies nur zum Tragen, wenn deren Einsatz nicht aus wirtschaftlichen Gründen, wie aufzubringende Arbeitskraft, entstehende Kosten und Zeitaufwand, unwahrscheinlich ist.43 Der EuGH vertritt nunmehr ebenfalls eine vermittelnde, die relative Theorie erweiternde Ansicht, der zufolge auch dem Verantwortlichen zur Verfügung stehende Mittel berücksichtigt werden, um an Zusatzinformationen Dritter zu gelangen. Ein Personenbezug ist demzufolge gegeben, sofern für die verantwortliche Stelle eine zumindest abstrakte Möglichkeit des Zugriffs auf die nötigen Zusatzin-
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Es handelt sich um einen Dauerstreit, der sich vor Inkrafttreten der DS-GVO bereits am Begriff der „Bestimmbarkeit“ (§ 3 Abs. 1 BDSG a. F. bzw. Art. 2 lit. a) RL 95/46/EG) entzündete. Ausführliche Darstellung des Streitstandes bei Bergt, ZD 2015, 365. 39 Pahlen-Brandt, DuD 2008, 34, 38; Weichert, DuD 2007, 113, 115. Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 3 begrenzen anhand des Wortlauts des Eg. 26 der DS-GVO den Kreis der zu berücksichtigenden Mittel auf solche, die „angemessen“ sind und vom Verantwortlichen oder einem Dritten zu Identifikation einer Person „wahrscheinlich genutzt“ werden. Die hierfür erforderliche Einzelfallbetrachtung sei anhand objektiver Faktoren, wie etwa den Kosten der Identifizierung und dem erforderlichen Zeitaufwand, vorzunehmen; so nun auch Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 8. 40 Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, 2(2016), Art. 4 DS-GVO Rn. 11; Schlussantrag des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache C–582/14, Rn. 64 ff.; s. auch Roßnagel/Kroschwald, ZD 2014, 495, 496 f.; Schild, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 4 DS-GVO Rn. 18. Innerhalb des relativen Ansatzes ist wiederum strittig, ob und inwieweit sog. Zusatzwissen Dritter zu berücksichtigen ist, s. hierzu ausführlich Bergt, ZD 2015, 365, 366. 41 Gola/Klug/Körffer, in: Gola/Schomerus, BDSG, § 3 Rn. 10; Plath/Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, 2(2016), § 3 BDSG Rn. 15 m. w. N. 42 Die Erwägungsgründe dienen im unionsrechtlichen Kontext als wichtiges Auslegungsinstrument, Köndgen, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 6 Rn. 51; Stotz, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 22 Rn. 17. 43 Marnau, DuD 2016, 428, 430; Plath/Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, 2(2016), § 3 BDSG Rn. 15.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
formationen besteht. Hierbei ist die Einschaltung zuständiger staatlicher Stellen miteinzubeziehen.44 Die Zusammenführung unterschiedlicher Datenarten zur Generierung neuer Erkenntnisse verkörpert das Grundkonzept der Systemmedizin. Gerade die Analyse riesiger Datenmengen mithilfe sog. Omics-Technologien soll bislang unbekannte Zusammenhänge zwischen externen Faktoren, wie Bewegung, Umwelteinflüsse, Ernährung, und individuellen genetischen und physiologischen Vorgängen im Menschen offenlegen. Als Informationsgrundlage dienen Daten, die einer identifizierten natürlichen Person zuordenbar sind, wie etwa Name, Alter, Geschlecht, aber auch Wohnort und Beruf. Durch die Datenverarbeitung werden zahlreiche persönliche Informationen über den Gesundheitszustand des Einzelnen produziert, aus denen sich wiederum individuelle gesundheitsbezogene Handlungsempfehlungen ableiten lassen. Gespeichert werden alle gesundheitsrelevanten Informationen, von Blutwerten über genetische bis hin zu lebensstilbezogenen Daten, in einer sog. persönlichen Datenwolke des Individuums.45 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Großteil, der im Rahmen der Systemmedizin verarbeiteten Daten, einen Personenbezug aufweist. Die auf Grundlage dieser Daten ermittelten Krankheitswahrscheinlichkeiten, die einer konkreten Person zuordenbar sind, stellen ebenfalls personenbezogene Daten dar.46 Die Möglichkeit des Rückschlusses von analysierten Datensätzen auf einzelne Patienten ist auch für die Umsetzung der erzielten Ergebnisse in konkrete Handlungsempfehlungen erforderlich. Der Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts ist grundsätzlich eröffnet. 2. Regelungsadressaten Es obliegt der staatlichen Gewalt, in Form von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung, die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen im Verhältnis zu Dritten zu ermöglichen. Grundsätzlich binden Grundrechte nur den Staat, gegenüber dem sie klassischerweise als Abwehrrechte dienen, Art. 1 Abs. 3 GG.47 Private Akteure sind hingegen lediglich mittelbar, insbesondere nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung und auf Grundlage von staatlichen Schutzpflichten,48 an Grundrechte gebunden.49
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EuGH NJW 2016, 3579 m. Anm. Mantz/Spittka. Flores et al., Personalized Medicine 2013, 565, 567 f.; Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 614. 46 Vgl. Schefzig, DSRITB 2014, 103, 112 ff. 47 BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257; zur Grundrechtsbindung des Staates BVerfGE 128, 226, 244 ff. = NJW 2011, 1201, 1202 ff. 48 Grundlegend zum Modell der staatlichen Schutzpflichten, für deren Erfüllung dem Gesetzgeber ein beträchtlicher Gestaltungsspielraum zusteht BVerfGE 39, 1, 42 = NJW 1975, 573, 575; aus jüngerer Zeit BVerfGE 142, 313, 337 = NJW 2017, 53, 55. Der Grund staatlicher Schutzpflichten ist die Pflicht des Staates zum Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG. Gegenstand und Maß der Schutzpflichten bestimmen sich nach dem betroffenen Grundrecht, BVerfGE 88, 203, 251 = NJW 1993, 1751, 1753. Zur Bedeutung staatlicher Schutzpflichten im Datenschutz Hoffmann-Riem, AöR 1998, 513, 524 ff. 45
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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Bedingt durch die modernen Bedingungen der Datenverarbeitung besteht für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine erhöhte Verletzungsgefahr in privaten Rechtsbeziehungen.50 Das Verhältnis der Bürger untereinander ist vom Prinzip der Privatautonomie geprägt, das auch die Regelung der Informationsbeziehungen umfasst.51 Grundrechten wird in diesem Zusammenhang eine mittelbare Drittwirkung zugeschrieben, ihr Rechtsgehalt entfaltet sich indirekt durch die privatrechtlichen Vorschriften.52 Hat etwa in einem Vertragsverhältnis ein Partner ein solches Gewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Staates zu intervenieren. Es gehört zur staatlichen Schutzpflicht auf die Wahrung der Grundrechtspositionen beider Vertragspartner hinzuwirken, um zu verhindern, dass sich für einen Vertragsteil die Selbstbestimmung in eine Fremdbestimmung verwandelt.53 Hierfür bedienen sich die Gerichte beispielsweise der zivilrechtlichen Generalklauseln, deren Inhalt sie mithilfe der Grundrechte konkretisieren.54 Bereits aufgrund des Gebots der Rechtssicherheit ist ein korrigierender staatlicher Eingriff nur bei typisierbaren Fallgestaltungen, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lassen, und wenn die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind, angemessen.55 49
BVerfGE 128, 226, 249 f. = NJW 2011, 1201, 1204; s. auch Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“, BAnz. Nr. 161a v. 29.8.1990, S. 11; Weichert, DuD 2014, 831, 832. 50 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 12 Rn. 19; Kühling/Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 68 ff. 51 Im Grundsatz der Privatautonomie kommt die liberalistische, individualistische Grundhaltung des deutschen Gesetzgebers zum Ausdruck: der Einzelne hat das Recht seine Rechtsverhältnisse eigenverantwortlich im Einklang mit der Rechtsordnung zu gestalten. Die Privatautonomie wird insbesondere durch das Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung, Art. 2 Abs. 1 GG, verfassungsrechtlich garantiert. Neben den Haupterscheinungsformen der Vertragsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit und der Testierfreiheit, ist auch die Patientenautonomie als Unterfall der Privatautonomie einzuordnen, Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 2 Rn. 14, § 10 Rn. 28 ff. m. w. N.; Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, § 2 Rn. 5; s. auch die ständige Rspr. des BVerfG: BVerfGE 8, 274, 328; BVerfGE 89, 214, 231 = NJW 1994, 36, 38. 52 Die durch die Grundrechte zum Ausdruck kommende objektive Wertordnung wirkt hierbei vornehmlich im Rahmen der Interpretation von zivilrechtlichen Generalklauseln, wie z. B. §§ 138, 242, 826 BGB, Lindner, MedR 2007, 286, 292. Das BVerfG hat die mittelbare Drittwirkung, die Figur der sog. Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, erstmalig in der Lüth-Entscheidung anerkannt, BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257; s. auch die prägnante Zusammenfassung der Doktrin in BVerfGE 89, 214, 229 f. = NJW 1994, 36, 38; zu abweichenden Auffassungen s. Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 5 Rn. 10 ff.; eine krit. Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte findet sich bei Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 441 ff. m. w. N. 53 BVerfGE 81, 242, 255 = NJW 1990, 1469, 1470; BVerfGE 89, 214, 232 = NJW 1994, 36, 38; BVerfG MedR 2007, 351, 352. 54 BVerfGE 81, 242, 256 = NJW 1990, 1469, 1470; BVerfGE 89, 214, 233 f. = NJW 1994, 36, 38. 55 BVerfGE 89, 214, 232 = NJW 1994, 36, 38. In diesem Sinne verwarf das BVerfG eine versicherungsvertragliche Klausel zur Schweigepflichtentbindung wegen gestörter Vertragsparität am Maßstab des informationellen Selbstbestimmungsrechts, weil der Versiche-
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Allerdings kann die mittelbare Grundrechtsbindung Privater je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung einer unmittelbaren Grundrechtsbindung staatlicher Stellen nahe- oder auch gleichkommen. So etwa, wenn private Akteure in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- oder Garantenstellung hineinwachsen wie traditionell der Staat.56 Eine derartige Pflichtenstellung ergibt sich vermehrt dort, wo es die modernen Bedingungen der Datenverarbeitung dem Einzelnen erschweren seine informationelle Selbstbestimmung angemessen zu wahren.57 Im Rahmen der Systemmedizin kommt es zur Erhebung einer Vielzahl von Daten, deren Nutzung oftmals über die geschützte Arzt-Patient-Beziehung hinausgehen wird, indem sie längerfristig in sog. Datenwolken gespeichert und zu verschiedenartigen Forschungszwecken verwendet werden. Es ist nicht auszuschließen, dass auf diese sensiblen Datensätze und auf die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse auch Personen Zugriff erlangen, die nicht wie der behandelnde Arzt ausschließlich dem Wohl und Vertrauen des Patienten verpflichtet sind, sondern patientenunabhängige Interessen verfolgen, wie zum Beispiel Forscher oder Versicherungsgesellschaften.58 Die Gefahr einer missbräuchlichen Datenverwendung droht in diesen Fällen nicht von staatlicher Seite, sondern durch private Akteure. Die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte gegenüber dem Staat tritt somit in den Hintergrund. Stattdessen ist der Staat als Schutzpatron des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen gefragt. Der Erfüllung seiner staatlichen Schutzpflichten kommt der Gesetzgeber etwa mit Datenschutzgesetzen, wie dem GenDG oder dem BDSG, nach. Im Zentrum steht mithin nicht mehr die Abwehr staatlicher Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht, sondern Eingriffe Privater. Regelungsadressaten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind heutzutage daher nicht mehr nur staatliche, sondern zunehmend auch private Stellen, die selbst Grundrechtsträger sind.59 3. Beschränkungen Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht schrankenlos gewährleistet. Einschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse, wie die Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts oder die Gewährleistung einer effektiven Gesundheitsversorgung,60 sind vom Grundrechtsträger hinzunehmen.61 Erforderrungsnehmer Versicherungsschutz nur um den Preis der Offenbarung persönlichster Informationen erlangen konnte, BVerfG MedR 2007, 351, 352 f. Der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Versicherten wird nun durch § 213 VVG gewährleistet. 56 BVerfGE 128, 226, 248 ff. = NJW 2011, 1201, 1203 f.; BVerfG NJW 2015, 2485. 57 Dies gilt insbesondere, wenn bestimmte Plattformen zur Infrastruktur für die Kommunikation und das tägliche Leben geworden sind, Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 175; vgl. auch Di Fabio, Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen, S. 90 f., 93 f. 58 Zu den unterschiedlichen im Rahmen der Systemmedizin involvierten Akteuren und ihren Interessen an den Daten, s. unten B. II. 59 In diesem Sinne bereits Wiese, in: FS Niederländer, S. 475, 484 m. w. N.; näher zur Grundrechtsgefährdung durch Private Gurlit, NJW 2010, 1035, 1039 ff. 60 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 126.
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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lich ist nach Art. 2 Abs. 1 GG eine gesetzliche Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen, der Zweck und der Umfang der Beschränkungen eindeutig und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht.62 Hierbei hat der Gesetzgeber zudem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit63 zu beachten.64 Aber auch die Datenverarbeitung durch andere Privatrechtssubjekte kann eine schützenswerte Grundrechtsausübung darstellen, die als potenziell gegenläufige Abwägungsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind.65 So kann sich etwa der Forscher, der für belastbare Ergebnisse auf eine Vielzahl von Daten angewiesen ist, auf die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, Art. 5 Abs. 3 GG, Art. 13 Charta der Grundrechte der Europäischen Union66 (GRCh), berufen.67 Das Interesse des Arbeitgebers, besonders leistungsfähige Arbeitnehmer einzustellen oder des Versicherers, seinen wirtschaftlichen Gewinn durch Ausschluss „schlechter“ Gesundheitsrisiken zu maximieren, ist durch die Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 15 GRCh, geschützt.68 Es ist Aufgabe des Gesetzgebers die konfligierenden Interessen miteinander in Einklang zu bringen. So sind zahlreiche Regelungen auf EU- aber auch auf nationaler Ebene, welche die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Beschränkungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts konkretisieren,69 sowohl an öffentliche als auch an private Stellen adressiert, wie beispielsweise in der DSGVO, dem BDSG oder dem GenDG. Die Datenverarbeitung im Rahmen der Systemmedizin kann einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen darstellen. Ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt ist, beurteilt sich anhand der datenschutzrechtli61
BVerfGE 65, 1, 44 = NJW 1984, 419, 422 (Volkszählungsurteil v. 15.12.1983). BVerfGE 65, 1, 44 = NJW 1984, 419, 422 (Volkszählungsurteil v. 15.12.1983); Hufen, Staatsrecht II, § 12 Rn. 11 f.; zum Gebot der Normenklarheit s. BVerfGE 31, 255, 264 = NJW 1971, 2167; BVerfGE 45, 400, 420 = NJW 1977, 1723, 1724. 63 Dieser mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur soweit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist, st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 19, 342, 348 f. = NJW 1966, 243, 244; BVerfGE 61, 126, 134 = NJW 1983, 559; BVerfGE 76, 1, 50 f. = NJW 1988, 626, 629; BVerfGE 111, 54, 82 = NJW 2005, 126; eingehend zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit s. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII. Rn. 107 ff. m. w. N. 64 BVerfGE 65, 1, 44 = NJW 1984, 419, 422 (Volkszählungsurteil v. 15.12.1983); s. auch Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 156 ff.; Hufen, Staatsrecht II, § 12 Rn. 12. 65 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 126; s. auch Weichert, DuD 2014, 831, 832. 66 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 346 v. 18.12.2000, S. 1 ff. 67 Allerdings gewährt Art. 5 Abs. 3 GG dem einzelnen Forscher keinen Anspruch gegen private Dritte auf Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten. Vielmehr handelt es sich primär um ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat, Lindner, MedR 2007, 286, 291; zu Art. 13 GRCh s. Molnár-Gabór/Korbel, ZD 2016, 274, 276. 68 Vgl. Lindner, MedR 2007, 286, 290 f. 69 Ronellenfitsch, NJW 2006, 321, 323 f. 62
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
chen Vorschriften. In der DS-GVO ist etwa für die Verarbeitung personenbezogener Daten ein grundsätzliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt normiert, Art. 6 Abs. 1 DS-GVO: Personenbezogene Daten dürfen nur verarbeitet werden, wenn der Betroffene darin eingewilligt hat oder eine andere gesetzliche Grundlage besteht.70 Die Ermittlung und Verwendung genetischer Daten setzt gemäß § 8 Abs. 1 GenDG eine ausdrückliche und schriftliche Einwilligung des Betroffenen voraus.71 Datenverarbeitungen, die aufgrund einer wirksamen Einwilligung des Betroffenen erfolgen, sind nicht als Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts zu qualifizieren. Ein Grundrechtseingriff ist in diesen Konstellationen zu verneinen.72 Doch auch bei Vorliegen einer Einwilligung dürfen die erhobenen Daten nur zu den in der Einwilligung genannten Zwecken verarbeitet werden, sog. Grundsatz der Zweckbindung, Art. 5 Abs. 1 lit. b) DS-GVO.73 Erfolgt die Datenverarbeitung auf gesetzlicher Grundlage, sind die Ziele der Verarbeitung im Gesetz zu benennen. Anhand der normierten Ziele ist die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen zu prüfen.74 Aus dem informationellen Selbstbestimmungsrecht folgt die Befugnis des Einzelnen grundsätzlich selbst zu entscheiden, welche Informationen er wem offenbaren möchte. Deshalb steht es jedem im Grundsatz frei, sich der Teilnahme in der Systemmedizin zu verweigern.
II. Recht auf Nichtwissen Ausdruck der informationellen Selbstbestimmung ist es nicht nur, Dritten den Zugriff auf bestimmte Informationen über die eigene Persönlichkeitssphäre zu verwehren, sondern auch selbst frei über die eigene Kenntnisnahme zu verfügen.75 Die vom Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung garantierte Datenhoheit bezieht sich nicht nur auf den „Ausgang“, sondern ebenso auf den „Eingang“ personenbezogener Daten.76 Mit dem informationellen Selbstbestimmungsrecht eng verknüpft ist daher das Recht des Einzelnen auf Wissen, also die Kenntnis von Tatsachen,77 wie etwa der eigenen biologischen Abstammung,78 aber auch sein 70
Ausführlich zu den Voraussetzungen einer rechtmäßigen Datenverarbeitung nach der DS-GVO s. unten B. III. 1. 71 Näher zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts nach dem GenDG s. unten B. III. 2. b) aa) und C. II. 2. 72 Vgl. Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 91; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 228. 73 Näher zum Grundsatz der Zweckbindung s. unten B. III. 1. b) aa) (2). 74 Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 92; vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Art. 2 I Rn. 92 f. 75 Vgl. Wiese, in: FS Niederländer, S. 475, 484. 76 Duttge, DuD 2010, 34, 38; Katzenmeier, DÄBl. 2006, A-1054. 77 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Stichwort: Wissen; zum Begriff des Wissens s. auch Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 585. 78 Dazu BVerfGE 79, 256, 268 f. = NJW 1989, 891 f.; s. auch BVerfGE 96, 56 = NJW 1997, 1769; BVerfG NJW 2010, 3772, 3773; zum Recht auf Kenntnis der eigenen geneti-
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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Recht, von bestimmten Tatsachen keine Kenntnis zu erlangen,79 sein sog. Recht auf Nichtwissen.80 Das Recht auf Nichtwissen bietet seinem Träger Schutz vor unerwünschten Informationen.81 Ein derartiger Schutz erscheint vor dem Hintergrund der Irreversibilität des einmal erlangten Wissens und dessen möglichen Auswirkungen auf das Selbstverständnis sowie die Lebensgestaltung des Betroffenen unerlässlich.82 Gerade die Systemmedizin zeichnet sich aufgrund ihrer prädiktiven Ausrichtung durch den Umgang mit vorhersagendem Wissen aus, weshalb das Recht auf Nichtwissen von zentraler Bedeutung ist.83 1. Rechtstheoretische und -dogmatische Herleitung Das Recht auf Nichtwissen ist in der Literatur schon seit längerem anerkannt84 und ergibt sich zudem für genetische Untersuchungen aus § 9 Abs. 2 Nr. 5 des seit 2010 geltenden GenDG. Eine explizite Bestätigung durch den BGH erfolgte erstmals im Jahre 2014.85 Hinsichtlich seiner rechtstheoretischen und dogmatischen Herleitungen konkurrieren verschiedene Ansätze, die sich jedoch alle auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG inklusive dessen einzelnen Ausprägungen zurückführen lassen.86
schen Konstitution, insbesondere seiner verfassungsrechtlichen Verankerung, s. MoellerHerrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 110 ff. 79 Vgl. Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Stichwort: Nichtwissen; Kern, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 55, 62. 80 Ursprünglich hat den Begriff Recht zum Nichtwissen Hans Jonas in der Medizinethik geprägt, Jonas, Technik, Medizin und Ethik, S. 162, 189 ff. Anschließend ist der Begriff in die rechtspolitische Diskussion zur Gentechnik gelangt, vgl. Bundesminister für Forschung und Technologie, In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie, S. 37 ff.; s. auch Wiese, in: FS Niederländer, S. 475; Taupitz, in: FS Wiese, S. 583. 81 Vgl. Damm, MedR 1999, 437, 446; Kern, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/ Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 55, 62; Katzenmeier, DÄBl. 2006, A-1054. 82 Vgl. Wiese, in: FS Niederländer, S. 475, 481; van den Daele, Mensch nach Maß?, S. 80 f.; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 93; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 38 f.; BMBF-Projektgruppe „Recht auf Nichtwissen“, MedR 2016, 399. 83 Zum Recht auf Nichtwissen in der prädiktiven Medizin Beck/Barnikol et al., MedR 2016, 753. 84 Vgl. umfassend Taupitz, in: FS Wiese, S. 583; Damm, MedR 1999, 437, 446; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 192 jeweils m. w. N. 85 BGHZ 201, 263, 269 f. = NJW 2014, 2190, 2191 = MedR 2015, 186, 188 m. Anm. Hebecker/Lutzi; zuvor hatte der Gerichtshof das Recht auf Nichtwissen lediglich implizit anerkannt: BGHZ 162, 1 = MedR 2005, 287 zur Unverwertbarkeit eines heimlich eingeholten Vaterschaftstests wegen Verletzung des Rechts auf geninformationelle Selbstbestimmung des Kindes. 86 Für einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Ansichten s. MoellerHerrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 93 ff.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Teilweise wird das Recht auf Nichtwissen als negative Ausformung des informationellen Selbstbestimmungsrechts betrachtet.87 Insbesondere Informationen über die genetische Konstitution wiesen einen starken Persönlichkeitsbezug auf. Der Schutz vor Ausforschung sei gerade ein Kernbestandteil des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Im Zentrum stehe der Sozial-, nicht der Selbstschutz.88 Andere leiten das Recht auf Nichtwissen unmittelbar aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Verbindung mit dem Menschenwürdepostulat her.89 Das Grundrecht auf Nichtwissen stelle ein eigenständiges, unbenanntes Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG dar.90 Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht habe verglichen zum informationellen Selbstbestimmungsrecht eine erweiterte Schutzrichtung: neben personenbezogenen Daten seien auch die persönliche Entfaltung und Selbstbestimmung des Einzelnen im ungestörten Privatbereich geschützt. Die Kenntnis der eigenen Gene habe über den bloßen Datenschutz hinaus auch auf die Persönlichkeit und das Selbstverständnis des Betroffenen Auswirkungen.91 Von diesem umfassenden Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei auch das Recht auf Nichtwissen erfasst.92 Die aufgezeigten Unterschiede der beiden Ansätze sind freilich marginal und ohne Einfluss auf die Anerkennung des Rechts auf Nichtwissen.93 2. Anwendungsbereich Ein Recht auf Nichtwissen wird häufig im Rahmen der Gendiagnostik, insbesondere der pränatalen Diagnostik, diskutiert.94 Es gewährt dem Einzelnen die Wis87
Kern, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 55, 63; Damm, in: FS Laufs, S. 725, 731; Heyers, MedR 2009, 507, 509; Duttge, MedR 2016, 664, 666; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 192. 88 Heyers, MedR 2009, 507, 509 Fn. 18. 89 BGHZ 201, 263, 269 f. = NJW 2014, 2190, 2191 = MedR 2015, 186, 188; BundLänder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“, BAnz. Nr. 161a v. 29.8.1990, S. 11; Donner/ Simon, DÖV 1990, 907, 912 f.; Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 89 ff.; Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 592; Simon, Gendiagnostik und Versicherung, S. 112 f.; Kluth, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 85, 91; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 100 f.; Lindner, MedR 2007, 286, 290; Vossenkuhl, Der Schutz genetischer Daten, S. 32. 90 Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 89 ff.; Donner/ Simon, DÖV 1990, 907, 913. 91 Regenbogen/Henn, MedR 2003, 152, 155; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 100; zum Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts s. auch Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 167 m. zahlr. Rspr.-N. 92 Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 100; Kluth, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 85, 90 ff. 93 Vgl. Kern, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 55, 64. 94 Wiese, in: FS Niederländer, S. 475; Taupitz, in: FS Wiese, S. 583; Damm, MedR 1999, 437, 446; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 92 ff.; Lipp, in: Laufs/ Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. VIII Rn. 74 ff. m. w. N.
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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senshoheit über seine genetische Disposition. Der Betroffene kann selbstständig über die Kenntnisnahme genetischer Testergebnisse entscheiden.95 Ob und gegebenenfalls in welcher Weise ein solches Recht auch außerhalb von Humangenetik und Gendiagnostikgesetz anzuerkennen ist, ist bislang nicht abschließend geklärt.96 Duttge spricht sich für die Anerkennung eines Rechts auf Unkenntnis für sämtliche auf die eigene Gesundheit bezogenen Informationen aus. Es handele sich hierbei nicht lediglich um ein Spezifikum genetischer Daten.97 Neben den speziellen Anwendungsfeldern des „Rechts auf informationelle Abgeschiedenheit“98 in der Gendiagnostik sei ein allgemeines Recht auf Unkenntnis anzuerkennen.99 Dies ergebe sich bereits aus seiner dogmatischen Verankerung in den Grundrechten.100 So finde das Recht auf Nichtwissen etwa auch Anwendung bei der eigenmächtigen ärztlichen Vornahme eines Tests auf Humanes Immundefizienz-Virus (HIV), die zusammen mit der Bekanntgabe des Untersuchungsergebnisses als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts zu werten sei.101 Letztlich ermöglicht nur die Anerkennung eines Rechts auf Nichtwissen für sämtliche gesundheitsbezogenen Informationen, dem drohenden Verlust der Unbefangenheit, Offenheit und Freiheit gegenüber der eigenen Zukunft zuvorzukommen. Die Entschließungsfreiheit hinsichtlich der persönlichen Lebensgestaltung zu gewährleisten, ist bedeutender Zweck des Rechts auf Unkenntnis.102 Ein derart weit gefasster Schutzbereich verlangt jedoch eine Begrenzung der abwehrrechtlichen Dimension. Vorzugswürdig ist daher, eine Verletzung des Rechts auf Nichtwissen nur bei Missachtung der Willensentscheidung des Betroffenen, bestimmte Informationen nicht zu erhalten,103 anzunehmen.104
95
Das Recht auf Nichtwissen umfasst sowohl schwere Erkrankungen als auch sonstige genetische Merkmale ohne bekannte Gesundheitswirkungen, Simon, Gendiagnostik und Versicherung, S. 115; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 101. 96 Damm, MedR 2014, 139, 141. 97 Vertiefend zum Gedanken des genetischen Exzeptionalismus s. unten C. IV. 98 Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 585. 99 Duttge, DuD 2010, 34; ders., MedR 2016, 664, 666 f.; zustimmend Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 101 Fn. 543; skeptisch ggü. einem allgemeinen Recht auf Nichtwissen Simitis, in: Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung, Genanalyse und Persönlichkeitsschutz, S. 107, 121 ff. 100 Duttge, MedR 2016, 664, 666. 101 In diesem Sinne etwa LG Köln MedR 1995, 409 m. zust. Anm. Teichner; s. auch Duttge, DuD 2010, 34, 37 zu weiteren Anwendungsfeldern eines allgemeinen Rechts auf informationelle Abgeschiedenheit sowie dessen Ablehnung bei manifester Gefährdung der Allgemeinheit, wie z. B. im Falle von Infektionskrankheiten. 102 Vgl. Simon, Gendiagnostik und Versicherung, S. 115. 103 In welchem Ausmaß der Abwehrwille des Betroffenen nach außen zutage treten muss, richtet sich einzelfallabhängig nach Bedeutung und Schwere der Beeinträchtigung, Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 596 f. 104 Eine Abwehr bestimmter Informationswirkungen, die über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehen, ist ohnehin über die Rechte auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit möglich, Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 590 f.; zur eingeschränkten abwehrrechtlichen Dimension des Rechts auf Nichtwissen, Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 594 ff., 598; s. auch Hebecker/Lutzi, MedR 2015, 189, 192 f.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
3. Normative Durchsetzungsschwierigkeiten Trotz seiner grundsätzlichen Anerkennung unterliegt das Recht auf Nichtwissen normativen Durchsetzungsschwierigkeiten.105 Dort, wo durch die Rechtsordnung legitimerweise eine Pflicht zum Wissen begründet wird, muss das Recht auf Nichtwissen zurücktreten.106 So liegt es nahe im Widerstreit mit kollidierenden schutzwürdigen Belangen eine Relativierung des Rechts auf Unkenntnis anzunehmen. Sofern die Offenbarung von durch Systemmedizin gewonnenen Untersuchungsergebnissen gegenüber dem Betroffenen die Inanspruchnahme einer lebenswichtigen Therapie, für genetisch verwandte Familienangehörige oder auch für den Betroffenen selbst, ermöglichen würde, ist eine Beschneidung des Rechts auf Nichtwissen ernsthaft in Betracht zu ziehen. Das Recht auf Nichtwissen des unmittelbar Betroffenen kann im Einzelfall hinter Fürsorge- und Drittinteressen zurücktreten und sich in eine Pflicht zum Wissen wandeln.107 Zudem drohen dem Recht auf Nichtwissen Begrenzungen im Spannungsverhältnis mit der haftungsrechtlich sanktionierten ärztlichen Aufklärungspflicht.108 Um sich nicht der Gefahr einer Haftung wegen eines Aufklärungspflichtversäumnisses auszusetzen, wird der behandelnde Arzt eher dem Informationsinteresse seines Patienten als dessen Recht auf Unkenntnis Rechnung tragen.109 Schließlich ist eine Entwicklung hin zu einer stärkeren Inpflichtnahme von Risikoträgern aufgrund von Verantwortungspflichten, etwa gegenüber Verwandten, und Solidaritätspflichten, beispielsweise im Rahmen von Arbeits- oder Versiche-
105
Daneben existieren faktische Durchsetzungsschwierigkeiten in Gestalt von Anschlusszwängen der Technikentwicklung im Bereich der Medizin- und Biotechnik, s. hierzu Damm, MedR 1999, 437, 446 f. 106 Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 599. 107 Duttge, MedR 2016, 664, 666; s. auch Damm, MedR 1999, 437, 447; Simitis, in: Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung, Genanalyse und Persönlichkeitsschutz, S. 107, 122 f.; Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 599 f.; krit. Kern, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 55, 67 f.; Vossenkuhl, Der Schutz genetischer Daten, S. 35 f. In § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG hat der Gesetzgeber exemplarisch versucht den Konflikt widerstreitender Informationsinteressen mehrerer Personen aufzulösen, dazu unten 3. Kap., C. II. 5. b). 108 Damm, MedR 1999, 437, 447; ders., in: FS Laufs, S. 725, 733. 109 Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 599 Fn. 85; Regenbogen/Henn, MedR 2003, 152, 158. „Der Haftungsdruck reicht mit anderen Worten aus, um ein wie immer formuliertes Recht auf Nichtwissen zu übergehen“, Simitis, in: Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung, Genanalyse und Persönlichkeitsschutz, S. 107, 123. Eingehend zur ärztlichen Aufklärungspflicht unten 3. Kap., B. III.
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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rungsverhältnissen, zu verzeichnen.110 Zugunsten der Gemeinschaft könnte das Recht auf Nichtwissen des Risikoträgers beschnitten werden.111 Die dargelegten Gesichtspunkte verdeutlichen, dass das Recht auf Nichtwissen normativen Durchsetzungsproblemen auch über die Arzt-Patient-Beziehung hinaus, etwa im Familienkreis, unterliegt. Der bewusste Verzicht auf Informationen ist offenbar noch immer als „rechtfertigungsbedürftige Ausnahme“ oder gar „regelwidrige Anomalie“ anzusehen.112 4. Verhältnis zum Recht auf Wissen Das Verhältnis des Rechts auf Nichtwissen zum Recht auf Wissen erscheint durchaus ambivalent.113 Zunächst besteht das Grundproblem, dass die autonome Inanspruchnahme seines Rechts auf Nichtwissen wohl nur demjenigen offensteht, der zumindest Kenntnis von der Möglichkeit des Wissenserwerbs besitzt. Das Recht auf Nichtwissen liefe allerdings leer, wenn es zu seiner Ausübung einer „vollinformierten Verweigerung“114 bedürfte. Deshalb soll eine abstrakte Kenntnis von dem betroffenen Wissensbereich ausreichend sein.115 Sodann wird das Rangverhältnis des Rechts auf Nichtwissen und des Rechts auf Wissen diskutiert. Teilweise wird dem Recht auf Nichtwissen ganz grundsätzlich eine bedeutendere Stellung verglichen zum Recht auf Wissen zugedacht.116 Vielfach wird aber auch die Gleichrangigkeit der beiden Rechte betont.117 So hat van den Daele bereits 1985 propagiert, dass ein jeder das Recht habe seine Gene zu kennen, ihm gleichzeitig aber auch ein Recht auf Unkenntnis seiner genetischen Komposition zustehe.118 110
Es ist eine seitenverkehrte Verantwortungsethik auf dem Vormarsch, die nicht mehr Solidarität mit und Nichtdiskriminierung von Kranken oder Risikoträgern fordern könnte, sondern im Gegenteil diesen Verantwortungslasten in Verwandtschafts-, Arbeits- und Versicherungsverhältnissen aufbürdet, Damm, MedR 1999, 437, 448; ders., MedR 2011, 7, 17. 111 Krit. hinsichtlich einer Pflicht zum Wissen und zur Offenbarung Kern, in: Dierks/ Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 55, 66 f. 112 BMBF-Projektgruppe „Recht auf Nichtwissen“, MedR 2016, 399. 113 Vgl. Damm, MedR 1999, 437, 446 f. 114 Zur Notwendigkeit einer „informierten Verweigerung“ aus dem Blickwinkel der Sterbehilfe und Sterbebegleitung, s. Battin, The least worst death, S. 33 ff. 115 Als Vergleich wird der Aufklärungsverzicht des Patienten herangezogen: Dieser setzt für seine Wirksamkeit gewisse Mindestkenntnisse, also zumindest eine Aufklärung über die Diagnose sowie die geplante Therapie voraus, Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 597 f.; Kern, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 55, 65 f.; zum Aufklärungsverzicht s. Kern/Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 118 f. 116 Schief, Die Zulässigkeit postnataler prädiktiver Gentests, S. 101. 117 Damm, MedR 1999, 437, 447; ders., MedR 2011, 7, 14; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 125. 118 van den Daele, Mensch nach Maß?, S. 81. Auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“, BAnz. Nr. 161a v. 29.8.1990, S. 11 unterstreicht, dass „das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowohl ein Recht auf Kenntnis als auch ein Recht auf Unkenntnis der
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Einer grundsätzlichen normativen Parität beider Rechte entspricht allerdings kaum auch eine faktische. Im gesellschaftlichen Normalitätsverständnis erscheint noch immer das Recht auf Wissen, als Optionsrecht, gleichsam als Selbstläufer in Konformität mit dem Entwicklungsprozess der Technik, das Recht auf Nichtwissen, als Abwehr- und Schutzrecht, dagegen als technikaverser, antizyklischer Irrläufer.119 Ferner ist hinsichtlich der Mitteilung von medizinischen Testergebnissen eine vollständige Kongruenz beider Rechte abzulehnen.120 Es griffe zu kurz das Recht auf Nichtwissen als bloßen Verzicht auf die Ausübung von Informationsrechten zu betrachten. Eine solche Interpretation würde seinem Abwehrcharakter nicht hinreichend gerecht. Vielmehr verkörpert die Ausübung des Rechts auf Nichtwissen eine bewusste Entscheidung gegen die Kenntnisnahme der Testergebnisse und damit für die Inkaufnahme des jeweiligen Risikos.121 Die verschiedenen Auswirkungen von Kenntnis und Unkenntnis der Ergebnisse für die Persönlichkeitsentfaltung des Betroffenen, rechtfertigen in unterschiedlichem Maße Eingriffe in die an sich identischen Schutzbereiche beider Grundrechte. Dies lässt sich am Beispiel einer festgestellten Erbkrankheit der getesteten Person gut veranschaulichen: So könnte die Gefahr psychischer Leiden aufgrund des Wissens um die zukünftige Erkrankung höher sein, als die Gefahr psychischer Leiden bedingt durch die Ungewissheit und die Gefahr körperlicher Risiken durch verspäteten Behandlungsbeginn bei Unkenntnis der Erkrankungsprognose. Ein Eingriff in das Recht auf Wissen unterläge in dieser Situation weniger hohen Rechtfertigungsanforderungen, als eine Beschränkung des Rechts auf Nichtwissen.122 5. Zwischenfazit Im Rahmen der Systemmedizin ist das Recht auf Nichtwissen ein potenziell besonders gefährdetes Gut. Durch die Datenanalysen und -auswertungen werden oftmals Informationen über den Gesundheitszustand des Betroffenen offenbart, von denen er bislang keine Kenntnis hatte und auch keine Kenntnis wünscht. Eine Entwertung des Rechts auf Nichtwissen droht in diesem Zusammenhang, sofern der Patient für eine erfolgreiche systemmedizinische Behandlung zukünftig Kenntnis von seiner körperlichen Konstitution benötigte.123 Das Kernproblem der Systemmedizin, wie auch bereits der Gendiagnostik, wird es daher sein, die Balance zwischen dem Recht auf Nichtwissen und dem auf eigenen genetischen Konstitution umfasst“. In diesem Sinne hat der Gesetzgeber, der Rechtsprechung des BGH folgend (BGHZ 162, 1 = MedR 2005, 287), in § 17 GenDG einen Ausschluss für heimliche, nicht konsentierte Abstammungstests normiert. 119 Zu den faktischen Anschlusszwängen der Technikentwicklung, welche die Existenz des Rechts auf Nichtwissen bedrohen, van den Daele, KritV 1991, 257, 258 ff.; Damm, MedR 1999, 437, 447. 120 Vgl. Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 125. 121 Sein spezifischer Charakter als Teil des Rechts auf Beachtung eigener Willensentschließung käme zudem bei einer Interpretation des Rechts auf Nichtwissen als spiegelbildliche Kehrseite von Informationsrechten nicht hinreichend zur Geltung, Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 598 f.; s. auch Beck/Barnikol et al., MedR 2016, 753, 757. 122 Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 125. 123 Vgl. Hardenberg, ZD 2014, 115, 116; Damm, in: FS Laufs, S. 725, 732 f.
A. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
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Wissen zu finden. Es gilt jeweils im Einzelfall zu identifizieren, welche Informationen die Lebensqualität des Betroffenen erhöhen und welche lediglich zu psychischen und physischen Belastungen führen. Die verschiedenen Handlungsoptionen, Vorteile aber auch Belastungen, die mit dem Wissen um systemmedizinische Erkenntnisse einhergehen, ließen sich im Rahmen einer Beratung im Vorfeld der Datenerhebung vermitteln. Als Vorbild könnte hierbei die genetische Beratung i. S. d. § 10 GenDG dienen. Auf Grundlage der erteilten Informationen wäre es dem Betroffenen möglich, eine autonome und für ihn tragbare Entscheidung zu treffen, welche systemmedizinischen Erkenntnisse er zur Kenntnis nehmen will und auf welche er es vorzieht zu verzichten. Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ambivalenz des Wissens ist für den Erfolg der Systemmedizin von grundlegender Bedeutung.124
III. Fazit In einem Zeitalter, in dem der Patient zunehmend nur noch als „Knotenpunkt der Datenströme“125 erscheint, bietet ihm sein Recht auf Nichtwissen die Möglichkeit, sich dennoch eine Nische des Privaten zu erhalten. Der Verzicht auf ein möglichst umfassendes Wissen ist eine besondere Form, Eigenverantwortung zu übernehmen.126 Letztlich geht es hierbei aber mittlerweile nicht mehr lediglich um das Recht auf Nichtwissen, sondern um eine Stufenfolge potenzieller informationeller Rechts- und Pflichtenpositionen. Diese erstreckt sich vom Recht auf Nichtwissen über ein konkurrierendes Recht auf Wissen hin zu einer möglichen „Pflicht zu wissen“ oder „Pflicht zum Wissen“127 und letztlich möglicherweise einer Pflicht zur Wissensoffenbarung gegenüber Dritten. Zur Wahrung der individuellen Selbstbestimmung bedürfen subjektive Rechte, wie das Recht auf Nichtwissen, einer Flankierung durch objektives Recht.128 Es ist Aufgabe des Staates und der Gesellschaft die hierfür erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.129 Die Harmonisierung der informationellen Selbstbestimmung des Einzelnen mit dem systemmedizinischen Ansatz ist durch verschiedene datenschutzrechtliche Regelungen zu gewährleisten.
124
Zu den Aufklärungs- und Beratungspflichten in der Systemmedizin ausführlich unten 3. Kap., B. III. u. C. I. 125 Dabrock, in: Deutscher Ethikrat, Die Vermessung des Menschen – Big Data und Gesundheit, Jahrestagung 2015, S. 119, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/ PDF-Dateien/Veranstaltungen/jt-21-05-2015-simultanmitschrift.pdf (Zugriff: 13.4.2020). 126 Duttge, MedR 2016, 664, 669. 127 Taupitz, in: FS Wiese, S. 583, 599 f. 128 In diesem Sinne bereits Damm, MedR 1999, 437, 448. 129 Duttge, MedR 2016, 664, 669; BMBF-Projektgruppe „Recht auf Nichtwissen“, MedR 2016, 399, 404 f.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Rechtliche Vorgaben für den Umgang mit Daten in der Systemmedizin B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
Eine grundlegende Voraussetzung für die erfolgreiche Integration der Systemmedizin in das Gesundheitssystem ist der hinreichende Schutz der verarbeiteten Daten vor unberechtigten Zugriffen Dritter und damit die Gewährleistung der informationellen Selbstbestimmung der Betroffenen. Die Integrität der erhobenen Daten ist wesentlich für die Akzeptanz und das Vertrauen in die Systemmedizin, was wiederum Voraussetzung für eine hohe Teilnahmebereitschaft ist. Der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts wird ebenso wie der Ausgleich mit Drittinteressen durch verschiedene Regelungen auf EU- und nationaler Ebene gewährleistet: einerseits durch die europäische Datenschutz-Grundverordnung, die grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht genießt, und andererseits durch das BDSG sowie weitergehende spezifische Vorschriften auf Bundes- und Landesebene für den Gesundheitsbereich. Welche Datenschutzregeln im Einzelfall anwendbar sind, bestimmt sich primär nach der Art der zu verarbeitenden Daten. Auf nationaler Ebene ist darüber hinaus von Bedeutung, wer die Daten erhebt und analysiert.130 Eine systematische Auseinandersetzung mit den für die Datenverarbeitung maßgebenden Normen setzt mithin in einem ersten Schritt die Klärung der zentralen Frage voraus, welche Daten im Rahmen der Systemmedizin erhoben werden. Sodann sind die beteiligten Akteure näher zu bestimmen, bevor schließlich die einschlägigen Rechtsquellen selbst eingehend erörtert werden.
I. Art der zu erhebenden Daten Für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn sind zunächst einmal alle personenbezogenen Daten wertvoll. Der Begriff personenbezogene Daten dient hierbei als Oberbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Kategorien von Daten, die im Rahmen der Systemmedizin verarbeitet werden und deren Differenzierung bisweilen Schwierigkeiten bereitet.131 Von gesteigerter Bedeutung sind personenbezogene Daten, die im weitesten Sinne eine gesundheitliche Relevanz aufweisen. Neben biologischen und neuropsychologischen Informationen zählen hierzu auch soziale und genetische Daten
130
Der nationale Gesetzgeber differenziert im BDSG zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen, Kühling/Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 208 f. 131 Die bestehenden Schwierigkeiten hinsichtlich der Herausarbeitung und korrekten Verwendung der grundlegenden Begriffskategorien, insbesondere an der Schnittstelle von Gesundheits- und Datenschutzrecht, zeigen sich exemplarisch in der Entscheidung des BSG zur Weitergabe von Patientendaten durch Leistungserbringer, BSGE 102, 134 = MedR 2009, 685. Umso dringlicher erscheint die Notwendigkeit einer sorgfältigen Analyse und Abgrenzung der einzelnen Termini, Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 30.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
49
sowie Informationen über Umwelteinflüsse.132 Schätzungen zufolge haben rund ein Drittel der weltweit erhobenen Daten einen Gesundheitsbezug.133 Datenkategorien, welche für den weiteren Gang der Untersuchung Relevanz besitzen, seien im Folgenden kurz präsentiert. 1. Gesundheitsdaten In Art. 4 Nr. 15 DS-GVO findet sich eine Legaldefinition des Begriffs Gesundheitsdaten: Es handelt sich um personenbezogene Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen. Ergänzt wird diese Definition durch Erwägungsgrund 35 der DS-GVO, wonach alle Daten die sich auf den Gesundheitszustand einer betroffenen Person beziehen und aus denen Informationen über den früheren, gegenwärtigen und künftigen körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand der betroffenen Person hervorgehen, zu den personenbezogenen Gesundheitsdaten zählen.134 Dies schließt Angaben zu Ablauf und Inhalt einer medizinischen Behandlung (inklusive Informationen zu eingenommenen Medikamenten) sowie die Feststellung, dass eine bestimmte Person mittlerweile genesen oder seit jeher vollständig gesund ist, mit ein.135 Ebenfalls hierzu zählen Informationen über Krankheiten, Behinderungen, Krankheitsrisiken, Vorerkrankungen, klinische Behandlungen oder den physiologischen oder biomedizinischen Zustand der betroffenen Person, vgl. Erwägungsgrund 35 DS-GVO. Die Herkunft der Daten ist nicht von Belang. Die Angaben können von einem Arzt oder sonstigem Angehörigen eines Gesundheitsberufes, einem Krankenhaus oder auch einem Medizinprodukt, wie etwa einem digitalen Blutzuckermessgerät, stammen.136 Bedingt durch den vermehrten Einsatz sog. selftracking-Geräte, wie Fitnessarmbänder oder Ähnliches, wird der Betroffene zukünftig auch vielfach selbst wichtige Daten liefern. Darüber hinaus sind gemäß Erwägungsgrund 35 DS-GVO auch Informationen über die natürliche Person, die im Zuge der Anmeldung für sowie der Erbringung
132
Verbundantrag SysKomp, S. 1; BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2015; Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 614. 133 Finsterbusch/Balzter, FAZ v. 2.2.2013, S. 19. 134 Im deutschen Recht wurden „Angaben über die Gesundheit“ bislang den besonders geschützten „besonderen Arten personenbezogener Daten“ gemäß § 3 Abs. 9 BDSG a. F. zugerechnet, ohne diese jedoch näher zu definieren. Dementsprechend gestaltete sich die Frage, welche Daten im Einzelnen dieser speziellen Kategorie zuzuordnen sind, oft schwierig, vgl. hierzu Simitis, in: Simitis, BDSG, § 3 Rn. 250 ff.; Kühling/Seidel, in: Kingreen/ Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 34 ff. 135 Simitis, in: Simitis, BDSG, § 3 Rn. 260 m. w. N.; auch die Information über einen Arztbesuch ist umfasst, nicht jedoch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Krankenkasse, Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 58; Bergmann/Möhrle/Herb, Datenschutzrecht, Art. 4 DS-GVO Rn. 77, 80. 136 Eg. 35 DS-GVO.
50
2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
von Gesundheitsdienstleistungen im Sinne der Richtlinie 2011/24/EU137 für die natürliche Person erhoben werden, als Gesundheitsdaten zu qualifizieren, sofern die Informationen einen Bezug zum Gesundheitszustand des Betroffenen aufweisen.138 Ferner sind Nummern, Symbole oder Kennzeichen, die einer natürlichen Person zugeteilt wurden, um diese natürliche Person für gesundheitliche Zwecke eindeutig zu identifizieren139 erfasst, vorausgesetzt aus diesen Merkmalen ergeben sich Informationen über den Gesundheitszustand der betroffenen Person.140 Schließlich umfasst der Begriff der Gesundheitsdaten i. S. d. Art. 4 Nr. 15 DSGVO Informationen, die von der Prüfung oder Untersuchung eines Körperteils oder einer körpereigenen Substanz, auch aus genetischen Daten und biologischen Proben, abgeleitet wurden, vgl. Erwägungsgrund 35 DS-GVO.141 Mithin können Gesundheitsdaten zugleich auch genetische und/oder biometrische Daten sein.142 Gemäß Art. 4 Nr. 13 DS-GVO sind genetische Daten i. S. d. Verordnung personenbezogene143 Daten zu den ererbten oder erworbenen genetischen Eigenschaften einer natürlichen Person, die eindeutige Informationen über die Physiologie144 oder die Gesundheit dieser natürlichen Person liefern und insbesondere aus der Analyse einer biologischen Probe145 der betreffenden natürlichen Person gewonnen wurden.146 Art. 4 Nr. 13 DS-GVO erfasst sowohl ererbte beziehungsweise
137
Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.3.2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, ABl. L 88 v. 4.4.2011, S. 45. 138 Wenn bspw. im Rahmen der Anmeldung Anamnesedaten abgefragt werden, Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 57. 139 Eg. 35 DS-GVO. 140 Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 57. 141 Menschliche Körperstoffe, wie Haare, Speichel oder Zähne, sind hingegen nicht als Gesundheitsdaten zu qualifizieren, da ihnen das finale, auf Vermittlung oder Aufbewahrung gerichtete Element fehlt. Sie dienen vielmehr als Grundlage, um durch Untersuchen, Analysieren und Aufzeichnen Gesundheitsdaten zu gewinnen, vgl. Dammann, in: Simitis, BDSG, § 3 Rn. 5. 142 Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 56. 143 Nicht erfasst sind mithin Daten, die ursprünglich zu wissenschaftlichen Forschungszwecken personenbezogen gewonnen, zwischenzeitlich aber anonymisiert worden sind, Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 146 Rn. 20; Hardenberg, ZD 2014, 115, 117; Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 47. Zu der vielfach diskutierten Fragestellung, ob genetische Daten aufgrund ihrer Einzigartigkeit überhaupt anonymisierbar sind, s. bereits die Nachweise oben A. I. 1. b) Fn. 34. 144 Informationen über die physikalischen und biochemischen Vorgänge im menschlichen Organismus ermöglichen Vorhersagen etwa bzgl. des Verhaltens von Stoffwechsel oder Fortpflanzung, Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 49. 145 Analysen biologischer Proben können etwa Chromosomen-, DNS- oder RNS-Analysen oder die Analyse eines anderen Elements, durch die gleichwertige Informationen erlangt werden können, sein, Eg. 34 DS-GVO; s. auch Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 307. 146 Die explizite Normierung genetischer Daten in Art. 4 Nr. 13 DS-GVO ist zu begrüßen. Wurde ihre fehlende Erwähnung in der Aufzählung besonderer Kategorien personenbezogener Daten in der DSRL und im BDSG a. F. doch häufig als „willkürlich, antiquiert und
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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vorgeburtlich erworbene genetische Eigenschaften als auch im Laufe des Lebens erworbene genetische Veränderungen.147 Die Definition der DS-GVO ist damit weiter als die des GenDG. Der Anwendungsbereich des GenDG ist gemäß § 3 Nr. 4 GenDG auf ererbte, während der Befruchtung oder bis zur Geburt erworbene Erbinformationen beschränkt.148 Genetische Daten sind jedoch nicht nur Quelle für Informationen über eine bestimmte natürliche Person, sie ermöglichen aufgrund ihrer Einmaligkeit gegebenenfalls auch erst die Identifizierbarkeit des Einzelnen, etwa anhand des genetischen Fingerabdrucks.149 Der Begriff der biometrischen Daten ist in Art. 4 Nr. 14 DS-GVO legaldefiniert als personenbezogene Daten zu den physischen, physiologischen oder verhaltenstypischen Merkmalen einer natürlichen Person, die mit speziellen technischen Verfahren gewonnen werden und die eindeutige Identifizierung dieser natürlichen Person ermöglichen oder bestätigen. Beispielhaft werden Gesichtsbilder und daktyloskopische Daten150 genannt.151 Diese Informationen über körperliche Merkmale einer Person ermöglichen oder bestätigen deren eindeutige Identifizierung.152 Biometrische Daten haben insoweit unwiderrufliche Auswirkungen auf die Verbindung zwischen Körper und Identität, als sie die Eigenschaften des menschlichen Körpers „maschinenlesbar“ machen und dadurch vielfältige Verwertungsalternativen eröffnen.153 Genetische und biometrische Daten haben insbesondere zwei Gemeinsamkeiten: sie sind für jeden Menschen einzigartig und individualisieren diesen eindeutig.154 unvollständig“ kritisiert, Simitis, in: Simitis, BDSG, § 3 Rn. 258 f. m. w. N.; Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 305. 147 Etwa durch Strahlung hervorgerufene Änderungen, Schreiber, in: Plath, DS-GVO/ BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 48; Bergmann/Möhrle/Herb, Datenschutzrecht, Art. 4 DSGVO Rn. 67. 148 Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 48; zum Anwendungsbereich des GenDG s. auch Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3 GenDG Rn. 1, 4 sowie ausführlich unten III. 2. b) aa). 149 Art. 29-Datenschutzgruppe, WP 91, 2004, 4 f. mit weiteren besonderen Merkmalen genetischer Daten; Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 48; Spyra, GuP 2015, 142, 143. Zu den Besonderheiten genetischer Daten s. auch unten C. IV. 150 Der Begriff Daktyloskopie beschreibt Verfahren zur Auswertung von Fingerabdrücken. Daktyloskopische Daten sind etwa Finger- oder Fußabdrücke, Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Stichwort: Daktyloskopie. 151 Weitere typische Beispiele für biometrische Daten sind die Augennetzhaut, Stimme, Venenstruktur, aber auch spezielle Fähigkeiten oder sonstige Verhaltensmerkmale (z. B. handgeschriebene Unterschrift, Tastenanschlag, charakteristische Gangart oder Sprechweise), Art. 29-Datenschutzgruppe, WP 136, 2007, 9; Bergmann/Möhrle/Herb, Datenschutzrecht, Art. 4 DS-GVO Rn. 70 f. 152 Biometrische Reisepässe und Personalausweise beinhalten bspw. Gesichtsbild- und Fingerabdruckdaten, die zur computergestützten eindeutigen Identifizierung und Authentifizierung genutzt werden können, Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 52. Lichtbilder gelten jedoch nur als biometrische Daten i. S. d. Verordnung, sofern sie mit speziellen technischen Mitteln verarbeitet werden, welche die eindeutige Identifizierung oder Authentifizierung einer natürlichen Person ermöglichen, Eg. 51 DS-GVO. 153 Art. 29-Datenschutzgruppe, WP 193, 2012, 4 mit weiteren Angaben auch zur Herkunft biometrischer Daten. 154 Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 305.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Ebenso wie genetische und biometrische Daten zählen auch Gesundheitsdaten zu den besonderen Kategorien personenbezogener Daten, die nur in den engen Grenzen des Art. 9 DS-GVO verarbeitet werden dürfen.155 Der Terminus Gesundheitsdaten fungiert hierbei als Oberbegriff für genetische und biometrische Daten.156 Mit seinem weitreichenden Begriffsverständnis gießt der europäische Normgeber die Rechtsprechung des EuGH, wonach alle Informationen, welche die Gesundheit, körperlich wie auch psychisch, betreffen, Daten über die Gesundheit sind, in Gesetzesform.157 2. Sozialdaten Im Rahmen der Systemmedizin werden neben Gesundheitsdaten auch sog. Sozialdaten erhoben. Gemäß § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X sind Sozialdaten personenbezogene Daten,158 die von einer in § 35 SGB I genannten Stelle im Hinblick auf ihre Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch verarbeitet werden. Der Gesetzgeber übernimmt in dieser Legaldefinition zunächst den Begriff der personenbezogenen Daten aus Art. 4 Nr. 1 DS-GVO.159 Anschließend begrenzt er mit Verweis auf die in § 35 SGB I genannten Stellen den Anwendungsbereich auf einen der Sozialverwaltung gemäßen engeren Rahmen. Sozialdaten sind mithin eine besonders qualifizierte Form personenbezogener Daten.160
155
Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 13. Ausführlich zur Verarbeitung von Gesundheitsdaten s. unten III. 156 Vgl. Schreiber, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 4 DS-GVO Rn. 56; Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 220 vertreten hingegen die Ansicht, dass genetische Daten grundsätzlich keine Gesundheitsdaten sind. 157 EuGH EuZW 2004, 245, 249 (Tz. 50) = Slg. 2003, I–12971 – Lindqvist; Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 289. 158 Juristische Personen, Personenmehrheiten und -gruppen sind von der Begriffsdefinition mithin grundsätzlich ausgeschlossen. Einzelne Mitglieder der juristischen Person bzw. eine oder mehrere hinter der juristischen Person stehende natürliche Personen sind vom Schutzbereich des § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X hingegen erfasst, sofern sich die Angaben über die Personengemeinschaft auch auf sie beziehen, d. h. auf sie „durchschlagen“, Leopold, in: KassKomm, SGB X, § 67 Rn. 11; vgl. auch BGH NJW 1986, 2505, 2506. Die Daten von juristischen Personen unterfallen jedoch dem Schutzbereich des § 67 Abs. 2 S. 2 SGB X, soweit es sich um betriebs- oder geschäftsbezogene Daten mit Geheimnischarakter handelt. Gemäß § 35 Abs. 4 SGB I stehen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Sozialdaten gleich, umfangreiche Aufzählung möglicher Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse bei Bieresborn, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, § 67 Rn. 14; s. auch Leopold, in: KassKomm, SGB X, § 67 Rn. 42. 159 Entgegen der Grundsätze der DS-GVO sind nach dem SGB I auch Daten Verstorbener geschützt, allerdings mit verringerter Intensität, vgl. § 35 Abs. 5 SGB I, Leopold, in: KassKomm, SGB X, § 67 Rn. 8; vgl. auch Kollhosser, in: FS Henckel, S. 463, 468 f.; BSGE 59, 76, 79 = NJW 1986, 3105, 3106; Schöning, DAngVers 1994, 201, 202. Ausführlich zum Begriff der personenbezogenen Daten s. oben A. I. 1. a). 160 Diering/Seidel, in: Diering/Timme, LPK-SGB X, 4(2016), § 67 Rn. 2; Leopold, in: KassKomm, SGB X, § 67 Rn. 39.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
53
Die personenbezogenen Daten müssen von einer in § 35 Abs. 1 SGB I aufgezählten Stelle verarbeitet werden.161 Der Status des Sozialdatums bleibt hierbei auch nach Übermittlung an andere Behörden erhalten, vgl. § 78 SGB I. Da private Leistungserbringer162 in § 35 Abs. 1 SGB I keine Erwähnung finden, verarbeiten diese keine Sozialdaten.163 Zudem unterfallen nur solche Daten § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X, die von den in § 35 Abs. 1 SGB I genannten Leistungsträgern im Hinblick auf ihre Aufgaben nach dem SGB, d. h. im funktionalen Zusammenhang,164 verarbeitet werden. Die Daten müssen folglich für Zwecke der sozialrechtlichen Aufgabenerfüllung, mithin in der spezifisch sozialrechtlichen Funktion der involvierten Stelle,165 verwendet werden.166 Eine erschöpfende Aufzählung der denkbaren Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse einer Person, die als Sozialdaten zu qualifizieren sind, ist nicht möglich.167 Erfasst sind beispielsweise Name, Alter, Staatsangehörigkeit, Einkommen, Arbeitgeber, ärztliche Behandlungen einschließlich Diagnosen, Kon-
161
Stellen nach § 35 Abs. 1 SGB I sind im Wesentlichen die Sozialleistungsträger, wie sie in den §§ 12 und 18–29 SGB I benannt werden, also alle Versicherungsträger in der GKV, § 21 Abs. 2 SGB I. Eine Aufzählung weiterer Adressaten des in § 35 Abs. 1 S. 1 SGB I normierten Geheimhaltungsanspruchs findet sich in § 35 Abs. 1 S. 4 SGB I. Die Aufzählung ist abschließend und nicht analogiefähig, BSGE 102, 134, 141 = MedR 2009, 685, 688; Steinbach, in: Hauck/Noftz, SGB I, K § 35 Rn. 20 ff.; Kircher, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 203. 162 Zum Begriff der Leistungserbringer sogleich unten B. I. 3. 163 BSGE 102, 134 = MedR 2009, 685. Diese Daten werden jedoch zu Sozialdaten, wenn sie von einer in § 35 Abs. 1 SGB I genannten Stelle beigezogen werden. So geschieht es etwa bei vom Arzt, als privatem Leistungsträger, erhobenen Patientendaten, die von einem Sozialversicherungsträger beigezogen werden, Leopold, in: KassKomm, SGB X, § 67 Rn. 40; Bieresborn, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, § 67 Rn. 10b. 164 Krahmer, in: Krahmer/Trenk-Hinterberger, SGB I, § 35 Rn. 16; Meißner, in: Krahmer, Sozialdatenschutz, § 67 SGB X Rn. 6; Diering/Seidel, in: Diering/Timme, LPK-SGB X, 4 (2016), § 67 Rn. 6; Steinbach, in: Hauck/Noftz, SGB I, K § 35 Rn. 21. 165 Dies ist in der Regel der Fall bei der Feststellung und Erbringung einer Leistung nach dem für die jeweilige Stelle einschlägigen Buch des SGB, Binne, NZS 1995, 97, 98; Bieresborn, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, § 67 Rn. 11. Werden die Daten hingegen zu arbeitsrechtlichen oder fiskalischen Zwecken verarbeitet, ist der funktionale Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung zu verneinen, Stähler, in: Krahmer, Sozialdatenschutz, 3 (2011), § 67 SGB X Rn. 7. 166 Auch wenn der Aufgabenbegriff in § 67 Abs. 3 SGB X näher ausgeführt wird, ist in diesem Zusammenhang strittig, wie festzustellen ist, ob der Datenumgang im konkreten Fall tatsächlich zur sozialrechtlichen Aufgabenerfüllung erfolgt. Nach e. A. ist der objektive Zweck des Handelns zu ermitteln, Leopold, in: KassKomm, SGB X, § 67 Rn. 41; Stähler, in: Krahmer, Sozialdatenschutz, 3(2011), § 67 SGB X Rn. 7. Nach a. A. ist die Sichtweise der involvierten Behörde maßgebend, BSGE 90, 162, 170; Bieresborn, in: v. Wulffen/ Schütze, SGB X, § 67 Rn. 11. Schöning plädiert grundsätzlich für einen engen Aufgabenbegriff: nur die Daten seien in das Sozialgeheimnis einzubeziehen, die „mit der eigentlichen Kernaufgabe“ des jeweiligen Leistungsträgers zusammenhingen, Schöning, DAngVers 1994, 201, 202. 167 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 38; Pickel, MDR 1984, 885, 886; Diering/Seidel, in: Diering/Timme, LPK-SGB X, 4(2016), § 67 Rn. 3.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
fession oder Krankenkassenzugehörigkeit.168 Anhand dieser beispielhaften Aufzählung wird deutlich, dass Sozialdaten wie medizinische Diagnosen oder behandelnde Ärzte zugleich als Gesundheitsdaten zu qualifizieren sein können. Es gibt somit einen begrifflichen Überschneidungsbereich von Sozial- und Gesundheitsdaten. Angaben betreffend den Arbeitgeber oder die Religionszugehörigkeit weisen hingegen keinen Bezug zur Gesundheit auf. Sie unterfallen daher nur der Kategorie Sozialdaten nicht auch der Kategorie Gesundheitsdaten.169 3. Leistungsdaten Ferner können auch sog. Leistungsdaten von Relevanz sein für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn. Hierbei handelt es sich um Daten, welche die Leistungserbringer zu Abrechnungszwecken, also aufgrund der durch sie erbrachten Leistungen gemäß §§ 294 ff. SGB V den Krankenkassen, den Kassenärztlichen Vereinigungen oder den mit der Datenverarbeitung beauftragten Stellen übermitteln.170 Zur Kategorie der Leistungserbringer zählen die zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen und ermächtigten Ärzte (§ 95 Abs. 1 SGB V), die Zahnärzte (§ 285 Abs. 4 SGB V), die ärztlich geleiteten Einrichtungen (§ 95 Abs. 1 SGB V), die Krankenhäuser sowie die übrigen Leistungserbringer wie etwa Apotheker, Masseure und Krankengymnasten (§§ 69, 124–134 SGB V).171 Die in § 294 SGB V normierte Aufzeichnungs- und Übermittlungspflicht der Leistungserbringer ist auf die zur Aufgabenerfüllung durch die Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen notwendigen Angaben, die im Zusammenhang mit der Erbringung, der Verordnung sowie der Abgabe von Versicherungsleistungen entstehen, beschränkt.172 Die Beschränkung der Verpflichtungen aus § 294 SGB V auf die Aufgabenerfüllung der Krankenkassen und Kassenärztlichen 168 Diering/Seidel, in: Diering/Timme, LPK-SGB X, 4(2016), § 67 Rn. 3; Bieresborn, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, § 67 Rn. 5, 7 jeweils mit weiteren Beispielen. 169 Der Abschluss einer Versicherung kann je nach Art der Versicherung (Zahnzusatzoder Brandschutzversicherung) auch als Gesundheitsdatum zu qualifizieren sein, Kühling/ Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 39. 170 Dieses Prozedere ergibt sich aus dem Umstand, dass die Krankenkassen nach dem Sachleistungsprinzip, § 2 Abs. 2 S. 1, 3 SGB V, ihre Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten grundsätzlich nicht durch Eigeneinrichtungen (§ 140 SGB V) erfüllen. Vielmehr kommen sie ihrer Leistungspflicht durch Vertragsschlüsse mit Leistungserbringern (§ 2 Abs. 2 S. 3 SGB V) nach, die dann die vertraglich vereinbarten Leistungen bewirken. Zur Befriedigung des hieraus resultierenden Vergütungsanspruchs der Leistungserbringer bedarf es der Abrechnung und Übermittlung der benötigten leistungsbezogenen Daten, Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 69 Rn. 4; Fischinger/Monsch, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 294 SGB V Rn. 1; Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 42. 171 U. Schneider, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, SGB V, § 294 Rn. 7; zum Begriff Leistungserbringer s. Becker/Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 69 Rn. 25 f. 172 Eine weitergehende Speicherung und Übermittlung versichertenbezogener Daten bedarf einer gesonderten Rechtsgrundlage, BSGE 102, 134 = MedR 2009, 685; Fischinger/ Monsch, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 294 SGB V Rn. 4; Michels, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 294 Rn. 2.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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Vereinigungen verdeutlicht, dass lediglich die Aufgaben nach dem SGB V eine Datenmitteilung zu rechtfertigen vermögen, vgl. §§ 284, 285 SGB V.173 Das Spektrum, aus dem Angaben von § 294 SGB V erfasst sind, erstreckt sich auf die gesamte Leistungserbringung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die zu übermittelnden Angaben sowie die Aufgaben der Datenempfänger werden in den §§ 294a ff. SGB V konkretisiert.174 Auch Leistungs- und Gesundheitsdaten weisen somit eine inhaltliche Schnittmenge auf: beide Datenkategorien umfassen Angaben über den Gesundheitszustand des Patienten und erbrachte Gesundheitsdienstleistungen. Um als Leistungsdaten eingestuft zu werden, müssen diese Informationen jedoch zusätzlich einem bestimmten Zweck dienen, nämlich der Abrechnung der Leistungserbringer gegenüber den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen. Mit der Übermittlung der Leistungsdaten vom Leistungserbringer an den Leistungsträger, in der Regel die Krankenkassen, werden diese zu Sozialdaten. Sozialdaten sind nur solche Einzelangaben, die von einer in § 35 Abs. 1 SGB I genannten Stelle verarbeitet werden, § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X. Die Leistungserbringer gehören nicht zu den in § 35 Abs. 1 SGB I aufgezählten Stellen. Ab dem Zeitpunkt der Übermittlung werden die Angaben vom jeweiligen Leistungsträger verarbeitet und erfüllen somit die Kriterien des § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X. Folglich greifen ab der Übermittlung die Rechtsfolgen des bereichsspezifischen Sozialdatenschutzes.175 4. Sonstige Begriffe Schließlich ist eine Abgrenzung zu anderen im Zusammenhang mit Gesundheitsdaten verwendeten Begriffen vorzunehmen, die keine spezifisch datenschutzrechtliche Relevanz besitzen. Hierbei spielen insbesondere die Termini Patientendaten, Versorgungsdaten, Behandlungsdaten und Untersuchungsdaten eine Rolle.176 Dem Begriff des Patientendatums kommt im Wesentlichen eine zivilrechtliche Funktion zu. Gemäß § 630f Abs. 2 S. 1 BGB gebietet die ärztliche Dokumentationspflicht177 in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und Eingriffen einschließlich ihren Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Die Aufzeichnung dieser Patientendaten soll in erster Linie eine sachgerechte therapeutische Behandlung und Weiter173
Eine Datenübermittlung aus sonstigen Gründen (etwa nach Berufsrecht) ist ausgeschlossen, U. Schneider, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, SGB V, § 294 Rn. 8. 174 U. Schneider, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, SGB V, § 294 Rn. 8. In § 295 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V ist bspw. die Mitteilung der erbrachten ärztlichen Leistungen einschließlich der Diagnosen vorgesehen. 175 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 42 f.; U. Schneider, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, SGB V, § 294 Rn. 8. Zu den bereichsspezifischen Regelungen des Sozialdatenschutzes s. unten B. III. 2. b) bb). 176 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 44. 177 Eingehend zur ärztlichen Dokumentationspflicht s. Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 43 ff.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
behandlung gewährleisten. Zudem dient sie der Rechenschaftslegung des Arztes gegenüber seinem Patienten.178 Darüber hinaus können aus den Patientendaten krankenversicherungsrechtliche Leistungsdaten,179 die nach §§ 294 ff. SGB V zu Abrechnungszwecken an die Kassenärztlichen Vereinigungen und Sozialversicherungsträger zu übermitteln sind, generiert werden.180 In der Literatur findet sich zudem der Begriff Versorgungsdaten. Hierbei handelt es sich ebenfalls um personenbezogene Daten des Patienten, wie etwa Diagnosen oder Therapien, die im Rahmen der medizinischen Behandlung vom Arzt erhoben, verarbeitet und genutzt werden. Versorgungsdaten dienen somit ebenso wie Patientendaten der medizinischen Versorgung des Patienten.181 Die Begriffe Versorgungsdaten und Patientendaten können mithin synonym verwendet werden. Den Termini Untersuchungs- und Behandlungsdaten ist keine eigenständige inhaltliche Bedeutung zuzuschreiben, sie bilden vielmehr Teilmengen beziehungsweise Unterfälle der Patientendaten.182 Zusammenfassend ist festzustellen, dass, auch wenn Patientendaten die Grundlage für die Herstellung von Leistungsdaten bilden und die Datensätze inhaltliche Überschneidungen aufweisen, beide Kategorien von Daten datenschutzrechtlich auseinander gehalten werden müssen, da sie unterschiedlichen Zwecken dienen. Während Leistungsdaten der Abrechnung von Leistungen der Leistungserbringer dienen, steht bei Patientendaten die Sicherung und Dokumentation einer erfolgreichen Behandlung des Patienten im Vordergrund.183 Patientendaten haben zudem eine gemeinsame Schnittmenge mit den Sozialdaten. Zur Kategorie der Sozialdaten zählen neben Leistungsempfängerdaten aber auch personenbezogene Daten über Ärzte und andere Leistungserbringer in den Händen der verantwortlichen Stellen i. S. d. § 35 Abs. 1 SGB I zur Erfüllung einer Aufgabe nach dem SGB, beispielsweise der Wirtschaftlichkeitsprüfung, § 106 SGB V.184 Im Anwendungsbereich der DS-GVO bilden Patientendaten keine eigenständige Datenkategorie, sondern gehören zur Kategorie der Gesundheitsdaten. 5. Fazit Abschließend ist festzuhalten, dass vier wichtige datenschutzrechtlich relevante Begriffe zu trennen sind: die personenbezogenen Daten i. S. d. Art. 4 Nr. 1 DS-
178
BT-Drs. 17/10488, S. 25 f.; Katzenmeier, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 630f Rn. 3 f. m. w. N. 179 Zum Begriff der Leistungsdaten s. oben B. I. 3. 180 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 44. 181 Roßnagel/Hornung/Jandt, Teil-Rechtsgutachten zu den datenschutzrechtlichen Fragen der medizinischen Forschung, S. C7. 182 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 45. 183 Vgl. Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 44 f.; Roßnagel/Hornung/Jandt, Teil-Rechtsgutachten zu den datenschutzrechtlichen Fragen der medizinischen Forschung, S. C8. 184 Kircher, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 257.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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GVO als Oberbegriff sowie die Unterkategorien Gesundheitsdaten i. S. d. Art. 4 Nr. 15 DS-GVO, Sozialdaten i. S. d. § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X und Leistungsdaten. Aufgrund der verschiedenartigen Charakteristika der einzelnen Datentypen ist der Umgang mit diesen Daten in unterschiedlichen Vorschriften geregelt. So finden sich in der DS-GVO und dem BDSG sowohl allgemeine Vorschriften für den Umgang mit personenbezogenen Daten als auch besondere für Gesundheitsdaten. Der Sozialdatenschutz ist grundlegend im SGB I und X geregelt. Für Leistungsdaten gelten die §§ 294 ff. SGB V.
II. Involvierte Protagonisten und ihre Interessen an den Daten Die Zahl der beteiligten Protagonisten, die ein Interesse an den im Rahmen der Systemmedizin verarbeiteten Daten und den hieraus gewonnenen Erkenntnissen haben, nimmt stetig zu. Diese Entwicklung ist auf die wachsende Bedeutung der erhobenen Daten, welche deren Wertsteigerung bedingt, zurückzuführen.185 Nachfolgend seien zunächst die klassischen Hauptakteure im Gesundheitsbereich inklusive ihrer Interessen in Bezug auf die Daten vorgestellt, bevor anschließend die neuen Interessenten präsentiert werden. Hierbei kann vielfach auf Überlegungen zur individualisierten Medizin zurückgegriffen werden. 1. Traditionelle Protagonisten im Gesundheitswesen Eine Besonderheit des Gesundheitssektors ist seine multipolare Grundstruktur. Diese übt wesentlichen Einfluss auf die datenschutzrechtlichen Zusammenhänge aus. Von der Datenerhebung über die Datenanalyse bis hin zur Nutzung der erzielten Erkenntnisse sind oftmals zahlreiche Entitäten (potenziell) beteiligt. Diese weisen mitunter komplizierte Beziehungsgeflechte auf, die der Mannigfaltigkeit gesundheitsrelevanter Datenumgangsprozesse und der strukturellen Komplexität vieler Referenzgebiete insgesamt, geschuldet sind.186 In organisatorischer Hinsicht ist im Gesundheitswesen zwischen drei Kategorien von Protagonisten zu differenzieren:187 Patient, Leistungserbringer und Leistungsträger. Während der Patient Empfänger der Gesundheitsdienstleistungen und hinsichtlich des Umgangs mit personenbezogenen Daten Betroffener ist, erbringen die Leistungserbringer,188 wie der Name bereits vermuten lässt, die gesundheitsbezogenen Leistungen. Gegenüber den Leistungsträgern können die erbrachten Gesundheitsdienstleistungen wiederum (mittelbar oder unmittelbar) abgerechnet werden.189
185
Eine ähnliche Entwicklung war auch bereits bei der individualisierten Medizin zu beobachten, Spyra, GuP 2015, 142, 145. 186 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 50. 187 Vgl. hierzu auch die Akteursbeziehungen im privaten Versicherungssektor sowie im Arbeitsrecht, Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 54 f.; Washausen, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 372 ff. bzw. S. 408 ff. 188 Zum Begriff des Leistungserbringers s. auch bereits oben B. I. 3. 189 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 50 f.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
In der Sphäre des jeweiligen Akteurs existieren meist mehrere potenziell beteiligte Entitäten, die Zugang zu personenbezogenen Daten haben oder wünschen.190 a) Patient Der Patient ist in erster Linie Datenlieferant. Im Rahmen der medizinischen Behandlung werden vielfältige Daten zu seinem aktuellen Gesundheitszustand, wie Blutdruckwerte, Körpergröße oder Gewicht, erhoben. Zudem ist eine Entwicklung hin zu einer digitalen Selbstvermessung, sog. Quantified Self, zu beobachten; mittels sog. self-tracking-Geräte, wie beispielsweise Blutzuckermessgeräte oder Schrittzähler, überwacht der Patient verschiedentliche Körperfunktionen. Über die Sphäre des Patienten gelangen aber auch zahlreiche Personen, die streng genommen nicht Teil des Krankenversicherungssystems und insbesondere nicht Teil der Arzt-Patient-Beziehung sind, an gesundheitsrelevante Daten des Betroffenen. So erhalten etwa Sportverbände und -vereine, die Fitnesstests durchführen oder eine Sportverletzung protokollieren, Zugang zu den Gesundheitsdaten ihrer Mitglieder. Des Weiteren ist an Behörden und Einrichtungen zu denken, die gesundheitsbezogene Aufgaben wahrnehmen, beispielsweise Gesundheitsämter, das Robert-Koch-Institut, welches insbesondere für die Krankheitsüberwachung und -prävention zuständig ist, oder die Gendiagnostik-Kommission (GEKO), deren Geschäftsstelle am Robert-Koch-Institut angesiedelt ist.191 Das Hauptaugenmerk des Patienten in Bezug auf die über ihn verarbeiteten Daten richtet sich auf deren Nutzung zu seiner bestmöglichen medizinischen Behandlung. Sein Interesse ist auf eine exakte Diagnose gerichtet, welche die Auswahl einer maßgeschneiderten Therapie mit geringen Nebenwirkungen ermöglicht.192 Zugleich ist ihm daran gelegen, dass seine Daten vor Missbrauch geschützt sind.193 b) Leistungserbringer Die beteiligten Entitäten in der Sphäre der Leistungserbringer sind ebenfalls zahlreich. Zum einen gehören hierzu die niedergelassenen Ärzte194 sowie die in Krankenhäusern oder Medizinischen Versorgungszentren angestellten Ärzte. Unabhängig von ihrer Trägerschaft, privat, kirchlich oder öffentlich, zählen auch Krankenhäuser zur Kategorie der Leistungserbringer. Zum anderen sind Akteure erfasst, die keine ärztlichen Tätigkeiten ausüben, wie etwa Ergotherapeuten, Augenopti190
Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 51 ff. Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 51 f. 192 Vgl. Pommerening, in: Niederlag/Lemke/Rienhoff, Personalisierte Medizin & Informationstechnologie, S. 239, 240; Spyra, GuP 2015, 142, 145; Digital-Gipfel, Smart Data im Gesundheitswesen, 2017, S. 4. 193 Vgl. Spyra, GuP 2015, 142, 145; Digital-Gipfel, Smart Data im Gesundheitswesen, 2017, S. 4. Insbesondere durch die Weitergabe der Daten an Arbeitgeber oder Versicherungsgesellschaften könnten sich negative Konsequenzen für den Betroffenen ergeben, s. zur Diskriminierungsgefahr im privaten Versicherungssektor unten C. I.–III. 194 Die auf unterschiedliche Fachgebiete spezialisiert sind, wie bspw. Gynäkologie, Augenheilkunde oder Orthopädie, Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 52. 191
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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ker, Hebammen, Apotheken oder (private) genetische Labors, in denen genetische Untersuchungen zur Abstammungsklärung durchgeführt werden. Zugang zu Gesundheitsdaten haben darüber hinaus Verbände oder andere Zusammenschlüsse einzelner Leistungserbringer, wie zum Beispiel die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen der einzelnen Bezirke195 sowie deren Dachorganisation die Kassen(zahn)ärztliche Bundesvereinigung196 oder auch Ärztenetzwerke beziehungsweise Gesundheitsnetze197.198 Vordergründiges Interesse der Leistungserbringer ist die erhöhte Gewissheit und Individualisierung hinsichtlich Diagnostik und Therapie und eine damit einhergehende Verbesserung des Behandlungserfolgs mithilfe der erhobenen Daten. Zudem ist ihnen daran gelegen die personenbezogenen Daten ausreichend zu sichern, um das vertrauensvolle Arzt-Patient-Verhältnis nicht zu beeinträchtigen und ihrer Verschwiegenheitsverpflichtung,199 § 9 Abs. 1 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte200 (MBO-Ä), nachzukommen.201 c) Leistungsträger Auf Seiten der Leistungsträger sind zunächst die Träger der Krankenversicherung, die gesetzlichen und privaten Krankenkassen, zu denen die Patienten in einem Versicherungsverhältnis stehen, zu nennen. Daneben gibt es viele öffentlichrechtliche Leistungsträger, beispielsweise Unfallversicherungsträger, Pflegekassen oder Gemeinden als kommunale Träger, soweit gesundheitsrelevante Bereiche tangiert sind. Ferner existiert auch in der Sphäre der Leistungsträger eine große Anzahl regionaler und bundesweiter Verbände, etwa die Landesverbände der Pflegekassen oder der Spitzenverband Bund der Krankenkassen.202 Das Interesse der Leistungsträger an den erhobenen Daten ist primär ein wirtschaftliches. Sie erhoffen sich, dass aufgrund der aus den Daten gewonnenen medizinischen Erkenntnisse weniger unnötige oder unwirksame Therapien ver-
195
Es gibt 17 Kassenärztliche Vereinigungen in Deutschland, in jedem Bundesland eine. Eine Ausnahme bildet Nordrhein-Westfalen, wo mit der KV Nordrhein und der KV Westfalen-Lippe zwei Vereinigungen ansässig sind, vgl. http://www.kbv.de/html/432.php (Zugriff: 13.4.2020). 196 Für weiterführende Informationen zu Organisation und Aufgaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung s. http://www.kbv.de/html/ (Zugriff: 13.4.2020). 197 Ziel dieser Zusammenschlüsse ist die Steigerung der Qualität und Wirtschaftlichkeit von Gesundheitsleistungen durch gezielte Optimierung und Kooperation von Leistungserbringern, Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 53. 198 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 52 f. 199 Zur ärztlichen Schweigepflicht näher unten 3. Kap., C. II. 200 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) 1997 in der Fassung der Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt, abrufbar unter https://www.bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/muster-berufsordnung-aerzte/ muster-berufsordnung/ (Zugriff: 13.4.2020). 201 Vgl. Spyra, GuP 2015, 142, 145; Pommerening, in: Niederlag/Lemke/Rienhoff, Personalisierte Medizin & Informationstechnologie, S. 239, 241. 202 Kühling/Seidel, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 53 f.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
schrieben werden, was die Behandlungskosten senken würde.203 Gleichzeitig spekulieren die Leistungsträger auf mehr Informationen über ihre Versicherten, einschließlich möglicher Risikoprofile auch für andere Erkrankungen.204 2. Innovative Akteure Neben den klassischen Hauptakteuren im Gesundheitswesen ruft die Systemmedizin weitere Protagonisten auf den Plan. Hierzu zählen wissenschaftliche Forschungseinrichtungen, welche mithilfe sog. Omics-Technologien große medizinisch relevante Datenmengen verarbeiten. Die Analyse der erhobenen Daten soll Erkenntnisse über die Entstehung und Behandlung von Krankheiten liefern, auf deren Grundlage wiederum neuartige Therapien und maßgeschneiderte Präventionsmaßnahmen entwickelt werden können.205 Für aussagekräftige Forschungsergebnisse sind die Wissenschaftler auf die Verfügbarkeit einer Vielzahl von Daten angewiesen. Da den Forschungseinrichtungen für ihre Arbeit häufig finanzielle Mittel fehlen, kooperieren sie mit privaten Unternehmen.206 Kooperationspartner sind zum einen Pharmakonzerne und Medizinproduktehersteller, als klassische Vertreter des Gesundheitssektors, zum anderen entdecken aber auch zunehmend Unternehmen aus fachfremden Branchen den Gesundheitsmarkt als lukratives Geschäftsfeld.207 Mithilfe der wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen sich etwa innovative Produkte entwickeln, welche die Erschließung neuer Marktsegmente ermöglichen.208 Zudem unterstützen insbesondere IT-Konzerne die Forschungseinrichtungen mit leistungsstarken Datenbanksystemen oder Methoden zur Datenkompression.209 Grundlage, der von den Unternehmen entwickelten Lösungen und Produkte, sind die personenbezogenen Daten des Patienten beziehungsweise Verbrauchers. Die
203
Vgl. Pommerening, in: Niederlag/Lemke/Rienhoff, Personalisierte Medizin & Informationstechnologie, S. 239, 241; Spyra, GuP 2015, 142, 146. 204 Zur Diskriminierungsgefahr aufgrund systemmedizinischer Erkenntnisse im privatrechtlichen Versicherungssektor s. unten C. I.–III. 205 S. hierzu bereits oben 1. Kap., B. II. 206 Spyra, GuP 2015, 142, 146. 207 Es handelt sich oftmals um Unternehmen aus der Computer- und Softwarebranche, bspw. das amerikanische Schwergewicht IBM oder der deutsche Anbieter SAP AG, oder auch Haushalts- und Unterhaltungselektronikhersteller, wie das deutsche Unternehmen Siemens oder der niederländische Hersteller Philips, Finsterbusch/Balzter, FAZ v. 2.2.2013, S. 19. 208 So hat etwa das französische Unternehmen Sanofi gemeinsam mit einem amerikanischen Partner ein Blutzuckermessgerät entwickelt, welches durch die Verbindung mit dem IPhone die Verwaltung der Messwerte per App ermöglicht, Finsterbusch/Balzter, FAZ v. 2.2.2013, S. 19. 209 Der deutsche Konzern SAP AG hat bspw. das Datenbanksystem Hana entwickelt, mit dem in kürzester Zeit umfangreiche Datenmengen erfasst und analysiert werden können, Finsterbusch/Balzter, FAZ v. 2.2.2013, S. 19.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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Unternehmen handeln allerdings nicht aus altruistischen Motiven, vielmehr stehen finanzielle Interessen im Vordergrund.210 Eine weitere Gruppe von Protagonisten, die ein Interesse an den im Rahmen der Systemmedizin erhobenen Daten hat, sind private Versicherungsgesellschaften, Arbeitgeber und staatliche Stellen.211 Während die Versicherungsunternehmen anhand der Informationen über den Gesundheitszustand der Versicherungsbewerber ihre Risikokalkulation erstellen,212 ist dem einzelnen Arbeitgeber daran gelegen möglichst leistungsfähige Arbeitnehmer zu beschäftigen.213 Für staatliche Einrichtungen sind die personenbezogenen Daten im Hinblick auf eine erleichterte Strafverfolgung oder auch Identitätsfeststellungen von großem Interesse.214 3. Fazit Bei der Systemmedizin sind mithin zahlreiche Akteure potenziell beteiligt, die auf große Mengen teilweise höchst intimer Daten Zugriff erhalten oder begehren. Die jeweils verfolgten Interessen sind unterschiedlicher Natur und häufig gegenläufig. Ein besonderes Augenmerk ist auf die Interessen des Patienten zu legen. Zur Wahrung seiner informationellen Selbstbestimmung sollte er zu jeder Zeit die Hoheit über seine personenbezogenen Daten innehaben. Das einzelne Individuum steht im Zentrum des systemmedizinischen Ansatzes.
III. Rechtsquellen Im Anschluss an die Erörterung, welche Daten im Rahmen der Systemmedizin von wem potenziell verarbeitet werden, sind nun die einschlägigen Rechtsquellen näher zu untersuchen. Hierbei ist zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen deutschen Recht zu differenzieren. 1. Unionsrecht Die maßgeblichen datenschutzrechtlichen Normen des Unionsrechts finden sich in der am 24. Mai 2016 in Kraft getretenen DS-GVO.215 Die Verordnung gilt seit dem 25. Mai 2018 in allen Mitgliedsstaaten der EU unmittelbar (Art. 99 DS-GVO,
210
Vgl. Spyra, GuP 2015, 142, 146. „Die alternde Gesellschaft verspricht ein Multimilliardengeschäft.“, Pommerening, in: Niederlag/Lemke/Rienhoff, Personalisierte Medizin & Informationstechnologie, S. 239. 211 Vgl. Spyra, GuP 2015, 142, 146. 212 Vgl. Lindner, MedR 2007, 286, 290; ausführlich hierzu unten C. I.–III. 213 Vgl. Leopoldina et al., Stellungnahme Individualisierte Medizin, 2014, S. 72; Lindner, MedR 2007, 286, 290. 214 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Humanbiobanken für die Forschung, 2010, S. 15. 215 Die Kompetenz der EU zum Erlass der DS-GVO ergibt sich aus Art. 16 Abs. 2 S. 1 AEUV, Eg. 12 DS-GVO; Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 9, 28; Kühling/Martini et al., Die Datenschutzgrundverordnung und das nationale Recht, S. 4; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 1 Rn. 20; krit. hinsichtlich der Kompetenz der Union Ronellenfitsch, DuD 2012, 561.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV216) und löst die bisherige Datenschutz-RL 95/46/EG (DSRL) ab.217 Als Weiterentwicklung der DSRL baut die DS-GVO auf deren Terminologie und Systematik auf, sodass hinsichtlich Auslegungsfragen in vielen Fällen auf die Richtlinie und die dazu ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann.218 Die datenschutzrechtlichen Vorgaben der DS-GVO gelten für die Datenverarbeitung im Rahmen der Systemmedizin, soweit diese vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst ist. Das Verhältnis der DS-GVO zu nationalem Datenschutzrecht wird lediglich in den Fallkonstellationen relevant, in denen die Verordnung anwendbar ist.219 Es ist daher sinnvoll, zunächst den Anwendungsbereich der Verordnung zu erörtern. a) Anwendungsbereich Regelungsgegenstand und Ziel der DS-GVO sind gemäß Art. 1 Abs. 1 DS-GVO der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie der Schutz des freien Verkehrs solcher Daten im europäischen Binnenmarkt. In Art. 8 Abs. 1 GRCh und in Art. 16 Abs. 1 AEUV ist das Recht jeder Person auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten normiert. Mithilfe der Vorschriften der DS-GVO soll dieses Grundrecht ungeachtet der Staatsangehörigkeit und des Aufenthaltsorts der natürlichen Person gewährleistet werden.220 Von der Verordnung erfasst ist sowohl die Datenverarbeitung im öffentlichen als auch im nichtöffentlichen Bereich.221 aa) Regelungsadressaten Die Verordnung ist im Wesentlichen an zwei Akteure adressiert: den Verantwortlichen und den Auftragsverarbeiter, Art. 3 Abs. 1 DS-GVO.222 Nach den Legaldefinitionen in Art. 4 DS-GVO handelt es sich jeweils um eine natürliche oder juris216
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. C 115 v. 9.5.2008, S. 47 ff. 217 Schantz, NJW 2016, 1841; Kazemi, in: FS Dahm, S. 283; Dochow, GesR 2016, 401; zum Entstehungsprozess der Verordnung s. Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 1 Rn. 1 ff.; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 197 ff. 218 Nach der Intention des Gesetzgebers soll das Schutzniveau der DSRL durch die Verordnung nicht unterschritten werden, Entschließung des Europäischen Parlaments v. 6.7.2011 zum Gesamtkonzept für den Datenschutz in der EU, 2011/2025 (INI), abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P7 -TA-2011-0323+0+DOC+PDF+V0//DE (Zugriff: 13.4.2020); Schantz, NJW 2016, 1841. 219 Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 1. 220 Eg. 2, 14 DS-GVO; vgl. auch Weichert, DANA 2016, 48. 221 Eine Einschränkung erfährt dieser einheitliche Regelungsansatz jedoch sogleich wieder durch die Öffnungsklausel des Art. 6 Abs. 2 DS-GVO, die es den Mitgliedsstaaten ermöglicht auch weiterhin nationale Regelungen für die Datenverarbeitung im öffentlichen Bereich zu erlassen, Buchner, DuD 2016, 155; Benecke/Wagner, DVBl. 2016, 600 f. 222 Eg. 22 DS-GVO. Eine dem BDSG (sowohl in der alten als auch in der neuen Fassung, vgl. § 1 Abs. 1 BDSG) ähnliche Differenzierung in öffentliche und nichtöffentliche Stellen ist dem europäischen Normgeber fremd, vgl. Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 30.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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tische Person, eine Behörde oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (Verantwortlicher, Nr. 7) oder die personenbezogene Daten im Auftrag des Verantwortlichen verarbeitet (Auftragsverarbeiter, Nr. 8).223 Vom Adressatenkreis ausgenommen sind gemäß Art. 2 Abs. 3 DS-GVO lediglich Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der EU.224 Da die Begriffe Verantwortlicher und Auftragsverarbeiter weit gefasst zu verstehen sind,225 sind grundsätzlich alle in die Datenverarbeitung involvierten Protagonisten der Systemmedizin Regelungsadressaten der Verordnung. bb) Sachlicher Anwendungsbereich Der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung erstreckt sich gemäß Art. 2 Abs. 1 DS-GVO auf die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie auf die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem226 gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. Um eine Umgehung der Verordnung zu vermeiden, hat sich der europäische Gesetzgeber für einen technologieneutralen Schutz227 natürlicher Personen entschieden. Vom Anwendungsbereich ausgenommen sind hingegen Akten oder Aktensammlungen sowie ihre Deckblätter, die nicht nach bestimmten Kriterien geordnet sind.228 Zentrale Voraussetzung für die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs der Verordnung ist die Verarbeitung personenbezogener Daten.229 Der Begriff der Verarbeitung ist in Art. 4 Nr. 2 DS-GVO legaldefiniert als Vorgang, der mit oder 223
Der Auftragsverarbeiter wird in der DS-GVO neben dem Verantwortlichen stärker in die Pflicht genommen, als das im BDSG a. F. der Fall war, wo ihm lediglich eine Hilfsund Unterstützungsfunktion zukam, vgl. § 11 BDSG a. F., Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 3 f. Die Normierung derselben Pflichten und Zuständigkeiten für den Auftragsverarbeiter und den Verantwortlichen soll nach der Intention des europäischen Gesetzgebers ein gleichmäßiges Datenschutzniveau für natürliche Personen gewährleisten, vgl. Eg. 13 DS-GVO. 224 Für deren Datenverarbeitung gilt die Verordnung (EG) Nr. 45/2001 (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.12.2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, ABl. L 8 v. 12.1.2001, S. 1 ff.), die allerdings an die DS-GVO angepasst und in deren Lichte angewandt werden soll, Eg. 17 DS-GVO. 225 Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 3. 226 Gemäß Art. 4 Nr. 6 DS-GVO ist ein Dateisystem jede strukturierte Sammlung personenbezogener Daten, die nach bestimmten Kriterien zugänglich sind, unabhängig davon, ob diese Sammlung zentral, dezentral oder nach funktionalen oder geografischen Gesichtspunkten geordnet geführt wird. Nach dem Alphabet sortierte analoge Patientenakten verkörpern mithin ein Dateisystem i. S. d. DS-GVO. 227 Technologieneutralität bedeutet, dass die Vorschriften der DS-GVO grundsätzlich unabhängig von der Art der Datenverarbeitung, ob manuell oder digital, und auch unabhängig von den Einzelheiten des technischen Verfahrens Anwendung finden, Eg. 15 DS-GVO; Dammann, ZD 2016, 307, 309. 228 Eg. 15 DS-GVO; s. auch Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 31. 229 Ausführlich zum Begriff der personenbezogenen Daten bereits oben A. I. 1. a).
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
ohne Hilfe automatisierter Verfahren im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten ausgeführt wird, wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung. Es ist ein weites Begriffsverständnis zugrunde zu legen, sodass grundsätzlich jeder systematische Umgang mit personenbezogenen Daten vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst ist,230 es sei denn einer der vier Ausnahmetatbestände des Art. 2 Abs. 2 DS-GVO ist einschlägig. Gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. a) DS-GVO ist die Verordnung nicht anwendbar, wenn die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen einer Tätigkeit erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.231 Auch wenn der Gesundheitsbereich traditionell nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, Art. 168 Abs. 7 AEUV, ist die Datenverarbeitung im Gesundheitswesen Regelungsgegenstand der DS-GVO. Denn Datenschutzrecht ist als Querschnittsmaterie zu begreifen, die eine Vielzahl von Lebensbereichen, den Gesundheitsbereich eingeschlossen, berühren kann.232 Darüber hinaus gilt die Verordnung nicht für die von den Mitgliedsstaaten im Rahmen der gemeinsamen EU-Außenund Sicherheitspolitik durchgeführte Verarbeitung personenbezogener Daten, lit. b). Ausgenommen ist zudem die Verarbeitung personenbezogener Daten, die von einer natürlichen Person zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten und somit ohne beruflichen oder wirtschaftlichen Bezug vorgenommen wird,233 sog. „Haushaltsausnahme“,234 lit. c).235 Der letzte Ausnahmetat-
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Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 7; Albrecht/ Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 21; Kühling/Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 285 ff. Anders als bisher im BDSG, wo sich der Datenumgang in die Stadien der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung unterteilte, verwendet der europäische Normgeber den Begriff der Verarbeitung als Oberbegriff für die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten personenbezogener Daten, Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 291. 231 Hierzu zählen bspw. Tätigkeiten der Mitgliedsstaaten, die deren nationale Sicherheit oder Landesverteidigung betreffen, Eg. 16 DS-GVO; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 25. Art. 2 Abs. 2 lit. a) DS-GVO ist als Hinweis auf die Grenzen der Kompetenzen für die Gesetzgebung zu begreifen, denn der Regelungsgehalt der DS-GVO kann nicht weiter reichen als die Ermächtigungsgrundlage in Art. 16 Abs. 2 AEUV, Kühling/Martini et al., Die Datenschutzgrundverordnung und das nationale Recht, S. 5; Kühling/Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 218. 232 Krit. Dochow, GesR 2016, 401, 403. 233 Als persönliche oder familiäre Tätigkeit kann bspw. das Führen privaten Schriftverkehrs oder privater Adressbücher sowie die Nutzung sozialer Netze anzusehen sein. Der Gesetzgeber stellt aber zugleich klar, dass sich die Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter, welche die Instrumente für die Verarbeitung personenbezogener Daten für solche persönlichen oder familiären Tätigkeiten bereitstellen, nicht auf Art. 2 Abs. 2 lit. c) berufen können, Eg. 18 DS-GVO. Zur Reichweite des Haushalts- und Familienprivilegs Gola/ Lepperhoff, ZD 2016, 9. 234 Kühling/Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 220; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 30; Schantz, NJW 2016, 1841, 1843.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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bestand des Art. 2 Abs. 2 DS-GVO bezieht sich auf die personenbezogene Datenverarbeitung durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, lit. d).236 Im Rahmen der Systemmedizin werden mithilfe moderner Informationstechnologien riesige Mengen personenbezogener Daten erhoben, analysiert und ausgewertet. Es geht mithin um die automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, sodass der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist. Ein Ausnahmetatbestand des Art. 2 Abs. 2 DS-GVO greift nicht. cc) Räumlicher Anwendungsbereich Hinsichtlich des räumlichen Anwendungsbereichs der Verordnung hat der europäische Normgeber in Art. 3 DS-GVO gleiche Ausgangsbedingungen für den Verantwortlichen und den Auftragsverarbeiter niedergeschrieben. Der territoriale Anwendungsbereich der DS-GVO wird insoweit von zwei Prinzipien determiniert: dem Niederlassungs- und dem Marktortprinzip.237 Das Niederlassungsprinzip ist in Art. 3 Abs. 1 DS-GVO normiert.238 Hiernach ist jeder Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter an die Vorschriften der Verordnung gebunden, der im Rahmen der Tätigkeit239 einer Niederlassung240 in der Uni-
235
Zu der oftmals schwierigen Frage der Anwendbarkeit der „Haushaltsausnahme“ im Bereich der online Datenverarbeitung s. Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 30 m. Verweis auf das Lindqvist-Urteil des EuGH EuZW 2004, 245, 248 f. (Tz. 37 ff.) = Slg. 2003, I–12971. 236 Die in lit. b) und lit. d) geregelten Ausnahmetatbestände scheinen eine Wiederholung von lit a) zu sein, haben jedoch ihre eigene Daseinsberechtigung. Denn für den Fall der Kompetenzerweiterung der EU müsste auch die Verordnung geändert werden, um diese Bereiche der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten zu entziehen, Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 29. 237 Vgl. Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 15 ff. 238 Das Niederlassungsprinzip galt auch bereits im Rahmen der DSRL. Dort allerdings beschränkt auf den für die Datenverarbeitung Verantwortlichen. Gemäß Art. 4 Abs. 1 lit. a) DSRL erstreckte sich der territoriale Anwendungsbereich des EU-Rechts auf alle Verarbeitungen personenbezogener Daten, die im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung ausgeführt werden, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedsstaats besitzt. 239 Zur Auslegung des Merkmals „im Rahmen der Tätigkeit“ einer Niederlassung EuGH NJW 2014, 2257, 2260 f. (Tz. 50 ff.) – Google Spain und Google: Ob die betreffende Niederlassung selbst eine Verarbeitungstätigkeit ausführt, ist irrelevant, sofern die Tätigkeit der Niederlassung untrennbar mit der Datenverarbeitung verknüpft ist. Eine reine Marketingtätigkeit kann hierfür genügen. Dieses weite Begriffsverständnis bestätigt der Gerichtshof in seiner Weltimmo-Entscheidung, EuGH NJW 2015, 3636, 3638 f. (Tz. 34 ff.). 240 Eine Niederlassung ist in Eg. 22 DS-GVO als Ort, an dem der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter effektiv und tatsächlich ihre Tätigkeit durch eine feste Einrichtung ausüben, definiert. Die Rechtsform der Einrichtung ist hierbei nicht maßgeblich. Der Niederlassungsbegriff der DS-GVO entspricht dem der DSRL (Eg. 19 DS-GVO). Auch hier legt der EuGH ein weites Begriffsverständnis zugrunde, EuGH NJW 2014, 2257, 2260 f.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
on personenbezogene Daten verarbeitet. Dies gilt unabhängig davon, ob die Verarbeitung in der Union stattfindet. Das Marktortprinzip findet seine gesetzliche Verankerung in Art. 3 Abs. 2 DSGVO. Selbst wenn weder der Verantwortliche noch der Auftragsverarbeiter ihren Sitz in der EU haben, sie aber die personenbezogenen Daten einer Person verarbeiten, die sich in der Union aufhält,241 sind die Vorschriften der Verordnung in zwei Alternativfällen anwendbar. Zum einen, wenn die Datenverarbeitung dazu dient, der betroffenen Person in der Union Waren oder Dienstleistungen anzubieten, gleich ob entgeltlich oder unentgeltlich, Art. 3 Abs. 2 lit. a) DS-GVO. Zum anderen, wenn die Verarbeitung im Zusammenhang mit der Beobachtung des Verhaltens der betroffenen Person in der EU steht, Art. 3 Abs. 2 lit. b) DSGVO.242 Der erste Alternativfall zielt insbesondere auf global agierende Internetkonzerne mit starker Marktstellung in Europa, die sich unter Geltung der DSRL den datenschutzrechtlichen Vorschriften der Mitgliedsstaaten weitgehend noch entziehen konnten.243 Von einer Verarbeitungstätigkeit zu Beobachtungszwecken i. S. d. Art. 3 Abs. 2 lit. b) DS-GVO ist auszugehen, wenn die Internetaktivitäten der betroffenen Person nachvollzogen werden, um Personenprofile oder andere Statistiken, etwa für Werbezwecke, zu erstellen.244 Dieser zweite Anwendungsfall des Marktortprinzips erfasst somit nahezu jede kommerzielle Webseite, wodurch deren Betreiber zu Regelungsadressaten der Verordnung werden.245 Das Nebeneinander von Niederlassungs- und Marktortprinzip hat die Anwendbarkeit der DS-GVO weit über die territorialen Grenzen der EU hinaus zur
(Tz. 45 ff.) – Google Spain und Google; EuGH NJW 2015, 3636, 3637 f. (Tz. 24 ff.) – Weltimmo. 241 Ein gefestigter Aufenthalt des Betroffenen im Sinne eines gewöhnlichen Aufenthaltes oder eines Wohnsitzes ist nicht erforderlich, da die Datenverarbeitung unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthaltsort der betroffenen Person geschützt sein soll, Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 17; vgl. oben B. III. 1. a). 242 Ausführlich zu den beiden Alternativfällen des Marktortprinzips Schantz, in: Schantz/ Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 331 ff.; Kühling/Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 232 ff. 243 Dammann, in: Simitis, BDSG, § 1 Rn. 241; zur unbefriedigenden Situation unter Geltung der DSRL s. Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 31. Ein Anbieten von Waren oder Dienstleistungen i. S. d. Art. 3 Abs. 2 lit. a) DS-GVO ist bereits anzunehmen, wenn der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter dies offensichtlich beabsichtigt. Ob eine derartige Absicht im konkreten Fall gegeben ist, ergibt sich aus einem Zusammenspiel mehrerer in Eg. 23 DS-GVO gelisteter Faktoren. Ein Vertragsschluss ist nicht vonnöten, s. hierzu Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 18. 244 Eg. 24 DS-GVO. 245 Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 19. Der europäische Gesetzgeber hatte hierbei vor allem Webtracking-Unternehmen im Sinn, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 33; Schantz, NJW 2016, 1841, 1842 m. w. N.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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Folge.246 Viele Akteure der Systemmedizin werden eine Niederlassung in der EU haben, wie etwa der Arzt, der seinem Patienten die auf der Grundlage systemmedizinischer Erkenntnisse entwickelte maßgeschneiderte Therapie empfiehlt. Ferner ist wohl auch das Anbieten von Dienstleistungen, der erste Alternativfall des Marktortprinzips, Art. 3 Abs. 2 lit. a) DS-GVO, zu bejahen. Hierunter sind beispielsweise die von direct-to-consumer-Konzernen angebotenen genetischen Tests im Internet, etwa 23andMe, zu subsumieren.247 dd) Fazit Festzuhalten ist, dass der Anwendungsbereich der Verordnung, sowohl in räumlicher, sachlicher als auch personeller Hinsicht, für die Datenverarbeitung im Rahmen der Systemmedizin eröffnet ist. Die datenschutzrechtlichen Vorschriften der DS-GVO sind damit im Grundsatz anwendbar. b) Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Datenverarbeitung nach der DSGVO ist zwischen personenbezogenen und besonderen Kategorien personenbezogener Daten zu differenzieren. Zudem sind die allgemeinen datenschutzrechtlichen Grundsätze zu beachten, die teilweise der spezifischen Eigenlogik der Systemmedizin entgegenstehen. aa) Allgemeine Grundsätze der Datenverarbeitung Die allgemeinen Grundsätze der Datenverarbeitung, die sich auch aus Art. 8 GRCh ableiten, sind in Art. 5 DS-GVO normiert.248 (1)Grundsatz der Rechtmäßigkeit, der Transparenz und von Treu und Glauben Gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. a) DS-GVO müssen personenbezogene Daten auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden. Hieraus werden verschiedene Prinzipien und Grundsätze abgeleitet: Neben dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit, nach dem jede Datenverarbeitung einer Rechtsgrundlage bedarf,249 enthält Art. 5 Abs. 1 lit. a) DS-GVO den Grundsatz der Verarbeitung nach Treu und Glauben, der Betroffene zur effektiven Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts vor unklaren Verarbeitungsvorgängen schützen soll,250 sowie den Grundsatz der Transparenz,
246
Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 35. http://www.23andme.com/ (Zugriff: 13.4.2020). 248 Schantz, NJW 2016, 1841, 1843; Albrecht, CR 2016, 88, 91. 249 Schantz, NJW 2016, 1841, 1843. 250 Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 3; Wolff, in: Schantz/ Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 392 ff. 247
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
der vornehmlich durch die in den Art. 13 ff. DS-GVO normierten Informationspflichten und Auskunftsansprüchen gewährleistet wird.251 Die komplexen Strukturen in der Systemmedizin, die durch die zahlreichen Akteure, mit unterschiedlichen Interessen bedingt sind sowie die großen zu verarbeitenden Datenmengen, stehen dem Grundsatz der Transparenz diametral entgegen. Die wachsende Vernetzung und der permanente Datenaustausch drohen die Verantwortlichkeiten für den Schutz der Daten verschwimmen zu lassen. Die Betroffenen haben mitunter Schwierigkeiten zu überblicken, wer ihre Daten zu welchen Zwecken wo verarbeitet. Es besteht das Risiko die Kontrolle über die eigenen Daten zu verlieren. Eine effektive Rechtsdurchsetzung wird zunehmend unrealistischer.252 (2)Grundsatz der Zweckbindung Nach dem Grundsatz der Zweckbindung müssen personenbezogene Daten für vorher festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nur in einer mit diesen Zwecken zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden,253 Art. 5 Abs. 1 lit. b) DS-GVO.254 Die erlaubten Zwecke ergeben sich im jeweiligen Einzelfall aus den der Erhebung zugrunde liegenden gesetzlichen Erlaubnistatbeständen oder der Einwilligung des Betroffenen.255 Sobald der festgelegte Zweck entfällt oder erreicht wird, ist jede weitere Datenverarbeitung im Grundsatz unzulässig.256 In der durch Ergebnisoffenheit geprägten Systemmedizin werden häufig Daten für andere als die ursprünglich intendierten Zwecke weiterverarbeitet. Gerade in der Forschung, wo oft Langzeitprojekte betrieben werden, ist des Öfteren zum Zeitpunkt der Einwilligungserteilung nicht absehbar, welche Informationen – zusätzlich zu den zunächst gewünschten – im Laufe des Projekts aus der Probe noch gewonnen werden sollen.257 Daher ist es für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn geboten, Daten für noch unbestimmte Zwecke zu erheben und zu 251
Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 4; Wolff, in: Schantz/ Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 394 f. 252 Vgl. Spyra, GuP 2015, 142, 148 f.; Roßnagel/Nebel, DuD 2015, 455, 458; I. Timm, MedR 2016, 686, 690. 253 Eine Liste der Kriterien, die bei der Prüfung, ob eine weitere Datenverarbeitung mit dem ursprünglichen Zweck vereinbar ist, zu berücksichtigen sind, sog. Kompatibilitätstest, findet sich in Art. 6 Abs. 4 DS-GVO, vgl. hierzu Buchner, DuD 2016, 155, 157; Dammann, ZD 2016, 307, 312; zu den weiteren Voraussetzungen einer rechtmäßigen Zweckänderung s. Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 52 ff.; Schantz, NJW 2016, 1841, 1843 f. 254 Der Zweck muss bereits im Zeitpunkt der Datenerhebung festgelegt sein, Kühling/ Klar/Sackmann, Datenschutzrecht, Rn. 338; Werkmeister/Brandt, CR 2016, 233, 237. 255 Die Zweckbindung bestimmt mithin den Rahmen, innerhalb dessen die Verantwortlichen befugt sind, personenbezogene Daten zu verarbeiten, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 5; s. auch Dammann, ZD 2016, 307, 311 f. 256 Eine vorsorgliche Datenerhebung zu unbestimmten Zwecken ist damit grundsätzlich unzulässig, Werkmeister/Brandt, CR 2016, 233, 237. 257 Vgl. Leopoldina et al., Stellungnahme Individualisierte Medizin, 2014, S. 71; Spyra, GuP 2015, 142, 148.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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speichern,258 was mit einer strikten Zweckbindung schwerlich vereinbar ist. Wenn die im Rahmen der Systemmedizin erhobenen Daten für nicht von Anfang an festgelegte Zwecke ausgewertet werden, droht der Grundsatz der Erforderlichkeit leerzulaufen. Denn Daten, die für beliebige Zwecke ausgewertet werden, sind immer erforderlich.259 Der strenge Zweckbindungsgrundsatz gilt jedoch nicht unbegrenzt. Die DSGVO enthält zwei Ausnahmetatbestände, die für die Datenverarbeitung im Rahmen der Systemmedizin greifen könnten. Eine erste Ausnahme gilt für die Weiterverarbeitung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken, Art. 5 Abs. 1 lit. b) Hs. 2 DS-GVO.260 Nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO ist eine Weiterverarbeitung zu Zwecken, die mit dem Erhebungszweck nicht vereinbar sind, zudem zulässig, wenn der Betroffene eingewilligt hat.261 (3)Grundsatz der Datenminimierung und der Speicherbegrenzung Gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c) DS-GVO sollen nur die Daten Gegenstand der Datenverarbeitung sein, die für den aus der Erlaubnisnorm folgenden Zweck erforderlich sind, d. h. sie sind auf das notwendige Maß zu beschränken, Grundsatz der Datenminimierung. Eine Ergänzung in zeitlicher Hinsicht erfährt dieser Grundsatz durch den in Art. 5 Abs. 1 lit. e) DS-GVO statuierten Grundsatz der Speicherbegrenzung, wonach personenbezogene Daten nur solange in einer Form, welche die Identifizierung der Betroffenen ermöglicht, gespeichert werden dürfen, wie dies erforderlich ist, um den Speicherungszweck zu erfüllen.262 Das Potenzial der Systemmedizin entfaltet sich allerdings am wirkungsvollsten, wenn in möglichst unbegrenztem Umfang Daten gesammelt und miteinander verknüpft werden können. Erst die Analyse großer Datenmengen ermöglicht es, aussagekräftige und belastbare Aussagen zu generieren. Die Verpflichtung zur Datensparsamkeit in Kombination mit der Speicherbegrenzung schränkt den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn mithin ein.263 Doch auch der Grundsatz der Speicherbegrenzung gilt nicht uneingeschränkt: Die Verarbeitung personenbezogener Daten über die ursprüngliche Erforderlichkeit hinaus ist erlaubt, sofern diese wissenschaftlichen Forschungszwecken dient, Art. 5 Abs. 1 lit. e) Hs. 2, 89 Abs. 1 DS-GVO.
258
Vgl. Roßnagel/Nebel, DuD 2015, 455, 458; Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 131. 259 Vgl. Roßnagel/Nebel, DuD 2015, 455, 458. 260 Diese Öffnung ist aufgrund ihres Ausnahmecharakters eng auszulegen, Buchner, DuD 2016, 155, 157. Näher zur Privilegierung der Forschung in der DS-GVO unten B. III. 1. b) bb) (2). 261 Vgl. hierzu Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 55; Schantz, NJW 2016, 1841, 1844. 262 Die Grundsätze der Datensparsamkeit und der Speicherbegrenzung sind Ausdruck der Erforderlichkeit. Sie setzen den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz um, der als Schranken-Schranke Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz begrenzt, Sobotta, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 16 AEUV Rn. 8; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 6. 263 Vgl. Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 132.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
(4)Weitere Grundsätze In Art. 5 Abs. 1 lit. d) DS-GVO ist die Verpflichtung des Verantwortlichen niedergeschrieben personenbezogene Daten derart zu verarbeiten, dass diese sachlich richtig und erforderlichenfalls264 auf dem neuesten Stand sind.265 Ziel dieser Vorgaben ist die korrekte Repräsentation des Betroffenen und seiner Verhältnisse anhand seiner Daten.266 Gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. d) Hs. 2 DS-GVO ist der Verantwortliche zudem gehalten alle angemessenen Maßnahmen267 zu treffen, um unrichtige Daten unverzüglich zu löschen oder zu berichtigen. Daneben besteht ein Berichtigungs- und Vervollständigungsanspruch des Betroffenen aus Art. 16 DSGVO.268 Den Grundsätzen der Integrität und Vertraulichkeit der Datenverarbeitung wird durch Art. 5 Abs. 1 lit. f) DS-GVO Ausdruck verliehen: Personenbezogene Daten sind in einer Weise zu verarbeiten, die deren angemessene Sicherheit gewährleistet. Konkrete Vorgaben, welche technischen und organisatorischen Schutzmaßnahmen zu treffen sind, finden sich in Art. 32 DS-GVO.269 Mit dem Grundsatz der Rechenschaftspflicht setzt der europäische Gesetzgeber schließlich stärker auf die Eigenverantwortung des Verantwortlichen.270 Der für die Datenverarbeitung Verantwortliche hat die in Art. 5 Abs. 1 DS-GVO niedergelegten Grundsätze nicht nur einzuhalten, sondern muss deren Beachtung auch nachweisen können, Art. 5 Abs. 2 DS-GVO.271 264
Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass für die Richtigkeit der Daten der Zeitpunkt maßgeblich sein kann. Sofern sich Informationen auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehen, werden sie nicht dadurch unrichtig, dass sich die Verhältnisse der betroffenen Person zwischenzeitlich ändern, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 10. 265 Zur Aktualisierungspflicht s. EuGH EuZW 2009, 183, 185 (Tz. 60) = Slg. 2008, I– 09705 – Huber. 266 Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 10. 267 Gemäß Eg. 39 DS-GVO sind alle vertretbaren Schritte zu unternehmen, damit falsche Daten gelöscht oder berichtigt werden. 268 In den Fällen des Art. 89 DS-GVO haben die Mitgliedsstaaten die Möglichkeit Ausnahmen vom Berichtigungsanspruch zu normieren, um bspw. die Forschung zu privilegieren, Eg. 156 DS-GVO. 269 Ergänzt werden diese Vorgaben um die in Art. 25 DS-GVO normierte allgemeine Pflicht der Verantwortlichen mithilfe geeigneter technischer und organisatorischer Maßnahmen die Grundsätze der Datenverarbeitung aus Art. 5 DS-GVO, insbesondere den der Datensparsamkeit, umzusetzen. Mit Einführung der Art. 25 und 32 DS-GVO überlasst der europäische Normgeber die Ausgestaltung des Systemdatenschutzes mithin nicht mehr wie bislang (Art. 17 Abs. 1 DSRL) den Mitgliedsstaaten, Eg. 78 DS-GVO; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 16 f. 270 Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 18; vgl. auch Eg. 74 DSGVO; zur Verstärkung der Verantwortlichkeit der Datenverarbeiter s. auch Dammann, ZD 2016, 307, 308. 271 Anstelle der staatlichen Vorabkontrolle, Art. 20 DSRL, ist der Verantwortliche nun verpflichtet, in bestimmten Fällen eine Folgenabschätzung vorzunehmen und auf deren Grundlage die Behörden vorab zu konsultieren, Art. 35 DS-GVO, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 2 Rn. 18. Für die Datenverarbeitung in der Systemmedizin ergibt sich die Erforderlichkeit einer Folgenabschätzung primär aus Art. 35 Abs. 3 lit. b) DS-GVO.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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(5)Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im Bereich der Systemmedizin aufgrund der zu befürchtenden Komplexität und Intransparenz der Datenverarbeitung teilweise erhebliche, nur schwer kalkulierbare Risiken entstehen. Zahlreiche Grundprinzipien des geltenden Datenschutzrechts sind mit dem Konzept der Systemmedizin kaum in Einklang zu bringen. Eine grundlegende Voraussetzung für die erfolgreiche Integration des systemmedizinischen Ansatzes in unser Gesundheitssystem ist deshalb die Beachtung des Gebots der Transparenz. Diese Transparenz muss sich auf alle wesentlichen Aspekte der systemmedizinischen Datenverarbeitung beziehen. Ein besonderer Transparenzbedarf besteht zunächst hinsichtlich der Betroffenenrechte. Denn individuelle Transparenz für denjenigen, dessen Daten verarbeitet werden, ist zugleich Grundvoraussetzung für dessen informationelle Selbstbestimmung. Die Patienten oder Probanden sind durch spezifische Beratungsangebote in die Lage zu versetzen, ihre in den Art. 13 ff. DS-GVO garantierten Rechte (zum Beispiel das Auskunfts- oder Löschungsrecht) auch geltend zu machen und durchzusetzen.272 Zudem sind qualifizierte Kontroll- und Genehmigungsverfahren für die Systemmedizin zu installieren, wie etwa EthikKommissionen oder Datenschutzaufsichtsbehörden, die für die Genehmigung oder Zertifizierung von Verfahren, Behandlungsmethoden oder Produkten zuständig sind. Schließlich ist die Öffentlichkeit, einschließlich der (wissenschaftlichen) Fachöffentlichkeit, der Parlamente und der Medien in den gesamten Prozess mit einzubeziehen.273 bb) Allgemeine Voraussetzungen einer rechtmäßigen Datenverarbeitung Ausgehend vom Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung, Art. 5 Abs. 1 lit. a) DS-GVO, dürfen personenbezogene Daten nur verarbeitet werden, wenn der Betroffene darin eingewilligt hat oder eine andere gesetzliche Grundlage besteht. In Art. 6 Abs. 1 DS-GVO sind die möglichen gesetzlichen Erlaubnistatbestände abschließend aufgezählt.274 Die Datenverarbeitung wird mithin, wie auch schon zuvor unter Geltung der DSRL,275 geprägt vom sog. Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt.276 272
Zu den Schwierigkeiten, die sich im Hinblick auf die Geltendmachung und Durchsetzung der Betroffenenrechte ergeben, s. unten B. III. 1. c). 273 Eine Orientierung können die rechtsstaatlichen Anforderungen für Big-Data-Analysen mit Pseudonymen auf gesetzlicher Grundlage mit prozessualen sowie technischorganisatorischen Sicherungen im SGB V (z. B. §§ 303a ff.) sowie im Krebsregisterrecht bieten, Weichert, DuD 2014, 831, 837; vgl. auch ders., ZD 2013, 251, 258. 274 Zu den Erlaubnistatbeständen des Art. 6 Abs. 1 DS-GVO im Einzelnen s. Albrecht/ Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 43 ff. In Art. 6 Abs. 2 und 3 DS-GVO eröffnet der europäische Normgeber den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit ausgewählte Erlaubnistatbestände des Abs. 1 durch eigene Regelungen zu konkretisieren. Damit wird die Befugnis eingeräumt die meisten im deutschen Recht geltenden bereichsspezifischen Datenschutzregelungen zu bewahren, Weichert, DANA 2016, 48, 50; Albrecht, CR 2016, 88, 92; Buchner, DuD 2016, 155, 159. 275 Art. 7 DSRL. Entsprechend war sowohl im BDSG a. F. als auch in den Landesdatenschutzgesetzen jeweils ein entsprechendes Verarbeitungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Zentrale Voraussetzung einer rechtmäßigen Datenverarbeitung ist die Einwilligung des Betroffenen.277 Sie eröffnet dem Einzelnen die Möglichkeit sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrzunehmen.278 Als Ausdruck privatautonomer Selbstbestimmung279 ist die Einwilligung jede freiwillig für einen bestimmten Fall, in informierter Weise und unmissverständlich abgegebene Willensbekundung, in Form einer Erklärung oder einer sonstigen eindeutigen bestätigenden Handlung, mit welcher der Betroffene zu verstehen gibt, dass er mit der Datenverarbeitung einverstanden ist, Art. 4 Nr. 11 DS-GVO.280 Die Einwilligung erfolgt freiwillig, wenn die betroffene Person eine echte oder freie Wahl hat. Das ist der Fall, wenn der Betroffene in der Lage ist, seine Einwilligung zu verweigern oder zurückziehen, ohne Nachteile zu erleiden, Erwägungsgrund 42 DS-GVO. Die Einwilligung ist jederzeit widerruflich, Art. 7 Abs. 3 S. 1 DS-GVO. Ebenso einfach wie die Erteilung muss auch der Widerruf der Einwilligung ausgestaltet sein, Art. 7 Abs. 3 S. 4 DS-GVO.281 Eine Einwilligung gilt als unfreiwillig, wenn die Erfüllung eines Vertrags von der Einwilligung abhängig gemacht wird, obwohl dies für die Vertragserfüllung nicht erforderlich ist, sog. Kopplungsverbot, Erwägungsgrund 43 und Art. 7 Abs. 4 DS-GVO.282 Erteilt der Patient seine Einwilligung zur Verarbeitung von Daten, die zur Erfüllung des Behandlungsvertrages erforderlich sind, ist hierin also keine unzulässige Kopplung zu sehen. Problematisch wird hingegen die Erhebung von Informationen, die normiert: § 4 BDSG a. F. und für die Landesdatenschutzgesetze s. beispielhaft § 4 Abs. 1 DSG NRW a. F., Art. 15 Abs. 1 BayDSG a. F. 276 Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 28; zu den Gründen, aus denen am Verbotsprinzip trotz Kritik festzuhalten ist, Buchner, DuD 2016, 155, 157 f. 277 Zu der Frage, ob das Konzept der Einwilligung heute noch zeitgemäß ist, Albrecht, CR 2016, 88, 91; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 39. 278 Simitis, in: Simitis, BDSG, § 4a Rn. 2 m. w. N.; Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 133. 279 Buchner, DuD 2016, 155, 158; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 37. 280 Die Beweislast für das Vorliegen der Einwilligung trägt der Verantwortliche, Art. 7 Abs. 1 DS-GVO; s. auch Eg. 42 DS-GVO. Die in Art. 4 Nr. 11 DS-GVO formulierten Voraussetzungen der Einwilligung entsprechen im Wesentlichen denen der Vorgängerregelung des Art. 2 lit. h) DSRL, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 37. 281 Durch den Widerruf wird die Rechtmäßigkeit der aufgrund der Einwilligung bis zum Widerruf erfolgten Datenverarbeitung nicht berührt, Art. 7 Abs. 3 S. 2 DS-GVO. Die Widerruflichkeit der Einwilligung erlaubt es dem Betroffenen zu jeder Zeit die Hoheit über seine personenbezogenen Daten zu wahren und so seinem informationellen Selbstbestimmungsrecht Ausdruck zu verleihen, vgl. hierzu Herbst, MedR 2009, 149. 282 Zum sog. Kopplungsverbot s. Dammann, ZD 2016, 307, 311; Buchner, DuD 2016, 155, 158 f.; Schantz, NJW 2016, 1841, 1845. Die Einwilligung gilt ferner nicht als freiwillig erklärt, wenn zu verschiedenen Verarbeitungsvorgängen von personenbezogenen Daten nicht gesondert eine Einwilligung erteilt werden kann, obwohl dies im Einzelfall angebracht ist, Eg. 43 DS-GVO. Auf den Behandlungskontext bezogen sollte deshalb von dem Betroffenen bspw. keine Einwilligung zur Verwendung seiner Daten zu Forschungszwecken im Behandlungsvertrag gefordert werden, wenn diese Einwilligung auch getrennt vom Behandlungsvertrag eingeholt werden könnte.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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zur Vertragserfüllung nicht benötigt werden.283 An der Freiwilligkeit fehlt es zudem, wenn im Einzelfall zwischen Betroffenem und Datenverarbeiter ein „klares Ungleichgewicht“ besteht, denn dann ist von einer faktischen Zwangssituation auszugehen.284 Eine faktische Zwangssituation kann sich etwa bei der Behandlung durch spezialisierte Fachärzte oder in Notfallsituationen ergeben. Die Einwilligung als Erlaubnistatbestand für eine Datenverarbeitung schiede dann aus.285 Die Wirksamkeit der Einwilligungserklärung setzt weiter voraus, dass der Betroffene sie in Kenntnis der Sachlage erteilt. Dazu muss er die wesentlichen Umstände der Datenverarbeitung kennen, wie die Identität des Verantwortlichen und die Zwecke der Verarbeitung, Erwägungsgrund 42 DS-GVO.286 Vorformulierte Einwilligungserklärungen unterliegen zudem der AGB-Kontrolle nach der RL 93/13/EWG.287 Mit dem Erfordernis, die Einwilligung in Form einer Erklärung oder sonstigen eindeutig bestätigenden Handlung abzugeben, erteilt der europäische Gesetzgeber den bislang häufig praktizierten und vom BGH tolerierten Opt-out-Varianten288 der Einholung einer Einwilligung eine Absage. Stillschweigende Einwilligungen sind damit unzulässig.289 Schriftform ist hingegen keine Wirksamkeitsvoraussetzung: Gemäß Erwägungsgrund 32 DS-GVO kann die Einwilligung auch elektronisch oder mündlich erklärt werden.290
283 Dochow, GesR 2016, 401, 404; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 46. 284 Dies ist insbes. der Fall, wenn es sich bei dem Verantwortlichen um eine Behörde handelt, und es deshalb in Anbetracht aller Umstände in dem speziellen Fall unwahrscheinlich ist, dass die Einwilligung freiwillig erteilt wurde, Eg. 43 DS-GVO; s. auch Buchner, DuD 2016, 155, 158 mit weiteren Beispielen. Die Maßstäbe der DS-GVO entsprechen damit dem bisherigen Verständnis von Freiwilligkeit, vgl. BVerfG DuD 2006, 817, 819 zu Schweigepflichtentbindungsklauseln; Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 220 f. 285 Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 220 f.; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 42. 286 In den Art. 13 und 14 DS-GVO sind weitergehende Informationspflichten des Verantwortlichen normiert, s. hierzu Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 4 ff. sowie unten 3. Kap., C. I. 4. 287 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. L 95 v. 21.4.1993, S. 29 ff. Der Verantwortliche hat die Einwilligungserklärung in einer klaren und verständlichen Sprache ohne missbräuchliche Klauseln zu formulieren, Eg. 42 DS-GVO; s. hierzu auch Schantz, NJW 2016, 1841, 1844. 288 Zu sog. opt-out- und opt-in-Verfahren s. Casper, DuD 2013, 767; zur Zulässigkeit sog. opt-out-Verfahren nach dem BDSG a. F. BGHZ 177, 253, 260 ff. = NJW 2008, 3055, 3056; BGH NJW 2010, 864, 865 f. 289 Das Verhalten des Betroffenen muss vielmehr einen eindeutigen Schluss auf sein Einverständnis mit der Datenverarbeitung zulassen. Das einfache Nutzen von Onlinediensten ist hierfür nicht ausreichend, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 39; vgl. auch Eg. 32 DS-GVO; Buchner, DuD 2016, 155, 158; Schantz, NJW 2016, 1841, 1844; Nebel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 70. 290 Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 221; Schantz, NJW 2016, 1841, 1844; Dammann, ZD 2016, 307, 308; Dochow, GesR 2016, 401, 404; Nebel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 70. Gemäß § 4a Abs. 1 S. 3 BDSG a. F. bedurfte die Einwilligung noch der Schriftform.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Die Wirksamkeit und Funktionalität der beschriebenen Einwilligungsvoraussetzungen sind insbesondere im Gesundheitsbereich umstritten.291 Bedingt durch die zwischen Arzt und Patient bestehende Informationsasymmetrie ist eine autonome Entscheidung des Patienten bezogen auf die Verarbeitung seiner Daten fragwürdig. Das gilt erst recht, wenn die Datenoffenbarung Voraussetzung für die Inanspruchnahme bestimmter medizinischer Leistungen ist und auf diese Weise das ohnehin schon bestehende Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arzt und Patient noch verstärkt wird.292 Die Freiwilligkeit der Einwilligung ist daher zu bezweifeln.293 Diese grundsätzliche Problematik wird durch systemmedizinische Anwendungen zusätzlich verschärft. Der Betroffene wird oftmals Schwierigkeiten haben die Zwecke, zu denen seine Daten verarbeitet werden sollen, zu identifizieren.294 Denn häufig sind künftige Verwendungsarten der Daten zum Zeitpunkt der Datenerhebung nicht bekannt, sodass über die Weiterverarbeitung nicht hinreichend unterrichtet werden kann.295 Im Umkehrschluss ist es dem Einzelnen in diesen Fällen kaum möglich abzusehen, welche Erkenntnisse aus seinen Daten gewonnen werden könnten. Prädiktive Bewertungen des Gesundheitszustandes sind ein zentrales Anliegen der Systemmedizin. Ziel ist es Krankheitsdispositionen zu diagnostizieren, von denen der Betroffene häufig noch keine Kenntnis besitzt. Verstärkt wird dieser Effekt durch die unterschiedlichen Akteure in der Systemmedizin, die ihre wahren Interessen an den Daten nicht unbedingt offenlegen. Dass die Interessen der Versicherungsgesellschaften oder Arbeitgeber meistens nicht konform mit denen der Patienten sind, liegt auf der Hand.296 Die Schwierigkeit den Verarbeitungszweck bereits zum Zeitpunkt der Datenerhebung exakt zu definieren, hat der Gesetzgeber zumindest für die Forschung erkannt. In Erwägungsgrund 33 ist daher vorgesehen, dass es betroffenen Personen erlaubt sein soll, ihre Einwilligung nur für bestimmte Forschungsbereiche oder Teile von Forschungsprojekten zu gewähren. Es ist somit zukünftig möglich in Einverständniserklärungen für Teilnehmer wissenschaftlicher Studien bestimmte Bereiche festzulegen, die über eine spezifische Forschungsfrage hinausgehen.297 Diese Regelung verschärft das ohnehin aufgrund der komplexen Sachverhalte in der Systemmedizin bestehende Risiko, dass der Betroffene sich der Reichweite 291
Allgemein zu den Schwächen des Einwilligungsprinzips bei Big-Data-Anwendungen Becker, JZ 2017, 170, 173 ff. 292 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 135 f.; s. auch Weichert, DuD 2014, 831, 835. 293 Spindler, MedR 2016, 691, 697 m. w. N.; s. auch Dochow, GesR 2016, 401, 404 f., der sich für eine Einzelfallprüfung ausspricht. 294 Die sich ergebenden Schwierigkeiten sind vergleichbar mit denen im Rahmen der individualisierten Medizin, vgl. hierzu Spyra, GuP 2015, 142, 148. 295 Vgl. Mayer-Schönberger/Cukier, Big Data, S. 217; Spindler, MedR 2016, 691, 697; Augsberg/v. Ulmenstein, GesR 2018, 341, 343; zu den Schwierigkeiten der Vereinbarkeit der Systemmedizin mit dem Zweckbindungsgrundsatz s. auch bereits oben B. III. 1. b) aa) (2). 296 Zu den Interessen der einzelnen Akteure an den im Rahmen der Systemmedizin erhobenen Daten inklusive den daraus erzielten Erkenntnissen s. bereits oben B. II. 297 Schaar, ZD 2016, 224, 225; Molnár-Gabór/Korbel, ZD 2016, 274, 277.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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und Konsequenzen seiner erteilten Einwilligung nicht bewusst ist. Dies ist insbesondere auch dem Umstand geschuldet, dass wegen der komplizierten technischen, rechtlichen und medizinischen Zusammenhänge der Systemmedizin sich selbst die Personen, die die Einwilligung einholen, häufig über deren Tragweite nicht vollends im Klaren sind. Zudem sind bereits heute zahlreiche Datenschutzeinwilligungen derart detailliert und schwer verständlich, dass der Betroffene mit Informationen regelrecht überflutet wird.298 Vor diesem Hintergrund wird das klassische Einwilligungskonzept nur selten eine hinreichende Legitimationsgrundlage für die Datenverarbeitung in der Systemmedizin bieten können. Das Risiko weitreichender Konsequenzen für den Betroffenen, ausgelöst durch eine nicht legitimierte Datenverarbeitung, ist aufgrund der Sensibilität der verarbeiteten personenbezogenen Daten besonders hoch.299 Augsberg/v. Ulmenstein diskutieren daher mögliche Alternativmodelle in Form von modifizierten Einwilligungserfordernissen, um die informationelle Selbstbestimmung des Patienten auch unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung, insbesondere im Rahmen von Big-Data-Anwendungen, zu gewährleisten. Als Gold-Standard gilt derzeit das sog. Kaskaden- oder Meta-ConsentVerfahren.300 Hierbei wird die Einwilligung nicht einmalig vorab, sondern im Rahmen eines dynamischen und gegebenenfalls iterativen Prozesses in einzelne Elemente und Teilprojekte integriert, sog. dynamische Einwilligung. Zudem werden die Teilnehmer frühzeitig über die wesentlichen Parameter der Datennutzung (etwa die Ziele der Systemmedizin) informiert, damit sie ihre präferierte Einwilligungsvariante auswählen können. Die verschiedenen Einwilligungsformen reichen dabei von der separaten Einwilligung zu jedem weiteren Projekt (specific consent) bis hin zur Pauschalzustimmung in bestimmten Zusammenhängen (blanket consent).301 Die DS-GVO enthält neben den allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Datenverarbeitung spezielle Vorschriften, die den Umgang mit Gesundheitsdaten und die Datenverarbeitung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken regeln. Die allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen finden hierbei zusätzlich zu den speziellen Anforderungen an die Datenverarbeitung Anwendung.302 298
Vgl. Katko/Babaei-Beigi, MMR 2014, 360, 362; Augsberg/v. Ulmenstein, GesR 2018, 341, 343; Datenethikkommission, Gutachten der Datenethikkommission, 2019, S. 96; zur Problematik der Einwilligung bei Big-Data-Anwendungen allgemein s. auch E. Becker/ Schwab, ZD 2015, 151, 153. 299 Vgl. Spyra, GuP 2015, 142, 148. Mayer-Schönberger/Cukier plädieren daher für eine Verschiebung des Kontrollmechanismus weg von der Einwilligung des Betroffenen hin zur Verantwortlichkeit des Datennutzers, Mayer-Schönberger/Cukier, Big Data, S. 217 ff.; krit. gegenüber diesem Vorschlag Katko/Babaei-Beigi, MMR 2014, 360, 364. 300 Ploug/Holm, Bioethics 2016, 721, 724 ff.; s. hierzu auch Datenethikkommission, Gutachten der Datenethikkommission, 2019, S. 126 ff. 301 Augsberg/v. Ulmenstein, GesR 2018, 341, 344 f.; Bedenken hinsichtlich des Konzepts der pauschalen Einwilligung (blanket consent) werden insbesondere von der Datenethikkommission formuliert, s. Datenethikkommission, Gutachten der Datenethikkommission, 2019, S. 126. 302 Eg. 51 DS-GVO; Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 296; Dochow, GesR 2016, 401, 408.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
(1)Verarbeitung von Gesundheitsdaten Die allgemeinen in Art. 6 Abs. 1 DS-GVO normierten Erlaubnistatbestände werden in Art. 9 DS-GVO für die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten modifiziert. Zu diesen in Art. 9 Abs. 1 DS-GVO genannten besonders schutzbedürftigen Daten zählen Gesundheitsdaten,303 wozu auch genetische und biometrische Daten gehören, die nochmal eine gesonderte Erwähnung in Art. 9 Abs. 1 DS-GVO finden.304 Im Ausgangspunkt ist die Verarbeitung sensibler Daten nach Art. 9 Abs. 1 DSGVO untersagt, insoweit gilt auch hier das Verbotsprinzip.305 Der europäische Gesetzgeber hat jedoch in Art. 9 Abs. 2 DS-GVO zehn Fallkonstellationen aufgelistet, in denen das Verbotsprinzip keine Anwendung findet. Dieser abschließende Katalog spezieller Rechtsgrundlagen enthält im Vergleich zu Art. 6 Abs. 1 DSGVO erhöhte Anforderungen an die Zulässigkeit der Datenverarbeitung, um dem besonderen Schutzbedürfnis sensibler Daten gerecht zu werden.306 Neben der expliziten Einwilligung des Betroffenen (Art. 9 Abs. 2 lit. a) DS-GVO),307 sind als weitere Erlaubnistatbestände die Datenverarbeitung für Zwecke der Versorgung oder Behandlung im Gesundheitsbereich (Art. 9 Abs. 2 lit. h) DS-GVO)308 und 303
Zum Begriff der Gesundheitsdaten s. bereits oben B. I. 1. Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können, Eg. 51 DS-GVO. Häufig wird auch der Begriff „sensible Daten“ verwendet, vgl. bspw. Eg. 10 DS-GVO; Albrecht, CR 2016, 88, 97; Dochow, GesR 2016, 401, 402; Plath, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 1. 305 Die Verarbeitung von DNS-Analysen ist somit im Grundsatz unzulässig, Plath, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 7; krit. hinsichtlich der Sinnhaftigkeit einer grundsätzlichen Sonderbehandlung bestimmter Datenkategorien unabhängig von ihrem konkreten Verwendungszweck Plath, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 3. 306 Eg. 53 DS-GVO; Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 220; Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 304. 307 Dem Betroffenen muss unter konkreter Nennung der Datenkategorie verdeutlicht werden, dass die entsprechenden Daten von der Einwilligung erfasst sind, Plath, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 13. Eine Rückausnahme zum Ausnahmetatbestand der Einwilligung ist in Art. 9 Abs. 2 lit. a) DS-GVO normiert: hiernach greift das Verarbeitungsverbot des Abs. 1 wieder, wenn eine unionsrechtliche oder mitgliedsstaatliche Rechtsvorschrift existiert, welche die Einwilligung des Betroffenen ausschließt. 308 In dieser Fallkonstellation wird die Zulässigkeit der Datenverarbeitung zusätzlich dahingehend beschränkt, dass die Daten nur von Fachpersonal oder unter dessen Verantwortung verarbeitet werden dürfen und dieses Fachpersonal oder Dritte nach Unionsrecht, dem Recht eines Mitgliedsstaates oder den Vorschriften nationaler zuständiger Stellen (z. B. (Landes-)Ärztekammern oder Berufskammern) dem Berufsgeheimnis oder einer anderen Geheimhaltungspflicht unterliegen, Art. 9 Abs. 2 lit. h), 3 DS-GVO, Dochow, GesR 2016, 401, 405. Im deutschen Recht sind insbesondere § 9 MBO-Ä sowie § 203 StGB heranzuziehen, Dochow, GesR 2016, 401, 405; Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 311. A. A. Weichert, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 138: Art. 9 Abs. 3 ist dahingehend zu verstehen, dass national und europarechtlich zusätzliche Verarbeitungsvoraussetzungen geregelt werden können, nicht aber müssen. Eine Verarbeitung durch Fachpersonal ist nicht zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung. 304
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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zum Schutze des öffentlichen Gesundheitswesens (Art. 9 Abs. 2 lit. i) DS-GVO)309 gesondert zu erwähnen.310 Gemäß Art. 9 Abs. 4 DS-GVO können die Mitgliedsstaaten, unabhängig von den in den verschiedenen Erlaubnistatbeständen des Abs. 2 gewährten Regelungsspielräumen, zusätzliche Bedingungen, einschließlich Beschränkungen, einführen oder aufrechterhalten, soweit die Verarbeitung von genetischen, biometrischen oder Gesundheitsdaten betroffen ist.311 Darüber hinaus wird dem erhöhten Schutzbedürfnis sensibler Daten in zahlreichen weiteren Artikeln der Verordnung Rechnung getragen, wie etwa in Art. 6 Abs. 4 lit. c) DS-GVO, wonach gerade bei der Verarbeitung sensibler Daten der Zweckbindungsgrundsatz eine besondere Berücksichtigung erfahren soll.312 Die Sinnhaftigkeit einer Differenzierung zwischen personenbezogenen Daten einerseits und besonderen Kategorien personenbezogener Daten andererseits, ist im Rahmen der Systemmedizin zweifelhaft. Für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn sind neben Gesundheitsdaten, die als besonders sensibel und daher als erhöht schutzbedürftig gelten, etwa auch soziodemographische oder psychosoziale Daten, die lediglich den einfachen Schutzstatus eines personenbezogenen Datums genießen, relevant. Die verschiedenen Datenbestände werden zu einer „Gesamtgesundheitsinformation“ für den Patienten kombiniert, sodass auch prima facie gesundheitsferne Informationen eine unter Umständen erhebliche Gesundheitsrelevanz gewinnen. Die dem besonderen Schutzregime für Gesundheitsdaten zugrundeliegende Annahme, die Sensibilität dieser Informationen stehe aufgrund ihres Gesundheitsbezugs fest, trifft auf den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn somit nicht oder allenfalls eingeschränkt zu.313 309
Der Begriff der öffentlichen Gesundheit ist i. S. d. Art. 3 lit. c) der Verordnung (EG) Nr. 1338/2008 (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2008 zu Gemeinschaftsstatistiken über öffentliche Gesundheit und über Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz, ABl. L 354 v. 31.12.2008, S. 70) auszulegen, Eg. 54 DS-GVO. In Eg. 54 DS-GVO wird zudem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Verarbeitung von Gesundheitsdaten aus Gründen des öffentlichen Interesses nicht dazu führen darf, dass Dritte, unter anderem Arbeitgeber oder Versicherungs- und Finanzunternehmen, solche personenbezogenen Daten zu anderen Zwecken verarbeiten. 310 Die Erlaubnistatbestände lassen sich hierbei in zwei Gruppen einteilen: Während für die Rechtsgrundlagen der ersten Gruppe (Art. 9 Abs. 2 lit. c), d), e) und f) DS-GVO) die Zulässigkeitsvoraussetzungen abschließend in Art. 9 Abs. 2 DS-GVO normiert sind, stehen die Fallkonstellationen der zweiten Gruppe (Art. 9 Abs. 2 lit. a), b), g), h), i) und j) DSGVO) unter einem zusätzlichen unions- und mitgliedsstaatlichen Regelungsvorbehalt, Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 309. 311 Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 330; Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 290; Dochow, GesR 2016, 401, 407. Die Möglichkeit zusätzlicher Bedingungen und Beschränkungen bezieht sich dabei ausschließlich auf den Verantwortungsbereich der Verarbeitung, nicht jedoch auf die Betroffenenrechte, Eg. 53 S. 4 DSGVO; Spranger, MedR 2017, 864, 865. 312 Weitere gesonderte Bestimmungen finden sich in Art. 30 Abs. 5 DS-GVO (Pflicht zur Erstellung eines Verarbeitungsverzeichnisses), in Art. 35 Abs. 3 lit. b) DS-GVO (Erforderlichkeit einer Datenschutzfolgenabschätzung) und in Art. 37 Abs. 1 lit. c) DS-GVO (Pflicht zur Benennung eines Datenschutzbeauftragten). 313 Vgl. Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 143 f.; Augsberg/v. Ulmenstein, GesR 2018, 341, 342.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
(2)Verarbeitung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken Die Förderung der wissenschaftlichen Forschung ist ein zentrales Anliegen der EU, vgl. Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV. In Art. 179 Abs. 1 AEUV ist das Ziel, einen europäischen Raum der Forschung zu schaffen, niedergeschrieben.314 Deshalb sind für die Verarbeitung personenbezogener Daten zu wissenschaftlichen Forschungszwecken315 neben den allgemeinen Regelungen in Art. 5 und 6 DS-GVO, die Sonderregeln in Art. 5 und 89 DS-GVO zu beachten.316 In Art. 89 Abs. 1 DS-GVO ist die Pflicht des Verantwortlichen normiert, technische und organisatorische Maßnahmen zu schaffen, die insbesondere den Grundsatz der Datenminimierung gewährleisten. Soweit möglich sollen die Daten daher pseudonymisiert317 werden.318 Eine Privilegierung hinsichtlich des grundsätzlich strengen Zweckbindungsgrundsatzes findet sich in Art. 5 Abs. 1 lit. b) Hs. 2 DS-GVO für den Fall, dass die Weiterverarbeitung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken als mit dem ursprünglichen Erhebungszweck vereinbar gilt.319 Daten der Routineversorgung können also grundsätzlich für wissenschaftliche Forschungsvorhaben genutzt werden. Eine Einschränkung erfährt diese Privilegierung jedoch durch Art. 89 Abs. 1 S. 4 DS-GVO dahingehend, dass eine personenbezogene Weiterverarbeitung ausscheidet, wenn die privilegierten Zwecke auch mit anonymisierten Daten erreicht werden können.320 Ferner dürfen personenbezogene Daten, die zu wissenschaftlichen Forschungszwecken verarbeitet werden, länger gespeichert werden, als dies für die ursprünglichen Zwecke erforderlich wäre. Dies allerdings nur vorbehaltlich der Durchführung geeigneter technischer und organisatorischer Maßnahmen zum Schutz der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person, Art. 5 Abs. 1 lit. e) Hs. 2 DS-GVO. Schließlich ist in Art. 9 Abs. 2 lit. j) DS-GVO die Möglichkeit für die Union und die Mitgliedsstaaten vorgesehen, Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung sensibler Daten zu wissenschaftlichen Forschungszwecken zu schaffen.321
314
Molnár-Gabór/Korbel, ZD 2016, 274, 276. Es ist ein weites Begriffsverständnis zugrunde zu legen. So ist neben der Datenverarbeitung für die Grundlagenforschung etwa auch die für die angewandte und die privat finanzierte Forschung erfasst, Eg. 159 DS-GVO. 316 Eg. 159 DS-GVO; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 71 f. Daneben gibt es noch spezielle Regelungen für die individuellen Rechte der Betroffenen aus Kapitel III in Art. 21 Abs. 6, Art. 14 Abs. 5 lit. b), Art. 17 Abs. 3 lit. d) und Art. 89 Abs. 2 DS-GVO, vgl. hierzu Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 75. 317 Zum Begriff des pseudonomysieren s. bereits oben A. I. 1. b) Fn. 31. 318 Vgl. hierzu Spindler, MedR 2016, 691, 694. 319 Krit. hinsichtlich des begrenzten Anwendungsbereichs dieser Klausel, Dammann, ZD 2016, 307, 314. 320 Zu der Frage, ob etwa genetische Daten überhaupt anonymisierbar sind, s. bereits oben A. I. 1. b) Fn. 34. 321 Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit in § 27 BDSG Gebrauch gemacht, hierzu ausführlich unten B. III. 2. a) bb) (2)(b). 315
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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In der DS-GVO werden der wissenschaftlichen Forschung mithin zunehmend Datenverarbeitungsmöglichkeiten eingeräumt, die keiner Einwilligung der betroffenen Person bedürfen oder bei denen die Einwilligung nur eine von mehreren Ermächtigungsgrundlagen darstellt. Von einer solchen forschungsfördernden Herangehensweise profitiert die Systemmedizin. Eine Entmachtung des Patienten droht hingegen nicht, da die Einschränkungen der Einwilligung als Legitimationsgrundlage durch eine Erweiterung der anderen Betroffenenrechte in der DS-GVO ausgeglichen werden.322 c) Betroffenenrechte Die Rechte der Betroffenen zur Sicherung ihrer informationellen Selbstbestimmung sind im Wesentlichen im dritten Kapitel der DS-GVO normiert.323 Den einzelnen Rechten vorangestellt ist Art. 12 DS-GVO, der die Ausübung dieser Rechte im Allgemeinen betrifft. Zur Stärkung der Betroffenenrechte setzt der europäische Gesetzgeber auf mehr Transparenz und Information.324 Gleichzeitig gewährt er in Art. 23 DS-GVO den nationalen Gesetzgebern die Möglichkeit, die Ansprüche und Gestaltungsmöglichkeiten der betroffenen Personen einzuschränken.325 Die Betroffenenrechte lassen sich anhand ihrer Zielrichtung in fünf Kategorien unterteilen: Permissions-, Interventions-, Informations-, Petitions- und Kompensationsrechte.326 Welche Bedeutung den einzelnen Rechten in der Systemmedizin zukommt, sei kurz präsentiert. aa) Permissionsrechte Durch Ausübung eines Permissionsrechts kann der Betroffene Datenverarbeitungen erlauben, die grundsätzlich verboten sind.327 Das prominenteste Permissionsrecht ist die Einwilligung, geregelt in Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO.328
322
Vgl. Molnár-Gabór/Korbel, ZD 2016, 274, 278. Im Vergleich zur DSRL sind die Betroffenenrechte in der DS-GVO umfassender geregelt, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 1; Franck, RDV 2016, 111. 324 Vgl. Eg. 39 DS-GVO; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1183 ff. Die in Art. 12 DS-GVO normierten allgemeinen Pflichten sind keine bloßen Leitlinien, sondern sanktionsbewehrt, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 2 f. 325 S. hierzu sowie zu weiteren Einschränkungen der Betroffenenrechte Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 28 ff.; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1187 ff. Der deutsche Gesetzgeber hat von dieser Möglichkeit in § 29 BDSG, wonach Berufsgeheimnisträger weitgehend von ihrer Informations- und Auskunftserteilungspflicht an Betroffene ausgenommen sind, Gebrauch gemacht, s. Weichert, BuGBl. 2018, 285, 288. 326 Franck, RDV 2016, 111. 327 Franck, RDV 2016, 111. 328 Franck, RDV 2016, 111, 112; ausführlich zu den Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung und den möglichen Konfliktpotenzialen mit der Systemmedizin s. bereits oben B. III. 1. b) bb). 323
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
bb) Interventionsrechte Mithilfe seiner Interventionsrechte ist es dem Betroffenen möglich bestimmte Datenverarbeitungen zu unterbinden.329 Verschiedentliche Widerspruchsrechte sind in Art. 21 DS-GVO geregelt. So kann der Betroffene einer Datenverarbeitung, die auf einer Interessenabwägung beruht (Art. 6 Abs. 1 lit. e) und f) DS-GVO) oder zu wissenschaftlichen Forschungszwecken erfolgt, aus Gründen widersprechen, die sich aus seiner besonderen Situation ergeben, Art. 21 Abs. 1, 6 DS-GVO.330 Daneben hat der Betroffene gemäß Art. 17 Abs. 1 DS-GVO das Recht die Löschung seiner personenbezogenen Daten zu verlangen, wenn beispielsweise Zweckerreichung eingetreten ist (lit. a)) oder Widerspruch gemäß Art. 21 Abs. 1 DS-GVO eingelegt wurde (lit. c)). Hat der zur Löschung verpflichtete Verantwortliche die Daten öffentlich gemacht, muss er das Löschungsbegehren an Dritte, die auf diese Veröffentlichung verweisen, weiterleiten, sog. „Recht auf Vergessenwerden“,331 Art. 17 Abs. 2 DS-GVO.332 Die technische Umsetzung des Löschungsanspruchs bei einer Datenverarbeitung in sog. Datenwolken, wie es bei der Systemmedizin der Fall ist, ist zurzeit noch ungeklärt. Einzelne Datensätze in einer Datenwolke zu lokalisieren, gestaltet sich mitunter schwierig. Zudem könnte die Durchsetzung des Löschungsrechts durch Publikationen beeinträchtigt werden, wenn die Daten bereits in Datenbanken veröffentlicht sind. Eine Löschung würde in diesem Fall die Verwirklichung der Ziele der wissenschaftlichen Forschung in der Regel unmöglich machen oder zumindest ernsthaft beeinträchtigen, sodass das Löschungsrecht gemäß Art. 17 Abs. 3 lit. d) DS-GVO ausgeschlossen wäre.333 Ferner kann der Betroffene die Einschränkung der Datenverarbeitung334 erwirken, Art. 18 Abs. 1 DS-GVO, etwa wenn diese unrechtmäßig ist, eine Datenlöschung von ihm aber nicht gewünscht ist, lit. b).335 cc) Informationsrechte Die in der DS-GVO verankerten Informationsrechte sollen es dem Betroffenen ermöglichen nachzuvollziehen, was mit seinen Daten geschieht.336 329
Franck, RDV 2016, 111. Franck, RDV 2016, 111, 113; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 24. 331 Das sog. „Recht auf Vergessenwerden“ hat der EuGH bereits aus Art. 12 DSRL hergeleitet, EuGH NJW 2014, 2257, 2263 f. (Tz. 89 ff.) – Google Spain und Google; hierzu s. auch Spindler, JZ 2014, 981; Holznagel/Hartmann, MMR 2016, 228. 332 Vgl. auch Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 15 ff.; Franck, RDV 2016, 111, 114. 333 Vgl. Molnár-Gabór/Korbel, ZD 2016, 274, 278 f. 334 Im Rahmen einer eingeschränkten Verarbeitung dürfen die Daten, abgesehen von ihrer Speicherung, nur noch unter besonders engen Voraussetzungen und besonderen Zweckbestimmungen verarbeitet werden, vgl. Art. 18 Abs. 2 DS-GVO, Eg. 67 DS-GVO; Franck, RDV 2016, 111, 114 f. 335 Franck, RDV 2016, 111, 115; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 18. 330
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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Zur Gewährleistung des Transparenzgrundsatzes, Art. 5 Abs. 1 lit. a) DSGVO, wird der für die Datenverarbeitung Verantwortliche in Art. 13 (Direkterhebung) und Art. 14 DS-GVO (Erhebung aus anderen Quellen) verpflichtet, detailliert über die Datenverarbeitung zu informieren. Denn nur, wenn der Betroffene umfassend informiert ist, kann er seine Rechte auch effektiv wahrnehmen.337 Neben den Informationspflichten, die unabhängig von etwaigen Anfragen bestehen, hat der Betroffene ein allgemeines datenschutzrechtliches Auskunftsrecht, Art. 15 DS-GVO. Dessen Umfang erstreckt sich nicht nur auf die vorhandenen Daten, sondern auch auf die Frage, ob überhaupt Daten des Anspruchsstellers verarbeitet werden. Der Auskunftsanspruch bildet die Basis der privatautonomen Entscheidung der betroffenen Person.338 Bedingt durch die zahlreichen unterschiedlichen Einzeldaten, die im Rahmen der Systemmedizin verarbeitet und aus denen fortlaufend neue Erkenntnisse generiert werden, ist bereits die Reichweite und Detailtiefe des Auskunftsanspruchs problematisch. Angesichts der Sensibilität der verarbeiteten Daten geht mit dem Auskunftsrecht ein signifikanter zusätzlicher Informationsbedarf und unter Umständen sogar ärztlicher Beratungsbedarf einher.339 Darüber hinaus wird der Betroffene kaum alle potenziellen Anspruchsgegner kennen. Im Regelfall steht er nur in engem Kontakt mit seinem behandelnden Arzt. Um in Erfahrung bringen zu können, welche Daten von ihm wofür verarbeitet werden, benötigt der Betroffene allerdings Kenntnis aller an der Datenverarbeitung Beteiligten. Die Identifikation der einzelnen Akteure gestaltet sich unter Big-Data-Bedingungen zunehmend schwieriger. Ohne umfassende Auskunft über die verarbeiteten Daten, wird der Betroffene auch sein Recht auf Löschung nicht in vollem Umfang wahrnehmen können.340 dd) Petitionsrechte und Kompensationsrechte Schließlich sind in der DS-GVO Petitionsrechte, die Beschwerdemöglichkeiten verbriefen, und Kompensationsrechte in Gestalt von Schadensersatzansprüchen, verankert.341
336
Franck, RDV 2016, 111; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1149 f. 337 Eg. 60 DS-GVO; Franck, RDV 2016, 111, 115; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 4; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1149 ff.; Bäcker, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 7 ff. Näher zu Inhalt und Umfang der dem behandelnden Arzt obliegenden Informationspflichten gemäß Art. 13 DS-GVO unten 3. Kap., C. I. 4. 338 Eg. 63 DS-GVO; Franck, RDV 2016, 111, 117; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 9 ff. 339 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 140 f.; Weichert, DuD 2014, 831, 837. 340 Die Auskunftsrechte schließen grundsätzlich auch die Nachvollziehbarkeit des Datenverarbeitungsprozesses mit ein, vgl. Art. 22 DS-GVO; zu den Schwierigkeiten, die sich hierbei insbesondere hinsichtlich der Offenlegung der verwendeten Analyse-Algorithmen ergeben, s. Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 141 f. 341 Franck, RDV 2016, 111.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Für seine Beschwerden stehen dem Betroffenen mehrere Anlaufstellen zur Verfügung: Neben dem betrieblichen oder behördlichen Datenschutzbeauftragten, Art. 38 Abs. 4 DS-GVO, kann der Betroffene sich etwa auch an die Datenschutzaufsichtsbehörde, Art. 77 DS-GVO, oder standesrechtliche Gremien wenden.342 Gemäß Art. 82 Abs. 1 DS-GVO sind sowohl der Verantwortliche als auch der Auftragsverarbeiter zum Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens verpflichtet, welcher der betroffenen Person aufgrund einer gegen die Verordnung verstoßenden Datenverarbeitung entstanden ist.343 d) Verhältnis zum nationalen Recht: Anwendungsvorrang Die DS-GVO besitzt gemäß Art. 288 Abs. 2 S. 1 AEUV allgemeine Geltung344 und entspricht damit den Gesetzen auf nationaler Ebene.345 Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat, Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV.346 Gerät eine Vorschrift der DS-GVO mit einer deutschen Norm in Konflikt,347 so genießt die europäische Vorschrift grundsätzlich Anwendungsvorrang348 dergestalt, dass die nationale Regelung unbeachtet bleibt.349 342
Franck, RDV 2016, 111, 118. S. auch Eg. 143 DS-GVO; zu den §§ 280 ff. und §§ 823 ff. BGB besteht insoweit Anspruchsgrundlagenkonkurrenz, Franck, RDV 2016, 111, 119. 344 Das bedeutet, dass „sie auf objektiv bestimmte Sachverhalte anwendbar ist und Rechtswirkungen für allgemein und abstrakt umrissene Personengruppen zeitigt“, EuGH NJW 1977, 1583, 1584 – Scholten Honig/Rat; s. auch Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 39 f.; Biervert, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, Art. 288 AUEV Rn. 19. 345 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 89 ff.; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 39; Dochow, GesR 2016, 401. 346 Umsetzungsrechtsakte sind grundsätzlich nur dann zulässig und erforderlich, wenn die Verordnung dies vorsieht, Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 101; zum Wesen europarechtlicher Verordnungen s. ausführlich Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 38 ff. m. w. N.; Biervert, in: Schwarze/Becker/ Hatje/Schoo, EU-Kommentar, Art. 288 AUEV Rn. 18 ff. 347 Da es der EU an der Kompetenz fehlt deutsche Gesetze außer Kraft zu setzen oder zu verändern, gelten diese auch nach Erlass einer unionsrechtlichen Verordnung zunächst unverändert fort, wodurch es zu Normkonflikten kommen kann, Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 4; zu der Fragestellung, wann ein Konflikt zwischen Unionsrecht und nationalem Recht besteht, ders., ebd., § 2 Rn. 10 ff. 348 Grundlegend EuGH NJW 1964, 2371 – Costa/ENEL; BVerfGE 31, 145, 173 ff. = NJW 1971, 2122, 2124. Der Anwendungsvorrang ist zwar nicht ausdrücklich verfassungsrechtlich verankert, wird aber nunmehr in der Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte von Lissabon bestätigt. Zur Begründung des Anwendungsvorrangs s. EuGH NJW 1964, 2371 – Costa/ENEL; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2(2012), Art. 288 AEUV Rn. 40 f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rn. 16 f. Während nach Ansicht des EuGH der Anwendungsvorrang der Unionsverordnung auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht gilt, EuGH NJW 1971, 343 f. – Internationale Handelsgesellschaft, betrachtet das BVerfG den unantastbaren „Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG“ als dessen Grenze, BVerfGE 123, 267, 353f. = NJW 2009, 2267, 2272. Gelungene Streitaufbereitung bei Biervert, in: Schwarze/ Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, Art. 288 AUEV Rn. 7 ff. 343
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
83
Der Anwendungsvorrang der DS-GVO gilt also nur für Fälle, in denen ein Widerspruch zwischen der unionsrechtlichen und der nationalen Regelung besteht. Widersprechen sich die Normen hingegen nicht, sondern dient die nationale Vorschrift lediglich der Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, der Konkretisierung ausfüllungsbedürftiger Vorgaben, der Ergänzung unvollständiger Regelungen oder der Schließung von Regelungslücken, ohne das Regelungsziel der Verordnung zu verletzen, kann die deutsche Norm weiter anwendbar bleiben, auch wenn ihr Wortlaut sich von dem der DS-GVO unterscheidet. Ob eine der beschriebenen Alternativen vorliegt, ist jeweils im Einzelfall festzustellen.350 Grundsätzlich sind die Mitgliedsstaaten gehalten ihr nationales Recht an die Verordnung anzupassen, um Rechtsunsicherheiten bei den Normadressaten zu vermeiden.351 Der Anpassungszwang ist jedoch auf den Bereich des zwingenden Anwendungsbefehls der DS-GVO begrenzt.352 Die Verarbeitung personenbezogener Daten wird ab dem Zeitpunkt der unmittelbaren Geltung der DS-GVO im Grundsatz durch diese geregelt.353 So bleibt Raum für die Anwendbarkeit deutscher Vorschriften im Geltungsbereich der Verordnung, wo der europäische Gesetzgeber explizite Spielräume354 für nationale Regelungen gewährt. In der Datenschutzverordnung sind mindestens 70 derartiger Öffnungsklauseln355 normiert, weshalb die DS-GVO auch als „atypischer Hybrid aus Verordnung und Richtlinie“ bezeichnet wird.356 Eine der bedeutendsten Klauseln findet sich in Art. 6 Abs. 2 DS-GVO, wo die Erlaubnis zur mitgliedsstaatlichen Datenschutzgesetzgebung im öffentlichen Bereich festgeschrieben ist.357
349 Das kollidierende deutsche Recht wird unanwendbar, verliert jedoch nicht seine Gültigkeit, Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rn. 35 ff. m. w. N.; Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 5 f.; Ruffert, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rn. 18 ff.; Biervert, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, Art. 288 AUEV Rn. 6; Dochow, GesR 2016, 401 (h. M.); für den Geltungsvorrang klassisch Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 113. 350 Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 17. 351 Eine Nichtanpassung des nationalen Rechts stellt einen Verstoß gegen die primärrechtliche Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit dar, Art. 4 Abs. 3 EUV, EuGH, Rs. C–74/ 86, Slg. 1988, 2139 (Tz. 10 f.) – Kommission/Deutschland; s. auch Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 47. Zu den Ausgestaltungsmöglichkeiten nationaler Gesetzgebung im Anwendungsbereich der DS-GVO s. Benecke/Wagner, DVBl. 2016, 600, 604 ff. 352 Kühling/Martini et al., Die Datenschutzgrundverordnung und das nationale Recht, S. 3. 353 Ausführlich zum Anwendungsbereich der DS-GVO bereits oben B. III. 1. a). 354 Näher zu den durch die Öffnungsklauseln der DS-GVO vermittelten Spielräumen für mitgliedsstaatliche Gesetzgebung Benecke/Wagner, DVBl. 2016, 600. 355 Es handelt sich hierbei sowohl um Regelungsverpflichtungen als auch um bloße Regelungsoptionen für die Mitgliedsstaaten. Zur Kategorisierung der Öffnungsklauseln s. Kühling/Martini et al., Die Datenschutzgrundverordnung und das nationale Recht, S. 9 ff.; Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 1 Rn. 49. 356 Kühling/Martini, EuZW 2016, 448, 449; s. auch Dochow, GesR 2016, 401, 402. 357 Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 18; ausführlich zu Art. 6 Abs. 2 DS-GVO Benecke/Wagner, DVBl. 2016, 600 f.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Voraussetzung für die Anwendbarkeit deutscher Datenschutznormen ist deren zielgerichtete und widerspruchsfreie Unterstützung der effektiven Umsetzung der DS-GVO.358 Die Reichweite des Anwendungsvorrangs ist für jede Vorschrift der DS-GVO und des deutschen Datenschutzrechts separat festzustellen.359 Inwieweit die nationalen Normen, die für die Datenverarbeitung im Rahmen der Systemmedizin relevant sind, neben der DS-GVO Anwendung finden, wird im Folgenden dargestellt. 2. Nationales Recht Das deutsche Datenschutzrecht im Gesundheitsbereich fußt primär auf dem klassischen allgemeinen Datenschutzrecht sowie den bereichsspezifischen Regelungen, zu denen insbesondere das GenDG und die Sozialgesetzbücher zählen.360 a) Allgemeines Datenschutzrecht Die allgemeinen datenschutzrechtlichen Normen waren bislang im BDSG und den 16 Landesdatenschutzgesetzen normiert. Um ein Zusammenspiel des stark ausdifferenzierten deutschen Datenschutzrechts mit den neuen europäischen Vorgaben der DS-GVO sicherzustellen, war jedoch eine Anpassung des BDSG erforderlich. Deshalb ist am 25. Mai 2018 das sog. Datenschutzanpassungs- und Umsetzungsgesetz EU361 (DSAnpUG-EU) in Kraft getreten, welches das alte BDSG den europäischen Vorgaben entsprechend ausgestaltet, insbesondere die in der DS-GVO vorgesehenen Öffnungsklauseln ausfüllt.362 aa) Anwendungsbereich In der neuen Fassung des § 1 Abs. 5 BDSG stellt der Gesetzgeber klar, dass der DS-GVO im Rahmen ihres Anwendungsbereichs unmittelbare Geltung zukommt, die Vorschriften des BDSG mithin unanwendbar sind. Lediglich für die Bereiche, die grundsätzlich nicht zum Anwendungsfeld der DS-GVO zählen, obliegt es dem deutschen Gesetzgeber Regelungen zu treffen.363 Der Anwendungsbereich des neuen BDSG erstreckt sich gemäß § 1 Abs. 1 BDSG auf jede Form der Verarbeitung personenbezogener Daten durch öffentliche Stellen des Bundes und der Länder, soweit nicht landesrechtliche Regelungen
358
Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 20. Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 26; Roßnagel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 2 Rn. 33. 360 Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 219. 361 Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 v. 30.6.2017, BGBl. 2017 I Nr. 44 S. 2097. Das DSAnpUG-EU gliedert sich in acht Artikel. Art. 1 des Gesetzes enthält die Neufassung des BDSG. 362 Vgl. Helfrich, ZD 2017, 97; Lippert, GesR 2018, 613, 619; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 206 ff. 363 Barlag, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 27 ff. 359
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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greifen.364 Nichtöffentliche Stellen365 sind im Rahmen des sachlichen Anwendungsbereichs der DS-GVO an die Regelungen des BDSG gebunden, § 1 Abs. 1 S. 2 BDSG. Aus § 1 Abs. 2 BDSG ergibt sich der grundsätzliche Vorrang spezifischer datenschutzrechtlicher Vorschriften des Bundes gegenüber den Regelungen des BDSG, welches den Charakter eines Auffanggesetzes hat.366 In räumlicher Hinsicht ist der Anwendungsbereich des neuen BDSG für nichtöffentliche Stellen gemäß § 1 Abs. 4 BDSG in den folgenden drei Fallkonstellationen eröffnet: sofern der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter personenbezogene Daten im Inland verarbeitet (Nr. 1), die Verarbeitung im Rahmen der Tätigkeit einer inländischen Niederlassung des Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiters erfolgt (Nr. 2) oder der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter zwar keine Niederlassung in der EU hat, er aber in den Anwendungsbereich der DSGVO fällt (Nr. 3). Für Datenverarbeitungen durch öffentliche Stellen, die weder dem Anwendungsbereich der DS-GVO noch der RL 2016/680367 unterfallen, findet die DSGVO und Teil 1 und Teil 2 des BDSG entsprechend Anwendung, § 1 Abs. 8 DSGVO. bb) Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung nach dem BDSG ist – nicht nur wie im Rahmen der DS-GVO – zwischen personenbezogenen und besonderen Kategorien personenbezogener Daten zu differenzieren, sondern zusätzlich auch nach der die Daten verarbeitenden Stelle. (1)Allgemeine Voraussetzungen der Datenverarbeitung Gemäß § 3 BDSG ist die Verarbeitung personenbezogener Daten durch eine öffentliche Stelle zulässig, wenn sie zur Erfüllung der in der Zuständigkeit des Verantwortlichen liegenden Aufgabe oder in Ausübung öffentlicher Gewalt, die dem 364
Das neue BDSG hat also, wie auch das bisherige BDSG, einen weiteren Anwendungsbereich als die DS-GVO, BT-Drs. 18/11325, S. 79. 365 Ob eine Stelle öffentlich oder nichtöffentlich bzw. eine solche des Bundes oder der Länder ist, ergibt sich aus den Begriffsbestimmungen des § 2 BDSG. In Art. 4 Nr. 7 DSGVO gewährt der europäische Gesetzgeber den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, den Verantwortlichen für die Datenverarbeitung in den Fällen näher zu bestimmen, in denen sie Zweck und Mittel der Verarbeitung festlegen können. Damit sind eine Kategorisierung der Verantwortlichen und die Aufrechterhaltung der Differenzierung nach öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen grundsätzlich zulässig, auch wenn eine derartige Differenzierung in der DS-GVO grundsätzlich nicht angelegt ist, Kühling/Martini et al., Die Datenschutzgrundverordnung und das nationale Recht, S. 25, 307. 366 BT-Drs. 18/11325, S. 79; s. auch Lippert, GesR 2018, 613, 619. 367 Richtlinie 2016/680/EU des europäischen Parlaments und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl. L 119 v. 4.5.2016, S. 89.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Verantwortlichen übertragen wurde, erforderlich ist.368 Die weiteren Erlaubnistatbestände für die Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen ergeben sich unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 DS-GVO.369 Während sich für den deutschen Gesetzgeber hinsichtlich der Regulierung der Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen große Handlungsspielräume in der DS-GVO ergeben, sind für den nichtöffentlichen Bereich keine entsprechend weitgehenden Öffnungsklauseln vorgesehen. Nichtöffentliche Stellen sind somit weitgehend an die Regelungen der Verordnung gebunden.370 Eine Ausnahme gilt allerdings für die Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem sie ursprünglich erhoben wurden. Deren Zulässigkeit richtet sich für nichtöffentliche Stellen nach § 24 Abs. 1 BDSG. Öffentlichen Stellen ist im Rahmen der jeweiligen Aufgabenerfüllung die Weiterverarbeitung unter den Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 BDSG gestattet.371 (2)Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten Die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten richtet sich vornehmlich nach den §§ 22 und 27 BDSG. § 22 BDSG Abweichend von Art. 9 Abs. 1 DS-GVO hat der deutsche Gesetzgeber in § 22 Abs. 1 BDSG sieben Erlaubnistatbestände für die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten normiert. So ist die Datenverarbeitung durch öffentliche und nichtöffentliche Stellen zulässig, wenn sie zum Zwecke der Gesundheitsvorsorge, für die medizinische Diagnostik, die Versorgung oder Behandlung im Gesundheits- und Sozialbereich oder aufgrund eines Vertrags des Betroffenen mit einem Angehörigen eines Gesundheitsberufs372 erforderlich ist, § 22 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) BDSG.373 Die Erlaubnistatbestände des § 22 Abs. 1 BDSG treten neben die in Art. 9 Abs. 2 DS-GVO normierten Ausnahmetatbestände.374
368
Mit dieser Regelung hat der deutsche Gesetzgeber von der in Art. 6 Abs. 2 DS-GVO normierten Öffnungsklausel Gebrauch gemacht, vgl. BT-Drs. 18/11325, S. 81. 369 BT-Drs. 18/11325, S. 81. 370 Zu den Voraussetzungen einer rechtmäßigen Datenverarbeitung nach der DS-GVO s. bereits oben B. III. 1. b). Die Datenverarbeitung durch nichtöffentliche Stellen hat mit Inkrafttreten der DS-GVO eine weitgehende Vollharmonisierung erfahren, Kühling/Martini et al., Die Datenschutzgrundverordnung und das nationale Recht, S. 301, 428; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 209. 371 Dies gilt unabhängig davon, ob die Zwecke der Weiterverarbeitung mit den Zwecken, für welche die Daten ursprünglich erhoben wurden, nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO vereinbar sind. Mit Einführung der § 23 Abs. 1 und § 24 Abs. 1 BDSG schöpft der deutsche Gesetzgeber den in Art. 6 Abs. 4 i. V. m. Art. 23 Abs. 1 DS-GVO gewährten Gestaltungsspielraum aus, BT-Drs. 18/11325, S. 95 f.; krit. hierzu Helfrich, ZD 2017, 97, 98: die in § 23 BDSG normierten Tatbestände seien bereits durch die Verordnung erfasst. Die erneute Regelung stelle einen Verstoß gegen EU-Recht dar. 372 Gemeint ist ein Behandlungsvertrag gemäß §§ 630a ff. BGB, BT-Drs. 18/11325, S. 95. 373 Mit Normierung des § 22 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) BDSG macht der deutsche Gesetzgeber von der Öffnungsklausel des Art. 9 Abs. 2 lit. h) i. V. m. Abs. 3 DS-GVO Gebrauch, BT-
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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Die Weiterverarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten ist in den §§ 23 Abs. 2 und 24 Abs. 2 BDSG geregelt: Zusätzlich zu den jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen des Absatzes 1 muss auch ein Ausnahmetatbestand nach Art. 9 Abs. 2 DS-GVO oder nach § 22 BDSG vorliegen. § 27 BDSG Die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten für wissenschaftliche Forschungszwecke ist gemäß § 27 Abs. 1 BDSG auch ohne Einwilligung des Betroffenen zulässig, wenn die Verarbeitung zu diesen Zwecken erforderlich ist und die Interessen des Verantwortlichen an der Verarbeitung die Interessen der betroffenen Person an einem Ausschluss der Verarbeitung erheblich überwiegen.375 Der Verantwortliche hat allerdings angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Interessen des Betroffenen gemäß § 22 Abs. 2 S. 2 BDSG vorzusehen, § 27 Abs. 1 S. 2 BDSG.376 Eine weitere Privilegierung betrifft die Weiterverarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten für wissenschaftliche Forschungszwecke: Gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. b) DS-GVO gilt eine Weiterverarbeitung für wissenschaftliche Forschungszwecke als vereinbar mit den ursprünglichen Zwecken. Deshalb kann sich der Verantwortliche als Rechtsgrundlage für die Weiterverarbeitung erneut auf diejenige der Erstverarbeitung stützen, somit auf § 27 Abs. 1 BDSG als Ausnahmetatbestand von dem Verbot des Art. 9 Abs. 1 DS-GVO. §§ 23, 24 BDSG finden insoweit keine Anwendung.377 In § 27 Abs. 2 S. 1 BDSG werden die in den Art. 15, 16, 18 und 21 DS-GVO vorgesehenen Rechte des Betroffenen insoweit beschränkt, als die Ausübung dieser Rechte voraussichtlich die Verwirklichung der Forschungszwecke unmöglich macht oder ernsthaft beeinträchtigt und die Beschränkung für die Erfüllung Drs. 18/11325, S. 94 f.; krit. hierzu Helfrich, ZD 2017, 97, 98, der in § 22 BDSG lediglich eine verbotene Wiederholung des Regelungsgehalts des Art. 9 DS-GVO sieht. 374 BT-Drs. 18/11325, S. 94; zur Verarbeitung von besonderen Kategorien personenbezogener Daten nach der DS-GVO s. bereits oben B. III. 1. b) bb) (1). 375 Mit § 27 Abs. 1 BDSG, der für die öffentliche und private Forschung durch öffentliche und nichtöffentliche Stellen gilt, nutzt der deutsche Gesetzgeber den in Art. 9 Abs. 2 lit. j) DS-GVO gewährten Handlungsspielraum. Der Anwendungsbereich des § 27 Abs. 1 BDSG ist auf die Verarbeitung von Daten i. S. v. Art. 9 Abs. 1 DS-GVO beschränkt. Die Verarbeitung von nicht unter Art. 9 Abs. 1 DS-GVO fallenden Daten richtet sich entweder unmittelbar nach der Verordnung (insbes. Art. 6 Abs. 1) oder nach im Einklang mit der Verordnung erlassenen Rechtsgrundlagen des europäischen oder nationalen Gesetzgebers, BT-Drs. 18/11325, S. 99; s. auch Lippert, GesR 2018, 613, 620. Ob diese Bewertung dem Willen des europäischen Gesetzgebers entspricht, wird teilweise bezweifelt, s. etwa Spranger, MedR 2017, 864, 866. 376 Diese Verpflichtung trägt den in Art. 9 Abs. 2 lit. j) DS-GVO formulierten Forderungen, dass eine Forschungsklausel in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, Rechnung, BT-Drs. 18/11325, S. 99; s. auch Lippert, GesR 2018, 613, 620. 377 Entsprechendes gilt für die Übermittlung besonderer Kategorien von Daten durch öffentliche Stellen zu wissenschaftlichen Forschungszwecken. § 25 BDSG ist insoweit nicht anwendbar, BT-Drs. 18/11325, S. 99.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
der Forschungszwecke notwendig ist.378 Das Auskunftsrecht des Betroffenen gemäß Art. 15 DS-GVO ist darüber hinaus in Fällen unverhältnismäßigen Aufwands der Auskunftserteilung eingeschränkt, § 27 Abs. 2 S. 2 BDSG.379 Die Einschränkung der Betroffenenrechte in § 27 Abs. 2 BDSG gilt für alle Kategorien personenbezogener Daten.380 Ergänzend zu den in § 22 Abs. 2 BDSG genannten Maßnahmen sind zu wissenschaftlichen Forschungszwecken verarbeitete, besondere Kategorien personenbezogener Daten gemäß § 27 Abs. 3 BDSG zu anonymisieren, sobald dies nach dem Forschungszweck möglich ist.381 Spezialgesetzliche Regelungen sind gegenüber § 27 BDSG vorrangig anzuwenden, § 1 Abs. 2 BDSG. Derartige Vorschriften finden sich etwa in den Sozialgesetzbüchern.382 b) Bereichsspezifisches Datenschutzrecht Im deutschen Recht finden sich, insbesondere im Gesundheitsbereich, zahlreiche bereichsspezifische Datenschutzvorschriften. Im Folgenden werden exemplarisch einzelne, für die Systemmedizin besonders relevante Regelungen vorgestellt. aa) GenDG Das GenDG dient dem Ziel, die mit der Untersuchung menschlicher genetischer Eigenschaften verbundene mögliche Gefahr einer genetischen Diskriminierung zu verhindern und gleichzeitig die Chancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen für den einzelnen Menschen zu wahren. Im Fokus steht der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts383 der untersuchten Person, vgl. § 1 GenDG.384 Der Anwendungsbereich des GenDG erstreckt sich auf genetische Untersuchungen und Analysen385 inklusive der ermittelten Ergebnisse bei geborenen Menschen sowie bei Embryonen und Föten während der Schwangerschaft, § 2 Abs. 1 GenDG. 378
So kann die Verwirklichung des Forschungszwecks in bestimmten Fällen ohne Einschränkung des Auskunftsrechts aus Art. 15 DS-GVO etwa dann unmöglich sein, wenn die zuständige Ethikkommission zum Schutz der betroffenen Person eine Durchführung des Projekts andernfalls untersagen würde. Für die Beschränkung in § 27 Abs. 2 S. 1 BDSG stützt sich der Gesetzgeber auf die Öffnungsklausel des Art. 89 Abs. 2 DS-GVO, BT-Drs. 18/11325, S. 99; s. auch Lippert, GesR 2018, 613, 620. 379 Das ist etwa der Fall, wenn ein Forschungsvorhaben mit besonders großen Datenmengen arbeitet. § 27 Abs. 2 S. 2 BDSG geht auf die in Art. 23 Abs. 1 lit. i) DS-GVO normierte Öffnungsklausel zurück, BT-Drs. 18/11325, S. 99 f.; s. auch Lippert, GesR 2018, 613, 620. 380 BT-Drs. 18/11325, S. 100; s. auch Lippert, GesR 2018, 613, 620. 381 Zu der Frage, ob genetische Daten aufgrund ihrer Einzigartigkeit überhaupt anonymisierbar sind, bereits oben A. I. 1. b) Fn. 34. 382 BT-Drs. 18/11325, S. 100. 383 Eingehend zum informationellen Selbstbestimmungsrecht bereits oben A. 384 BT-Drs. 16/10532, S. 16; s. auch Eberbach, MedR 2010, 155, 157. 385 Ausführlich zu den einzelnen Begriffsbestimmungen des GenDG bereits oben 1. Kap., A. II. 3.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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In personeller Hinsicht ausgeschlossen sind damit einerseits Verstorbene, sowie tote Embryonen und Föten, andererseits extrakorporal erzeugte und sich außerhalb des Mutterleibes befindliche Embryonen, d. h. also die Präimplantationsdiagnostik386 und die präkonzeptionelle Polkörperdiagnostik387.388 Regelungsadressaten sind grundsätzlich sowohl private als auch öffentliche Stellen.389 Der sachliche Anwendungsbereich ist auf genetische Daten, die als Daten über genetische Eigenschaften legaldefiniert sind, § 3 Nr. 11 GenDG, beschränkt.390 Genetische Eigenschaften i. S. d. GenDG sind wiederum nur ererbte oder während der Befruchtung oder bis zur Geburt erworbene, vom Menschen stammende Erbinformationen, § 3 Nr. 4 GenDG.391 Genetische Merkmale, die erst nach der Geburt entstehen (sog. Neumutationen), sind somit nicht vom Begriff der genetischen Eigenschaft erfasst, auch wenn sie vererbbar sind.392 Sog. somatische genetische 386
Präimplantationsdiagnostik bezeichnet die Untersuchung eines durch In-vitro-Fertilisation entstandenen Embryos. Ziel ist es, Embryonen ohne ererbte Gendefekte für die Einsetzung in die Gebärmutter auszuwählen, Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Präimplantationsdiagnostik; ausführlich zum rechtlichen Rahmen der Präimplantationsdiagnostik, Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik. 387 Die Polkörperdiagnostik ist ein Verfahren zur präkonzeptionellen Diagnose bestimmter monogener Erkrankungen durch genetische Untersuchung der Polkörper einer im Rahmen der assistierten Reproduktion entnommenen Eizelle. Darüber hinaus wird die Polkörperdiagnostik auch zum indirekten Nachweis mütterlich vererbter, struktureller Chromosomenaberrationen angewendet, Griesinger et al., DÄBl. 2009, 533; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Polkörperdiagnostik. 388 BT-Drs. 16/10532, S. 20; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 179 f. Vorgeburtliche Risikoabklärungen während einer Schwangerschaft, etwa im Rahmen der Pränataldiagnostik, fallen hingegen in den Anwendungsbereich des GenDG, wenn sie sich auf den vorgeburtlichen Untersuchungszeitraum beziehen, Hübner/Pühler, in: FS Dahm, 2017, S. 243, 256. Die Pränataldiagnostik umfasst invasive und nichtinvasive Maßnahmen, die an Feten und Schwangeren durchgeführt werden, um morphologische, strukturelle, funktionelle, chromosomale und molekulare Störungen vor der Geburt zu erkennen oder auszuschließen, Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Pränataldiagnostik; Ronellenfitsch, NJW 2006, 321, 322 Fn. 12 m. weiterführenden Nachweisen. 389 Einige Normen sind in ihrer Geltung auf bestimmte Bereiche beschränkt, wie z. B. § 18 GenDG für den privaten Versicherungsbereich, s. Hübner/Pühler, in: FS Dahm, S. 243, 244; hierzu auch unten C. II. 2. 390 Zu den allgemeinen Charakteristika genetischer Daten losgelöst vom Begriffsverständnis des GenDG s. Stockter, Das Verbot genetischer Diskriminierung, S. 80 ff. 391 Eine methodenspezifische Differenzierung nach der Art der Feststellung ist in dieser Begriffsbestimmung nicht enthalten, sodass auch genetische Eigenschaften, die mithilfe von Phänotypuntersuchungen oder auf andere Weise ermittelt werden, von § 3 Nr. 4 GenDG erfasst werden, Hahn/Schwarz, in: Kern, GenDG Kommentar, § 3 Rn. 26; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 3 GenDG Rn. 33. 392 Auslöser für Neumutationen können unterschiedliche äußere Einflüsse wie radioaktive Strahlung, bestimmte Chemikalien oder andere Umweltbelastungen sein, sog. induzierte Mutationen. Ebenso sind Spontanmutationen denkbar, die ohne erkennbare äußere Ursache auftreten, s. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Mutation; Stockter, Das Verbot genetischer Diskriminierung, S. 82; ders., in: Prütting, MedR Kommentar, § 3 GenDG Rn. 38. Der Bundesrat hatte sich in seiner Stellungnahme v. 10.10.2008 hingegen für eine Erweiterung des § 3 Nr. 4 GenDG auf nachgeburtliche genetische Veränderungen ausgesprochen, BR-Drs. 633/08, S. 6.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Veränderungen sind nach der Zielsetzung des Gesetzes selbst dann nicht erfasst, wenn sie bereits pränatal auftreten, da sie lediglich einzelne Körperzellen, aus denen keine Geschlechtszellen hervorgehen, betreffen und damit im Gegensatz zu Keimbahnmutationen nicht ererbt sind.393 Auf somatische genetische Veränderungen sind damit nur die allgemeinen Vorschriften394 anwendbar.395 Nach dem Wortlaut ebenfalls von § 3 Nr. 4 GenDG ausgeschlossen sind Erbinformationen, die nicht menschlichen Ursprungs sind, wie zum Beispiel das HI-Virus.396 Weitere Beschränkungen des Anwendungsbereichs des GenDG sind in § 2 Abs. 2 GenDG normiert. So sind die Vorschriften des GenDG nicht auf genetische Untersuchungen und Analysen sowie deren Ergebnisse zu Forschungszwecken, § 2 Abs. 2 Nr. 1 GenDG, anwendbar. Darüber hinaus gilt das Gesetz nicht, soweit andere Vorschriften, die abschließend in § 2 Abs. 2 Nr. 2 GenDG aufgeführt sind, spezielle Regelungen enthalten.397 Die Voraussetzungen für die Ermittlung und Verwendung genetischer Daten sind in den §§ 7–16 GenDG geregelt. Im Vorfeld der Untersuchung ist insbesondere der Arztvorbehalt des § 7 GenDG zu beachten, der eine qualifizierte Durchführung und Beratung diagnostischer und prädiktiver genetischer Untersuchungen sicherstellen soll.398 Zudem ist zur Wahrung der informationellen Selbstbestimmung eine ausdrückliche und schriftliche Einwilligung des Betroffenen einzuholen, § 8 Abs. 1 GenDG. Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung ist die vorherige Aufklärung über Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung durch die verantwortliche ärztliche Person, § 9 Abs. 1 GenDG.399 Zusätzlich zur „allgemeinen“ ärztlichen Aufklärung ist im GenDG schließlich eine spezielle genetische Beratung normiert.400 Hierbei sind, je nachdem, ob eine diagnostische oder eine prädiktive genetische Untersuchung durchgeführt wird, unterschiedliche Beratungsanforderungen zu beachten, § 10 GenDG.401 393
Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, § 3 Rn. 25; Hahn/Schwarz, in: Kern, GenDG Kommentar, § 3 Rn. 24; BT-Drs. 16/10532, S. 21; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 3 GenDG Rn. 38 f.; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Mutation. 394 Allgemeines Arztrecht sowie Datenschutzrecht (BDSG, ggf. bereichsspezifische Datenschutzbestimmungen der Länder, § 203 StGB), s. BT-Drs. 16/10532, S. 21. 395 Grund für den Ausschluss ist gemäß der Gesetzesbegründung die geringere Aussagekraft und Bedeutung somatischer Mutationen, mangels Auswirkungen über das getestete Individuum hinaus sowie lebenslanger Gültigkeit. Der Gesetzgeber geht von der Besonderheit genetischer Daten aus, BT-Drs. 16/10532, S. 21; Häberle, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3 GenDG Rn. 1; zur genetischen Exzeptionalismus-Debatte s. unten C. IV. Dabei ist der größte Teil bösartiger Tumore auf somatische Mutationen zurückzuführen, DFG, Stellungnahme Prädiktive genetische Diagnostik, 1999, S. 9. 396 Diese sind Folgen von Infektionen und Übertragung von Retroviren, die zu einer Integration der viralen Erbinformation in die DNS des Infizierten führen, BT-Drs. 16/10532, S. 21. 397 Hübner/Pühler, in: FS Dahm, S. 243, 245. 398 BT-Drs. 16/10532, S. 25; Genenger, NJW 2010, 113, 114. 399 Näher zu Einwilligung und Aufklärung der betroffenen Person unten 3. Kap., B. III.; zur Aufklärung über sog. Zufallsbefunde s. unten 3. Kap., D. II. 2. 400 Eberbach, MedR 2010, 155, 157. 401 Ausführlich zu den Anforderungen an die genetische Beratung unten 3. Kap., C. I. 3.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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In den §§ 11–13 GenDG ist die Mitteilung, Aufbewahrung und Vernichtung gewonnener Ergebnisse und Proben geregelt. Grundsätzlich hat der verantwortliche Arzt ausschließlich der untersuchten Person die Untersuchungsergebnisse402 mitzuteilen, § 11 Abs. 1 GenDG.403 Zum Schutz des Rechts auf Nichtwissen hat die Mitteilung zu unterbleiben, wenn der Betroffene die Vernichtung der Ergebnisse verlangt oder seine Einwilligung widerruft, § 11 Abs. 4 GenDG.404 Die Aufbewahrungsfrist für die Ergebnisse beträgt grundsätzlich 10 Jahre, es sei denn die untersuchte Person verlangt deren vorzeitige Vernichtung oder längere Aufbewahrung, § 12 Abs. 1 GenDG. Um den unbefugten Zugriff auf und die unbefugte Weitergabe, Verwendung und Vernichtung genetischer Proben zu verhindern, dürfen diese gemäß § 13 Abs. 1 GenDG lediglich für die Zwecke verwendet werden, für die sie gewonnen wurden.405 Eine Verwendung zu anderen Zwecken ist nur aufgrund entsprechender gesetzlicher Regelungen oder mit ausdrücklicher, schriftlicher Einwilligung des Betroffenen zulässig, § 13 Abs. 2 GenDG.406 Die Erörterung der Vorschriften des GenDG zeigt, dass die untersuchte Person in Bezug auf die von ihr erhobenen Daten zu jedem Zeitpunkt Herr des Verfahrens bleibt. Ihre Einwilligung nach entsprechender Aufklärung ist maßgebende Zulässigkeitsvoraussetzung für jegliche genetische Untersuchung nach dem GenDG.407 In der DS-GVO gibt es keine spezifischen Bestimmungen zum Umgang mit genetischen Daten. Vielmehr gehören diese nach dem Verständnis des europäischen Gesetzgebers zu den besonderen Kategorien personenbezogener Daten, denen insbesondere durch die Regelungen des Art. 9 DS-GVO ein erhöhter Schutz zuteil wird. Gemäß Art. 9 Abs. 4 DS-GVO können die Mitgliedsstaaten für die Verarbeitung genetischer Daten zusätzlich zu den Bestimmungen des Art. 9 DSGVO nationale Vorschriften einführen oder aufrechterhalten. Speziell für den Gesundheits-, Sozial- und Arbeitsbereich ergibt sich die weitere Anwendbarkeit des GenDG neben der DS-GVO aus Art. 9 Abs. 2 lit. h) DS-GVO.408 Sofern im Rahmen der Systemmedizin genetische Daten i. S. d. GenDG verwendet werden, sind mithin sowohl die Bestimmungen des GenDG als auch die des Art. 9 DS-GVO zu beachten.
402
Von den genetischen Untersuchungsergebnissen nicht erfasst sind die genetischen Rohdaten. Zum Recht des Patienten auf Herausgabe seiner genetischen Rohdaten s. ausführlich Fleischer/Schickhardt/Taupitz/Winkler, MedR 2016, 481. 403 Näher zur Schweigepflicht des Arztes unten 3. Kap., C. II. 404 Zur Alternativität der Ansprüche auf Kenntnisnahme und Vernichtung, Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 11 GenDG Rn. 20 f. 405 BT-Drs. 16/10532, S. 30. 406 Damit wird die Möglichkeit offen gehalten, dass die für genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken erhobenen Proben auch zu Forschungszwecken verwendet werden können, soweit dies nach den entsprechenden Vorschriften zulässig ist, BT-Drs. 16/10532, S. 30. 407 Eberbach, MedR 2010, 155, 157. 408 Vgl. Nebel, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 3 Rn. 105; Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 329.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
bb) Sozialdatenschutz: SGB I und X Das Datenschutzrecht im Bereich der sozialen Sicherheit ist von dem Bestreben des Gesetzgebers geprägt, den Schutz der Sozialdaten umfassend und eigenständig zu regeln.409 Die allgemeinen Grundsätze des Sozialdatenschutzes sind in den §§ 67 ff. SGB X normiert, die übergreifend für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuches gelten. Daneben existieren bereichsspezifische Datenschutzregelungen in den einzelnen Büchern des Sozialgesetzbuches. So sind etwa in den §§ 284 ff. SGB V spezielle Vorschriften für den Bereich der GKV normiert,410 die den Normen des SGB X vorgehen.411 Dieses spezifische Regelungssystem der Sozialgesetzbücher genießt als sog. „Vollregelung“412 Vorrang vor den allgemeinen Vorschriften des BDSG, § 1 Abs. 2 BDSG. Als in sich abgeschlossenes System sind Rückgriffe auf das BDSG, abgesehen von ausdrücklichen Verweisen, entbehrlich.413 Regelungsadressaten sind gemäß § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X die in § 35 Abs. 1 SGB I aufgezählten Institutionen, unabhängig davon, ob sie einen öffentlichrechtlichen oder privatrechtlichen Status besitzen.414 Grundlage des Sozialdatenschutzes ist das in § 35 Abs. 1 SGB I normierte Sozialgeheimnis, dem Sozialdaten i. S. d. § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X unterliegen. Die Verarbeitung von Sozialdaten ist gemäß § 35 Abs. 2 SGB I unter den Voraussetzungen der §§ 67–85a SGB X zulässig.415 Die Datenerhebung, besondere Kategorien personenbezogener Daten i. S. d. Art. 9 Abs. 1 DS-GVO eingeschlossen, ist nach § 67a Abs. 1 SGB X nur bei Erforderlichkeit zur Erfüllung einer Aufgabe der erhebenden Stelle nach dem SGB gestattet.416 Gemäß § 67b Abs. 1 S. 1, 2 SGB X ist die Verarbeitung von Sozialdaten lediglich zulässig, sofern es hierfür eine
409
Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 223; Kircher, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 202 f.; Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 332, 336; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 18 f. 410 Vgl. hierzu Kircher, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 259 ff., und speziell für die wissenschaftliche Forschung in der GKV Torbohm, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 361 ff. 411 Lenze, in: Münder, LPK-SGB II, Vor § 50 Rn. 3; Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 223; Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 336; eine Aufzählung weiterer sozialbereichsspezifischer Vorschriften findet sich bei Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 346. 412 Dix, in: Simitis, BDSG, § 1 Rn. 160. 413 Vgl. BSGE 102, 134, 144 f. = MedR 2009, 685, 689 f.; Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 336; Kircher, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 202 f.; BT-Drs. 18/11325, S. 79 f. 414 Bieresborn, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, Vorb. §§ 67–85a Rn. 19. Eine Differenzierung nach öffentlichen und nichtöffentlichen Stelle findet sich lediglich in § 78 SGB X. 415 Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 339; Kircher, in: Kingreen/Kühling, Gesundheitsdatenschutzrecht, S. 257. Zur Zulässigkeit des Umgangs mit Sozialdaten nach den §§ 67a ff. SGB X im Einzelnen s. KassKomm, SGB X, §§ 67a ff. 416 Die Daten sind grundsätzlich beim Betroffenen zu erheben, § 67a Abs. 2 SGB X.
B. Rechtliche Vorgaben für den Datenumgang
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Befugnisnorm oder aber eine schriftliche Einwilligung des Betroffenen gibt.417 Dies gilt auch für die besonderen Kategorien personenbezogener Daten i. S. d. Art. 9 Abs. 1 DS-GVO, § 67b Abs. 1 S. 2 SGB X.418 In den §§ 81–85a SGB X sind die Rechte des Betroffenen und Bestimmungen zum Datenschutzbeauftragten normiert. Gemäß § 67c Abs. 5 SGB X dürfen für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung419 im Sozialleistungsbereich erhobene420 oder gespeicherte Sozialdaten von den verantwortlichen Stellen nach § 35 Abs. 1 SGB I nur für ein bestimmtes Forschungsvorhaben421 im Sozialleistungsbereich verändert oder genutzt werden.422 Die Übermittlung von Sozialdaten für die Forschung und Planung ist in den §§ 75, 76 SGB X geregelt.423 Die DS-GVO enthält selbst keine spezifischen Bestimmungen zum Datenschutz im Bereich der sozialen Sicherheit.424 Vielmehr ermöglicht die, besonders im Hinblick auf den Bereich der sozialen Sicherheit weit zu verstehende, Öffnungsklausel in Art. 6 Abs. 2 DS-GVO auch die künftige Anwendung des nationalen Sozialdatenschutzrechts als eigenständigen Regelungsbereich.425 Für besondere Kategorien personenbezogener Daten ergibt sich die weitere Anwendbarkeit des nationalen Rechts aus Art. 9 Abs. 2 lit. b), h) DS-GVO und speziell für den
417
Ob und inwieweit eine Einwilligung auch geeignet ist, die Datenverarbeitung im Bereich des SGB V zu legitimieren, ist nach einem Urteil des BSG (Urt. v. 10.12.2008 – B 6 KA 37/07 R, BSG MedR 2009, 685) noch immer offen; s. hierzu Spindler, MedR 2016, 691, 696; Dochow, GesR 2016, 401, 405. 418 Die Übermittlung von biometrischen, genetischen oder Gesundheitsdaten ist abweichend von Art. 9 Abs. 2 lit. b), d)–j) nur zulässig, soweit eine Übermittlungsbefugnis nach dem SGB X vorliegt, § 67b Abs. 1 S. 3 SGB X. 419 Im SGB findet sich keine Definition des Terminus Forschung. Deshalb ist der Bundesbericht Forschung III, BT-Drs. V/4335, S. 4 heranzuziehen, wonach Forschung „die geistige Tätigkeit mit dem Ziele, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“, ist. Aufgegriffen wurde diese Definition vom BVerfG in BVerfGE 35, 79, 113 = NJW 1973, 1176 f.; vgl. hierzu auch Fischinger/Monsch, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 287 SGB V Rn. 2. 420 Die Datenerhebung richtet sich nach der allgemeinen Befugnisnorm des § 67a SGB X, Bieresborn, in: v. Wulffen/Schütze, SGB X, § 67c Rn. 14. 421 Ausgeschlossen ist damit eine Speicherung auf Vorrat für mögliche zukünftige Forschungsvorhaben, Diering/Seidel, in: Diering/Timme, LPK-SGB X, 4(2016), § 67c Rn. 9. 422 Hierbei sind die Sozialdaten zu anonymisieren, sobald dies nach dem Forschungszweck möglich ist, § 67c Abs. 5 S. 2 SGB X. Bis dahin sind die personenbezogenen Angaben gesondert zu speichern, § 67c Abs. 5 S. 3 SGB X. 423 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen vgl. Stähler, in: Diering/Timme/Stähler, LPKSGB X, §§ 75 f. 424 Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 333. 425 Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 18. Gleiches gilt für die Datenschutzregelungen, denen private Leistungserbringer unterliegen: Sofern private Leistungserbringer nach Art. 6 Abs. 1 lit. e) DS-GVO Aufgaben wahrnehmen, die im öffentlichen Interesse liegen, ist ihre Tätigkeit von Art. 6 Abs. 2 DS-GVO umfasst, sodass die Verordnung keinen Anwendungsvorrang genießt, Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 353.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Bereich der wissenschaftlichen Forschung aus Art. 9 Abs. 2 lit. j) DS-GVO.426 Es besteht insoweit kein Anwendungsvorrang der DS-GVO.427 Soweit personenbezogene Daten, die im Rahmen der Systemmedizin verwendet werden, zugleich Sozialdaten sind, gilt für diese mithin grundsätzlich das spezifische Regelungssystem der Sozialgesetzbücher.
IV. Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die primäre Rechtsquelle für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Systemmedizin die DS-GVO ist. Für die Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen gibt es zahlreiche Öffnungsklauseln in der Verordnung, die durch das nationale Recht ausgefüllt werden. Abhängig vom jeweiligen Datentypus, der verarbeitet wird, etwa genetischen Daten, Sozialdaten oder auch biometrischen Daten, sind entweder die allgemeinen Datenschutzbestimmungen des BDSG oder bereichsspezifische Regelungen wie das GenDG oder die Sozialgesetzbücher anwendbar. Der Umgang mit personenbezogenen Daten durch nichtöffentliche Stellen ist weitestgehend durch die DSGVO geregelt. Die datenschutzrechtliche Analyse ergibt, dass eine erhebliche Inkongruenz zwischen den Charakteristika der Systemmedizin und den geltenden normativen Anforderungen an die Datenverarbeitung besteht. Die bestehenden Datenschutzgesetze sind auf die Nutzung begrenzter Daten durch legitimierte Nutzer zum Zweck der Versorgung bestimmter Patienten ausgerichtet.428 Auf die mit der Systemmedizin einhergehenden Verknüpfungsmöglichkeiten unterschiedlicher Datenbestände zahlreicher Individuen sind die datenschutzrechtlichen Regelungen hingegen nicht zugeschnitten. Zudem stellen sich die Schutzanforderungen für personenbezogene Daten im Gesundheitsbereich als komplex und somit schwer nachvollziehbar für die Regelungsadressaten dar. So zeichnet sich das Gesundheitsdatenschutzrecht durch ein doppeltes Schutzregime aus: Einerseits werden personenbezogene Daten mit Gesundheitsbezug durch zahlreiche bereichsspezifische Vorschriften (zum Beispiel das GenDG) geschützt, andererseits unterliegen sie als Patientendaten den zivil-, straf- und berufsrechtlichen Vorgaben der ärztlichen Schweigepflicht.429
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Jandt, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 327, 329. Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 223; Hoidn, in: Roßnagel, Europäische Datenschutzgrundverordnung, § 4 Rn. 347 ff. 428 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 144. 429 Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Big Data und Gesundheit, 2017, S. 142 ff. 427
C. Diskriminierungsgefahren
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Diskriminierungsgefahren – am Beispiel des privatrechtlichen Versicherungssektors C. Diskriminierungsgefahren
Gesundheitsrelevante Daten bergen grundsätzlich ein hohes Diskriminierungspotenzial.430 Es besteht die Gefahr, dass Personen mit gefahrerheblicher genetischer Veranlagung keinen oder nur zu erschwerten Bedingungen Versicherungsschutz erlangen können.431 Das Diskriminierungspotenzial, welches systemmedizinischen Erkenntnissen innewohnt, lässt sich gut am Beispiel des privatrechtlichen Versicherungssektors veranschaulichen. Ein besonderes Augenmerk sei hierbei auf die Private Krankenversicherung (PKV) gerichtet.432 In der PKV entsteht das Versicherungsverhältnis nicht wie in der GKV kraft Gesetzes, sondern wird durch privatrechtlichen Vertrag begründet.433 Der private Versicherer richtet den Versicherungsschutz des Versicherungsnehmers an individuellen Kriterien aus. Grundlage der Prämienberechnung ist das individuelle Krankheitsrisiko des Versicherungsnehmers (Prinzip der Risikoäquivalenz).434 Die Beiträge in der GKV bemessen sich hingegen nach der persönlichen Leistungsfähigkeit des Versicherungsnehmers (Solidaritätsprinzip).435 Höhe und Zusammensetzung der Versicherungsprämie in der PKV richten sich regelmäßig nach einem vertraglich vereinbarten Tarif (sog. Tarifprämie). Hierbei handelt es sich um das Preisverzeichnis des Versicherers, das dieser nach versicherungsmathematischen und technischen Grundsätzen erstellt.436 Im Grundsatz 430
Die Problematik ist nicht neu. Bereits im Koalitionsvertrag der SPD und der Grünen v. 20.10.1998 wurde die Gefahr genetischer Diskriminierung im Versicherungsbereich erkannt, s. Koalitionsvereinbarung SPD/Grüne 1998, S. 15. Zum Diskriminierungspotenzial von Gesundheitsdaten im Zusammenhang mit Big-Data-Analysen s. auch E. Becker/ Schwab, ZD 2015, 151, 152. 431 Katzenmeier/Arnade/Franck, ZGMR 2004, 139, 141; Lorenz, VersR 1999, 1309; Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 1 f.; vgl. auch Wiesing, DIE ZEIT Nr. 28 v. 5.7.2018, S. 33. 432 Im VVG und VAG wird zwischen der substitutiven Krankenversicherung, der nicht substitutiven Krankenversicherung nach Art der Lebensversicherung sowie der sonstigen nicht substitutiven Krankenversicherung differenziert. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die substitutive Krankenversicherung, die ganz oder teilweise den im gesetzlichen Sozialversicherungssystem vorgesehenen Krankenversicherungsschutz ersetzen kann, § 146 Abs. 1 VAG, § 195 Abs. 1 VVG. Zur Abgrenzung der einzelnen Formen der PKV s. Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 1336 ff. 433 Lorenz, VVG-Kommission Abschlussbericht 2004, S. 9; Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, Einleitung A Rn. 17; Brömmelmeyer, in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, Einl. Rn. 2. 434 Zum Prinzip der Risikoäquivalenz im Allgemeinen Nationaler Ethikrat, Stellungnahme Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen, 2007, S. 11 f.; Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 8 ff. 435 Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, Einleitung A Rn. 18; Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 1314; zum unterschiedlichen Wesen von GKV und PKV s. BVerfG NZS 2005, 479, 480; zu den konstitutiven Systemunterschieden s. auch BVerfGE 123, 186 = NJW 2009, 2033. 436 Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 511; Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 27 Rn. 1430.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
unterliegt die Prämienhöhe der freien Parteivereinbarung. Einschränkungen erfährt die Vertragsfreiheit jedoch einerseits durch die allgemeinen Regeln des Bürgerlichen Rechts,437 andererseits durch spezialgesetzliche Bestimmungen, wie beispielsweise das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz438 (AGG).439 So dürfen etwa Versicherer seit der Änderung des § 20 Abs. 2 AGG440 infolge der EuGHEntscheidung zu den sog. Unisex-Tarifen441 keine Risikodifferenzierung nach dem Geschlecht mehr vornehmen, sondern sind gehalten ihre Prämien geschlechtsunabhängig zu berechnen.442 Diese materiell-rechtlichen Grenzen der Prämienhöhe sind zu unterscheiden von den aufsichtsrechtlichen Vorgaben für die Prämienkalkulation. Gemäß § 203 Abs. 1 S. 1 Versicherungsvertragsgesetz443 (VVG) richtet sich die Prämienkalkulation nach den §§ 146, 149, 150 Versicherungsaufsichtsgesetz444 (VAG).445 Sinn und Zweck der aufsichtsrechtlichen Regeln ist die Sicherstellung der dauerhaften Erfüllbarkeit der Versicherungsverträge.446 Für die Prämienberechnung werden systemmedizinische Erkenntnisse insofern relevant, als sie die präzisere Bestimmung der Erkrankungsrisiken einer Person ermöglichen. Der Versicherer könnte somit die von ihm übernommenen Risiken genauer kalkulieren. Das Interesse des Versicherers an einer umfassenden Risikoprüfung kollidiert allerdings mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Versicherungsnehmers.447 Es gilt also zu untersuchen, wie die gegenläufigen Interessen der Parteien miteinander in Einklang gebracht werden können. Hierfür ist zunächst darzulegen, welche Informationen der Versicherungsbewerber hinsichtlich seines Gesund437
Es ist insbesondere an die zu § 138 Abs. 1 BGB entwickelten Regeln zum sog. wucherähnlichen Geschäft zu denken, Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 27 Rn. 1431 m. w. N. 438 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz v. 14.8.2006, BGBl. 2006 I Nr. 39 S. 1897. 439 Vgl. Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 27 Rn. 1431, 573 ff.; Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 265 ff. 440 § 20 Abs. 2 S. 1 AGG a. F., wonach eine unterschiedliche Behandlung wegen des Geschlechtes bei den Prämien oder Leistungen zulässig war, wenn das Geschlecht beruhend auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten ein bestimmender Faktor war, wurde durch Art. 8 des Gesetzes v. 3.4.2013 ersatzlos gestrichen, BGBl. 2013 I Nr. 16 S. 610, 615. 441 EuGH NJW 2011, 907 = Slg. 2011, I–733 – Test-Achats. 442 Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 511 u. 269. 443 Gesetz über den Versicherungsvertrag v. 23.11.2007, BGBl. 2007 I Nr. 59 S. 2631. Die ursprüngliche Fassung des Versicherungsvertragsgesetzes stammt aus dem Jahr 1908. Das Gesetz wurde mit Wirkung zum 1.1.2008 grundlegend reformiert. Ein Überblick zu den wesentlichen Änderungen findet sich bei Bruns, in: FS Blaurock, S. 59 ff. 444 Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen v. 1.1.2015, BGBl. 2015 I Nr. 14 S. 434. 445 Einzelheiten der Prämienkalkulation sind in der Kalkulationsverordnung (KalV) v. 18.11.1996, BGBl. 1996 I Nr. 61 S. 1783 und der Überschussverordnung (ÜbschV) v. 8.11.1996, BGBl. 1996 I Nr. 57 S. 1687 geregelt. S. hierzu auch Reinhard, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 203 Rn. 4 ff. 446 Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 27 Rn. 1432. 447 Vgl. Mönnich, in: MüKo-VVG, § 151 Rn. 13, der diesen Interessenkonflikt für den Einsatz von Gentests beim Abschluss von Versicherungsverträgen beschrieben hat.
C. Diskriminierungsgefahren
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heitszustandes bei Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrages nach geltender Gesetzeslage offenzulegen hat. Die Mitteilung risikoerheblicher Umstände dient dem Ziel, Vertragsgerechtigkeit durch Informationsgleichheit zu erreichen (sog. Wissensparität)448 und der Gefahr einer sog. Antiselektion vorzubeugen.449 Sodann ist der Frage nachzugehen, wie sich systemmedizinische Erkenntnisse in dieses System der Datenermittlung und -verarbeitung einfügen, ob die ursprünglich für andere Verwendungskontexte geschaffenen Regelungen auf diese anwendbar sind.
I. Vorvertragliche Anzeigepflichten des Versicherungsnehmers gemäß VVG Rechtliche Regelungen hinsichtlich der Offenlegung und Verarbeitung von Gesundheitsdaten anlässlich des Abschlusses privater Versicherungsverträge finden sich zunächst in den §§ 19 und 213 VVG. Aus § 1 VVG ergibt sich die Anwendbarkeit des VVG auf privatrechtliche Versicherungsverträge zwischen zwei rechtlich und wirtschaftlich selbständigen Parteien.450 1. § 19 VVG In § 19 Abs. 1 VVG ist die vorvertragliche Anzeigepflicht des zukünftigen Versicherungsnehmers, die entgegen dem Wortlaut eine nicht einklagbare Obliegenheit451 begründet, normiert.452 Dieser hat hiernach vor Abschluss des Vertrages alle ihm bekannten Gefahrumstände anzuzeigen, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind und
448
Vgl. Nationaler Ethikrat, Stellungnahme Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen, 2007, S. 69. 449 Die Gefahr einer sog. Antiselektion besteht, wenn ein Antragsteller in Kenntnis eines bestimmten Umstands (bspw. einer bestehenden Krankheit oder eines erhöhten Krankheitsrisikos) eine Versicherung abschließt, ohne den Versicherer hierüber aufzuklären und somit die Situation zu Lasten der versicherungsrechtlichen Solidargemeinschaft ausnutzt, um von hohen Versicherungsleistungen zu attraktiven Konditionen zu profitieren, vgl. Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 5; Nationaler Ethikrat, Stellungnahme Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen, 2007, S. 37; TAB-Zukunftsreport Individualisierte Medizin, 2009, S. 146. 450 BT-Drs. 16/3945, S. 56; Looschelders, in: MüKo-VVG, § 1 Rn. 2; Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 16 Rn. 618. 451 Obliegenheiten bezeichnen im Versicherungsvertragsrecht Verhaltensregeln, vor allem für den Versicherungsnehmer. Ihre Erfüllung ist, im Gegensatz zu Rechtspflichten, nicht einklagbar. Die Nichtbeachtung von Obliegenheiten begründet keinen Schadensersatzanspruch, kann aber zu andersartigen Nachteilen (etwa Verlust einer günstigen Rechtsposition) für den Betroffenen führen. Grundlegend zum Begriff der Obliegenheiten R. Schmidt, Die Obliegenheiten; s. auch Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 555 ff. m. w. N.; Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 19 Rn. 22, 29 ff.; Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, § 28 Rn. 9. 452 Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 559 f., 815; Langheid, in: MüKo-VVG, § 19 Rn. 2; Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, § 19 Rn. 1; BT-Drs. 16/3945, S. 64.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
nach denen der Versicherer453 in Textform, § 126b BGB, gefragt hat. Gefahrerheblich sind die Umstände, bei deren Kenntnis der Versicherer den Vertrag gar nicht oder jedenfalls mit anderem Inhalt (unter Prämienzuschlägen oder Leistungsausschlüssen) abgeschlossen hätte.454 Gesetzgeberischer Zweck der Fragepflicht des Versicherers ist es, dem Versicherten das Beurteilungsrisiko der Gefahrerheblichkeit eines Umstandes abzunehmen.455 Erforderlich ist die positive Kenntnis des Versicherungsnehmers sowohl von den Antragsfragen456 als auch von den mitzuteilenden Gefahrumständen. Bloßes Kennenmüssen oder grob fahrlässige Unkenntnis reichen nicht aus.457 Allerdings verlangt Kenntnis auch ein Erinnern an Umstände, soweit dies bei angemessener Gedächtnisanstrengung möglich ist.458 Dem Versicherungsnehmer wird dabei in gewissem Umfang auch eine Nachfrageund Erkundigungspflicht auferlegt.459 Eine sog. spontane Anzeigepflicht, nach welcher der Versicherungsnehmer alle Umstände, die für die Gefahr erheblich sind, auch ungefragt anzuzeigen hat, existiert seit der VVG-Reform 2008 für § 19 VVG grundsätzlich nicht mehr.460 Die Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers 453
Zur Notwendigkeit der Formulierung „eigener“ Fragen durch den Versicherer s. Neuhaus, VersR 2014, 432. 454 Hierzu gehören alle objektiven und subjektiven Umstände, die für die Risikobeurteilung von Bedeutung sein können, wobei grundsätzlich eine Beurteilung aus der Sicht des konkreten Versicherers unter Berücksichtigung seiner jeweiligen Annahmepolitik vorzunehmen ist, Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, § 19 Rn. 28; Armbrüster, in: Prölss/ Martin, VVG, § 19 Rn. 2, 5; Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 823. Soweit nun der Versicherer in Textform nach den für ihn wichtigen Gefahrumständen fragen muss, bringt diese Neuregelung gegenüber der Obliegenheit alten Rechts zur Offenbarung „aller“ für die Übernahme der Gefahr „erheblichen“ Umstände größere Klarheit. Jedoch bleibt die Schwierigkeit der Konkretisierung des Erfordernisses der Erheblichkeit, Bruns, in: FS Blaurock, S. 59, 66. 455 BT-Drs. 16/3945, S. 64; Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 824; Looschelders, VersR 2011, 697. 456 Neuhaus, VersR 2012, 1477; Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, § 19 Rn. 25 f.; Härle, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR, § 19 Rn. 89 f.; zur Frage, ob eine stärkere Konkretisierung der Antragsfragen erforderlich ist, s. Marlow, in: Marlow/Spuhl, Das Neue VVG kompakt, Rn. 161 ff.; Knappmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 14 Rn. 28; s. auch Weiberle, VuR 2008, 170. 457 BGH VersR 1984, 884 f.; Langheid, in: MüKo-VVG, § 19 Rn. 57 f.; Schimikowski, in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, § 19 Rn. 6; Knappmann, in: Beckmann/MatuscheBeckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 14 Rn. 54; Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 18 Rn. 800. 458 BGH VersR 2009, 529, 530; Härle, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR, § 19 Rn. 92; Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 827; Knappmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 14 Rn. 54; grundlegend Medicus, in: Klingmüller, Karlsruher Forum 1994, S. 4, 6. 459 Langheid, in: Langheid/Rixecker, VVG, § 19 Rn. 29; Härle, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR, § 19 Rn. 92; Knappmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 14 Rn. 54. 460 Das Recht des Versicherers zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung über gefahrerhebliche Umstände, die er nicht oder nur mündlich erfragt hat, bleibt gemäß § 22 VVG unberührt, BT-Drs. 16/3945, S. 64; Langheid, in: MüKo-VVG, § 19 Rn. 54; Schimikowski, in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, § 19 Rn. 15 f.; Neuhaus, VersR 2012, 1477; Arm-
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besteht in der Regel bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung, § 19 Abs. 1 S. 1 VVG.461 Eine zeitliche Ausdehnung dieser Pflicht findet gemäß § 19 Abs. 1 S. 2 VVG statt, wonach der Versicherungsnehmer auch zur Beantwortung solcher Fragen verpflichtet ist, die der Versicherer nach der Vertragserklärung des Versicherungsnehmers, aber vor Vertragsannahme stellt.462 Verletzt der Versicherungsnehmer seine Anzeigepflicht, kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten, § 19 Abs. 2 VVG.463 Daneben besteht die Möglichkeit der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, § 22 VVG. Für die PKV sind diese Gestaltungsrechte allerdings durch die §§ 194 Abs. 1 S. 3 und 206 Abs. 1 S. 1 VVG erheblich eingeschränkt.464 2. § 213 VVG § 213 VVG regelt die Erhebung personenbezogener Gesundheitsdaten bei Dritten. Die Stellen und Personen, bei denen Daten erhoben werden dürfen, sind abschließend und enumerativ in § 213 Abs. 1 VVG genannt (Ärzte, Krankenhäuser und sonstige Krankenanstalten, Pflegeheime und Pflegepersonen, andere Personenversicherer und gesetzliche Krankenkassen sowie Berufsgenossenschaften und Bebrüster, Privatversicherungsrecht, § 18 Rn. 914. A. A. Härle, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, PK-VersR, § 22 Rn. 10; Marlow, in: Marlow/Spuhl, Das Neue VVG kompakt, Rn. 168 f.: Eine Arglistanfechtung ist nur bei einer falschen Beantwortung mündlich gestellter Fragen zulässig, nicht jedoch wenn keine Frage zu dem verschwiegenen Umstand vorliegt. 461 Das heißt bis zur Antragsstellung, wenn der Versicherungsnehmer den Antrag stellt (sog. Antragsmodell, das den Regelfall bildet). Wird der Vertrag im Wege des sog. Invitatiomodells geschlossen, ist umstritten, ob erst in der Annahmeerklärung des Versicherungsnehmers (Schimikowski, in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, § 19 Rn. 28; BT-Drs. 16/3945, S. 65) oder bereits in seiner ersten Anfrage (invitatio) seine Vertragserklärung zu sehen ist (Knappmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, § 14 Rn. 47; Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, § 19 Rn. 100; Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 19 Rn. 54; Marlow, in: Marlow/Spuhl, Das Neue VVG kompakt, Rn. 156; Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 829 (h. M.)). Im Ergebnis liegen die beiden aufgezeigten Ansätze nicht sehr weit auseinander, s. Schimikowski, in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, § 19 Rn. 28; Looschelders, VersR 2011, 697, 701. 462 Eine generelle Nachmeldepflicht des Versicherungsnehmers besteht folglich nicht, Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 19 Rn. 55; Schimikowski, in: Rüffer/ Halbach/Schimikowski, VVG, § 19 Rn. 50 ff.; Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 18 Rn. 808; Marlow, in: Marlow/Spuhl, Das Neue VVG kompakt, Rn. 155. 463 Der Rücktritt stellt die grundsätzliche Rechtsfolge dar. Handelte der Versicherungsnehmer weder vorsätzlich noch grob fahrlässig, steht dem Versicherer nur ein Kündigungsrecht zu, § 19 Abs. 3 VVG. Hätte der Versicherer den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände – wenn auch vielleicht zu anderen Bedingungen – geschlossen, ist er auf das Gestaltungsrecht der Vertragsanpassung beschränkt, § 19 Abs. 4 VVG, Wandt, Versicherungsrecht, Rn. 834 ff.; Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 18 Rn. 811 ff.; Looschelders, in: Looschelders/Pohlmann, VVG, § 19 Rn. 57 ff.; Schimikowski, in: Rüffer/ Halbach/Schimikowski, VVG, § 19 Rn. 54 ff. 464 Vgl. hierzu Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 521; zur Diskussion um die Reichweite des Kündigungsverbots des § 206 Abs. 1 S. 1 VVG und die Frage der Erstreckung auf die außerordentliche Kündigung s. Muschner, in: Langheid/Rixecker, VVG, § 206 Rn. 3 ff.; BGH NJW 2012, 376.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
hörden). Die Datenabfrage ist nur zulässig, soweit die Kenntnis der Daten für die Beurteilung des zu versichernden Risikos oder der Leistungspflicht erforderlich ist und die betroffene Person ihre Einwilligung erteilt hat.465 Dieses System der Informationsgewinnung nach dem VVG erfährt, soweit die Daten mittels humangenetischer Untersuchungen erhoben werden, durch die Regelungen des GenDG teilweise Einschränkungen.466
II. Besonderer Schutz genetischer Daten Genetische Informationen werden bei Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrages in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen hat der Versicherer ein Interesse daran, dass der Versicherte vor Vertragsschluss genetische Tests durchführen lässt. Zum anderen ist dem Versicherer an der Offenlegung der Ergebnisse bereits vorgenommener Tests gelegen. Diese Interessen des Versicherers kollidieren in empfindlicher Weise mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Versicherungsnehmers.467 Mit Erlass des GenDG hat der Gesetzgeber den genetischen Daten des Versicherungsbewerbers und damit seiner informationellen Selbstbestimmung einen besonderen Schutz zuteilwerden lassen.468 1. Selbstverpflichtungserklärung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Bereits vor Inkrafttreten des GenDG verpflichteten sich die Mitgliedsunternehmen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV) im Jahre 2001 in ihrer freiwilligen Selbstverpflichtungserklärung,469 die Vornahme von prädiktiven genetischen Untersuchungen470 nicht zur Voraussetzung eines Vertragsabschlusses zu machen. Zudem erklärten sie sich bereit, für private Krankenversicherungen und für alle Arten von Lebensversicherungen einschließlich Berufsunfähigkeits-, Erwerbsunfähigkeits-, Unfall- und Pflegerentenversicherungen erst ab einer Versicherungssumme von 250.000 € beziehungsweise einer 465
Eingehend zu dem im Zuge der VVG-Reform 2008 eingefügten § 213 VVG Fricke, VersR 2009, 297. Der Bedarf für die Einführung des § 213 VVG ergab sich zum einen aus der Novellierung des BDSG im Jahre 2001 (BGBl. 2001 I Nr. 23 S. 904), zum anderen aus einem Beschl. des BVerfG (VersR 2006, 1669), in dem das Gericht die bisherige allgemeine pauschale Schweigepflichtentbindungserklärung für unvereinbar mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Versicherten erklärte, Fricke, VersR 2009, 297; BTDrs. 16/3945, S. 116 f.; Beschlussempfehlung BT-Drs. 16/5862, S. 100. 466 Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 521. 467 Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 129; Mönnich, in: MüKo-VVG, § 151 Rn. 12 ff. 468 Bereits im Bericht der sog. Benda-Kommission wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Entwicklung der Genomanalyse, insbesondere im Hinblick auf einen wirksamen Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, aufmerksam zu verfolgen. Auch auf mögliche Gefahren im Versicherungsrecht wurde hingewiesen, Benda-Kommission, S. 39, 43. 469 Die Selbstverpflichtungserklärung ist abgedruckt in VersR 2002, 35. 470 Zur Differenzierung zwischen prädiktiven und diagnostischen Gentests s. bereits oben 1. Kap., A. II. 3.
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Jahresrente von 30.000 € die Offenlegung bereits vorhandener Testergebnisse von ihren Kunden vor dem Vertragsabschluss zu verlangen.471 Die Geltung der Erklärung war – nach einer Verlängerung – bis Ende 2011 befristet.472 2. § 18 GenDG Seit Inkrafttreten473 des GenDG im Jahre 2010 beschränkt § 18 GenDG das Recht des privaten Versicherers, vor oder nach Vertragsabschluss Daten zu erheben, die durch genetische Untersuchungen oder Analysen474 gewonnen wurden.475 Der Anwendungsbereich des § 18 GenDG erstreckt sich auf alle Privatversicherungsverträge, auch die gesetzlich angeordneten476 Pflichtversicherungen.477 a) Grundsatz: Verbote des § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG Der Gesetzgeber differenziert in § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG zwischen dem Erhebungsverbot (Nr. 1) und dem Verlangens-, Entgegennahme- und Verwendungsverbot (Nr. 2).478 Gemäß § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG darf der Versicherer vom Versicherten weder vor noch nach Abschluss des Versicherungsvertrages die Vornahme genetischer Untersuchungen verlangen. In § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG wird dem Versicherer untersagt vom Versicherten vor oder nach Abschluss des Versicherungsvertrages die Mitteilung von Ergebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Untersuchungen zu verlangen oder solche Ergebnisse oder Daten entgegenzunehmen oder zu verwenden. Nach der Intention des Normgebers soll die Regelung i. S. d. Benachteiligungsverbots des § 4 GenDG verhindern, dass der Zugang zu privaten Krankenversicherungen aufgrund genetischer Eigenschaften erschwert oder sogar verhin471
Das OLG Hamm betonte in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich, dass sich die Selbstverpflichtung des GDV lediglich auf prädiktive Gentests beziehe. Eine Offenbarungspflicht in Bezug auf durchgeführte diagnostische Gentests, mit denen eine bereits klinisch manifestierte Erkrankung festgestellt wurde, bleibe hingegen unberührt, VersR 2008, 773, 774. 472 Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 6. 473 Zur Entstehungsgeschichte des GenDG s. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 98 ff. 474 Zu den Begriffen genetische Untersuchung und Analyse s. bereits oben 1. Kap., A. II. 3. Eine krit. Auseinandersetzung mit den in § 3 GenDG formulierten Definitionen findet sich bei Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29, 34 f., 45 f. 475 BT-Drs. 16/10532, S. 36; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 1; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 18 GenDG Rn. 2; Genenger, NJW 2010, 113, 116. Ausführlich zu der Frage, welche genetischen Daten vom Anwendungsbereich des GenDG erfasst sind, bereits oben B. III. 2. b) aa). 476 Etwa auf die private Haftpflichtversicherung nach § 1 PflVG oder die PKV gemäß § 193 Abs. 3 VVG. Eine Übersicht zu weiteren Pflichtversicherungen findet sich bei Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, Einleitung Rn. 322 ff. 477 Kröger, MedR 2010, 751, 752; Präve, VersR 2009, 857 f.; Lensing, VuR 2009, 411, 412; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 18 GenDG Rn. 2. In der Gesetzesbegründung wird noch einmal klargestellt, dass die gesetzliche Versicherung von § 18 GenDG nicht erfasst ist, da diese nicht durch Abschluss eines Vertrages zustande komme, BT-Drs. 16/10532, S. 36. 478 Kröger, MedR 2010, 751, 752; Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 17 ff.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
dert wird.479 Die Verbote erstrecken sich sowohl auf die Ergebnisse prädiktiver als auch diagnostischer genetischer Untersuchungen.480 aa) Erhebungsverbot, § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG Schutzgegenstand des Erhebungsverbots ist das Recht auf Nichtwissen des Versicherungsbewerbers. Dieser soll durch den beabsichtigten Abschluss eines Versicherungsvertrages nicht zur Vornahme von Untersuchungen genetischer Eigenschaften veranlasst werden, von denen er keine Kenntnis wünscht.481 bb) Verlangens-, Entgegennahme- und Verwendungsverbot, § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG Der Versicherungsbewerber hat in der Konstellation des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG bereits Kenntnis von seinen genetischen Eigenschaften, deshalb ist nicht sein Recht auf Nichtwissen, sondern sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung in seinem positiven Anwendungsbereich Schutzgut dieser Regelung.482 Das Verwertungsverbot soll einer Umgehung des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG entgegenwirken. Der Versicherte soll nicht dazu veranlasst werden nach Vertragsschluss einen Gentest durchführen zu lassen, in der Hoffnung bei günstiger Prognose eine Prämiensenkung erreichen zu können. Denn so würde faktischer Druck auf die testunwilligen Versicherten aufgebaut werden, sich ebenfalls einer genetischen Untersuchung zu unterziehen. Dies liefe dem Normzweck zuwider.483 Deshalb ist auch eine teleologische Reduktion des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG in Fällen von Gentests, die auf Veranlassung des Versicherten durchgeführt wurden,
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BT-Drs. 16/10532, S. 36; Lensing, VuR 2009, 411, 412; Genenger, NJW 2010, 113, 116. 480 Lensing, VuR 2009, 411, 412; Präve, VersR 2009, 857, 860; Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29, 45 f.; Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 531 f.; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 10; Häberle, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 18 GenDG Rn. 2; für eine Beschränkung des § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG auf prädiktive Gentests Armbrüster, Privatversicherungsrecht, § 15 Rn. 608; s. auch OLG Saarbrücken VersR 2012, 557, 558 m. krit. Anm. Hahn, ZMGR 2012, 445, 446. 481 Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 2; Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 521; Eberbach, MedR 2010, 155, 158. 482 Kröger, MedR 2010, 751, 753; Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 20; anders Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 3: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nur dann Schutzgut des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG, soweit durch diesen verboten wird, dass die Ergebnisse genetischer Untersuchungen ohne die Einwilligung des Einzelnen erhoben werden. Soweit nach § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 i. V. m. S. 2 GenDG die Erhebung und Verwendung der Ergebnisse jedoch auch mit Einwilligung des Betroffenen unzulässig ist, stellt dies eine Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dar, die aus Gründen des Diskriminierungsschutzes gerechtfertigt ist. 483 BT-Drs. 16/10532, S. 36; Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 21; Häberle, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 18 GenDG Rn. 2; Lensing, VuR 2009, 411, 412; Armbrüster, VW 2010, 1309, 1310.
C. Diskriminierungsgefahren
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abzulehnen.484 Nach dem Sinn und Zweck der Norm ist selbst die Frage des Versicherers, ob ein Gentest vorgenommen wurde, unzulässig. Denn bereits die Tatsache, dass der Versicherungsbewerber eine genetische Untersuchung hat durchführen lassen, könnte sich nachteilig auf die Risikoprüfung des Versicherers auswirken und sogar zu einer Vertragsverweigerung führen. Im Ergebnis wird mithin durch § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG das Fragerecht des Versicherers nach gesundheitsrelevanten Daten gemäß § 19 Abs. 1 VVG eingeschränkt.485 b) Ausnahmen vom Verbot des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG In § 18 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GenDG sieht der Gesetzgeber Einschränkungen des „genetischen Diagnoseverbots“ vor,486 allerdings begrenzt auf § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG. Das Erhebungsverbot des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG gilt hingegen uneingeschränkt. Um aber auch in den Konstellationen des § 18 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GenDG sicherzustellen, dass eine Benachteiligung des Versicherten unterbleibt, erfolgt ein Rückgriff auf § 4 GenDG.487 aa) Hochsummige Verträge, § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG Gemäß § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG gilt für die Lebensversicherung, die Berufsunfähigkeitsversicherung, die Erwerbsunfähigkeitsversicherung und die Pflegerentenversicherung § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 nicht, wenn eine Leistung von mehr als 300.000 € oder mehr als 30.000 € Jahresrente488 vereinbart wird. Ziel dieser Ausnahme ist es, der Antiselektionsgefahr489 entgegenzuwirken. Es soll dem Versicherten nicht möglich sein, einen Wissensvorsprung im eigenen wirtschaftlichen Interesse zu Lasten der Solidargemeinschaft auszunutzen.490 Der eindeutige Wort484
Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 131; Armbrüster, VW 2010, 1309, 1310; Looschelders, VersR 2011, 697, 700; Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 21; für eine teleologische Reduktion in diesem Kontext jedoch Heyers, MedR 2009, 507, 512; eine teleologische Reduktion bei „absoluter (medizinischer) Indikation“ befürwortend Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 533 f.; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 20a f. 485 BT-Drs. 16/10532, S. 36; Kröger, MedR 2010, 751, 753; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 18; Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29, 32, 37; krit. Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 524. 486 Eberbach, MedR 2010, 155, 158 f. 487 Klärungsbedürftig bleibt, welche Voraussetzungen für das Vorliegen einer Benachteiligung i. S. d. § 4 GenDG gegeben sein müssen, Präve, VersR 2009, 857, 858 f.; s. auch Kröger, MedR 2010, 751, 754 f. 488 Die Betragsgrenzen orientieren sich an der freiwilligen Selbstverpflichtungserklärung des GDV aus dem Jahre 2004 (s. C. II. 1.), BT-Drs. 16/10532, S. 36. 489 Zum Begriff der Antiselektionsgefahr s. bereits oben C. Fn. 449. 490 BT-Drs. 16/10532, S. 36; Kröger, MedR 2010, 751, 753; Lensing, VuR 2009, 411, 412; Armbrüster, VW 2010, 1309; Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 34; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 5, 21. Der in der Gesetzesbegründung verwendete Begriff der Solidargemeinschaft verwundert, denn in privaten Versicherungen wird überwiegend das Äquivalenzprinzip angewandt. § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG verhindert mithin richtigerweise das Ausnutzen eines Wissensvorsprungs zu Lasten des Versicherers, Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29, 43 f.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
laut der Norm und ihr Charakter als Ausnahmeregelung legen es nahe, die dortige Aufzählung der Versicherungssparten als abschließend anzusehen.491 Die PKV findet keine Erwähnung in § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG, da sie nicht zu den „Luxusversicherungen“ gehört, sondern einen elementaren Lebensbedarf absichert.492 Nach dem Willen des Gesetzgebers ist es dem Versicherer nicht gestattet, die genetischen Daten des Versicherten für andere als die in § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG genannten Zwecke, etwa für andere Versicherungstypen oder Personen, zu verwenden.493 bb) Vorvertragliche Anzeigepflicht, § 18 Abs. 2 GenDG Gemäß § 18 Abs. 2 GenDG wird der Versicherungsnehmer verpflichtet, Vorerkrankungen und Erkrankungen anzuzeigen. Die §§ 19–22 und 47 VVG sind insoweit anwendbar. Unter (Vor-)Erkrankungen sind nur behandlungsbedürftige494 (Vor-)Erkrankungen, d. h. bereits manifeste, genetisch bedingte Eigenschaften der betroffenen Person zu verstehen. Eine bloße Verdachtsdiagnose495 löst die Anzeigepflicht hingegen nicht aus.496 Auf welche Art und Weise die Erkrankungen diagnostiziert worden sind, ist unerheblich, so dass der Versicherungsnehmer auch solche Erkrankungen anzuzeigen hat, die mittels diagnostischer Gentests festgestellt worden sind.497 Da mithilfe von prädiktiven Gentests lediglich Krankheits491
Kröger, MedR 2010, 751, 753 f.; Präve, VersR 2009, 857, 860; Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 41 f.; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 18 GenDG Rn. 3. 492 Lensing, VuR 2009, 411, 413; BVerfG NJW 2009, 2033, 2039. 493 BT-Drs. 16/10532, S. 36; Kröger, MedR 2010, 751, 753; Lensing, VuR 2009, 411, 412; Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 524; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 21. Trotzdem wird im Schrifttum die Sorge geäußert, die genetischen Daten könnten zweckfremd zu Lasten der genetischen Verwandten des Versicherten genutzt werden. Deshalb wird eine einschränkende Auslegung dahingehend gefordert, dass nur solche Krankheiten offenbart werden müssen, deren Manifestationswahrscheinlichkeit objektiv hoch ist, Heyers, MedR 2009, 507, 511 f. Die Zulässigkeit der Nutzung und Verarbeitung der genetischen Daten unterliegt in den Fällen des § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG den Vorgaben des § 4 Abs. 1 GenDG und den allgemeinen datenschutzrechtlichen Regelungen (insbes. Art. 9 DS-GVO), vgl. Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 22 ff.; Kröger, MedR 2010, 751, 754. Ausführlich zur Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung i. R. d. Systemmedizin s. oben B. III. 494 Krit. Armbrüster, VW 2010, 1309: Da es auch Erkrankungen gibt, die gar nicht behandlungsfähig sind, genügt möglicherweise auch eine Störung der normalen Körperfunktionen für die Bejahung einer Erkrankung i. S. d. § 18 Abs. 2 GenDG. 495 Von einer Verdachtsdiagnose spricht man, wenn ein pathologischer, von der Norm abweichender Befund (Krankheit) vorliegt, ohne dass Beschwerden oder eine Behandlungsbedürftigkeit gegeben sind, Lensing, VuR 2009, 411, 413; Beispiele für Verdachtsdiagnosen: OLG Hamm VersR 2001, 1503 (Vorhof-Flimmern); OLG Koblenz VersR 2002, 428 (Fettleber). 496 Lensing, VuR 2009, 411, 413; Kröger, MedR 2010, 751, 754. 497 BT-Drs. 16/10532, S. 36; Kröger, MedR 2010, 751, 754; Genenger, NJW 2010, 113, 116. Teilweise wird auch die Offenlegung der Ergebnisse des diagnostischen Gentests, der die Erkrankung zutage gefördert hat, befürwortet, Präve, VersR 2009, 857, 861; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 329 f.; ebenso OLG Saarbrücken VersR 2012, 557: Pflicht zur
C. Diskriminierungsgefahren
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dispositionen, die gerade noch keine Manifestation verkörpern, ermittelt werden, sind die Ergebnisse dieser Tests nicht von der Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers umfasst.498 Das Recht auf Nichtwissen des Versicherten ist nur insoweit nicht berührt, als es um bereits bestehende Erkrankungen geht.499 Somit schränkt § 18 Abs. 2 GenDG das Fragerecht des Versicherers nach § 19 Abs. 1 VVG auf bestehende, genetisch bedingte (Vor-)Erkrankungen ein. Der Verweis in § 18 Abs. 2 GenDG auf §§ 19–22 und 47 VVG hat daher nicht allein klarstellende Funktion.500 Nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob den Versicherungsnehmer eine Offenbarungspflicht hinsichtlich Erkrankungen genetisch verwandter Personen, anhand derer Rückschlüsse auf eine genetische Veranlagung des Versicherten gezogen werden können, trifft. Aus dem Wortlaut des § 18 Abs. 2 GenDG ergibt sich eine solche Pflicht nicht. Allerdings ist es für die Anzeigeobliegenheit des Versicherten im Rahmen von § 19 Abs. 1 S. 1 VVG, auf den § 18 Abs. 2 VVG verweist, maßgebend, ob ein für die Übernahme des Risikos erheblicher Gefahrumstand vorliegt. Hierunter sind grundsätzlich auch Erkrankungen genetisch verwandter Personen zu fassen. Solange die versicherte Person selbst jedoch nicht erkrankt ist, ist die Situation nicht anders zu beurteilen als die, in welcher der Versicherte nur eine Krankheitsdisposition aufweist, welche mit Ausnahme von Fällen des § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG gerade nicht anzeigepflichtig ist. Ferner ist es gemäß § 4 Abs. 1 GenDG untersagt, jemanden aufgrund der Eigenschaften genetisch verwandter Personen zu benachteiligen. Es erscheint daher konsequent, eine Pflicht zur Offenbarung von Erkrankungen genetisch Verwandter abzulehnen. Das
Offenlegung von Krankheitszeichen, die für das Vorliegen von Chorea Huntington sprechen einschließlich des zugrundeliegenden diagnostischen Gentests. Für eine Begrenzung der Offenbarungspflicht auf die manifestierte Erkrankung hingegen Hahn, ZVersWiss 2013, 519, 524; Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29, 40. 498 Kröger, MedR 2010, 751, 754; Häberle, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 18 GenDG Rn. 4; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 18 GenDG Rn. 5. Gleiches gilt für Ergebnisse diagnostischer Untersuchungen, die zur Abklärung der in § 3 Nr. 7 b–d GenDG genannten Umstände durchgeführt wurden und keine manifestierten Erkrankungen offenbaren, Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 54; Präve, VersR 2009, 857, 861; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 330 f. 499 BT-Drs. 16/10532, S. 36; Präve, VersR 2009, 857, 861; Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 44; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 25a. Schwierigkeiten wird die Grenzziehung zwischen Erkrankungen gemäß § 18 Abs. 2 GenDG und bloßen Symptomen, die erst zukünftig zu einer tatsächlichen Erkrankung führen können, bereiten, Genenger, NJW 2010, 113, 116. 500 § 19 Abs. 1 S. 1 VVG berechtigt den Versicherer grundsätzlich auch zu Fragen nach Gesundheitsstörungen, Beschwerden und Störungen, die ihrer Intensität nach gerade noch keinen Krankheitswert erreichen, Kröger, MedR 2010, 751, 754; Lensing, VuR 2009, 411, 413 mit Hinweis auf BGH VersR 1994, 711, 713 (erhöhte Leberwerte) u. BGH VersR 1994, 1457, 1458 (EKG) (beide Urteile ergingen zu § 16 VVG a. F.). A. A. Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 51 f.; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 25: Der Verweis in § 18 Abs. 2 GenDG hat allein deklaratorische Wirkung. Es bleibt damit weitestgehend bei den Anzeigepflichten des VVG.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Verbot für den Versicherer, nach solchen Erkrankungen zu fragen, ergibt sich aus § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG.501 Wie die obigen Ausführungen zeigen, verfolgt der Gesetzgeber im GenDG ein abgestuftes Konzept, mit dem er versucht einen Ausgleich zwischen der Vertragsabschlussfreiheit des Versicherers einerseits und dem Persönlichkeitsrecht des Versicherten andererseits zu finden.502
III. Übertragung der Grundsätze auf die Systemmedizin Mit Blick auf die Systemmedizin ist der Frage nachzugehen, ob die dargelegten Grundsätze auch auf systemmedizinische Untersuchungen sowie daraus gewonnene Ergebnisse, die anlässlich eines privaten Krankenversicherungsvertragsschlusses bedeutend sein könnten, anwendbar sind. 1. VVG Die vorvertragliche Anzeigepflicht gemäß § 19 Abs. 1 VVG ist nicht auf bestimmte Untersuchungs- oder Datentypen beschränkt, sodass sie sich grundsätzlich auch auf systemmedizinische Erkenntnisse und Untersuchungen erstreckt. Gleiches gilt für § 213 VVG. Anzeigepflichtig i. S. d. § 19 Abs. 1 VVG sind alle Umstände, nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat und die vertragserheblich sind. Hinsichtlich der Ergebnisse genetischer Untersuchungen ist das Fragerecht des Versicherers auf bestehende, genetisch bedingte (Vor-)Erkrankungen beschränkt, § 18 Abs. 2 GenDG. Welche Beschwerden oder Krankheiten als gefahrerheblich einzustufen sind, ist oftmals eine Einzelfallentscheidung, wie die umfangreiche Rechtsprechung zu dieser Frage zeigt.503 Die Systemmedizin ermöglicht tiefgehende Einblicke in den menschlichen Organismus. Zahlreiche Krankheitsdispositionen, die nicht nur auf genetischen Informationen beruhen, können festgestellt werden. Derartige Erkenntnisse sind für die Risikobeurteilung der Versicherer von großer Bedeutung, insofern sind sie vertragserheblich und damit grundsätzlich anzeigepflichtig. Die in § 19 Abs. 1 VVG normierte vorvertragliche Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers droht mithin auszuufern. Die Gefahr, dass Versicherungsbewerber mit schwerwiegenden Krankheitsdispositionen keinen oder nur zu ungünstigen Bedingungen Versicherungsschutz erhalten, wird durch die Systemmedizin verschärft. Es scheint daher geboten, die Anzeigepflicht einzuschränken. Denkbar wäre etwa eine Beschränkung auf bereits manifeste (Vor-)Erkrankungen in Anlehnung an § 18 Abs. 2 GenDG.
501 Präve, VersR 2009, 857, 861 f.; Kröger, MedR 2010, 751, 754; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 18 GenDG Rn. 10c; s. auch Hahn, in: Kern, GenDG Kommentar, § 18 Rn. 55 ff. speziell zur eingeschränkten Zulässigkeit von Familienanamnesen. 502 Lensing, VuR 2009, 411. 503 Vgl. etwa die zahlreichen Beispiele bei Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, § 19 Rn. 13 ff.
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In entsprechender Weise ist die Erhebung personenbezogener Gesundheitsdaten des Versicherungsbewerbers bei Dritten gemäß § 213 VVG zu begrenzen. 2. GenDG Die Beschränkungen des § 18 GenDG sind auf genetische Untersuchungen, inklusive der ermittelten Ergebnisse, die anlässlich eines Versicherungsvertragsschlusses ausschlaggebend sein können, begrenzt.504 Die Systemmedizin ist jedoch weit mehr als nur Genetik. Neben genetischen Daten sind etwa auch neuropsychologische, biometrische und soziodemographische Daten von großer Bedeutung für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn. Rückschlüsse auf die Entstehung und Entwicklung von Krankheiten werden aus der Zusammenführung und Analyse unterschiedlichster Datenarten, genetischer sowie nicht-genetischer, gezogen. Eine direkte Anwendung der in § 18 GenDG normierten Grundsätze scheidet folglich aus. Allerdings können die Regelungen des GenDG eine Orientierung für den Umgang mit systemmedizinischen Erkenntnissen anlässlich des Versicherungsvertragsschlusses bieten. Denn die Interessen- und Gefährdungslage bei Erkenntnissen, die aus genetischen Untersuchungen i. S. d. GenDG gewonnen werden, ist mit der Interessen- und Gefährdungslage bei Erkenntnissen aus systemmedizinischen Untersuchungen vergleichbar. Ebenso wie die Ergebnisse genetischer Untersuchungen i. S. d. GenDG können die Ergebnisse systemmedizinischer Untersuchungen weitreichende Konsequenzen haben, für den Betroffenen selbst, aber auch für sein Umfeld, wie beispielsweise die Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Systemmedizinische Erkenntnisse ermöglichen ebenfalls eine Gesundheitsprognose, auf deren Grundlage eine Risikokalkulation durchgeführt werden kann. In beiden Konstellationen ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung tangiert. Es erscheint daher geboten die Schutzmechanismen des § 18 Abs. 1 GenDG auf systemmedizinische Untersuchungen und Erkenntnisse entsprechend anzuwenden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die nicht-genetischen Daten in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenspiel ein vergleichbares Diskriminierungspotenzial befürchten lassen wie rein genetische Daten i. S. d. GenDG. Ebenso wie im Rahmen von § 18 Abs. 2 GenDG erscheint es etwa auch für systemmedizinische Ergebnisse sinnvoll, zwischen prädiktiven und diagnostischen Informationen zu differenzieren. Um das Recht auf Nichtwissen des Betroffenen zu wahren, sollten nur bereits manifestierte Erkrankungen anlässlich des Versicherungsvertragsschlusses anzeigepflichtig sein. 3. Fazit Die Systemmedizin ermöglicht die Erstellung zunehmend genauerer Risikoprofile des Einzelnen, wodurch die verbleibende Ungewissheit hinsichtlich des zukünftigen Gesundheitszustandes verringert wird. Den hierdurch eröffneten Diskriminierungsmöglichkeiten im privaten Versicherungssektor kann teilweise durch eine entsprechende Anwendung der bereits vorhandenen gesetzlichen (Hand-)Werk504
Detaillierte Ausführungen zum Anwendungsbereich des GenDG finden sich bereits oben B. III. 2. b) aa).
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zeuge abgeholfen werden, wie sich beim GenDG zeigt. Im Hinblick auf §§ 19, 213 VVG ist hingegen der Gesetzgeber aufgefordert Grenzen zu ziehen. Wünschenswert wäre, wenn sich der Gesetzgeber hierbei von folgenden von der Datenethikkommission der Bundesregierung entwickelten Parametern leiten ließe: Die Datenverarbeitung ist auf Daten des potentiellen Versicherungsnehmers zu beschränken; nicht mit einzubeziehen sind Daten, die unmittelbare Schlussfolgerungen mit Wirkung für Angehörige oder sonstige Dritte zulassen. Es ist ein klarer und ursächlicher Zusammenhang zwischen den verarbeiteten Daten und dem zu bestimmenden Erkrankungsrisiko zu fordern. Die dadurch generierte Verknüpfung darf keine Diskriminierung darstellen. Schließlich ist eine umfassende Transparenz bezüglich der Auswirkungen, die bestimmte Parameter und deren Gewichtung auf die Gestaltung der Versicherungskonditionen haben, herzustellen. Der Versicherungsbewerber muss klare und verständliche Erläuterungen erhalten, wie er die Konditionen verbessern kann.505 Die Herstellung einer vollständigen Wissensparität zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer erscheint nicht erstrebenswert.
IV. Exkurs: Systemmedizin und genetischer Exzeptionalismus Genetische Daten506 spielen im Rahmen systemmedizinischer Untersuchungen eine zentrale Rolle. Deshalb ist es unumgänglich, ihre Stellung im Feld medizinischer Gesundheitsinformationen näher zu untersuchen. Hierzu wird bereits seit Mitte der neunziger Jahre ein fachwissenschaftlicher und normativer Diskurs unter dem Stichwort des genetischen Exzeptionalismus kontrovers geführt. Konkret geht es um die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht genetische Daten als exzeptionell zu qualifizieren sind und deshalb einen Sonderstatus innerhalb medizinischer Gesundheitsinformationen einnehmen.507 Die Diskussion durchzieht unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, neben Medizinern, Gesundheits-
505
Datenethikkommission, Gutachten der Datenethikkommission, 2019, S. 106 f. Synonym für genetische Daten werden häufig die Begriffe genetische Informationen oder genombasierte Informationen verwendet, auch wenn es streng genommen feine Unterschiede zwischen diesen Termini gibt, vgl. hierzu König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 40. Da diese terminologischen Distinktionen für die inhaltliche Exzeptionalismus-Debatte irrelevant sind, wird den folgenden Ausführungen ein weiter Informationsbegriff zugrunde gelegt, der sämtliches genetisches Wissen erfasst. Medizinische Informationen, aus denen genetische Informationen abgeleitet werden können (klinische, biochemische oder familienanamnestische Daten), erlangen allein durch ihre Rückschlussmöglichkeit hingegen nicht den Status einer genetischen Information, Brändle/Raschke/Wolff, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 123, 125. 507 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 35. 506
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wissenschaftlern und Medizinethikern beteiligen sich auch Juristen, EnqueteKommissionen sowie Ethikräte.508 Ziel der folgenden Ausführungen ist es, zunächst den Begriff des genetischen Exzeptionalismus zu analysieren, um anschließend die Debatte um die Berechtigung einer grundlegenden Unterscheidung genetischer Informationen von anderen gesundheitsrelevanten Daten zu skizzieren. 1. Begriff des genetischen Exzeptionalismus Die unterschiedlichen Blickwinkel, die im Zusammenhang mit dem genetischen Exzeptionalismus eingenommen werden, sowie die mannigfaltig verwendeten Verfahrensweisen und Terminologien, führen dazu, dass es bislang an einer einheitlichen und präzisen Definition fehlt.509 Maßgeblich geprägt wurde der Begriff des genetischen Exzeptionalismus zunächst von Murray, der sich jedoch gerade gegen eine Sonderstellung genetischer Daten ausspricht. Er propagiert, dass der Sonderstatus nicht auf klar unterscheidbaren Charakteristika genetischer Informationen basiere, sondern vielmehr auf die Zuschreibung mystischer Eigenschaften, außergewöhnlicher Aussagekraft oder besonderer Signifikanz für den Einzelnen und seine Familie zurückzuführen sei.510 Nach überwiegender Ansicht beschreibt der Terminus genetischer Exzeptionalismus die „herausgehobene und insofern einzigartige Stellung genetischer Information einschließlich der zu ihrer Gewinnung herangezogenen genetischen Untersuchungen“.511 Abhängig von der fachwissenschaftlichen Ausrichtung der jeweiligen Veröffentlichung bezieht sich der Sonderstatus mehr auf die rein medizinischen Merkmale genetischer Daten oder auf die sich daraus ergebenden moralischen und normativen Implikationen. Ferner wird unter genetischem Exzeptionalismus teilweise auch die aus der Sonderstellung genetischer Informationen abgeleitete Forderung nach rechtlicher Sonderbehandlung verstanden.512
508 S. bspw. Nationaler Ethikrat, Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, 2005; Damm/König, MedR 2008, 62; Brändle/Raschke/Wolff, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 123. 509 Brändle/Raschke/Wolff, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 123, 125. Mit der Einführung des Begriffs HIV-Exzeptionalismus durch Bayer im Jahre 1991 erfuhr der Terminus des Exzeptionalismus erstmals im Zusammenhang mit der HIVInfektion eine bedeutende Prägung, Bayer, The New Journal of England Medicine 1991, 1500. 510 Murray, in: Rothstein, Genetic Secrets, S. 60 ff. In seiner Publikation setzt sich Murray intensiv mit den Argumenten für eine Sonderstellung genetischer Daten auseinander, wie sie bspw. von Annas et al., The Genetic Privacy Act and Commentary propagiert werden. Zur historischen Entwicklung der Exzeptionalismus-Debatte vgl. Brändle/Raschke/Wolff, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 123, 132 f.; König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 40 ff. 511 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 39. 512 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 39.
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2. Eine Debatte auf zwei Ebenen Die Exzeptionalismus-Debatte wird weitgehend auf zwei Ebenen513 geführt: Auf einer ersten medizinischen Ebene geht es um die Frage, ob sich genetische Informationen in fachwissenschaftlicher Hinsicht von nicht-genetischen Informationen unterscheiden. Hierfür wird insbesondere auf die Qualität der Informationen abgestellt (Informationsinhalt, Aussagekraft und Autonomie der Daten). Eine normative, insbesondere moralische und ethische, Abgrenzung von genetischen und nichtgenetischen Informationen wird sodann auf einer zweiten übergeordneten Ebene diskutiert. Hieran schließt sich die Frage, ob genetischen Informationen aus den gegebenenfalls bestehenden medizinischen und normativen Besonderheiten eine Sonderstellung innerhalb medizinischer Gesundheitsinformationen zuwächst, die eine rechtliche Sonderbehandlung erfordert.514 a) Erste Ebene: Epistemologischer Sonderstatus Es lassen sich im Wesentlichen vier Hauptargumente für eine Sonderstellung genetischer Daten in fachmedizinischer Hinsicht identifizieren. Freilich findet sich zu jedem Argument auch ein Gegenargument.515 aa) Prädiktion516 und Präzision Zunächst wird das, verglichen zu nicht-genetischen Informationen, erhöhte prädiktive Potenzial genetischer Daten als Argument für einen epistemologischen Sonderstatus angeführt. Genetische Veränderungen ließen sich bereits lange vor der ersten möglichen517 Manifestation der Erkrankung feststellen. Ferner wiesen die mithilfe genetischer Informationen erzielten Erkenntnisse über den zukünftigen Gesundheitszustand des Betroffenen einen höheren Präzisionsgrad auf.518 Hiergegen wird eingewendet, dass die Anzahl genetischer Tests, die prädiktive Aussagen hinsichtlich zukünftiger Erkrankungen erlauben, sehr gering sei. Der Grund hierfür ergebe sich aus den Charakteristika genetischer Krankheiten: eine unvollständige Penetranz sowie eine variable Expressivität. Unvollständige Penetranz umschreibt die Beobachtung, dass durch das Vorhandensein eines mutierten 513
So wird teilweise auch von „einer doppelten Sonderstellung genetischer Informationen“ gesprochen, Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 59. 514 Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 59 mit Verweis auf Alper/Beckwith, Science and Engineering Ethics 1998, 141 ff.; s. auch König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 44; Damm/König, MedR 2008, 62, 64. 515 Vgl. König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 45. 516 Zum Begriff der Prädiktion s. bereits oben 1. Kap., A. II. 3. Fn. 35. 517 Anders als die Erfassung bereits manifestierter körperlicher Veränderungen erlauben genetische Tests grundsätzlich lediglich Wahrscheinlichkeitsaussagen bzgl. einer Krankheitsausprägung, Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 131 f. 518 Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 131 f.; Schmidtke, in: Dierks/Wienke/Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 25, 32; Heyers, MedR 2009, 507, 508; Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 13; Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 80 f.
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Gens lediglich die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung seines Trägers erhöht wird.519 Variable Expressivität bezeichnet das Phänomen, dass trotz des gleichen Gendefekts die Krankheitssymptome der betroffenen Individuen stark differieren können; umgekehrt ist es denkbar, dass die gleiche Erkrankung auf verschiedene Genmutationen rückführbar ist.520 Ferner wird darauf hingewiesen, dass sich auch mithilfe nicht-genetischer Untersuchungen, wie des HIV-Tests oder der Cholesterinuntersuchung, Informationen über künftige Gesundheitsrisiken gewinnen ließen.521 bb) Stabilität genetischer Informationen Des Weiteren wird für einen privilegierten Status genetischer Informationen ihre besondere Stabilität ins Feld geführt. Die durch genetische Tests ermittelten Strukturmerkmale der DNS gehörten zur physischen Konstitution eines Menschen und seien dementsprechend unveränderbar.522 Der Endgültigkeit der Information stünden jedoch häufig lediglich begrenzte Optionen zur Therapie der diagnostizierten Krankheiten und Krankheitsdispositionen gegenüber.523 Der Stabilität medizinischer Informationen halten Kritiker die Möglichkeit des Erwerbs von Genveränderungen durch die individuelle Lebensweise und Umwelteinflüsse im Laufe des Lebens entgegen.524 Hinsichtlich des Mangels an Therapiemöglichkeiten, weisen sie darauf hin, dass genetisch bedingte Störungen teilweise bereits heute oder gegebenenfalls zukünftig wirksam durch Gentherapien
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So erhöht etwa der Nachweis einer Mutation der BRCA-Gene zwar die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ihre Trägerin an Brustkrebs erkrankt, ob, wann und in welcher Weise die Krankheit ausbricht, ist jedoch unklar, Feuerstein/Kollek, in: Honnefelder/Streffer, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 5, 2000, S. 91, 92 f. 520 Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 59; Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 13; Kiehntopf/Deufel/Pagel, DÄBl. 2008, A-776; s. auch Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Penetranz, Expressivität u. Krankheit, genetisch bedingte. 521 Murray, in: Rothstein, Genetic Secrets, S. 60, 64; Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 60; Schmitz/Wiesing, Ethische Aspekte der genetischen Diagnostik in der Arbeitsmedizin, S. 44; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 212; ders., BuGBl. 2006, 1219, 1222; Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344, 347; Damm/König, MedR 2008, 62, 66; Kiehntopf/ Deufel/Pagel, DÄBl. 2008, A-776; Hardenberg, ZD 2014, 115, 118; zu weiteren nichtgenetischen Methoden, die Vorhersagen von Gesundheitsrisiken ermöglichen s. Nationaler Ethikrat, Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, 2005, S. 22 ff.; ders., Stellungnahme Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen, 2007, S. 18 ff. 522 Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 132; vgl. auch BT-Drs. 16/10532, S. 16. 523 Damm, MedR 2004, 1, 2 warnt diesbezüglich vor einem Auseinanderklaffen von Prädiktion und Prävention und verwendet in diesem Zusammenhang den treffenden Begriff der „gendiagnostischen Doppelschere“; s. auch Schmidtke, in: Dierks/Wienke/Eberbach/ Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 25, 32; Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 227 ff. 524 Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 60 m. w. N.
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behandelt werden könnten.525 Zudem seien auch zahlreiche nicht-genetisch bedingte Krankheiten bislang noch nicht behandelbar.526 cc) DNS als autonomer „Bauplan“ Ferner führen die Verfechter eines genetischen Exzeptionalismus an, dass Gene den autonomen „Bauplan“527 des menschlichen Organismus bildeten. Neben der körperlichen Verfassung würden sie auch unveränderliche persönliche Charakteristika des Individuums festlegen. Die Funktion der DNS sei somit vergleichbar mit einem „future diary“528, in dem das zukünftige Schicksal einer Person niedergeschrieben ist.529 Diese Argumentationsstruktur entkräftet Lemke mit dem Hinweis, dass „Gene keine statischen Einheiten [sind], sondern integrale Bestandteile eines biochemischen Netzwerks, das sich durch ein kompliziertes Zusammenspiel von interdependenten Akteuren auszeichnet“.530 Der Phänotyp sei nicht lediglich das simple Abbild des Genotyps,531 sondern vielmehr das Resultat eines komplexen, bis heute nicht vollständig durchdrungenen Wechselspiels zwischen den Genen und verschiedenartigen inneren und äußeren Faktoren, führen die Gegner eines genetischen Exzeptionalismus weiter aus.532 Hinzu komme, dass die Charakteristika eines Menschen maßgeblich durch seine persönlichen Erfahrungen geprägt würden und eben nicht bereits durch seine Gene vollständig determiniert seien.533
525
König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 28 f., 48 m. w. N.; Brändle/Raschke/Wolff, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 123, 134. 526 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 49. 527 In der allgemeinen Wahrnehmung wird den Genen eine gewisse Autonomie und Aktivität zugeschrieben, sie seien eine Art den menschlichen Körper steuernde und regulierende Schaltzentrale, Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 60, 66. 528 Annas et al., The Genetic Privacy Act and Commentary, S. 3. 529 Vgl. hierzu König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 49; Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 132; Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 12. 530 Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 60. Die interdependenten Akteure sind einerseits diverse biochemische Genveränderungen auslösende Vorgänge, andererseits externe Einflüsse der Umwelt und Lebensweise, König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 50 Fn. 200. 531 Mit dem Begriff des Genotyps wird die Gesamtheit aller Erbanlagen eines Organismus, die den Phänotyp bestimmen, beschrieben, Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Genotyp. Zum Begriff des Phänotyps bereits oben 1. Kap., A. II. 3. Fn. 29. 532 Schmitz/Wiesing, Ethische Aspekte der genetischen Diagnostik in der Arbeitsmedizin, S. 44; Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 13. 533 Schröder, BuGBl. 2006, 1219, 1222; s. auch Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 13.
C. Diskriminierungsgefahren
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dd) Reichweite genetischer Informationen Schließlich wird als medizinische Besonderheit genetischer Informationen hervorgehoben, dass diese Aussagekraft über das getestete Individuum hinaus besäßen. Sie ermöglichten es, Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand oder die Krankheitsrisiken von Verwandten und Nachkommen der untersuchten Person zu ziehen.534 Zur Entkräftung dieses Arguments führen die Kritiker an, dass auch andere medizinische Informationen von großer Bedeutung für Familienangehörige sein könnten. Dies gelte gerade für stark infektiöse Krankheiten wie Tuberkulose und sexuell übertragbare Krankheiten wie etwa HIV-Infektionen. Informationsgewinnung anhand der Familiengeschichte des Patienten sei zudem keine neuartige Methode, die speziell für genetisch bedingte Krankheiten Anwendung finde. Vielmehr handele es sich um ein bereits seit langer Zeit in der Medizin übliches Verfahren.535 b) Zweite Ebene: Sonderstatus aufgrund normativ-ethischer Aspekte Zur Begründung eines Sonderstatus genetischer Informationen in normativethischer Hinsicht werden insbesondere vier Aspekte ins Feld geführt, die sich im Wesentlichen als Konsequenzen des medizinischen Sonderstatus darstellen. Diese normativ-ethischen Aspekte dienen sogleich der Rechtfertigung einer regulativen Sonderbehandlung genetischer Daten, sind aber ebenfalls nicht über jegliche Kritik erhaben.536 aa) Intrafamiliäre Konfliktpotenziale In Anknüpfung an das medizinische Argument der Aussagekraft genetischer Informationen über das getestete Individuum hinaus, weisen die Exzeptionalismusverfechter auf die damit einhergehende Gefahr intrafamiliärer Konflikte hin.537 Exemplarisch sei hier nur der Fall genannt, dass ein Familienangehöriger einen Gentest durchführen lassen möchte, ein anderes Familienmitglied allerdings keine Kenntnis von möglichen Krankheitsdispositionen wünscht, diese aber zwangsläufig aufgrund der Drittbezogenheit der Testergebnisse erhielte. Es kommt mithin zu
534 Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 80; Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 131; Heyers, MedR 2009, 507, 508; Schmidtke, in: Dierks/Wienke/ Eberbach/Schmidtke/Lippert, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 25, 32; Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 13; Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 450. 535 Murray, in: Rothstein, Genetic Secrets, S. 60, 65; Schmitz/Wiesing, Ethische Aspekte der genetischen Diagnostik in der Arbeitsmedizin, S. 44; Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 60; Schröder, BuGBl. 2006, 1219, 1221; Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344, 347. 536 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 51 f. 537 S. hierzu etwa Heinrichs, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 165, 171; Damm, MedR 1999, 437, 444 ff.; ders., BuGBl. 2007, 145, 149 f.; vgl. auch Schief, Die Zulässigkeit postnataler prädiktiver Gentests, S. 88.
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einer Konfrontation des Rechts auf Nichtwissen und des Rechts auf Wissen.538 Eine ganz grundsätzliche Konfliktsituation ergebe sich bei der Kollision der ärztlichen Schweigepflicht mit Drittinteressen: Gelangt der Arzt zu der Erkenntnis, dass die Gefahr einer schweren Erkrankung eines Familienangehörigen seines Patienten besteht, stellt sich die Frage, ob er befugt oder sogar verpflichtet ist, seine Schweigepflicht zugunsten des mitbetroffenen Verwandten zu brechen oder seinen Patienten aufzufordern seinen Verwandten zu informieren.539 Gegner des genetischen Exzeptionalismus bezweifeln, dass es sich um ein ausschließlich genetischen Informationen innewohnendes Konfliktpotenzial handelt. Nicht genombasierte Gesundheitsinformationen wiesen ebenfalls Drittbezug auf und könnten damit intrafamiliäre Konflikte, aber auch solche im sozialen Umfeld, auslösen.540 bb) Besondere Stigmatisierungs- und Diskriminierungspotenziale Sodann wird zur Rechtfertigung einer Sonderbehandlung genetischer Informationen vor deren besonderen Stigmatisierungs- und Diskriminierungspotenzialen gewarnt.541 Es wird befürchtet, dass aufgrund positiver prädiktiver Gentestergebnisse die getesteten Individuen als „gesunde Kranke“, „Quasi-Kranke“ oder „zukünftig Kranke“ qualifiziert würden. Eine derartige Stigmatisierung von genetisch vorbelasteten Personen könne zu erheblichen Benachteiligungen für diese, insbesondere im Arbeits- und Versicherungssektor, führen.542 Ferner sei das Stigmatisierungs- und Missbrauchspotenzial auch in einem historischen Kontext zu se-
538
Heinrichs, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 165, 171; ausführlich zu derartigen Konfliktfeldern Damm, MedR 1999, 437, 447 f.; Woopen, in: Korff/Beck/ Mikat, Lexikon der Bioethik, Stichwort Genetische Beratung, S. 34. Zum Verhältnis des Rechts auf Nichtwissen zum Recht auf Wissen bereits oben A. II. 4. 539 Damm, MedR 1999, 437, 444 ff.; ders., BuGBl. 2007, 145, 149 f. Eingehend zum Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher Schweigepflicht und Drittinteressen unten 3. Kap., C. II. 5. 540 Dies gelte namentlich für HIV-Infektionen, Schröder, BuGBl. 2006, 1219, 1220; Stockter, Das Verbot genetischer Diskriminierung, S. 468, 537. Für eine HIV-Erkrankung hat das OLG Frankfurt das Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher Schweigepflicht und Drittinteressen zugunsten des Lebenspartners des Patienten aufgelöst, OLG Frankfurt NJW 2000, 875; näher hierzu unten 3. Kap., C. II. 5. c). 541 Heinrichs, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 165, 170; Däubler, RDV 2003, 7, 8; Buchner, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2003, S. 313; Feuerstein, in: Beer/Markus/Platzer, Was wissen wir vom Leben?, S. 169; Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 80; Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 450; vgl. auch die BTDrs. 16/10532, S. 16. 542 Feuerstein, in: Beer/Markus/Platzer, Was wissen wir vom Leben?, S. 169, 172, 177 ff.; Heinrichs, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 165, 170 f.; Däubler, RDV 2003, 7, 8; Buchner, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2003, S. 313, 314 f. Zur Diskriminierungsgefahr anlässlich des Abschlusses privater Versicherungsverträge ausführlich bereits oben C. I.–III.
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hen:543 Genetische Daten stellten Verbindungen zu Ethnizität und Rasse her, so dass die Gefahr sozialer Diskriminierung544 bestehe.545 Kritiker erachten die dargelegte Argumentation als zirkulär: Man könne einen Sonderstatus genetischer Informationen nicht mit deren besonderen Stigmatisierungs- und Diskriminierungspotenzialen rechtfertigen. Denn diese Potenziale ergäben sich gerade aus den spezifischen Charakteristika genetischer Daten, welche wiederum Teil der dahinter stehenden Exzeptionalismus-Debatte seien.546 Zudem bärgen auch andere gesundheitliche Informationen, wie etwa ein positives Testergebnis auf HIV, den Diskriminierungs- und Stigmatisierungspotenzialen genetischer Informationen vergleichbare Gefahren in sich.547 cc) Eingriffstiefe Als weiteres normativ-ethisches Argument wird die besondere „Eingriffstiefe“ genetischer Informationen hervorgehoben.548 Hinsichtlich dieses Begriffs ergeben sich zwei Lesarten: Zum einen wird die charakteristische „Eingriffstiefe“ auf die möglicherweise erheblichen psychischen Belastungen des Getesteten sowie seiner Familienangehörigen, bedingt durch die Kenntnis der eigenen genetischen Veranlagung, bezogen.549 Die mit der Offenbarung bislang unbekannter genetischer Krankheitsdispositionen verbundenen potenziellen Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Betroffenen und die Folgen für seine zukünftige Lebensplanung 543
Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 14. Soziale Diskriminierung beschreibt die Ausgrenzung oder Benachteiligung einer Person aufgrund bestimmter Merkmale. Hiervon abzugrenzen ist die Stigmatisierung als Zuordnung bestimmter in der Regel negativ besetzter Eigenschaften oder Merkmale und die Diskriminierung im rechtlichen Sinne als sachlich nicht gerechtfertigte Gleich- oder Ungleichbehandlung, s. ausführlich zur Begriffsanalyse Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 219 ff.; König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 59. 545 Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 80. 546 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 59 f. 547 Hildt, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 14; Schröder, BuGBl. 2006, 1219, 1221; Schmitz/Wiesing, Ethische Aspekte der genetischen Diagnostik in der Arbeitsmedizin, S. 44; Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344, 347; Murray, in: Rothstein, Genetic Secrets, S. 60, 65 f.; Nationaler Ethikrat, Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, 2005, S. 47 f. Lemke warnt darüber hinaus vor einer übermäßigen Konzentration auf die Unzulässigkeit genetischer Diskriminierung, mit der das Risiko der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz für Formen nichtgenetischer Diskriminierung einhergehe, ausführlich hierzu in Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 63 ff. 548 Der Begriff der Eingriffstiefe wird in verschiedenen Facetten verwendet: Zum Teil als „Eingriffstiefe in die Person“ (Deutsch, VersR 1991, 1205), zum Teil wird eine Assoziation zum „Kernbereich der Persönlichkeit“ (Roos, Die genetische Analyse von Stellenbewerbern und das vorvertragliche Informationsstreben des Arbeitgebers, S. 61) bzw. „Kernbereich der Person“ (van den Daele, Mensch nach Maß?, S. 80 f.) hergestellt. Vgl. auch König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 52 Fn. 213 m. w. N. 549 Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 26; Heinrichs, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 165, 168 f. 544
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und -führung könnten mitunter signifikant sein.550 Die faktische Gefährdung des Rechts auf Nichtwissen551 gehe damit einher.552 Nach einer zweiten Lesart ergibt sich die gewichtige Tiefe des Eingriffs aus der genetischen Veranlagung des Individuums selbst.553 Gerade die Möglichkeit, anhand genetischer Daten persönliche Eigenschaften und die Neigung zu krankhaften Veränderungen festzustellen sowie die Zuordnung des Genträgers zu einem bestimmten Verhalten, charakterisiere die „Eingriffstiefe“ genetischer Informationen.554 Die letztgenannte Lesart entspringt der Vorstellung des genetischen Determinismus oder genetischen Reduktionismus.555 Fachwissenschaftlich ist diese Ansicht bereits widerlegt,556 in der Gesellschaft ist sie allerdings noch immer vorherrschend.557 Kritiker stellen die besondere „Eingriffstiefe“ genetischer Daten in Frage, da in ihren Augen auch nicht-genetische Informationen intim, peinlich und tabubeladen sein könnten und folglich das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen tangierten.558 dd) Schicksalhaftigkeit559 Schließlich führen die Verfechter eines genetischen Exzeptionalismus die fehlende Verantwortlichkeit des Individuums für seine genetische Konzeption an. Dem Menschen seien seine genetischen Eigenschaften „in die Wiege gelegt“. Sie seien
550
Wiese, in: FS Niederländer, S. 475, 481; van den Daele, Mensch nach Maß?, S. 80 f.; Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 26; Damm, MedR 1999, 437, 438. Die Gründe für das möglicherweise erhöhte Belastungspotenzial bei der Offenbarung genetischer Informationen ggü. den Getesteten ergeben sich aus den bereits erwähnten Charakteristika genetischer Daten: ihr erhöhtes prädiktives Potenzial in Verbindung mit einem gesteigerten Präzisionsgrad, ihre etwaigen Auswirkungen auf Familienangehörige sowie ihre Stabilität (C. IV. 2. a)), König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeitsund Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 54. 551 Eingehend zum Recht auf Nichtwissen s. oben A. II. 552 Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, S. 26. 553 Roos, Die genetische Analyse von Stellenbewerbern und das vorvertragliche Informationsstreben des Arbeitgebers, S. 61. 554 Deutsch, VersR 1991, 1205; ders., AcP (192) 1992, 161, 169; Schief, Die Zulässigkeit postnataler prädiktiver Gentests, S. 87 f. 555 Hinter dem Begriff des genetischen Reduktionismus verbirgt sich die Ansicht, dass der Phänotyp des Menschen, ja der Mensch als Ganzer, der unmittelbare Ausdruck seiner Gene ist. Damit verbunden ist die Vorstellung eines genetischen Determinismus, wonach alle Eigenschaften und Fähigkeiten eines Individuums durch seine Gene vorbestimmt sind, Schröder, BuGBl. 2006, 1219, 1220. 556 S. hierzu bereits die Ausführungen oben C. IV. 2. a). 557 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 53. 558 Bspw. Fußpilz oder Hämorrhoiden, Schröder, BuGBl. 2006, 1219, 1222; ebenso könne auch eine HIV-Diagnostik schwerwiegende Folgen für den Betroffenen haben, Kiehntopf/ Deufel/Pagel, DÄBl. 2008, A-776, A-777. 559 Bezeichnung bei Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344, 347.
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von ihm nicht beeinflussbar und entzögen sich daher seinem Verantwortungsbereich.560 Diese Argumentationsstruktur gründet den Exzeptionalismusgegnern zufolge auf der Prämisse, dass sich die genetische Veranlagung des Einzelnen jeglicher Kontrolle entziehe, nicht-genetische Faktoren hingegen das Resultat individueller Wahlentscheidungen verkörperten.561 Eine solche genetisch-reduktionistische Sichtweise übersehe allerdings, dass es auch nicht-genetische Krankheitsursachen gebe, die dem Einflussbereich des Einzelnen entzogen seien.562 Andererseits handele es sich bei den meisten genetischen Krankheiten um solche multifaktorieller Natur, sodass sie sich erst im Zusammenspiel mit exogenen Einflüssen manifestierten. Ein Krankheitsausbruch könne folglich häufig durch eine Veränderung der Lebensgewohnheiten vermieden werden.563 c) Fazit Die Erörterung der medizinischen sowie normativ-ethischen Aspekte der Exzeptionalismus-Debatte ergibt ein differenziertes Bild. Die angeführten medizinischen Besonderheiten genetischer Informationen lassen sich bis auf den Aspekt der DNS als autonomer „Bauplan“ lediglich relativieren, nicht jedoch widerlegen.564 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die sich aus der Vererbbarkeit genetischer Informationen ergebenden intrafamiliären Implikationen ein spezifisches Charakteristikum genetischer Daten darstellen.565 Auch die nach aktuellem Forschungsstand begrenzten Therapieoptionen für genetisch bedingte Erkrankungen sind ein Faktum.566 Die abschließende Betrachtung der normativ-ethischen Argumente liefert ein ähnliches Bild: Nicht-genetische Gesundheitsinformationen können ebenfalls das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen tangieren und intrafamiliäre Konflikte auslö560
BT-Drs. 16/3233, S. 27; BT-Drs. 16/10532, S. 16; Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 450. 561 Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 65 f.; s. auch König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 57. 562 Bspw. HIV-Infektionen aufgrund unsauberer Blutkonserven oder Erkrankungen infolge schlechter Arbeitsbedingungen, König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeitsund Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 57 f.; Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344, 347; Lemke, Soziale Welt 2005, 53, 66. 563 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 27 f., 57; speziell zu multifaktoriellen Krankheiten auch in Abgrenzung zu monogen vererbten s. Nationaler Ethikrat, Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, 2005, S. 19 f.; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Krankheit, genetisch bedingte. 564 Denn naturgemäß weisen nur genetische Daten medizinische, genspezifische Wirkungsmechanismen, Zusammenhänge und Gegebenheiten im engeren Sinne auf, König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 50 f.; vgl. auch Nationaler Ethikrat, Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, 2005, S. 14. 565 König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 47 f. 566 Damm/König, MedR 2008, 62, 65; König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 49.
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sen. Dennoch ist genetischen Informationen nicht jegliche Besonderheit in normativ-ethischer Hinsicht abzusprechen.567 Festzuhalten bleibt, dass keiner der angeführten Aspekte es für sich genommen vermag, die Exzeptionalität genetischer Daten zu begründen. Es ist vielmehr die „Bündelung“, also die Kumulation, aller dieser Eigenschaften, die genetischen Informationen einen Status des „Besonderen“, wenn auch nicht „ganz Außergewöhnlichen und Einzigartigen“, innerhalb der Gesundheitsinformationen verleiht.568 Die durch genetische Tests hervorgerufenen Konflikte sind freilich nicht neuartig, können aber bereits bestehende verschärfen.569 So bedingt der sog. Bündelungseffekt eine Abwendung genetischer Daten von einem unmittelbar gesundheitsspezifischen, medizinisch-therapeutischen hin zu einem lebensweltlichen Kontext. Die zukunftsbezogene Ausrichtung prädiktiver Gendiagnostik rückt in einem lebensweltlichen Kontext Handlungszusammenhänge und Entscheidungsspielräume der langfristigen Lebensgestaltung und Familienplanung ins Zentrum. Im Gegensatz zum medizinisch-therapeutischen Bereich sind es hier meist asymptomatische Personen, die mit Krankheitsdiagnosen und -prognosen, meist ohne effiziente Präventions- oder Therapieoptionen, konfrontiert werden. Dadurch erlangen Autonomiegesichtspunkte und (Nicht-)Wissensrechte einen höheren Stellenwert.570 Die dargelegten Argumente (Bündelungseffekt sowie Hinwendung zu einem lebensweltlichen Kontext) lassen den Schluss zu, dass genetische Informationen zwar keine exklusive qualitative Einzigartigkeit aufweisen, wohl aber graduelle Besonderheiten für sich reklamieren, welche eine regulative Sonderbehandlung rechtfertigen können.571 Diese vermittelnde Position wird auch als „schwacher“ oder „weicher“ Exzeptionalismus bezeichnet.572
567
Vgl. König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 62. 568 Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 214; Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 80; vgl. auch Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 227; Damm, MedR 2011, 7, 15: „Kumulations- und Bündelungseffekt“; König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 63. 569 Simon, Gendiagnostik und Versicherung, S. 137. 570 Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 227 ff.; s. auch Damm/König, MedR 2008, 62, 65; König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 63 f. 571 Ob und in welcher Weise aus der Exzeptionalismus-Debatte normative Konsequenzen zu ziehen sind, wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Die Meinungsunterschiede verlaufen in diesen beiden Debatten freilich nicht unbedingt parallel, s. hierzu Damm/König, MedR 2008, 62, 65 ff. König differenziert noch weiter: Prädiktive und Drittbezug aufweisende Gesundheitsinformationen seien für sich genommen exzeptionell. Genetische prädiktive Informationen nähmen innerhalb dieser exzeptionellen prädiktiven Gesundheitsinformationen eine relative graduelle Sonderstellung ein, da sie beide Eigenschaften (Prädiktion und Drittbezug) in sich vereinten, s. König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeitsund Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 64 ff. 572 Begriffe übernommen von Brändle/Raschke/Wolff, in: Schmidtke et al., Gendiagnostik in Deutschland, S. 123, 132 und von König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 43.
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Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Fronten zwischen Exzeptionalismusgegnern und -befürwortern weniger verhärtet sind, als dies zunächst den Anschein vermittelt.573 In neueren Publikationen wird häufig die soeben dargelegte Position des „schwachen“ Exzeptionalismus vertreten.574 Mit Erlass des GenDG hat der Gesetzgeber auf den bestehenden Regulierungsbedarf575 reagiert und gleichzeitig eine Tendenz vorgegeben, denn der Gesetzesbegründung ist die dem Gesetz zugrundeliegende Prämisse der Besonderheit genetischer Daten zu entnehmen.576 3. Relativierung durch die Systemmedizin Im Kontext der Systemmedizin wird die Besonderheit genetischer Daten sowohl in medizinischer als auch normativ-ethischer Hinsicht weiter relativiert.577 Die präventive Ausrichtung der Systemmedizin bedingt eine verstärkte Konzentration auf Gesundheitsinformationen mit prädiktiver Aussagekraft, unabhängig davon, ob diese genetischer oder nicht-genetischer Natur sind. Es ist eine steigende Zahl nicht-genetischer Daten mit prädiktivem Potential zu verzeichnen. So gewinnen etwa Biomarker zur Bestimmung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten zunehmend an Bedeutung, wie beispielsweise spezifische Autoantikörper für rheumatoide Arthritis578 oder bestimmte Metaboliten für Diabetes Typ 2.579 Ferner lassen sich basierend auf Daten über Lebensgewohnheiten und Ernährungsweisen, Aussagen über die zukünftige Entwicklung des Gesundheitszustandes formulieren.580 Der Sonderstatus genetischer Daten wird zusätzlich dadurch relativiert, dass in der Systemmedizin der Fokus auf dem Zusammenspiel verschiedenartiger Faktoren liegt. Die systemmedizinischen Erkenntnisse werden nicht allein aus genetischen Informationen gewonnen, sondern aus der Analyse eines Pools verschiedenartiger Daten. Eine ermittelte Krankheitsdisposition ist damit häufig nicht mehr allein auf eine genetische Eigenschaft zurückzuführen, sondern auf unterschiedli573
Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 27; Damm/König, MedR 2008, 62, 65. 574 Z. B. von Damm/König, MedR 2008, 62, 65; Hildt, Autonomie in der biomedizinischen Ethik, S. 227 ff.; dies., in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 7, 14; Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 214; Nationaler Ethikrat, Prädiktive Gesundheitsinformationen bei Einstellungsuntersuchungen, 2005, S. 14, 47 f. 575 Zweifel an einem Regelungsbedarf äußern etwa Simon/Robienski, in: Hildt/Kovács, Was bedeutet genetische Information?, S. 109; Kiehntopf/Deufel/Pagel, DÄBl. 2008, A-776; Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344. 576 BT-Drs. 16/10532, S. 1, 16; vgl. auch Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 450. 577 Vgl. hierzu auch Fleischer, Rechtliche Aspekte der Systemmedizin, S. 66 ff. 578 Nielen et al., Arthritis & Rheumatism 2004, 380. 579 Wang et al., Nature Medicine 2011, 448. 580 So weisen etwa Bewegungsdaten ein prädiktives Potential auf. Deshalb existiert eine Empfehlung der WHO zum Umfang der täglich erforderlichen Bewegung, um das eigene Krankheitsrisiko nicht zu erhöhen, WHO, physical activity and health in Europe: evidence for action, 2006, abrufbar unter: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0011/ 87545/E89490.pdf (Zugriff: 13.4.2020); s. auch BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 4; Bundesministerium für Gesundheit, Ratgeber zur Prävention und Gesundheitsförderung, S. 18 ff.
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2. Kap.: Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
che zusammenwirkende Komponenten, sodass die genetische Information für sich keine herausragende Stellung mehr einnimmt. Ferner ist die Gefahr der Stigmatisierung und Diskriminierung nicht auf genetische Daten beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf systemmedizinische Erkenntnisse, wie am Beispiel des privatrechtlichen Versicherungssektors bereits eingehend dargelegt wurde.581 Ebenso wie genetische Informationen, können auch systemmedizinische Erkenntnisse aufgrund ihres prädiktiven Gehalts erhebliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Betroffenen und seine weitere Lebensplanung und -führung haben. Ihnen ist eine vergleichbare „Eingriffstiefe“ zuzuschreiben. Ein zusätzlicher Beratungs- und Aufklärungsbedarf, wie er etwa im GenDG anlässlich genetischer Untersuchungen vorgesehen ist, besteht daher auch für systemmedizinische Erkenntnisse.582 Die dargelegten Aspekte stellen die Sinnhaftigkeit einer gesetzlichen Sonderstellung genetischer Daten in Form des GenDG in Frage. Eine Neubewertung des rechtlichen Status genetischer Daten scheint geboten. Gerade im Hinblick auf die Systemmedizin sind Regelungen, die generell den Umgang mit prädiktiven Gesundheitsinformationen normieren, dringend notwendig. Eine Differenzierung nach genetischen und nicht-genetischen Daten mit prädiktivem Potenzial ist im Rahmen von systemmedizinischen Untersuchungen nicht leistbar und sollte daher aufgegeben werden.583
581
S. oben C. I.–III. Zum Aufklärungs- und Beratungsbedarf in der Systemmedizin eingehend unten 3. Kap., B. III. u. C. I. 583 Vgl. in diesem Zusammenhang die von Fleischer erarbeiteten Lösungsansätze für eine generalisierende Regulierung des Umgangs mit prädiktiven Gesundheitsinformationen, Fleischer, Rechtliche Aspekte der Systemmedizin, S. 197 ff. 582
Kapitel 3: Auswirkungen der Systemmedizin auf das Verhältnis von Arzt und Patient 3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Die für den systemmedizinischen Ansatz charakteristische Aufbereitung, Zusammenführung und Interpretation großer Datenmengen aus vielfältigen Datensätzen erfordert die Kooperation von Ärzten und Naturwissenschaftlern. Es sind grundsätzlich zwei Formen der disziplinübergreifenden Zusammenarbeit denkbar: In einer ersten Konzeption findet eine arbeitsteilige Rollentrennung statt, der Forscher fungiert als Dienstleister für den Arzt, der wiederum als transnationaler, interdisziplinär kompetenter Mediziner gegenüber dem Patienten auftritt. Die zweite Konzeption ist demgegenüber durch eine weitgehende Aufhebung der klassischen Rollenmodelle charakterisiert; Forscher und Ärzte agieren hier als interdisziplinäres Team.1 Für die folgenden Ausführungen wird von einer arbeitsteiligen Rollentrennung ausgegangen. Untersucht werden die Auswirkungen der Systemmedizin auf das Verhältnis des Patienten zu seinem behandelnden Arzt. Es werden insbesondere der ärztliche Pflichtenkatalog und die entsprechenden Patientenrechte aber auch der Charakter der Arzt-Patient-Beziehung im Ganzen in den Blick genommen.
Auswirkungen auf das Gepräge der Arzt-Patient-Beziehung A. Auswirkungen auf das Gepräge
Die mit der Systemmedizin einhergehende weitere Technisierung und Verwissenschaftlichung der Medizin hat zunächst nachhaltige Auswirkungen auf den besonderen Charakter der Arzt-Patient-Beziehung. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist „weit mehr als eine juristische Vertragsbeziehung“,2 idealerweise ist es geprägt von Vertrauen, Fürsorge, Verständnis und Zuwendung.3 Seine Verankerung findet es in den sittlichen Beziehungen der Menschen untereinander. In einer für die Gesundheit des Patienten förderlichen Weise entfaltet es sich in erster Linie dort, wo diese sittlichen Momente es tragen und seinen Gehalt bestimmen.4 Da sich der Ursprung der Idee des ärztlichen Berufsbildes sowohl in der Wissenschaft als auch in der Humanität 1
S. hierzu die qualitative Interviewstudie zur Rolle und Verantwortung von Ärzten und Forschern in systemmedizinischen Kontexten, Fernau/Schleidgen/Schickhardt/Oßa/ Winkler, Ethik Med 2018, 307. 2 So die vielfach aufgegriffene Formulierung des BVerfG in seinem grundlegenden Beschluss zu Fragen der Beweislast im Arzthaftungsprozess v. 25.7.1979 (BVerfGE 52, 131, 169 f. = NJW 1979, 1925, 1930) im Anschluss an Eb. Schmidt, in: Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, ²(1957), S. 1, 2; s. auch Katzenmeier, Arzthaftung, S. 5 m. w. N. 3 Zu den verschiedenen Abhandlungen über den besonderen Charakter der Beziehung zwischen Arzt und Patient ausführlich Katzenmeier, Arzthaftung, S. 5 ff. Die historischen Wegmarken, welche der Arzt-Patient-Beziehung ihr Gepräge gaben, zeichnet Miranowicz, MedR 2018, 131 nach. 4 Eb. Schmidt, in: Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, ²(1957), S. 1, 2. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 A. M. Ernst, Rechtsfragen der Systemmedizin, Kölner Schriften zum Medizinrecht 26, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62550-7_4
122
3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
findet,5 ist eine eindeutige Kategorisierung des Arztberufes nicht möglich. Der Arzt ist Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler zugleich.6 Eine erfolgreiche medizinische Behandlung hängt maßgeblich von seinem fachlichen Wissen und Können ab, doch auch eine emotionale Komponente trägt zum Gelingen bei. Die persönliche Zuwendung des Arztes, seine Sympathie und Empathie sowie seine kommunikativen Fähigkeiten sind wichtiger Bestandteil einer individuellen Arzt-Patient-Beziehung.7 Aufgrund der fachlichen Kompetenz des Arztes, dessen Autorität und Wissensvorsprung, handelt es sich, auch unter Betonung des partnerschaftlichen statt des paternalistischen Prinzips, doch um eine asymmetrische Partnerschaft.8 Konstituierendes Element der Arzt-Patient-Beziehung ist daher vor allem gegenseitiges Vertrauen. Nur wenn der Arzt zugleich Vertrauensperson des Patienten ist, lässt sich das Kompetenzgefälle überwinden und eine echte Partnerschaft begründen.9 Auch die auf Fürsorge und Vertrauen basierende Zweierbeziehung bleibt externen Einflüssen ausgesetzt. Unterschiedliche Entwicklungen wie die zunehmende Ökonomisierung und Verrechtlichung der Medizin,10 die institutionelle Einbindung der Ärzte, das Zurücktreten des Fürsorgeprinzips zugunsten der Patientenautonomie sowie steigende Erwartungen seitens der Patienten haben die ArztPatient-Beziehung tiefgreifend verändert und verändern sie noch immer.11 Hinzu kommt eine bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende, verstärkte Konzentration der Medizin auf naturwissenschaftliche Aspekte. Fortschreitende 5
Jaspers, Die Idee des Arztes, S. 111: „Dies ärztliche Handeln steht auf zwei Säulen: einerseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und dem technischen Können, andererseits auf dem Ethos der Humanität.“ 6 S. hierzu die Beiträge in: Rössler/Waller, Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 7 f. 7 S. hierzu Buchborn, in: Rössler/Waller, Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, S. 69, 81; Dickhaut/Luban-Plozza, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Arzt-Patient-Beziehung, Sp. 122; Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 12 f.; Eibach/Schaefer, MedR 2001, 21, 24 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 8; Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 158. 8 Buchborn, MedR 1984, 126, 128; Raspe, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Patient, Sp. 777 f.; Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 41; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 9 m. w. N.; Maio, in: Dörries/ Lipp, Medizinische Indikation, S. 74, 75. 9 Auch der BGH betont, dass das Arzt-Patient-Verhältnis ein starkes Vertrauen voraussetzt, BGHZ 29, 46, 52 f. = NJW 1959, 811, 813. Zur Bedeutung des Vertrauens in der Arzt-Patient-Beziehung auch Buchborn, MedR 1984, 126, 128; Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, S. 59; Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln, S. 267 ff.; Eibach/Schaefer, MedR 2001, 21, 25 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 9 f. 10 Zur fortschreitenden Ökonomisierung und Verrechtlichung des Gesundheitswesens, die letztlich asymmetrische Beziehungsstrukturen begünstigten, Ulsenheimer, MedR 2015, 757; Miranowicz, MedR 2018, 131, 134 ff. 11 Laufs, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. I Rn. 14; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 10 ff. Zum Wandel des Arztbildes s. die Beiträge in Katzenmeier/Bergdolt, Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, speziell zur modernen Arzt-Patient-Beziehung, die zunehmend einer Dienstleister-Kunden-Beziehung gleicht.
A. Auswirkungen auf das Gepräge
123
Arbeitsteilung und fachliche Spezialisierung spiegeln diesen Prozess wider.12 Zur Rekonstruktion von Krankheitsursachen wird der menschliche Körper in immer kleinere Einheiten unterteilt.13 Dies hat zur Folge, dass die Mediziner ihre Sachkenntnis in einzelnen Fachgebieten vertiefen, deren Anzahl stetig steigt.14 Dadurch verliert der einzelne Arzt potenziell den Patienten als Ganzes aus dem Blick. Er vermag die Multifaktorialität zahlreicher Erkrankungen aufgrund der Fragmentierung in einzelne Symptome oder Symptomkomplexe kaum mehr zu erkennen.15 Für den Patienten selbst hat diese Entwicklung zur Folge, dass er für eine erfolgversprechende medizinische Behandlung regelmäßig mehrere Fachärzte zu konsultieren hat. Dabei muss er jedem Arzt aufs Neue seine persönliche Krankengeschichte anvertrauen.16 Bedingt durch die Vielzahl der beteiligten Ärzte ist die personale Dimension der individuellen Arzt-Patient-Beziehung bedroht. Der Wissenschaft wird Vorrang vor der subjektiven Wahrnehmung des Arztes, seinen Erfahrungswerten und seiner Interaktion mit dem Patienten eingeräumt.17 Zudem entspricht es dem Paradigma der naturwissenschaftlichen Medizin, den Patienten nicht als Subjekt an seiner medizinischen Behandlung zu beteiligen. Er dient lediglich als Informationsquelle über das Krankheitsbild und trägt die Verantwortung für die präzise Ausführung der ärztlichen Anordnungen.18 Durch die Integration der Systemmedizin in das Gesundheitswesen wird der Verwissenschaftlichungsprozess der Medizin weiter vorangetrieben. Insbesondere die verstärkte Intra- und Inter-/Multidisziplinarität ist Ausdruck dieser Entwicklung: neben der Kooperation unterschiedlicher Fächer der Medizin (etwa Pharmakologie, Toxikologie, Biomedizin) wird auch die Kooperation mit anderen Wissenschaften (zum Beispiel Biologie, Psychologie, Informationstechnologie) in der Systemmedizin forciert.19 Doch anstatt den menschlichen Organismus in immer kleinere Parzellen zu untergliedern, stehen nun wieder ganzheitliche, die körperlichen und körperlich-seelischen Zusammenhänge des Menschen erfassende Analysen und Behandlungen im Vordergrund. Hinzu kommt die Einbeziehung externer Umweltfaktoren, die ebenfalls einen Einfluss auf den Gesundheitszustand des Einzelnen haben. Ziel ist es, den Patienten als Ganzes inklusive seiner Umwelt in den Blick zu nehmen. Es findet also grundsätzlich eine Rückbesinnung auf den 12
Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 4 f.; Pitschas, in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 1, 121; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 11 ff. 13 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 5. 14 Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, S. 62; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 14. 15 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 5; Carstensen, in: FS Deutsch, 1999, S. 505, 507; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 14; vgl. auch Pitschas, in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 1, 122. 16 Pitschas, in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 1, 122; Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, S. 62; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 14. 17 Höchstes Ziel der modernen Medizin ist die Exaktheit einer Untersuchung sowie die Genauigkeit einer Methode, Katzenmeier, Arzthaftung, S. 15; s. auch Jaspers, Der Arzt im technischen Zeitalter, S. 121, 122. 18 Ziel ist die Behandlung der Krankheit, nicht des Kranken, s. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 6; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 16 f. 19 Hart, MedR 2016, 669, 670 f.; BMBF, Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin, 2012, S. 7.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Patienten als Subjekt und damit als Partner der Arzt-Patient-Beziehung statt. Zudem erhält der Patient einen festen Hauptansprechpartner, potenziell seinen Hausarzt, bei dem alle Gesundheitsinformationen gesammelt werden. Neue Möglichkeiten der Automatisierung und Digitalisierung gefährden allerdings ihrerseits den personalen Charakter des Arzt-Patient-Verhältnisses. Viele Patienten neigen zur Selbstdiagnose mit Hilfe sog. Gesundheitsapplikationen oder Online-Testverfahren.20 Auch der Arzt wird durch die Systemmedizin verstärkt zum Datensammler. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto genauer sind die systemmedizinischen Erkenntnisse und damit die auf ihnen beruhenden Handlungsempfehlungen. Durch die verstärkte Konzentration auf die Daten des Patienten und die wachsende Bedeutung der Informationstechnologie könnten sich die zeitliche Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung sowie die Aufmerksamkeit des Arztes verändern. Es besteht die Gefahr einer Vernachlässigung der persönlichen Kommunikation während des Arzt-Patient-Kontaktes.21 Der Fixierung auf Patientendaten unter Vernachlässigung der persönlichen, mitfühlenden Sorge um den Patienten gilt es entgegenzuwirken. Denn letztlich ist die ärztliche Entscheidung nicht durch Datenanalysen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu ersetzen.22 Vielmehr sollte der Patient als Partner, nicht als bloßer Informant, im Zentrum der medizinischen Behandlung stehen. Behandlungsentscheidungen sollten gemeinsam von Arzt und Patient getroffen werden (sog. shared-decision-making, partizipative Entscheidungsfindung), wofür allerdings eine fundierte Informationsgrundlage auf Patientenseite erforderlich ist.23 Die Arzt-Patient-Beziehung ist weiterhin als therapeutisches Arbeitsbündnis24 zu begreifen. Oberste Priorität hat die Stärkung der Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient, deren Basis die beiderseitige Kooperationsbereitschaft bildet.25 Die Arzt-Patient-Beziehung hängt maßgeblich von der Beachtung der gegenseitigen Rechte und Pflichten ab. In einem innovativen Patienten-Management-Programm ließen sich die Informations- und Kommunikationstechnologien, die partizipative
20
Hierzu zählen etwa WebMD (www.webmd.com) oder 23andMe (www.23andme.com) (Zugriff: 13.4.2020). Zur Selbstvermessung des Menschen auch Petrlic, DuD 2016, 94; Weichert, DuD 2014, 831, 833. 21 Vgl. Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 162. Eine vergleichbare Problematik ergab sich bereits im Rahmen der Evidenzbasierten Medizin, s. hierzu Hart, MedR 2000, 1, 4 f., der jedoch die Ansicht vertritt, dass die Evidenzbasierte Medizin nicht die Arzt-Patient-Kommunikation störe, sondern ihren Informationswert erhöhe. 22 Vgl. Duttge/Dochow, in: Niederlag/Lemke/Rienhoff, Personalisierte Medizin & Informationstechnologie, S. 251, 264. 23 Zur Entwicklung des Konzepts der gemeinsamen Entscheidungsfindung in Medizin und Medizin(haftungs)recht, Hart, MedR 2015, 1, 3 f., 6 f. Zum Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht, insbes. auch unter Berücksichtigung der neuen Anforderungen durch die Systemmedizin, sogleich unter B. III. 1. 24 Dickhaut/Luban-Plozza, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Arzt-Patient-Beziehung, Sp. 125 f. Eingehend zum Arzt-PatientVerhältnis als therapeutisches Arbeitsbündnis Katzenmeier, Arzthaftung, S. 57 ff. 25 Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, S. 61; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 18, 20; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 11, 17.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
125
Entscheidungsfindung sowie die personalisierte Weiterbildung des Patienten (und auch des Arztes) überdies zu multidisziplinären Ansätzen26 kombinieren.27
Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
Rechtmäßiges ärztliches Handeln setzt drei zusammenhängende, nebeneinander erforderliche Elemente voraus: Indikation des ärztlichen Eingriffs,28 fachgerechte Behandlung (Verfahren lege artis) und Einwilligung des hinreichend aufgeklärten Patienten (sog. informed consent).29 Die Verletzung der ärztlichen Pflichten zur standardgemäßen Behandlung und zur ordnungsgemäßen Aufklärung des Patienten hat sowohl straf- als auch zivilrechtliche Konsequenzen. Zivilrechtlich droht dem Arzt eine Schadensersatzhaftung. Behandlungsfehler und Aufklärungspflichtverletzung sind dabei die zwei wesentlichen Anknüpfungspunkte für die Arzthaftung.30 Die den beiden haftungsbegründenden Verhaltensweisen zugrundeliegenden Sorgfaltspflichten sind vertrags- wie deliktsrechtlicher Natur.31 Die vertraglichen Pflichten des Arztes sind seit Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes32 (PatRG) in den §§ 630a–h BGB normiert.33 In strafrechtlicher Hinsicht kann sich der handelnde Arzt einer Körperverletzung strafbar machen (§§ 223 ff., 229 StGB). Ebenso wie die zivilrechtliche Haftung ist auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes an das Vorlie26
Sowohl Patienten, die von der Systemmedizin profitieren, als auch Ärzte, welche systemmedizinische Ansätze in ihre medizinische Behandlung integrieren, sind über die Charakteristika dieser multidisziplinären Herangehensweise frühestmöglich aufzuklären, vgl. Hood/Flores, New Biotechnology 2012, 613, 620 f. 27 Näher zu diesem Vorschlag Bousquet et al., Genome Medicine 2011, 3:43. 28 Zur Frage, ob die medizinische Indikation auch heute noch als ein „Kernstück ärztlicher Legitimation“ anzusehen ist, Lipp, MedR 2015, 762. 29 Laufs, MedR 1986, 163; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 6 Rn. 1 f.; zust. Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101. Kirchhof, MedR 2007, 147, 148 zählt gar fünf Voraussetzungen für ärztliche Eingriffe, da er Aufklärung und Einwilligung als zwei getrennte Voraussetzungen betrachtet und zudem noch die Dokumentationspflicht in den Katalog aufnimmt. 30 Katzenmeier, Arzthaftung, S. 272 ff., 322 ff.; ders., in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V, Kap. X; ders., MedR 2018, 367; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 295 ff., 402 ff.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 75 ff., 185 ff.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 164 ff., 379 ff. 31 Katzenmeier, Arzthaftung, S. 79 ff.; ders., in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 1; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 75. 32 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten v. 20.2.2013, BGBl. 2013 I Nr. 9 S. 277; dazu Katzenmeier, in: E. Lorenz, Karlsruher Forum 2013, S. 5 ff.; ders., NJW 2013, 817; Rehborn, GesR 2013, 257; Spickhoff, MedR 2015, 845. 33 Die Rspr. hat die 2013 in Gesetzesform gegossenen ärztlichen Verhaltenspflichten zuvor im deliktsrechtlichen Kontext herausgebildet. Sie ist und bleibt der entscheidende Akteur für die Fortbildung der deliktischen Haftung des Arztes entsprechend den Verkehrsbedürfnissen, s. Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 2 m. w. N.
126
3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
gen eines Behandlungsfehlers oder einer Aufklärungspflichtverletzung geknüpft.34 Dennoch gelten für das Strafrecht prinzipiell eigene Regeln. So erfordert zusätzlich zu dem objektiven Sorgfaltspflichtverstoß der Fahrlässigkeitsvorwurf im Strafrecht auch die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung des Arztes. Zudem ist das strafrechtliche Beweisrecht durch den In-dubio-pro-reo-Grundsatz geprägt.35 Die Systemmedizin beeinflusst jede der drei Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns und damit die gesamte Arzthaftung.
I. Indikation Der Begriff Indikation36 leitet sich von lateinisch „indicare“ („anzeigen“) ab.37 Legaldefinitionen des Indikationsbegriffs finden sich nur vereinzelt in Spezialgesetzen, wie beispielsweise in § 3 Abs. 2 Nr. 17 Strahlenschutzverordnung38 (StrlSchV) oder § 2 Nr. 10 Röntgenverordnung39 (RöV). In einem allgemeinen Sinne ist die Indikation der begründete Hinweis darauf, dass überhaupt medizinischer Handlungsbedarf besteht. Sie ist der Anlass für eine ärztliche Maßnahme, nicht jedoch die Maßnahme selbst.40 Nach einem engeren Begriffsverständnis dient die Indikation als Kriterium zur hinreichend gerechtfertigten Anwendung eines bestimmten diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens, sog. Heilanzeige.41 Es ist Aufgabe des Arztes mithilfe 34
Jung, ZStW 97 (1985), 47, 55 ff.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 93 ff. Es besteht insofern eine gewisse „faktische Akzessorietät“ zwischen Straf- und Zivilrecht, Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Einl. Rn. 35 u. Kap. 1 Teil 1 Rn. 53 ff.; Schumacher, Alternativmedizin, S. 55. 35 Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 113 Rn. 10 ff.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 93 ff.; zu den unterschiedlichen Schutzrichtungen von Straf- und Zivilrecht im Hinblick auf die rechtlichen Bindungen des Arztes vgl. auch Taupitz, NJW 1986, 2851, 2852 f. 36 Teilweise wird zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation differenziert. Während mit dem Begriff der medizinischen Indikation betont wird, dass sich die Prüfaspekte auf medizinische Sachverhalte und Fakten beziehen, soll der Begriff der ärztlichen Indikation verdeutlichen, dass es sich um eine ärztlich zu verantwortende Einschätzung des Einzelfalls handelt, s. Neitzke, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 83, 84 ff. Im medizinischen und juristischen Schrifttum wird jedoch meist der Terminus der medizinischen Indikation im Sinne einer Gesamtindikation verwendet so auch in dieser Arbeit. 37 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Stichwort: Indikation. Zur Geschichte des Begriffs der medizinischen Indikation Gahl, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 24 ff. 38 Verordnung über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen v. 20.7.2001, BGBl. 2001 I Nr. 38 S. 1714 und BGBl. 2002 I Nr. 27 S. 1459. 39 Verordnung über den Schutz vor Schäden durch Röntgenstrahlen v. 8.1.1987 in der Fassung und Bekanntmachung v. 30.4.2003, BGBl. 2003 I Nr. 17 S. 604. 40 Anschütz, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Indikation, Sp. 537; Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 88. Zur zentralen Bedeutung der Indikation für verschiedene rechtliche Bereiche, die das ärztliche Handeln regeln, Bauer, Indikationserfordernis und Therapiefreiheit, S. 5 ff. 41 Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Indikation; s. auch die Begriffsanalyse bei Neitzke, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 83, 84 f. Es wird grundsätzlich
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
127
seines medizinischen Sachverstandes das spezifische Krankheitsbild seines Patienten festzustellen, um so die angezeigte und damit medizinisch indizierte Therapie auszuwählen.42 Dabei hat er zwischen dem potenziellen Nutzen der in Betracht kommenden Maßnahme und den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken und Belastungen abzuwägen.43 Neben objektiv-medizinwissenschaftlichen Kriterien ist auch die subjektive Befindlichkeit des konkreten Patienten in die ärztliche Beurteilung mit einzubeziehen.44 Die Indikationsstellung bezieht sich mithin einerseits auf ein konkretes Behandlungsziel,45 andererseits aber auch auf einen bestimmten Patienten und seine aktuelle Situation.46 Die medizinische Indikation ist damit relational, konkret und individuell.47 Eine Gleichsetzung mit dem Patientenwohl,48 das sich nicht vom
zwischen absoluter, relativer und vitaler Indikation differenziert, hierzu wie auch zur Kontraindikation Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 88 f. 42 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 42; Lipp, MedR 2015, 762, 763. Der Begriff der Indikation wird hier in einem kausalen Verständnis verwendet, s. Bauer, Indikationserfordernis und Therapiefreiheit, S. 5. Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 652 begreift die Indikation als Bindeglied zwischen Diagnose und Therapie. Die Wahl einer medizinisch nicht indizierten Maßnahme stelle einen Indikationsfehler dar. 43 BGHZ 154, 205, 224 f. = NJW 2003, 1588, 1593; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 53 Rn. 1; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. VI Rn. 95. 44 Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101, 105; Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 42 f., 123 f.; Maio, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 74, 76 f. Durch die subjektive Prägung büße die Indikation jedoch an Schärfe ein, s. Miranowicz, MedR 2018, 131, 133. 45 Die Heilung der diagnostizierten Krankheit wird in den meisten Fällen das zwischen Arzt und Patient vereinbarte Behandlungsziel sein. Daneben sind aber auch Fälle denkbar, in denen Heilung nicht das Ziel ärztlicher Tätigkeit ist, etwa bei Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Das Behandlungsziel ist dann individuell festzulegen, die Indikationsstellung entsprechend anzupassen, s. Lipp, MedR 2015, 762, 763 f.; ders., in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 36, 38. 46 Lipp, MedR 2015, 762, 763; ders., in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 36, 39; Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101, 105; Neitzke, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 83, 86 f. Die Anforderungen der Rspr. an die Indikationsstellung sind grundsätzlich streng, insbesondere bei diagnostischen Eingriffen, vgl. bspw. OLG Düsseldorf VersR 1992, 1132 (Keuchhustenschutzimpfung bei Neugeborenen); OLG Stuttgart VersR 1994, 1068 (Lebensbedrohendes Vorgehen); weitere Nachweise bei Kern, in: Laufs/ Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 53 Rn. 6 Fn. 15 f. 47 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. VI Rn. 95; ders., MedR 2015, 762, 763. Die Beurteilung, ob ein Eingriff tatsächlich medizinisch indiziert ist, erfolgt aus der ex-ante-Perspektive, Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 232 f. 48 Der Begriff des Patientenwohls als leitender Maßstab ärztlichen Handelns ist nicht eindeutig definiert. Nach der Begriffsbestimmung des Deutschen Ethikrates ist der Terminus mehrdimensional. Das Patientenwohl umfasst neben objektiven (medizinische Parameter, Zugänglichkeit der Leistung), auch subjektive (Berücksichtigung persönlicher Präferenzen des Patienten, Behandlungszufriedenheit) und intersubjektive Elemente (Beziehung zwischen Vertretern der Gesundheitsberufe und dem Patienten, Kommunikation), s. Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Patientenwohl, 2016, S. 37 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Patientenwillen trennen lässt, verbietet sich jedoch.49 Vielmehr stellt die Indikation ein Bekenntnis dar zu dem Ziel, dem Wohl des Patienten genügen zu wollen.50 Fehlt es an der Indikation für eine bestimmte diagnostische oder therapeutische Maßnahme, ist der behandelnde Arzt berechtigt, ihre Durchführung zu verweigern.51 1. Krankheit als traditioneller Bezugspunkt der medizinischen Indikation Wesentlicher Bezugspunkt für die Indikation in der klinischen Medizin ist der Krankheitsbegriff. Dieser erfüllt eine Begrenzungsfunktion in Bezug auf die Legitimation ärztlichen Handelns:52 Der ärztliche Eingriff ist im strengen Sinne indiziert, wenn der berufliche Heilauftrag die vorgesehene Maßnahme umfasst und gebietet. Inhalt und Umfang des Heilauftrages bemessen sich nach fachmedizinischen wie berufsethischen Maßgaben.53 Das ärztliche Vorgehen zielt nach diesem traditionellen Verständnis auf die Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen;54 es ist kurativ ausgerichtet. Kurative Zielvorgaben bilden nach wie vor den Kernbereich ärztlicher Tätigkeit.55 Eine allgemeingültige Definition des Begriffs Krankheit existiert nicht. Der Krankheitsbegriff ist tendenziell unscharf, schwer abzugrenzen und zählt zu ebenjenen Grundbegriffen, die nach I. Kant zwar erörterbar oder beschreibbar, aber kaum definierbar sind.56 49
Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 44, 123; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 118 f.; Giesen, JZ 1987, 282, 288 f.; s. auch Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101, 105, die ausdrücklich darauf hinweisen, dass eine Differenzierung geboten ist zwischen der bereits auf der Indikationsebene relevanten patientenspezifischen Konkretisierung des Grundes für den Einsatz oder Nichteinsatz einer Behandlung und der Einwilligung des Patienten in die Durchführung einer indizierten Behandlung. 50 Es ist insbesondere diese primäre Zielsetzung, die das Arzt-Patient-Verhältnis grundlegend von der marktförmigen Dienstleisterbeziehung unterscheidet, bei welcher der Warenaustausch durch eine wechselseitige Instrumentalisierung im Vordergrund steht, s. Maio, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 74, 75 f. 51 BGHZ 154, 205, 224 = NJW 2003, 1588, 1592 f.; Taupitz, in: Ständige Deputation des DJT, Verhandlungen des 63. DJT, Gutachten A, S. A 23 f. m. w. N.; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. VI Rn. 95. 52 Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 75; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 201; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 230. Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln, S. 272 begreift die Indikation als „praktische[s] Regulativ, das sich am Krankheitsbegriff orientiert“. 53 Laufs, MedR 1986, 163, 164; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 6 Rn. 1; ders., Der ärztliche Heilauftrag aus juristischer Sicht, S. 24 ff.; vgl. auch Kirchhof, MedR 2007, 147, 148 sowie OLG Düsseldorf NJW 1985, 684. 54 So die Legaldefinition von „Ausübung der Heilkunde“, § 1 Abs. 2 HeilprG. 55 Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 70 ff.; Schumacher, Alternativmedizin, S. 88. 56 Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln, S. 15 mit Verweis auf das Zitat von I. Kant: „Nicht alle Begriffe können also, sie dürfen aber auch nicht alle definiert werden. Es gibt Annäherungen zur Definition gewisser Begriffe; dieses sind teils Erörterungen
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
129
In den Medizinwissenschaften wird neben metaphysischen und naturphilosophischen auch auf naturalistische, psychosomatische, anthropologische, soziokulturelle und relationalistische Erklärungsmodelle zur Herleitung des Krankheitsbegriffs zurückgegriffen.57 Nach einer verbreiteten Definition im medizinischen Bereich ist Krankheit als Störung der Lebensvorgänge in Organen oder dem gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen oder objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Veränderungen anzusehen.58 Auch in der Rechtswissenschaft gibt es keine einheitliche Definition des Krankheitsbegriffs. Vielmehr herrscht innerhalb der einzelnen Rechtsgebiete ein jeweils eigenes Verständnis von Krankheit vor.59 Legaldefinitionen fehlen, doch hat die Rechtsprechung Definitionen entwickelt,60 wodurch ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet ist. Hierbei haben sich die Gerichte weitgehend an den medizinischen Krankheitsbegriffen orientiert.61 Gemeinsames Element aller juristischen Begriffsbestimmungen ist das Vorliegen eines regelwidrigen, von der Norm abweichenden, Körper- oder Geisteszustandes. Als Referenz dient hierbei der körperliche und geistige Normalzustand. Da die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit fließend sind, gestaltet es sich allerdings mitunter schwierig festzulegen, was genau den Normalzustand auszeichnet.62 So verwendet etwa die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen umfassenden Gesundheitsbegriff, wonach Gesundheit einen Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens verkörpert und nicht lediglich das Freisein von Krankheit und Schwäche.63 Enger verstanden ist Gesundheit das Fehlen körperlicher, geistiger und seelischer
(expositiones), teils Beschreibungen (descriptiones).“, so ders., Logik, A 220; s. auch v. Engelhardt/Seewald, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Krankheit, Sp. 645 f.; zum Krankheitsbegriff in der philosophischen Diskussion Schramme, in: Beck, Krankheit und Recht, S. 3. 57 Rothschuh, in: Rothschuh, Was ist Krankheit?, S. 397, 400 ff.; illustrative Beispiele für die Relativität von Krankheit bei Eberbach, MedR 2011, 757, 762. 58 Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Krankheit. 59 v. Engelhardt/Seewald, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Krankheit, Sp. 651; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 1 Rn. 26 ff.; krit. ggü. der bestehenden Uneinheitlichkeit Beck, MedR 2006, 95, 96 ff. 60 Zum arzneimittelrechtlichen Krankheitsbegriff BGHSt 11, 304 = NJW 1958, 916; zum versicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff BGHZ 99, 228, 230 = NJW 1987, 703; zum sozialrechtlichen Krankheitsbegriff BSGE 85, 36, 38 = NJW 2000, 2764, 2765. 61 v. Engelhardt/Seewald, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Krankheit, Sp. 651. Näher zu den Krankheitsbegriffen der einzelnen Rechtsgebiete sowie ihrer jeweiligen Bedeutung Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 203 f.; Beck, MedR 2006, 95, 96 ff. 62 v. Engelhardt/Seewald, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Krankheit, Sp. 651. Zur engen Verknüpfung des Krankheits- und Gesundheitsbegriffs Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 208 ff. 63 Präambel der WHO-Satzung, abrufbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classifiedcompilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf (Zugriff: 13.4.2020); s. auch Kern/ Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 1 Rn. 24 m. w. N. Eine krit. Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsbegriff der WHO aus philosophischer Perspektive findet sich bei Schramme, in: Beck, Krankheit und Recht, S. 3, 7 ff.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Einschränkungen oder pathologischer Veränderungen.64 Nicht jede Abweichung vom statistischen Normalzustand ist allerdings sogleich als Krankheit zu qualifizieren. Erst die individuelle oder kulturelle Bewertung der Normabweichung als negativ führt zu einem Krankheitsbegriff.65 Der Krankheitsbegriff beinhaltet folglich sowohl statistische Faktoren als auch wertende Elemente. Das Verständnis von Krankheit ist dabei jedoch nicht statisch, sondern unterliegt steter Veränderung.66 2. Öffnung des Indikationskonzepts Das Indikationskonzept erfährt mit den wachsenden Möglichkeiten der modernen Medizin und den gewandelten Wertvorstellungen zusehends eine Ausweitung. Neben Maßnahmen der präventiven Medizin sind nunmehr auch solche der Transplantations- und Reproduktionsmedizin nicht mehr grundsätzlich als indikationslos zu qualifizieren.67 Die Öffnung des ursprünglich streng kurativen Indikationsbegriffs vollzieht sich sowohl in sachlicher als auch in zeitlicher Hinsicht.68 a) Sachliche Ausdehnung In sachlicher Hinsicht droht eine Ausweitung durch die wunscherfüllende Medizin69 oder Wunschmedizin.70 Traditionell definiert sich ärztliches Handeln wie dargelegt über das therapeutische Ziel der Heilung oder Linderung einer gesundheitlichen Störung, vgl. § 1 Abs. 2 MBO-Ä.71 Der ärztliche Eingriff ist durch die diagnostizierte Gesundheitsbeeinträchtigung indiziert.72 Maßnahmen der wunscherfüllenden Medizin zielen hingegen auf die Verbesserung des Menschen, die Optimierung seiner Anlagen und Steigerung seiner Fähigkeiten. Vielfach wird deshalb auch von Enhancement oder „Selbstverbesserung des Menschen“ gesprochen.73 Anlass der Behandlung ist nicht die Bedürftigkeit des leidenden Kranken, 64
Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Gesundheit; s. auch v. Engelhardt/ Seewald, in: Eser/v. Lutterotti/Sporken, Lexikon – Medizin – Ethik – Recht, Stichwort Krankheit, Sp. 651 f. 65 Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln, S. 133; Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 209. 66 Miranowicz, MedR 2018, 131, 132 f. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Entwicklung des sozialrechtlichen Krankheitsbegriffs: bei hinreichend gesichertem medizinischen Behandlungsbedarf ist auch bei bestehendem Erkrankungsrisiko oder Krankheitsverdacht von einer Krankheit im Rechtssinne auszugehen, Hauck, NJW 2016, 2695. 67 Näher dazu Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 70 ff. m. w. N.; s. auch Schumacher, Alternativmedizin, S. 87 f. 68 Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 205. 69 Kettner, Ethik Med 2006, 81. 70 Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 205; Miranowicz, MedR 2018, 131, 132 f. 71 S. hierzu auch Eberbach, MedR 2008, 325, 326; Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 76. 72 Eberbach, MedR 2008, 325, 326. 73 Auch wenn die Begriffe Enhancement und wunscherfüllende Medizin nicht gänzlich deckungsgleich sind, weisen sie doch in die gleiche Richtung der Verbesserung des Menschen, s. hierzu Eberbach, MedR 2008, 325; Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin,
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
131
sondern das subjektive Begehren nach Verschönerung, Verbesserung der Leistungsfähigkeit, fortdauernder Jugend oder Ähnlichem. Es liegt gerade kein anormaler Körper- oder Geisteszustand vor, der behandlungsbedürftig74 wäre.75 Ob Maßnahmen der wunscherfüllenden Medizin indiziert sind, obwohl sie nicht der Heilung oder Leidensminderung dienen, ist zweifelhaft. So warnt insbesondere Kern davor, auch reine Wunschbehandlungen als indiziert anzusehen. Der klare Indikationsbegriff dürfe aus arzthaftungsrechtlichen Gründen zum Schutze des Patienten nicht aufgeweicht werden.76 b) Zeitliche Ausdehnung In zeitlicher Hinsicht ist eine Ausweitung des Indikationsbegriffs durch die Präventivmedizin77 zu verzeichnen.78 Hierbei geht es um die Fragestellung, „zu welchem Zeitpunkt ärztliches Handeln frühestens indiziert sein kann, oder anders formuliert, welche körperlichen, geistigen oder seelischen Zustände im Sinne eines präventivmedizinischen Ansatzes als behandlungsbedürftig anzusehen sind und ärztliches Handeln indizieren können“.79 Anhand des Kriteriums der Behandlungsbedürftigkeit ist zu ermitteln, ob der Gesundheitszustand des Patienten als Krankheit zu qualifizieren ist.80 Auch für noch nicht manifeste körperliche Anlagen, beispielsweise zunächst symptomlose
S. 39 ff.; s. auch Kettner, Ethik Med 2006, 81, 84. Als Maßnahmen der Wunschmedizin gelten insbesondere die assistierte Reproduktion, die kosmetische Chirurgie und die Wunschsectio, hierzu Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 153 ff. 74 Behandlungsbedürftigkeit besteht, wenn ein regelwidriger Körperzustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, durch eine solche aber mindestens gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann, oder wenn ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern; st. Rspr., s. BSGE 13, 134, 136; BSGE 35, 10, 12; s. auch Eberbach, MedR 2008, 325, 327. 75 Eberbach, MedR 2008, 325, 326 f.; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 1 Rn. 2. Zu weiteren signifikanten Unterschieden zwischen der klassisch heilenden Medizin und der modernen wunscherfüllenden Medizin Kettner, Ethik Med 2006, 81, 86 f. 76 Kern, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4(2010), § 49 Rn. 10; so auch bereits Uhlenbruck/Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3(2002), § 51 Rn. 4 ff. Gegen eine Ausdehnung des Indikationsbegriffs auf Maßnahmen der Wunschmedizin zudem Eberbach, MedR 2008, 325, 326; Kettner, Ethik Med 2006, 81, 87. Für die Notwendigkeit der Indikationsstellung auch in der Wunschmedizin hingegen Bauer, Indikationserfordernis und Therapiefreiheit, S. 9 f.; Stock, Die Indikation in der Wunschmedizin, S. 150 ff.; J. Prütting, medstra 2016, 78. Differenzierend Maio, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 74, 78 f. 77 Eingehend zu den verschiedenen Präventionsarten (primär, sekundär und tertiär) Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 199 f. 78 Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 205; Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 77. 79 Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 77. 80 Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 1 Rn. 28; Eberbach, MedR 2008, 325, 327; ders., MedR 2011, 757, 763 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Infektionen wie HIV81 oder Chorea Huntington,82 besteht ein Behandlungsbedürfnis. Um den Ausbruch der Infektion zu verhindern oder zumindest die Folgen abzumildern, ist es bereits bei Feststellung der Disposition geboten, medizinisch zu intervenieren.83 Dabei stellt die Behandlungsbedürftigkeit derartiger Anlagen zugleich auch „die unterste Grenze“ für einen indizierten ärztlichen Eingriff dar.84 Diese Vorverlagerung des ärztlichen Eingriffs bedingt eine erhebliche Ausweitung des Krankheitsbegriffs, der somit zunehmend auch prädiktiv festgestellte Erkrankungen erfasst.85 Damit einher geht die Ausweitung des Indikationsbegriffs.86 c) Auswirkungen der Systemmedizin Die Systemmedizin könnte zu einer weiteren Ausdehnung des Krankheitsbegriffs auf bloße Krankheitsdispositionen führen. Als präventionssensible Medizin ermittelt die Systemmedizin mithilfe von Big-Data-Analysen in steigendem Maße Krankheitsrisiken mit dem Ziel, prophylaktische Maßnahmen als Handlungskorridore aufzuzeigen. Dies ermöglicht prädiktive Vorhersagen von Krankheiten sowie präventive Behandlungen zur Verhinderung oder zumindest Abmilderung des Krankheitsausbruchs.87 Um dabei einer Ausuferung des Krankheitsbegriffs und damit des Indikationskonzepts Einhalt zu gebieten, ist eine Grenze zu ziehen zwischen behandlungsbedürftigen Risiken (mit Krankheitswert) und solchen Dispositionen, die noch als Normalzustand anzusehen sind.88
81
So entschied der BGH, dass die Übertragung des HI-Virus durch einen Infizierten auf einen Gesunden den Tatbestand des § 223 StGB erfülle. Auch der HIV-Infizierte, der noch keine Krankheitszeichen aufweise, sei als krank zu qualifizieren, s. BGH NJW 1989, 781, 783. 82 Chorea Huntington ist eine autosomal-dominant vererbbare Nervenkrankheit, die durch unwillkürliche und unregelmäßige Bewegungen von Armen und Beinen, Gesicht, Hals und Rumpf gekennzeichnet ist. Die Erkrankung manifestiert sich meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr und verläuft fortschreitend. Am Ende des bis zu 20-jährigen Siechtums steht der Tod, Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Chorea Huntington; Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 164 Fn. 8. 83 Das Bedürfnis zur Behandlung besteht unabhängig davon, ob es bereits Interventionsmöglichkeiten gibt, s. Eberbach, MedR 2008, 325, 327. Auch prophylaktische Maßnahmen wie bspw. Impfungen können indiziert sein, vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 223 Rn. 34; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 53 Rn. 7. 84 Eberbach, MedR 2008, 325, 327. 85 Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 77; Eberbach, MedR 2011, 757, 763. Zum Krankheitsbegriff in der prädiktiven Medizin Irrgang, in: Raem/Braun/ Fenger/Michaelis/Nikol/Winter, Gen-Medizin, S. 651, 652. 86 Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 79; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 201. 87 Meier et al., Gesundheitswesen 2017, 594, 595 m. w. N. 88 Zu den Gefahren einer zeitlichen Überdehnung des Krankheitsbegriffs Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 206 ff.; s. auch Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 78 ff. Meier et al. haben ein Healthy-sick-Modell zur adäquaten Integration genetischer Risikoträger in die Regelversorgung des Gesundheitswesens entwickelt, näher dies., Gesundheitswesen 2017, 594.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
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Daneben dient der Krankheitsbegriff wie dargelegt als Abgrenzungskriterium zwischen traditionellem ärztlichen Handeln und Eingriffen zur Verbesserung menschlicher Eigenschaften, die keinen Krankheitswert besitzen.89 Bedingt durch den Strukturwandel in der modernen Medizin gestaltet sich die Grenzziehung zwischen krankhaften und damit behandlungsbedürftigen Störungen sowie schlichten Optimierungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers zunehmend schwierig.90 Die Charakteristika des körperlichen und geistigen Normalzustands, welcher als Referenz für die Definition einer Krankheit dient, verändern sich. Die Körpergröße, die früher als normal angesehen wurde, kann zukünftig als optimierungsbedürftig gelten.91 Die Systemmedizin droht diese Entwicklung nochmals zu beschleunigen. Gleichzeitig besteht neben Ausweitungstendenzen aber auch die Gefahr einer Eingrenzung und Engführung von Indikationen durch die Fixierung auf systemmedizinisch messbare Krankheitsursachen.92 Die systemmedizinischen Erkenntnisse sollen eine besser auf individuelle biologisch-organische Dispositionen und auf einzelne Krankheitsverläufe zugeschnittene Behandlung ermöglichen. Voraussetzung hierfür sind immer ausdifferenziertere Indikationsstellungen, in die auch soziale Faktoren und Umwelteinflüsse stärker einzubeziehen sind. Insgesamt lässt sich mithin auch im Kontext der Systemmedizin ein weiterer Eindeutigkeitsverlust des Indikationskonzeptes konstatieren. Ob insofern am Erfordernis der medizinischen Indikation in der beschriebenen Form festgehalten werden sollte, ist zumindest in Frage zu stellen.93 In § 630a Abs. 1 BGB findet sich lediglich der Begriff der medizinischen Behandlung, nicht jedoch derjenige der medizinischen Indikation wieder. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Gesetzgeber die Indikationsstellung für entbehrlich hielte. Im Gegenteil wird so der Anwendungsbereich der §§ 630a–h BGB auch für indikationsloses medizinisches Handeln eröffnet.94 3. Bewertung möglicher Alternativkonzepte Aufgrund des drohenden Eindeutigkeitsverlusts des Indikationskonzepts sind mögliche Alternativmodelle in den Blick zu nehmen. Die Analyse zeigt jedoch, dass bislang kein tragfähiges Alternativkonzept zur klassischen Indikationsstellung existiert. Die Anwendung systemmedizinischer Testverfahren könnte vom Bestehen eines erhöhten Krankheitsrisikos des Betroffenen abhängig gemacht werden. Eine 89
Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 76. Vgl. Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln, S. 270 f. 91 Zu den Schwierigkeiten der Einordnung eines Gesundheitszustandes als „normal“ Beck, MedR 2006, 95, 96 f. 92 Vgl. Damm, MedR 2011, 7, 12, der auf eine vergleichbare Gefahr für die Indikationsstellung in der individualisierten Medizin verweist. 93 Zum Stand der Diskussion Dörries/Lipp, Medizinische Indikation. Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101, 135 warnen vor einem Abgleiten der Medizin in eine „indikationslose Dienstleistungsveranstaltung“. 94 Katzenmeier, MedR 2018, 367, 368; ders., in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 630a Rn. 28. 90
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Indikation wäre nur dann gegeben, wenn konkrete Anhaltspunkte, wie etwa familiäre Vorbelastungen, bekannt wären.95 Ein solches Modell widerspricht jedoch der Intention der Systemmedizin, den menschlichen Organismus ganzheitlich auf Wechselwirkungen mit der Umwelt zu untersuchen, um Krankheitsursachen zu erforschen.96 Eine weitere Alternative zur klassischen Risikoabwägung wäre es, die Behandelbarkeit einer Erkrankung als Indikationsvoraussetzung für systemmedizinische Diagnoseverfahren zu betrachten. Da jedoch häufig keine gesicherten Erkenntnisse zur Heilbarkeit einer bestimmten Krankheit vorliegen, gestaltet sich die Anwendbarkeit dieses Kriteriums diffizil.97 Zudem ist auch dieses Modell mit der Zielsetzung der Systemmedizin nur schwer in Einklang zu bringen. Denn mithilfe systemmedizinischer Erkenntnisse sollen schließlich neue Therapieverfahren, gerade auch für Krankheiten, die bislang als unheilbar gelten, entwickelt werden. 4. Fazit Die medizinische Indikation stellt sich alles in allem als ein vielschichtiges und komplexes Element der Legitimation ärztlichen Handelns dar. Sie ist dem Wandel medizinischer und medizintechnologischer Innovationen unterworfen, was sich insbesondere an der Entwicklung des Krankheitsbegriffs zeigt.98 Mit dem streng kurativen Indikationsbegriff ist der systemmedizinische Ansatz nicht vereinbar. Die Systemmedizin könnte zu einer weitreichenden Öffnung des Indikationskonzepts, gleichzeitig aber auch zu einer Engführung der Indikationsstellung führen. Bei der Indikationsstellung ist der Arzt an den allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft gebunden.99 Die konkrete Indikation bestimmt die geeignete Behandlungsmethode, sodass sich die beschriebenen Entwicklungen auch auf den medizinischen Standard auswirken.100
II. Fachgerechte Behandlung Zweite Legitimationsvoraussetzung ist die Auswahl und Durchführung der ärztlichen Behandlung entsprechend dem jeweiligen medizinischen Standard. Gemäß § 630a Abs. 2 BGB hat die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit
95
So sollen etwa nach den BÄK-Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen (abgedruckt in DÄBl. 1998, A-1396) nur Personen mit erhöhtem Risiko für eine erbliche Krebsdisposition gezielte Vorsorgeuntersuchungen angeboten werden; vgl. auch Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 238 f., der ein erhöhtes Krankheitsrisiko als Anwendungsvoraussetzung für prädiktive Gentests diskutiert. 96 Ausführlich zu den Zielen der Systemmedizin bereits oben 1. Kap., B. II. 97 Vgl. Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 239. 98 Vgl. Dörries, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 13, 20. 99 Moeller-Herrmann, Die Regelung prädiktiver Gentests, S. 245; Lipp, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 36, 39; ders., in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. VI Rn. 95; Maio, in: Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, S. 74, 75. 100 Vgl. Damm, MedR 2011, 7, 12.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
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nicht etwas anderes vereinbart ist.101 Der Gesetzgeber nimmt mit dieser Formulierung zwar ausdrücklich auf Standards (im Plural) Bezug, was sich konkret dahinter verbirgt, wie der Standard festgelegt oder ermittelt wird, bleibt allerdings weitgehend offen.102 1. Begriff des Standards Der Begriff des Standards wird in Medizin, Ethik, Ökonomie, Haftungs- und Sozialrecht unterschiedlich verwendet.103 Ärztliches Handeln unterliegt in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen jeweils fachspezifischen Anforderungen.104 Weitgehender Konsens hat sich bezüglich der vielzitierten Definition von Carstensen gebildet, die auch in der Begründung zum PatRG inhaltlich aufgegriffen wird.105 Demnach „repräsentiert [Standard in der Medizin] den jeweiligen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlicher Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat“.106 Auch die ständige Rechtsprechung in Zivilsachen orientiert sich an diesem Begriffsverständnis.107 Der Definition lassen sich drei wesentliche, den medizinischen Standardbegriff charakterisierende, Elemente entnehmen: wissenschaftliche Erkenntnis, ärztliche Erfahrung und professionelle Akzeptanz.108 Die Gewichtung 101
Zu der Norm Katzenmeier, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 630a; Voigt, in: NK-BGB, § 630a. 102 Krit. bzgl. der Formulierung in § 630a Abs. 2 BGB etwa Wagner, VersR 2012, 789, 791; Katzenmeier, MedR 2012, 576, 579; ders., NJW 2013, 817, 818; Rehborn, GesR 2013, 257, 259; Spickhoff, VersR 2013, 267, 271 f. 103 Divergenzen ergeben sich sowohl hinsichtlich des Inhalts und der Funktion des Standardbegriffs als auch hinsichtlich der verschiedenen Akteure, welche jeweils die Definitions- und Inhaltshoheit in den einzelnen Disziplinen innehaben, s. Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 452. 104 Zu Verwerfungen zwischen Medizin, Ökonomie, Recht und Ethik Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447. 105 BT-Drs. 17/10488, S. 19. 106 Carstensen, DÄBl. 1989, A-2431, A-2432; im Anschluss daran aus der rechtswissenschaftlichen Literatur insbesondere Hart, MedR 1998, 8, 9; s. auch Kern, in: Laufs/Kern/ Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 3 Rn. 26; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 173 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 7; ders., in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, BeckOK BGB, § 630a Rn. 148; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 78; aus medizinischer Perspektive zum ärztlichen Standards überdies Buchborn, MedR 1993, 328. 107 BGHZ 113, 297 = NJW 1991, 1535; BGH NJW 2015, 1601 = JZ 2015, 573, 574 m. Anm. Spickhoff; BGH NJW 2016, 713, 714 = MedR 2016, 794, 795 m. Anm. Prütting; s. auch für das Sozialrecht BSGE 81, 182, 187 f. = NJW 1999, 1811, 1812. Der medizinische Standard ist die maßgebliche Richtgröße zur Ermittlung des haftungsrechtlichen Standards. Den Gerichten obliegt dabei die Durchführung einer Art Grenzkontrolle, um bspw. zu überprüfen, ob die gebräuchlichen Verfahren vermeidbare Risiken enthalten, Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, S. 29, 38; ders., in: Nagel/ Fuchs, Leitlinien und Standards, S. 167, 168 f.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 282; Walter, GesR 2003, 165, 166. 108 Hart, MedR 1998, 8, 9 f.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 22, 25 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 279 m. w. N.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
der einzelnen Kriterien bleibt freilich unklar.109 In der modernen Medizin zeichnet sich jedoch ein Bedeutungsgewinn objektivierter wissenschaftlicher Erkenntnisse ab, wodurch das Element der ärztlichen Erfahrung zunehmend Gefahr läuft, in den Hintergrund gedrängt zu werden.110 a) Vorrangstellung wissenschaftlicher Evidenz Die medizinische Standardbildung richtet sich heute primär nach den methodischen Grundsätzen der sog. Evidenzbasierten Medizin (EbM).111 Sackett et al. definieren EbM als „den bewußten, expliziten und angemessenen Einsatz der gegenwärtig besten Evidenz bei Entscheidungen über die medizinische Versorgung einzelner Patienten. EbM zu praktizieren bedeutet, die individuelle klinische Erfahrung mit den besten zur Verfügung stehenden externen Nachweisen aus der systematischen Forschung zu integrieren“.112 In ihrer „klassischen Form“ dient die EbM der besseren Absicherung medizinischer Entscheidungen des Arztes, sodass dieser seine Patienten nach der besten zur Verfügung stehenden Evidenz behandeln kann.113 Die Behandlungsentscheidung des Arztes beruht dabei auf drei Säulen: der individuellen klinischen Erfahrung des Arztes, der externen klinischen Evidenz (Literatur, Ergebnisse klinischer Studien etc.) und den individuellen Patientenpräferenzen.114
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So scheint etwa das Element der professionellen Akzeptanz den Status der „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ und „ärztlichen Erfahrung“ zu beeinflussen, vgl. Hart, MedR 2000, 1, 2; ders., VSSR 2002, 265, 274. 110 Steffen, in: FS Deutsch, 2009, S. 615, 617 ff.; s. auch Hart, MedR 2015, 1, 4 ff.; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 138 f. 111 Hart, in: Kunz et al., Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin, S. 394 f.; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447. Die EbM stellt insofern keine „Richtigkeitsvorgaben“ für Behandlungsziele, sondern „Verfahrensvorgaben“ für ihre Evaluation auf, s. Hart, MedR 2000, 1, 2; ders., MedR 2015, 1, 2. Zur wachsenden Bedeutung der evidenzbasierten Medizin im Arzthaftungsrecht Steffen, in: FS Deutsch, 2009, S. 615, 617 ff., der zugleich aber auch vor einer Überschätzung der Aussagekraft wissenschaftlicher Studien und einer Vernachlässigung der ärztlichen Erfahrung warnt. 112 So die deutsche Übersetzung in Sackett/Richardson/Rosenberg/Haynes, Evidenzbasierte Medizin, S. 2; zur englischen Originalversion s. Sackett et al., BMJ 1996, 71; s. auch Antes, Der Internist 1998, 899; Hart, MedR 2000, 1; ders., MedR 2015, 1, 2. 113 Sackett/Richardson/Rosenberg/Haynes, Evidenzbasierte Medizin, S. 2; Raspe, in: Kunz et al., Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin, S. 15. Zur „klassischen Form“ der EbM Zimmermann, Der Gemeinsame Bundesausschuss, S. 265 f. Daneben findet die EbM Anwendung im Versorgungskontext zur Steuerung von Versorgungsentscheidungen, sog. „Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung“, s. hierzu Zimmermann, Der Gemeinsame Bundesausschuss, S. 266 f.; Busse/Gibis, in: Kunz et al., Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin, S. 61 ff. 114 Busse/Gibis, in: Kunz et al., Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin, S. 61; Raspe, ebd., S. 15 f.; Sackett/Richardson/Rosenberg/Haynes, Evidenzbasierte Medizin, S. 2 f.; krit. Eichler et al., DÄBl. 2015, A-2190, A-2192.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
137
Dem Konzept der EbM wohnt eine Präferenz für wissenschaftliche Evidenz, geordnet nach einer Rangskala,115 inne. Die ärztliche Erfahrung wird durch die Vorrangstellung der wissenschaftlichen Evidenz zurückgedrängt.116 Die EbM bewirkt mithin jedenfalls eine gewisse Einengung des Standardbegriffs.117 b) Dynamische Ausgestaltung des Standards Der Standardbildung wohnt die Gefahr inne, die Medizin auf ihren gegenwärtigen Erkenntnisstand festzuschreiben und damit den medizinischen Fortschritt zu behindern.118 Um die Anpassungsfähigkeit des Standards an neue Erkenntnisse und Erfahrungen zu gewährleisten, ist der Standardbegriff dynamisch ausgestaltet. Gleichzeitig sind aber auch immer die augenblicklichen Mindeststandards zu wahren.119 Das sich hieraus ergebende Spannungsverhältnis lässt sich anhand des Basisstandards und des dynamischen Standards veranschaulichen.120 Der Basisstandard umfasst gesicherte Erkenntnisse und Regeln, die als abgeschlossen gelten können und daher stets zu beachten sind.121 Darüber hinaus sind ihm jene Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zuzuordnen, die allgemein anerkannt sind, deren Anwendung also in vergleichbaren Fällen jedenfalls von der überwiegenden Anzahl der Mediziner gebilligt wird.122 Der Basisstandard stellt
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Zu den Rangvorgaben in der EbM Antes, Der Internist 1998, 899; Engelmann, MedR 2006, 245, 252. Randomisierte kontrollierte Studien bilden die Grundlage für die höchste Evidenzstufe in der EbM, Schumacher, Alternativmedizin, S. 170 ff.; BÄK, Placebo in der Medizin, S. 69. 116 Das Element der ärztlichen Erfahrung wird tendenziell in den Anwendungsprozess („Indiziertheit“) verschoben, vgl. Hart, MedR 2015, 1, 2; s. auch ders., in: Rieger/Dahm/ Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 17; krit. aus der Medizin etwa Eichler et al., DÄBl. 2015, A-2190. 117 Hart, MedR 2000, 1, 2 f.; ders., in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 17; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 139. 118 Carstensen, DÄBl. 1989, A-2431, A-2433; Schreiber, in: Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards, S. 167, 169; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 281; ders., in: Laufs/Katzenmeier/ Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 12; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 175; Schumacher, Alternativmedizin, S. 64. 119 Katzenmeier, Arzthaftung, S. 281; ders., in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 12 f.; Schumacher, Alternativmedizin, S. 64. 120 Vgl. Carstensen, DÄBl. 1989, A-2431, A-2433; Kreße, MedR 2007, 393, 394; Schumacher, Alternativmedizin, S. 64; Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 55. Eine solche Segmentierung des Standards ablehnend, Jansen, Der Medizinische Standard, S. 252 f. 121 Hierzu zählt etwa das Gebot der Sterilität, vgl. Carstensen, DÄBl. 1989, A-2431, A-2433, der den Basisstandard auf den unveränderlichen Teil der gesicherten Bereiche begrenzt; s. auch Kullmann, VersR 1997, 529; Kreße, MedR 2007, 393, 394; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 175; Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 55; Schumacher, Alternativmedizin, S. 64. 122 Kullmann, VersR 1997, 529; Kreße, MedR 2007, 393, 394; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 175; Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 55.
138
3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
das augenblickliche Mindestmaß dar, was an ärztlicher Behandlung zu leisten ist.123 Die dynamische Komponente des Standardbegriffs wirkt einer Festschreibung des medizinischen Standards auf den status quo entgegen. Sie passt sich den wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisgewinnen an, sodass sich das enorme Entwicklungspotenzial der Medizin auch künftig entfalten kann.124 Zum dynamischen Aspekt des Standards zählen neuere Diagnose- und Therapieverfahren, die in weiten Kreisen der medizinischen Wissenschaft bereits anerkannt sind, aber über die gegenwärtig allgemein anerkannten Regeln hinausgehen.125 Sobald die neuen Methoden in der Medizin im Wesentlichen unumstritten und dabei gleichzeitig risikoärmer oder für den Patienten weniger belastend sind und/oder bessere Heilungschancen bieten,126 avancieren sie zum Basisstandard.127 c) Auswirkungen der Systemmedizin Durch die Erkenntnisse der Systemmedizin wird sich die Vorrangstellung wissenschaftlicher Evidenz weiter verfestigen. Um das Potenzial bislang noch ungenutzter Daten auszuschöpfen, kommen insbesondere sog. Omics-Technologien zum Einsatz. Für Diagnostik und Therapie wird zunehmend auf Computerprogramme zurückgegriffen, die einen Abgleich der Patientenunterlagen mit den für die jeweilige Maßnahme algorithmisch ermittelten Standards ermöglichen.128 Gleichzeitig besteht aber auch das Risiko, dass die individuellen Patientenpräferenzen ins Hintertreffen geraten, wenn mithilfe von Big-Data-Analysen die optimale Therapie für den jeweiligen Patienten ermittelt wird. Es ist Aufgabe des Arztes zu gewährleisten, dass die individuellen Werthaltungen, Lebensvorstellungen und Willensbekundungen seines Patienten Berücksichtigung finden im Rahmen der medizinischen Behandlung.129 Die auf Grundlage systemmedizinischer Erkenntnisse entwickelten und (noch) nicht allgemein anerkannten Diagnose- und Therapiemethoden erhalten durch die dynamische Ausgestaltung des Standards theoretisch die Chance, in den medizinischen Standard hineinzuwachsen. Denn die dynamische Ausgestaltung des Standards ermöglicht es, anerkannte medizinische Verfahren weiterzuentwickeln und 123
Schreiber, in: Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards, S. 167, 169; Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 55; Schumacher, Alternativmedizin, S. 64; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 12. 124 Carstensen, DÄBl. 1989, A-2431, A-2433; Kullmann, VersR 1997, 529; Kreße, MedR 2007, 393, 395; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 175; Schumacher, Alternativmedizin, S. 64 f.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 12. 125 Kullmann, VersR 1997, 529; Kreße, MedR 2007, 393, 395; s. auch Katzenmeier, in: FS G. Müller, S. 237, 242. 126 BGHZ 102, 17, 24 = NJW 1988, 763, 764; BGH NJW 1992, 754, 755; OLG Hamm NJW 2000, 3437. 127 Kreße, MedR 2007, 393, 395; Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 56; Katzenmeier, in: FS G. Müller, S. 237, 239 f., 242 f. 128 Vgl. Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/ Woopen, MedR 2018, 447, 449. 129 Vgl. Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1331. Zur Verantwortung des Arztes im Hinblick auf die optimale Therapiewahl für seinen Patienten sogleich B. II. 2.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
139
zu verbessern. In der Praxis besteht jedoch das Problem, dass die Entwicklung von Standards eine möglichst große Anzahl gleich gelagerter Fälle voraussetzt. Nur durch deren Vergleich kann ermittelt werden, welche Therapie bei einer bestimmten Indikation und Situation erfolgsversprechend ist.130 In der medizinischen Wissenschaft erlangen vornehmlich diejenigen Verfahren allgemeine Anerkennung, deren Wirksamkeit mittels randomisierter kontrollierter Studien131 nachgewiesen werden kann.132 In der Systemmedizin werden allgemeine, auf größere Patientenkollektive ausgerichtete Behandlungsvorgaben durch eine Vielzahl speziellerer, auf kleinere Patientengruppen zugeschnittener Regeln abgelöst. Je kleiner die Zielgruppe einer Maßnahme wird, desto schwieriger wird dabei aber der Nachweis ihrer Wirksamkeit. Oftmals wird die erforderliche Mindestanzahl gleich gelagerter Fälle nicht erreicht sein, die etwa die Methoden der EbM voraussetzen. Das Ziel einer jeden Therapieform, allgemeine Anerkennung in der medizinischen Wissenschaft zu erlangen, ist umso schwerer zu erreichen, je spezifischer die Therapie ausgestaltet ist – bis hin zu beispielsweise gezielt für seltene Genmutationen entwickelten Spezialtherapien.133 Die Ausrichtung der Systemmedizin auf kleine Patientenkollektive, teilweise gar auf einzelne Individuen, steht im Widerspruch zum medizinischen Standard, der dem Arzt als Orientierungshilfe für die Behandlung von Kollektiven, nicht von Individuen dienen soll.134 Durch die Bildung immer kleiner werdender Patientengruppen droht eine zunehmende Zersetzung des medizinischen Standards, die letztlich auch zu seiner Auflösung führen könnte. Damit einher geht der Verlust an 130
Eberbach, MedR 2011, 757, 762; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 139. 131 Im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie werden die Probanden per Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt (sog. Randomisierung); eine Gruppe erhält ein Placebo (ein Scheinmedikament, das keine pharmakologische Wirkung aufweist, s. BÄK, Placebo in der Medizin, S. 3 f.) oder eine Standardtherapie (Kontrollgruppe) und die andere Gruppe das zu prüfende Mittel (Testgruppe). Randomisierte kontrollierte Studien sind in der Regel doppelverblindet, d. h. weder Arzt noch Proband wissen, ob der Proband zur Test- oder zur Kontrollgruppe gehört. Wird die Behandlung der Gruppen nach einer gewissen Zeit getauscht, handelt es sich um ein Crossover-Design, s. Schumacher, Alternativmedizin, S. 15; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Crossover-Design, Randomisierung u. kontrollierte Studie; BÄK, Placebo in der Medizin, S. 70 ff.; J. Timm, MedR 2016, 681, 682 f. 132 Der sog. randomisierte kontrollierte klinische Versuch, insbesondere der Doppelblindversuch im Crossover-Design, gilt dabei heute als Goldstandard zur Erbringung eines wissenschaftlich fundierten Wirksamkeitsnachweises, s. Schumacher, Alternativmedizin, S. 14 f., 65; Raspe, GesR 2013, 206, 207; BÄK, Placebo in der Medizin, S. 78; J. Timm, MedR 2016, 681, 682. Zur Bedeutung der randomisierten kontrollierten Studie im Rahmen der EbM Schumacher, Alternativmedizin, S. 170 ff. 133 Vgl. Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1530 Rn. 19. Zum Paradigmenwechsel von der indikationsorientierten zur personalisierten Medizin und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Methodik klinischer Forschung sowie in der Folge auf die Zulassungsverfahren von Therapien J. Timm, MedR 2016, 681, 684 ff. 134 Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 73; Hart, VSSR 2002, 265, 273; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 359; Eberbach, MedR 2011, 757, 761; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 139.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
klaren Verhaltensregeln im Arzt-Patient-Verhältnis. Es stellen sich dann insbesondere Fragen nach der rechtlichen Überprüfbarkeit ärztlichen Handelns im Einzelfall.135 2. Standardverfehlung Nach dem fachlichen Standard bemisst sich, inwieweit die konkrete medizinische Behandlung dem deliktisch erwarteten und vertragsrechtlich geschuldeten Verhalten des Arztes entspricht. Zugleich konkretisiert und ergänzt er den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 2 BGB im Arzthaftungsrecht.136 „Der Standard gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann.“137 a) Grundlagen Abweichend vom Strafrecht gilt im Zivilrecht ein auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteter, objektivierter Sorgfaltsmaßstab (Prinzip der Gruppenfahrlässigkeit).138 Als Referenz dienen die Angehörigen des jeweils betroffenen medizinischen Fachbereichs, sog. Facharztstandard.139 Persönliche Eigenschaften des Behandelnden, die hinter den allgemein vorauszusetzenden Kenntnissen und
135 Eine ähnliche Entwicklung ist auch bereits im Hinblick auf die individualisierte Medizin zu beobachten, näher Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 139 ff. 136 BGHZ 144, 296, 305 f. = NJW 2000, 2737, 2740; BGH NJW 1995, 776, 777; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 277 ff.; Laufs/Kern, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4 (2010), § 97 Rn. 3 f.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 75, 77 f.; Laufs, NJW 1997, 1609, 1610; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431; G. Müller, MedR 2009, 309; v. Pentz, MedR 2011, 222; BT-Drs. 17/10488, S. 19; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 450. Der medizinische Standard fungiert mithin sowohl für die Feststellung des Behandlungsfehlers als auch im Rahmen des Verschuldens als objektiver Bewertungsmaßstab. Zur Frage, inwieweit dann überhaupt noch zwischen Pflichtwidrigkeit und Fahrlässigkeit zu differenzieren ist, Katzenmeier, Arzthaftung, S. 186 ff.; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 169 ff.; umfassend Jansen, Der Medizinische Standard, S. 37 ff. 137 St. Rspr., etwa BGH NJW 2016, 713, 714 = MedR 2016, 794, 795 m. Anm. Prütting; BGH NJW 2015, 1601 = JZ 2015, 573, 574 m. Anm. Spickhoff; aus der Literatur etwa Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 114, 169; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 77; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. A 2 f., B 2, 213. 138 BGHZ 113, 297, 303 f. = NJW 1991, 1535, 1537; BGHZ 144, 296, 305 f. = NJW 2000, 2737, 2740; BGH NJW 2003, 2311, 2313; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 72; Schreiber, in: Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards, S. 167; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 96 Rn. 29 f.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 77; Pauge/ Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 169; näher Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, S. 93 ff. 139 Vgl. hierzu aus der Rspr. etwa BGH NJW 1995, 776, 777; s. auch Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 70 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 2; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 356 f.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 173; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 85, 91; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431; Frahm, GesR 2005, 529, 530.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
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Fähigkeiten zurückbleiben, finden keine entlastende Berücksichtigung.140 Verfügt der behandelnde Arzt umgekehrt jedoch über besondere (den Standard übertreffende) Fähigkeiten, Kenntnisse und Mittel,141 hat er diese auch zugunsten seines Patienten einzusetzen.142 Zur Bestimmung des im Einzelfall geschuldeten Maßes an Sorgfalt sind die Umstände der konkreten Behandlungssituation zu berücksichtigen, etwa ob es sich um eine Notfallsituation handelt, die nicht an den Anforderungen für normale Verhältnisse gemessen werden kann.143 Die Verkehrserwartung kann gewisse Abstufungen des Standards begründen. So wird von einem Facharzt grundsätzlich ein anderes Maß an Sorgfalt und Können verlangt als von einem Allgemeinmediziner.144 Ferner ist in Grenzen mit einzubeziehen, ob der Patient in einem einfachen Krankenhaus oder in einer Universitätsklinik behandelt wird.145 Dem Arzt wird ein Korridor zwischen optimaler und noch ausreichender Behandlung vorgegeben, in dessen Rahmen er sich bewegen darf, ohne einem Haftungsrisiko ausgesetzt zu sein.146 Schließlich spielt auch eine temporale Komponente für die Bestimmung der zu beachtenden Sorgfalt eine bedeutende Rolle: Maßgeblich ist die Einhaltung des
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St. Rspr., etwa BGHZ 113, 297, 302 f. = NJW 1991, 1535, 1537; BGH NJW 2001, 1786, 1787; BGH NJW 2015, 1601, 1603; s. auch Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 72; Geiß/ Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 2; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 77; Pauge/ Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 169; Wagner, in: MüKo-BGB, § 630a Rn. 119 f.; G. Müller, in: FS Hirsch, S. 413, 415; BT-Drs. 17/10488, S. 19. 141 Etwa tatsächlich verfügbare, verbesserte technische Gerätschaften, dazu BGH NJW 1988, 2949, 2950; BGH NJW 1989, 2321, 2322. 142 BGH NJW 1987, 1479, 1480; BGH NJW 1997, 3090, 3091; Kullmann, VersR 1997, 529, 531; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 359; Spickhoff, VersR 2013, 267, 272; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 4; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 332; Wagner, in: MüKo-BGB, § 630a Rn. 121; krit. Jansen, Der Medizinische Standard, S. 255 ff. 143 Kullmann, VersR 1997, 529; Kern, GesR 2002, 5, 6; Walter, GesR 2003, 165; Frahm, GesR 2005, 529, 530; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 79 ff.; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 450. 144 BGHZ 113, 297, 302 ff. = NJW 1991, 1535, 1537 (zur Heilpraktikerhaftung); BGH NJW 1997, 3090, 3091; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 96 Rn. 30; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 18; Frahm/ Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 85; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431, 432; G. Müller, in: FS Hirsch, S. 413, 416; Walter, GesR 2003, 165. 145 BGHZ 102, 17, 24 f. = NJW 1988, 763, 765; BGH NJW 1992, 754, 755; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 75; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 6; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 87 ff.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 176; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431, 432; G. Müller, in: FS Hirsch, S. 413, 416; ablehnend Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 359. 146 Vgl. aus der Rspr. BGH NJW 1994, 1596, 1597 f.; s. auch Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 96 Rn. 30; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 88; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431, 432; Kern, GesR 2002, 5, 6; Frahm, GesR 2005, 529, 530; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/SchmitzLuhn/Woopen, MedR 2018, 447, 450; Krit ggü. derartigen situativen Standarddifferenzierungen, Hart, MedR 2015, 1, 4 f.; ders., NJW 2016, 222; Jansen, Der Medizinische Standard, S. 261 ff.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
anerkannten und gesicherten Standes der medizinischen Wissenschaft (und Technik) zum Zeitpunkt der ärztlichen Behandlung, vgl. § 630a Abs. 2 BGB.147 Der medizinische Standard dient dem einzelnen Berufsangehörigen als Orientierungshilfe für die Wahl der angezeigten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen.148 Dabei muss der Arzt nicht zwingend die jeweils neueste Behandlungsmethode anwenden,149 sondern kann im Rahmen seiner Therapiefreiheit150 zwischen mehreren gleichgeeigneten Verfahren unter Berücksichtigung der konkreten Behandlungssituation wählen.151 Die Freiheit der Methodenwahl findet jedoch dort ihre Grenze, wo die Überlegenheit eines Heilverfahrens allgemein anerkannt ist. Wendet der Arzt eine neue Methode nicht an, die risikoärmer ist und/oder bessere Heilungschancen verspricht sowie in der medizinischen Wissenschaft im Wesentlichen unumstritten ist, verfehlt er den medizinischen Standard.152 Die Verfehlung des medizinischen Standards stellt in aller Regel einen Behandlungsfehler153 dar.154 Erweist sich der Fehler als ursächlich für die Gesund147 BGHZ 102, 17, 24 = NJW 1988, 763, 764 f.; BGH NJW 1983, 2080, 2081; BGH NJW 1994, 3008; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 73; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 96 Rn. 26; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 360; Walter, GesR 2003, 165; v. Pentz, MedR 2011, 222; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 372. Auf den Zeitpunkt der Behandlung ist bei der Standardbestimmung ausnahmsweise nicht abzustellen, wenn die ärztliche Maßnahme im Nachhinein, etwa aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse, doch als vertretbar einzustufen ist. In einem solchen Fall ist auf den späteren Standard abzustellen, s. Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 79 ff.; Wagner, in: MüKo-BGB, § 630a Rn. 143; s. hierzu auch Jansen, Der Medizinische Standard, S. 253 f. 148 Buchborn, MedR 1993, 328 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 279. Zum Problemfeld der ärztlichen Diagnostik- und Therapiewahl hat sich eine umfangreiche Rspr. entwickelt, s. hierzu Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 39 ff. 149 BGHZ 102, 17, 24 = NJW 1988, 763, 764; BGH NJW 1992, 754, 755; Kullmann, VersR 1997, 529, 530; v. Pentz, MedR 2011, 222; Kreße, MedR 2007, 393, 395; Pauge/ Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 184, 207; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 81. 150 Zu den drei Elementen der ärztlichen Therapiefreiheit (Entscheidung über das „Ob“ einer Behandlung, keine Pflicht zur Anwendung einer dem Gewissen widersprechenden Behandlungsmethode, Freiheit der Methodenwahl) s. Zuck, NJW 1991, 2933; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 304 ff.; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 3 Rn. 22; Schumacher, Alternativmedizin, S. 39 ff. 151 Der Grundsatz der Therapiefreiheit ist in Rspr. und Schrifttum anerkannt, vgl. etwa BGHZ 102, 17, 22 = NJW 1988, 763, 764; BGHZ 106, 153, 157 = NJW 1989, 1538, 1539; BGHZ 168, 103, 107 f. = NJW 2006, 2477, 2478; BGHZ 172, 254, 257 = NJW 2007, 2774 – Racz-Katheter; Kreße, MedR 2007, 393, 395; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 3 Rn. 22 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 34; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 115. 152 BGHZ 102, 17, 24 = NJW 1988, 763, 764; BGH NJW 1992, 754, 755; Kullmann, VersR 1997, 529, 530; Laufs, NJW 1997, 1609; v. Pentz, MedR 2011, 222; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 38; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 186; Frahm/ Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 81. 153 Ursprünglich bildete der Begriff des Kunstfehlers den Grundstein ärztlicher Haftung. Dieser wurde schließlich durch den präziseren Begriff des Behandlungsfehlers abgelöst, vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 295; eingehend zur geschichtlichen Entwicklung Katzenmeier, Arzthaftung, S. 273 ff.; zur Typologie der Behandlungsfehlerhaftung Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 34 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 10 ff.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
143
heitsverletzung des Patienten, trifft den Verantwortlichen eine Einstandspflicht für die Folgen des Eingriffs, soweit ihm ein Verschulden zur Last gelegt werden kann.155 Hat der Arzt auch wie ausgeführt, bei seiner Methodenwahl den medizinischen Standard seiner Zeit zu berücksichtigen, so bedeutet dies nicht, dass er an der Anwendung von Heilverfahren, die (noch) nicht allgemein anerkannt sind (etwa Außenseitermethoden oder Heilversuche), gehindert wäre. Allein die Entscheidung für ein bislang nicht dem medizinischen Standard entsprechendes Therapiekonzept begründet keinen Behandlungsfehler.156 Sofern sich noch kein Standard für ein Krankheitsbild entwickelt hat, gilt allerdings ein erhöhtes Sorgfaltsgebot. Es ist der Sorgfaltsmaßstab eines „vorsichtigen Arztes“ einzuhalten. Dieser gebietet etwa eine besonders sorgfältige Abwägung der zu erwartenden Vor- und Nachteile unter Berücksichtigung des Patientenwohls.157 b) Auswirkungen der Systemmedizin auf die Behandlungsfehlerhaftung des Arztes Durch die Systemmedizin zeichnet sich insgesamt ein Wandel des Arzthaftungsregimes ab. Neben den behandelnden Arzt treten als weitere Haftungsadressaten Netzwerke und deren kooperierende Institutionen, welche die Forschungs- und Behandlungsprozesse organisieren.158 Zur Ermittlung der angezeigten Behandlung werden die Patientenunterlagen mit den für die jeweilige Maßnahme aus Datenbanken algorithmisch ermittelten Standards abgeglichen. Für die Anwendung algorithmisch gewonnener Diagnostik- und Therapievorschläge auf den einzelnen Patienten trägt dabei weiterhin primär der behandelnde Arzt die Verantwortung 154 BGH NJW 2003, 2311, 2313: „Das Absehen von einer medizinisch gebotenen Vorgehensweise bedeutet eine Abweichung von dem haftungsrechtlich maßgeblichen Standard eines Facharztes […] und begründet einen ärztlichen Behandlungsfehler.“; s. auch Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 298: Haftungsgrund ist die Außerachtlassung des medizinischen Standards; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 96 Rn. 17 ff.; Vogeler, MedR 2008, 697, 702; G. Müller, MedR 2009, 309; v. Pentz, MedR 2018, 283. 155 Katzenmeier, Arzthaftung, S. 185, 279; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431; Frahm, GesR 2005, 529, 530; G. Müller, MedR 2009, 309; Hart, MedR 2016, 669, 671. 156 BGHZ 113, 297, 300 f. = NJW 1991, 1535, 1536; BGHZ 168, 103, 105 f. = NJW 2006, 2477 – Robodoc m. Anm. Katzenmeier, NJW 2006, 2738; BGHZ 172, 1, 5 f. = NJW 2007, 2767, 2768 – Vigabatrin-Verordnung; BGHZ 172, 254, 257 f. = NJW 2007, 2774 – RaczKatheter; BGH NJW 2017, 2685; v. Pentz, MedR 2018, 283; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 37; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 84, 116. 157 BGHZ 172, 254, 258 f. = NJW 2007, 2774, 2775 – Racz-Katheter; ebenso BT-Drs. 17/10488, S. 19 unter Verweis auf Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 2; s. auch Vogeler, MedR 2008, 697, 706; v. Pentz, MedR 2011, 222; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/ Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 96 Rn. 51; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 84; G. Müller, in: FS Hirsch, S. 413, 417. Ausführlich zu den gesteigerten Anforderungen, welche der Arzt bei Anwendung außerhalb des Standards stehender Methoden zu erfüllen hat, s. unten D. I. 158 Haftungsrechtlich stellt sich die Verantwortlichkeit dieser Kooperationen verstärkt als Organisationshaftung, ergänzt um eine Haftung für die Qualität und Sicherheit des „Therapieprogramms“, dar, vgl. Hart, MedR 2016, 669, 671, 675.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
und damit auch das Haftungsrisiko.159 Aufgrund der Individualität des Patienten und der Besonderheiten der jeweiligen Behandlungssituation können medizinische Expertensysteme die Anamnese, die Diagnosestellung sowie die ärztliche Therapieentscheidung lediglich unterstützen, nicht jedoch ersetzen.160 Für die von der Systemmedizin angestrebte exaktere Qualifikation der Krankheitsursache und individuelle Anpassung der Therapie ist zunächst eine gewissenhafte Befunderhebung durch den behandelnden Arzt unabdingbar. Dieser hat den Gesundheitszustand seines Patienten genau zu erkunden und alle relevanten Daten zu erheben, um die Datenbanken mit Informationen zu versorgen. Die zu erhebenden Informationen werden hierbei zunehmend vielfältiger, neben genetischen sind etwa auch soziale Daten nach dem systemmedizinischen Ansatz von Relevanz. Mit steigendem Datenumfang nimmt auch das Risiko des Arztes zu, seine Befunderhebungspflicht161 zu verletzen.162 Im Anschluss an die Befunderhebung hat der Arzt das ermittelte Testergebnis auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen, um eine Diagnose für seinen Patienten zu stellen. Aufgrund der steigenden Ausdifferenzierung von Krankheitsbildern gestaltet sich die richtige Diagnosestellung jedoch zunehmend schwieriger und erfordert ein umfangreiches Fachwissen. Interpretiert der Arzt das Testergebnis falsch, kann dies zur Annahme eines Diagnosefehlers163 führen.164 Der Haftungsgefahr wegen eines Therapiefehlers setzt sich der Arzt aus, wenn er den algorithmisch gewonnenen Therapievorschlag für seinen Patienten übernimmt, obwohl dieser unter Abwägung der Chancen und Risiken (Risiko-NutzenVerhältnis)165 nicht der erfolgversprechendste ist.166 Es ist Aufgabe des Arztes, die individuellen Parameter seines Patienten und seine Befindlichkeiten auf Kompatibilität mit der vorgeschlagenen Therapie hin zu prüfen. Für die Auswahl der geeigneten Therapie wird dem Arzt, wie bereits oben dargelegt, aufgrund der kon159
S. Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 449; Hart, MedR 2016, 669, 671, 675. Zur ärztlichen Entscheidungsfindung mithilfe von Algorithmen auch Fischer et al., MC Medical Ethics 2016, 17:32. 160 Duttge/Dochow, in: Niederlag/Lemke/Rienhoff, Personalisierte Medizin & Informationstechnologie, S. 251, 255; vgl. auch Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 383. 161 Zur Befunderhebungs- und Befundsicherungspflicht Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 427; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 477; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 74. 162 Vgl. Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 142 f. 163 Dem Arzt wird hierbei jedoch ein ausreichender Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum gewährt. Die Krankheitssymptome sind nicht immer eindeutig, sondern können auf unterschiedliche Ursachen hinweisen. Diagnoseirrtümer, die auf einer Fehlinterpretation von Befunden beruhen, bewertet der BGH nur zurückhaltend als Behandlungsfehler, s. BGH NJW 2001, 1787, 1788; BGH NJW 2003, 2827; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 389; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 34 f.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 194 ff. m. w. N.; krit. Hager, in: Staudinger, BGB, § 823 Rn. I 25. 164 Vgl. Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 143 f. 165 Katzenmeier, Arzthaftung, S. 310 f.; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 54 Rn. 1. 166 Vgl. Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 143. Zu den einzelnen Facetten des Therapiefehlers s. Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 38 ff.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
145
kreten Gegebenheiten ein Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum gewährt.167 Für die Haftung des Arztes kommt es darauf an, ob er aufgrund seiner Fachkunde erkennen konnte, dass die vorgeschlagene Therapie nicht geeignet ist.168 Neben den Behandlungsfehler in Form des Befunderhebungs-, Diagnose- und Therapiefehlers tritt in der Systemmedizin zudem der Programmanwendungsfehler. Auch die Nichtanwendung des Programms, welches dem Standard entspricht, stellt einen Behandlungsfehler dar.169 Es ist festzuhalten, dass das Haftungsrisiko des Arztes in der Systemmedizin tendenziell steigt. Er hat in zunehmenden Umfang Daten seines Patienten zu erheben, welche die Grundlage für die algorithmisch ermittelten Diagnose- und Therapieverfahren bilden. Auch wenn die Entscheidung, ob die vorgeschlagene Maßnahme tatsächlich zur Anwendung kommt, letztlich beim behandelnden Arzt liegt, so ist doch zu befürchten, dass dieser sich durch die Programmvorgaben in seiner Therapiefreiheit eingeschränkt fühlen könnte – insbesondere dann, wenn er das Gefühl hat, durch die neuen Technologien kontrolliert zu werden, anstatt sie zu kontrollieren. Diente die Technik ursprünglich dem ärztlichen Handeln, könnte sie es zukünftig bestimmen.170 3. Leitlinien und Standard Um den medizinischen Standard wissenschaftlich und institutionell festzulegen, fortzuentwickeln und in die Praxis umzusetzen, werden verstärkt ärztliche Leitlinien eingesetzt.171 a) Begriff und Bedeutung von Leitlinien im Haftungsrecht Leitlinien sind „systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über angemessene Verhaltensweisen bei speziellen diagnostischen und therapeutischen Problemstellungen“.172 Ihre Festsetzung erfolgt durch (nationale und internationale) professio-
167
Vgl. Katzenmeier, MedR 2018, 367, 369; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 200 m. zahlr. Rspr.-N. 168 Die Lage ist nicht anders zu bewerten, als bei fehlerhaften Angaben in einem Lehrbuch oder einer Fachzeitschrift, vgl. Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 387. Der Arzt haftet, wenn er augenfällige Fehler in Fachpublikationen übersieht, Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 96 Rn. 28 m. w. N. 169 Hart, MedR 2016, 669, 674 f. 170 Vgl. Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 163. 171 Hart, MedR 1998, 8; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 367 ff.; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 448; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 23; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 81 ff.; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 16; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 362. 172 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 10. Zum Begriff ärztlicher Leitlinien auch Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 1 f.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 23; Dressler, in: FS Geiß, S. 379 m. w. N.; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 363 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
nelle Organisationen, wie etwa die medizinischen Fachgesellschaften,173 aber auch durch regionale, zum Beispiel Ärztekammern, und lokale Institutionen, beispielsweise Krankenhäuser.174 Wie auch der medizinische Standard orientiert sich der Inhalt von Leitlinien am jeweiligen Stand der Wissenschaft und praktischen Erfahrung zum Zeitpunkt ihres Erlasses.175 Die Veröffentlichung neuer Ergebnisse kann bereits erlassene Leitlinien relativieren. Es kann gar zum Gegensatz von Leitlinie und aktuellem medizinischen Standard kommen.176 Ebenso können Leitlinien neue Behandlungsstandards entwickeln, vorhandene Standards verbessern oder auch bestätigen.177 Dabei können sie Standards jedoch nicht konstitutiv begründen, sondern lediglich deklaratorisch wiedergeben.178 Der medizinische Erkenntnisfortschritt wird durch Leitlinien mithin nicht gebremst.179 Vielmehr tragen Leitlinien sowohl zur Qualitätssicherung ärztlichen Handelns als auch zum Patientenschutz bei.180 173
Diese sind in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zusammengeschlossen. Die wichtigsten Leitlinien sind im AWMFLeitlinien-Register unter http://www.awmf.org/leitlinien.html abrufbar (Zugriff: 13.4.2020). 174 Hart, VSSR 2002, 265, 270; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 17. Zu den Anforderungen an die Entwicklung von Leitlinien und den unterschiedlichen Stufen (S1, S2, S3) Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 10 ff.: Der evidenzbasierten Konsensus-Leitlinie (S3) wird die höchste wissenschaftliche und gesundheitspolitische Legitimation zugesprochen, sie genießt uneingeschränkte Anerkennung in der ärztlichen Profession. Zu den einzelnen Entwicklungsstufen auch Arnade, Kostendruck und Standard, S. 178 ff.; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 374 f. 175 Hart, MedR 1998, 8, 13; Walter, GesR 2003, 165, 168; Kopp, GesR 2011, 385; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 367; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 24. 176 Hart, MedR 1998, 8, 13. Um einen Gleichlauf von Leitlinie und medizinischem Standard zu gewährleisten, ist eine regelmäßige Evaluation und Aktualisierung der Leitlinien unentbehrlich, vgl. auch Walter, GesR 2003, 165, 168; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 448. 177 BGH VersR 2014, 879, 881; Hart, MedR 1998, 8; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 181; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 10; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 89; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 190. Widersprüchliche Leitlinien unterschiedlicher Institutionen sind ein Indiz für das Fehlen eines medizinischen Standards oder für eine gewisse Variationsbreite des Standards, s. Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 35; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 98 f. 178 Walter, GesR 2003, 165, 168; Spickhoff, NJW 2001, 1757, 1764; Rehborn, GesR 2013, 257, 259; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431, 437; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 88 f.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 89. Die Rspr. lehnt eine konstitutive Wirkung ebenfalls ab, s. etwa OLG Naumburg NJW-RR 2008, 408, 410; OLG Hamm GesR 2014, 607, 608; BGH VersR 2014, 879, 881. Abweichend Hart, GesR 2011, 387, 389, der zumindest der qualitativ hochwertigen S3-Leitlinie konstitutiven Charakter zuspricht; anders auch Ziegler, VersR 2003, 545, 546 f., nach dem Leitlinien allgemeine medizinische Standards festlegen. Zum Meinungsstand ausführlich Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. B 41 ff. 179 Hart, MedR 1998, 8, 13; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 20. Darüber hinaus beschränken Leitlinien auch nicht die ärztliche Therapiefreiheit; im Gegenteil tragen sie gerade dazu bei, dass die erforderliche Qualität und Sicherheit ärztlichen Handelns gewahrt wird, Fehler vermieden werden und auf diese Weise die ärztliche
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
147
Von Leitlinien in diesem Sinne zu trennen sind zwei weitere Formen institutionell gesetzter ärztlicher Handlungsregeln: Richtlinien und Empfehlungen. Richtlinien sind „Regelungen des Handelns oder Unterlassens […], die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht“.181 So sind insbesondere die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sozialrechtlich bindend.182 Bei Empfehlungen handelt es sich hingegen um Vor- oder Ratschläge, deren Befolgung fakultativ ist.183 Leitlinien nehmen in diesem Kontext eine Zwischenstellung ein: sie sind weder strikt verbindlich noch gänzlich unverbindlich;184 sie sollen prinzipiell befolgt werden, im begründeten Einzelfall ist eine Abweichung jedoch zulässig oder sogar erforderlich.185 Diese Zwischenstellung kann mitunter zu haftungsrechtlichen Schwierigkeiten führen.186 Im Haftungsrecht können Leitlinien medizinischer Institutionen die Feststellung, ob im Einzelfall ein Behandlungsfehler vorliegt, erleichtern. Insofern erfüllen sie eine wichtige Rationalisierungsfunktion.187 Die Ermittlung des für die BeTherapiefreiheit gesichert wird, vgl. Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HKAKM, 530 Rn. 6. 180 Hart, MedR 1998, 8, 10; ders., VSSR 2002, 265, 270; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 368; Kopp, GesR 2011, 385; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 24; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 381 ff.; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 88. 181 Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizinischen Versorgung, Beschlüsse der Vorstände von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung v. Juni 1997, DÄBl. 1997, A-2154. Richtlinien finden sich vornehmlich im Sozialrecht (SGB V) und Berufsrecht, dazu Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 23; s. auch Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. B 73 ff. Zur Abgrenzung von Leitlinien und Richtlinien Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 84 ff.; ders., AcP 211 (2011), 352, 363 ff. 182 Vgl. § 91 Abs. 6 SGB V; zu weiteren Herleitungen der Verbindlichkeit Zimmermann, Der Gemeinsame Bundesausschuss, S. 51 ff. 183 Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 380; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 17 f. Aufgrund ihrer Unverbindlichkeit werden Empfehlungen häufig dann ausgesprochen, wenn noch kein Standard existiert oder mehrere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, s. Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 28. 184 Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 23 ff., 27; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 380. Die rechtliche Verbindlichkeit ärztlicher Leitlinien wird je nach Rechtsgebiet unterschiedlich beurteilt. Zur Bindungswirkung von Leitlinien im Sozial- und Berufsrecht Hart, MedR 1998, 8, 12, 14; Francke, SGb 2000, 159, 161 ff.; monographisch Mengel, Sozialrechtliche Rezeption ärztlicher Leitlinien; Ihle, Ärztliche Leitlinien, Standards und Sozialrecht, S. 81 ff.; dies., GesR 2011, 394. 185 Hart, MedR 1998, 8, 10 f.; ders., in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 19; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 18. 186 Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 380 ff. 187 Hart, MedR 1998, 8, 12 f.; ders., VSSR 2002, 265, 292; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 19; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 185; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. X Rn. 10. Zum Bedeutungszugewinn ärztlicher Leitlinien in der gerichtlichen Praxis Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 24 ff.; Walter, GesR 2003, 165, 169 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
handlungsfehlerhaftung maßgeblichen medizinischen Standards obliegt dem Arzt in der konkreten Behandlungssituation sowie dem Richter im Haftungsprozess, der sich hierfür des medizinischen Sachverständigen bedient.188 Leitlinien können Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage liefern, ob der Korridor medizinischen Standards eingehalten wurde, haftungsrechtliche Verbindlichkeit erlangen sie aber letztlich nur durch richterliche Rezeption.189 Dabei ist zu beachten, dass ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen Haftungsstandards und Leitlinien besteht. Während der für die Beurteilung der Behandlung maßgebliche Sorgfaltsstandard dynamisch und situationsbezogen ausgestaltet ist, sind Leitlinien starr und generalisierend. In Leitlinien wird der Erkenntnisstand zum Erlasszeitpunkt festgeschrieben. Sie sind abstrakt für standardisierte Normalfälle formuliert, situationsbezogene Besonderheiten (Konstitution des Patienten, Vorerkrankungen etc.) finden keine Berücksichtigung.190 Selbst bei höchster Evidenzstufe sind Leitlinien daher nicht unbesehen mit dem jeweiligen Facharztstandard gleichzusetzen.191 b) Leitlinien in der Systemmedizin Die auf Grundlage systemmedizinischer Erkenntnisse entwickelten Diagnose- und Therapieverfahren sind nicht auf große Patientengruppen zugeschnitten. Es geht gerade nicht darum, Verfahren für den standardisierten Normalfall zu entwickeln, sondern maßgeschneiderte Methoden für den Einzelfall zu generieren. Als Konsequenz folgt aus dieser Entwicklung, dass entweder Leitlinien für die jeweilige Patientengruppe erlassen werden müssen oder aber der behandelnde Arzt sich immer häufiger genötigt sehen wird, von den vorhandenen, allgemein ausgerichteten Leitlinien abzuweichen.192 Grundsätzlich gilt, dass der Arzt, der entsprechend der Leitlinie handelt, einer Behandlungsfehlerhaftung entgeht, sofern die Leitlinie aktuell ist und keine be-
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BGH GesR 2008, 361; BGH VersR 2014, 879, 881; Walter, GesR 2003, 165, 169; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 384 f.; K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431, 438 f. 189 Walter, GesR 2003, 165, 169; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/ Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 450 f.; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 384 f.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 27 f.; Hart, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 1. Die Bedeutung einer Leitlinie für die Feststellung des Standards hängt maßgeblich von ihrer methodischen Qualität (S1, 2 oder 3) ab, s. K. Stöhr, in: FS Hirsch, S. 431, 437. 190 Walter, GesR 2003, 165, 168; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 89; s. auch Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 381 f.; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 95 ff.; ders., AcP 211 (2011), 352, 376 f. 191 BGH GesR 2008, 361; BGH VersR 2014, 879, 881; Spickhoff, NJW 2001, 1757, 1764; Walter, GesR 2003, 165, 168; Frahm, GesR 2005, 529, 530; Hart, GesR 2011, 387, 389; Kopp, GesR 2011, 385, 386; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 378; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 450; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 381 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 9a; Pauge/ Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 190. 192 Eine vergleichbare Problematik ist auch bereits in Bezug auf die individualisierte Medizin erörtert worden, s. hierzu Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 141 f.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
149
sondere Behandlungssituation vorliegt, die ein Abweichen gebietet.193 Die Befolgung der Leitlinie bewirkt somit zwar keine „Haftungsimmunisierung“,194 ist aber Indiz für ein standardgerechtes Verhalten des Arztes.195 Umgekehrt gilt jedoch auch, dass der Verstoß gegen eine aktuelle, wissenschaftlich anerkannte Leitlinie allein keinen Behandlungsfehler begründet, sondern lediglich Indizwirkung entfalten kann.196 Maßgebend ist letztlich stets der konkrete Einzelfall.197 Leitlinien haben also haftungsrechtlich nur Empfehlungscharakter ohne weitergehende Verbindlichkeit, sofern sie nicht rechtlich rezipiert oder transformiert werden.198 Die Ersteller von Leitlinien sind mithin nicht verantwortlich, sollte die medizinische Behandlung entsprechend der Leitlinie zu einer Rechtsgutsverletzung des Patienten führen. Denn es obliegt dem behandelnden Arzt, die Anwendbarkeit der Leitlinie in der konkreten Behandlungssituation zu prüfen. Der Arzt übt eine Art Kontrollfunktion gegenüber der Leitlinieninstitution aus. Gerade in der Systemmedizin stellt sich insofern die Frage, wer die Anwendung von Leitlinien zukünftig verantwortet.199 Ist es weiterhin der Arzt, der die Anwendbarkeit prüft, oder der Algorithmus, aus dem die Handlungsempfehlung abgeleitet wird, oder die Institution, die den Algorithmus entwickelt hat?
193
Hart, MedR 1998, 8, 12 f.; Walter, GesR 2003, 165, 168; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 382; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 28. 194 Walter, GesR 2003, 165, 168; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 380; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 382 f.; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 100; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 89. Hart, MedR 1998, 8, 12 f.; ders., GesR 2011, 387 spricht sich hingegen für eine „Haftungsimmunisierung“ jedenfalls bei Befolgung einer S3-Leitlinie aus. 195 Walter, GesR 2003, 165, 170; Frahm, GesR 2005, 529, 532; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 380; Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 382; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 100; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 372. 196 Walter, GesR 2003, 165, 168 ff.; Frahm, GesR 2005, 529, 532; Taupitz, AcP 211 (2011), 352, 380; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/SchmitzLuhn/Woopen, MedR 2018, 447, 450 f.; Taupitz, in: Möllers, Geltung und Faktizität von Standards, S. 63, 100; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 372; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 89. Es ist dann Sache des Arztes darzulegen, warum es in der konkreten Behandlungssituation geboten war, entgegen der Leitlinie zu handeln, vgl. Dressler, in: FS Geiß, S. 379, 382 f. Ziegler, VersR 2003, 545, 548 f. spricht sich gar für eine Beweislastumkehr sowohl bzgl. des Behandlungsfehlers als auch des Kausalzusammenhangs aus; eine widerlegliche Kausalitätsvermutung befürwortend Hart, MedR 1998, 8, 13 f.; ders., MedR 2012, 453, 454. Deutlich restriktiver ist hingegen der BGH, der eine Beweislastumkehr verneint, BGH, Beschl. v. 8.1.2008 – VI ZR 161/07, und bei Verstoß gegen eine S1oder S2-Leitlinie auch eine Indizwirkung ablehnt, BGH GesR 2008, 361; BGH VersR 2014, 879. Bei den Instanzgerichten ist bislang keine einheitliche Linie erkennbar, s. hierzu sowie zum gesamten Meinungsspektrum Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. B 41 ff. 197 Vgl. Arnade, Kostendruck und Standard, S. 184. 198 S. Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen, MedR 2018, 447, 450 f.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 190; Hart, VSSR 2002, 265, 276 ff.; ders., in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 530 Rn. 1; Arnade, Kostendruck und Standard, S. 182. 199 Hart, MedR 2016, 669, 671.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
4. Fazit Es ist absehbar, dass in der Systemmedizin die Größe der Gruppen, in die Patienten mit einer bestimmten Erkrankung eingeteilt werden, weiter abnimmt. Grund hierfür ist die steigende Anzahl der die jeweilige Gruppenzugehörigkeit begründenden Faktoren. Hierzu zählen etwa spezifische genetische Eigenschaften, soziale Faktoren, aber auch Umwelteinflüsse. Die Spezifizierung der einzelnen Krankheitsbilder wird dadurch weiter vorangetrieben. Gleichzeitig wird die Anzahl kompetenter, auf die jeweilige Erkrankung spezialisierter Behandler abnehmen.200 Sofern es aufgrund der zahlreichen kleinen Patientenkollektive nur noch schwer möglich sein wird, einen Standard als die richtige Therapie festzulegen, schlägt Hart vor, über eine neue Form der Standardentwicklung, den „standard in progress“, nachzudenken. Dieser beinhalte eine „Standardbandbreite“, die durch mehrere unterschiedliche, medizinisch, ethisch und rechtlich vertretbare oder angemessene Behandlungsalternativen gekennzeichnet sei.201 Zudem ist es denkbar, dass der Standardbegriff in der Systemmedizin künftig nicht mehr allgemein krankheitsbezogen gebildet werden kann, sondern auf Patientengruppen mit spezifischen Eigenschaften bezogen werden muss. Vom Standard der Behandlung einer Krankheit verschiebt sich der Fokus auf den der Behandlung einzelner Patientenkollektive mit dieser Erkrankung. Die charakteristischen Standardelemente der wissenschaftlichen Erkenntnis und professionellen Akzeptanz beziehen sich sodann auf das Patientenkollektiv.202 Um im konkreten Behandlungsfall das angezeigte Diagnose- oder Therapieverfahren zu ermitteln, werden die Patientenunterlagen mit den für die jeweilige Maßnahme aus Datenbanken algorithmisch ermittelten Standards abgeglichen. Die unterbreiteten Diagnose- und Therapievorschläge dienen als Hilfestellung für den Arzt. Eine kritische Überprüfung auf Komptabilität mit dem jeweiligen Patienten im Einzelfall ist unbedingt geboten. Wenn der algorithmisch gewonnene Therapievorschlag dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand unter Berücksichtigung praktischer Erfahrung und professioneller Akzeptanz entspricht und die Nichtanwendung des Vorschlags nicht (mehr) medizinisch vertretbar ist, begeht der Arzt einen Behandlungsfehler, wenn er dem Vorschlag nicht folgt und der Patient dadurch eine Gesundheitsverletzung erleidet.
III. Einwilligung nach ärztlicher Aufklärung Das dritte Element rechtmäßigen ärztlichen Handelns ist die Einwilligung des aufgeklärten Patienten, sog. informed consent. Nach ständiger Rechtsprechung der Zivil- und Strafgerichte erfüllt auch die medizinisch indizierte und fachgerecht durchgeführte Heilbehandlung den Tatbestand der Körperverletzung.203 Die 200
Vgl. Hart, MedR 2016, 669, 674; ders., in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HKAKM, 1530 Rn. 18 f. 201 Hart, MedR 2016, 669, 674. 202 Hart, MedR 2016, 669, 674; ders., in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HKAKM, 1530 Rn. 18 f. 203 Grundlegend RGSt 25, 375; diese Rspr. wurde in der Folgezeit bestätigt durch RGSt 61, 242, 246 ff.; RGZ 88, 433, 436; RGZ 168, 206, 210 und entspricht heute gefestigter
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
151
Rechtswidrigkeit der Behandlung entfällt jedoch, sofern der Eingriff aufgrund einer wirksam erteilten Einwilligung des Patienten erfolgt.204 Seine normativen Wurzeln hat das Erfordernis der Einwilligung in ärztliche Behandlungsmaßnahmen in den Verfassungsprinzipien, die zu Achtung und Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), dem damit eng verflochtenen Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des Einzelnen verpflichten.205 Eine sinnvolle und durchdachte Entscheidung in Form einer wirksamen Einwilligung kann der Patient allerdings nur treffen, wenn er zuvor von seinem Arzt206 hinreichend aufgeklärt wurde, vgl. §§ 630d, e BGB.207 Durch die Vielzahl der in der Systemmedizin erhobenen und verarbeiteten Daten nehmen Umfang und Präzision von Erkenntnissen über den aktuellen und zukünftigen Gesundheitszustand des einzelnen Patienten zu. Es stehen dem Arzt mithin sowohl genauere als auch zahlreichere Informationen zur Verfügung. Die Zunahme an Informationen, seien sie auch qualitativ hochwertig, kommt allerdings nicht per se der Patientenautonomie zugute. Bei einer unkontrollierten Konfrontation des Patienten mit Erkenntnissen hinsichtlich seines Gesundheitszustandes droht eine Überforderung des Patienten.208 Es ist Aufgabe des behandelnden Arztes sicherzustellen, dass sein Patient die notwendigen Informationen erhält, um Rspr., vgl. BGHSt 11, 111, 112 = NJW 1958, 267, 268; BGH NJW 2011, 1088, 1089 und in Zivilsachen BGH NJW 1956, 1106, 1107; BGHZ 176, 342, 347 = NJW 2008, 2344, 2345. Zustimmend Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 203 f., 211 f.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 117 f. 204 Im Zentrum der Körperverletzungsdoktrin der Rspr. steht der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 GG, und des Selbstbestimmungsrechts des Patienten als Ausfluss des Rechts auf Menschenwürde, Art. 1 GG. Über die Entscheidungsfreiheit des Patienten hinsichtlich seiner körperlichen Integrität darf der Arzt sich nicht selbstherrlich hinwegsetzen, BGHZ 29, 46, 49 f. = NJW 1959, 811, 812 f.; BGHZ 106, 391, 397 f. = NJW 1989, 1533, 1535; zur Kritik an der Körperverletzungsdoktrin vgl. Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 10 f. m. w. N. 205 BVerfG NJW 1979, 1925, 1930 f., aus dem Votum der Richter Hirsch, Niebler und Steinberger; BVerfG NJW 2005, 1103, 1104; BGHZ 29, 46, 49 = NJW 1959, 811, 812; BGHZ 29, 176, 179 f. = NJW 1959, 814; BGHZ 106, 391, 397 = NJW 1989, 1533, 1535; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 203; Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4 (2010), § 57 Rn. 15 f.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 5. 206 Als genuin ärztliche Tätigkeit obliegt die Aufklärungspflicht grundsätzlich dem behandelnden Arzt, BGH NJW 1974, 604; BGH NJW 1984, 1807, 1808 f.; BGH NJW-RR 2007, 310. Gemäß § 630e Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB kann die Aufklärung auch durch eine Person erfolgen, die über die zur Durchführung der Maßnahme notwendige Ausbildung verfügt. Eingehend zur Person des Aufklärungspflichtigen Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/ Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 46 ff.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 215; Martis/ Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 1750 ff. 207 BVerfG NJW 1979, 1925, 1931; BGHZ 29, 46 = NJW 1959, 811; BGHZ 166, 336, 339 = NJW 2006, 2108; Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101, 103; G. Müller, MedR 2009, 309, 311; Katzenmeier, BuGBl. 2012, 1093; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 201, 204 f.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 324; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 1, 4 f.; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 505. 208 Eine vergleichbare Problematik ist auch im Rahmen der individualisierten Medizin zu beobachten, s. hierzu Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 147 ff.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
auf deren Grundlage eine selbstbestimmte Entscheidung hinsichtlich des weiteren medizinischen Vorgehens zu treffen. Die ärztlichen Aufklärungs- und Informationspflichten im weiteren Sinne209 nehmen daher in der Systemmedizin eine zentrale Position ein. Der Bedeutungszuwachs der Arzt-Patient-Kommunikation ist eng verknüpft mit den Eindeutigkeitsverlusten der Indikation in der Systemmedizin; die schwindende Orientierungskraft der Indikation hat gesteigerte Anforderungen an Umfang, Intensität und Qualität der ärztlichen Aufklärung zur Folge. Letztlich geht es um die zunehmende Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten in Form der informierten Einwilligung in die medizinische Behandlung.210 1. Aufklärung als notwendige Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung Bereits vor Inkrafttreten des PatRG galt die Aufklärung des Patienten als vertragsunabhängige ärztliche Berufspflicht.211 Mit Erlass des PatRG im Jahre 2013 wurde die vertragliche Aufklärungspflicht des Behandelnden sodann in § 630e BGB kodifiziert.212 Während charakteristisches Element des Behandlungsfehlers der Mangel ärztlicher Kompetenz ist, geht es bei der Aufklärungspflicht vordergründig um das Spannungsverhältnis zwischen der fachlichen Kompetenz des Arztes und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten.213 Eine ordnungsgemäß durchgeführte ärztliche Aufklärung soll es dem Patienten ermöglichen sein Selbstbestimmungsrecht adäquat wahrzunehmen.214 Von der Selbstbestimmungsaufklärung als Wirksamkeitsvoraussetzung der Einwilligung abzugrenzen sind die Sicherungsaufklärung, § 630c Abs. 2 S. 1 BGB, die Fehleroffenbarungspflicht, § 630c Abs. 2 S. 2 BGB und die wirtschaftliche Information des Patienten, § 630c Abs. 3 BGB.215 209
Zu den Informationspflichten i. w. S. s. unten C. I. Vgl. Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101, 109 ff. 211 BGH NJW 1956, 1106, 1107; BGHZ 29, 46 = NJW 1959, 811; BGHZ 29, 176 = NJW 1959, 814. 212 Zuvor gab es keine gesetzliche Regelung einer allgemeinen Aufklärungspflicht, es existierten lediglich einige Spezialvorschriften, bspw. in §§ 40, 41 AMG; § 6 Abs. 1 TFG und § 3 Abs. 1 KastrG. In die Berufsordnungen der Ärztekammern fand die ärztliche Aufklärungspflicht im Jahre 1988 Eingang, vgl. § 1a Berufsordnung für die deutschen Ärzte, DÄBl. 1988, A-3601, aktuell § 8 MBO-Ä. Zur Entwicklung der Aufklärungspflicht Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 3 f. 213 G. Müller, MedR 2009, 309, 310. 214 „Die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten ist wesentlicher Teil des ärztlichen Aufgabenbereichs“, BVerfG NJW 1979, 1925, 1930; s. auch BGHZ 29, 46, 54 f. = NJW 1959, 811, 813; BGH NJW 1986, 780; Katzenmeier, BuGBl. 2012, 1093; Kern/ Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 7 ff.; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 208 f.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 115; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 186; BT-Drs. 17/10488, S. 24. 215 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 16 ff.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 381 ff.; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. P 506a f.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 185. Zu den Informationspflichten i. w. S. s. unten C. I. 210
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
153
a) Grundlagen der ärztlichen Aufklärungspflicht Der Behandelnde ist gemäß § 630e Abs. 1 S. 1 BGB verpflichtet, seinen Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären.216 Hierzu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken217 der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie, § 630e Abs. 1 S. 2 BGB. Die Aufzählung in § 630e Abs. 1 S. 2 BGB ist nicht abschließend. Die Umstände der konkreten Behandlungssituation sind maßgebend für den erforderlichen Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht.218 Zudem ist die berufliche und private Lebensführung des Patienten zu berücksichtigen; das Maß der Aufklärung richtet sich nach dem jeweiligen Patienten, seinen erkennbaren Bedürfnissen und Präferenzen (sog. Prinzip der patientenbezogenen Information).219 Als Direktive gilt, dass der Patient Wesen, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs erfassen220 und „das Für und Wider in den Grundzügen so verstehen können muss, dass ihm eine verständige Abwägung und damit die Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts überhaupt möglich ist“.221 Entscheidend ist, dass der Patient „im Großen und Ganzen“ weiß, worin er einwilligt.222 Die Aufklärung soll 216
Die Aufklärung ist entbehrlich, sofern der Patient auf sie verzichtet oder die Maßnahme unaufschiebbar ist, § 630e Abs. 3 BGB, s. hierzu Voigt, in: NK-BGB, § 630e Rn. 12; zu weiteren Einschränkungen der Selbstbestimmungsaufklärung bei Kenntnis des Patienten oder unter engen Voraussetzungen wegen therapeutischer Kontraindikation Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 38 ff.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 192 ff. 217 Aufklärungspflichtig sind freilich nur im Zeitpunkt der Behandlung bekannte Risiken. Kannte der behandelnde Arzt das betreffende Risiko nicht und musste er es auch nicht kennen, entfällt eine Haftung mangels Verschuldens, vgl. begründeter Nichtannahmebeschluss des BGH, abgedruckt zu OLG Düsseldorf VersR 1996, 377; BGH NJW 2011, 375; s. auch Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 46; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/ Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 32; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 214. 218 BT-Drs. 17/10488, S. 24; s. auch BGH NJW 1976, 363, 364; BGH NJW 1980, 1905, 1906; Spickhoff, VersR 2013, 267, 276; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 257; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 66 Rn. 16 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/ Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 26; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. P 41. 219 BGH NJW 2009, 1209, 1210; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 128; Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4(2010), § 60 Rn. 2; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 7; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 26 f.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 391; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 207 ff. 220 BGHZ 29, 176, 180 = NJW 1959, 814; s. auch Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 128; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 86 m. w. N.; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 513 ff. 221 Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 258; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 327; ders., in: Laufs/ Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 26; dazu aus der Rspr.: BGH NJW 1986, 780; BGHZ 166, 336, 339 = NJW 2006, 2108. 222 BGHZ 90, 103, 106 = NJW 1984, 1397, 1398; BGHZ 102, 17, 23 = NJW 1988, 763, 764; BGH NJW 2009, 1209, 1210; BGH NJW 2011, 375. S. auch v. Pentz, MedR 2011, 222, 225; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 257; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 327; Pauge/
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
ihn befähigen die Konsequenzen der medizinischen Behandlung für seine persönliche Situation zu eruieren.223 Im Einzelnen umfasst die Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten die Risiko-, Diagnose- und Verlaufsaufklärung, wobei besonderes Gewicht auf der Risikoaufklärung liegt.224 Der Umfang der Risikoaufklärung erstreckt sich auf die mit dem ärztlichen Eingriff verbundenen Gefahren, also mögliche dauernde oder vorübergehende Nebenfolgen, die sich auch bei sorgfältiger, fehlerfreier Eingriffsdurchführung nicht ausschließen lassen. Gegenstand der Diagnoseaufklärung ist die Information des Patienten über den medizinischen Befund und die sich hieraus ergebenden Prognosen. Von der Verlaufsaufklärung umfasst sind Art, Umfang und Durchführung des Eingriffs. Hierbei ist der Patient vornehmlich über seine prognostizierbare weitere Gesundheitsentwicklung sowohl bei Durchführung als auch bei Unterlassen der beabsichtigten medizinischen Behandlung in Kenntnis zu setzen.225 Die einzelnen Bestandteile der Selbstbestimmungsaufklärung gehen oftmals fließend ineinander über. So ist etwa die Information über alternative Behandlungsmethoden sowohl der Risiko- als auch der Verlaufsaufklärung zuzuordnen.226 b) Behandlungsalternativen Über Behandlungsalternativen ist gemäß § 630e Abs. 1 S. 3 BGB aufzuklären, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und standardgemäße Methoden in Betracht kommen, die zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.227 Dem Patienten steht in einer derartiOffenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 427; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 196; Martis/ Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 513, 834 ff. m. zahlr. N. 223 Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 258; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 86; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 390; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 196; zur Durchführung des Aufklärungsgesprächs, insbes. zu Form, Zeitpunkt und Verständlichkeit (§ 630e Abs. 2 BGB), Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 45 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 85 ff. 224 Kern/Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 53; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 703; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 120 f.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 325 f.; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 66 Rn. 1; Martis/ Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 536 ff.; teilweise wird die Selbstbestimmungsaufklärung auch als Obergriff für die Diagnose-, Verlaufs-, Eingriffs-, Risiko- und Behandlungsaufklärung verwendet, vgl. Greiner, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 823 BGB Rn. 201. 225 Zu den Fallgruppen im Einzelnen s. Kern/Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, S. 54 ff.; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 256; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 66 Rn. 2 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 41 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 14; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 554 ff. 226 Katzenmeier, BuGBl. 2012, 1093, 1094; ders., Arzthaftung, S. 326; Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4(2010), § 59 Rn. 12; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 542. 227 So ist etwa eine Aufklärung geboten, wenn sowohl konservative als auch operative Methoden zur Wahl stehen, vgl. etwa BGH NJW 1982, 2121, 2122; BGH NJW 1988, 765; BGH NJW 2000, 1788, 1789; BGH VersR 2014, 586, 587 f.; auch über verschiedene Entbindungsmethoden (Vaginalentbindung oder Kaiserschnitt) ist aufzuklären, vgl. BGHZ
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
155
gen Situation eine echte Wahlmöglichkeit zu. Sein Selbstbestimmungsrecht gebietet es, dass er selbst entscheidet, wie seine Behandlung erfolgen soll und auf welche Risiken er bereit ist sich einzulassen.228 Eine Aufklärung über alternative Verfahren ist demnach geboten, wenn diese größere Diagnose- oder Heilungschancen erwarten lassen und/oder mit einem geringeren Risiko oder einer geringeren Belastung verbunden sind.229 Darüber hinaus ist die Wahl der geeigneten Behandlungsmaßnahme in erster Linie Sache des Arztes, sog. Grundsatz der ärztlichen Therapiefreiheit.230 Solange dieser eine Therapie anwendet, die dem medizinischen Standard genügt, hat er dem Patienten nicht ungefragt zu erläutern, welche Behandlungsmethoden theoretisch in Betracht kommen, inklusive deren Vor- und Nachteile.231 Eine Aufklärung über alternative Behandlungsmethoden, die sich zum Behandlungszeitpunkt noch in der Erprobung befinden, ist bei Vorhandensein einer Standardmethode also grundsätzlich nicht erforderlich,232 es sei denn, der Patient fragt explizit danach.233 Zudem besteht eine Informationspflicht hinsichtlich neuartiger Verfahren, wenn
106, 153, 157 = NJW 1989, 1538, 1539; BGH NJW 2004, 3703, 3704; BGH VersR 2015, 579, 580 f.; eine umfassende Übersicht zu echten (aufklärungsbedürftigen) und zu unechten (nicht aufklärungsbedürftigen) Behandlungsalternativen findet sich bei Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 1247 ff. 228 BGHZ 102, 17, 22 = NJW 1988, 763, 764; BGH NJW 2000, 1788, 1789; BGH VersR 2014, 586, 587 f. Eine echte Behandlungsalternative besteht auch, wenn die wissenschaftliche Diskussion über bestimmte Risiken der Behandlungsalternative noch nicht abgeschlossen ist. Es genügt, dass ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft auf konkrete Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche Außenseitermeinungen abgetan werden können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen, BGH NJW 1996, 776, 777 = JZ 1996, 518 m. zust. Anm. Giesen. S. auch BGHZ 144, 1, 10 = NJW 2000, 1784, 1786 f.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 29 ff. m. zahlr. N.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 34; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 204; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 408 f. 229 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 34 Fn. 111; Martis/ Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 1247 f. mit jeweils zahlr. N. zur Rspr. Erforderlich ist ein Unterschied von Gewicht, nicht lediglich eine geringfügig niedrigere Komplikationsrate, Schelling/Erlinger, MedR 2003, 331; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 23; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 1225, 1248. 230 Zur ärztlichen Therapiefreiheit s. bereits oben B. II. 2. a) sowie ausführlich Katzenmeier, Arzthaftung, S. 304 ff. 231 BGHZ 102, 17, 22 = NJW 1988, 763, 764; BGHZ 106, 153, 157 = NJW 1989, 1538, 1539; BGH NJW 1982, 2121, 2122; s. auch Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 22; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 34; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 204; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 1220 f.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 403, 417; krit. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 192; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 217 ff.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 123 ff., 228 f. 232 BGH NJW 1984, 1810 f.; BGH NJW 1988, 1516; Giesen, JZ 1987, 282, 284; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 66 Rn. 39. 233 Schelling/Erlinger, MedR 2003, 331, 334; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 35.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
der Arzt weiß oder wissen müsste, dass sein Patient an einer speziellen Krankheit leidet, die besser und zweckmäßiger in einer Spezialklinik zu behandeln ist.234 Favorisiert der behandelnde Arzt anstelle einer Standardmethode ein Verfahren, das nicht dem medizinischen Standard entspricht, hat er seinen Patienten auf die Neuartigkeit oder jedenfalls die fehlende allgemeine Anerkennung des Verfahrens, seine Risiken und Erfolgschancen sowie auf die alternativ in Betracht kommenden Standardmethoden hinzuweisen.235 Für Therapieformen, die auf Grundlage systemmedizinischer Erkenntnisse entwickelt wurden, ist nach den dargestellten Grundsätzen wie folgt zu differenzieren: Hat sich die gewählte Therapieform der Systemmedizin bereits als Standardverfahren etabliert, kann der Arzt sie grundsätzlich im Rahmen seiner Therapiefreiheit anwenden, ohne über alternativ bestehende Methoden informieren zu müssen. Existiert jedoch neben der systemmedizinischen Therapieoption eine gleichwertige Standardmethode, besteht für den Patienten mithin eine echte Wahlmöglichkeit im obigen Sinne, so ist eine Aufklärung hierüber erforderlich. Erweisen sich die Therapieformen der Systemmedizin tatsächlich als innovativ und für den einzelnen Patienten maßgeschneidert, könnte dies dazu führen, dass bestehende Behandlungsalternativen als nicht mehr dem Standard entsprechend erachtet werden. In diesem Fall existierte keine Behandlungsalternative mehr zur systemmedizinischen Therapie, über die aufgeklärt werden müsste. Umgekehrt hat der Arzt bei Anwendung einer standardgemäßen Methode auf ein Verfahren der Systemmedizin nur hinzuweisen, wenn dieses eine echte Behandlungsalternative i. S. d. § 630e Abs. 1 S. 3 BGB darstellt. Eine Aufklärung über systemmedizinische Therapien, die noch nicht dem medizinischen Standard entsprechen, ist hingegen nicht erforderlich, es sei denn, eine der oben beschriebenen Ausnahmen greift ein. Entscheidet sich der Arzt für ein systemmedizinisches Verfahren, das sich (noch) im Stadium der Erprobung befindet, ist ein gesonderter Hinweis auf die Neuartigkeit des Verfahrens einschließlich einer umfassenden Aufklärung über bestehende sowie eventuell noch unerforschte Risiken erforderlich. Soweit es standardgemäße Behandlungsalternativen zu der systemmedizinischen Therapieoption gibt, hat der Arzt hierauf ausdrücklich hinzuweisen und über die jeweiligen Vor- und Nachteile zu informieren. Vornehmlich in der Onkologie, die für zahlreiche Krebsleiden bislang keine herkömmlichen Behandlungsmöglichkeiten bereithält, werden systemmedizinische Verfahren wohl häufig zur Anwendung gelangen.
234 BGHZ 102, 17, 22 ff. = NJW 1988, 763, 764 f.; BGH NJW 1984, 1810, 1811; Francke/ Hart, Charta der Patientenrechte, S. 126; Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4 (2010), § 60 Rn. 7; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 37; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 414. Krit. Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 219. 235 BGHZ 168, 103, 107 f. = NJW 2006, 2477, 2478 f. – Robodoc; BGHZ 172, 254, 260 = NJW 2007, 2774, 2775 – Racz-Katheter; OLG Brandenburg VersR 2009, 1230, 1231; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 126; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 21; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 36; Pauge/ Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 415 f.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 204. Zum gesteigerten Umfang der Aufklärungspflicht bei Heilversuchen s. unten D. I. 1.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
157
c) Umfang und Intensität Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat die Aufklärung umso ausführlicher und eindrücklicher zu erfolgen, je weniger der Eingriff indiziert und je geringer seine Erfolgsaussichten sind.236 Umfang und Genauigkeitsgrad der Aufklärung verhalten sich also umgekehrt proportional zur Dringlichkeit und zu den Heilungsaussichten des medizinischen Eingriffs.237 Diesem Grundsatz folgend unterliegen die in der Systemmedizin bedeutsamen prädiktiven Diagnoseverfahren umfangreichen Aufklärungspflichten. Denn prädiktive Tests dienen nicht der Ermittlung von bestehenden Krankheiten, sondern von Krankheitsdispositionen. Ziel ist es, den Ausbruch der Erkrankung durch geeignete Präventionsmaßnahmen zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Ein dringender Handlungsbedarf für derartige Früherkennungsmaßnahmen besteht somit häufig nicht.238 Neben dem Gewicht der medizinischen Indikation sind die mit dem Eingriff verbundenen Risiken bestimmend für Intensität und Umfang der Aufklärungspflicht. Die Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht steigen primär mit der Schwere der möglichen Schäden und dem Umstand, dass ein Risiko der Maßnahme spezifisch anhaftet. Die Häufigkeit der erfahrungsgemäß auftretenden Schadensfolgen ist dagegen zweitrangig.239 Prädiktive systemmedizinische Untersuchungen bergen das Risiko psychischer Belastungen des Patienten, die durch die Mitteilung der Testergebnisse entstehen können. So kann die Kenntnis von einer vorhandenen Disposition für Brustkrebs 236 BGH NJW 1980, 1905, 1907; BGH NJW 1980, 2751, 2752 f.; BGH NJW 1998, 1784, 1785; s. auch § 8 S. 5 MBO-Ä in der Neufassung von 2011: „Je weniger eine Maßnahme medizinisch geboten oder je größer ihre Tragweite ist, umso ausführlicher und eindrücklicher sind Patientinnen oder Patienten über erreichbare Ergebnisse und Risiken aufzuklären.“ So unterliegen insbesondere Maßnahmen der Diagnose, Früherkennung und Prophylaxe sowie Maßnahmen der Wunschmedizin und altruistisch motivierte Eingriffe strengeren Aufklärungsanforderungen als zwingend indizierte Eingriffe, vgl. BGH NJW 1991, 2349 (Faltenbeseitigung); BGH NJW 2009, 1209, 1210 (diagnostischer Eingriff); BGHZ 166, 336, 339 f. = NJW 2006, 2108 (Blutspende); zum Ganzen Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 28; v. Pentz, MedR 2011, 222, 225 f. 237 Umgekehrt gilt aber auch, dass therapeutische Gesichtspunkte das Maß der Aufklärungspflicht umso stärker begrenzen können, je dringlicher der Eingriff ist, Katzenmeier, Arzthaftung, S. 328 f.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 8 ff.; s. auch BGH NJW 1973, 556, 557; BGH NJW 1982, 2121; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 727 ff.; Damm/Schulte in den Bäumen, KritV 2005, 101, 107; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 399 f.; ablehnend Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 271, 279; krit. auch Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 178 f.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 130. 238 Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 101; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 149. 239 BGHZ 126, 386, 389 = NJW 1994, 3012 f.; BGH NJW 2010, 3230, 3231; BGH MedR 2010, 494, 495; BGH NJW 2011, 375; BGH NJW 2015, 74, 75; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 723 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 42 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 30 ff.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 393 ff.; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Rn. A 521, 1099 ff.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 199 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
nachhaltigen Einfluss auf die weitere Lebensplanung der Patientin haben.240 Handelt es sich um Erkenntnisse, die auf genetischen Daten beruhen, ist zudem unter Umständen nicht nur die untersuchte Person betroffen, sondern auch ihre Angehörigen. Zusätzlich zu den psychischen Belastungen können sich Risiken für den Betroffenen aus gegebenenfalls notwendigen Präventivmaßnahmen ergeben, denen aber häufig kein offensichtlicher Nutzen, wie in der kurativen Medizin, gegenübersteht. Einer krankhaften Entwicklung des Gesundheitszustandes soll ja gerade vorgebeugt werden.241 Die persönliche Abwägung der Vor- und Nachteile einer systemmedizinischen Untersuchung hat daher großes Gewicht.242 Voraussetzung für eine derartige Abwägung ist die Kenntnis aller wesentlichen Umstände. Vor Durchführung einer systemmedizinischen Untersuchung obliegen dem behandelnden Arzt mithin besonders umfangreiche und intensive Aufklärungspflichten. d) Zusätzliche Aufklärungspflichten Ergänzend zu den genannten allgemeinen Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht treffen den Arzt als einen Verantwortlichen für die Datenverarbeitung im Rahmen der Systemmedizin datenschutzrechtliche Aufklärungspflichten. Um die personenbezogenen Daten seines Patienten verarbeiten zu dürfen, hat er ihn über die wesentlichen Umstände der Datenverarbeitung, wie die Verarbeitungszwecke, in Kenntnis zu setzen. Denn die Wirksamkeit der Einwilligungserklärung des Patienten in die Verarbeitung seiner Daten setzt Kenntnis von der Sachlage voraus, Erwägungsgrund 42 DS-GVO.243 Bei der Verarbeitung von Gesundheitsdaten i. S. d. Art. 4 Nr. 15 DS-GVO hat der Arzt insbesondere darauf hinzuweisen, dass es sich um eine besonders schutzbedürftige Kategorie personenbezogener Daten handelt, Art. 9 Abs. 2 lit. a) DS-GVO.244 Werden zudem genetische Untersuchungen i. S. d. GenDG durchgeführt,245 hat der Arzt gemäß § 9 Abs. 1 GenDG über Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung aufzuklären.246 Der umfangreiche Mindestinhalt der Aufklärung, der gemäß § 9 Abs. 3 GenDG vor der Untersuchung zu dokumentieren ist, wird in § 9 Abs. 2 GenDG aufgezählt.247 So ist der Betroffene etwa gemäß 240
Vgl. Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 149; Regenbogen/Henn, MedR 2003, 152, 155. S. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zum Recht auf Nichtwissen, 2. Kap., A. II. 241 Vgl. Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 101. 242 Vgl. Schmidtke, Vererbung und Ererbtes, S. 81; Damm, MedR 1999, 437, 442; Stockter, Präventivmedizin und Informed Consent, S. 101. 243 Ausführlich zur Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b). 244 Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 48. 245 Zum Anwendungsbereich des GenDG bereits oben 2. Kap., B. III. 2. b) aa). 246 Zur Möglichkeit eines Aufklärungsverzichts s. Genenger, NJW 2010, 113, 115; Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 9 Rn. 8. 247 Darüber hinaus hat die GEKO von ihrer Ermächtigung in § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG Gebrauch gemacht und die Richtlinie für die Anforderungen an die Inhalte der Aufklärung bei genetischen Untersuchungen zu medizinischen Zwecken v. 28.4.2017, welche die Fassung v. 27.4.2012, zuletzt geändert am 16.11.2012, ersetzt, erlassen (abgedruckt in BuGBl.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
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§ 9 Abs. 2 Nr. 5 GenDG über sein Recht auf Nichtwissen einschließlich des Rechts, das Untersuchungsergebnis oder Teile davon nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern vernichten zu lassen, aufzuklären.248 e) Fazit Die Systemmedizin bedingt eine Erweiterung des ärztlichen Pflichtenkatalogs. Zusätzlich zu seinen allgemeinen ärztlichen Aufklärungspflichten obliegen dem Arzt nun auch datenschutzrechtliche Pflichten. Darüber hinaus ergeben sich neuartige inhaltliche Herausforderungen. Systemmedizinische Erkenntnisse sollen das Verständnis komplexer, multifaktoriell bedingter Krankheiten verbessern. Der behandelnde Arzt muss in der Lage sein die Ergebnisse systemmedizinischer Untersuchungen zu analysieren und in einem klinischen Zusammenhang zu interpretieren, um schließlich eine auf den individuellen Patienten abgestimmte Präventions- und Therapiestrategie zu entwickeln.249 Es ist Aufgabe des Arztes die durchaus komplizierten medizinischen Zusammenhänge inklusive der Auswirkungen auf die künftige private und berufliche Lebensführung des Patienten für den medizinischen Laien verständlich zu präsentieren. Die Vermittlung der wesentlichen Entscheidungsprämissen wahrt Freiheit und Würde des Patienten.250 Die Einführung der Systemmedizin stellt die Ärzteschaft vor neue Herausforderungen, für deren Bewältigung eine ausreichende Qualifikation unerlässlich ist. Dies setzt einerseits eine entsprechende fachliche Schulung voraus.251 Andererseits ist die medizinische Ausbildung um zwischenmenschliche und kommunikative Aspekte zur Förderung der Empathiefähigkeit zu ergänzen, sodass der einzelne Arzt besser auf die Gesprächsführung mit seinem Patienten vorbereitet ist.252 Die Aufgabe des Arztes bleibt dabei stets die Gleiche: Er hat auch noch so komplexe medizinische Erkenntnisse auf eine seinem konkreten Patienten angepasste, verständliche Art und Weise zu präsentieren, sodass dieser eine informierte Entschei-
2017, 923); krit. zur Frage der ausreichenden Legitimierung der GEKO und der Verbindlichkeit ihrer Mitteilungen und Richtlinien, Taupitz, MedR 2013, 1, 2 f.; zum Aufklärungsinhalt im Einzelnen Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 154 f.; Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 9 Rn. 9 ff.; Eberbach, MedR 2019, 1, 7 f. 248 Krit. hinsichtlich dieser Regelung Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, § 9 Rn. 21 f.; Eberbach, MedR 2019, 1, 8. Speziell zur Aufklärung über sog. Zufallsbefunde s. unten D. II. 249 Vgl. DGIM, DMW 2015, 523, 526 f.; s. auch Eberbach, MedR 2019, 111, 115. 250 BVerfG NJW 1979, 1925, 1930 f., aus dem Votum der Richter Hirsch, Niebler und Steinberger; Katzenmeier, MedR 2018, 367, 370. S. in diesem Zusammenhang ebenfalls Eberbach, MedR 2019, 111, 113, der die im medizinischen Alltag bestehenden Verständigungsdefizite zwischen Arzt und Patient anschaulich schildert. 251 Vgl. die Empfehlungen der DGIM zur Verbesserung der Aus- und Fortbildung von Medizinern, DGIM, DMW 2015, 523, 526, vornehmlich die Einbindung aller Aspekte der molekularen Medizin wird dringend angeraten; s. auch Fernau/Schleidgen/Schickhardt/ Oßa/Winkler, Ethik Med 2018, 307, 316, 320, die ein umfassendes Verständnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge als erforderlich erachten. 252 Eine kleine Auswahl von zur Förderung der Arzt-Patienten-Kommunikation gestartete Initiativen findet sich bei Eberbach, MedR 2019, 111, 114 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
dung hinsichtlich der weiteren Behandlung treffen kann.253 Dabei hat der Arzt den Balanceakt zu vollziehen, alle notwendigen Informationen zu vermitteln, ohne dabei seinen Patienten zu überfordern. 2. Wirksame Einwilligung des Patienten Mit Inkrafttreten des PatRG wurde die Pflicht zur rechtzeitigen Einholung254 der Einwilligung des Patienten vor Durchführung der medizinischen Maßnahme in § 630d Abs. 1 S. 1 BGB normiert.255 Die Rechtsprechung qualifiziert die Einwilligung nicht als rechtsgeschäftliche Willenserklärung, sondern als rechtsgeschäftsähnliche „Gestattung oder Ermächtigung zur Vornahme tatsächlicher Handlungen, die in den Rechtskreis des Gestattenden eingreifen“.256 Für ihre Auslegung finden jedoch die Grundsätze der Auslegung von Willenserklärungen entsprechende Anwendung.257 Ein bestimmtes Formerfordernis für die Erteilung der Einwilligung existiert nicht. Sie kann sowohl ausdrücklich als auch in schlüssiger Form erfolgen.258 Ebenso ist der Widerruf (bis zum Eingriff) jederzeit und ohne Angabe von Gründen formlos möglich, § 630d Abs. 3 BGB.259 Mit der Einwilligung drückt der Patient seine Zustimmung zu der Durchführung der von seinem Arzt vorgeschlagenen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme aus.260 Dabei bezieht sich sein Einverständnis nur auf den lege artis durchgeführten Eingriff. Ausgeschlossen sind Behandlungsfehler; in diese willigt der Patient auch nicht konkludent ein.261 Eine wirksame Einwilligung fehlt, wenn der Patient nicht die Fähigkeit besitzt, Bedeutung und Tragweite des Eingriffs zu erkennen und darüber selbstverantwortlich zu entscheiden, mithin einwilligungsunfähig ist.262 253
Vgl. Eberbach, MedR 2019, 111, 116. Zur Rechtzeitigkeit der Einholung Voigt, in: NK-BGB, § 630d Rn. 8. 255 Kann eine Einwilligung für eine unaufschiebbare Maßnahme nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf die Maßnahme ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht, § 630d Abs. 1 S. 4 BGB; s. hierzu Voigt, in: NK-BGB, § 630d Rn. 4 ff. 256 BGHZ 29, 33, 36 = NJW 1959, 811; BGHZ 105, 45, 47 f. = NJW 1988, 2946, 2947; zustimmend Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 419 ff.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 457; a. A. Ohly, „Volenti non fit iniuira“, S. 178 ff., 201 ff., 221 ff., 238 ff.; zum Meinungsstand Diederichsen, in: FS Hirsch, S. 355 f. 257 BGH NJW 1980, 1903; BGH NJW 1992, 1558, 1559; s. auch Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 150; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 17; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 457. 258 Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 150; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 422; Voigt, in: NK-BGB, § 630d Rn. 13. 259 Rehborn, GesR 2013, 257, 263; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 422. 260 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 414 f.; Voigt, in: NK-BGB, § 630d Rn. 3; eingehend zur Reichweite der Einwilligungserklärung Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 237 ff. 261 BGHSt 43, 306, 309 = NJW 1998, 1802, 1803; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 418. 262 Die Einwilligungsfähigkeit ist bei Erwachsenen keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Einwilligung. Vielmehr ist ihr Fehlen ein Grund für die Unwirksamkeit der Einwilligung, vgl. § 630d Abs. 1 S. 2 BGB. Maßstab ist die natürliche Willensfähigkeit des Patien254
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
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Neben der Eingriffseinwilligung spielt im Rahmen der Systemmedizin auch die Einwilligung in die Datenverarbeitung eine tragende Rolle.263 Um die personenbezogenen Daten seines Patienten verarbeiten zu dürfen, hat der Arzt grundsätzlich dessen Einverständnis einzuholen, Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO. Für die Verarbeitung von Gesundheitsdaten i. S. d. Art. 4 Nr. 15 DS-GVO bedarf es gar einer expliziten Einwilligung, Art. 9 Abs. 2 lit. a) DS-GVO. Da Gesundheitsdaten als besondere Kategorie personenbezogener Daten ein erhöhtes Schutzniveau genießen, sind in der Einwilligung zudem ein oder mehrere Verarbeitungszwecke ausdrücklich festzulegen, auf die sich die Einwilligung ausschließlich bezieht.264 Eine Einwilligung ist entbehrlich, wenn ein anderer Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 DS-GVO beziehungsweise Art. 9 Abs. 2 DS-GVO, § 22 Abs. 1 Nr. 1 BDSG vorliegt.265 Zusätzlich zu den allgemeinen datenschutzrechtlichen Vorschriften sind auch die Vorgaben des GenDG zu beachten, sofern genetische Daten i. S. d. GenDG verarbeitet werden. Um die zu untersuchende Person vor übereilten Entscheidungen zu bewahren,266 ist gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 GenDG eine ausdrückliche und schriftliche Einwilligung nach hinreichender Aufklärung einzuholen. Eine konkludente oder gar mutmaßliche Einwilligung ist hingegen nicht ausreichend.267 Inhaltlich umfasst die Einwilligung sowohl die Entscheidung über den Umfang der genetischen Untersuchung als auch darüber, ob und inwieweit das Untersuchungsergebnis zur Kenntnis zu geben oder zu vernichten ist, § 8 Abs. 1 S. 2 GenDG.268 Der Widerruf der Einwilligung mit Wirkung für die Zukunft ist jederzeit mündlich oder schriftlich gegenüber der verantwortlichen ärztlichen Person möglich, § 8 Abs. 2 GenDG.269 Eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Einwilligungserklärungen ist ihre normative Wurzel im Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die Behandlungseinwilligung schützt den Patienten vor ungewollten Eingriffen in seine körperliche ten, seine natürliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, s. hierzu Lipp, in: Beck, Krankheit und Recht, S. 171, 185 f.; BT-Drs. 17/10488, S. 23; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/ Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 51. Umfassend zu den Grundlagen der Einwilligungsfähigkeit Genske, Gesundheit und Selbstbestimmung – Voraussetzungen und Folgen der Einwilligungs(un)fähigkeit von Patienten. 263 Zu der Frage, ob Einwilligungserklärungen in der Systemmedizin noch eine hinreichende Legitimationsgrundlage für die Datenverarbeitung bieten können s. bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b) bb). 264 Plath, in: Plath, DSGVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 13. 265 In Betracht kommt hier vorrangig Art. 9 Abs. 2 lit. h) DS-GVO. Eingehend zur Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung, einschließlich der Anforderungen an die Einwilligungserklärung s. bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b). 266 BT-Drs. 16/10532, S. 26; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 8 GenDG Rn. 1; Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 8 Rn. 1. 267 Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 8 Rn. 1. 268 Die untersuchte Person hat nur die Wahl zwischen Kenntnisnahme oder Vernichtung der Ergebnisse. Die Befunde erst zur Kenntnis zu nehmen und anschließend vernichten zu lassen, ist nicht möglich. Einmal mitgeteilte Ergebnisse werden Teil der Behandlungsunterlagen, BT-Drs. 16/10532, S. 26; Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 8 Rn. 9; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 8 GenDG Rn. 1. 269 Zu den Widerrufsfolgen Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 8 Rn. 12 ff.
162
3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Integrität. Die datenschutzrechtliche Einwilligung eröffnet ihm die Möglichkeit seiner informationellen Selbstbestimmung Ausdruck zu verleihen. 3. Fazit und Ausblick Der Heileingriff, der ohne Einwilligung des Patienten oder nach unzulänglicher Selbstbestimmungsaufklärung vorgenommen wird, ist grundsätzlich rechtswidrig. Für die mit der Behandlung verbundenen nachteiligen Folgen haftet der verantwortliche Arzt, sofern er durch den Eingriff schuldhaft einen Gesundheitsschaden seines Patienten verursacht hat.270 Die Auffassung, nach der eine ärztliche Heilbehandlung ohne rechtfertigende Einwilligung primär als Persönlichkeitsverletzung zu qualifizieren sei und deshalb auch ohne einen vom Arzt verursachten Gesundheitsschaden zu einer Haftung führe,271 hat der BGH mit Verweis auf die sonst drohende Ausuferung der ärztlichen Einstandspflicht, zurückgewiesen.272 Die Datenverarbeitung, die ohne wirksame Einwilligung des Patienten durchgeführt wird, ist unrechtmäßig, sofern kein anderer gesetzlicher Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 DS-GVO beziehungsweise Art. 9 Abs. 2 DS-GVO, § 22 Abs. 1 Nr. 1 BDSG eingreift. Die auf Grundlage einer unwirksamen Einwilligung erhobenen Daten sind zu löschen, Art. 17 lit. d) DS-GVO, es sei denn, der Patient willigt erneut in die Verarbeitung seiner Daten ein.273 Der Arzt ist bei Verstoß gegen die Art. 5, 6, 7, 9 DS-GVO Schadensersatzansprüchen seines Patienten ausgesetzt, Art. 82 DS-GVO.274
270
BGHZ 106, 391, 398 = NJW 1989, 1533, 1535; BGHZ 176, 342, 347 = NJW 2008, 2344, 2345; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 5, 65 m. w. Rspr.-N.; zu den Verteidigungsmöglichkeiten des Arztes bei Aufklärungsmängeln Frahm/ Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 221 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 66 ff.; eingehend zum Aufklärungsfehler als Grundlage ärztlicher Haftung G. Müller, in: FS Geiß, S. 461; speziell zur vertraglichen Haftung des Arztes Voigt, in: NK-BGB, § 630d Rn. 18 ff., § 630e Rn. 14 ff. 271 OLG Jena VersR 1998, 586, 588 m. w. N.; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 53. Für eine auch ohne Rechtsgutsverletzung bestehende Einstandspflicht nach den §§ 280 ff. BGB Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 137 ff.; a. A. Wagner, VersR 2012, 789, 791. 272 BGHZ 176, 342, 347 = NJW 2008, 2344, 2345; vgl. zur Problematik auch Katzenmeier, Arzthaftung, S. 111 ff., 118 ff.; G. Müller, in: FS Geiß, S. 461, 463 f.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. C 150; Wagner, in: MüKo-BGB, § 630e Rn. 73. 273 Die Rechtswidrigkeit der Verarbeitung für die Vergangenheit kann damit freilich nicht beseitigt werden. Denn die betroffene Person muss im Hinblick auf den Transparenzgedanken (Art. 5 Abs. 1 lit. a), Art. 13 Abs. 1 lit. c) DS-GVO) stets (zutreffende) Kenntnis davon haben, auf welcher Grundlage ihre Daten verarbeitet werden. Ein nachträgliches Auswechseln der Rechtsgrundlage scheidet aufgrund der eindeutigen Regelung in Art. 17 lit. d) DSGVO regelmäßig aus, Stemmer, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 7 DSGVO Rn. 95. 274 Stemmer, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 7 DS-GVO Rn. 96; zum Schadensersatzanspruch gemäß Art. 82 DS-GVO Quaas, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 82 DS-GVO; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 8 Rn. 20 ff.
B. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns
163
Wird die genetische Untersuchung ohne Einwilligung des Patienten oder nach unzulänglicher Aufklärung durchgeführt, stehen dem Patienten Schadensersatzansprüche nach den allgemeinen Vorschriften zu.275 Das Haftungsrisiko des Arztes nimmt in dem Maße zu, in dem auch die Anforderungen an die ärztliche Aufklärung und die Einholung der Patienteneinwilligung steigen. Die angestrebte umfangreiche Datenverarbeitung sowie die komplexen systemmedizinischen Erkenntnisse mit vielfach psychosozialen Implikationen erweitern qualitativ und quantitativ das ärztliche Pflichtenprogramm. Das ärztliche Aufklärungsgespräch hat künftig sowohl den Anforderungen der DS-GVO, des GenDG als auch des BGB zu genügen. Als wäre die Befolgung unterschiedlicher Gesetzestexte nicht bereits anspruchsvoll genug, sind die einzelnen Normvorgaben zudem nicht kongruent. So ist in § 9 Abs. 2 Nr. 5 GenDG explizit die Aufklärung über das Recht des Patienten auf Nichtwissen festgehalten, in § 630e BGB hingegen nicht. In Anbetracht der oftmals weitreichenden Konsequenzen, die mit dem Wissen um systemmedizinische Erkenntnisse verbunden sind, ist zu überlegen, eine derartige Aufklärungspflicht auch auf Bereiche außerhalb des GenDG zu erstrecken. Das Bedürfnis informationell verschont zu bleiben, ist nicht auf genetisch bedingte Erkrankungen begrenzt.276 Zumal der behandelnde Arzt in der Systemmedizin ohnehin nicht erkennen könnte, welche Erkenntnisse er auf Grundlage von genetischen Daten i. S. d. GenDG gewinnt, die eine entsprechende Aufklärungspflicht auslösen würden, und welche auf sonstigen Daten beruhen. Vor Erhebung der Daten sollte der Patient also auf die diagnostizier- und künftig erwartbaren Erkrankungen hingewiesen werden, sodass er sein Informationsverlangen und damit den Untersuchungsauftrag nach seinen persönlichen Bedürfnissen gegebenenfalls einschränken kann. Auch im Anschluss an die Untersuchung sollte der Betroffene noch die Möglichkeit haben, sein Informationsbedürfnis abzuändern bis hin zu einer vollständigen Informationsverweigerung. Nur so kann der informationsrechtlichen Einwilligung des Patienten tatsächlich die nötige Substanz verliehen werden.277 Für die Einholung der Patienteneinwilligung ergibt sich ein ähnliches Bild. Während die Einwilligungen in die medizinische Behandlung und die Verarbeitung personenbezogener Daten nicht an ein bestimmtes Formerfordernis gebunden sind (§ 630d Abs. 3 BGB, Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO) unterliegen die Einverständniserklärungen in die Verarbeitung von Gesundheitsdaten i. S. d. DS-GVO und genetischen Daten i. S. d. GenDG strengeren Anforderungen (Art. 9 Abs. 2 lit. a) DS-GVO, § 8 GenDG). Allen Einwilligungserklärungen gemeinsam ist
275
Bei Verstößen gegen den Einwilligungsvorbehalt kommen insbes. Schadensersatzansprüche gemäß § 823 Abs. 1 BGB wegen Beeinträchtigung der Gesundheit und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in Betracht, Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 8 GenDG Rn. 25, § 9 GenDG Rn. 27. 276 Vgl. Duttge, MedR 2016, 664, 666; s. hierzu auch die Empfehlungen zum Umgang mit dem Recht auf Nichtwissen in der klinischen Praxis der BMBF-Projektgruppe „Recht auf Nichtwissen“ in MedR 2016, 399. Zur Anerkennung des Rechts auf Nichtwissen auch außerhalb des GenDG bereits oben 2. Kap., A. II. 2. 277 Vgl. Duttge, MedR 2016, 664, 668. Vgl. hierzu auch bereits die Ausführungen in 2. Kap., A. II. 5.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
hingegen ihre freie Widerrufbarkeit, vgl. § 8 Abs. 2 GenDG, Art. 7 Abs. 3 DSGVO, § 630d Abs. 3 BGB. Die exemplarisch aufgezeigten Friktionen zwischen DS-GVO, GenDG und BGB führen in der Systemmedizin, die ihren Erkenntnisgewinn gerade auf der Zusammenführung zahlreicher, verschiedener Datentypen gründet, zu massiven Schwierigkeiten. Es wird vielfach nicht möglich sein, nach allgemeinen personenbezogenen, besonders schutzwürdigen personenbezogenen und nach genetischen Daten zu differenzieren.278 Der Arzt ist daher gut beraten, die jeweils strengeren Auflagen zu beachten. So sollte er sich etwa bei der Einholung der Patienteneinwilligung an Art. 9 Abs. 2 lit. a) DS-GVO beziehungsweise § 8 GenDG orientieren und nicht lediglich an den weniger strengen Vorgaben des § 630d Abs. 3 BGB beziehungsweise Art. 6 Abs. 1 lit. a) DS-GVO. Im Falle der Erteilung einer wirksamen Einwilligung nach hinreichender Aufklärung wird der Arzt nicht aus seiner beruflichen Verantwortung für medizinisch, rechtlich und ethisch einwandfreies Verhalten entlassen.279 Auch während des weiteren Behandlungsgeschehens unterliegt er einem umfangreichen Katalog ärztlicher Pflichten.
Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
Die Systemmedizin wirkt sich nicht lediglich auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns aus, vielmehr steigen auch die Anforderungen für die weiteren Informationspflichten des Arztes. Ferner ergeben sich Implikationen für die ärztliche Schweigepflicht.
I. Informationspflichten im weiteren Sinne Neben der Selbstbestimmungsaufklärung obliegen dem Arzt weitere Informationspflichten in Gestalt der therapeutischen und der wirtschaftlichen Information, § 630c BGB. Sofern genetische Untersuchungen i. S. d. GenDG durchgeführt werden, sind überdies die Beratungspflichten gemäß § 10 GenDG zu beachten. Im Hinblick auf die Datenverarbeitung hat der Arzt die Informationspflichten des Art. 13 DS-GVO zu erfüllen. 1. Therapeutische Information Die aus therapeutischen Gründen gebotene Information des Patienten (sog. Sicherungsaufklärung) ist nunmehr in § 630c Abs. 2 S. 1 BGB kodifiziert.280 Gemäß § 630c Abs. 2 S. 1 BGB ist der Behandelnde verpflichtet, dem Patienten in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung und, soweit erforderlich, in deren 278
Zur Sinnhaftigkeit der Differenzierung zwischen personenbezogenen und besonderen Kategorien personenbezogener Daten s. bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b) bb) (1). 279 Vgl. Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 212; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 380. 280 Eine Abgrenzung von Selbstbestimmungs- und Sicherungsaufklärung anhand von Rechtsprechungsbeispielen findet sich bei Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 383 ff.; s. auch Wagner, in: MüKo-BGB, § 630c Rn. 14.
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
165
Verlauf sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnose, die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die zu und nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen.281 Die Sicherungsaufklärung dient dem gesundheitlichen Wohl des Patienten.282 Dieser ist über ein therapierichtiges Verhalten zu informieren, wozu die zur Sicherstellung des Heilerfolges notwendige Erteilung von Schutz- und Warnhinweisen zwecks Befolgung ärztlicher Ratschläge („Compliance“), Mitwirkung des Patienten am Heilungsprozess und Vermeidung möglicher Selbstgefährdung gehört.283 So soll der Patient veranlasst werden, auch im Anschluss an die Behandlung, eine seinem Zustand entsprechende Lebensweise zu führen, gebotene Selbstschutzmaßnahmen zu ergreifen oder verordnete Medikamente richtig einzunehmen.284 Die therapeutische Information ist nicht wie die Selbstbestimmungsaufklärung Wirksamkeitsvoraussetzung der Einwilligung, sondern notwendiger Bestandteil der fachgerechten ärztlichen Behandlung. Ihre nicht ordnungsgemäße Erfüllung begründet einen Behandlungsfehler.285 Durch eine umfassendere und genauere Diagnostik sind Therapien und Präventionsmaßnahmen in der Systemmedizin besser auf den einzelnen Patienten zugeschnitten, was ihre Wirksamkeit steigert. Zur Entwicklung einer maßgeschneiderten Therapie und auch für deren Anwendung ist die Mitwirkung des Patienten unerlässlich. So ist der Arzt für die Diagnosestellung auf die personenbezogenen Daten seines Patienten angewiesen. Ihre optimale Wirkung können Medikamente nur entfalten, wenn sie vorschriftsgemäß eingenommen werden. Auch der Erfolg einer angeordneten Therapie hängt vom Engagement und Willen des Patienten ab. Notwendige Voraussetzung für die Steigerung der Heilungschancen ist also die Mitwirkung des Patienten. Um sich sinnvoll am Behandlungsgeschehen beteiligen zu können, ist eine umfassende Aufklärung über die therapeutischen Gesichts281 Erläuterungen über Diagnose und Therapie sind auch Bestandteil der Selbstbestimmungsaufklärung gemäß § 630e Abs. 1 S. 2 BGB. Insofern kommt es hier zu einer unglücklichen Dopplung von identischen ärztlichen Pflichten, Spickhoff, ZRP 2012, 65, 67; ders., VersR 2013, 267, 272 f.; Katzenmeier, NJW 2013, 817, 818; Probleme in der praktischen Anwendung sind jedoch nicht zu befürchten, Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 117. 282 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 17. 283 Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 95; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 16; s. auch Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 141; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 117; Wagner, in: MüKo-BGB, § 630c Rn. 16 ff. Die Umstände des Einzelfalls sind maßgebend für die Intensität der Sicherungsaufklärung, Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 98. 284 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 17; weitere Beispiele aus der Rspr. bei Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 95 f.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 383. 285 BGHZ 107, 222, 225 = NJW 1989, 2318, 2319; BGHZ 126, 386, 388 = NJW 1994, 3012; BGH NJW 1972, 335, 336; Rechtsprechungsübersicht bei Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 97 ff.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 383; s. auch Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 141, 347; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 71 Rn. 1; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 16; Frahm/ Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 117; Wagner, in: MüKo-BGB, § 630c Rn. 15.
166
3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
punkte unerlässlich. Die therapeutische Information ist in der Systemmedizin mithin von immenser Bedeutung. Sie bildet die Basis für einen erfolgreichen Heilungs- beziehungsweise Präventionsprozess.286 2. Wirtschaftliche Information Die seit Inkrafttreten des PatRG in § 630c Abs. 3 BGB normierte wirtschaftliche Informationspflicht gebietet dem Arzt, seinen Patienten auf mögliche wirtschaftliche Folgen einer Behandlung hinzuweisen, insbesondere darauf, dass die Kosten von dem Krankenversicherer nicht oder nicht vollständig übernommen oder erstattet werden.287 Die Unterrichtung hat in Textform, § 126b BGB, vor Beginn der Behandlung zu erfolgen, § 630c Abs. 3 S. 1 BGB.288 Auch wenn die wirtschaftliche Aufklärung grundsätzlich wesensverschieden von der Selbstbestimmungsaufklärung ist,289 können sich inhaltliche Überschneidungen ergeben. So etwa, wenn die nicht von der GKV übernommene Therapie einen weniger massiven, schonenderen Weg zur Heilung bietet als vom Leistungsumfang umfasste Maßnahmen. Ist der Arzt der Überzeugung, mit der nicht vom Leistungskatalog umfassten Therapie die bestmöglichen Behandlungsergebnisse erzielen zu können, hat er seinen Patienten auf die Möglichkeit der Eigenfinanzierung hinzuweisen.290 Um den Arzt nicht zunehmend in die ihm wesensfremde Rolle des Verwalters fremder Vermögensangelegenheiten zu drängen, ist die Informationspflicht an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.291 Der Patient ist nur insoweit über die voraussichtlichen Behandlungskosten292 zu informieren, als der behandelnde Arzt positive Kenntnis von der Unsicherheit der Kostenübernahme durch einen Dritten
286
Die Mitwirkung des Patienten am Heilungsprozess ist auch bei anderen medizinischen Ansätzen von großer Wichtigkeit, bspw. in der individualisierten Medizin, s. hierzu Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 157 f. 287 So bereits vor Inkrafttreten des PatRG die gefestigte Rspr., vgl. BGH NJW 1983, 2630; OLG Stuttgart VersR 2013, 462; Gegenüberstellung der bisherigen und der aktuellen Rechtslage bei Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 156 ff.; s. auch Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 267; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. 96; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 388 jeweils m. w. N. 288 Zum Formerfordernis und den Rechtsfolgen eines Formverstoßes eingehend Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 162 ff. 289 Zur Abgrenzung s. Schelling, MedR 2004, 422, 426. 290 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 21; vgl. hierzu auch Arnade, Kostendruck und Standard, S. 222; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 3 Rn. 35 ff., § 64 Rn. 31. Zur wirtschaftlichen Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen, die nicht vom Leistungskatalog der GKV erfasst sind Schelling, MedR 2004, 422, 427 f. Eine grundsätzliche Unterrichtung des Kassenpatienten über die Möglichkeit der Eigenfinanzierung wird indes krit. gesehen, vgl. Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 389. 291 Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4(2010), § 61 Rn. 17; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 22. 292 Unklar ist in diesem Zusammenhang, ob ein allgemeiner Hinweis auf die fehlende Kostenübernahme durch den Versicherer genügt, oder ob konkrete Angaben zur Kostenhöhe erforderlich sind, s. hierzu Rehborn, GesR 2013, 257, 262.
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hat293 oder sich nach den Umständen hierfür hinreichende Anhaltspunkte ergeben, § 630c Abs. 3 S. 1 BGB.294 Leistungen, die der Arzt pflichtwidrig ohne Unterrichtung über die fehlende Kostendeckung oder Übernahme durch die Kassen erbringt, kann er nicht gegenüber dem Patienten liquidieren.295 Die Wirksamkeit der Einwilligung des Patienten in die Behandlung selbst wird durch eine Verletzung der wirtschaftlichen Informationspflicht grundsätzlich nicht berührt.296 Die ärztliche Pflicht, finanzielle Folgen der medizinischen Behandlung mit dem Patienten zu erörtern, gewinnt in dem Maße an Relevanz, in dem es aufgrund sozialpolitischer Entscheidungen zu Kürzungen im Leistungssystem der Krankenkassen kommt.297 Der Systemmedizin wird das Potenzial zugeschrieben die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Dies soll unter anderem durch einen verstärkten Fokus auf prädiktive Untersuchungen gelingen. Ziel ist es, auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse geeignete Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Insbesondere bei prädiktiven Untersuchungen ist es allerdings häufig zweifelhaft, ob diese notwendig i. S. d. § 12 SGB V sind. Notwendig i. S. d. § 12 SGB V sind nur solche Methoden, die „zwangsläufig, unentbehrlich oder unvermeidlich“298 sind, um Erkrankungen zu erkennen, zu behandeln oder zu verhüten.299 Dieses Kriterium gilt bei prädiktiven Gentests, die ohne jegliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Prädisposition durchgeführt werden, als nicht erfüllt.300 Wird eine Methode nicht als notwendig i. S. d. § 12 SGB V anerkannt, wird sie nicht in den Leis293 Ein „Wissen über die Ungewissheit“ ist also ausreichend, Spickhoff, VersR 2013, 267, 274. 294 Der Gesetzgeber begründet die wirtschaftliche Informationspflicht mit dem Wissensvorsprung des Arztes, zumindest ggü. dem gesetzlich krankenversicherten Patienten. Bei dem privat Krankenversicherten liege die Kenntnis über Inhalt und Umfang des mit der Krankenversicherung geschlossenen Vertrages hingegen grundsätzlich im Verantwortungsbereich des Patienten. Etwas anderes gelte aber auch hier bei bestehendem Informationsvorsprung des Arztes, wenn bspw. sog. Individuelle Gesundheitsleistungen erbracht werden, BT-Drs. 17/10488, S. 22; s. hierzu auch Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 155 ff.; Katzenmeier, NJW 2013, 817, 819. Angesichts der sich ständig ändernden Rechtsgrundlangen im GKV-Recht und der entsprechenden Erstattungsfähigkeit sei ein entsprechender Wissensvorsprung des Arztes allerdings zweifelhaft, Spickhoff, VersR 2013, 267, 274. 295 BT-Drs. 17/10488, S. 22. Der Gesetzgeber nimmt damit Bezug auf die Spruchpraxis der Gerichte, wonach die ärztliche Pflichtverletzung einen Schadensersatzanspruch des Patienten begründet, mit dem dieser aufrechnen kann, BGH NJW 2000, 3429, 3431 f.; zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes s. auch Katzenmeier, NJW 2013, 817, 819; Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 158 ff. 296 Schelling, MedR 2004, 422, 426; Voigt, Individuelle Gesundheitsleistungen, S. 155. 297 Laufs, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4(2010), § 61 Rn. 17; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. V Rn. 22; Schelling, MedR 2004, 422. 298 BSG SozR 2200 § 182b Nr. 25, S. 63, 66 und Nr. 26, S. 67, 68. 299 Roters, in: KassKomm, SGB V, § 12 Rn. 39; Scholz, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 12 Rn. 8; s. auch Wagner, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, SGB V, § 12 Rn. 9. 300 Vgl. Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 455; Scholz, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 12 Rn. 8.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
tungskatalog der GKV aufgenommen.301 Eine Pflicht zur Kostenübernahme durch die GKV scheidet somit grundsätzlich aus. Ist dem Arzt bekannt, dass die beabsichtigte prädiktive Untersuchung nicht zu Lasten der GKV abgerechnet werden kann, hat er seinen Patienten hierüber zu informieren. Je mehr prädiktive Untersuchungsmethoden in der Systemmedizin zum Einsatz kommen, desto stärker gewinnt die wirtschaftliche Informationspflicht des Arztes an Bedeutung. 3. Genetische Beratung Darüber hinaus obliegen dem behandelnden Arzt gegebenenfalls Beratungspflichten bei Vornahme genetischer Untersuchungen i. S. d. GenDG.302 In § 10 GenDG ist eine Abstufung der Beratungspflichten entsprechend den unterschiedlichen Beratungsanforderungen bei diagnostischen und prädiktiven genetischen Untersuchungen vorgesehen.303 Wird eine prädiktive genetische Untersuchung beabsichtigt, hat ein gemäß § 7 Abs. 1, 3 GenDG qualifizierter Arzt304 eine genetische Beratung zwingend vor und nach der Untersuchung durchzuführen, wobei dem Betroffenen die Möglichkeit des schriftlichen Beratungsverzichts, nach vorheriger schriftlicher Information über die Beratungsinhalte, offensteht, § 10 Abs. 2 S. 1 GenDG.305 Für diagnostische Untersuchungen genügt grundsätzlich das Angebot einer genetischen Beratung nach Vorliegen der Ergebnisse. § 10 Abs. 1 S. 1 GenDG ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet. Wird mit der Untersuchung jedoch eine nicht behandelbare Erkrankung oder gesundheitliche Störung festgestellt, ist es für den verantwortlichen Arzt obligatorisch, ein Beratungsangebot zu unterbreiten, § 10 Abs. 1 S. 2 GenDG. Auch hier gilt, dass die Beratung durch einen gemäß § 7 Abs. 1, 3 GenDG qualifizierten Arzt zu erfolgen hat.306 Gemäß § 10 Abs. 3 S. 1 GenDG erfolgt die genetische Beratung in allgemein verständlicher Form und ergebnisoffen. Im persönlichen Gespräch sind die indivi-
301
Zu den Kriterien für die Aufnahme von Leistungen in den Leistungskatalog der GKV s. Wagner, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, SGB V, § 12; Vossen, ebd., § 135. 302 Zum Begriff der Beratung in Abgrenzung zur ärztlichen Aufklärung Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 160 ff. 303 BT-Drs. 16/10532, S. 28; Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 10 Rn. 5; Schillhorn/ Heidemann, Praxiskommentar GenDG, § 10 Rn. 4 ff.; Genenger, NJW 2010, 113, 115. Zu den unterschiedlichen Zielsetzungen von diagnostischen und prädiktiven genetischen Untersuchungen s. oben 1. Kap., A. II. 3. 304 Zu den Anforderungen an die Qualifikation zur Beratung s. die Richtlinie der GEKO über die Anforderungen an die Qualifikation zur und die Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG v. 1.7.2011, BuGBl. 2011, 1248, 1252 ff. 305 Näher zur Beratung bei prädiktiven genetischen Untersuchungen Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 10 Rn. 8 ff.; Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, § 10 Rn. 11 ff. 306 S. hierzu die Gesetzesbegründung zu § 10 GenDG, BT-Drs. 16/10532, S. 28; vgl. auch Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 10 Rn. 7; Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, § 10 Rn. 7 ff.; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 10 GenDG Rn. 1.
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duellen Werthaltungen und religiösen Einstellungen sowie die psychosoziale Situation der betroffenen Person zu berücksichtigen.307 Inhalt der Beratung ist insbesondere die Erörterung der medizinischen, psychischen und sozialen Fragen im Zusammenhang mit der (Nicht-)Vornahme der Untersuchung und ihren Ergebnissen sowie der Möglichkeiten zur Unterstützung bei physischen und psychischen Belastungen durch Untersuchung und/oder Ergebnis, § 10 Abs. 3 S. 2 GenDG. Während der Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 GenDG einen detaillierten Aufklärungskatalog normiert hat, beschränkt er sich bei der genetischen Beratung auf eine Rahmenvorgabe.308 Weitere Konkretisierungen bezüglich der Beratungsinhalte erfolgen durch die Richtlinie der GEKO über die Anforderungen an die Qualifikation zur und die Inhalte der genetischen Beratung.309 Ist anzunehmen, dass genetisch Verwandte der betroffenen Person Träger der zu untersuchenden genetischen Eigenschaften mit Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung oder gesundheitliche Störung sind, umfasst die genetische Beratung auch die Empfehlung, diesen Verwandten eine genetische Beratung zu empfehlen, § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG.310 Die Frage, ob und wenn ja, welche Rechtsfolgen eine unterbliebene oder fehlerhafte Beratung nach sich zieht, hat der Gesetzgeber im GenDG selbst nicht beantwortet. Auch die Gesetzesbegründung liefert keine eindeutigen Hinweise.311 Es besteht jedoch insoweit Einigkeit, als dass Beratungsmängel grundsätzlich sanktionierbar sind.312 Die rechtliche Einordnung des Beratungsfehlers ist hingegen Gegenstand kontroverser Diskussion. Einerseits wird die fehlerhafte Beratung als Behandlungsfehler qualifiziert.313 Andererseits wird nach der Zweckrichtung der Beratungsinhalte, Autonomie- oder Gesundheitsschutz, differenziert. Beziehen sich die Verfehlungen auf die zu vermittelnden gesundheitsspezifischen Informationen, käme eine Sanktionierung als Behandlungsfehler in Betracht. Seien hingegen die autonomiebezogenen Beratungsinhalte betroffen, sei eine rechtliche Sanktionierung als Beratungsfehler anzunehmen.314 Jedenfalls haben Pflichtverstöße anlässlich der genetischen Beratung keine Auswirkungen auf die Einwilligung des 307
Richtlinie der GEKO über die Anforderungen an die Qualifikation zur und die Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG v. 1.7.2011, BuGBl. 2011, 1248, 1250. Näher zu Art und Weise der genetischen Beratung, insbesondere zum Grundsatz der Nichtdirektivität der Beratung Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 163 f. 308 Damm, GesR 2009, 57, 65; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 164. 309 Zusätzlich zu den allgemeinen inhaltlichen Vorgaben sind in der Richtlinie auch spezielle Beratungsinhalte in Abhängigkeit vom Typ der genetischen Beratung enthalten, s. Richtlinie der GEKO über die Anforderungen an die Qualifikation zur und die Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 Nr. 3 GenDG v. 1.7.2011, BuGBl. 2011, 1248, 1250 f. Eine systematische Einordnung der einzelnen Beratungsinhalte findet sich bei Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 166 f. 310 Zur Problematik der mitbetroffenen Verwandten sogleich unten C. II. 5. 311 Vgl. die interpretationsbedürftigen Formulierungen auf S. 28 der BT-Drs. 16/10532. 312 Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 10 Rn. 20; Damm, MedR 2006, 1, 13; Damm, GesR 2009, 57, 62; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 168. 313 Kern, in: Hillenkamp, Medizinrechtliche Probleme der Humangenetik, S. 17, 24; ders., in: Kern, GenDG Kommentar, § 10 Rn. 20. 314 Damm, MedR 2006, 1, 9, 13; ders., GesR 2009, 57, 62 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Betroffenen in die Vornahme der genetischen Untersuchung und die Gewinnung der hierfür erforderlichen Proben. Denn die Wirksamkeit der Einwilligung gemäß § 8 GenDG ist an die von der genetischen Beratung rechtlich zu trennende, ordnungsgemäße Selbstbestimmungsaufklärung gebunden.315 Die Differenzierung zwischen Aufklärung und genetischer Beratung gestaltet sich allerdings aufgrund inhaltlicher Überschneidungen in der Praxis mitunter schwierig. Als Richtschnur für die Abgrenzung können die unterschiedlichen Bezugspunkte herangezogen werden: Während die Aufklärung sich auf die genetische Untersuchung selbst, einschließlich Probennahme und Ergebnis, bezieht, ist die genetische Beratung stärker auf den Umgang mit dem Untersuchungsergebnis und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für den Betroffenen ausgerichtet. Die Beratung geht also über den Inhalt der Aufklärung hinaus.316 Sofern für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn genetische Daten, die dem Schutz des GenDG unterfallen, von Relevanz sind, hat der behandelnde Arzt im Zuge der durchzuführenden genetischen Untersuchung die besonderen Beratungspflichten des § 10 GenDG zu beachten. Eine genetische Beratung, die den Betroffenen über die medizinischen Fakten hinaus zusätzlich über die Konsequenzen des Untersuchungsergebnisses für seine weitere Lebensführung unterrichtet, erscheint jedoch auch für Testergebnisse sinnvoll, die nicht ausschließlich auf Grundlage genetischer Daten gewonnen werden. Denn auch Erkenntnisse, die mithilfe einer Zusammenführung unterschiedlichster Datenkategorien (neben genetischen etwa auch soziodemographische oder neuropsychologische Daten) ermittelt werden, können weitreichende Folgen für die Lebensplanung des Betroffenen haben.317 Die Durchführung einer der genetischen Beratung i. S. d. § 10 GenDG vergleichbaren Beratung für systemmedizinische Erkenntnisse sollte daher in Betracht gezogen werden. Die ärztliche Aufklärung im Sinne einer maßnahmenbezogenen Interventionsinformation wird auf diese Weise um eine abstrakte medizinisch-wissenschaftliche, auch soziale Implikationsberatung ergänzt. Eine derartige Beratung ist ferner vor dem Hintergrund wünschenswert, dass die ermittelten Erkenntnisse häufig nicht nur die untersuchte Person selbst tangieren, sondern auch Dritte, die außerhalb der Arzt-Patient-Beziehung stehen. Wird etwa die erbliche Nervenkrankheit Chorea Huntington festgestellt, hat die Diagnose mitunter nicht nur soziale und medizinische Konsequenzen für den Patienten, sondern ebenso mittelbar oder unmittelbar für seine Angehörigen. Dabei bleiben
315
S. hierzu Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 170 ff. sowie zu dem Versuch einer dogmatischen Einordnung der unterschiedlichen zur Kategorie der Beratungsfehler gehörenden Pflichtversäumnisse; zweifelnd Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 10 GenDG Rn. 17, der mit Hinweis auf die Bedeutung der genetischen Beratung, von einer Unwirksamkeit der Einwilligung ausgeht, wenn die Beratung vor Durchführung der Untersuchung unterblieb oder fehlerhaft vorgenommen wurde. 316 BT-Drs. 16/10532, S. 28; Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, § 10 Rn. 1 f., 18 ff.; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 10 GenDG Rn. 3a, 11; Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 10 GenDG Rn. 3; Genenger, NJW 2010, 113, 115; vgl. auch Damm, GesR 2009, 57, 61 f. 317 An dieser Stelle sei auf die Ausführungen zum Recht auf Nichtwissen verwiesen im 2. Kap., A. II. sowie im 3. Kap., B. III. 3.
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
171
Interessenkonflikte nicht aus, wenn es um die Frage geht, inwiefern die Mitbetroffenen zu informieren sind.318 4. Datenschutzrechtliche Informationspflichten Zusätzlich zu den Informationspflichten gemäß § 630c BGB und der genetischen Beratung nach § 10 GenDG werden dem Arzt nach der DS-GVO umfangreiche Informationspflichten hinsichtlich der Datenverarbeitung auferlegt. Gemäß Art. 13 Abs. 1 DS-GVO hat der für die Datenverarbeitung Verantwortliche insbesondere über seine Kontaktdaten, den Zweck und die Rechtsgrundlage der Verarbeitung zum Zeitpunkt der Erhebung319 zu informieren. In Art. 13 Abs. 2 DS-GVO sind weitere Informationen normiert, die dem Betroffenen mitzuteilen sind,320 wie etwa das Bestehen von Auskunfts-, Beschwerde-, Löschungs- und Widerrufsrechten.321 Möchte der Verantwortliche die Daten zu einem anderen Zweck weiterverarbeiten, als den, zu dem er sie erhoben hat, hat er dem Betroffenen im Vorfeld der Weiterverarbeitung Informationen über den anderen Zweck sowie die in Art. 13 Abs. 2 DS-GVO genannten Informationen mitzuteilen, Art. 13 Abs. 3 DS-GVO.322 Sinn und Zweck dieser Regelungen ist es, dass der Betroffene nachvollziehen kann, was mit seinen Daten geschieht. Denn nur, wenn er umfassend informiert ist, kann er seine in der DS-GVO normierten Rechte auch effektiv wahrnehmen.323 318
Eingehend zum Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher Schweigepflicht und möglichen Offenbarungsrechten und -pflichten sogleich unter C. II. 5. 319 Eingehend zu Zeitpunkt, Form und Darstellung der Information Bäcker, in: Kühling/ Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 56 ff.; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1155 ff. 320 Art. 13 Abs. 1 und 2 DS-GVO bilden eine Einheit, Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 37; Bäcker, in: Kühling/Buchner, DSGVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 20. Nach a. A. sind die Informationen in Abs. 2 nur situationsbezogen mitzuteilen, Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 5. Da viele der in Abs. 2 geregelten Informationen für eine faire und transparente Verarbeitung erforderlich sind, spricht viel dafür, dem Betroffenen in der Praxis generell den gesamten in Art. 13 DS-GVO normierten Informationenkatalog zur Verfügung zu stellen, Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1151. 321 S. hierzu Eg. 60 DS-GVO; zu den Informationsinhalten im Einzelnen Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 39 ff.; Bäcker, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 22 ff. Werden die Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben, ergeben sich nur geringfügige Unterschiede, vgl. Art. 14 Abs. 1, 2 DS-GVO; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1152 ff. 322 Bei dem Verweis auf Art. 13 Abs. 2 DS-GVO handelt es sich um eine Rechtsgrundverweisung. Strittig ist, ob bei einer Zweckänderung über den Wortlaut von Abs. 3 hinaus zusätzlich zu den in Abs. 2 niedergeschriebenen Informationen, (teilweise) auch die in Abs. 1 mitzuteilen sind, s. hierzu Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 88; Bäcker, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DSGVO Rn. 71 ff. 323 Eg. 60 DS-GVO; Franck, RDV 2016, 111; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 4; Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 2. Zu den Betroffenenrechten in der DS-GVO s. bereits oben 2. Kap., B. III. 1. c).
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Dementsprechend entfällt die Mitteilungspflicht, sofern die betroffene Person bereits Kenntnis von den Informationen besitzt, Art. 13 Abs. 4 DS-GVO.324 Für die allgemeinen Informationen, wie die Kontaktdaten des Arztes, wird die Ausnahmeregelung des Art. 13 Abs. 4 DS-GVO in der Regel greifen, sodass zusätzliche Informationen hierüber nicht erforderlich sind.325 Auf sein Auskunftsoder Widerrufsrecht wird der Arzt den Patienten aber wohl künftig hinweisen müssen. Das Recht auf Auskunft erstreckt sich dabei auch auf den Inhalt der Patientenakte, die gesundheitsbezogene Daten wie Diagnosen und Untersuchungsergebnisse enthält.326 Die Verpflichtung zur Mitteilung anderweitiger Informationen stößt hingegen im Zusammenhang mit Big-Data-Anwendungen generell und bei der Systemmedizin im Besonderen an ihre Grenzen. Häufig wird etwa der Verarbeitungszweck zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht hinreichend bestimmbar sein, sodass es schwierig ist, vorab hierüber zu informieren.327 Verstößt der Arzt gegen die in Art. 13 DS-GVO normierten Informationspflichten, drohen ihm empfindliche Bußgelder, Art. 83 Abs. 5 lit. b) DS-GVO, sowie Schadensersatzansprüche seines Patienten, Art. 82 Abs. 1 DS-GVO.328 Welche Folgen eine fehlerhafte oder unterlassene Information für die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung hat, ist nicht eindeutig geregelt und wird daher kontrovers diskutiert. Wenig überzeugend ist das Argument, dass die Rechtmäßigkeit nicht berührt sei, da weder Art. 6 noch Art. 9 DS-GVO Bezug auf Art. 13 DS-GVO nähmen.329 Vielmehr erscheint eine differenzierte Lösung interessengerecht. War die betroffene Person verpflichtet, die Datenerhebung zu dulden oder an ihr mitzuwirken, wird die Rechtmäßigkeit durch den Pflichtverstoß nicht tangiert.330 Hing die Datenerhebung hingegen vom Willen des Betroffenen ab, führt eine Informationspflichtverletzung zur Rechtswidrigkeit der Verarbeitung. Die Datenerhebung hängt regelmäßig vom Willen des Betroffenen ab, wenn dessen Einwilligung die Rechtsgrundlage bildet. Fehlt es an einer transparenten Information gemäß Art. 13
324
S. hierzu Bäcker, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 83 ff.; Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 93 ff.; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1163 ff. 325 Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 293. 326 Eg. 63 DS-GVO; Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 293 f. Ein entsprechendes Einsichtsrecht des Patienten ist bereits seit Inkrafttreten des PatRG in § 630g BGB normiert. Im Gegensatz zum Auskunftsrecht nach Art. 15 DS-GVO unterliegt das Einsichtsrecht gemäß § 630g Abs. 1 BGB jedoch gewissen Einschränkungen, wenn etwa erhebliche therapeutische Gründe einer Einsichtnahme entgegenstehen. Das Verhältnis von Art. 15 DS-GVO und § 630g BGB wird zu klären sein, Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 294 f. 327 Werkmeister/Brandt, CR 2016, 233, 236. Zur Problematik der Zweckbestimmung s. bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b) aa) (2). 328 Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 18; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 8; Bäcker, in: Kühling/ Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 61. 329 So jedoch Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 4 Rn. 8; Franck, RDV 2016, 111, 116. 330 Der Verantwortliche hätte die Daten auch bei ordnungsgemäßer Verarbeitung erlangen müssen. Die rechtswidrig unterlassene Information ist nachzuholen, Bäcker, in: Kühling/ Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 64.
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
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DS-GVO, liegt keine informierte Einwilligung vor, sodass die Willensbildung des Betroffenen unterlaufen wird.331 Der Umfang von Informationen, die der Arzt seinem Patienten mitzuteilen hat, wächst durch die Vorschriften der DS-GVO weiter an. Um sich nicht der Gefahr einer Bußgeldzahlung auszusetzen, wird der Arzt sich vermehrt Informations- und Aufklärungsbögen bedienen. Es ist zu befürchten, dass sich das Arzt-PatientGespräch zunehmend formalisiert und auf das Papier verlagert.332
II. Schweigepflicht des Arztes Die ärztliche Schweigepflicht bildet die Grundlage für die auf Vertrauen beruhende Beziehung zwischen Arzt und Patient. Nur wenn der Patient sich der Verschwiegenheit seines Arztes gewiss ist, wird er ihm die für eine erfolgreiche medizinische Behandlung notwendigen Informationen anvertrauen.333 Die Bewahrung des Patientengeheimnisses ist demnach für das Arzt-Patient-Verhältnis von „geradezu substantielle[r] Bedeutung“.334 Dieser Vertrauensschutz ist gefährdet, sofern über den Arzt und seinen Patienten hinaus noch weitere Personen in die Behandlung involviert oder von der Krankheitsdiagnose betroffen sind. 1. Grundlagen der ärztlichen Schweigepflicht Der Grundstein für die ärztliche Schweigepflicht wurde bereits im Hippokratischen Eid gelegt.335 Heute ist sie standesrechtlich in § 9 Abs. 1 MBO-Ä als rechtlich sanktionierbare Pflicht normiert. Erstaunlicherweise hat die Schweigepflicht
331
Bäcker, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 63 ff.; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1176 f.; ähnlich Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 19. Ist aufgrund einer Informationspflichtverletzung die Datenverarbeitung rechtswidrig, stellt sich die Frage, ob eine weitere Verarbeitung der Daten gleichfalls rechtswidrig ist, s. hierzu Bäcker, in: Kühling/ Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 13 DS-GVO Rn. 67 f.; Schmidt-Wudy, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Art. 13 DS-GVO Rn. 20. 332 Dochow, GesR 2016, 401, 408. 333 BVerfGE 32, 373, 379 f. = NJW 1972, 1123, 1124; Deutsch, VersR 2001, 1471; Dochow, GesR 2018, 137, 138; Braun, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 222, 224; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 934; Katzenmeier, in: Laufs/ Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 2 f. 334 OLG Karlsruhe MedR 2007, 253, 254; Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 858; Dochow, GesR 2018, 137, 138; s. hierzu auch BVerfG MedR 2006, 586, 587. 335 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 934; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 3; ausführlich zu Geschichte und Entwicklung der ärztlichen Schweigepflicht Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 5 ff.; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 139 Rn. 1 ff.; Rehborn, GesR 2017, 409, 410 ff.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
keinen Eingang in die §§ 630a ff. BGB gefunden,336 sie ist jedoch als zentrale behandlungsvertragliche Nebenpflicht anerkannt.337 Die Pflicht zur Wahrung des Patientengeheimnisses wurzelt im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Patienten, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.338 Der sachliche Umfang der ärztlichen Verschwiegenheitsverpflichtung erstreckt sich dementsprechend auf die Gesamtheit der Angaben des Patienten über seine persönliche, familiäre, wirtschaftliche, berufliche, finanzielle, kulturelle und sonstige ihn zur Angabe offenbar bewegende soziale Situation sowie seine darüber preisgegebenen Ansichten und Reflexionen. Geschützt sind selbstverständlich auch die medizinischen Erkenntnisse des Arztes über den Patienten und dessen Krankheitsbild und -verlauf.339 In zeitlicher Hinsicht besteht die Schweigepflicht über den Tod des Patienten hinaus fort, siehe auch § 9 Abs. 1 MBO-Ä und § 203 Abs. 5 StGB.340 Der Arzt ist hingegen zur Offenbarung befugt, soweit er von seinem Patienten ganz oder teilweise von der Schweigepflicht entbunden wird, vgl. § 9 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 MBO-Ä. Die Entbindung kann sowohl ausdrücklich als auch konkludent erteilt werden.341 Sofern die ärztliche Verschwiegenheitspflicht in Konflikt mit anderen, gleich- oder höherrangigen Rechtsgütern gerät, kann oder muss sie im Einzelfall zurücktreten.342 So ergibt sich eine Mitteilungspflicht für den Arzt bei 336
Krit. Katzenmeier, NJW 2013, 817, 823. Einen Regelungsvorschlag hat Kubella, Patientenrechtegesetz, S. 110, 177 ff. unterbreitet. 337 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 6; Lippert, in: Ratzel/ Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 90; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 34; Rehborn, GesR 2017, 409, 412. 338 BVerfGE 32, 373, 379 f. = NJW 1972, 1123, 1124; BVerfG MedR 2006, 586, 587; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 8 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 9, 11; Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 858; Dochow, GesR 2018, 137, 139. 339 Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 140 Rn. 2; Deutsch/ Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 936; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 12; zum sachlichen Umfang im Einzelnen Kiesecker, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 14. 340 S. auch BGH NJW 1983, 2627, 2628; Kiesecker, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 23; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 140 Rn. 14; Lippert, in: Ratzel/Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 24 f.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 34. Der zivilrechtliche Schutz aus der zu Lebzeiten etablierten Schweigepflicht ist jedoch begrenzt, Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 16. 341 Zu den Anforderungen an eine wirksame Entbindung Kiesecker, in: Rieger/Dahm/ Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 39 ff.; Lippert, in: Ratzel/Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 55 ff. Unter Umständen kommt auch eine mutmaßliche Einwilligung in die Preisgabe in Betracht, etwa wenn der Patient im Koma liegt oder bereits verstorben ist, s. Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 18 f.; Kiesecker, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 64 ff.; dazu BGH NJW 1983, 2627, 2628 f. = JZ 1984, 279 m. krit. Anm. Giesen. 342 Umfassend zum Zurücktreten der Schweigepflicht Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 940 ff. u. Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 25 ff.; aus strafrechtlicher Perspektive Braun, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts,
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
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Vorliegen einer spezialgesetzlichen Anordnung (zum Beispiel in §§ 6 ff. Infektionsschutzgesetz343 (IfSG) oder § 17a Abs. 4 S. 3 RöV), vgl. § 9 Abs. 2 S. 2 MBO-Ä.344 Zudem hat er eine Offenbarungsbefugnis, wenn die Schweigepflicht in Fällen des § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) zurücktritt, vgl. § 9 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 MBO-Ä.345 Insoweit folgen die Grundsätze der ärztlichen Schweigepflicht dem Muster von grundsätzlichem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, auf dem auch das Datenschutzrecht basiert.346 Verletzt der Arzt seine Schweigepflicht schuldhaft, drohen ihm sowohl vertragliche als auch deliktische Schadensersatzansprüche seines Patienten.347 Ferner wird die unbefugte Weitergabe von Patientendaten strafrechtlich sanktioniert, § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Über die straf- und zivilrechtlichen Folgen hinaus riskiert der Arzt berufs- und standesrechtliche Konsequenzen durch die kammerbezogene Berufsgerichtsbarkeit.348 2. Spezialgesetzliche Ausprägung in § 11 GenDG Eine spezialgesetzliche Ausprägung der ärztlichen Schweigepflicht findet sich in § 11 GenDG.349 Gemäß § 11 Abs. 1 GenDG darf der verantwortliche Arzt das S. 222, 241 ff. u. Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 875 ff. 343 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen v. 20.7.2000 in der Fassung der Bekanntmachung v. 17.7.2017, BGBl. 2017 I Nr. 49 S. 2615. 344 Eingehend zu den gesetzlichen Mitteilungspflichten Kiesecker, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 70 ff.; Lippert, in: Ratzel/Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 58 ff.; Rehborn, GesR 2017, 409, 412 f. 345 Als Beispiel ist etwa die Information der zuständigen Verkehrsbehörde über schwere Ausfallerscheinungen des unabbringbar Auto fahrenden Patienten, zu nennen, vgl. BGH NJW 1968, 2288; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 27; s. auch Kiesecker, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 73 ff.; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 141 Rn. 16 ff.; Deutsch/ Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 946 ff. Liegen die Voraussetzungen des § 34 StGB vor, ist die Offenbarung der Patientendaten gerechtfertigt. Auch zivilrechtliche Ansprüche gegen den Arzt scheiden aus, s. Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 28. Näher zur Offenbarungsbefugnis des Arztes im Falle der Rechtsgüterkollision s. unten C. II. 5. 346 Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 30. Zum Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt s. oben 2. Kap., B. III. 1. b) bb). 347 Vertragliche Schadensersatzansprüche kann der Patient aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB geltend machen, deliktsrechtliche aus § 823 Abs. 1 BGB bei schuldhafter Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 203 Abs. 1 S. 1 StGB; bei vorvertraglichem Kontakt ist auch ein Anspruch gemäß §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB denkbar, s. Kiesecker, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 125; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 147 Rn. 4 f.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 6 ff. 348 S. hierzu Braun, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 222, 226 f.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 5; Lippert, in: Ratzel/ Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 94. 349 Regelungszweck des § 11 GenDG ist insbes. die Gewährleistung des informationellen Selbstbestimmungsrechts der untersuchten Person, s. Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 11 Rn. 1; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 11 GenDG Rn. 3.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Ergebnis der genetischen Untersuchung350 ausschließlich dem Betroffenen mitteilen. Die Information anderer Personen ist nur gestattet, sofern eine ausdrückliche und schriftliche Einwilligung des Betroffenen vorliegt, § 11 Abs. 3 GenDG.351 Die Anforderungen an die Schweigepflichtentbindung sind insofern strenger als die der allgemeinen arztrechtlichen Grundsätze, wonach auch eine konkludente Einwilligung ausreicht.352 Intention des Gesetzgebers ist es, den Kreis der Informierten möglichst klein zu halten.353 Bei einer Zuwiderhandlung bestehen die allgemeinen vertraglichen, deliktischen und datenschutzrechtlichen Schadensersatzansprüche.354 In Ermangelung einer speziellen strafrechtlichen Sanktionsnorm im GenDG, ist zudem auf § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB und Art. 83 Abs. 5 lit. a) DS-GVO zurückzugreifen.355 3. Verhältnis zum allgemeinen Datenschutzrecht Der Schutzumfang der ärztlichen Schweigepflicht geht weiter als derjenige der DS-GVO. Während vom Anwendungsbereich der DS-GVO nur personenbezogene Daten umfasst sind, erstreckt sich die ärztliche Schweigepflicht auf alle Informationen, die der Patient seinem Arzt anvertraut, etwa auch Informationen über Dritte. Zudem gilt die ärztliche Schweigepflicht über den Tod des Patienten hinaus. Die DS-GVO ist auf die Daten Verstorbener hingegen nicht anwendbar, Erwägungsgrund 27 DS-GVO.356 An mehreren Stellen in der DS-GVO differenziert der europäische Gesetzgeber zwischen Datenschutzrecht und Berufsgeheimnis (vgl. etwa Art. 9 Abs. 2 lit. h), i), Abs. 3, Art. 90 Abs. 1 DS-GVO), sodass sich eine Gleichsetzung beider Rechtsregime verbietet.357 Vielmehr handelt es sich um zwei Schutzebenen, die unabhängig voneinander gelten und zu beachten sind.358 Es gilt das sog. Zwei350
Informationsgegenstand ist ausschließlich das Ergebnis der genetischen Analyse sowie deren Interpretation unter Berücksichtigung individueller Gegebenheiten, BT-Drs. 16/10532, S. 29; Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 11 Rn. 3; näher zum Informationsgegenstand des § 11 GenDG Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 11 GenDG Rn. 8 ff. 351 Näher zum Regelungsgegenstand von § 11 Abs. 3 GenDG, insbes. zur Auslegung des Begriffs andere Personen, unten C. II. 4. 352 Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 11 Rn. 5; zu den Anforderungen an eine wirksame Entbindung von der allgemeinen ärztlichen Schweigepflicht bereits oben C. II. 1. Fn. 341. 353 Vgl. BT-Drs. 16/10532, S. 29 zu § 11 Abs. 2 und 3 GenDG; Eberbach, MedR 2010, 155, 157. 354 Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 11 GenDG Rn. 23; zu den Ansprüchen im Einzelnen s. bereits oben C. II. 1. Fn. 347. 355 Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 11 GenDG Rn. 25; Häberle, in: Erbs/ Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 11 GenDG Rn. 2. 356 Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1362. Zum Schutz von Angaben Verstorbener s. bereits oben 2. Kap., A. I. 1. a) Fn. 20. 357 Dochow, GesR 2016, 401, 408; Schantz, in: Schantz/Wolff, Das neue Datenschutzrecht, Rn. 1362. 358 Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 223; Dochow, GesR 2016, 401, 408; ders., GesR 2018, 137, 149; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 20. Zu den Schwierigkeiten, die sich aus einem unabgestimmten Nebeneinander von
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
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Schranken-Prinzip.359 Während der deutsche Gesetzgeber in § 1 Abs. 2 S. 3 BDSG explizit klarstellt, dass die datenschutzrechtlichen Regelungen den Schutz des Berufsgeheimnisses unangetastet lassen, fehlt eine entsprechende Vorschrift in der DS-GVO.360 Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Grundsätze der allgemeinen Schweigepflicht auch unter Geltung der DS-GVO ihre Vorrangstellung nicht einbüßen werden, zumindest im Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 2 lit. g)–i), Abs. 3 DS-GVO.361 4. Ärztliche Schweigepflicht in der arbeitsteiligen Medizin Grundsätzlich gilt die ärztliche Schweigepflicht zunächst einmal uneingeschränkt gegenüber jedermann, der nicht in das Arzt-Patient-Verhältnis einbezogen ist,362 d. h. auch gegenüber ärztlichen Kollegen, die ebenfalls der Schweigepflicht unterliegen.363 Infolge der arbeitsteiligen Differenzierungen im Behandlungsgeschehen ist es jedoch unvermeidlich, dass sich der Arzt mit seinen Mitarbeitern, mit- und nachbehandelnden Ärzten sowie um Rat ersuchten Spezialisten über den Gesundheitszustand seines Patienten austauscht. Es ist insoweit von einem stillschweigenden Einverständnis des Patienten auszugehen (vgl. auch § 9 Abs. 4 MBO-Ä), als der Datenaustausch für den Heilerfolg des Pateinten unbedingt erforderlich ist.364 Schwierigkeiten bereitet die konkludente Schweigepflichtentbindung als Legitimation für die Weitergabe von Patienteninformationen im medizinischen ArDS-GVO und ärztlicher Schweigepflicht etwa beim Outsourcing im Gesundheitsbereich ergeben, Buchner/Schwichtenberg, GuP 2016, 218, 223. Zu der Frage, inwieweit datenschutzrechtliche Befugnisregelungen eine Legitimation zur Offenbarung von Berufsgeheimnissen geben, Weichert, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 147 f. 359 Weichert, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 146; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 20. 360 Dochow, GesR 2016, 401, 408; Kazemi, in: FS Dahm, S. 283, 291; s. aber Eg. 50 DSGVO zur Zulässigkeit der Zweckänderung: Eine Weiterverarbeitung sollte jedoch unzulässig sein, wenn die Verarbeitung mit einer rechtlichen, beruflichen oder sonstigen verbindlichen Pflicht zur Geheimhaltung unvereinbar ist. 361 Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 52; Weichert, in: Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, Art. 9 DS-GVO Rn. 50. 362 Lippert, in: Ratzel/Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 7, 28. 363 Lippert, in: Ratzel/Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 27 ff.; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 24; Duttge/Dochow, in: Niederlag/Lemke/Rienhoff, Personalisierte Medizin & Informationstechnologie, S. 251, 259. Die in § 9 MBO-Ä verankerte Schweigepflicht begründet keine persönliche Schweigepflicht für die nichtärztlichen (berechtigten) Mitwisser. Der Arzt ist jedoch gemäß § 9 Abs. 3 MBO-Ä verpflichtet, seine Mitarbeiter und die bei ihm zur Berufsvorbereitung tätigen Personen über ihre Verschwiegenheitspflicht zu belehren, s. Kiesecker, in: Rieger/ Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 13. 364 Kiesecker, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 4740 Rn. 53 ff.; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 145 Rn. 2 f., 44; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 21; Lippert, in: Ratzel/Lippert/ Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 28 ff.; Buchner, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 1340 Rn. 24.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
beitsumfeld, sofern es sich hierbei um genetische Daten i. S. d. GenDG handelt. Denn gemäß § 11 Abs. 3 GenDG darf das Ergebnis der genetischen Untersuchung nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Einwilligung des Betroffenen an andere Personen mitgeteilt werden. Unklar ist in diesem Zusammenhang, wann eine Mitteilung an andere Personen i. S. d. § 11 Abs. 3 GenDG vorliegt. Im GenDG selbst hat der Gesetzgeber hierzu keine näheren Angaben gemacht. Zur Beantwortung der Frage hilft ein Rückgriff auf § 203 StGB.365 Nach § 203 Abs. 3 S. 1 StGB stellt es kein tatbestandsmäßiges Offenbaren dar, wenn der behandelnde Arzt seinen berufsmäßig tätigen Gehilfen (zum Beispiel Arzthelfer) oder Personen, die bei ihm zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind (etwa Medizinstudierende), Patientengeheimnisse zugänglich macht.366 Diese Personen gehören zum „Kreis der zum Wissen Berufenen“.367 Offenbart hingegen der Berufsgehilfe oder der Auszubildende seinerseits unbefugt ein Patientengeheimnis, ist dieses Verhalten nach § 203 Abs. 4 S. 1 i. V. m. Abs. 3 S. 1 StGB strafbewehrt.368 Der Wertung des § 203 Abs. 3 S. 1 StGB ist zu entnehmen, dass als andere i. S. d. § 11 Abs. 3 GenDG nicht das Personal des Arztes anzusehen ist.369 Informationsübermittlungen innerhalb dieses „Kreises der zum Wissen Berufenen“ bedürfen daher keiner ausdrücklichen und schriftlichen Einwilligung des Betroffenen. Die Zahl der „zum Wissen Berufenen“ sollte jedoch zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Patienten überschaubar bleiben. Eine Ausdehnung auf mit- und nachbehandelnde Ärzte erscheint daher, zumindest bei der Behandlung in Arztpraxen, nicht sachgerecht.370 Will der behandelnde Arzt einen Spezialisten hinzuziehen oder den früher behandelnden Arzt um Auskünfte bitten, hat er das Einverständnis seines Patienten einzuholen, sofern genetische Daten i. S. d. GenDG verarbeitet werden.371 365
Vgl. Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 11 GenDG Rn. 11; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 176. 366 Es handelt sich um interne Hilfspersonen, die dem Arzt untergeordnet sind und in der Arztpraxis organisatorisch eingegliedert agieren, Dochow, GesR 2018, 137, 141. 367 BT-Drs. 18/11936, S. 27; Weidemann, in: v. Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, § 203 Rn. 36; Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 873; Dochow, GesR 2018, 137, 141 f. 368 BT-Drs. 18/11936, S. 27; Weidemann, in: v. Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, § 203 Rn. 36. Im Einzelnen zur Tätergruppe der Berufshelfer Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 203 StGB Rn. 21 ff.; Cierniak/Niehaus, in: MüKo-StGB, § 203 StGB Rn. 123 ff. 369 Vgl. Kern, in: Kern, GenDG Kommentar, § 11 Rn. 6; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 11 GenDG Rn. 12. 370 Braun, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 222, 240; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 177; andere wollen mit- und nachbehandelnde Ärzte in den „Kreis der Wissenden“ einbeziehen, Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 873. In Krankenhäusern zählen alle Ärzte und Pflegekräfte, auch anderer Abteilungen, die mit der Behandlung und Pflege des Patienten betraut sind, zum „Kreis der zum Wissen Berufenen“, Braun, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 222, 239 f.; Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 876. 371 Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 177.
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
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Neben mit- und nachbehandelnden Ärzten sowie Mitarbeitern des behandelnden Arztes können auch weitere in die Praxisorganisation, -dokumentation, -kommunikation oder -infrastruktur involvierte Personen mit vertraulichen Patienteninformationen in Berührung kommen. Mit Neuregelung des § 203 StGB im Jahre 2017372 hat der Gesetzgeber den Oberbegriff der mitwirkenden Personen eingeführt. Dieser umfasst zusätzlich zu den berufsmäßig tätigen Gehilfen, § 203 Abs. 3 S. 1 Var. 1 StGB, und den zur Vorbereitung auf den Beruf bei den Berufsgeheimnisträgern tätigen Personen, § 203 Abs. 3 S. 1 Var. 2 StGB, auch sonstige und weitere an der beruflichen Tätigkeit mitwirkende Personen, § 203 Abs. 3 S. 2 StGB.373 Zur Kategorie der sonstigen mitwirkenden Personen zählen externe nicht angestellte Hilfskräfte oder Dienstleister, die an der beruflichen oder dienstlichen Tätigkeit des Arztes mitwirken, ohne dass sie in dessen Sphäre eingebunden sein müssen, wie etwa Personen, die informationstechnische Anlagen und Systeme zur externen Speicherung von Daten bereitstellen.374 Das Offenbaren von fremden Geheimnissen gegenüber sonstigen mitwirkenden Personen ist strafrechtlich zwar tatbestandsmäßig, aber letztlich erlaubt, soweit dies für die Inanspruchnahme der Tätigkeit der mitwirkenden Personen erforderlich375 ist, § 203 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 StGB.376 Gleiches gilt gemäß § 203 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 StGB für die sonstigen mitwirkenden Personen, wenn diese sich weiterer Personen bedienen, die an der beruflichen oder dienstlichen Tätigkeit des Berufsgeheimnisträgers mitwirken, zum Beispiel Unterauftragnehmer.377 In der MBO-Ä wird die Öffnung des § 203 Abs. 3 StGB bislang nicht mitgetragen.378 Für die Legitimation eines Informationsaustausches des Arztes mit sonstigen und weiteren an der beruflichen Tätigkeit mitwirkenden Personen i. S. d. 372
Gesetz zur Neuregelung des Schutzes von Geheimnissen bei der Mitwirkung Dritter an der Berufsausübung schweigepflichtiger Personen v. 30.10.2017, BGBl. 2017 I Nr. 71 S. 3618. 373 Durch die Ausweitung auf die neuen Personengruppen bewirkt der Gesetzgeber eine Relativierung des Patientengeheimnisses. Es scheint zumindest diskussionswürdig, ob begrifflich noch von einem Geheimnis gesprochen werden kann, Dochow, GesR 2018, 137, 145. 374 Ausführlich zur Kategorie der sonstigen mitwirkenden Person BT-Drs. 18/11936, S. 22; Cierniak/Niehaus, in: MüKo-StGB, § 203 StGB Rn. 137; krit. im Hinblick auf die unscharfe Begriffswahl Dochow, GesR 2018, 137, 142 f. 375 Eine Offenbarung ist nicht erforderlich, wenn sie unnötig ist. Der Berufsgeheimnisträger darf nicht mehr geschützte Geheimnisse preisgeben, als notwendig ist, damit er die Tätigkeit der sonstigen mitwirkenden Person übertragen kann, s. BT-Drs. 18/11936, S. 23; Cierniak/Niehaus, in: MüKo-StGB, § 203 StGB Rn. 138; krit. hinsichtlich des wenig konkreten Kriteriums der Erforderlichkeit, das allein den Umfang der Offenbarung begrenzt Dochow, GesR 2018, 137, 143 f. 376 BT-Drs. 18/11936, S. 28; Weidemann, in: v. Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, § 203 Rn. 37. Mit § 203 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 StGB wurde eine Befugnisgrundlage geschaffen, welche die Rechtswidrigkeit der Offenbarung entfallen lässt, Dochow, GesR 2018, 137, 142. 377 Um die Verringerung des Geheimnisschutzes zu kompensieren, wird in § 203 Abs. 4 S. 1 StGB nunmehr eine Strafbarkeit auch für sonstige und weitere mitwirkende Personen vorgesehen, sofern sie ein Berufsgeheimnis offenbaren, s. Dochow, GesR 2018, 137, 142. 378 Das ärztliche Berufsrecht steht eigenständig neben dem Strafrecht und wird autonom ausgelegt, s. Dochow, GesR 2018, 137, 151.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
§ 203 Abs. 3 S. 2 StGB kann nicht von einem stillschweigenden Einverständnis des Patienten ausgegangen werden, § 9 Abs. 4 MBO-Ä. Der weitgehende Gleichlauf von Berufsrecht und Strafrecht wird mit der Neufassung des § 203 Abs. 3 StGB aufgehoben.379 Sonstige und weitere an der beruflichen Tätigkeit mitwirkende Personen i. S. d. § 203 Abs. 3 S. 2 StGB gehören wohl auch nicht zum „Kreis der zum Wissen Berufenen“. Vielmehr handelt es sich um andere Personen i. S. d. § 11 Abs. 3 GenDG, sodass es einer ausdrücklichen und schriftlichen Einwilligung des Betroffenen bedarf, sofern das Ergebnis der genetischen Untersuchung an diese Personen mitgeteilt werden soll.380 Ein Charakteristikum der Systemmedizin sind intra- und inter-/multidisziplinäre Kooperationen. Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fächer der Medizin als auch die Kooperation mit anderen Wissenschaften ist erforderlich, um durch bioinformatorische Verarbeitung und Modellierung großer Datenmengen aus verschiedenen Quellen, Prognosen zu Krankheitsverläufen, Diagnosen und personalisierte Therapien zu entwickeln.381 So arbeiten etwa Mediziner mit Datenanalysten, Mathematikern, Psychologen und Gesundheitsökonomen zusammen, um klinische, epidemiologische oder omics-Daten zu erheben, auszuwerten und in praktische Behandlungsempfehlungen umzuwandeln. Der behandelnde Arzt kann dieser Menge an Daten allein nicht Herr werden. Er ist auf Unterstützung anderer Wissenschaftler angewiesen. Hierfür ist ein reger Informationsaustausch erforderlich. Es ist unumgänglich, dass der Arzt die ihm von seinem Patienten anvertrauten Informationen anderen Akteuren, die am Behandlungsprozess beteiligt sind, offenbart. Für die Mitteilung vertraulicher Informationen an seine Mitarbeiter und mitoder nachbehandelnden Mediziner ist, wie dargelegt, grundsätzlich von einem stillschweigenden Einverständnis des Patienten auszugehen, es sei denn es werden genetische Daten verarbeitet. In diesem Fall ist gemäß § 11 Abs. 3 GenDG das schriftliche Einverständnis des Patienten einzuholen, bevor die Daten an mit- oder nachbehandelnde Ärzte weitergegeben werden. Der Informationsaustausch mit Kollegen anderer Wissenschaften fällt nicht mehr unter den Anwendungsbereich des § 9 Abs. 4 MBO-Ä, sodass eine stillschweigende Einwilligung des Patienten als Legitimation ausscheidet. Vielmehr bedarf es eines ausdrücklichen und schriftlichen Einverständnisses, um die Patientendaten weiterzugeben. Damit sind auch die Anforderungen des § 11 Abs. 3 GenDG erfüllt; eine Differenzierung nach genetischen und sonstigen Daten ist daher hinfällig. Eine strafrechtliche Sanktion droht hingegen nicht. Denn Wissenschaftler anderer Disziplinen sind unter den Begriff der sonstigen mitwirkenden Personen i. S. d. § 203 Abs. 3 S. 2 StGB zu fassen, sodass die Offenbarung von Patientengeheimnissen an sie zwar tatbestandsmäßig, aber letztlich erlaubt ist. Der Gesetzgeber hatte bei Einführung der Kategorie der sonstigen mitwirkenden Personen externe Hilfskräfte und Dienstleister im Sinn, die unterstützende Tätigkeiten 379
Wenn das ärztliche Berufsrecht nicht die „Hürde“ für die Einbeziehung externer Dienstleister darstellen solle, sei eine Anpassung des § 9 MBO-Ä erforderlich, Dochow, GesR 2018, 137, 151. 380 Vgl. insoweit noch zu § 203 StGB a. F. Braun, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 222, 240. 381 Hart, MedR 2016, 669, 670;
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für den Arzt leisten. Beispielhaft werden in der Gesetzesbegründung als unterstützende Tätigkeiten etwa Schreibarbeiten, Rechnungswesen oder Telekommunikationsdienste genannt.382 Der Begriff der sonstigen mitwirkenden Person ist weit zu verstehen, so soll offenbar auch die fachliche Unterstützung durch ärztliche Kollegen im Rahmen der gemeinschaftlichen Berufsausübung erfasst sein.383 In der dieser Arbeit zugrundliegenden Konzeption der disziplinübergreifenden Zusammenarbeit im Rahmen der Systemmedizin fungieren die Wissenschaftler anderer Disziplinen als Dienstleister für den Arzt. Es findet eine arbeitsteilige Rollentrennung statt; der Forscher leistet lediglich unterstützende Tätigkeiten für den Arzt, der als Ansprechpartner gegenüber dem Patienten auftritt. Zum Schutze des Selbstbestimmungsrechts des Patienten sollte der Kreis derer, die Kenntnis von seinen Patientendaten erlangen, jedoch nicht grenzenlos ausgedehnt werden, sondern auf das notwendige Maß beschränkt werden. Es gilt, die Exklusivität des Patientengeheimnisses zu bewahren. Gerade im Zuge der zunehmenden Arbeitsteilung in der Medizin und der damit verbundenen Teilnahme von immer mehr Personen am Behandlungsprozess ist die Einhaltung absoluter Diskretion von besonderer Bedeutung.384 Soll die Systemmedizin ein Erfolg werden, muss das Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient, das maßgeblich von der ärztlichen Schweigepflicht getragen wird, gewahrt werden. Begibt sich der Patient nicht mehr vorbehaltlos und offen in medizinische Behandlung, vertraut er seinem Arzt nicht mehr, so wird auch die beste systemmedizinische Analyse keine Heilung oder zumindest Linderung bewirken. 5. Spannungsverhältnis zwischen Schweigepflicht und Drittinteressen Die ärztliche Verschwiegenheitspflicht kann oder muss im Falle einer Rechtsgüterkollision zu Gunsten des höherwertigen Rechtsgutes zurücktreten.385 Eine derartige Kollision entsteht etwa, wenn das erzielte Untersuchungsergebnis nicht nur Aufschluss über die Krankheiten und Krankheitsdispositionen der untersuchten Person, sondern darüber hinaus auch über solche ihrer genetischen Verwandten gibt. Zudem können bei Diagnose einer infektiösen Erkrankung die Interessen des Patienten mit Interessen Dritter, die in keinem Verwandtschaftsverhältnis zum Patienten stehen, in Konflikt geraten. Das Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher Schweigepflicht einerseits und möglichen Offenbarungspflichten und -rechten insbesondere gegenüber Verwandten von Patienten und Ratsuchenden andererseits birgt ein hohes Konfliktpotenzial.386 Aufgrund der Aussagekraft der Daten, die im Zuge der Systemmedizin gene-
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Die Aufzählung ist jedoch nicht abschließend, s. BT-Drs. 18/11936, S. 22 „insbesondere“; s. auch Dochow, GesR 2018, 137, 141, 142 f. 383 Vgl. BT-Drs. 18/11936, S. 22; Dochow, GesR 2018, 137, 141, 143. 384 Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 858. 385 Lippert, in: Ratzel/Lippert/Prütting, Kommentar zur MBO-Ä, § 9 Rn. 65 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 27 f. 386 Der Konflikt existiert bereits seit geraumer Zeit, s. hierzu etwa schon Damm, MedR 1999, 437, 444 f.; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinte-
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
riert werden, zeichnet sich eine Verschärfung des bereits seit langem bekannten Konflikts ab. a) Konfligierende Patienten- und Drittinteressen Anlässlich einer medizinischen Untersuchung können unterschiedliche Interessen miteinander konfligieren. Der untersuchte Patient hat grundsätzlich ein Interesse an der Geheimhaltung des Untersuchungsergebnisses. Dieses Interesse wird durch sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, grundrechtlich geschützt.387 Sofern das Untersuchungsergebnis auch Aufschluss über den Gesundheitszustand von Angehörigen des Patienten gibt, kann sich eine Kollision mit deren Recht auf Wissen ergeben, welches als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ebenfalls Verfassungsrang genießt.388 Das Wissen um die eigene biologische Konstitution ist nicht nur von entscheidender Bedeutung für die Identitätsfindung sowie für die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit,389 sondern spielt auch bei der Lebensgestaltung und Familienplanung eine wichtige Rolle.390 Beinhaltet das Untersuchungsergebnis therapierelevante Informationen für die Mitbetroffenen, ist ferner das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG tangiert.391 Aufgrund der mitunter tiefgreifenden Auswirkungen medizinischer Erkenntnisse auf die weitere Lebensführung spielt auch das Recht auf Nichtwissen der potenziell mitbetroffenen Verwandten eine bedeutende Rolle in diesem Konflikt. Als negatives Spiegelbild zum Recht auf Wissen schützt es seinen Träger vor aufgedrängter Kenntnis.392 Ein Mitteilungsbedürfnis der untersuchten Person kann etwa bestehen, wenn eine unheilbare Erbkrankheit, beispielsweise die Nervenkrankheit Chorea Huntington,393 diagnostiziert wird. Das Recht auf Nichtwissen der Angehörigen bietet Schutz vor den mit der Kenntnis, Träger einer tödlichen
ressen Dritter, S. 50 ff.; aus ethischer Perspektive vgl. Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 252 ff. 387 Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 172 f.; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 320 ff. Zum Schutzumfang des informationellen Selbstbestimmungsrechts s. bereits oben 2. Kap., A. I. 1. 388 Vgl. Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 167 f.; Beck/Barnikol et al., MedR 2016, 753, 756. 389 Donner/Simon, DÖV 1990, 907, 912; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 247 f. 390 Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Schlussbericht 2002, BT-Drs. 14/9020, S. 132; Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 167 f. 391 Vgl. Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 169; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 357; zu den staatlichen Schutzpflichten bzgl. des Rechts auf körperliche Unversehrtheit s. auch die Entscheidung des BVerfG zur Organlebendspende BVerfG NJW 1999, 3399, 3400. 392 Vgl. Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 171; Beck/Barnikol et al., MedR 2016, 753, 756; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 303 ff. Eingehend zum Recht auf Nichtwissen bereits oben 2. Kap., A. II. 393 Zur Krankheit Chorea Huntington s. oben B. I. 2. b) Fn. 82.
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
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Erbkrankheit zu sein, einhergehenden psychischen Belastungen in Form von Ängsten oder Depressionen.394 Mit Blick auf die Interessen von Dritten, die in keinem Verwandtschaftsverhältnis zum Patienten stehen, ergibt sich ein ähnliches Bild: Einerseits ist ihr Recht auf Wissen sowie auf körperliche Unversehrtheit tangiert, sofern Ansteckungsgefahr besteht. Andererseits sind sie aber auch vor aufgedrängter Kenntnisnahme zu schützen.395 Die Besonderheit dieses multipolaren Interessengeflechts ist, dass sich auf Seiten der Dritten zwei gegenläufige Grundrechte gegenüberstehen: das Recht auf Wissen sowie das Recht auf Nichtwissen. Das Informationsinteresse der Dritten ist entscheidend für die Frage, ob die Befundmitteilung oder das Schweigen des Arztes eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt.396 b) Lösung de lege lata hinsichtlich genetischer Daten: § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG Ein Spezifikum genetischer Untersuchungen ist der Drittbezug der gewonnenen Daten: Sie geben nicht nur Aufschluss über die genetische Konstitution der untersuchten Person, sondern auch über genetisch mit ihr verwandter Personen.397 Deshalb hat der Gesetzgeber im GenDG exemplarisch versucht, den sich hieraus ergebenden Konflikt widerstreitender Informationsinteressen aufzulösen. Die möglicherweise mitbetroffenen Angehörigen sind zwar nicht im Vorfeld der genetischen Untersuchung zu informieren,398 ergibt die Analyse jedoch genetische Ei394
Vgl. hierzu die Entscheidung des BGH aus dem Jahre 2014 (BGHZ 201, 263 = NJW 2014, 2190 = JZ 2014, 898 m. Anm. Katzenmeier/Voigt), der folgender Fall zu Grunde lag: Der ehemalige Ehemann der Klägerin, bei dem Chorea Huntington diagnostiziert wurde, bat seinen Arzt, seine geschiedene Ehefrau über die Möglichkeit zu informieren, dass auch die gemeinsamen Kinder Träger des Gendefekts sein könnten. Der Arzt kontaktierte daraufhin die Ehefrau und riet ihr zu einer Blutuntersuchung der Kinder. Die Ehefrau erlitt aufgrund der Information einen psychischen Schock und verlangte Schadensersatz von dem Arzt. Im Ergebnis verneinte der BGH eine Haftung des Arztes aus § 823 Abs. 1 BGB mangels Zurechnungszusammenhangs zwischen der Mitteilung des Arztes und der erlittenen Gesundheitsverletzung der Klägerin. S. in diesem Zusammenhang auch Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 188 ff. 395 Vgl. König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 56. 396 Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 190; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 179. 397 Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 163; s. auch Damm, in: FS Laufs, S. 725, 735 ff.; König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 47 f.; Deutscher Ethikrat, Stellungnahme Genetische Diagnostik, 2013, S. 122 ff. 398 Das mitunter bestehende Geheimhaltungsinteresse der Angehörigen tritt hinter das Recht auf Nichtwissen desjenigen zuzück, der seine genetische Konstitution erfahren möchte. Die Anerkennung einer Vetoposition von Angehörigen wäre eine unverhältnismäßige Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Untersuchungswilligen, Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 184 ff.; zur Zulässigkeit genetischer Untersuchungen trotz entgegenstehender Geheimhaltungsinteressen von Verwandten s. auch Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 244 ff. Duttge spricht sich zwar auch gegen ein Vetorecht der Angehöri-
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
genschaften mit Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung399 oder gesundheitliche Störung, so soll die humangenetische Beratung auch die Empfehlung umfassen, den betroffenen Verwandten eine genetische Beratung zu empfehlen, § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG,400 denn diese Information ist für die Träger der betroffenen genetischen Eigenschaft vorteilhaft.401 Der Wertung des § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG ist zu entnehmen, dass das Mitteilungsverbot des § 11 Abs. 3 GenDG auch gegenüber Verwandten Anwendung findet, selbst wenn diese bei dem untersuchenden Arzt in Behandlung sind. Der Arzt besitzt mithin keine originäre Informationsbefugnis.402 Eine unmittelbare Kommunikation zwischen dem Arzt und den Drittbetroffenen soll durch § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG unterbunden werden.403 Mit dem ersichtlich angestrebten Kompromiss hat der Gesetzgeber dem Geheimhaltungsinteresse der untersuchten Person grundsätzlich den Vorrang eingeräumt.404 Gleichzeitig soll das Recht auf Nichtwissen der genetisch verwandten Personen durch Vermeidung der unmittelbaren Konfrontation mit der belastenden Information geschützt werden.405 Es existiert auch bei Vorliegen von Untersuchungsergebnissen mit Relevanz für Angehörige kein gesetzlich angeordneter „Beratungsautomatismus in der Familie“.406 Selbst bei Diagnose einer behandelbaren Krankheit wird das Autonomierecht der genetisch verwandten Personen durch die gesetzgeberische Empfehlungslösung in § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG geschützt.407 Dem Recht auf Nichtwissen der mitbetroffenen Angehörigen den Vorrang einzuräumen, sofern eine nicht behandelbare Krankheit diagnostiziert wird, erscheint gut vertretbar.408 Kritik erfahren hat die in § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG gefundene
gen aus, plädiert aber für einen Informationsanspruch über die Untersuchung als solche im Vorfeld der Untersuchung, DuD 2010, 34, 36 f.; MedR 2016, 664, 667. 399 Zu den Schwierigkeiten, die mit der Feststellung des Merkmals vermeidbare oder behandelbare Erkrankung verbunden sind Damm, MedR 2014, 139, 144 f.; Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 197 f. 400 So bereits die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Schlussbericht 2002, BT-Drs. 14/9020, S. 168. 401 Eberbach, MedR 2010, 155, 157; Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, § 10 Rn. 22 f. 402 Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 176; Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 452; Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 10 GenDG Rn. 12a, § 11 GenDG Rn. 16 f. 403 Stockter, in: Prütting, MedR Kommentar, § 10 GenDG Rn. 12a. 404 Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 190, 198. 405 BT-Drs. 16/10532, S. 29; krit. hinsichtlich der „doppelten Empfehlungslösung“ Duttge, DuD 2010, 34, 36; ders., MedR 2016, 664, 667; Heyers, MedR 2009, 507, 509 f. Mit der gefundenen Lösung wird weder das Aufdrängen mutmaßlich belastender Informationen verhindert, noch eine verlässliche Informationsweitergabe sichergestellt, BMBF-Projektgruppe „Recht auf Nichtwissen“, MedR 2016, 399, 400. 406 Damm, MedR 2014, 139, 143. 407 Heyers, MedR 2009, 507, 509. 408 Das erscheint aufgrund der möglichen psychischen Folgen, ausgelöst durch das Wissen, zukünftig eventuell oder mit Sicherheit einer letal verlaufenden Krankheit zu verfallen, gerechtfertigt, Heyers, MedR 2009, 507, 509; s. auch Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 452.
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
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Lösung hingegen im Falle einer vermeidbaren oder behandelbaren Erkrankung.409 In dieser Konstellation werde dem Geheimhaltungsinteresse der untersuchten Person ein zu hoher Stellenwert eingeräumt, während das Recht auf Wissen und körperliche Unversehrtheit der mitbetroffenen Angehörigen vernachlässigt werde.410 Der Arzt hat keinerlei Möglichkeit, zu überprüfen, ob die untersuchte Person die Empfehlung an seine mitbetroffenen Verwandten weitergetragen hat. Die Entscheidung, ob die betroffenen Verwandten informiert werden, liegt allein im Verantwortungsbereich der untersuchten Person.411 Der gefundene Kompromiss droht also zu versagen, wenn die innerfamiliäre Kommunikation gestört ist. Die Schweigepflicht verbietet es dem Arzt, selbsttätig die betroffenen Angehörigen zu informieren.412 Für derartige Fälle ist eine eigene Informationsmöglichkeit des Arztes gegenüber den betroffenen Verwandten zu diskutieren.413 c) Richterrechtliche Lösung hinsichtlich sonstiger Gesundheitsinformationen Auch nicht genombasierte Gesundheitsinformationen können einen Drittbezug aufweisen und damit ähnlich konfliktreiche Auswirkungen haben wie genetische Daten. So kann etwa eine Tuberkulose-Erkrankung oder eine HIV-Infektion Gefahren für das soziale Umfeld der betroffenen Person bergen.414 Im Falle eines positiven HIV-Befundes konfligiert das Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Person mit den Informations- und Gesundheitsinteressen potenziell gefährdeter Dritter. Bedingt durch die erhebliche Stigmatisierungsgefahr, die mit einer HIV-Diagnose verbunden ist, bedürfen HIV-Infizierte eines besonderen Schutzes und sind auf die Verschwiegenheit ihres Arztes angewiesen.415 Eine gesetzliche Mitteilungspflicht des Arztes gegenüber staatlichen Stellen i. S. d. 409
S. etwa Heyers, MedR 2009, 507, 509 f.; Eberbach, MedR 2011, 757, 762; Huster/ Gottwald, GesR 2012, 449, 452; Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 194 ff. 410 Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 200 ff. 411 Eberbach, MedR 2011, 757, 762; Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 452; s. auch Gordijn, DMW 2006, 573; zu der Frage, ob der untersuchte Patient ein geeigneter Informationsmittler ist Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 199 f. 412 Heyers, MedR 2009, 507, 509 f.; Huster/Gottwald, GesR 2012, 449, 452; Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 198. 413 Voraussetzung hierfür ist die Ergänzung des § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG um eine ärztliche Informationsmöglichkeit der genetischen Angehörigen. Sodann stellt sich die Frage, ob diese Informationsmöglichkeit als Pflicht oder Recht des Arztes ausgestaltet werden sollte, Heyers, MedR 2009, 507, 509 f.; zur ärztlichen Informationsmöglichkeit gegenüber Drittbetroffenen s. auch Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 259 ff.; Wollenschläger, AöR 138 (2013), 161, 200 f.; Damm, MedR 2014, 139, 143 f. 414 Stockter, Das Verbot genetischer Diskriminierung, S. 468, 531 f., 537; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 50 ff.; König, Prädiktive Gesundheitsinformationen im Arbeits- und Beamtenrecht und genetischer „Exzeptionalismus“, S. 56; Schröder, BuGBl. 2006, 1219, 1220. 415 Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. IX Rn. 29; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 180; s. auch Herzog, MedR 1988, 289, 291; Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 892.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
§§ 6 ff. IfSG existiert für HIV-Infektionen nicht.416 Eine Offenbarungsbefugnis kann sich aber im Einzelfall aus § 34 StGB ergeben. Im Jahre 1999 hat das OLG Frankfurt entschieden, dass der behandelnde Arzt eines HIV-Patienten nicht nur gemäß § 34 StGB berechtigt, sondern sogar verpflichtet sei, die Lebensgefährtin des Infizierten, die ebenfalls seine Patientin war, direkt und ohne weiteres über die HIV-Erkrankung und die bestehende Ansteckungsgefahr aufzuklären.417 Bereits einige Jahre zuvor hatte hingegen das LG Braunschweig den Arzt eines HIV-Patienten zur Zahlung von Schmerzensgeld wegen Bruchs der ärztlichen Schweigepflicht verurteilt. Die Information des Vorgesetzten des Patienten, der als Krankenpfleger arbeitete, war nicht gemäß § 34 StGB gerechtfertigt, da keine unmittelbare Gefahr für nichtinformierte Dritte bestand, die nicht anders hätte abgewendet werden können. Der Arzt hätte seinem Patienten zunächst selbst die Gelegenheit geben müssen, andere Gefährdete über seine HIV-Infektion zu informieren.418 Nach der Rechtsprechung tritt die ärztliche Schweigepflicht also ausnahmsweise zurück, sofern eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben Dritter besteht. Zuvor hat der Arzt allerdings seinem Patienten die Möglichkeit zu gewähren, selbständig gefährdete Dritte zu informieren. Eine Offenbarungsbefugnis des Arztes gemäß § 34 StGB besteht, wenn konkrete Anhaltspunkte darauf hinweisen, dass der Betroffene keine Warnungen aussprechen wird.419 Steht der infektionsgefährdete Dritte selbst in einem Behandlungsverhältnis zu dem Arzt, obliegt diesem gar eine Offenbarungspflicht. Denn aus dem Behandlungsvertrag ergibt sich nach mehrheitlicher Auffassung eine Garantenstellung des Arztes.420 416 Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, S. 76 ff.; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 116 ff.; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 181. 417 OLG Frankfurt (Beschl. v. 8.7.1999) NJW 2000, 875 m. Bespr. Spickhoff, NJW 2000, 848 u. OLG Frankfurt (Urt. v. 5.10.1999) MedR 2000, 196 m. krit. Anm. Engländer, MedR 2001, 143; s. hierzu auch Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, S. 57 ff. 418 LG Braunschweig NJW 1990, 770. 419 Ebenso Langkeit, Jura 1990, 452, 459; A. Bender, VersR 2000, 322; Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 892; vgl. auch Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 59 ff.; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 181. 420 OLG Frankfurt NJW 2000, 875, 876; Herzog, MedR 1988, 289, 291; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 141 Rn. 19; ders., in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 895; im Ergebnis ebenso Langkeit, Jura 1990, 452, 460; Schlund, JR 2000, 376; krit. hingegen Engländer, MedR 2001, 143, 144: Aus der Garantenstellung des Arztes eine Offenbarungspflicht abzuleiten führe zu weit. Die Garantenstellung sei auf den Schutz und die Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten im Rahmen der ärztlichen Behandlung beschränkt. Es handele sich um ein rein zufälliges Zusammentreffen, dass sowohl der HIV-Infizierte als auch sein gesunder Partner bei demselben Arzt in Behandlung seien. Ein besonderer Zusammenhang mit der Behandlung des gefährdeten Dritten bestehe nicht. Vorzugswürdig sei daher die Annahme eines Offenbarungsrechts des Arztes.
C. Auswirkungen auf sonstige ärztliche Pflichten
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Uneinheitlich wird die Frage beantwortet, ob eine Offenbarungspflicht auch gegenüber gefährdeten Dritten besteht, die nicht Patient des Arztes sind. Unter Heranziehung der Grundsätze des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter wird dies teilweise angenommen.421 Nach anderer Auffassung ist eine derartige Ausdehnung ärztlicher Offenbarungspflichten abzulehnen.422 Der Behandlungsvertrag begründe grundsätzlich keine Verhaltenspflichten gegenüber dritten Personen, was sich insbesondere aus der ärztlichen Schweigepflicht ergebe. Es fehle daher an der für einen Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter erforderlichen Voraussetzung423 der Leistungsnähe des Dritten.424 Ferner mangele es am Einbeziehungsinteresse des Infizierten als Gläubiger, wenn dieser sich weigere gefährdete Dritte zu warnen.425 Tatsächlich besteht die Gefahr, dass das ärztliche Pflichtenprogramm durch eine generelle Offenbarungspflicht gegenüber potenziell gefährdeten Dritten überdehnt würde. Auch die Rechtsprechung war in früheren Entscheidungen grundsätzlich eher zurückhaltend mit der Annahme einer ärztlichen Pflicht gefährdete Dritte zu informieren.426 Es ist daher vorzugswürdig, dem Arzt lediglich eine Offenbarungsbefugnis zu gewähren, nicht jedoch eine Verpflichtung aufzuerlegen.427 d) Lösungsansatz für die Systemmedizin Die im Rahmen der Systemmedizin ermittelten Informationen über den Gesundheitszustand des Patienten geben vielfach auch Aufschluss über die körperliche Verfassung von nahestehenden Dritten. Durch die Zusammenführung unterschiedlichster Datenarten ist es nicht möglich, zu differenzieren, welche Erkenntnisse auf welche Daten zurückzuführen sind. Die ermittelten Krankheiten und Krankheitsdispositionen beruhen sowohl auf genetischen Daten als auch auf sonstigen Gesundheitsinformationen. Daher ist es notwendig, den beschriebenen Interessenkonflikt unabhängig von den Daten, aus denen die Erkenntnisse gewonnen wer421
Laufs, Arztrecht, 5(1993), Rn. 432; Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, S. 106 ff.; wohl auch Heyers, MedR 2009, 507, 509 Fn. 21. 422 Langkeit, Jura 1990, 452, 459 f.; A. Bender, VersR 2000, 322, 323; Schlund, JR 2000, 376, 377; Deutsch, VersR 2001, 1471, 1474; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 88 ff.; Ulsenheimer, in: Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Kap. 1 Teil 8 Rn. 896; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 182 f. 423 Zu den Voraussetzungen des Drittschutzes im Einzelnen Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, Rn. 868 ff. 424 Langkeit, Jura 1990, 452, 459. Etwas anderes gilt für Behandlungsverträge mit erkennbarem, besonderen Bezug zur Familiengemeinschaft, wie etwa Sterilisationen oder Entbindungen, s. hierzu BGHZ 76, 259, 262 = NJW 1980, 1452, 1453; BGHZ 96, 360, 368 = NJW 1986, 1542, 1544. 425 Langkeit, Jura 1990, 452, 460; Corinth, Ärztliche Schweigepflicht und kollidierende Gesundheitsinteressen Dritter, S. 97 ff. 426 S. etwa BGH NJW 1968, 2288 (Verdacht auf paranoid-halluzinatorische Schizophrenie) u. OLG München, Urt. v. 18.12.1997 – 1 U 5625/95 (Hepatitis-C-Erkrankung). 427 So auch Schlund, JR 2000, 376, 377; Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 182 f.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
den, zu lösen. Eine generalisierende Bewertung des Konflikts wird kaum möglich sein. Es wird vielmehr eine Differenzierung nach der jeweiligen Erkrankung beziehungsweise Disposition erfolgen müssen. Während der Gesetzgeber in § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG die ärztliche Beratungsempfehlung an das Vorliegen genetischer Eigenschaften mit Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung knüpft, verwendet die Rechtsprechung das Kriterium der unmittelbaren Gefahr. Nur wenn die diagnostizierte Erkrankung eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben Dritter darstellt, die nicht anders abwendbar ist, erhält der Arzt eine Offenbarungsbefugnis gegenüber den gefährdeten Personen, § 34 StGB, die sich gar in eine Offenbarungspflicht wandelt, sofern die gefährdeten Dritten ebenfalls Patienten des Arztes sind. Für den Umgang mit Untersuchungsergebnissen in der Systemmedizin führt eine Kombination der beiden Ansätze zu interessengerechten Ergebnissen. Grundsätzlich sollte der Patient die Informationshoheit innehaben. Zum Schutz seines informationellen Selbstbestimmungsrechts sollte er entscheiden können, wem er seine Diagnose mitteilt. Besteht aufgrund der diagnostizierten Krankheit oder Krankheitsdisposition jedoch eine unmittelbare Gefahr für Dritte428 oder ergibt sich für diese ein dringender Behandlungsbedarf, ist dem Arzt eine Offenbarungsbefugnis zu gewähren, sofern der Patient eine Informationsweitergabe verweigert. Die Informationshoheit des Patienten hat dann hinter die Informations- und Abwägungshoheit des Arztes zurückzutreten. Es ist Aufgabe des Arztes, die gefährdeten Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen: das Geheimhaltungsinteresse des Patienten einerseits, die Informationsinteressen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Mitbetroffenen andererseits.429 Wird etwa eine familiär vererbte Form von Darmkrebs diagnostiziert, überwiegt das Informationsinteresse der Angehörigen, da die Kenntnis lebensrettend sein kann.430 Hierbei ist freilich zu beachten, dass der dem Arzt übertragene Abwägungsprozess einige Unschärfen birgt. Es handelt sich jeweils um eine Entscheidung im Einzelfall anhand von nur schwerlich konkretisierbaren Kriterien, wie etwa Art und Schwere der Krankheit, das Vorliegen oder Nichtvorliegen effektiver Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten oder der Grad der Infektionsgefahr.431 Zur Entlastung des Arztes ist zu erwägen, die Abwägungsentscheidung einer unabhängigen Kommission zu übertragen, vergleichbar der Lösung in Art. 19 Abs. 3 des Schweizer Bundesgesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG).432 Die Einschaltung 428
Krit. hinsichtlich der Frage, ob genetische Krankheitsdispositionen als gegenwärtige Gefahr für die Gesundheit Dritter i. S. d. § 34 StGB angesehen werden können Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 185 f. 429 Vgl. hierzu bereits das Regel-Ausnahme-Konzept der BÄK aus dem Jahr 1998, abgedruckt in DÄBl. 1998, A-1396, A-1398 und den wesentlich konkreteren Richtlinien aus dem Jahr 2003 abgedruckt in DÄBl. 2003, P-277, PP-283. Das Informationsmodell der BÄK sah allerdings nur dann eine Offenbarungsbefugnis des Arztes vor, wenn dieser auch die Verwandten seines Patienten mitbehandelte; s. hierzu auch Damm, MedR 1999, 437, 445; ders., in: FS Laufs, S. 725, 740. 430 Gordijn, DMW 2006, 573, 575. 431 Vgl. Gordijn, DMW 2006, 573, 574. 432 Vgl. auch Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 254 f. u. Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 187, die eine solche Lösung für genetische Untersuchungen
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unabhängiger Experten bietet den Vorteil einer objektiven Abwägung der konfligierenden Interessen.433 Wird eine nicht therapierbare Erbkrankheit diagnostiziert, ist auch das Recht auf Nichtwissen der Mitbetroffenen mit einzubeziehen. Zum Schutz vor aufgedrängten Informationen sollte der Arzt nur auf das Vorliegen einer bestehenden Krankheitsdisposition in der Familie hinweisen und ein Angebot zur genetischen Beratung unterbreiten, substanzielle Informationen sollten hingegen unterbleiben.434 Eine Offenbarungsbefugnis des Arztes ist also immer nur dann zu gewähren, wenn die Geheimhaltung des Befundes eine unmittelbare Gefahr für betroffene Dritte darstellt, die höher zu bewerten ist als deren Recht auf Nichtwissen.435 Schließlich darf bei all der Dringlichkeit der Offenbarung nicht aus dem Blick geraten, dass der Arzt sensible Informationen seines Patienten an Dritte weitergibt. Eine restriktive Handhabung ist daher geboten. 6. Fazit Zentrales Element des Arzt-Patient-Verhältnisses ist und bleibt die ärztliche Schweigepflicht. Grundsätzlich hat der Arzt die ihm von seinem Patienten anvertrauten Informationen zu bewahren. Nur in Ausnahmefällen ist er befugt, das Patientengeheimnis gegenüber Dritten zu offenbaren. Eine Notwendigkeit zur Mitteilung ergibt sich einerseits aus den Bedingungen der arbeitsteiligen Medizin. Der behandelnde Arzt ist befugt die Patientendaten gegenüber seinen Mitarbeitern offenzulegen; insoweit ist von einem stillschweigenden Einverständnis des Patienten auszugehen. Für den Informationsaustausch mit nach- und mitbehandelnden Kollegen ist nach genetischen Daten i. S. d. GenDG und sonstigen Daten zu differenzieren. Um sich mit Wissenschaftlern anderer Disziplinen auszutauschen, bedarf der Arzt des ausdrücklichen und schriftlichen Einverständnisses seines Patienten. Da Wissenschaftler anderer Disziplinen unter den Begriff der sonstigen mitwirkenden Personen i. S. d. § 203 Abs. 3 S. 2 StGB zu fassen sind, droht bei Offenbarung von Patientengeheimnissen ohne Einverständnis des Patienten jedoch keine strafrechtliche Sanktion. Insgesamt ist der „Kreis der zum Wissen Berufenen“ jedoch möglichst klein zu halten. Eine Offenbarungsbefugnis des Arztes kommt andererseits in Betracht, sofern Drittinteressen betroffen sind. Aufgrund des bestehenden multipolaren Interessengeflechts verbietet sich hier jede schematische Lösung. Es ist im jeweiligen Einzelfall eine interessengerechte Konfliktlösung zu erzielen. Wird anlässlich einer vorschlagen. Ausführlich zu Art. 19 Abs. 3 GUMG Rieder, Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, S. 198 ff. 433 Schief, Die Zulässigkeit postnataler prädiktiver Gentests, S. 247. Als Vorbild für die Expertenkommission kann die interdisziplinär zusammengesetzte GendiagnostikKommission dienen, vgl. § 23 GenDG. 434 Substanzielle Informationen wären etwa Informationen über die genetischen Diagnosemöglichkeiten oder den zu erwartenden Krankheitsverlauf, vgl. Gordijn, DMW 2006, 573, 575 f. 435 Vgl. Damm, in: FS Laufs, S. 725, 741.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Untersuchung eine Krankheit diagnostiziert, die eine unmittelbare Gefahr für Dritte darstellt, oder ergibt sich für diese ein dringender Behandlungsbedarf, ist dem Arzt eine Offenbarungsbefugnis zu gewähren, sofern der Patient eine Informationsweitergabe verweigert. Zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Patienten ist die Informationsbefugnis des Arztes jedoch restriktiv anzuwenden.
Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln in der Systemmedizin D. Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln
In der Systemmedizin ist eine enge Verknüpfung von Forschung und Therapie angestrebt. Neben den Legitimationsvoraussetzungen für Standardbehandlungen sind daher auch diejenigen für Heilversuche und Forschungseingriffe von besonderer Relevanz.436 Darüber hinaus treten vermehrt sog. Zufallsbefunde auf, deren rechtliche Handhabung insbesondere im Forschungskontext bislang keinen einheitlichen Regeln unterliegt.
I. Legitimationsvoraussetzungen medizinischen Erprobungshandelns In zahlreichen Regelwerken auf internationaler wie nationaler Ebene sind Vorschriften für das medizinische Erprobungshandeln niedergelegt. Auf internationaler Ebene kommt der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes über die „Ethische(n) Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen“ eine bedeutende Rolle zu.437 Speziell für klinische Prüfungen im Arzneimittelbereich ist die im Jahre 2016 in Kraft getretene europäische Arzneimittelverordnung zu beachten.438 Im deutschen Recht sind die Vorschriften für die Forschung am Menschen nicht in einem allgemeinen Forschungsgesetz gebündelt, sondern auf zahlreiche Spezialgesetze verteilt. So finden sich Vorschriften etwa in §§ 40 ff. Arzneimittelgesetz439 (AMG), §§ 20 ff. Medizinproduktegesetz440 (MPG), §§ 23 f., 436
Ausführlich zu den verschiedenen Eingriffskategorien ärztlichen Handelns s. oben 1. Kap., C. 437 Die ursprüngliche Fassung von 1964 wurde mehrfach revidiert und ergänzt. Inzwischen liegt die Deklaration in der revidierten Fassung von Fortaleza vom Oktober 2013 vor. Die Prinzipien der Deklaration entfalten allerdings keine unmittelbare rechtliche Wirkung. Sie bedürfen der rechtlichen Umsetzung in nationales Recht, Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 3, 7; Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 67 Rn. 8 ff. Auf der Internetseite der Bundesärztekammer ist die aktuelle Version der Deklaration von Helsinki verfügbar: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/Deklaration_von_Helsinki_2013_20190905.pdf (Zugriff: 13.4.2020). 438 Verordnung (EU) 536/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG, ABl. L 158 v. 27.5.2014, S. 1 ff. 439 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln v. 24.8.1976 in der Fassung der Bekanntmachung v. 12.12.2005, BGBl. 2005 I Nr. 73 S. 3394.
D. Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln
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87 ff. StrlSchV, §§ 28a ff. RöV sowie in § 15 MBO-Ä.441 Soweit keine spezialgesetzlichen Regelungen anwendbar sind, ist auf die allgemeinen Vorschriften des Zivil-, Straf- und öffentlichen Rechts, inklusive den datenschutzrechtlichen Regelungen, zurückzugreifen.442 Die Regelungen des GenDG finden aufgrund der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 GenDG statuierten Bereichsausnahme für genetische Untersuchungen zu Forschungszwecken grundsätzlich keine Anwendung.443 Medizinisches Erprobungshandeln ist im medizinischen Behandlungsalltag grundsätzlich nachrangig gegenüber einer standardgemäßen Behandlung; es ist wissenschaftlich oder aufgrund ärztlicher Erfahrung (Evidenzbasierung) vor dem Standard der Behandlung zu legitimieren („Plausibilität“). Die Erprobung ist grundsätzlich nur zulässig, wenn eine Standardbehandlung nicht existiert oder die vorhandene Standardbehandlung nicht erfolgsversprechend ist.444 Es gilt das Vorsichtsprinzip, wonach bei der Bewertung der Nutzenwahrscheinlichkeit Zurückhaltung geboten, die Bewertung der Risikowahrscheinlichkeit hingegen mit besonderer Sorgfalt durchzuführen ist.445 1. Individueller Heilversuch Der individuelle Heilversuch ist trotz der mit ihm verbundenen erhöhten Risiken und Unsicherheiten im Vergleich zur Standardbehandlung der Kategorie der Heil440 Gesetz über Medizinprodukte v. 2.8.1994 in der Fassung der Bekanntmachung v. 7.8.2002, BGBl. 2002 I Nr. 58 S. 3146. 441 Eingehend zu den unterschiedlichen rechtlichen und ethischen Regulierungen des medizinischen Erprobungshandelns auf nationaler und internationaler Ebene Wölk, Risikovorsorge und Autonomieschutz im Recht des medizinischen Erprobungshandelns, S. 97 ff.; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 5 ff.; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1302 ff.; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 72 ff., 88 ff. 442 Es verbiete sich spezialgesetzliche Vorschriften ohne Weiteres auf andere Formen der Humanforschung zu erstrecken, die nicht ihrem Anwendungsbereich unterfallen, Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 13; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 81 f.; Eck, Die Zulässigkeit medizinischer Forschung mit einwilligungsunfähigen Personen und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, S. 139 f. Zur umstrittenen Frage, welche gesetzlichen Vorschriften auf das konkrete Forschungsvorhaben anwendbar sind, vgl. exemplarisch für die Anwendbarkeit des AMG auf Heilversuche bzw. Heilversuchsreihen D. Bender, MedR 2005, 511, 515 u. Deutsch, VersR 2005, 1009, 1013. 443 Zum Umfang der Bereichsausnahme, insbes. im Kontext systemmedizinischer Forschung, s. Fleischer, Rechtliche Aspekte der Systemmedizin, S. 215 ff., die sich im Grenzbereich zwischen Forschung und Versorgung für eine direkte Anwendung des GenDG ausspricht, sofern mit einer genetischen Untersuchung zu Forschungszwecken gleichzeitig auch konkrete medizinische Zwecke verfolgt werden. Eine analoge Anwendung der Vorschriften des GenDG befürwortet Fleischer, wenn ausschließlich zu Forschungszwecken generierte Ergebnisse ohne einen Behandlungszusammenhang mitgeteilt werden sollen. 444 Hart, MedR 1994, 94, 100 f.; ders., MedR 2015, 766, 770 f.; zustimmend Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 62; abweichend fordert v. Dewitz, in: Rieger/ Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2480 Rn. 16, die prognostische Überlegenheit des Heilversuchs gegenüber einer eventuell existierenden Standardbehandlung. 445 Versuchsrecht ist insofern auch Sicherheitsrecht und unterliegt dem Gebot der konservativen Schätzung, Hart, MedR 2015, 766, 771.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
eingriffe zuzuordnen. Seine Legitimationsvoraussetzungen unterliegen jedoch gesteigerten Anforderungen.446 Zunächst bedarf es einer „Indikation“; der Heilversuch muss vertretbar sein. Dies ist der Fall, wenn die zu erwartenden Vorteile der Behandlung die zu befürchtenden Risiken und Nachteile unter besonderer Berücksichtigung des Patientenwohls überwiegen.447 Die Nutzen-Risiko-Abwägung hat dabei sowohl allgemein als auch konkret-individuell zu erfolgen.448 Die einmal festgestellte positive Bewertung ist vom Arzt während der gesamten Behandlungsdauer fortlaufend zu überprüfen.449 Bedingt durch die im Vergleich zur Standardbehandlung erhöhten Risiken obliegen dem Arzt im Rahmen eines Heilversuchs zudem gesteigerte Aufklärungspflichten. Er hat seinen Patienten umfassend über den experimentellen Charakter des Eingriffs sowie über die ungewissen Chancen und Risiken aufzuklären. Die erteilten Informationen sollen dem Patienten eine selbstverantwortliche Entscheidung ermöglichen, ob er in den Eingriff, trotz der aufgezeigten Risiken, einwilligt.450 Für die Einwilligung als stärkste Legitimation des Heilversuchs gelten die allgemeinen Grundsätze.451 Schließlich ist der Heilversuch fachgerecht durchzuführen452 und zu dokumentieren, § 630f BGB.453 446
BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 – Vigabatrin-Verordnung m. Anm. Katzenmeier, JZ 2007, 1108; Kirchhof, MedR 2007, 147, 148 f.; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 131 Rn. 63; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 28; ders., in: FS Deutsch, 2009, S. 343, 346 f.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 37; Schneider, Neue Behandlungsmethoden im Arzthaftungsrecht, S. 87 f. 447 BGHZ 168, 103, 105 f. = NJW 2006, 2477 – Robodoc; BGHZ 172, 1, 5 = NJW 2007, 2767, 2768 – Vigabatrin-Verordnung; BGH NJW 2017, 2685; Deutsch, VersR 2005, 1009, 1012; Kirchhof, MedR 2007, 147, 148; Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 131 Rn. 63; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 31; v. Dewitz, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2480 Rn. 16 ff.; Frahm/ Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 116. 448 Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 47; Hart, MedR 2015, 766, 770 f. 449 BGHZ 172, 1, 8 = NJW 2007, 2767, 2768 f. – Vigabatrin-Verordnung m. Anm. Katzenmeier, JZ 2007, 1108, 1109 f.; Vogeler, MedR 2008, 697, 702 f.; Hart, MedR 2015, 766, 770; ders., MedR 2016, 669, 673; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 31; v. Dewitz, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2480 Rn. 19; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 116. 450 BGHZ 168, 103, 107 ff. = NJW 2006, 2477, 2478 f. – Robodoc m. zust. Anm. Katzenmeier, NJW 2006, 2738, 2739 f.; BGHZ 172, 1, 13 f. = NJW 2007, 2767, 2770 – Vigabatrin-Verordnung m. Anm. Katzenmeier, JZ 2007, 1108, 1110 f.; Hart, MedR 1994, 94, 101 f.; ders., MedR 2015, 766, 771 f.; Deutsch, VersR 2005, 1009, 1012; Kirchhof, MedR 2007, 147, 148; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, S. 139 f.; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 32; v. Dewitz, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2480 Rn. 16, 27 ff. 451 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 35. Zur Einwilligung in eine ärztliche Standardbehandlung s. oben B. III. 2. 452 v. Dewitz, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2480 Rn. 16, 47; vgl. auch BGHZ 168, 103, 106 f. = NJW 2006, 2477, 2478 – Robodoc. 453 v. Dewitz, in: Rieger/Dahm/Katzenmeier/Steinhilper, HK-AKM, 2480 Rn. 16, 48; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 40. Die Anforderungen an Inhalt und
D. Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln
193
2. Forschungseingriff Der Forschungseingriff in der Humanforschung dient nicht der ärztlichen Versorgung und Behandlung des individuell Kranken, sondern ist auf wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ausgerichtet.454 Ebenso wie die Legitimation des Heileingriffs ist auch die des Forschungseingriffs an drei Grundvoraussetzungen geknüpft: sachliche Rechtfertigung, Einwilligung nach Aufklärung und Durchführung lege artis.455 Die Erfüllung der Voraussetzungen gewährleistet dabei nicht nur die Rechtmäßigkeit des Eingriffs, sondern stellt zugleich den Schutz des betroffenen Probanden vor den besonderen Risiken der medizinischen Forschung sicher.456 Die sachliche Rechtfertigung setzt sich aus drei Elementen zusammen:457 Erstens muss das Forschungsvorhaben wissenschaftlich gerechtfertigt sein und wissenschaftlichen Standards genügen („wissenschaftliche Vertretbarkeit“).458 Zweitens hat eine wissenschaftlichen Anforderungen genügende Dokumentation des Forschungsvorhabens und seiner Ergebnisse zu erfolgen.459 Drittens ist schließlich zwischen den Chancen und Nutzen, welche das Forschungsprojekt für die Allgemeinheit bietet, und den Risiken für den Probanden sorgfältig abzuwägen. Die Bedeutung des Forschungsfortschritts muss die Eingriffe und Risiken für den Probanden rechtfertigen.460 Da die sachliche Rechtfertigung während der gesamten Dauer des Forschungsvorhabens gegeben sein muss, ist sie regelmäßig zu überprüfen. Entfällt die Rechtfertigung, ist der Eingriff zu beenden.461 Umfang der Dokumentationspflicht sind beim Heilversuch gesteigert. Die Dokumentation ist Bestandteil der Anforderung an die Wissenschaftlichkeit der Erprobung, Hart, MedR 2015, 766, 773. 454 Zum Wesen des Forschungseingriffs s. bereits oben 1. Kap., C. II. 455 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 45; Kirchhof, MedR 2007, 147, 149; s. auch Eser, in: GS Schröder, S. 191, 206 ff.; Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 68 Rn. 33 ff. Welche Voraussetzungen im Einzelnen für Forschungseingriffe in der Humanforschung gelten, ist seit geraumer Zeit Gegenstand intensiver Diskussion. Weitgehend Einigkeit besteht aber insoweit, als dass die Anforderungen aus den allgemeinen Grundsätzen für Eingriffe in die körperliche und seelische Integrität eines Menschen und in Anlehnung an die ausgebildete Dogmatik des Heileingriffs zu entwickeln sind, Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 42; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 23. 456 Lipp, in: FS Deutsch, 2009, S. 343, 347; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 23. 457 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 49; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 23. 458 Orientierung bietet hier die Deklaration von Helsinki, in der die Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit der Forschung konkretisiert sind, Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 46; s. hierzu auch Kern, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, § 131 Rn. 44; Kirchhof, MedR 2007, 147, 149 spricht von „wissenschaftlicher Indikation“. 459 Deklaration von Helsinki Nr. 36; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 47. 460 Deklaration von Helsinki Nr. 16–18; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 48; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1336; Kratz, VersR 2007, 1448, 1450. 461 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 49.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Zweite Legitimationsvoraussetzung ist die freiwillige462 Einwilligung des Probanden als Ausdruck seines Selbstbestimmungsrechts. Der Einwilligung hat eine Aufklärung über die geplanten Eingriffe und die damit verbundenen Risiken vorauszugehen. Um dem Probanden eine selbstbestimmte Entscheidung bezüglich seiner Teilnahme an dem Forschungsprojekt zu ermöglichen, ist er über die damit einhergehenden Vor- und Nachteile in Kenntnis zu setzen.463 Die dritte und letzte Legitimationsvoraussetzung ist die Durchführung lege artis des Forschungsvorhabens. Dies setzt zum einen voraus, dass sowohl die Konzeption des Projekts als auch der einzelne Forschungseingriff wissenschaftlichen Standards entsprechen. Zum anderen haben die Eingriffe ärztlich verantwortlich zu erfolgen. Der Arzt hat die Rechte und Interessen der Versuchsteilnehmer zu schützen, Deklaration von Helsinki Nr. 8, 9, 14.464 Strukturell betrachtet entsprechen die Legitimationsvoraussetzungen für Forschungseingriffe denen für Heileingriffe. Markante Unterschiede ergeben sich jedoch im Hinblick auf die Zweckrichtung: Während sich der Heileingriff auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient bezieht, weist das Forschungsvorhaben stets über das individuelle Verhältnis hinaus auf den medizinischen Erkenntnisfortschritt und dessen Bedeutung für die Allgemeinheit. Das sich aus diesem Umstand ergebende Kontrollbedürfnis hat zur Einrichtung von Ethik-Kommissionen geführt, die die Forschungsprojekte vor Beginn begutachten. Ärzte sind zur Einschaltung einer Ethik-Kommission berufsrechtlich verpflichtet, § 15 Abs. 3 MBO-Ä i. V. m. der Deklaration von Helsinki Nr. 23. Daneben existieren spezialgesetzliche Regelungen, beispielsweise § 20 Abs. 1 S. 1 MPG oder § 40 Abs. 1 S. 2 AMG.465
462
Die Freiwilligkeit der Einwilligung wird durch die Möglichkeit ihres jederzeitigen nachteilsfreien Widerrufs sichergestellt, Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 51; näher zum Widerruf und seinen Folgen Lippert, MedR 2013, 714, 717; zur Freiwilligkeit der Einwilligung s. auch Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 10 f. 463 Näher zu Inhalt und Umfang der Aufklärung s. Deklaration von Helsinki Nr. 25–32. Es sind grundsätzlich dieselben Anforderungen wie für die Selbstbestimmungsaufklärung bei Heileingriffen zu beachten. Einschränkungen bei der Aufklärung aus therapeutischen Gründen sowie ein Aufklärungsverzicht sind jedoch ausgeschlossen, vgl. Lipp, in: Laufs/ Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 50; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 23; s. hierzu auch Kirchhof, MedR 2007, 147, 149; Kratz, VersR 2007, 1448, 1450. 464 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 52; zu den Sorgfaltspflichten des Arztes s. auch Fischer, Medizinische Versuche am Menschen, S. 19 ff. 465 Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 53; ausführlich zur Kontrolle der medizinischen Humanforschung durch Ethik-Kommissionen Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 109 ff.; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 1377 ff.; Achtmann, Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, S. 41 ff. Der individuelle Heilversuch bedarf hingegen keiner berufsrechtlichen Legitimation durch eine Ethikkommission. Seine Durchführung ist von der ärztlichen Berufsausübungs- bzw. Therapiefreiheit umfasst, Hart, MedR 2015, 766, 773.
D. Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln
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3. Datenschutzrechtliche Anforderungen Die allgemeinen Legitimationsvoraussetzungen für Heilversuche und Forschungseingriffe werden in der Systemmedizin um datenschutzrechtliche Anforderungen ergänzt. Für die Datenverarbeitung zu Forschungszwecken466 sind zusätzlich zu den allgemeinen Regelungen in Art. 5 und 6 DS-GVO sowie für Gesundheitsdaten in Art. 9 DS-GVO auch die Sondervorschriften in Art. 5 und 89 DS-GVO zu beachten.467 Zudem hat der deutsche Gesetzgeber von der in Art. 9 Abs. 2 lit. j) DSGVO vorgesehenen Möglichkeit Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung sensibler Daten zu wissenschaftlichen Forschungszwecken zu schaffen in § 27 BDSG Gebrauch gemacht. Grundsätzlich bedarf es auch im Forschungskontext der Einwilligung des Betroffenen in die Verarbeitung seiner Daten nach entsprechender Aufklärung.468 Sowohl der europäische als auch der deutsche Gesetzgeber räumen der Forschung jedoch zahlreiche Verarbeitungsmöglichkeiten ein, die keiner Einwilligung der betroffenen Person bedürfen oder bei denen die Einwilligung nur eine von mehreren Ermächtigungsgrundlagen darstellt. So kann bei der Verarbeitung von Gesundheitsdaten auf die Einwilligung ausnahmsweise verzichtet werden, wenn die Verarbeitung zu Forschungszwecken erforderlich ist und die Interessen des Verantwortlichen an der Verarbeitung die Interessen der betroffenen Person an einem Ausschluss der Verarbeitung erheblich überwiegen, § 27 Abs. 1 BDSG. Wurde ein Probandenvertrag abgeschlossen, so ist die Einwilligung des Betroffenen zudem entbehrlich, wenn die Datenverarbeitung für die Vertragserfüllung erforderlich ist, Art. 6 Abs. 1 lit. b) DS-GVO. Dieser gesetzliche Erlaubnistatbestand gilt jedoch nicht für besondere Kategorien personenbezogener Daten.469 Die erteilte Einwilligung muss sich grundsätzlich auf einen oder mehrere bestimmte Verarbeitungszwecke beziehen, Art. 6 Abs. 1 lit. a), Art. 9 Abs. 2 lit. a) DS-GVO. Wurden bereits Daten des Betroffenen anlässlich einer medizinischen Heilbehandlung erhoben, ermöglicht Art. 5 Abs. 1 lit. b) Hs. 2 DS-GVO deren Weiterverarbeitung im Forschungskontext. Denn gemäß dieser Vorschrift gilt die Weiterverarbeitung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken als mit dem ursprünglichen Erhebungszweck vereinbar. Eine Einschränkung erfährt diese Privi466
Der den Vorschriften der DS-GVO zugrunde liegende Forschungsbegriff ist grundsätzlich weit auszulegen, vgl. Eg. 159 DS-GVO, sodass wohl auch der Heilversuch hierunter zu subsumieren ist. 467 Eg. 159 DS-GVO; Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, Teil 3 Rn. 71 f. Allgemein zur Datenverarbeitung zu Forschungszwecken bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b) bb) (2) u. 2. a) bb) (2) (b). 468 Lippert, GesR 2018, 613, 616; zu den grundlegenden Anforderungen an die Einwilligungserklärung sowie zu der Frage, ob Einwilligungserklärungen in der Systemmedizin noch eine hinreichende Legitimationsgrundlage für die Datenverarbeitung bieten können s. bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b) bb). Speziell zur Einwilligung in die Verarbeitung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken s. Fleischer, Rechtliche Aspekte der Systemmedizin, S. 280 ff. 469 Vgl. Lippert, GesR 2018, 613, 619. Gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) BDSG ist die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten nur auf Grundlage eines Behandlungsvertrages rechtmäßig.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
legierung jedoch durch Art. 89 Abs. 1 S. 4 DS-GVO dahingehend, dass eine personenbezogene Weiterverarbeitung ausscheidet, wenn die privilegierten Zwecke auch mit anonymisierten Daten erreicht werden können. Sind die Verarbeitungszwecke im Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht definierbar, hilft zudem Erwägungsgrund 33 DS-GVO weiter, wonach die Einwilligung nur für bestimmte Forschungsbereiche oder Teile von Forschungsprojekten gewährt werden kann. Es ist somit möglich in Einverständniserklärungen für Teilnehmer wissenschaftlicher Studien bestimmte Bereiche festzulegen, die über eine spezifische Forschungsfrage hinausgehen.470 Zur Wahrung der Interessen des Betroffenen hat der Verantwortliche für die Datenverarbeitung angemessene und spezifische Maßnahmen gemäß § 22 Abs. 2 S. 2 BDSG vorzusehen, § 27 Abs. 1 S. 2 BDSG.471 Zusätzlich zur Einwilligung des Betroffenen in die Datenverarbeitung ist eine Entbindung des Forschers von der ärztlichen Schweigepflicht erforderlich, sofern Patientendaten verarbeitet werden sollen.472
II. Zufallsbefunde in der Systemmedizin Die kontinuierliche Erhebung und Auswertung großer Datenmengen in der Systemmedizin bringt unweigerlich auch eine zunehmende Anzahl sog. Zufallsbefunde hervor.473 Mit der Entdeckung eines solchen Befundes ist die grundsätzliche Problematik des richtigen Umgangs mit den erlangten Informationen verbunden. Einerseits kann die Mitteilung des Befundes geboten sein, um schwerwiegende gesundheitliche Konsequenzen für den Betroffenen abzuwenden. Andererseits kann die Befunderöffnung aber auch negative Folgen nach sich ziehen, so etwa wenn für die genaue Diagnosestellung zahlreiche, physisch und psychisch belastende Zusatzuntersuchungen erforderlich sind oder keine Therapiemöglichkeiten existieren.474 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als elementare Rechtsposition des Betroffenen steht mithin im Fokus der Kontroverse. „Im Kern geht es um die Frage: Wer muss oder darf wem wann welche Zufallsbefunde mitteilen und wann dürfen oder müssen Zufallsbefunde mitgeteilt werden?“475
470
S. hierzu bereits oben 2. Kap., B. III. 1. b). BT-Drs. 18/11325, S. 99; s. auch Lippert, GesR 2018, 613, 620. 472 Es gilt insoweit das sog. Zwei-Schranken-Prinzip. Streng genommen hat der deutsche Gesetzgeber mit Einführung des § 27 BDSG mit diesem Prinzip gebrochen. Denn gemäß § 27 Abs. 1 BDSG ist unter bestimmten Voraussetzungen die Datenverarbeitung auch ohne Einwilligung des Betroffenen zulässig, sodass die erste Schranke entfällt, vgl. Lippert, GesR 2018, 613, 621; s. hierzu auch bereits oben C. II. 3. 473 Vgl. Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1331; Fischer et al., MC Medical Ethics 2016, 17:32. 474 Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9, 10; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 44 f.; vgl. auch Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982, A-1983. 475 Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 50. 471
D. Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln
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Die Debatte über den richtigen Umgang mit inzidenten Befunden ist nicht neu,476 gewinnt durch die Systemmedizin aber an Dringlichkeit.477 1. Begriff und Bedeutung Der Begriff des Zufallsbefundes (teilweise wird auch von Zufallsfund478 oder Zusatzbefund479 gesprochen) bezeichnet erhobene Befunde, für die zuvor keine erkennbaren Hinweise existierten und nach denen nicht gezielt gesucht wurde.480 In der englischen Sprache wird häufig der Begriff incidental findings verwendet.481 Charakteristisches Merkmal von Zufallsbefunden ist, dass sie nicht intendiert sind, sondern nebenbei entdeckt werden, dabei aber eine Relevanz für die Gesundheit und/oder die reproduktiven Fähigkeiten des Betroffenen selbst und/oder seiner Verwandten aufweisen.482 Bislang traten inzidente Funde häufig in zwei Bereichen auf: beim Einsatz bildgebender Verfahren in der Forschung sowie im Kontext gendiagnostischer Untersuchungen.483 Während ein Zufallsbefund in der bildgebenden Hirnforschung für gewöhnlich auf eine bereits manifeste, lediglich noch nicht erkannte Erkrankung hinweist,484 ist ein genetischer Zufallsbefund in Form einer Mutation meist ein Indiz für eine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit in der Zukunft.485
476
Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982; Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, 1041; Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013; Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1334. 477 Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1331 f.; Fischer et al., MC Medical Ethics 2016, 17:32. 478 Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, 1041; Duttge, DuD 2010, 34, 38; Deutsch/ Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 348. 479 Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 1; Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1331; Rudnik-Schöneborn, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 10; Gantner, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 107 ff.; zur Diskussion um den richtigen Terminus Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 50 f.; Gantner, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 109 ff. 480 Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982; TAB-Zukunftsreport Individualisierte Medizin, 2009, S. 99. 481 Wolf et al., Journal of Law, Medicine & Ethics 2008, 219, definieren incidental findings als „a finding […] that has potential health or reproductive importance which is discovered in the course of conducting research, but is beyond the aims of the study“. 482 Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 43; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 51; s. auch Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 1; Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 107. 483 Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 43 f.; Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, 1041; s. hierzu auch Wolf et al., Journal of Law, Medicine & Ethics 2008, 219, 222 ff. 484 Typische Zufallsbefunde im Rahmen von MRT-Scans sind etwa Tumore, Zysten, Fehlbildungen oder Wucherungen, Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 44. 485 So weist bspw. eine Mutation in den sog. BRCA-Genen auf ein erhöhtes Brustkrebsrisiko der Trägerin hin, Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 44.
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3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Genetischen Zufallsbefunden kommt somit eine verstärkt prädiktive Bedeutung zu.486 Vor dem Hintergrund der modernen diagnostischen Möglichkeiten steigt die Wahrscheinlichkeit von Zufallsbefunden,487 so auch in der Systemmedizin.488 2. Umgang mit Zufallsbefunden Während sich der Umgang mit Zufallsbefunden im Forschungskontext als schwierig erweist, existieren im Behandlungskontext weitgehend klare Regeln.489 a) Behandlungskontext Dem behandelnden Arzt obliegen grundsätzlich Diagnosestellung sowie Befunderhebung inklusive -sicherung.490 Unterlässt er die Erhebung medizinisch gebotener Befunde, liegt ein Befunderhebungsfehler vor. Die falsche Bewertung eines erhobenen oder sonst vorliegenden Befundes begründet einen Diagnoseirrtum, der dazu führen kann, dass die gebotenen therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen nicht ergriffen werden.491 Die Erhebung von Zufallsbefunden erfolgt nicht zielgerichtet, sondern nebenbei. Sie ist nicht medizinisch geboten; es gibt keine „Zufallsbefunderhebungspflicht“. Liegt ein unerwarteter Fund vor, so darf der behandelnde Arzt jedoch „nicht die Augen verschließen“.492 Die Fehlinterpretation von erhobenen Befunden, auch wenn sie nur zufällig erhoben wurden, begründet einen Diagnoseirrtum.493 Wird also ein Zufallsbefund entdeckt, so ist der Arzt verpflichtet seinen Patienten darüber zu informieren, sofern der Befund Anlass zu weiteren medizinischen Maßnahmen gibt.494 Eine weitergehende Befunderhebung und Diagnostik oder die Hinzuziehung eines Spezialisten ist erforderlich, wenn „relevante, ver-
486
Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 44. Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, 1041; Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9; Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 107; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 50. 488 Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1331; Fischer et al., MC Medical Ethics 2016, 17:32. 489 Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 112; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 42. 490 Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9. 491 BGHZ 188, 29, 35 = NJW 2011, 1672; BGH NJW 1988, 1513, 1514; BGH NJW 2003, 2827; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 42; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 348. Während Befunderhebungsfehler regelmäßig als Behandlungsfehler gewertet werden, ist die Rspr. bei der Fehlinterpretation von Befunden deutlich zurückhaltender, s. hierzu bereits oben B. II. 2. b) Fn. 163; zu der oftmals schwierigen Abgrenzung von Diagnose- und Befunderhebungsfehlern BGHZ 188, 29, 35 f. = NJW 2011, 1672 = JZ 2011, 795, 796 m. Anm. Katzenmeier; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 348. 492 BGHZ 188, 29, 35 = NJW 2011, 1672. 493 Vgl. Katzenmeier, JZ 2011, 795, 798 f.; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 348. 494 Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9, 10; Erdmann et al., DÄBl. 2015, A-1330, A-1332; vgl. auch OLG Köln NJW 1987, 2936; Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 108. 487
D. Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln
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wertbare Erkenntnisse“ vorliegen.495 Schließt der Patient hingegen die Mitteilung von Zufallsbefunden aus, macht also von seinem Recht auf Nichtwissen Gebrauch, so ist es dem Arzt untersagt ihn zu informieren.496 Für Zufallsbefunde, die anlässlich einer genetischen Untersuchung i. S. d. GenDG auftreten, sind zusätzlich die speziellen Regelungen des GenDG zu beachten. Aus der Gesetzesbegründung zu § 9 GenDG ergibt sich eine Aufklärungspflicht über die Möglichkeit unerwarteter Untersuchungsergebnisse im Vorfeld der Behandlung, wenn es nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik möglich ist, dass bei der geplanten genetischen Untersuchung neben den abzuklärenden genetischen Eigenschaften weitere unerwartete, nicht vom Untersuchungszweck erfasste, genetische Eigenschaften festgestellt werden. Dies kann etwa die Feststellung der genetischen Disposition für eine unheilbare Krankheit sein.497 Die Aufklärung hat im Vorfeld der genetischen Untersuchung meist gezwungenermaßen abstrakt zu bleiben.498 Neben der Möglichkeit des Auftretens von Zufallsbefunden ist die betroffene Person darüber zu informieren, dass sie mit ihrer Einwilligung eine Entscheidung darüber trifft, inwieweit ihr gegenüber unerwartete Befunde mitgeteilt werden dürfen.499 Die Einwilligung des Betroffenen ist somit maßgeblich für die Frage, ob und inwieweit erhobene Zufallsbefunde offenbart werden dürfen, vgl. § 8 Abs. 1 S. 2 GenDG. Der Patient ist auch hier Herr über seine genetischen Daten.500 Da es sich vielfach um prädiktive Befunde handelt, ist zusätzlich eine genetische Beratung durch einen qualifizierten Arzt erforderlich, § 10 Abs. 2 GenDG.501 b) Forschungskontext In der medizinischen Forschung steht nicht die ärztliche Versorgung und Behandlung im Vordergrund, sondern die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkennt495
OLG Hamm MedR 2010, 714; Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 108. Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 109. 497 BT-Drs. 16/10532, S. 27; s. auch Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, (2011), § 9 Rn. 8; Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9, 12; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 53; Eberbach, MedR 2019, 1, 7. 498 Es ist lediglich in groben Zügen über die wichtigsten Arten genetischer Eigenschaften aufzuklären, die zufällig festgestellt werden können, Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, (2011), § 9 Rn. 8; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 52; Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 109. Dies steht im Einklang mit den allgemeinen Anforderungen an die Aufklärung des Patienten vor medizinischen Behandlungen, wonach eine Aufklärung „im Großen und Ganzen“ zu leisten ist, s. hierzu ausführlich oben B. III. 1. 499 Schillhorn/Heidemann, Praxiskommentar GenDG, (2011), § 9 Rn. 8; Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 1; Rudnik-Schöneborn, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 11. 500 Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 109; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 52. Ohne das Einverständnis des Betroffenen dürfen Zufallsbefunde ebenso wenig wie intendierte genetische Befunde den Familienangehörigen des Betroffenen mitgeteilt werden, Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 54 f.; s. hierzu auch bereits oben C. II. 5. b) 501 Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 3; Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 109. 496
200
3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
nisse.502 Dem Forscher obliegen daher grundsätzlich keine zielgerichteten Befunderhebungs- oder Mitteilungspflichten hinsichtlich gesundheitsbezogener Befunde. Er hat weder die Pflicht Zufallsbefunde zur Kenntnis zu nehmen, noch diese dem Probanden mitzuteilen oder weitergehende Untersuchungsmaßnahmen zu veranlassen.503 Dementsprechend gibt es auch keine gesetzliche Verpflichtung, über die Möglichkeit des Auftretens von Zufallsbefunden aufzuklären.504 Aus dem zwischen Forscher und Proband regelmäßig geschlossenen Probandenvertrag505 lässt sich jedoch ableiten, dass über die Möglichkeit von unerwarteten Funden sowie über die damit einhergehenden medizinischen, sozialen und finanziellen Konsequenzen506 zu informieren ist.507 Konflikte können entstehen, wenn der Proband die Mitteilung von eventuellen Zufallsbefunden vorab ausschließt, der Forscher dann jedoch unerwartete Befunde erhebt, die lebensbedrohlich sind und eine medizinische Behandlung dringend gebieten.508 Zur Vermeidung derartiger Konfliktsituationen wird vorgeschlagen, die Einwilligung in die Befundmitteilung als Einschlusskriterium zu formulieren und damit zur Voraus502
Es ist zwischen klinischen Heilversuchen und Studien, für die zumindest teilweise die gleichen Grundsätze wie im Behandlungskontext anwendbar sind, einerseits sowie einem sonstigen Forschungskontext andererseits zu differenzieren, Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9, 13; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 57. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den sonstigen Forschungsbereich. Zu unterschiedlichen Zielrichtungen von Forschungs- und Heileingriffen s. bereits oben 1. Kap., C. 503 Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9, 13; Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 113; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 42; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 58; s. auch Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982, A-1985. Zu den unterschiedlichen Charakteristika des Arzt-Patient- und des Forscher-Proband-Verhältnisses (Indikation und Einwilligung auf der einen, Prinzip der Autonomie und des Nichtschädigens auf der anderen Seite) s. Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982, A-1983 f. 504 Eine Pflicht zur Mitteilung von Zufallsbefunden, die für die aktuelle oder künftige Gesundheit des Probanden relevant sind, wird zwar in Art. 27 des Zusatzprotokolls zum „Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin“ des Europarates v. 4.4.1997 betreffend biomedizinische Forschung normiert (abrufbar unter: https://www.coe.int/de/ web/conventions/full-list/-/conventions/rms/090000168008371a, Zugriff: 13.4.2020). Deutschland hat aber bislang weder die Konvention noch ihre Zusatzprotokolle unterzeichnet oder ratifiziert, Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 58. 505 Der Probandenvertrag ist gesetzlich nicht geregelt. Es handelt sich um einen eigenständigen Vertragstypus, der die Grundlage für die Teilnahme der Versuchsperson am Forschungsprojekt bildet, Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, Kap. XIII Rn. 43 m. w. N.; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 58. 506 So kann der zufällige Fund eines Gehirntumors neben der Notwendigkeit einer weitergehenden medizinischen Behandlung auch etwa Auswirkungen auf den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung sowie auf die weitere Lebensplanung haben, Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, 1041, 1043. 507 Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, 1041, 1043; Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982, A-1984 ff.; Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 2 f.; Robienski, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 58. Dies gilt freilich nur, sofern die Untersuchungen nicht anonymisiert durchgeführt werden, Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 2 f. 508 Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982, A-1986; Duttge, DuD 2010, 34, 38.
D. Exkurs: Medizinisches Erprobungshandeln
201
setzung für eine Studienteilnahme zu machen.509 Auch hier offenbart sich wieder das grundsätzliche Problem des Rechts auf Nichtwissen: Eine autonome Entscheidung darüber, welche Befunde (nicht) zur Kenntnis genommen werden sollen, kann der Proband nur treffen, wenn er weiß, welche Befunde möglicherweise erhoben werden könnten.510 c) Fazit Bislang ist eine Pflicht zur Aufklärung über die Möglichkeit von Zufallsbefunden also nur für genetische Untersuchungen i. S. d. GenDG ausdrücklich normiert. Durch die Systemmedizin treten aber auch im allgemeinen Behandlungs- sowie im Forschungskontext vermehrt Zufallsbefunde auf, sodass eine gesetzlich normierte Aufklärungspflicht des Arztes oder des Forschers auch in diesen Bereichen interessengerecht erscheint.511 Nur durch eine entsprechende Aufklärung im Vorhinein der Behandlung oder des Forschungsvorhabens kann der Patient oder Proband zur eigenständigen Entscheidung über den Umgang mit Zufallsbefunden befähigt werden. Willigt die untersuchte Person in die Mitteilung von Zufallsbefunden ein, so sollte der Arzt oder der Forscher ihr nur solche Befunde mitteilen, die analytisch gesichert und wissenschaftlich valide sind.512 Zudem bietet sich eine Kategorisierung von Zufallsbefunden nach ihrer Bedeutung für den Betroffenen an. Für Befunde, die auf eine behandelbare Krankheit hinweisen, erscheint eine Mitteilung regelmäßig geboten. Ergibt sich aus den Befunden hingegen, dass der Betroffene an einer Erkrankung leidet, für die es zum Untersuchungszeitpunkt keine Therapiemöglichkeiten gibt, ist Zurückhaltung angebracht. Das gilt auch dann, wenn für die betroffene Person selbst kein gesundheitliches Risiko besteht, aber für ihre potenziellen Nachkommen und/oder Angehörigen.513 Handelt es sich um genetische Zufallsbefunde, die sich oftmals nicht nur auf die untersuchte Person be-
509 Heinemann et al., DÄBl. 2007, A-1982, A-1986; Schleim et al., Nervenheilkunde 2007, 1041, 1043. 510 Duttge, DuD 2010, 34, 38. Zum Grundproblem des Rechts auf Nichtwissen s. bereits oben 2. Kap., A. II. 4. 511 Für eine Aufklärungspflicht über die Möglichkeit des Auftretens von genetischen Zufallsbefunden auch im allgemeinen Behandlungskontext Rudnik-Schöneborn et al., Ethik Med 2014, 105, 111; Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 46 spricht sich für eine entsprechende Aufklärungspflicht im Forschungskontext aus; ebenso BMBF-Projektgruppe „Recht auf Nichtwissen“, MedR 2016, 399, 402, 403. 512 Vgl. Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 2. 513 Eine derartige Kategorisierung wurde bereits für genetische Zufallsbefunde entwickelt, s. hierzu Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 2 f.; Rudnik-Schöneborn, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 12 ff. Es wird jedoch angemerkt, dass die Einteilung der Befunde durch den behandelnden Arzt oder Forscher jedenfalls die Gefahr von Fehleinschätzungen in sich berge. Zudem trifft der Betroffene die Entscheidung über die Relevanz einer Information nicht selbst, was zumindest unter Autonomiegesichtspunkten bedenklich sei, Fündling, in: Langanke et al., Zufallsbefunde, S. 47.
202
3. Kap.: Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
schränken, sondern auch Familienangehörige betreffen, ist eine familienzentrierte Aufklärung und Befundmitteilung anzustreben.514
514
Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Stellungnahme zu genetischen Zusatzbefunden, 2013, S. 4.
Kapitel 4: Zusammenfassung und Ausblick Begriff und Bedeutung der Systemmedizin A. Kap.: BegriffZusammenfassung und Bedeutung der Systemmedizin 4. und Ausblick
Der Begriff Systemmedizin steht für einen interdisziplinären Ansatz, dessen Ziel es ist, die medizinische Forschung (d. h. das Verständnis komplexer Krankheitsprozesse, Krankheitsbilder und Gesundheitszustände sowie innovative Ansätze der Arzneimittelforschung) und Gesundheitsversorgung (d. h. Prävention, Prädiktion, Diagnose und Behandlung) zu optimieren.1 Hierfür werden zahlreiche unterschiedliche Daten, neben biologischen und neuropsychologischen etwa auch soziale Daten, zusammengeführt. Für die Analyse, Integration und Anwendung dieser Daten werden insbesondere systemorientierte sog. omics-Technologien und bioinformatorische Analysen eingesetzt. Untersucht werden das Zusammenspiel vielfältiger Faktoren, die zur Entstehung von Krankheiten beitragen und deren Verlauf beeinflussen, und die Bedingungen für eine Gesundheitserhaltung. Im Zentrum steht der individuelle Patient, der ganzheitlich als System in den Blick zu nehmen ist.2 Die Systemmedizin gilt als Schlüssel zu einer modernen Medizin, deren Vorzeichen personalisiert, präventiv, prädiktiv und partizipierend sind, sog. P4 Medizin. Effektivere Therapien, wirksamere Medikamente und ein stärkerer Fokus auf die Prävention sollen darüber hinaus zur Kostensenkung im Gesundheitsbereich beitragen. Es ist absehbar, dass sich die wissenschaftlich-basierte medizinische Versorgung von der klassischen Krankenbehandlung in der Klinik zunehmend auf eine Optimierung des persönlichen Wohlbefindens im Privatbereich, aber auch am Arbeitsplatz des Konsumenten erstrecken wird.3 Die Systemmedizin ist die Fortführung der Systembiologie, sie überträgt die erzielten Erkenntnisse in die Medizin, Forschung und Praxis, sodass diese für den einzelnen Patienten fruchtbar gemacht werden können. Im Gegensatz zur individualisierten Medizin legt die Systemmedizin den Fokus nicht auf einzelne Biomarker, sondern integriert eine Fülle von heterogenen Daten. Während die Gendiagnostik sich auf die Untersuchung des menschlichen Erbguts zur Ermittlung von Krankheiten oder Krankheitsdispositionen beschränkt, ist die Systemmedizin darauf ausgerichtet ein verbessertes Verständnis komplexer physiologischer und pathologischer Prozesse in ihrer Gesamtheit zu erzielen. Hierfür werden zusätzlich zu genetischen Daten vielfältige andere Datenarten mit einbezogen.4 Durch die Systemmedizin wird die bereits heute fließende Grenze zwischen medizinischer Forschung und ärztlicher Behandlung weiter aufgeweicht. Es ist jeweils anhand einer Einzelfallbetrachtung zu entscheiden, ob bei der konkreten systemmedizinischen Maßnahme der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn oder ein
1
Vgl. Fernau/Schleidgen/Schickhardt/Fleischer/Oßa/Winkler, BMC Health Services Research 2017, 17:761. 2 S. 1. Kap., A. I. 3 S. 1. Kap., B. 4 S. 1. Kap., A. II.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 A. M. Ernst, Rechtsfragen der Systemmedizin, Kölner Schriften zum Medizinrecht 26, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62550-7_5
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4. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick
therapeutischer Zweck im Vordergrund steht. Auch Maßnahmen, die Forschungsund Heilinteressen in sich vereinen, sog. Mischfälle, sind denkbar.5
Herausforderungen und Voraussetzungen der Integration systemmedizinischer Ansätze in das Gesundheitssystem B. Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
Für die erfolgreiche Integration der Systemmedizin in das Gesundheitssystem sind zahlreiche Herausforderungen zu bewältigen und Voraussetzungen zu schaffen. Die grundlegende rechtliche Herausforderung ist der hinreichende Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des oder auch der Betroffenen. Dieser Schutz ist durch datenschutzrechtliche Vorschriften zu gewährleisten. Eine besondere Diskriminierungsgefahr droht beim Abschluss privater Versicherungsverträge.
I. Gefährdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Die im Rahmen der Systemmedizin erzielten Erkenntnisse haben häufig nicht nur Auswirkungen für die untersuchte Person, sondern strahlen auf andere Sozialbereiche, wie die Familie, das Arbeits- oder Versicherungsverhältnis aus. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Die untersuchte Person ist also berechtigt darüber zu entscheiden, wer welche Informationen über sie erhält. Der Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts erstreckt sich auf alle persönlichen Daten, unabhängig davon, ob es sich um besonders sensible oder aussagekräftige Informationen handelt, die geheim oder auch allgemein verfügbar sind. Der Begriff der persönlichen Daten deckt sich mit der Legaldefinition der personenbezogenen Daten in Art. 4 Nr. 1 DS-GVO, wonach alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen, personenbezogen sind. Der größte Teil der Daten, die in der Systemmedizin verarbeitet werden, weist einen Personenbezug auf. Die auf Grundlage dieser Daten ermittelten Krankheitswahrscheinlichkeiten, die einer konkreten Person zugeordnet werden können, sind ebenfalls als personenbezogene Daten zu qualifizieren. Die Möglichkeit des Rückschlusses von analysierten Datensätzen auf einzelne Patienten ist für die Umsetzung der erzielten Ergebnisse in konkrete Handlungsempfehlungen erforderlich.6 Es zeichnet sich ab, dass der Stellenwert von personenbezogenen Daten der Patienten stetig steigt. Die zunehmende Informationsdichte eröffnet zahlreiche neue Therapiemöglichkeiten, gleichzeitig ergeben sich aber auch neuartige Problemstellungen.7 5 6 7
S. 1. Kap., C. S. 2. Kap., A. I. 1. Vgl. Robienski/Hoppe, Pathologe 2013, 9, 14.
B. Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
205
Regelungsadressaten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind in der Systemmedizin primär private Stellen, die selbst Grundrechtsträger sind. Die personenbezogenen Daten des Patienten sind vor Zugriffen Dritter zu bewahren, die nicht wie der behandelnde Arzt ausschließlich dem Wohl und Vertrauen des Patienten verpflichtet sind, sondern patientenunabhängige Interessen verfolgen, wie zum Beispiel Arbeitgeber oder Versicherungsgesellschaften.8 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Denn auch die Datenverarbeitung durch andere Privatrechtssubjekte kann eine schützenswerte Grundrechtsausübung darstellen, die als potenziell gegenläufige Abwägungsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind. In zahlreichen Regelungen auf EU- aber auch auf nationaler Ebene, werden die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Beschränkungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts konkretisiert und die konfligierenden Interessen in Einklang gebracht, wie beispielsweise in der DS-GVO, dem BDSG oder dem GenDG.9 Ausdruck der informationellen Selbstbestimmung ist es nicht nur, Dritten den Zugriff auf bestimmte persönliche Informationen zu verwehren, sondern auch selbst frei über die eigene Kenntnisnahme zu disponieren. Diese Freiheit wird durch das verfassungsrechtliche Recht auf Wissen und sein Pendant, das Recht auf Nichtwissen, gewährleistet. Dabei erstreckt sich das Recht auf Nichtwissen nicht lediglich auf die eigene genetische Disposition, sondern auf sämtliche gesundheitsbezogene Informationen. Denn nur durch die Anerkennung eines umfassenden Rechts kann dem drohenden Verlust der Unbefangenheit, Offenheit und Freiheit gegenüber der eigenen Zukunft durch die unerwünschte Kenntnisnahme von bestimmten Krankheitsdispositionen zuvorgekommen werden. In der Systemmedizin ist das Recht auf Nichtwissen ein potenziell besonders gefährdetes Gut. Durch die Datenanalysen und -auswertungen werden oftmals Informationen über den Gesundheitszustand des Betroffenen offenbart, von denen er bislang keine Kenntnis hatte und auch keine Kenntnis wünscht. Um eine Balance zwischen dem Recht auf Nichtwissen und dem auf Wissen zu finden, ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden, welche Informationen die Lebensqualität des Betroffenen erhöhen und welche lediglich zu psychischen und physischen Belastungen führen. Hierfür bietet sich eine Beratung nach dem Vorbild der genetischen Beratung i. S. d. § 10 GenDG an. Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ambivalenz des Wissens ist für den Erfolg der Systemmedizin von grundlegender Bedeutung.10
II. Datenschutzrechtlicher Rahmen Der Schutz der informationellen Selbstbestimmung des Einzelnen in der Systemmedizin ist gewährleistet, sofern Dritte keinen unberechtigten Zugriff auf die verarbeiteten Daten erlangen. Verarbeitet werden primär personenbezogene Daten, die im weitesten Sinne eine gesundheitliche Relevanz besitzen. Der Begriff der personenbezogenen Daten i. S. d. Art. 4 Nr. 1 DS-GVO dient hierbei als Oberbegriff für Gesundheitsdaten 8 9 10
S. 2. Kap., A. I. 2. S. 2. Kap., A. I. 3. S. 2. Kap., A. II.
206
4. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick
i. S. d. Art. 4 Nr. 15 DS-GVO, Sozialdaten i. S. d. § 67 Abs. 2 S. 1 SGB X und Leistungsdaten.11 Die aufbauend auf den Daten erzielten systemmedizinischen Erkenntnisse wecken das Interesse einer steigenden Zahl von Akteuren. Zusätzlich zu den traditionellen Protagonisten im Gesundheitssektor – Patient, Leistungserbringer und Leistungsträger – begehren vermehrt auch innovative Akteure, wie Arbeitgeber, Versicherungsgesellschaften oder Forschungseinrichtungen, Zugriff auf die Daten einschließlich der gewonnenen Erkenntnisse. Die Interessen der einzelnen Akteure stehen sich dabei jedoch teilweise diametral entgegen.12 Der Schutz der verarbeiteten Daten wird aufgrund ihrer verschiedenartigen Charakteristika durch unterschiedliche Vorschriften gewährleistet. Der Umgang mit personenbezogenen Daten im Allgemeinen ist vornehmlich in der DS-GVO geregelt. Ergänzend findet das BDSG Anwendung. Hinsichtlich der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Datenverarbeitung ist zwischen personenbezogenen Daten i. S. d. Art. 4 Nr. 1 DS-GVO und besonderen Kategorien personenbezogener Daten i. S. d. Art. 9 Abs. 1 DS-GVO zu differenzieren. Personenbezogene Daten i. S. d. Art. 4 Nr. 1 DS-GVO dürfen nur verarbeitet werden, wenn der Betroffene darin eingewilligt hat oder ein anderer gesetzlicher Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 DS-GVO eingreift, sog. Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt. Zu den besonderen Kategorien personenbezogener Daten i. S. d. Art. 9 Abs. 1 DSGVO zählen insbesondere Gesundheitsdaten. Aufgrund ihrer Aussagekraft und der daraus ableitbaren Risiken für den Betroffenen unterliegen sie einem erhöhten Schutzregime; so sind etwa die Anforderungen an die Einwilligung des Betroffenen in die Datenverarbeitung gesteigert.13 Neben den allgemeinen datenschutzrechtlichen Regelungen existieren einige bereichsspezifische Datenschutzvorschriften, wie das GenDG für genetische Daten und die Sozialgesetzbücher für Sozialdaten.14 Es wurde in diesem Zusammenhang herausgearbeitet, dass das klassische Einwilligungskonzept nur noch selten eine hinreichende Legitimationsgrundlage für die Datenverarbeitung in der Systemmedizin bieten dürfte. Denn der Betroffene wird oftmals Schwierigkeiten haben die Zwecke, zu denen seine Daten verarbeitet werden sollen, zu identifizieren. Aufgrund der komplexen systemmedizinischen Sachverhalte wird er sich zudem der Reichweite und Konsequenzen seiner erteilten Einwilligung häufig nicht bewusst sein. Ein denkbares Alternativmodell ist das sog. Kaskaden- oder Meta-Consent-Verfahren.15 Darüber hinaus ist das Konzept der Systemmedizin mit zahlreichen weiteren datenschutzrechtlichen Grundsätzen nur schwer vereinbar. So widerspricht etwa die für den systemmedizinischen Erkenntnisgewinn gebotene Erhebung und Speicherung von Daten für noch unbestimmte Zwecke dem Zweckbindungsgrundsatz. Die wachsende Vernetzung und der permanente Datenaustausch drohen zudem die Verantwortlichkeiten für den Schutz der Daten verschwimmen zu lassen, was dem 11 12 13 14 15
S. 2. Kap., B. I. S. 2. Kap., B. II. S. 2. Kap., B. III. 1. b) bb) u. 2. a) bb). S. 2. Kap., B. III. 2. b). S. 2. Kap., B. III. 1. b) bb).
B. Herausforderungen der Integration in das Gesundheitssystem
207
Grundsatz der Transparenz entgegensteht. Das Potenzial der Systemmedizin entfaltet sich am wirkungsvollsten, wenn in möglichst unbegrenztem Umfang Daten gesammelt und miteinander verknüpft werden können. Erst die Analyse großer Datenmengen ermöglicht es, aussagekräftige und belastbare Aussagen zu generieren. Diese Vorgehensweise läuft dem Grundsatz der Datensparsamkeit zuwider.16 Auch einige Rechte zur Sicherung der informationellen Selbstbestimmung der von der Datenverarbeitung betroffenen Person drohen im Rahmen der Systemmedizin leerzulaufen. Die Durchsetzung des Löschungsanspruchs könnte beispielsweise durch Publikationen beeinträchtigt werden, wenn die Daten bereits in Datenbanken veröffentlicht sind. Eine Löschung würde in diesem Fall die Verwirklichung der Ziele der wissenschaftlichen Forschung gefährden, sodass das Löschungsrecht gemäß Art. 17 Abs. 3 lit. d) DS-GVO ausgeschlossen wäre.17 Der Gesetzgeber ist daher gehalten, sich der komplexen Sachverhalte der Systemmedizin anzunehmen und ganzheitliche Lösungen zu erarbeiten. Hierzu kann er sowohl geltende Regelungen anpassen als auch neue Gesetze erlassen. So wäre etwa eine spezifische gesetzliche Regelung für die Verwendung von personenbezogenen Daten im Rahmen von Big Data zu begrüßen.18 Entscheidend ist, dass den unterschiedlichen Akteuren und ihren Interessen an den systemmedizinischen Erkenntnissen hinreichend Rechnung getragen wird. Ein besonderes Augenmerk ist hierbei auf die Betroffenenrechte zu richten. Die Datenhoheit hat zu jeder Zeit bei dem von der Datenverarbeitung Betroffenen zu verbleiben. Ziel muss es sein, die durch die Systemmedizin eröffneten Möglichkeiten in datenschutzrechtskonformer Weise nutzen zu können. Nur auf Grundlage einer ausreichend großen Datenmenge wird die Systemmedizin die erhofften Erkenntnisse liefern.
III. Diskriminierungsgefahren Gesundheitsrelevanten Daten im Grundsätzlichen und systemmedizinischen Erkenntnissen im Besonderen wohnt ein hohes Diskriminierungspotenzial inne. Auf ihrer Grundlage lassen sich zunehmend genauere Risikoprofile einzelner Personen erstellen. Ein gesteigertes Interesse an derartigen Profilen haben insbesondere private Versicherungsgesellschaften. In der PKV gilt das Prinzip der Risikoäquivalenz, d. h. Vertragsabschluss und Prämienberechnung erfolgen unter Berücksichtigung der individuellen Krankheitsrisiken des potenziellen Versicherungsnehmers. Die Gefahr, dass Personen mit ungünstigem Risikoprofil keinen oder nur zu erschwerten Bedingungen Versicherungsschutz erlangen könnten, lässt sich unter Berücksichtigung der aufgezeigten Parameter einhegen. So ist etwa eine Beschränkung auf bereits manifeste (Vor-)Erkrankungen in Anlehnung an § 18 Abs. 2 GenDG geboten, um die dem Versicherten gemäß § 19 Abs. 1 VVG obliegende vorvertragliche Anzeigepflicht aller Umstände, nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat und die vertragserheblich sind, 16
S. 2. Kap., B. III. 1. b) aa). S. 2. Kap., B. III. 1. c). 18 So auch schon Katko/Babaei-Beigi, MMR 2014, 360, 362. Weichert, ZD 2013, 251, 259 erachtet den Erlass neuer Gesetze hingegen nicht für notwendig, die bestehenden Gesetze müssten nur konsequent angewendet werden. 17
208
4. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick
durch systemmedizinische Erkenntnisse nicht ausufern zu lassen. Bloße Gesundheitsbeschwerden und Veranlagungen, die noch keinen Krankheitswert besitzen, sollten nicht anzeigepflichtig sein. Die in § 18 Abs. 1 GenDG normierten Verbote, die Vornahme genetischer Untersuchungen zu verlangen sowie bereits vorhandene Testergebnisse entgegenzunehmen oder zu verwenden, sowie die jeweiligen Ausnahmen in § 18 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GenDG sind auf systemmedizinische Erkenntnisse entsprechend anwendbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die nicht-genetischen Daten in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenspiel ein vergleichbares Diskriminierungspotenzial befürchten lassen wie rein genetische Daten i. S. d. GenDG. Es besteht eine vergleichbare Interessen- und Gefährdungslage: Sowohl die Ergebnisse genetischer Untersuchungen i. S. d. GenDG als auch systemmedizinische Erkenntnisse können weitreichende Konsequenzen haben, für den Betroffenen selbst, aber auch für sein Umfeld, wie etwa die Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Das Schutzgut der informationellen Selbstbestimmung ist jeweils tangiert.19 Genetische Daten haben in diesem Zusammenhang eine zentrale Position inne, was die Frage nach ihrer medizinischen und rechtlichen Stellung aufwirft. Es wurde dargelegt, dass sich genetische Daten aufgrund ihrer gebündelten Eigenschaften und ihrer Implikationen auf lebensweltliche Fragen zwar nicht prinzipiell, aber doch graduell von anderen prädiktiven Gesundheitsinformationen unterscheiden. Der Sonderstatus genetischer Daten wird durch die Systemmedizin jedoch sowohl in medizinischer als auch normativ-ethischer Hinsicht fortschreitend relativiert. So werden etwa systemmedizinische Erkenntnisse nicht allein aus genetischen Informationen gewonnen, sondern aus der Verknüpfung zahlreicher verschiedenartiger Daten. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob die besonderen Regelungen für genetische Daten im GenDG noch gerechtfertigt sind. Vielmehr ist in Erwägung zu ziehen, Vorschriften für den Umgang mit prädiktiven Gesundheitsinformationen im Allgemeinen zu erlassen, unabhängig davon, ob es sich um genetische oder nicht-genetische Daten handelt.20
Auswirkungen der Systemmedizin auf das Verhältnis von Arzt und Patient I. Auswirkungen auf das Gepräge der Arzt-Patient-Beziehung C. Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
Obwohl die Systemmedizin Ausdruck der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Medizin ist, rückt der Patient als Ganzes inklusive seiner Umwelt in den Fokus. Dabei ist der Patient nicht als bloße Datenquelle zu begreifen, sondern als Partner in einem therapeutischen Arbeitsbündnis. Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass der effiziente Einsatz moderner Technologien und technischer Geräte zunehmend zu einer Entindividualisierung und Vernachlässigung der persönlichen, mitfühlenden Sorge um den Patient führt, ist dieser stärker in die Entschei19 20
S. 2. Kap., C. I.–III. S. 2. Kap., C. IV.
C. Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
209
dungsfindung mit einzubeziehen. Zur Vermeidung überschießender Technisierung und eines damit einhergehenden Vertrauensverlusts bedarf es Konzepte der Kommunikation zur Sicherung von Patientenautonomie unter Wahrung ärztlicher Therapiefreiheit und vertrauensvoller Heilbehandlung. Die Erfahrungen und Expertise des einzelnen Arztes sind nicht durch umfangreiche Datenanalysen zu ersetzen. Moderne Technologien dürfen und können nur unterstützende Hilfsmittel im Rahmen der ärztlichen Heilbehandlung sein.21
II. Auswirkungen auf die Grundvoraussetzungen ärztlichen Handelns und sonstige ärztliche Pflichten Die Auswirkungen der Systemmedizin erstrecken sich sowohl auf die Indikation des ärztlichen Eingriffs als auch auf die fachgerechte Behandlung sowie die Einwilligung des hinreichend aufgeklärten Patienten. Das ärztliche Pflichtenprogramm insgesamt wird erweitert, eine grundlegende Veränderung des Haftungsregimes ist jedoch nicht zu befürchten. Die präventionssensible Systemmedizin ist mit dem streng kurativen Indikationsbegriff nicht vereinbar. Vielmehr ist eine weitreichende Öffnung des Indikationskonzepts bei gleichzeitiger Eingrenzung und Engführung von Indikationen durch die Fixierung auf systemmedizinisch messbare Krankheitsursachen zu erwarten.22 In Bezug auf den Begriff des Standards wird die wissenschaftliche Prägung der Systemmedizin die Vorrangstellung der wissenschaftlichen Evidenz weiter festigen. Die dynamische Ausgestaltung des Standards ermöglicht es auf Grundlage systemmedizinischer Erkenntnisse entwickelten und (noch) nicht allgemein anerkannten Diagnose- und Therapiemethoden in den medizinischen Standard hineinzuwachsen. Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang jedoch, dass in der Systemmedizin allgemeine, auf größere Patientenkollektive ausgerichtete Behandlungsvorgaben durch eine Vielzahl speziellerer, auf kleinere Patientengruppen zugeschnittener Regeln abgelöst werden. Hierdurch wird die Entwicklung neuer Standards, die eine möglichst große Anzahl gleich gelagerter Fälle voraussetzt, erschwert. Durch die Bildung immer kleiner werdender Patientengruppen droht eine zunehmende Zersetzung des medizinischen Standards, die letztlich auch zu seiner Auflösung führen könnte. Als Konsequenz ist eine größere Rechtsunsicherheit zu befürchten, denn je stärker die medizinischen Regeln auf die individuelle medizinische Behandlung zugeschnitten sind, desto schwieriger ist die rechtliche Überprüfung des ärztlichen Handelns im Einzelfall. Die Gerichte werden zunehmend auf medizinische Sachverständige angewiesen sein. Auch ärztliche Leitlinien, die in Arzthaftungsprozessen als Orientierungshilfe für die Ermittlung sachgerechten ärztlichen Handelns herangezogen werden, können hier nur bedingt weiterhelfen, da sie abstrakt für standardisierte Normalfälle formuliert sind ohne situationsbezogene Besonderheiten (Konstitution des Patienten, Vorerkrankungen etc.) zu berücksichtigen. Sofern keine Leitlinien für die jeweilige Patientengruppe erlassen werden, wird der behandelnde Arzt sich immer häufiger 21 22
S. 3. Kap., A. S. 3. Kap., B. I.
210
4. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick
genötigt sehen, von den vorhandenen, allgemein ausgerichteten Leitlinien abzuweichen, um seinem Patienten gerecht zu werden. Die Gefahr, hierbei den Standard zu verfehlen und aufgrund eines Behandlungsfehlers zu haften, nimmt daher zu. Der Arzt sieht sich in der Systemmedizin mit zahlreichen neuen Herausforderungen und Haftungsrisiken konfrontiert. So hat er anlässlich einer medizinischen Behandlung zunehmend vielfältigere Informationen seines Patienten zu erheben, um seine Befunderhebungspflichten zu erfüllen. Aufgrund der steigenden Ausdifferenzierung von Krankheitsbildern gestaltet sich die richtige Diagnosestellung häufig diffizil, wodurch der Arzt einem erhöhten Risiko der Diagnosefehlerhaftung ausgesetzt ist. Der Haftungsgefahr wegen eines Therapiefehlers setzt sich der Arzt aus, wenn er den algorithmisch gewonnenen Therapievorschlag für seinen Patienten übernimmt, obwohl dieser unter Abwägung der Chancen und Risiken nicht der erfolgversprechendste ist. Neben den Behandlungsfehler in Form des Befunderhebungs-, Diagnose- und Therapiefehlers tritt in der Systemmedizin ferner der Programmanwendungsfehler.23 Für den Arzt steigt mit der Systemmedizin nicht nur die Gefahr der Behandlungsfehlerhaftung, sondern auch die der Aufklärungsfehlerhaftung. Der ärztliche Pflichtenkatalog wächst sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. So obliegen dem behandelnden Arzt zusätzlich zu seinen allgemeinen ärztlichen Aufklärungspflichten, § 630e BGB, nun auch allgemeine datenschutzrechtliche Aufklärungspflichten, Erwägungsgrund 42 DS-GVO, sowie spezielle Aufklärungspflichten anlässlich genetischer Untersuchungen, § 9 GenDG. Aufgrund des prädiktiven Schwerpunkts der Systemmedizin ist sowohl der Grad der Intensität als auch des Umfangs der Aufklärungspflichten erhöht. Der Arzt muss die komplexen systemmedizinischen Untersuchungsergebnisse analysieren, interpretieren und schließlich seinem Patienten in Form einer Präventions- oder Therapiestrategie verständlich präsentieren. Nur ein umfassend aufgeklärter Patient kann die Vor- und Nachteile einer systemmedizinischen Untersuchung, insbesondere die möglichen Konsequenzen für seine weitere Lebensführung, adäquat abwägen und auf dieser Basis seine Einwilligung erteilen. Zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten ist neben der Einwilligung in den Heileingriff an sich grundsätzlich auch eine Einwilligung hinsichtlich der Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten nach der DS-GVO und, sofern genetische Untersuchungen durchgeführt werden, nach dem GenDG einzuholen. Hierbei hat der Arzt die jeweils unterschiedlichen inhaltlichen und formalen Vorgaben der einzelnen Gesetze hinsichtlich Aufklärung und Einwilligung zu beachten.24 Neben der Selbstbestimmungsaufklärung obliegen dem Arzt weitere Informationspflichten in Gestalt der therapeutischen und der wirtschaftlichen Information, § 630c BGB. Im Zusammenhang mit genetischen Untersuchungen i. S. d. GenDG sind überdies die Beratungspflichten gemäß § 10 GenDG zu beachten. Für die rechtmäßige Verarbeitung der personenbezogenen Daten seines Patienten hat der Arzt die Informationspflichten des Art. 13 DS-GVO zu erfüllen.25
23 24 25
S. 3. Kap., B. II. S. 3. Kap., B. III. S. 3. Kap., C. I.
C. Auswirkungen auf das Verhältnis von Arzt und Patient
211
Der informationellen Dimension im Rahmen des Arzt-Patient-Verhältnisses insgesamt sowie der Patientenaufklärung im speziellen kommt also in der Systemmedizin eine erhebliche Bedeutung zu. Der Patient ist auf die ärztliche Beratung, Information und Aufklärung angesichts der komplexen Erkenntnisse und der oftmals schweren Entscheidungslasten angewiesen. Der Arzt hat die kontinuierlich ansteigende Fülle an Daten zu sichten, zu sortieren und zu bewerten, bevor er seinem Patienten die relevanten Informationen präsentiert und Empfehlungen ausspricht.26 Das ärztliche Aufklärungsgespräch wird zu einer Art interaktiver Lebensberatung. Neben den geplanten medizinischen Maßnahmen werden auch die künftige Familien- und Lebensplanung sowie Hilfsmöglichkeiten zur Verarbeitung der Testergebnisse thematisiert. Es ergeben sich interdisziplinäre Berührungspunkte mit psychologischen, sozialen und medizinethischen Beratungskontexten.27 Allerdings kann eine umfassende Aufklärung die Kommunikation über die Behandlungsstrategie zwischen Arzt und Patient nicht nur beflügeln. Es können auch haftungsrechtliche Handlungsmotive auf ärztlicher Seite das Arzt-PatientVerhältnis beeinträchtigen. Wenn etwa der Arzt zur persönlichen Absicherung alle nur erdenklichen, teilweise fernliegenden Folgen und Auswirkungen einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme aufzählt, wird der Patient dadurch nicht in seiner Entscheidungsfähigkeit gestärkt, sondern ist verwirrt und fühlt sich in seiner Notsituation des Leidens überfordert. Vergleichbare Gefahren wurden auch bereits für die Pharmakogenetik und die individualisierte Medizin identifiziert.28 Damit der Patient in der tagtäglichen Praxis nicht das Nachsehen hat, gilt es einer Überregulierung der ärztlichen Aufklärungs- und Informationspflichten entgegen zu wirken. Es ist eine als Behandlungs- und Entscheidungspartnerschaft verstandene Arzt-Patienten-Beziehung anzustreben, in der das Selbstbestimmungsrecht des Patienten durch eine angemessene Aufklärung respektiert wird.29 Denn mit einer funktionierenden Kommunikation zwischen Arzt und Patient steht und fällt das Projekt Systemmedizin. Eberbach sieht in diesem Zusammenhang primär den Gesetzgeber in der Verantwortung, die divergierenden Realitäten von gesetzlichen Anforderungen und medizinischem Alltag einander anzupassen.30 Abschließend wurden noch die Auswirkungen auf die ärztliche Schweigepflicht, insbesondere in der arbeitsteiligen Medizin sowie im Spannungsverhältnis mit Drittinteressen, näher untersucht. Die ärztliche Schweigepflicht ist Grundvoraussetzung für eine funktionierende Arzt-Patient-Beziehung. Infolge der zunehmend arbeitsteiligen Medizin sind häufig außer dem Arzt und seinem Patienten noch weitere Personen in die medizinische Behandlung involviert. Im Strafrecht 26
Eberbach, MedR 2019, 1. Regenbogen/Henn, MedR 2003, 152, 158. 28 Vgl. Kollek/Feuerstein/Schmedders/van Aken, Pharmakogenetik, S. 163 f., zur Pharmakogenetik; s. auch Keil, Rechtsfragen der individualisierten Medizin, S. 167, die derartige Bedenken bereits für die individualisierte Medizin formuliert hat; s. zudem Eberbach, MedR 2019, 111, der die formale Umsetzung rechtlicher Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht mithilfe zahlreicher Formulare und Aufklärungsbögen im medizinischen Alltag anschaulich beschreibt. 29 Vgl. Katzenmeier, BuGBl. 2012, 1093, 1098. 30 Eberbach, MedR 2019, 111, 117. 27
212
4. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick
hat der Gesetzgeber auf diese Entwicklung mit der Neufassung des § 203 StGB reagiert. Die Einführung der Kategorie der sonstigen mitwirkenden Personen hat den Kreis der Geheimniskenner erheblich erweitert. Hiermit geht eine Relativierung des Patientengeheimnisschutzes einher, die sich negativ auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient auswirken kann.31 Als Korrektiv bleibt das Datenschutzrecht, denn dort sind zumindest Informationspflichten (Art. 12 ff. DSGVO) und Auskunftsrechte (Art. 15 DS-GVO) normiert.32 Das datenschutzrechtliche Regime besteht dabei unabhängig von den Grundsätzen der ärztlichen Schweigepflicht. Es gilt das sog. Zwei-Schranken-Prinzip. Aufgrund der Aussagekraft der Daten, die im Zuge der Systemmedizin generiert werden, droht die ärztliche Schweigepflicht ferner in Konflikt zu geraten mit möglichen Offenbarungspflichten und -rechten des Arztes gegenüber mitbetroffenen Dritten. Für genetische Untersuchungen i. S. d. GenDG hat der Gesetzgeber den Interessenkonflikt dahingehend aufgelöst, dass die ärztliche Beratungsempfehlung an das Vorliegen genetischer Eigenschaften mit Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung geknüpft ist, vgl. § 10 Abs. 3 S. 4 GenDG. Die Rechtsprechung verwendet zudem das Kriterium der unmittelbaren Gefahr. Sofern die diagnostizierte Erkrankung eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben Dritter darstellt, die nicht anders abwendbar ist, erhält der Arzt eine Offenbarungsbefugnis gegenüber den gefährdeten Personen, § 34 StGB. Für den Umgang mit Untersuchungsergebnissen in der Systemmedizin verbietet sich jegliche schematische Lösung. Erforderlich ist eine Differenzierung nach der jeweiligen Erkrankung beziehungsweise Disposition. Grundsätzlich hat der Patient die Informationshoheit inne. Besteht aufgrund der diagnostizierten Krankheit oder Krankheitsdisposition allerdings eine unmittelbare Gefahr für Dritte oder ergibt sich für diese ein dringender Behandlungsbedarf, ist dem Arzt eine Offenbarungsbefugnis zu gewähren, sofern der Patient eine Informationsweitergabe verweigert. Es ist Aufgabe des Arztes das Geheimhaltungsinteresse des Patienten gegen die Informationsinteressen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Mitbetroffenen abzuwägen. Wird eine nicht therapierbare Erbkrankheit diagnostiziert, ist auch das Recht auf Nichtwissen der Mitbetroffenen mit einzubeziehen.33
III. Medizinisches Erprobungshandeln in der Systemmedizin Aufgrund der engen Verknüpfung von Forschung und Therapie in der Systemmedizin, wurden zusätzlich zu den Legitimationsvoraussetzungen für Standardbehandlungen auch diejenigen für Heilversuche und Forschungseingriffe kurz dargestellt. Der individuelle Heilversuch ist trotz der mit ihm verbundenen erhöhten Risiken und Unsicherheiten im Vergleich zur Standardbehandlung der Kategorie der Heileingriffe zuzuordnen. Seine Legitimation setzt das Vorliegen einer Indikation, die Einwilligung des aufgeklärten Patienten, die fachgerechte Durchführung sowie 31 32 33
Dochow, GesR 2018, 137, 145 f. Dochow, GesR 2018, 137, 149. S. 3. Kap., C. II.
D. Gesamtfazit
213
eine ordnungsgemäße Dokumentation voraus. Die einzelnen Legitimationsvoraussetzungen unterliegen dabei im Vergleich zur Standardbehandlung gesteigerten Anforderungen. Für den Forschungseingriff, der nicht der ärztlichen Versorgung und Behandlung, sondern dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn dient, ergeben sich ähnliche Voraussetzungen: Der Eingriff muss sachlich gerechtfertigt und lege artis durchgeführt werden sowie durch die Einwilligung des aufgeklärten Probanden legitimiert sein. Ergänzt werden die Legitimationsvoraussetzungen um die sich aus der DS-GVO und dem BDSG ergebenden Anforderungen für die Datenverarbeitung zu Forschungszwecken. So ist grundsätzlich auch eine Einwilligung des Betroffenen in die Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten einzuholen, sofern kein gesetzlicher Erlaubnistatbestand eingreift.34 Schließlich wurde der rechtliche Umgang mit sog. Zufallsbefunden diskutiert, deren Wahrscheinlichkeit aufgrund der modernen diagnostischen Möglichkeiten in der Systemmedizin zunimmt. Zufallsbefunde liegen vor, wenn Befunde erhoben werden, für die zuvor keine erkennbaren Hinweise existierten und nach denen nicht gezielt gesucht wurde. Bislang ist eine Pflicht zur Aufklärung über die Möglichkeit von Zufallsbefunden nur für genetische Untersuchungen i. S. d. GenDG ausdrücklich normiert, vgl. § 9 GenDG. Im Forschungskontext lässt sich lediglich aus dem zwischen Forscher und Proband regelmäßig geschlossenen Probandenvertrag ableiten, dass über die Möglichkeit von unerwarteten Funden sowie über die damit einhergehenden medizinischen, sozialen und finanziellen Konsequenzen zu informieren ist. Da der Patient oder Proband zu einer eigenständigen Entscheidung über den Umgang mit Zufallsbefunden nur befähigt ist, wenn er zuvor entsprechend aufgeklärt wurde, erscheint eine gesetzlich normierte Aufklärungspflicht sowohl für den allgemeinen Behandlungs- als auch den Forschungskontext sinnvoll und geboten. Willigt der Patient in die Mitteilung von Zufallsbefunden ein, so sollte der Arzt ihm nur solche Befunde mitteilen, die analytisch gesichert und wissenschaftlich valide sind.35
Gesamtfazit D. Gesamtfazit
Mit der vorliegenden Arbeit wurde ein Überblick über die mit Einführung der Systemmedizin in das deutsche Gesundheitssystem sich stellenden Herausforderungen gegeben. Als zentraler Aspekt hat sich der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Patienten oder Probanden herauskristallisiert, welcher primär über die verschiedentlichen datenschutzrechtlichen Vorschriften gewährleistet wird. Die Untersuchungen der Auswirkungen auf das Arzt-PatientVerhältnis haben zudem ergeben, dass die Systemmedizin zahlreiche Problemstellungen aufwirft, die bereits aus anderen Kontexten bekannt sind, aber nun eine Verschärfung und neue Akzentuierung erfahren. Mit dieser Arbeit ist das Spektrum rechtlicher Fragestellungen, aufgeworfen durch die Ziele und die Vorgehensweise der Systemmedizin, noch keineswegs 34 35
S. 3. Kap., D. I. S. 3. Kap., D. II.
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4. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick
erschöpft. Sozialrechtlich bleibt etwa zu beobachten, wie sich die systemmedizinischen Erkenntnisse auf das GKV-System auswirken werden. Um die Frage zu beantworten, welche Rolle die Medizin zukünftig zwischen empirischer und persönlich-empathisch geprägter Wissenschaft und einer vermehrt systematisiert-naturwissenschaftlichen Dienstleistung ausfüllen soll, ist ein interdisziplinärer Diskurs unter Einbeziehung sozialer, medizinischer, ethischer und rechtlicher Aspekte notwendig.
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