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German Pages 235 [236] Year 2023
Hachmeister/Kahle/Mock Rechtsfragen der Kommunikation fehlerhafter Unternehmensabschlüsse
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Rechtsfragen der Kommunikation fehlerhafter Unternehmensabschlüsse Tagung am 22. und 23. September 2022 in Wien Herausgegeben von
Univ.-Prof. Dr. Dirk Hachmeister Universität Hohenheim
Univ.-Prof. Dr. Holger Kahle Universität Hohenheim
Univ.-Prof. Dr. Sebastian Mock, LL.M. Wirtschaftsuniversität Wien
2023
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Mit Beiträgen von Univ.-Prof. Dr. Florian Becker Universität zu Kiel
Univ.-Prof. Dr. Tim Florstedt EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden
Univ.-Prof. Dr. Klaus Hirschler Wirtschaftsuniversität Wien
Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek Wirtschaftsuniversität Wien
Marc Kanzler Rechtsanwalt, München Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Poelzig
Univ.-Prof. Dr. Sebastian Mock, LL.M. (NYU) Wirtschaftsuniversität Wien
Univ.-Prof. Dr. Peter O. Mülbert Universität Mainz
Univ.-Prof. Dr. Dörte Poelzig, M.jur. (Oxford) Universität Hamburg
Dr. Thorsten Pötzsch Exekutivdirektor Wertpapieraufsicht /Asset-Management BaFin Frankfurt/Main
Dr. Alexander Sajnovits Universität Mainz
Prof. Dr. Matthias Schüppen Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Stuttgart Universität Hohenheim
Dr. Eberhard Vetter Rechtsanwalt, Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06069-5 ©2023 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Stückle, Ettenheim Printed in Germany
Vorwort Der Wirecard-Skandal stellt für das Unternehmensrecht eine Zäsur dar. Auch wenn die Wirecard AG nicht das erste börsennotierte Unternehmen der deutschen Wirtschaftsgeschichte war, über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, machen doch vor allem die wirtschaftlichen Dimension dieser Insolvenz und das offensichtliche Versagen des gesamten regulativen Rahmens in deren Vorfeld diesen Fall einmalig. Hinzu kommt, dass der Wirecard-Skandal letztlich nicht durch die zahlreichen Kontrollmechanismen des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts, sondern vielmehr durch eine umfassende Berichterstattung in den Medien ausgelöst wurde. Dies hat gezeigt, dass neben den drei traditionellen Säulen der Kontrolle und Prüfung von Unternehmensabschlüssen (Aufsichtsrat, Abschlussprüfer und Enforcement-Verfahren) eine weitere, vierte Säule existiert bzw. im Entstehen ist. Das vom deutschen Bundesministerium für Justiz (BMJ) geförderte Forschungsprojekt „Rechtliche Rahmenbedingungen für die Kommunikation von Unternehmensabschlüssen“ untersucht die betriebswirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen dieser vierten Säule mit dem Ziel, deren rechtliche Rahmenbedingungen abzustecken. Der vorliegende Band beinhaltet die Beiträge der Tagung „Rechtsfragen der Kommunikation fehlerhafter Unternehmensabschlüsse“, die im Rahmen dieses Forschungsprojekts am 22./23.9.2022 an der Wirtschaftsuniversität Wien stattgefundenen hat. Stuttgart/Wien im September 2023
Die Herausgeber
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Univ.-Prof. Dr. Sebastian Mock, LL.M. (NYU) Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Multifunktionalität der Pflicht zur Publizität von Unternehmensabschlüssen im historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Privatheit von Informationen über wirtschaftliche Verhältnisse im Privatrecht als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zurückhaltende Regelungsansätze im deutschen Gesellschaftsrecht . . III. Europäisierung des Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Entstehung eines Wertpapierhandelsbilanzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verwässerung der Publizitätszwecke durch stetige Zunahme bilanzfremder Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Versuch der Abstrahierung der Funktionen der Publizität . . . . . . . I. Funktionsschutz des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Individualschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. (Allgemeines) Öffentliches Interesse an der Publizität von wirtschaftlichen Verhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zivilrechtliche Folgen der (inhaltlich) fehlerhaften Publizität von Unternehmensabschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Suche nach den qualitativen Anforderungen an die Publizität von Unternehmensabschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. (Fehlender) Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Haftungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Univ.-Prof. Dr. Klaus Hirschler Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unternehmenspublizität – Überblick und Systematisierung III. Unternehmenspublizität im Speziellen . . . . . . . . . . . . . . . IV. Unternehmenspublizität – Einfluss auf die Kapitalkosten . . V. Unternehmenspublizität – Einfluss auf die Marktliquidität VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dr. Eberhard Vetter Die Rolle des Aufsichtsrats bei Prüfung, Feststellung und Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Phasen der Entstehung des Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fehlerhaftigkeit des festgestellten Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . IV. Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bekanntwerden der Fehlerhaftigkeit nach Feststellung des Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fehlererkennung vor Vorlage des Jahresabschlusses an die Hauptversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Thesen und regulatorische Handlungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . Prof. Dr. Matthias Schüppen Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Corporate Governance – Die Rolle des Abschlussprüfers I. Qualifikation und Funktionen der Abschlussprüfung . . . . . . . . . . . II. Der Abschlussprüfer als Element der Corporate Governance . . . . . III. Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Kommunikation des Abschlussprüfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung (Thesen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dr. Thorsten Pötzsch Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Öffentlichkeitsarbeit einer Finanzmarktaufsichtsbehörde I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rolle der BaFin bei fehlerhaften Abschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Neuordnung der Bilanzkontrolle nach Wirecard . . . . . . . . . . . . . . . IV. Konsequenzen des Gesetzgebers/FISG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. „Blick in den Maschinenraum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prof. Dr. Florian Becker, LL.M. (Cambridge) Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Information der Öffentlichkeit durch die BaFin . . . . . . . . III. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Rahmenbedingungen IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prof. Dr. Peter O. Mülbert/Dr. Alexander Sajnovits, M.Sc. (Oxford) Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation im Kontext fehlerhafter Finanzberichterstattung und Regelpublizität I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Finanzberichterstattung und Ad-hoc-Publizität . . . . . . . . . . . . . . III. Ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformationen im Kontext der (fehlerhaften) Finanzberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Aufschub von der Ad-hoc-Publizitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prof. Dr. Tim Florstedt Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen I. Der aktuelle Anlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rolle der Finanzanalysten und Finanzjournalisten im Fall der Wirecard AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Pflichtenkanon bei der Erstellung von Finanzanalysen de lege lata . IV. Ausgewählte Folgerungen zum Reformbedarf und zu Reformaussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prof. Dr. Dörte Poelzig/Marc Kanzler Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kapitalmarktinformationshaftung am Primärmarkt . . . . . . . . . . . . III. Kapitalmarktinformationshaftung am Sekundärmarkt . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek Berichterstattung über fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Pressefreiheit I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das System des Art. 21 MAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundsätze der Presse- und Kommunikationsfreiheit und ihre Übertragbarkeit auf Art. 21 MAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Presse als Marktakteur oder Marktkontrolleur? . . . . . . . . . . . . . .
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Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen Univ.-Prof. Dr. Sebastian Mock, LL.M. (NYU), Attorney-at-Law (New York) Institut für Zivil- und Zivilverfahrensrecht, Abteilung Unternehmens- und Insolvenzrecht, Wirtschaftsuniversität Wien A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Multifunktionalität der Pflicht zur Publizität von Unternehmensabschlüssen im historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Privatheit von Informationen über wirtschaftliche Verhältnisse im Privatrecht als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zurückhaltende Regelungsansätze im deutschen Gesellschaftsrecht . . 1. Fehlende Publizität als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schaffung einer Publizität von Bilanzen im Aktienrecht . . . . . . 3. Keine Übertragung des aktienrechtlichen Regimes auf das GmbHG 1892 . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beibehaltung des Status quo im HGB und nachfolgenden Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Publizitätspflicht von Unternehmen mit gesamtwirtschaftlicher Bedeutung als aufkeimender Regelungsansatz . . . . . . 6. (Fehlende) Publizität der Unternehmensabschlüsse der GmbH und der GmbH & Co. KG als rechtspolitische Rückzugsgefechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . III. Europäisierung des Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Jahresabschluss und die Vierte (Gesellschaftsrechtliche) Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutz Dritter im grenzüberschreitenden Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Fehlende Wechselwirkung mit dem Kapitalschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzernabschluss und die Siebte (Gesellschaftsrechtliche) Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Modernisierung und Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . IV. Entstehung eines Wertpapierhandelsbilanzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Frühe börsenrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Publizität von Unternehmensabschlüssen als Kernelement des europäischen Kapitalmarktrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überbordende Publizität als zunehmendes Regelungsproblem 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . V. Verwässerung der Publizitätszwecke durch stetige Zunahme bilanzfremder Inhalte . . . . . . . . . . . 1. Stetig wachsende Berichtsinhalte in Anhang und Lagebericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Suche nach dem Zweck der Publizitätspflicht für die bilanzfremden Inhalte . . . . . . . . 3. Inkonsistenz des Anwendungsbereichs der Publizität . . . . . . . . 4. Ausgliederung und Entbilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . C. Versuch der Abstrahierung der Funktionen der Publizität . . . . . . . I. Funktionsschutz des Marktes . . . . 1. Gläubigerschutz des Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rz. 1 | Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen 2. Ermöglichung der Preisbildung auf Kapitalmärkten . . . . . . . . . . . 3. Bilanzfremde Berichtsinhalte des non-financial reporting . . . . II. Individualschutz . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gläubigerschutz des Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ermöglichung der Preisbildung auf Kapitalmärkten . . . . . . . . . . . 3. Bilanzfremde Berichtsinhalte des non-financial reporting . . . . III. (Allgemeines) Öffentliches Interesse an der Publizität von wirtschaftlichen Verhältnissen . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . D. Zivilrechtliche Folgen der (inhaltlich) fehlerhaften Publizität von Unternehmensabschlüssen . . . . . . . I. Suche nach den qualitativen Anforderungen an die Publizität von Unternehmensabschlüssen . . . . . . . 1. Grundsätzliche Fehlerhaftigkeit von Unternehmensabschlüssen als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . .
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2. Fehlende Relevanz der Schwelle der Wesentlichkeit . . . . . . . . . . . . 3. (Vermeintliche) Nichtigkeit als dogmatischer Störfaktor . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . II. (Fehlender) Vertrauensschutz . . . . 1. Keine Anwendung von § 15 HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gutgläubiger Bezug von Scheingewinnen . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftung aus culpa in contrahendo/Irrtumsanfechtung . . . . . 4. (Fehlende) Wechselwirkung mit der Überschuldung . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . III. Haftungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine Haftung des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung der Geschäftsleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Fazit
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A. Einleitung 1
Die Publizität von (möglichst fehlerfreien) Unternehmensabschlüssen ist heute als Regelungsinstrument allgemein anerkannt und wird in ihrer Funktion und Bedeutung nicht bestritten. So ist diese nicht nur ein fester Bestandteil des österreichischen und deutschen Unternehmensrechts, sondern findet sich in allen modernen Rechtsordnungen wieder. Der Wirecard-Skandal gibt allerdings Anlass zu einer selbstkritischen Reflektion dieser Selbstverständlichkeit und zu einer erneuten Versicherung der Funktionalität und Ratio dieser Publizitätspflicht.
B. Multifunktionalität der Pflicht zur Publizität von Unternehmensabschlüssen im historischen Kontext 2
Betrachtet man zunächst die Ursprünge der Pflicht zur Publizität von Unternehmensabschlüssen, bedarf es einer Betrachtung des allgemeinen Zivilrechts und von dessen Verhältnis zur Auskunft über wirtschaftliche Verhältnisse (siehe B.I.). Die heutige Form der Pflicht zur Publizität von Unternehmensabschlüssen ist im Wesentlichen auf die Kodifizierung des Gesellschaftsrechts im 19. Jahrhundert zurückzuführen (siehe B.II.), die im Hinblick auf die Publizität von Unternehmensabschlüssen in der 2 | Mock
Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen | Rz. 5
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Europäisierung des Gesellschaftsrechts – jedenfalls aus österreichischer und deutscher Sicht – eine Nachschärfung erfahren hat (siehe B.III.). Als nahezu eigenständige Regulierungsansätze sind später das Wertpapierhandelsbilanzrecht (siehe B.IV.) und die Pflicht zur Publizität bilanzfremder Inhalte im Rahmen des sogenannten non-financial reporting (siehe B.V.) hinzugetreten. I. Privatheit von Informationen über wirtschaftliche Verhältnisse im Privatrecht als Ausgangspunkt Ausgangspunkt für eine Betrachtung der Publizität von Unternehmensabschlüssen ist das allgemeine Privatrecht und die Frage, inwiefern dieses zur Auskunft über wirtschaftliche Verhältnisse verpflichtet. Bezugspunkt können dabei nicht die Regelungen zu vertraglichen Auskunfts- oder Rechenschaftspflichten sein, wie sie das deutsche Privatrecht mit den §§ 259, 666 BGB1 geradezu selbstverständlich kennt. Diese Auskunfts- oder Rechenschaftspflichten haben ihren Ursprung in einem Vertrags- oder jedenfalls Schuldverhältnis und bestehen nicht gegenüber der Allgemeinheit. Vielmehr wird das allgemeine Privatrecht von dem Grundsatz der Privatheit von Informationen geprägt, der nur in wenigen Fällen durchbrochen wird. Derartige Durchbrechungen finden etwa im Rahmen der Grundbuchpublizität oder Vermutung der Eigentümerstellung aufgrund des Besitzes (§ 1006 BGB) statt, begründen sich allerdings aus einer konkreten Funktionalität heraus. Einzig das der allgemeinen Beteiligungspublizität dienende Transparenzregister (§ 23 GWG) mit einer grundsätzlich weiten Einsichtnahmemöglichkeit weist einen solchen direkten Funktionalitätsbezug nicht auf, sieht aber eben aus diesem Grund nach der Rechtsprechung des EuGH2 einer unklaren Zukunft entgegen.
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II. Zurückhaltende Regelungsansätze im deutschen Gesellschaftsrecht Für das Gesellschaftsrecht hat sich eine Abweichung von diesem allgemeinen Grundsatz der Privatheit von Informationen über wirtschaftliche Verhältnisse erst verhältnismäßig spät entwickelt und kann als solche als eine Errungenschaft der Kodifikationsbemühungen der Neuzeit betrachtet werden.
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1. Fehlende Publizität als Ausgangspunkt Eine allgemeine Bekanntmachungspflicht für Unternehmensabschlüsse ist den frühen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts fremd. Allerdings war etwa in § 24 Preußi-
1 Zur Bedeutung der §§ 259, 666 BGB als allgemeine Rechtsgrundsätze und deren Einfluss auf das Rechnungslegungsrecht Claussen, FS Ulmer, 2003, S. 801, 815; Krüger in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2022, § 259 Rz. 7 ff.; Lutter in IDW, Das vereinigte Deutschland im europäischen Markt, 1992, S. 409 ff.; Mock, Die Finanzverfassung der Kapitalgesellschaften und internationale Rechnungslegung, 2007, S. 12. 2 EuGH v. 22.11.2022 – C-37/20, C-601/20 (WM ua/Luxembourg Business Registers), Slg. I-912 = NJW 2023, 199.
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Rz. 5 | Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen
schen Gesetz über die Aktiengesellschaften von 18433 eine Pflicht zur Mitteilung der Bilanz an die Regierung vorgesehen, worin wohl ein Wirkmechanismus des Konzessionsregimes zu sehen ist. Eine Entsprechung fand diese Regelung im Preußischen Allgemeinen Landrecht nicht, das gleichwohl eine Rechnungslegungspflicht vorsah (Erster Theil Siebzehnter Titel § 219, Zweyter Theil Titel 8 § 638). Auch im Entwurf eines Handelsgesetzbuches für das Königreich Württemberg von 1839 war eine Bekanntmachungspflicht nicht vorgesehen; vielmehr war die Vermögensberechnung nur den Aktionären vorzulegen (Art. 262). Diesem Regelungsmodell folgte auch der Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland von 1848 (Art. 100). Das ADHGB 1861 kannte keine allgemeine Bekanntmachungspflicht für Unternehmensabschlüsse oder Bilanzen im Besonderen. Eine solche gab es weder für die Personenhandels- noch für die Aktiengesellschaften. 2. Schaffung einer Publizität von Bilanzen im Aktienrecht 6
Eine Bekanntmachungspflicht wurde erst durch die 1. Aktienrechtsnovelle 18704 eingeführt. So sah Art. 239 Abs. 1 Satz 2 ADHGB5 vor, dass die Bilanz den Aktionären vorzulegen und in den für die Bekanntmachung der Gesellschaft verwendeten öffentlichen Blättern zu veröffentlichen war. Die Begründung des Gesetzgebers dazu fällt überraschend knapp aus. So wird dort lediglich angeführt, dass eine solche Publizität nützlich und üblich sei.6 In den Beratungen des Entwurfs wurde hingegen betont, dass die Publizität der Bilanz vor allem dem Schutz des Publikums diene, da bei der AG lediglich deren Vermögen und nicht die persönliche Zuverlässigkeit der entscheidende Aspekte für die Eingehung von Vertragsbeziehungen sei.7 Dabei handelte es
3 Dazu ausführlich Baums, Preußische Gesetz über die Aktiengesellschaften von 1843, 1981, S. 9 ff. 4 Gesetz betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften v. 11.6.1870, BGBl. des Norddeutschen Bundes S. 375. 5 Art. 239 Abs. 1 Satz 2 ADHGB lautete: „Er (der Vorstand) muß den Aktionairen spätestens in den ersten sechs Monaten jedes Geschäftsjahres eine Bilanz des verflossenen Geschäftsjahres vor legen und solche innerhalb dieser Frist in der Form und in den öffentlichen Blättern, welche für die Bekanntmachungen der Gesellschaft in dem Gesellschaftsvertrage bestimmt sind, veröffentlichen.“ 6 So heißt es in der Begründung: „Nützlich wird es ferner sein, die Veröffentlichung der Bilanz durch die Gesellschaftsblätter vorzuschreiben, wie dies vielfach bisher schon geschehen ist.“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, I. Legislaturperiode – Aktenstück Nr. 157, S. 645, 657); zustimmend Endemann, Das Bundesgesetz betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, 1870, S. 43. 7 So führt der Abgeordnete Miquel aus: Aktiengesellschaften unterscheiden sich aber von den physischen Personen dadurch, daß die Verhältnisse der physischen Person bekannt sind, daß es sich nach der persönlichen Zuverlässigkeit entscheidet, ob man mit einer physischen Person in Geschäftsbeziehungen treten will; bei Aktiengesellschaften ist das ausschließliche Substrat das Vermögen der Gesellschaft, die Persönlichkeit wird nur durch dieses Vermögen dargestellt und geschaffen, es muß also auch nach außen hin erkennbar werden, was der eigentliche Inhalt und, so zu sagen, der finanzielle Umfang dieser Persönlichkeit ist. (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, I. Legislaturperiode – Session 1870, Band 2, S. 1068).
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sich aber durchaus nicht um eine allgemeine Ansicht. Vielmehr wurde auch die Gegenposition vertreten, dass der Grundsatz der Privatheit von Informationen über die wirtschaftlichen Verhältnisse auch für die Gesellschaften gelten müsse.8 An dieser Publizitätsregel hielt der Gesetzgeber auch im Rahmen der 2. Aktienrechtsnovelle 18849 fest, baute diese aber in vierfacher Weise aus: So wurde zunächst der Anwendungsbereich erweitert, indem dieser auf die KGaA (Art. 185c Abs. 1 ADHGB [für die KGaA]10) und die Liquidationsbilanz (Art. 205 ADHGB) erstreckt wurde. Zudem wurde die Pflicht zur Einreichung der Bilanz zum Handelsregister eingeführt, ohne dass dabei klar war, welche Kompetenzen der Registerrichter in diesem Zusammenhang haben sollte. Im Schrifttum bildete sich dahingehend schnell ein klares Meinungsbild heraus, das etwa Staub damit umschrieb, dass der Registerrichter die Unterlagen nur entgegenzunehmen habe und es ihn schlicht nichts anginge, ob diese rechtmäßig seien.11 Dieser Aspekt wurde erst später12 gesetzgeberisch adressiert. Zudem modifizierte der Gesetzgeber die Publizitätspflicht dahingehend, dass nicht mehr der Vorstand selbst, sondern vielmehr die Gesellschaft zur Offenlegung verpflichtet wurde. Schließlich wurde eine Konkretisierung dahingehend vorgenommen, dass die Bilanz fortan vor der Gesellschafterversammlung auszulegen war und die Aktionäre ein Recht auf Abschrift der Bilanz erhielten. Damit war die Regelungssystematik der Publizität bestehend aus der Veröffentlichung in den Gesellschaftsblättern, der Einreichung beim Handelsregister und Auslage vor der Gesellschafterversammlung begründet, die sich in dieser Form bis in die heutige Zeit erhalten hat. Die tatsächlichen Motive des Gesetzgebers für diese Erweiterung bzw. nähere Ausgestaltung der Publizitätspflicht blieben allerdings weitgehend im Dunkeln. So wird in den Gesetzesmaterialien (erneut) lediglich ausgeführt, dass in der Praxis (für die KGaA) meist die Verpflichtung des persönlich haftenden Gesellschafters zu beobachten sei, dass dieser die Bilanz, die Gewinn-und Verlustrechnung und den Entlastungs8 So formulierte der Abgeordnete Jacobi treffend: „Giebt es also Gründe, welche dahin führen könnten, bei Gesellschaften in dieser Beziehung eine Ausnahme zu machen, jede Gesellschaft zu zwingen, nach außen hin in ihren Berichten der Generalversammlung dem Publikum gegenüber Alles zu sagen, was sie selber weiß? Das muß ich entschieden bestreiten, dafür besteht gar kein Interesse, diese Bestimmung kann nur den Zweck haben zu verhindern, daß die Vorsteher einer Gesellschaft die Gesellschaft selbst nicht täuschen, sie sind den Gesellschaftern Wahrheit schuldig, sie sind ihnen volle Wahrheit schuldig, aber nicht dem Publikum.“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, I. Legislaturperiode – Session 1870, Band 2, S. 1067). 9 Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften v. 31.7.1884, RGBl. 123. 10 Art. 185c Abs. 1 ADHGB lautete: „Nach erfolgter Genehmigung durch die Generalversammlung sind die Bilanz, sowie die Gewinn- und Verlustrechnung ohne Verzug von den persönlich haftenden Gesellschaftern in den hierzu bestimmten öffentlichen Blättern bekannt zu machen und zu dem Handelsregister einzureichen.“ 11 So heißt es bei Staub, HGB, 6./7. Aufl. 1900, § 265 Rz. 3 wörtlich: „Der Registerrichter hat aber die eingereichten Vorlagen nur entgegenzunehmen. Ob die Bilanz dem Gesetze entspricht oder nicht, geht ihn nichts an. Es steht ihm nicht das Recht zu, die Unrichtigkeit der Bilanz zu rügen und auf eine abermalige Beschlussfassung darüber zu dringen.“. 12 Siehe B.II.4.
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beschluss beim Handelsregister einreicht.13 Insofern zeigt sich eine gewisse Parallelwertung zur 1. Aktienrechtsnovelle; während bei dieser die Nützlichkeit der Publizität betont wurde, war es nunmehr die offenbar etablierte Praxis. Bemerkenswert ist zudem, dass eine solche Regelung im ersten Entwurf der Aktienrechtsnovelle vom Januar 1882 noch nicht vorgesehen war. Insgesamt schien diesem Aspekt wenig Bedeutung zuerkannt worden zu sein, da auch das Gutachten des Reichsoberhandelsgerichts auf Fragen der Bilanz insgesamt nicht eingegangen ist, insofern offenbar keine Uebelstände hervorgetreten zu sein scheinen. Somit fehlt auch jede Auseinandersetzung mit durch die 2. Aktienrechtsnovelle eingeführte rechtsformspezifische Bekanntmachungspflicht, die bis zur Gegenwart prägend bleiben sollte. 3. Keine Übertragung des aktienrechtlichen Regimes auf das GmbHG 1892 8
Interessanterweise wurde auch durch das wenige Jahre später geschaffene GmbHG von 1892 keine Bekanntmachungspflicht für die Bilanz bzw. dem Unternehmensabschluss der GmbH eingeführt. Dies muss verwundern, wurde das GmbHG doch nur wenige Jahre nach der 2. Aktienrechtsnovelle geschaffen, bei der es noch zu einer Erweiterung des durch die 1. Aktienrechtsnovelle eingeführten Publizitätsregimes gekommen war. Tatsächlich führt die Begründung zum GmbHG sogar aus, dass eine solche Publizität nachteilig und überdies auch nicht erforderlich sei, da den Gläubigern der übrigen, ebenfalls nicht publizitätspflichten Gesellschaftsformen auch nur deren tatsächliches Vermögen hafte.14 Darin ist nicht weniger als eine völlige Abkehr von der Begründung zur Einführung der Publizität im Rahmen der 1. Aktienrechtsnovelle zu sehen. Eine Publizität war lediglich für eine GmbH vorgeschrieben, deren Unternehmensgegenstand im Betrieb von Bankgeschäften bestand (§ 42 Abs. 4 GmbHG). Letzterer war im ersten Entwurf allerdings noch nicht vorgesehen und wurde erst auf Initiative der XXV. Kommissionim laufenden Gesetzgebungsverfahren
13 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, V. Legislaturperiode – Aktenstück Nr. 21, S. 216, 321. 14 So heißt es in der Begründung zum GmbHG 1892 (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, VIII. Legislaturperiode – Aktenstück Nr. 660, S. 3715, 3749): „Eine Veröffentlichung der Bilanzen ist im Entwurf nicht vorgeschrieben. Es läßt sich zwar nicht verkennen, daß bei einer Assoziationsform, welche den Gläubigern das Gesellschaftsvermögen als alleiniges Befriedigungsobjekt bietet, manches für einen Zwang zur periodischen Veröffentlichung der Geschäftsergebnisse sich anführen läßt; namentlich würde dadurch die Beurtheilung der Kreditwürdigkeit der Unternehmungen erheblich erleichtert werden. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, daß eine Maßnahme, welche auch jedem Unberufenen den Einblick in die Verhältnisse der Gesellschaft ermöglicht, für die Entwickelung eines Unternehmens in vielen Fällen von Nachtheil sein muß. … Die Gläubiger einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung stehen, was die Anhaltspunkte für die Würdigung der Vermögenslage ihrer Schuldnerin betrifft, keineswegs ungünstiger, als die Gläubiger jedes Einzelunternehmers und jeder offenen Handelsgesellschaft oder einfachen Kommanditgesellschaft; denn die persönliche Haftung, welche in diesen Fällen stattfindet, hat ihr Maß und ihren Werth schließlich doch auch nur in der Höhe des Vermögens, welches die Verpflichteten besitzen.“
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eingeführt.15 In der Begründung wird dabei ausgeführt, dass die Publizität der Bilanz dem Publikum, welchem er Schutz bringen wolle, wenig nützen werde, da dieses die veröffentlichten Bilanzen nicht sehen und nicht verstehen werde, und daß deshalb die Veröffentlichung der Bilanzen wenig Werth habe16. Gleichwohl entschied sich die Kommission zur Einführung dieser Bekanntmachungspflicht, da die Publizität der Bilanzen von Seiten der Bankgeschäfte doch einen gewissen Schutz gewähren werde17. Diese nebulöse Formulierung der Gewährung eines gewissen Schutzes ist letztlich Ausdruck einer Unsicherheit hinsichtlich der tatsächlichen Bedeutung der Publizität von Bilanzen bzw. Unternehmensabschlüssen insgesamt, die sich bis in die heutige Zeit bewahrt hat.18 Die fehlende Publizitätspflicht für die (keine Bankgeschäfte betreibende) GmbH wurde von der Beratungspraxis zugleich als einer der zentralen Rechtsformunterschiede zwischen der GmbH und der AG ausgemacht.19 In der Folgezeit bis zur Einführung dieser Publizität bzw. der Entstehung eines Konzernbilanzrechts wurde dieser Rechtsformunterschied auch genutzt, indem die GmbH in der heutigen Terminologie als special purpose vehicle zur Verschleierung von konzerninternen Vermögensverschiebungen eingesetzt wurde, was sich etwa eindrucksvoll bei der Gründung der Auto Union AG im Jahr 1931 zeigte.20
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4. Beibehaltung des Status quo im HGB und nachfolgenden Reformen Diese Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Ausgangslage fand auch bei der Schaffung des HGB Eingang in die Gesetzgebung, indem fortan § 265 HGB 189721 die Publizitätspflicht für die AG und in § 334 Abs. 1 HGB 1896 für die KGaA regelte. Größere Kontroversen scheinen diese Vorschriften bei der Schaffung des HGB nicht ausgelöst zu haben, geht die Denkschrift22 auf diesen Aspekt doch in keiner Weise
15 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, VIII. Legislaturperiode – Aktenstück Nr. 744, S. 4005, 4009 f. 16 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, VIII. Legislaturperiode – Aktenstück Nr. 744, S. 4005, 4010. 17 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, VIII. Legislaturperiode – Aktenstück Nr. 744, S. 4005, 4010. 18 Siehe D. 19 Darauf verweist etwa schon Staub, GmbHG, 1903, § 41 Rz. 84; diesen Unterschied immer noch betonend Goerdeler in Hachenburg, GmbHG, 7. Aufl. 1979, § 41 Rz. 29. 20 Dazu ausführlich Mock in Fleischer/Mock, Große Gesellschaftsverträge aus Geschichte und Gegenwart, 2021, § 15. 21 § 265 HGB 1896 lautete: „Nach der Genehmigung durch die Generalversammlung ist die Bilanz sowie die Gewinn- und Verlustrechnung unverzüglich durch den Vorstand in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen. Die Bekanntmachung sowie der im §. 260 bezeichnete Geschäftsbericht nebst den Bemerkungen des Aufsichtsraths ist zum Handelsregister einzureichen. Zum Handelsregister einer Zweigniederlassung findet die Einreichung nicht statt.“ 22 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX. Legislaturperiode – Aktenstück Nr. 632, Denkschrift zu dem Entwurf eines Handelsgesetzbuches und eines Einführungsgesetzes, S. 3141, 3212.
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ein und erwägt insbesondere keine Erweiterung der Publizitätspflicht auf andere Rechtsformen. Vielmehr zeigten sich in der Folgezeit sogar Tendenzen, die Publizitätspflicht weiter einzuschränken. So ermöglichte § 6 der Verordnung über die Einschränkung öffentlicher Bekanntmachungen vom 14.2.192423 eine Befreiung von der Publizitätspflicht durch gerichtliche Entscheidung, wenn glaubhaft gemacht wurde, dass die Kosten der Veröffentlichung in offenbarem Missverhältnisse zu der Vermögenslage der Gesellschafter stehen würde.24 Das Aktiengesetz 1937 übernahm dieses Regelungsregime in § 143 AktG 193725, regelte in Abs. 3 aber zusätzlich, dass das Gericht zur Prüfung des Jahresabschlusses nicht verpflichtet ist. Eine Publizität des wenige Jahre zuvor eingeführten26 Geschäftsberichts in den Gesellschaftsblättern sah das § 143 AktG 1937 nicht vor; dieser war lediglich zum Handelsregister einzureichen.27 Da die ebenfalls kurz zuvor in § 260a Abs. 2 HGB28 eingeführte Konzernrechnungslegung Bestandteil des Geschäftsberichts war, erstreckte sich die Publizitätspflicht auch nicht auf den (Vorgänger zum) Konzernabschluss. In der Folgezeit blieb dieses Regelungsregime unangetastet. Weder das Aktiengesetz 1965 noch die GmbH-Rechtsnovelle 1980 änderten dieses, sondern führten jedenfalls im Aktienrecht lediglich zu einer Verschiebung der jeweiligen Vorschriften in §§ 177 f., 338 AktG 1965 ohne größere inhaltliche Veränderungen. 5. Publizitätspflicht von Unternehmen mit gesamtwirtschaftlicher Bedeutung als aufkeimender Regelungsansatz 11
Die wohl umfangreichste Reform im Rahmen der Publizität von Unternehmensabschlüsse war die Schaffung des Publizitätsgesetzes 196929, mit der eine rechtsformunabhängige Publizitätspflicht für Unternehmen in Abhängigkeit von bestimmten Bi-
23 RGBl. I, S. 119. 24 § 6 Verordnung über die Einschränkung öffentlicher Bekanntmachungen v. 14.2.1924 lautete: „Das Gericht kann den Vorstand einer Aktiengesellschaft und die persönlich haftenden Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft auf Aktien auf ihren Antrag von der Verpflichtung zur Veröffentlichung der Bilanz sowie der Gewinn- und Verlustrechnung befreien, wenn glaubhaft gemacht wird, daß die Kosten der Veröffentlichung in offenbarem Mißverhältnisse zu der Vermögenslage der Gesellschafter stehen würden. Die Befreiung ist unzulässig, wenn nach den besonderen Umständen des Falles eine Veröffentlichung geboten erscheint ….“ 25 § 143 AktG 1937 lautete: „(1) Der Vorstand hat unverzüglich den Jahresabschluss und den Geschäftsbericht nebst dem Bericht des Aufsichtsrats (§ 96) zum Handelsregister des Sitzes der Gesellschaft einzureichen.“ (2) Der Vorstand hat unverzüglich den Jahresabschluss in den Gesellschaftsblättern bekanntzumachen und die Bekanntmachung zum Handelsregister des Sitzes der Gesellschaft einzureichen. (3) Zu der Prüfung, ob der Jahresabschluss und der Geschäftsbericht den gesetzlichen Vorschriften entsprechen, ist das Gericht nicht verpflichtet.“. 26 § 260a HGB eingeführt durch die Verordnung des Reichspräsidenten über Aktienrecht, Bankenaufsicht und über eine Steueramnestie v. 19.9.1931, RGBl. I, S. 493. 27 Dies betonend Amtliche Begründung zum Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaft auf Aktien, Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger 1937 Nr. 28 v. 4.2.1937 (abgedruckt bei Klausing, AktG 1937, S. 134). 28 Siehe Fn. 26. 29 Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und Konzernen v. 15.8.1969, BGBl. I, S. 1189.
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lanzkennzahlen eingeführt wurde. Zur Begründung dieser Publizitätspflicht verweisen die Gesetzesmaterialien auf die gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Unternehmen dieser Größenordnungen und dem öffentlichen Interesse an einer bei diesen mit kaufmännischer Sorgfalt geführten Rechnungslegung.30 Die Gesetzesmaterialien betonen sogar, dass die Annahme einer Abhängigkeit des Publizitätsregimes von den Besonderheiten einer Rechtsform einen Fehlschluss darstellen würde31, womit nicht weniger als die vorherige Gesamtsystematik des Publizitätsregimes im Hinblick auf Unternehmensabschlüsse ad absurdum geführt wurde. Somit war durch das Publizitätsgesetz ein Paradigmenwechsel verbunden, war die Publizitätspflicht fortan schlicht von der Größe des Unternehmens abhängig. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Gesetzgeber diesen Regelungsansatz nicht umfassend zu Ende gegangen ist; zum einen wurde die für die Begründung der Publizitätspflicht relevanten Größenmerkmale verhältnismäßig hoch angesetzt, auch wenn diese seitdem nicht mehr verändert wurden, und zum anderen beließ es der Gesetzgeber für Unternehmen unterhalb dieser Schwellenwerte bei dem bisherigen Publizitätsregime. Insofern kann man dem Gesetzgeber des PublG eine Inkonsistenz vorwerfen, die wohl auf die Grenzen des seinerzeit politisch Machbaren zurückzuführen ist. 6. (Fehlende) Publizität der Unternehmensabschlüsse der GmbH und der GmbH & Co. KG als rechtspolitische Rückzugsgefechte Die fehlende rechtskulturelle Durchschlagskraft dieses Regelungsansatzes des Publizitätsgesetzes zeigt sich in der Folgezeit vor allem an der Debatte um die Reform der (fehlenden) Publizitätspflicht für die GmbH, die vor allem die 1970er Jahre dominierte. Auch wenn sich zunehmend eine Art von herrschender Meinung durchsetzte32, die sich für eine Ausweitung der Publizitätspflicht auf die Unternehmensabschlüsse der GmbH aussprach, war es am Ende der Zwang zur Umsetzung der Vierten (Gesellschaftsrechtlichen) Richtlinie33 (fortan Jahresabschlussrichtlinie) im Rahmen des Bilanzrichtliniengesetzes von 198534, der zu einer Abkehr von der fehlenden Publizitätspflicht führte. Dass diese Abkehr letztlich nur halbherzig war, zeigte
30 Begr RegE PublG, BT-Drucks. V/3197, S. 14. 31 Begr RegE PublG, BT-Drucks. V/3197, S. 13 („Die Abhängigkeit von der Rechtsform könnte zu dem Fehlschluß verleiten, die Publizität des Jahresabschlusses sei im geltenden Recht ausschließlich durch Besonderheiten der einzelnen Rechtsformen bedingt; …“). 32 Dazu nur Goerdeler in Hachenburg, GmbHG, 7. Aufl. 1979, § 41 Rz. 29; Kronstein, BB 1964, 1055; Schilling in Hachenburg, GmbHG, 7. Aufl. 1975, Einleitung Rz. 55; ausführlich auch Schilling, Die handelsrechtliche Publizität außerhalb der Aktiengesellschaft, Wirtschaftsrechtliches Gutachten des 45. DJT, 1965, S. F6 ff. 33 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. EG Nr. L 222 v. 14.8.1978, S. 11. 34 Gesetz zur Durchführung der Vierten, Siebenten und Achten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts (BilanzrichtlinienGesetz – BiRiLiG) v. 19.12.1985, BGBl. I, S. 2355; dazu ausführlich Schulze-Osterloh, ZHR 150 (1986), 403 ff. und 532 ff.
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sich kurz darauf an der Debatte über die (fehlende) Erfassung der kapitalistischen Personengesellschaften von der Publizitätspflicht und dem Erfordernis einer Verurteilung Deutschlands durch den EuGH35 wegen der fehlenden Umsetzung der GmbH & Co-Richtlinie36, da es erst danach im Rahmen des KapCoRiLiG37 von 2000 zur Erfassung der kapitalistischen Personengesellschaften von der Publizitätspflicht durch Schaffung des § 264a HGB kam. In diesem Kontext ist zudem auch die Verurteilung Deutschlands wegen der unzureichenden Sanktionierung bei Verstößen gegen die Publizitätspflicht durch den EuGH38 zu sehen, die ebenfalls im Rahmen des KapCoRiLiG von 2000 und späterer Maßnahmen korrigiert wurde. In diese Zeit der rechtspolitischen Rückzugsgefechte gehört auch die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach eine Analyse und Weitergabe von veröffentlichten Jahresabschlüssen an Teilnehmer eines wissenschaftlichen Seminars eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des den Jahresabschluss erstellenden Unternehmens darstellen soll.39 Dies alles kann als klarer rechtskultureller Beleg für das schwierige Verhältnis des deutschen Gesellschaftsrechts zu einer umfassenden und klaren Publizität von Unternehmensabschlüssen betrachtet werden, das sich erst durch europäische Einflüsse40 aufgelöst hat. 7. Zwischenergebnis 13
Das deutsche Unternehmensrecht des 19. Jahrhunderts stand der Publizität von Unternehmensabschlüssen zurückhaltend gegenüber und führte diese nur für die Aktiengesellschaften (und die KGaA) durch die 1. und 2. Aktienrechtsnovelle ein und begründete dies mit der beschränkten Haftung, die für die GmbH wenig später in diesem Zusammenhang gleichwohl nicht als zwingender Grund betrachtet wurde. Für alle anderen Rechtsformen blieb es – mit Ausnahme der unter das PublG fallenden Unternehmen – bei dem Grundsatz der Privatheit der Informationen über die wirtschaftliche Verfassung des Privatrechts, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts gegen gegenteilige europäische Einflüsse im Ergebnis erfolglos verteidigt wurde.
35 EuGH v. 22.4.1999 – C-272/97 (Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Bundesrepublik Deutschland), Slg. I, S. 195. 36 Richtlinie 90/605/EWG des Rates v. 8.11.1990 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG über den Jahresabschluß bzw. den konsolidierten Abschluß hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs, ABl. EG Nr. L 317 v. 16.11.1990, S. 60. 37 Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Union zur Änderung der Bilanz- und der Konzernbilanzrichtlinie hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs (90/ 605/EWG), zur Verbesserung der Offenlegung von Jahresabschlüssen und zur Änderung anderer handelsrechtlicher Bestimmungen (Kapitalgesellschaften- und Co-Richtlinie-Gesetz – KapCoRiLiG) v. 24.2.2000, BGBl. I, S. 154. 38 EuGH v. 29.9.1998 – C-191/95 (Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Bundesrepublik Deutschland), Slg. I, S. 441. 39 BGH v. 8.2.1994 – VI ZR 286/93, NJW 1994, 1281; kritisch dazu vor allem Hirte, EWiR 1994, 469 f.; Kersting in Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2010, § 325 Rz. 11; Siekmann, ZIP 1994, 651 ff. 40 Siehe B.III.
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III. Europäisierung des Gesellschaftsrechts Im Rahmen der Europäisierung des Gesellschaftsrechts scheint die Publizität der Unternehmensabschlüsse von Beginn an eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein.
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1. Jahresabschluss und die Vierte (Gesellschaftsrechtliche) Richtlinie So sah bereits Art. 47 Jahresabschlussrichtlinie die Pflicht zur Offenlegung des ordnungsgemäß gebilligten Jahresabschlusses und des Lageberichts vor; für das Verfahren wurde insofern auf Art. 3 (Erste) (Gesellschaftsrechtliche) Richtlinie41 verwiesen, so dass eine Einreichung bei einem Register sowie eine Bekanntmachung erfolgen mussten.
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a) Schutz Dritter im grenzüberschreitenden Binnenmarkt Hinsichtlich der Ratio legte sich bereits die Begründung der ursprünglichen Jahresabschlussrichtlinie fest. So soll der Offenlegung der Unterlagen im Hinblick auf den Schutz der Gesellschafter sowie der (nicht näher bezeichneten) Dritten besondere Bedeutung zukommen und diese streng42 ausgestaltet sein.43 Welche besondere Bedeutung damit gemeint ist, bleibt unklar, erschließt sich in gewisser Weise aber aus dem Verweis auf die Aktiengesellschaft und die Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Jedenfalls folgert die herrschende Meinung daraus seit jeher, dass sich die Offenlegung des Jahresabschlusses bei diesen Kapitalgesellschaften aus dem Umstand der beschränkten Haftung auf das Gesellschaftsvermögen rechtfertigt.44 Völlig selbstverständlich ist dies freilich nicht.45 Zum einen scheint die Jahresabschlussrichtlinie selbst diesen Schluss nur bedingt ziehen zu wollen, wird doch in deren Erwägungsgrund Nr. 1 insbesondere auf die Aktiengesellschaft und die Gesellschaft mit beschränkter Haftung verwiesen, so dass diese Nennung wohl offenbar nicht abschließend ist, ohne dass allerdings klar ist, welche weiteren Unternehmensrechtsformen erfasst sein sollen. Zum anderen erstaunt es, dass der europäische Gesetzgeber jedenfalls für die GmbH offenbar einen anderen Schluss als der historische Gesetzgeber
41 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. EG Nr. L 65 v. 14.3.1968, S. 8. 42 So ausdrücklich die Begründung im Vorschlag einer Vierten RL (EWG) des Rates aufgrund von Artikel 54 Abs. 3 Buchstabe g zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter hinsichtlich der Gliederung und des Inhalts des Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie hinsichtlich der Bewertungsmethoden und der Offenlegung dieser Dokumente vorgeschrieben sind, 16.11.1971, KOM(71) 1232 = BR-Drucks. VI/2875, S. 28. 43 Erwägungsgrund Nr. 1 Vierte (Gesellschaftsrechtliche) Richtlinie (Fn. 33). 44 So etwa Kersting in Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2010, § 325 Rz. 8 mit weiteren Nachweisen. 45 Gegen eine Beschränkung des Begriffs Dritter auf Gläubiger auch EuGH v. 4.12.1997 – C-97/96 (Verband deutscher Daihatsu-Händler e.V./Daihatsu Deutschland GmbH), Slg. I-6843 Tz. 20 ff. = NJW 1998, 129.
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des GmbHG 189246 gezogen hat, der die Publizität der Jahresabschlüsse einer GmbH nicht für zwingend erachtete. Allerdings mag die grenzüberschreitende Ausrichtung der Jahresabschlussrichtlinie eine besondere Rechtfertigung in sich tragen, ergibt sich doch bei einem rechtsgeschäftlichen Kontakt mit Gesellschaftsformen aus anderen Mitgliedstaaten ein größeres Bedürfnis nach Informationen über deren wirtschaftliche Verhältnisse; jedenfalls hat dies der EuGH – wenn auch deutlich später – als wesentliche argumentative Säule seiner Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit angeführt.47 In späterer Abfolge hat der europäische Gesetzgeber das Ziel des Gläubigerschutzes im Rahmen der Publizität von Jahresabschlüssen weiter konkretisiert und vor allem im Rahmen der GmbH & Co-Richtlinie48 klar zum Ausdruck gebracht.49 b) Fehlende Wechselwirkung mit dem Kapitalschutzsystem 17
Kein direkter Bezug wird in der Jahresabschlussrichtlinie allerdings zum Kapitalschutzsystem hergestellt.50 Dieses wird in der Richtlinie zwar schon allein wegen des erforderlichen Ausweises des gezeichneten Kapitals erwähnt (Art. 9); allerdings gibt es keinen Bezug zur Frage, inwieweit die Publizität des Jahresabschlusses auch der Durchsetzung des Kapitalschutzsystems dient. Ein solcher Bezug ist durchaus nicht fernliegend, ergibt sich aus der Publizität des Jahresabschlusses für die Gläubiger und Vertragspartner doch die Information, in welchem Umfang Kapital an die Gesellschafter abgeflossen ist bzw. werden jedenfalls offensichtliche Verstöße gegen das Kapitalschutzsystem bei einer Publizität des Jahresabschlusses offenkundig. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Kapitalschutzrichtlinie51 erst ein Jahr nach der Jahresabschlussrichtlinie verabschiedet wurde. Insgesamt kann man der fehlenden ausdrücklichen Bezugnahme des Zwecks der Jahresabschlussrichtlinie auf das Kapitalschutzsystem aber entnehmen, dass der europäische Gesetzgeber offenbar von einem Nebeneinander beider Regelungs- oder genauer Gläubigerschutzsysteme ausgegangen ist. Dies lässt sich zudem auch daran ablesen, dass die Debatte über den erforder46 Siehe B.II.3. 47 Zu dem sogenannten Informationsmodell in der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit vgl. im Überblick etwa Kindler in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2021, Internationales Gesellschaftsrecht, Rz. 119. 48 Richtlinie 90/605/EWG des Rates v. 8.11.1990 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG über den Jahresabschluß bzw. den konsolidierten Abschluß hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs, ABl. EG Nr. L 317 v. 16.11.1990, S. 60. 49 Dort (Fn. 48) heißt es in Erwägungsgrund Nr. 1: „… findet auf den Jahresabschluß der Aktiengesellschaft und den der Gesellschaft mit beschränkter Haftung vor allem deshalb Anwendung, weil Unternehmen dieser Rechtsform Dritten eine Sicherheit nur durch ihr Gesellschaftsvermögen bieten.“. 50 Zum Sachzusammenhang von Rechnungslegungsrecht und Kapitalschutzsystem ausführlich Mock, Die Finanzverfassung der Kapitalgesellschaften und internationale Rechnungslegung, 2007, S. 24 ff. 51 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. EG Nr. L 26 v. 31.1.1977, S. 1.
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lichen Umfang des Stamm- oder Grundkapitals keinen direkten Einfluss auf das bestehende Publizitätsregime hatte. Völlig fernliegend ist ein solcher – jedenfalls umgekehrter – Sachzusammenhang nicht, könnte doch etwa angenommen werden, dass mit steigender Höhe des Grund- oder Stammkapitals eine Publizität der Unternehmensabschlüsse als weiterer Gläubigerschutzmechanismus entbehrlich ist. Die fehlende Belastbarkeit dieses Gedankens zeigt sich aber etwa am deutschen Gesellschaftsrecht, das traditionell für die AG mit einem im Vergleich zur GmbH höheren Kapital eine Publizitätspflicht vorsah52; dies hätte daher eigentlich umgekehrt sein müssen, was aber nie der Fall war. 2. Konzernabschluss und die Siebte (Gesellschaftsrechtliche) Richtlinie Für den Konzernabschluss wurde die Publizität ebenfalls von Beginn an in Art. 38 Siebte (Gesellschaftsrechtliche) Richtlinie53 (fortan Konzernabschlussrichtlinie) vorgesehen. Die Begründung war dabei – ebenso wie bei der kurz zuvor geschaffenen Jahresabschlussrichtlinie54 – recht vage; so verweist Erwägungsgrund Nr. 1 nur darauf, dass auch die in einem Konzernabschluss enthaltenen Informationen zur Kenntnis der Gesellschafter und Dritter gebracht werden muss. Mit der Verabschiedung der GmbH & Co-Richtlinie kam es auch dahingehend zu einer Klarstellung, da nunmehr auf das Problem der beschränkten Haftung verwiesen wurde. Interessanterweise wird im Rahmen der Konzernabschlussrichtlinie nicht darauf eingegangen, dass der Konzernabschluss für das Kapitalschutzsystem keine Bedeutung hat, gleichwohl aber die Gläubigerschutzfunktion der Publizität des Konzernabschlusses betont.55 Darin kann man einen weiteren Beleg für das Nebeneinander der Gläubigerschutzsysteme56 – Kapitalschutz einerseits und Publizität der Unternehmensabschlüsse andererseits – sehen.
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3. Modernisierung und Konsolidierung Mit der Schaffung der (Neuen) Bilanzrichtlinie57 wurde diese Regelungen in deren Art. 30 überführt, ohne dass es zu einer Auseinandersetzung mit der Ziel- oder Zweckrichtung dieses Regelungsansatzes kam. Vielmehr wird in Erwägungsgrund Nr. 3 der Schutz von Aktionären, Gesellschaftern und Dritten in Übereinstimmung mit den Vorgängerrechtsakten betont. Bemerkenswert ist aber, dass der europäische Gesetz52 Siehe B.II. 53 Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. EG Nr. L 193 v. 18.7.1983, S. 1. 54 Siehe B.III.1. 55 Zu den Zwecken der Konzernrechnungslegung ausführlich Wöhe/Mock, Die Handelsund Steuerbilanz, 7. Aufl. 2020, § 22. 56 Siehe B.III.1.b). 57 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, ABl. EG Nr. L 182 v. 29.6.2013, S. 19.
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geber in seiner Begründung einen zweigliedrigen Begründungsstrang gewählt hat. So wird in Erwägungsgrund Nr. 3 (Neue) Bilanzrichtlinie nicht mehr nur auf das Problem der beschränkten Haftung verwiesen, sondern auch betont, dass gerade die grenzüberschreitende Tätigkeit der publizitätspflichtigen Unternehmen ein zentrales Element im Rahmen der Schutzbedürftigkeit darstellt.58 Darin scheint sich das vom EuGH im Rahmen der Niederlassungsfreiheit propagierte Informationsmodell widerzuspiegeln59, auch wenn dieses selbst ausdrücklich nicht erwähnt wird. 4. Zwischenergebnis 20
Das europäische Gesellschaftsrecht hat der Publizität der Kapitalgesellschaften insgesamt von Beginn an einen hohen Stellenwert eingeräumt und hat insofern – im Gegensatz zum deutschen Gesellschaftsrecht60 – keine rechtsformspezifische Anknüpfung gewählt. Zielsetzung war insofern von Beginn an der Schutz von Dritten, bei dem im Laufe der Zeit verstärkt die sich aus der grenzüberschreitenden Tätigkeit der publizitätspflichtigen Gesellschaften ergebenden Gefahren betont wurden. IV. Entstehung eines Wertpapierhandelsbilanzrecht
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Für das Wertpapierhandelsbilanzrecht – also das für Emittenten von Finanzinstrumenten auf Kapitalmärkten geltende Rechnungslegungsrecht61 – ist die Publizitätspflicht eine verhältnismäßig weit zurückreichende Errungenschaft (siehe B.IV.1.), die in der jüngeren Zeit in großem Umfang ausgeformt wurde (siehe B.IV.2) und bei der sich inzwischen schon gegenteilige Tendenzen zeigen (B.IV.3). 1. Frühe börsenrechtliche Regelungen
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Für das Wertpapierhandels- oder Kapitalmarktrecht hat die Publizität bereits in den Anfängen der Kodifizierung eine verhältnismäßig große Rolle gespielt. So fand das durch die 1. und 2. Aktienrechtsnovelle geschaffene Publizitätsregime bei den Aktiengesellschaften62 im Rahmen der Kodifizierung des Börsenrechts durch das Börsengesetz 1896 eine Entsprechung. So sah § 39 Abs. 1 Satz 1 BörsG 1896 vor, dass eine Zulassung von Aktien unter anderem nicht vor der Veröffentlichung der ersten Jahresbilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung erfolgen durfte.63 Hintergrund dieser 58 So heißt es in Erwägungsgrund Nr. 3 Satz 2: „In den genannten Bereichen ist für die entsprechenden Rechtsformen von Unternehmen eine zeitgleiche Koordinierung erforderlich, da zum einen bestimmte Unternehmen in mehr als einem Mitgliedstaat tätig sind und da sie zum anderen über ihr Nettovermögen hinaus Dritten keinerlei Sicherheiten bieten.“. 59 Siehe dazu den Nachweis“ in Fn. 47. 60 Siehe B.II. 61 Mit dieser Begrifflichkeit Mock, FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1053 ff. 62 Siehe B.II.2. 63 § 39 Abs. 1 Satz 1 BörsG 1896 lautete: „Die Zulassung von Aktien eines zur Aktiengesellschaft oder zur Kommanditgesellschaft auf Aktien umgewandelten Unternehmens zum Börsenhandel darf vor Ablauf eines Jahres nach Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister und vor der Veröffentlichung der ersten Jahresbilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung nicht erfolgen.“
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Regelung war, dass die finanziellen Ergebnisse während der Zeit, in welcher das Unternehmen sich noch im Privatbesitz befunden, keine ausreichende Grundlage für die Beurtheilung der wirtschaftlichen Entwicklung als Aktiengesellschaft bieten können.64 Damit ging § 39 Abs. 1 Satz 1 BörsG 1896 im Grundsatz aber über das bisherigen Publizitätsregime hinaus. Denn auch wenn eine solche Publizität für die AG seit der 1. Aktienrechtsnovelle 1870 vorgeschrieben war, machte § 39 Abs. 1 Satz 1 BörsG 1896 deutlich, dass auch andere Rechtsformen nicht direkt nach einer Umwandlung in eine AG eine Börsenzulassung erhalten können, sondern mindestens einen Unternehmensabschluss erstellen und veröffentlichten mussten. 2. Publizität von Unternehmensabschlüssen als Kernelement des europäischen Kapitalmarktrechts In der Folgezeit enthielten sich sowohl das Börsenrecht als auch seit 1994 neu entstehende Wertpapierhandelsrecht65 einer eigenständigen Regelung zur Publizität von Unternehmensabschlüssen. Vielmehr überließ es der Gesetzgeber den Börsen selbst, durch Börsenordnungen entsprechende Publizitätsregime vorzusehen, wovon diese in der Regel auch Gebrauch machten. Erst mit der Schaffung der Transparenzrichtlinie von 200466 kam es zu einer Etablierung eines eigenständigen Publizitätsregimes für Unternehmensabschlüsse im kapitalmarktrechtlichen Kontext, das in den §§ 37v ff. WpHG a.F. (heute §§ 114 ff. WpHG) als eigenständiger Abschnitt geregelt wurde. Wesentlicher Kern dieser Regelung war die Rechtsformunabhängigkeit67 und die Erweiterung der Publizitätspflicht auf unterjährige Unternehmensabschlüsse, die allerdings schon wenige Jahre später durch die Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie68 wieder teilweise zurückgenommen wurde, indem die Erstellung und Veröffentlichung von Zwischenmitteilungen der Geschäftsleitung nicht mehr zwingend erfolgen musste.69 Zur Begründung für die Schaffung dieses Regelungssystems verweist 64 Wermuth/Brendel, BörsenG, 1897, S. 79; dazu auch Mock, FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1053, 1055 f. 65 Dazu Mock, JZ 2020, 817 ff. 66 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. EG Nr. 390 v. 31.12.2004, S. 38. 67 Dazu etwa Mock, FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1053, 1071 f. 68 Richtlinie 2013/50/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2013 zur Änderung der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, sowie der Richtlinie 2007/14/EG der Kommission mit Durchführungsbestimmungen zu bestimmten Vorschriften der Richtlinie 2004/109/EG, ABl. EG Nr. L 294 v. 6.11.2013, S. 13. 69 Dazu ausführlich Hönsch/Anzinger in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht – Band II, 8. Aufl. 2023, § 116 Rz. 2; Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37x Rz. 8.
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der europäische Gesetzgeber in Erwägungsgrund Nr. 1 Transparenzrichtlinie (2004/ 109/EG) faktisch – ohne diese freilich ausdrücklich als solche zu bezeichnen – auf die Effizienzmarkthypothese.70 Zentrales Ziel dieses Publizitätsregimes ist es – in den Worten von Erwägungsgrund Nr. 1 – durch eine rechtzeitige Bekanntgabe zuverlässiger und umfassender Informationen über Wertpapieremittenten das Vertrauen der Anleger nachhaltig zu stärken und eine fundierte Beurteilung ihres Geschäftsergebnisses und ihrer Vermögenslage zu ermöglichen, womit sowohl der Anlegerschutz als auch die Markteffizienz erhöht wird. Interessanterweise wurde diese Zielsetzung durch die Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie hinsichtlich der Zwischenmitteilung der Geschäftsleitung dahingehend relativiert, dass die Erreichung lediglich kurzfristiger Ergebnisse zuungunsten langfristiger Investitionen nicht verbunden sein darf.71 Eine Konkretisierung oder Unterlegung mit einer wissenschaftlichen Fundierung, wann dies der Fall ist, hat der europäische Gesetzgeber freilich nicht geliefert, so dass die in der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie getroffenen Annahme der fehlenden Eignung der Zwischenmitteilung der Geschäftsleitung für das Ziel der Erhöhung des Anlegerschutzes und von Markteffizienz letztlich argumentativ ein Schuss ins Blaue ist.72 3. Überbordende Publizität als zunehmendes Regelungsproblem 24
Die durch den Gesetzgeber im Rahmen der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie angestoßene Reduktion der Publizität von Unternehmensabschlüssen legt freilich den Finger in eine viel größere Wunde dieses Regelungsregimes. So führt eine umfassende und in kurzen zeitlichen Abständen erfolgende Publizität von Unternehmensabschlüssen zu neuen kapitalmarktrechtlichen Regelungsproblemen, die bisher nur ansatzweise untersucht wurden. Dies gilt insbesondere für das Problem des information overflow, also der Bereitstellung von zu vielen im Sinne von nicht mehr von den Adressaten erwartbar zu verarbeitenden Informationen auf den Kapitalmärkten.73 Die Rolle des Rechnungslegungsrechts ist in diesem Zusammenhang bisher kaum beleuchtet worden.74 Einen gewissen Fingerzeig geben aber die Erfahrungen mit dem Enforcement-Verfahren und der dort vorgesehenen negativen Publizitätswirkung der Fehlerbekanntmachung (§ 109 Abs. 2 WpHG), die nach den bisherigen Untersuchungen keine bis nur geringe Wirkung zu entfalten scheinen.75 Ob die of-
70 Ausführlich zu deren Bedeutung im Rahmen des Wertpapierhandelsbilanzrechts Mock, FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1053, 1078 ff.; vgl. auch Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37v Rz. 4 ff. 71 Erwägungsgrund Nr. 4 Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie (Fn. 68). 72 Zu den rechtspolitischen Hintergründen ausführlich Brinckmann in Veil, Europäisches und deutsches Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2022, § 18 Rz. 52 ff. 73 Dazu ausführlich Möllers/Kernchen, ZGR 2011, 1 ff.; Veil in Veil, Europäisches und deutsches Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2022, § 6 Rz. 31. 74 In Ansätzen Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37v Rz. 6 f. 75 Eingehend dazu Hitz/Ernstberger/Stich, Enforcement of Accounting Standards in Europe: Capital-Market-Based Evidence for the Two-Tier Mechanism in Germany, 21 European Accounting Review 253 ff. (2012); Böcking/Gros/Wallek/Worret, Enforcement of accounting standards: how effective is the German two-tier system in detecting earnings manage-
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fenbare geringe Bedeutung der Fehlerbekanntmachung auf einen information overflow oder die oft geringe Bedeutung der festgestellten Fehler für den Ergebnisausweis der betroffenen Unternehmen hat, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden. Ein weiteres Regelungsproblem der kapitalmarktrechtlichen Publizität der Unternehmensabschlüsse stellt das window dressing dar, bei dem ergebniswirksame Vorgänge im Hinblick auf den Zeitpunkt ihres bilanziellen Ausweises arrangiert werden.76 Auch in diesem Zusammenhang ist die Kapitalmarktrechtswissenschaft und die Kapitalmarktaufsicht – jedenfalls in Europa – noch am Anfang; eine der zentralen Fragen ist dabei, inwiefern window dressing den Tatbestand des Verbots der Kursmanipulation (Art. 12, 15 MAR) erfüllen kann.77 4. Zwischenergebnis Insgesamt bleibt festzuhalten, dass das Kapitalmarktrecht mit dem inzwischen eigenständigen Wertpapierhandelsbilanzrecht über das im Gesellschaftsrecht postulierte Ziel der Publizität hinausgeht und einen Fokus auf die Handelbarkeit von und die Preisbildung bei Finanzinstrumenten legt. Damit verbunden sind notwendigerweise Einschränkungen der Publizität, um eine ordnungsgemäße Preisbildung zu gewährleisten. Der Gläubigerschutz spielt für das Kapitalmarktrecht eher eine untergeordnete Rolle, sind Insolvenzen von Emittenten doch verhältnismäßig selten, obschon diese – wie etwa bei der Wirecard AG78 – erhebliches mediales Interesse auslösen.
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V. Verwässerung der Publizitätszwecke durch stetige Zunahme bilanzfremder Inhalte Eine eigenständige Entwicklung im Rahmen der Publizität von Unternehmensabschlüssen haben schließlich die zunehmenden bilanzfremden Inhalte erfahren, die in jüngerer Zeit auch zunehmend als non-financial disclosure bezeichnet werden.
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1. Stetig wachsende Berichtsinhalte in Anhang und Lagebericht Zentraler Ansatzpunkt bei dieser Publizität bilanzfremder Inhalte ist der Anhang und der Lagebericht.79 Beide Informationsinstrumente haben in den vergangenen Jahrzehnten eine enorme Aufwertung erfahren, die sich etwa quantitativ in den normativen Grundlagen zeigt. War für den Geschäftsbericht als Vorläufer des Lageberichts im Aktiengesetz 1937 lediglich eine Regelung (§ 128 AktG 1937) vorgesehen, wuch-
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ment?, 9 Review of Managerial Science 431 (2015); zu diesen Untersuchungen und deren Bedeutung für das (bisherige) Enforcement-Verfahren Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37q Rz. 91 f. Zu diesem Phänomen und den diesem zugrundeliegenden Methoden vgl. ausführlich Ekkenga, Konzern 2011, 321 ff. Dazu Mock, FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1053, 1074 f. Ausführlich, vor allem zu den Auswirkungen auf das europäische Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht Mock, ECFR 2021, 519 ff. Zu diesen bilanziellen Informationsinstrumenten Wöhe/Mock, Die Handels- und Steuerbilanz, 7. Aufl. 2020, § 19 und § 20.
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sen die normativen Grundlagen der Berichterstattung vor allem seit den 1990er Jahren immer weiter an und machen heute – zusammen mit den Vorschriften zur Berichterstattung im Anhang – insgesamt elf Vorschriften (§§ 284–289f HGB) aus, die eine scheinbar unüberschaubare Anzahl verschiedener Berichtsinhalte regeln; diese reichen von der Transparenz der Organvergütung (§ 285 Nr. 9 HGB), über die Berichterstattung über Geschlechterquoten (§ 289f Abs. 2 Nr. 4–6 HGB), die Corporate Governance (§ 289f Abs. 2 Nr. 1 bis 3 HGB) bis hin zum CSR-Reporting (§§ 289b ff., 315b ff. HGB).80 Hintergrund dieser neuen Berichtsinhalte ist die zunehmende Aufwertung der Interessen der Stakeholder. Dass der Gesetzgeber dazu vor allem das Rechnungslegungsrecht nutzt, kommt nicht von ungefähr, lassen sich damit echte Mitbestimmungs- oder Einflussrechte vermeiden. 2. Suche nach dem Zweck der Publizitätspflicht für die bilanzfremden Inhalte 28
Gemeinsam ist diesen Informationsinhalten, dass sie weder eine direkte Auswirkung auf den Gewinnausweise der berichtspflichtigen Gesellschaft haben noch, dass sie für die Gläubiger von unmittelbarer Bedeutung sind. Betrachtet man sich die im deutschen Gesellschaftsrecht81, im europäischen Gesellschaftsrecht82 oder im Wertpapierhandelsbilanzrecht83 verfolgten Zwecke der Publizität von Unternehmensabschlüssen, scheinen diese neuen Berichtsinhalte in keiner direkten Wechselwirkung mit diesen Zwecken zu stehen. Dies kann exemplarisch an der CSR-Berichterstattung aufgezeigt werden, für die typischerweise drei verschiedene Regelungszwecke genannt werden.84 Dabei handelt es sich zunächst um die Idee der Vervollständigung der Berichterstattung über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage, die bei Lichte besehen, freilich vage bleibt.85 So hat zwar die Corporate Social Responsibility einen nicht zu unterschätzenden mittelbaren Einfluss auf die Ertragskraft eines Unternehmens; allerdings handelt es sich dabei lediglich um einen mittelbaren Einfluss. Überzeugender scheint hingegen der Zweck der Schaffung einer Informationsbasis für die Eingehung von Vertrags- und Rechtsbeziehungen zu sein86; aber auch in diesem Zusammenhang ergeben sich nicht wenige Zweifel. Die Bedeutung der CSR-Berichterstat80 Vgl. zu diesem jüngst hinzugetretenen Berichtsinhalt Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-schweizerisches Symposium, 2018, S. 125 ff. 81 Siehe B.II. 82 Siehe B.III. 83 Siehe B.IV. 84 Vgl. insgesamt Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-schweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 133; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzkommentar, 3. Aufl. 2022, § 289b Rz. 2 ff. 85 Dazu etwa Eufinger, EuZW 2015, 424, 425; Hommelhoff in Großkommentar zum HGB, 6. Aufl. 2021, Vor § 289b HGB Rz. 18; Mock, ZIP 2017, 1195, 1196; Mock in Fleischer/ Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-schweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 133; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzkommentar, 3. Aufl. 2022, § 289b Rz. 3 f. 86 Hommelhoff in Großkommentar zum HGB, 6. Aufl. 2021, Vor § 289b HGB Rz. 20; Hommelhoff, FS Hoyningen-Huene, 2014, S. 137, 142; Mock, ZIP 2017, 1195, 1196; Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-
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tung für die Eingehung von Vertrags- und Rechtsbeziehungen ergibt sich vor allem aus der CSR-Berichterstattung selbst, muss in deren Rahmen doch unter anderem auch über die Lieferkette berichtet werden (§ 289c Abs. 3 Nr. 4, § 315c Abs. 2 HGB); ob jenseits dieser Berichterstattungspflicht ein – etwa mit dem Dritt- oder Gläubigerschutz vergleichbares – Interesse anzunehmen ist, muss hingegen bezweifelt werden. Vollends jenseits der klassischen Publizitätszwecke steht schließlich der Zweck der CSR-Berichterstattung in Form der allgemeinen Förderung einer nachhaltigen Unternehmenspolitik.87 Damit verbunden ist zugleich eine erhebliche Adressatenverschiebung, da mit diesem Publizitätszweck nicht weniger als die Ausweitung der Adressaten auf die allgemeine Öffentlichkeit verbunden ist. Anknüpfungspunkt ist somit nicht mehr die Verfolgung eines bestimmten Zwecks, sondern das Bestehen eines allgemeinen öffentlichen Interesses an der Publizität. Der Hintergrund dieser Entwicklung dürfte ein verhältnismäßig banaler sein. Letztlich entscheidet sich der Gesetzgeber gerade wegen der für die Unternehmensabschlüsse bestehenden Prüfungsund Veröffentlichungsverfahren oftmals für eine Integration neuer Inhalte in die Unternehmensabschlüsse, da sich dadurch nicht das Problem stellt, für neue Berichtsinhalte oder Berichte ein eigenständiges und jenseits der Unternehmensabschlüsse stehendes Prüfungs- und Veröffentlichungsverfahren zu entwickeln. Anders gewendet, hängen sich die neuen Berichtsinhalte sozusagen einfach an das Rechnungslegungsrecht an. 3. Inkonsistenz des Anwendungsbereichs der Publizität Dabei entstehen nicht unerhebliche konzeptionelle Verwerfungen. Mit der fehlenden Verfolgung des Zwecks des Gläubigerschutzes88 oder der Preisbildung auf Kapitalmärkten89 durch die neuen Berichtsinhalte stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Anknüpfung an diese zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der Berichtspflicht. Insofern wäre es konsequenter etwa die CSR-Berichterstattungspflicht davon abhängig zu machen, ob es ein öffentliches Interesse an einer CSR-Berichterstattung durch ein Unternehmen gibt. Dies kann ganz offensichtlich nicht davon abhängig sein, dass es sich bei dem Unternehmen um eine Kapitalgesellschaft bzw. kapitalistische Personengesellschaft handelt, was nach derzeitigem deutschen (§ 289b Abs. 1, § 315b Abs. 1 HGB) und europäischen Recht (Art. 1 [Neue] Bilanzrichtlinie) aber der Fall ist; dies wird sich auch nicht durch die neue CSRD-Richtlinie90 ändern,
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schweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 135 f.; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/ Schüppen, Bilanzkommentar, 3. Aufl. 2022, § 289b Rz. 5 f. Hommelhoff, FS Hoyningen-Huene, 2014, S. 137, 142; Hommelhoff, FS Kübler, 2015, S. 291, 293; Kleindiek in BeckOGK HGB, § 289b Rz. 26 (Stand Nov. 2020); Mock, ZIP 2017, 1195 (1196); Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-schweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 136 f.; Seibt, DB 2016, 2707, 2708; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzkommentar, 3. Aufl. 2022, § 289b Rz. 8. Siehe B.II. und B.III. Siehe B.IV. Diese verweist hinsichtlich des Anwendungsbereichs weiterhin auf die [Neue] Bilanzrichtlinie und damit nur auf Kapitalgesellschaften und kapitalistische Personengesellschaften.
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da diese ebenfalls nur auf Kapitalgesellschaften anwendbar ist. Daher wäre es notwendig, den Regelungsansatz, den der deutsche Gesetzgeber im Rahmen des Publizitätsgesetzes gewählt hat, auf die bilanzfremden Berichtsinhalte zu übertragen und einen Maßstab der Berichtsnotwendig zu entwickeln. Dies zeigt sich beispielhaft daran, dass nach dem derzeitigen Regelungsmodell alle gesetzestypischen Personenhandelsgesellschaften von der CSR-Berichterstattung ausgenommen sind, obwohl eine Vielzahl von diesen einen größeren CSR impact als andere Kapitalgesellschaften haben werden. 4. Ausgliederung und Entbilanzierung 30
Das gleichwohl zunehmende Spannungsverhältnis scheint inzwischen auch der Gesetzgeber teilweise realisiert zu haben; dies zeigt sich etwa an dem Vergütungsbericht, der inzwischen als Informationsinstrument jenseits der Unternehmensabschlüsse etabliert ist (§ 162 AktG), auch wenn er meist noch (faktisch) als Bestandteil der Unternehmensabschlüsse veröffentlicht wird.91 Dieses Schicksal wird mittelfristig wohl auch die nichtfinanzielle Erklärung ereilen, die bisher noch Teil des (Konzern-) Lageberichts (§ 289b Abs. 1 HGB) oder jedenfalls des Unternehmensabschlusses (§ 289b Abs. 3 HGB) ist.92 Für die CSR-Berichterstattung scheint der europäische Gesetzgeber hingegen an dem bisherigen Konzept der Integration der Berichterstattung in den Unternehmensabschlüssen festzuhalten, ist jedenfalls in der reformierten CSR-Richtlinie93 keine Ausgliederung der CSR-Berichterstattung aus den Unternehmensabschlüssen, sondern vielmehr deren zwingende Integration in den Lagebericht (Art. 19a) vorgesehen. VI. Zwischenergebnis
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Im historischen Kontext lässt sich kein eindeutiger Zweck der Publizität von Unternehmensabschlüssen ausmachen. Während zu Beginn der Schaffung der Publizitätspflicht vor allem der Gläubigerschutz bei der Aktiengesellschaft stand, wurde dieses Konzept später auf alle Kapitalgesellschaften und – nach massiven rechtspolitischen Verzögerungen – auf alle kapitalistischen Personengesellschaften ausgedehnt. Dahingehend scheinen sich deutsches und europäisches Gesellschaftsrecht weitgehend einig zu sein, auch wenn es tatsächlich in den Details der Zweckrichtung nicht unerhebliche Unterschiede gibt. Für das Wertpapierhandelsbilanzrecht spielte der Gläubigerschutz hingegen keine Rolle; vielmehr war die Preisbildung durch eine Bereitstellung umfassender Informationen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der Emittenten von Finanzinstrumenten das auslösende Moment. Einen völlig anderen An91 Zur Diskussion über die Integration in den Lagebericht vgl. nur Spindler in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2021, § 162 Rz. 83 mit weiteren Nachweisen. 92 Zur Ausübung des dahingehenden Wahlrechts Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzkommentar, 3. Aufl. 2022, § 289b Rz. 23 ff. 93 Richtlinie (EU) 2022/2464 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.12.2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 und der Richtlinien 2004/109/EG, 2006/ 43/EG und 2013/34/EU hinsichtlich der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen, ABl. EU Nr. L 322 v. 16.12.2022, S. 15.
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satz verfolgen schließlich die bilanzfremden Inhalte des non-financial reportings, bei denen die allgemeine Unterrichtung der (Markt-)Öffentlichkeit die zentrale Triebfeder darstellt. Somit basiert die Publizität von Unternehmensabschlüssen heute auf nicht weniger als drei verschiedenen Zielrichtungen, die nur mittelbar in einem Sachzusammenhang stehen.
C. Versuch der Abstrahierung der Funktionen der Publizität Versucht94 man nun in einem weiteren Schritt die (rechtlichen) Funktion der Publizität von Unternehmensabschlüssen zu ergründen, setzt sich die im Rahmen der historischen Rückschau offenbar gewordene Multifunktionalität fort. So lassen sich drei Funktionen ermitteln bzw. werden diese durch das Schrifttum herausgearbeitet.
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I. Funktionsschutz des Marktes So soll zunächst der Funktionsschutz des Marktes im Vordergrund stehen, den Merkt mit der Formulierung, die Publizität (der Unternehmensabschlüsse) sei das Korrelat der Marktteilnahme, auf den Punkt gebracht hat.95
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1. Gläubigerschutz des Gesellschaftsrechts Dieses Sichtweise steht freilich in einem Spannungsverhältnis zum eingeschränkten Anwendungsbereich der gesellschaftsrechtlichen Publizitätspflicht96, da sie nicht erklären kann, warum insbesondere (gesetzestypische) Personenhandelsgesellschaften von der Publizitätspflicht ausgenommen sind. Der historische Gesetzgeber des GmbHG 1892 hat dies in seiner Begründung klar ausgeführt97, indem dort darauf hingewiesen wurde, dass hinsichtlich des beschränkten Haftungsfonds zwischen der GmbH und den Personenhandelsgesellschaften kein tatsächlicher Unterschied besteht. Will man die Publizitätspflicht tatsächlich als ein Korrelat der Marktteilnahme begreifen, bedarf es zudem der Bestimmung des relevanten Marktes. Dahingehend kann man die Diskussion um den Anwendungsbereich der Publizitätspflicht sozusagen fortführen, indem man sich fragt, ob es sich bei dem relevanten Markt um den allgemeinen unternehmerischen Markt oder um einen spezifischen, ausschließlich aus beschränkten Haftungsträgern bestehenden Markt handelt. Dass letzteres kaum der Fall sein kann, ist mehr als einleuchtend. Insofern verliert die Betrachtungsweise der Publizität als Funktionsschutz des Marktes an dem sich auf den ersten Blick ergebenden Glanz. 94 Zu den Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang etwa Kersting in Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2010, § 325 Rz. 8 („Die Funktion der Offenlegung erschließt sich nicht ohne weiteres.“). 95 Merkt, Unternehmenspublizität: Offenlegung von Unternehmensdaten als Korrelat der Marktteilnahme, 2001, S. 332 ff.; ähnlich Noack, Unternehmenspublizität – Bedeutung und Medien der Offenlegung von Unternehmensdaten, 2002, Rz. 98 ff. 96 Siehe B.II. 97 Siehe B.II.3.
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2. Ermöglichung der Preisbildung auf Kapitalmärkten 35
Zudem gerät das Argument in ein Spannungsverhältnis, versucht man es auf die Publizität des Wertpapierhandelsbilanzrechts98 zu übertragen. Zwar ist es dort zunächst geradezu selbsterklärend, ist die Bereitstellung von Informationen über wirtschaftliche Verhältnisse Grundvoraussetzung für die Preisbildung auf Kapitalmärkten im Kontext der Effizienzmarkthypothese.99 Allerdings kann der Funktionsschutz des Marktes nicht hinreichend erklären, in welchem Umfang oder mit welcher Intensität eine solche Publizität bestehen muss, um eben diese Preisbildung auf Kapitalmärkten zu gewährleisten. Denn insofern scheint jedenfalls der europäische Gesetzgeber inzwischen davon auszugehen, dass weniger manchmal mehr zu sein scheint.100 3. Bilanzfremde Berichtsinhalte des non-financial reporting
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Betrachtet man schließlich die bilanzfremden Berichtsinhalte des non-financial reporting101, verliert das Argument der Korrelat der Marktteilnahme vollends an Kontur. Die allgemeine Unterrichtung der Öffentlichkeit zur Erreichung bestimmter Verhaltensweisen102 hat mit einem konkreten Markt und der Teilnahme an diesem nichts mehr zu tun. Will man in der allgemeinen Unterrichtung der Öffentlichkeit tatsächlich eine Voraussetzung erblicken, kann dies nur das unternehmerische Handeln überhaupt sein, womit die bilanzfremden Berichtsinhalte zu einer Art von öffentlichrechtlichem Erlaubnisvorbehalt werden. Dass dies für diese Berichtsinhalte aber nicht richtig sein kann, zeigt sich schon allein daran, dass die bilanzfremden Berichtsinhalte des non-financial reporting keinen konkreten Inhalt in Form eines bestimmten Verhaltens vorsehen, sondern es den Berichtenden jedenfalls grundsätzlich freistellen, abweichend zu berichten.103 Gleichwohl wohnt dem Argument des Korrelats der Marktteilnahme im Zusammenhang mit den bilanzfremden Berichtsinhalten die Gefahr inne, dass dies zum Korrelat für unternehmerischen Handeln überhaupt verkommt. II. Individualschutz
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Darüber hinaus wird in der Publizität oftmals eine Art von Individualschutz gesehen, was vor allem im Zusammenhang mit Haftungsfragen104 von Bedeutung ist.
98 Siehe B.IV. 99 In diesem Sinne vor allem Assmann, Prospekthaftung als Haftung für die Verletzung kapitalmarktbezogener Informationsverkehrspflichten nach deutschem und US-amerikanischem Recht, 1985, S. 24 ff.; Hopt, Der Kapitalanlegerschutz im Recht der Banken, 1975, S. 49 ff., 336 f.; Hopt, Gutachten für den 51. DJT 1976, 1977, G 47 ff.; Kersting in Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2010, § 325 Rz. 10; Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006, § 31 II. 100 Zur Tendenz der Einschränkung der Publizität siehe B.IV.3. 101 Siehe B.V. 102 Siehe B.V.2. 103 Dazu Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-schweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 144 mit weiteren Nachweisen. 104 Siehe dazu ausführlich unter D.III.
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1. Gläubigerschutz des Gesellschaftsrechts Eine individualschützende Funktion kann dem Gläubigerschutz im Gesellschaftsrecht105 nicht zugewiesen werden, fehlt es im Rahmen des geltenden Publizitätsregimes doch an klaren Wegmarken, die in diese Richtung weisen.106 Wollte man eine solche individualschützende Funktion der Publizität im Zusammenhang mit dem Gläubigerschutz begründen, würde dies unzählige haftungsrechtliche Folgeprobleme auslösen, die kaum zu bewältigen wären. Zudem ist eine solche individualschützende Funktionszuweisung auch mit dem geltenden materiellen Bilanzrecht nicht vereinbar. So gestattet dieses zwar einen Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft, ist aber dahingehend nicht so ausgerichtet, dass konkrete individuelle Entscheidungen für Gläubiger oder Vertragspartner darauf basieren können. Letztlich gestatten die Unternehmensabschlüsse nur eine grobe Einschätzung der wirtschaftlichen Verhältnisse der berichtspflichtigen Gesellschaften und gerade keine Insolvenzprophylaxe, was sich an der Wesensverschiedenheit von Handels- und Überschuldungsbilanz zeigt.107
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2. Ermöglichung der Preisbildung auf Kapitalmärkten Auch mit dem, dem Wertpapierhandelsbilanzrecht zugrundeliegenden Konzept der Ermöglichung der Preisbildung auf Kapitalmärkten108 lässt sich ein Individualschutz nicht in Einklang bringen. Preisbildung ist kein Individualrecht oder lässt die Ableitung solcher Individualrechte zu. Vielmehr ist die Preisbildung auf öffentlichen Märkten ein abstrakter Vorgang.
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3. Bilanzfremde Berichtsinhalte des non-financial reporting Völlig in Widerspruch zum Individualschutz stehen schließlich die bilanzfremden Inhalte des non-financial reporting109, da diese allein auf eine allgemeine Unterrichtung der Öffentlichkeit ausgerichtet sind. Damit ist freilich nicht per se das Bestehen eines Individualschutzes ausgeschlossen. Mit der allgemeinen Unterrichtung der Öffentlichkeit sollen insbesondere (künftige) Vertragspartner und Verbraucher in die Lage versetzt werden, ihre Entscheidung zum Kontrahieren mit dem berichtspflichtigen Unternehmen von entsprechend positiven Berichtsinhalten abhängig zu machen.110 Daraus individualschützende Folgen abzuleiten, fällt gleichwohl schwer. Dies zeigt sich beispielhaft etwa an der Frage der Begründung von Werbeaussagen im Sinne von § 434 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 lit. b) BGB. Sieht man in der CSR-Berichterstattung lediglich ein Instrument zur Unterrichtung des Marktes insgesamt, kann eine individuelle Mängelgewährleistungsrechte begründende Werbeaussagen im Sinne von § 434 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 lit. b) BGB kaum anzunehmen sein; stellt man hingegen auf die 105 Siehe B.II. 106 Im Ergebnis auch Kersting in Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2010, § 325 Rz. 113 (im Zusammenhang mit der Schutzgesetzdiskussion bei § 823 Abs. 2 BGB). 107 Zum Verhältnis von Handels- und Überschuldungsbilanz siehe D.II.4. 108 Siehe B.IV. 109 Siehe B.V. 110 Siehe B.V.2.
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Rz. 40 | Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen
Unterrichtung der einzelnen Marktteilnehmer ab, ist dies abweichend zu beurteilen.111 III. (Allgemeines) Öffentliches Interesse an der Publizität von wirtschaftlichen Verhältnissen 41
Weitgehend konturenlos112 ist schließlich die Annahme, dass die Publizität von Unternehmensabschlüssen einem allgemeinen öffentlichen Interesse dient.113 Letztlich basiert diese Annahme auf einer Substituierung des Gläubigerschutzes (des Gesellschaftsrechts)114 und des Konzepts der Preisbildung auf Kapitalmärkten (des Kapitalmarktrechts)115 mit eben dem öffentlichen Interesse. Anders gewendet, geht es dabei nur darum, dass Interesse weiter zu fassen und eben nicht auf einen gesellschaftsoder kapitalmarktrechtlichen Kontext zu beschränken. Der tatsächliche Mehrgewinn dieser Vorgehensweise ist allerdings zweifelhaft. Tatsächliche Bedeutung kann dieser Ansatz nur im Rahmen der bilanzfremden Inhalte des non-financial reporting116 haben, da diese Berichtsinhalte in keinem konkreten fachspezifischem Kontext offenzulegen sind, sondern allgemeinen ordnungspolitischen Zielsetzungen in Form der Förderung nachhaltigen Unternehmertums dienen.117 IV. Zwischenergebnis
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Die Suche nach einer abstrakten (rechtlichen) Funktion der Publizität ist ein mühevolles und letztlich ergebnisloses Unterfangen. Die in der historischen Rückschau aufgezeigten zahlreichen Triebfedern bei der Entstehung der Publizität spiegelt sich in ihrer Multifunktionalität wider. Keiner der klassischerweise im Schrifttum vertretenen Funktionen der Publizität von Unternehmensabschlüssen kann alle drei Regelungshintergründe erklären oder einordnen. Insofern bleibt es bei der Multifunktionalität der Publizitätspflicht.
111 Zu dieser Debatte ausführlich Gsell, ZHR 187 (2023), 392 ff.; dazu bereits Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichischschweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 187; Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzkommentar, 3. Aufl. 2022, § 289b Rz. 92. 112 Ebenfalls kritisch zu diesem Ansatz Brete, GmbHR 2009, 617, 618; differenzierend Kersting in Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2010, § 325 Rz. 10, der allerdings die gesellschaftsrechtliche mit der kapitalmarktrechtlichen Publizität vermengt. 113 Mit dieser Ansicht aber EuGH v. 4.12.1997 – C-97/96 (Verband deutscher DaihatsuHändler e.V./Daihatsu Deutschland GmbH), Slg. I-6843 Tz. 20 ff. = NJW 1998, 129; ähnlich Großfeld/Luttermann, Bilanzrecht, 4. Aufl. 2005, Rz. 25; Grundmann, RabelsZ 54 (1990), 283, 288; Hütten in Küting/Weber, Handbuch der Rechnungslegung, 5. Aufl. 2002, § 325 Rz. 12 (Unterrichtung der nicht näher eingegrenzten Öffentlichkeit als Offenlegungszweck); Reuter, FS Goerdeler, 1987, S. 431. 114 Siehe B.II. 115 Siehe B.IV. 116 Siehe B.V. 117 Dazu B.V.2.
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D. Zivilrechtliche Folgen der (inhaltlich) fehlerhaften Publizität von Unternehmensabschlüssen Ausgehend von dieser Multifunktionalität der Publizität von Unternehmensabschlüssen stellt sich die Frage der zivilrechtlichen Folgen einer inhaltlich fehlerhaften oder insofern mangelhaften Publizität; die sich daneben stellenden strafrechtlichen Fragestellungen sollen vorliegend außer Betracht bleiben.
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I. Suche nach den qualitativen Anforderungen an die Publizität von Unternehmensabschlüssen Dies setzt allerdings voraus, dass überhaupt bestimmt werden kann, wann der Publizitätspflicht nicht ordnungsgemäß nachgekommen wurde. Dass dies in Fällen des vollständigen Unterlassen der Veröffentlichung von Unternehmensabschlüssen der Fall ist, ist selbsterklärend und bedarf keiner weiteren Ausführungen; dies gilt auch für die Veröffentlichung einer sogenannten Nullbilanz118. Schwieriger ist hingegen die Bestimmung der Fehlerhaftigkeit eines Unternehmensabschlusses.
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1. Grundsätzliche Fehlerhaftigkeit von Unternehmensabschlüssen als Ausgangspunkt Dabei ist zunächst zu beachten, dass im Prinzip ein jeder veröffentlichter Unternehmensabschluss fehlerhaft ist bzw. eine vollständige und umfassende Fehlerfreiheit nicht erreicht werden kann.119 Dies ergibt sich aus der enormen Komplexität von Unternehmensabschlüssen, die mit wachsender Größe der berichtspflichtigen Unternehmen stetig zunimmt. So kann es praktisch trotz umfassender Vorkehrungen nicht vermieden werden, dass Buchungsvorgänge nicht oder fehlerhaft erfasst werden. Dieser in der Natur der Sache liegende Umstand ist dabei kein Vorwurf an die bilanzierenden Unternehmen, sondern lediglich ein Anerkenntnis der faktischen Unmöglichkeit der bilanziellen Abbildung aller relevanten Vorgänge in einem Unternehmen in den Unternehmensabschlüssen.
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2. Fehlende Relevanz der Schwelle der Wesentlichkeit Diesem Umstand trägt das Bilanzrecht selbst mit dem Grundsatz der Wesentlichkeit Rechnung, der im deutschen Bilanzrecht – etwa im Gegensatz zum österreichischen Bilanzrecht (§ 189a Nr. 10 UGB) – keinen normativen Niederschlag gefunden hat, als solcher aber allgemein anerkannt ist.120 Danach ist von einem relevanten und die 118 Dazu etwa Mylich, ZGR 2021, 86 ff.; a.A. LG Bonn v. 15.3.2013 – 37 T 730/12, NZG 2013, 1157 mit dem Leitsatz „Die Einreichung einer so genannten „Nullbilanz“ vor Ablauf der Nachfrist stellt die Erfüllung der Offenlegungsverpflichtung hinsichtlich der Bilanz dar.“. 119 Zum Problem der Bestimmung der Fehlerhaftigkeit von Unternehmensabschlüssen ausführlich Hennrichs, DStR 2009, 1446 ff. im Kontext des Enforcement-Verfahrens. 120 Dazu Faaß/Kursatz in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzkommentar, 3. Aufl. 2022, § 247 Rz. 18; Wöhe/Mock, Die Handels- und Steuerbilanz, 7. Aufl. 2020, § 17 Rz. 119 ff.
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Rz. 46 | Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen
Fehlerhaftigkeit eines Unternehmensabschlusses begründenden Umstands nur dann auszugehen, wenn ein durchschnittlicher Adressat seine Entscheidungen davon abhängig machen würde. Relevanz hat diese Betrachtungsweise allein im Rahmen der Prüfung der Unternehmensabschlüsse durch den Abschlussprüfer (§ 322 Abs. 4 HGB) sowie durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleitungsaufsicht (BaFin) im Enforcement-Verfahren121; wird die Schwelle der Wesentlichkeit nicht erreicht, kann weder der Abschlussprüfer den Bestätigungsvermerk einschränken oder versagen noch die BaFin einen Fehler feststellen. 3. (Vermeintliche) Nichtigkeit als dogmatischer Störfaktor 47
Daneben tritt die Schwelle der Nichtigkeit des Jahresabschlusses nach § 256 AktG, wobei es sich dabei bei genauerer Betrachtung um einen dogmatischen Störfaktor handelt. Nach § 256 AktG soll ein Jahresabschluss bei Vorliegen bestimmter Fehler nichtig sein, was zu einer Nichtexistenz des betroffenen Jahresabschlusses führen soll.122 Das gesamte Konzept der Nichtigkeit eines Jahresabschlusses – womit wohl tatsächlich ursprünglich die Nichtigkeit von dessen Feststellung gemeint sein sollte – erscheint fragwürdig, stellt sich doch die Frage wie ein Jahresabschluss, der – im Gegensatz zu Willenserklärungen oder Beschlüssen – keinen eigenen rechtsgeschäftlichen Erklärungswert hat, nichtig sein soll. Tatsächlich liegt der eigentliche Regelungsgehalt von § 256 AktG daher in der Einschränkung der Nichtigkeitsfälle, da die Aufzählung in § 256 AktG abschließend ist.123
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Die Schwierigkeiten der Annahme einer Nichtigkeit des Jahresabschlusses trotz fehlender rechtsgeschäftlicher Bedeutung desselben zeigen sich zudem im Rahmen des Anwendungsbereichs von § 256 AktG, der nach überwiegender Ansicht weder auf den Konzernabschluss124 noch auf die Jahresabschlüsse von Personengesellschaften125, wohl aber auf die Jahresabschlüsse einer GmbH126 anwendbar sein soll. Ein derartig selektiver Anwendungsbereich kann nicht überzeugen.
121 Dazu nur Anzinger/Hönsch in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht – Band II, 8. Aufl. 2023, § 109 Rz. 4 ff.; Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37q Rz. 69 jeweils mit umfangreichen weiteren Nachweisen. 122 Im Überblick dazu Wöhe/Mock, Die Handels- und Steuerbilanz, 7. Aufl. 2020, § 44 Rz. 12. 123 Zu dieser Motivlage nur Koch in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 2 mit weiteren Nachweisen. 124 BGH v. 14.1.2008 – II ZR 282/06, AG 2008, 325; Koch in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 7; vgl. auch Mock, Die Heilung fehlerhafter Rechtsgeschäfte, 2014, S. 590 f. mit umfangreichen weiteren Nachweisen. 125 Ausführlich Mock, Die Heilung fehlerhafter Rechtsgeschäfte, 2014, S. 586 ff. 126 Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Mock/Wöstmann, HGB, 6. Aufl. 2023, § 121 Rz. 11; Mock, Die Heilung fehlerhafter Rechtsgeschäfte, 2014, S. 588 f.; a.A. und für eine analoge Anwendung von § 256 AktG Hennrichs in Schäfer, Das neue Personengesellschaftsrecht, 2022, § 11 Rz. 53, 72 ff.; Schäfer, ZIP 2021, 1527, 1531; offen lassend Scholz, StuB 2021, 677, 682; eine Analogie schon im Recht vor dem MoPeG annehmend OLG München v. 19.7.2018 – 23 U 2737/17, NZG 2018, 1188 = GmbHR 2018, 1020
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4. Zwischenergebnis Das Unternehmensrecht stößt bei der Ermittlung qualitativer Anforderungen an die Publizität von Unternehmensabschlüssen an Grenzen. So gilt bei dieser Form der Unternehmenskommunikation kein Maßstab der (vollständig) wahrheitsgemäßen Berichterstattung. Vielmehr hat sich lediglich im Rahmen der Abschlussprüfung und des Enforcement-Verfahrens der Maßstab der Wesentlichkeit entwickelt, der mit nicht unerheblichen Unsicherheiten behaftet ist und erheblichen Spielraum belässt.
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II. (Fehlender) Vertrauensschutz Diese Schwierigkeiten der Bestimmung der tatsächlichen Fehlerhaftigkeit von Unternehmensabschlüssen spiegelt sich in dem dahingehenden Vertrauensschutz wider, den die Rechtsordnung im Zusammenhang mit der Publizität von Unternehmensabschlüssen gerade nicht schafft.
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1. Keine Anwendung von § 15 HGB Dies zeigt sich zunächst an der fehlenden Anwendbarkeit von § 15 HGB oder Etablierung von mit diesem vergleichbaren Rechtsgrundsätzen. Zwar werden die Unternehmensabschlüsse seit jeher veröffentlicht, gleichwohl ist das Unternehmensrecht nie den Schritt gegangen, dieser Publizität die gleichen Wirkungen wie § 15 HGB zukommen zu lassen. Dem mag man entgegnen, dass dem Unternehmensabschluss im Vergleich zur Handelsregistereintragung die Finalität der Information fehlt. Dies erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als zweifelhaft, zeichnen sich Unternehmensabschlüsse doch ebenso durch eine sehr hohe Präzision der dort enthaltenen Informationen aus. Der Grund für die fehlende Begründung eines Vertrauens auf die Richtigkeit von Unternehmensabschlüssen im Vergleich zu den Publizitätswirkungen des § 15 HGB dürfte vielmehr darin zu suchen sein, dass Unternehmensabschlüsse lediglich unternehmensinterne Informationen enthalten, während die von § 15 HGB erfassten Eintragungen im Handelsregister sich eben auf solche Informationen beschränken, die der Rechtsverkehr benötigt, um mit dem Unternehmen zu interagieren.127 Völlig belastbar ist dieses Argument freilich nicht, bedenkt man, dass der Zweck der Publizität von Unternehmensabschlüssen – jedenfalls im gesellschaftsrechtlichen Kontext – darin besteht, den Adressaten die Möglichkeit zu geben, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob sie mit dem Unternehmen in rechtsgeschäftlichen Kontakt treten wollen oder nicht. Gleichwohl ergeben sich aus dem Inhalt der Unternehmensabschlüsse keine rechtsgeschäftlich relevanten Informationen.
(zur KG); Bezzenberger, WM 2020, 2093, 2093; Priester in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl. 2022, § 122 Rz. 72 am Ende. 127 Zur Beschränkung von § 15 HGB vgl. nur Krebs in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl. 2021, § 15 Rz. 9.
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Rz. 52 | Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen
2. Gutgläubiger Bezug von Scheingewinnen 52
Auch für den Bezug sogenannter Scheingewinne – also Gewinne, die im Jahresabschluss zwar ausgewiesen werden, tatsächlich aber nicht bestehen128 – spielt der Jahresabschluss überraschenderweise keine Rolle. So ist der tatsächliche Inhalt des Jahresabschlusses im Rahmen der § 32 Abs. 2 GmbHG, § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG ohne Bedeutung129, obwohl sich aus dessen Veröffentlichung in der Regel doch überhaupt erst die berechtigte Annahme ergibt, zu einem entsprechenden Leistungsbezug berechtigt zu sein. Dabei ist allerdings zu beachten, dass jedenfalls § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG grundsätzlich von einer Gutgläubigkeit des Aktionärs ausgeht und der Schutz nur dann entfällt, wenn positive Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis vorliegt.130 Für das Personengesellschaftsrecht ist ein gutgläubiger Bezug von Scheingewinnen seit dem MoPeG131 ohnehin nicht mehr von Bedeutung, hat der Gesetzeber doch den § 172 Abs. 5 HGB a.F. gestrichen132; interessanterweise nahm § 172 Abs. 5 HGB auf die Bilanz Bezug, was die herrschende Meinung für eine Begründung der Gutgläubigkeit allein aber gerade nicht ausreichen ließ.133 Im Insolvenzanfechtungsrecht, das im Rahmen der Rückforderung von Scheingewinnen inzwischen einen wichtigen Stellenwert eingenommen hat, spielt der veröffentlichte Jahresabschluss interessanterweise auch keine Rolle, da jedenfalls die Schenkungsanfechtung (§ 134 InsO) wegen des Vorliegens des Gesellschaftsverhältnis als Basis für die Leistungserbringung (causa societatis) in der Regel ausgeschlossen ist.134 3. Haftung aus culpa in contrahendo/Irrtumsanfechtung
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Ebenfalls keine Bedeutung hat die Fehlerhaftigkeit von Unternehmensabschlüssen im Rahmen der Haftung aus culpa in contrahendo (§ 280 Abs. 1, § 311 Abs. 3 BGB). Daher kann ein Vertragspartner gegen das Unternehmen, dessen Unternehmensabschluss fehlerhaft veröffentlicht wurde, keinen entsprechenden Schadenersatzanspruch aufgrund eines Vertrauens in die Richtigkeit des Unternehmensabschlusses ableiten. Dies wird auch nicht für den Fall der Unterkapitalisierung angenommen, auch wenn
128 Zu dieser vor allem bei den Personengesellschaften auftretenden Problematik ausführlich Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Mock/Wöstmann, HGB, 6. Aufl. 2023, § 169 Rz. 26 ff. 129 Zum Maßstab der Gutgläubigkeit vgl. nur Koch, AktG, 17. Aufl. 2023, § 62 Rz. 13 für die AG und Kersting in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. 2022, § 32 Rz. 7 für die GmbH. 130 Vgl. nur Koch, AktG, 17. Aufl. 2023, § 62 Rz. 13. 131 Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – MoPeG) v. 10.8.2021, BGBl. I, S. 3436. 132 Zu den Folgen der Aufhebung von § 172 Abs. 5 HGB vgl. Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Mock/Wöstmann, HGB, 6. Aufl. 2023, § 172 Rz. 47 f. 133 Dazu ausführlich Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Mock/Wöstmann, HGB, 6. Aufl. 2023, § 172 Rz. 45 f.; K. Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 4. Aufl. 2019, §§ 171, 172 Rz. 87. 134 Dazu ausführlich Mock in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Mock/Wöstmann, HGB, 6. Aufl. 2023, § 179 Rz. 16 mit umfangreichen weiteren Nachweisen.
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diese oftmals aus dem Jahresabschluss erkennbar ist. Hintergrund dafür ist, dass diese Fallgruppe135 diskutiert wurde, als die GmbH noch nicht der Publizitätspflicht für ihren Jahresabschluss unterlag136; inzwischen ist diese Fallgruppe ohnehin zugunsten der Haftung wegen existenzvernichtendem Eingriff (§ 826 BGB) aufgegeben worden, bei dem der Jahresabschluss aber auch keinerlei Rolle spielt.137 Gleiches gilt im Ergebnis für eine Irrtumsanfechtung (§ 123 BGB) durch den Vertragspartner eines Unternehmens, dessen Unternehmensabschluss fehlerhaft veröffentlicht wurde. So dürfte es insofern meist an dem Kausalitätsnachweis138 des Anfechtenden fehlen, dass er den Vertrag mit dem Unternehmen bei Veröffentlichung eines fehlerfreien Jahresabschlusses nicht abgeschlossen hätte. Diese generell fehlende Haftung aus culpa in contrahendo (§ 280 Abs. 1, § 311 Abs. 3 BGB) bzw. die fehlende Durchschlagskraft der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) dürfte vor dem Hintergrund der stetigen Ausweitung des nonfinancial reportings139 nicht ganz zweifelsfrei sein. Insbesondere im Hinblick auf das CSR-Reporting ist es naheliegend, eine entsprechende Vertrauenshaftung oder Irrtumsanfechtung jedenfalls für die Unternehmen anzunehmen, für die die CSR-Angaben des berichtspflichtigen Unternehmens von tatsächlicher Bedeutung sind.140 Dies gilt in besonderem Maße für Unternehmen, die selbst einer CSR-Berichtspflicht unterliegen, müssen diese doch das CSR-Reporting anderer Unternehmen in der Lieferkette in ihrem eigenen CSR-Reporting übernehmen (§ 289c Abs. 3 Nr. 4, § 315c HGB). Die Annahme eines schützenswerten Vertrauens auf diese Angaben ist naheliegend, zumal oftmals konkrete Überprüfungsmöglichkeiten fehlen. Allerdings zeigt sich an diesem Beispiel, dass die Abkehr von den dargestellten Grundsätzen allein bei den Berichtsinhalten des non-financial reportings relevant sein kann, was einmal mehr die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Integration dieser Berichtsinhalte in die Unternehmensabschlüsse aufwirft.141
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4. (Fehlende) Wechselwirkung mit der Überschuldung Schließlich begründet der veröffentlichte Jahresabschluss auch keinerlei Vertrauenstatbestand im Hinblick auf das fehlende Vorliegen einer Überschuldung im Sinne von § 19 InsO, so dass gegenüber Gläubigern im Rahmen der Haftung der insolvenzantragspflichtigen Geschäftsleiter nicht der Einwand erhoben werden kann, dass be-
135 Dazu etwa im Überblick Fastrich in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. 2022, § 13 Rz. 47 mit weiteren Nachweisen. 136 Siehe B.II.3. 137 Zum Verhältnis des existenzvernichtenden Eingriffs zum Jahresabschluss ausführlich Mock, Die Finanzverfassung der Kapitalgesellschaften und internationale Rechnungslegung, 2007, S. 291 ff. 138 Zum Kausalitätsnachweis bei der Irrtumsanfechtung vgl. nur Armbrüster in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2021, § 123 Rz. 21 ff. 139 Siehe B.V. 140 Dazu bereits Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-schweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 179 ff. 141 Dazu B.V.2.
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Rz. 55 | Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen
reits der veröffentlichte Jahresabschluss jedenfalls Anhaltspunkte für das Bestehen wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Unternehmens enthalten hat. Auch hier zeigt sich, dass das Konzept des Gläubigerschutzes durch eine Publizität des Jahresabschlusses nicht wirklich zu Ende gedacht ist, zumal die höchstrichterliche Rechtsprechung zwischen der Handelsbilanz und der Überschuldungsbilanz einen engen Sachzusammenhang annimmt.142 Würde die höchstrichterliche Rechtsprechung diesen tatsächlich ernst nehmen, wäre eine Haftungsreduzierung im Rahmen eines Mitverschuldens (§ 254 BGB)143 bei der Insolvenzverschleppungshaftung eigentlich zwingend. 5. Zwischenergebnis 56
Die Zivilrechtsordnung kennt weder für fehlerhafte noch für fehlerfreie Unternehmensabschlüsse einen Vertrauenstatbestand. Die Teilnehmer des Rechtsverkehrs, die nach dem gesellschaftsrechtlichen Gläubigerkonzept der Publizität von Unternehmensabschlüssen ihre unternehmerischen Entscheidungen von den publizierten Unternehmensabschlüssen abhängig machen sollen, werden in dieser Hinsicht bei ihrer Entscheidungsfindung nicht geschützt. Es setzt sich daher auch in diesem Zusammenhang die Abstraktheit dieses Schutzinstruments durch, womit das Argument des Individualschutzes im Rahmen der Publizität von Unternehmensabschlüssen144 einmal mehr widerlegt ist. III. Haftungsfragen
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Wenn auch somit ein Vertrauen auf die Richtigkeit der publizierten Unternehmensabschlüsse durch die Zivilrechtsordnung im Grundsatz nicht geschützt wird, bleibt die Frage nach der Möglichkeit der Begründung von Haftungstatbeständen. 1. Keine Haftung des Unternehmens
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Dabei ist zunächst festzustellen, dass das Unternehmen, dessen Unternehmensabschluss veröffentlicht wird, selbst keiner Haftung gegenüber Dritten bei einer Fehlerhaftigkeit der Unternehmensabschlüsse unterliegt. So ist in der gesamten Rechtsordnung eine solche Haftung nicht vorgesehen, obwohl eine solche etwa im Rahmen der Kapitalmarktinformationshaftung etwa für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen (§ 98 WpHG) besteht. Der Hintergrund dieser fehlenden Haftung dürfte erneut der Umstand sein, dass ein positiver Schaden des Vertragspartners des Unternehmens, dessen Jahresabschluss publiziert wurde, wegen eben dieses fehlerhaften Unternehmensabschlusses nicht denkbar ist. In Betracht kommt insofern nur ein Vertrauensscha-
142 Zu dieser (im Rückzug befindlichen) Rechtsprechung Mock in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 19 Rz. 17. 143 Zur äußerst restriktiven Handhabung dieses Einwands im Rahmen der Insolvenzverschleppungshaftung vgl. nur Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 15a Rz. 247 mit weiteren Nachweisen. 144 Siehe C.II.
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den145, der aber als solcher nicht ersetzt wird. Diese Grundsätze werden allerdings im Rahmen des non-financial reportings erneut auf die Probe gestellt, können etwa aus einer fehlerhaften CSR-Berichterstattung in Lieferketten durchaus konkrete Schadenersatzansprüche entstehen146; in diesen Fällen wird die Basis für diese Schadenersatzansprüche aber in der Regel die Verletzung vertraglicher Aufklärungs- oder Hinweispflichten und nicht in die fehlerhafte Berichterstattung im Unternehmensabschluss sein, zumal die Weitergabe CSR-relevanter Informationen in der Lieferkette in der Regel gerade nicht über Unternehmensabschlüsse stattfinden wird. 2. Haftung der Geschäftsleiter Anknüpfungspunkt für eine Haftung sind vielmehr die Geschäftsleiter, die tatsächlich – jedenfalls im gesellschaftsrechtlichen Kontext – diejenigen sind, die zur Publizität verpflichtet sind. So verpflichtet § 325 HGB die Geschäftsleiter selbst und nicht deren Unternehmen zur Veröffentlichung der Unternehmensabschlüsse, was bei Lichte gesehen rechtfertigungsbedürftig ist, handelt es sich bei den Unternehmensabschlüssen doch um solche des Unternehmens selbst. Dies zeigt sich etwa auch im kapitalmarktrechtlichen Kontext, bei dem die Publizitätspflicht für den Emittenten und nicht für dessen Geschäftsleiter besteht (§ 114 Abs. 1, § 115 Abs. 1, § 117 WpHG). Mit dieser direkten Pflicht der Geschäftsleiter ist sogleich die Grundlage für deren Außenhaftung gelegt, da § 325 HGB allgemeinhin als Schutzgesetz anerkannt ist.147 Auf den ersten Blick widersprüchlich ist es dabei, dass in der Paralleldebatte bei der Schutzgesetzeigenschaft der kapitalmarktrechtlichen Vorschriften (§ 114 Abs. 1, § 115 Abs. 1, § 117 WpHG) deutlich mehr gegenteilige und unentschlossene Stimmen vorzufinden sind.148 Dies ist aber tatsächlich kein Widerspruch, wenn man sich die unterschiedliche Zweckrichtung beider Publizitätsregime betrachtet; insofern muss zwischen beiden Publizitätsregimen in dieser Hinsicht kein Gleichlauf bestehen. Gleichwohl ist das insgesamt zur Haftung bisher ergangene Fallmaterial sehr übersichtlich
145 Siehe D.II. 146 Dazu bereits Mock in Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility – Achtes deutsch-österreichisch-schweizerisches Symposium, 2018, S. 125, 186 f. 147 So jedenfalls die herrschende Meinung im Schrifttum Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 21. Aufl. 2023, § 42a Rz. 56; umfassend zur Schutzgesetzeigenschaft und den Folgen Jansen, Publizitätsverweigerung und Haftung in der GmbH, 1999, S. 161 ff.; Merkt, Unternehmenspublizität: Offenlegung von Unternehmensdaten als Korrelat der Marktteilnahme, 2001, S. 482; Fehrenbacher, Registerpublizität und Haftung im Zivilrecht, 2004, S. 457 f.; kritisch aber Kersting in Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. 2010, § 325 Rz. 113; ablehnend auch Haas, Geschäftsführerhaftung und Gläubigerschutz, 1997, S. 105 ff., 121 f. 148 Gegen die Schutzgesetzeigenschaft etwa Brinckmann in Veil, Europäisches und deutsches Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2022, § 18 Rz. 77; offen lassend Mülbert/Steup, WM 2005, 1633, 1645 f.; Möllers, AcP 208 (2008), 1, 30; a.A. und eine Schutzgesetzeigenschaft annehmend Mock in Kölner Kommentar zum WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37v Rz. 150; Fleischer, WM 2006, 2021, 2027; Fleischer, ZIP 2007, 97, 103; Kannegießer, Die Vorstandsaußenhaftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformationen, 2011, S. 122 ff.
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Rz. 59 | Konzeptionelle Grundfragen der Publizität von Unternehmensabschlüssen
bzw. nicht existent149, was damit zusammenhängen dürfte, dass die Kausalität der Veröffentlichung des fehlerhaften Unternehmensabschlusses für den beim Vertragspartner des Unternehmens entstandenen Schaden meist kaum nachweisbar sein dürfte, muss dieser doch den Beweis führen, dass der Schaden bei Veröffentlichung eines ordnungsgemäßen Unternehmensabschlusses nicht entstanden wäre. 60
Hinzu tritt im Grundsatz die Innenhaftung der Geschäftsleiter, die sich aus § 93 AktG, § 43 GmbHG ergeben kann. Auch in diesem Zusammenhang ergeben sich nicht einfach zu bewältigende Kausalitätsfragen, muss der vom Geschäftsleiter der Kapitalgesellschaft zu ersetzende Schaden doch auf die Veröffentlichung des fehlerhaften Unternehmensabschlusses zurückzuführen sein. Der Umstand, dass § 93 Abs. 3 AktG den Fall der fehlerhaften Bilanzierung nicht erwähnt, mag insofern möglicherweise als ein Fingerzeig des Gesetzgebers zu verstehen sein, dass eine bestehende Haftungsrelevanz einer fehlerhaften Rechnungslegung tatsächlich nicht besteht oder jedenfalls Schwierigkeiten ausgesetzt ist.
E. Fazit 1. Die Pflicht zur Veröffentlichung von Unternehmensabschlüssen lässt sich historisch im Wesentlichen in drei verschiedene Ursprünge einordnen, die sich teilweise parallel entwickelt haben. 2. Im Gesellschaftsrecht hat sich die Publizitätspflicht als Gläubigerschutzkonzept entwickelt, das seine Anfänge im Aktienrecht genommen hat und nach zähen Kämpfen auf alle Kapitalgesellschaften und kapitalistischen Personenhandelsgesellschaften ausgedehnt wurde. Die Beschränkung dieses Anwendungsbereichs ist historisch widersprüchlich und wenig nachvollziehbar. 3. Im Kapitalmarktrecht hat die Publizität von Unternehmensabschlüssen zur Preisbildung auf den Kapitalmärkten bereits im frühen Börsenrecht einen Niederschlag gefunden, wurde dabei aber überwiegend der Rechtsetzungskompetenz der Börsen überlassen. Erst mit der Entstehung der Kapitalmarktunion hat sich die Publizität als rechtsformunabhängige Pflicht mit auch unterjähriger Berichterstattung fortentwickelt. 4. In jüngerer Zeit treten zunehmend Informationssinteressen von Stakeholdern in den Vordergrund, denen der Gesetzgeber typischerweise durch eine Verankerung dieser Berichtsinhalte im Rechnungslegungsrecht entspricht. Diese Vorgehensweise negiert den Fundamentalunterschied zwischen finanzieller und nicht finanzieller Berichterstattung, was sich vor allem bei der Definition des Anwendungsbereichs für diese Berichterstattung zeigt.
149 So weist keiner der einschlägigen Kommentierungen zu § 325 HGB veröffentlichte Gerichtsentscheidungen zu dieser Frage auf.
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5. Diese Multifunktionalität der Publizitätspflicht steht der Entwicklung eines abstrakten Zweckes dieser Pflicht entgegen. Vielmehr muss für jeden dieser Ursprünge der Publizitätspflicht eine eigenständige und von den anderen unabhängige Zweckrichtung ermittelt werden. 6. Das Zivilrecht ist bei der Entwicklung konkreter Rechtsfolgen einer inhaltlich fehlerhaften Publizität von Unternehmensabschlüssen sehr zurückhaltend eingestellt. So fehlt es schon an klar umrissenen Fehlerkategorien. Zudem ist aus dem allgemeinen Zivilrecht kein Vertrauensschutz auf die Richtigkeit von Unternehmensabschlüssen ableitbar. Auch das Haftungsrecht ist nur mit Mühen auf die Publizität von Unternehmensabschlüssen anwendbar.
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Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht Univ.-Prof. Dr. Klaus Hirschler* Wirtschaftsuniversität Wien I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unternehmenspublizität – Überblick und Systematisierung . . . . . . 1. Adressatenkreis der Unternehmenspublizität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Instrumente der Unternehmenspublizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unternehmenspublizität im Speziellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzliche Publizitätsvorschriften 2. Zielfunktionen und -konflikte bei Unternehmensabschlüssen . . . . . . . IV. Unternehmenspublizität – Einfluss auf die Kapitalkosten . . . 1. Konzeptionelle Grundlagen . . . . . .
1 5 8 9 10 11 16 20 21
2. Empirische Evidenz ausgewählter Operationalisierungen von Kapitalkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einfluss von Unternehmenspublizität auf die Marktkapitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Unternehmenspublizität – Einfluss auf die Marktliquidität . 1. Definition und Messung von Marktliquidität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zusammenhang von Unternehmenspublizität und Marktliquidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . VII. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . .
23
29 32 33
35 39 40
I. Einleitung Rechnungslegungspflichtige Unternehmen sind zur ordnungsmäßigen Buchführung und Bilanzierung verpflichtet. Eine sachgerechte Erfassung von Geschäftsfällen sowie die Erstellung des Jahresabschlusses stellt nicht nur eine gesetzliche Verpflichtung dar, sondern ist ein zentrales Instrument für die Bereitstellung von Informationen für die externen Abschlussadressaten.1 Dabei gewinnt die Finanzberichterstattung immer mehr an Bedeutung und bildet – insbes. bei börsennotierten Unternehmen – die Grundlage für etwaige Investitionsentscheidungen der Abschlussadressaten. In den letzten Jahren hat sich der Berichtsumfang nicht nur im Hinblick auf die Anforderungen an die finanzielle Berichterstattung, getrieben durch die IFRS oder durch nationale Anforderungen, sondern auch durch die nichtfinanzielle Berichterstattung wesentlich verändert. Letztere hat sich unter anderem – bspw. neben Bereichen wie der Prognose- oder Risikoberichterstattung – durch die Nachhaltigkeitsberichterstattung auch wesentlich auf die Berichtsstruktur ausgewirkt. * Für die Unterstützung bei der Verfassung des Beitrags danke ich meinen Mitarbeiter:innen Elisabeth Renner, MSc, David Roider, MSc und Sabine Weintögl, MSc. 1 Vgl. Feldbauer-Durstmüller in Denk/Fritz-Schmied/Mitter/Wohlschlager/Wolfsgruber, Externe Unternehmensrechnung, 5. Aufl. 2016, V (Geleitwort).
Hirschler | 35
1
Rz. 2 | Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht
2
Eine – keinesfalls repräsentative – Auswertung von vier österreichischen Unternehmen, zwei davon notieren am ATX, soll den Anstieg des Berichtsumfangs exemplarisch verdeutlichen. Erhoben wurden der Umfang des Geschäftsberichts insgesamt sowie explizit auch der Umfang von Anhang und Lagebericht der Konzernabschlüsse für den Zeitraum 2000 bis 2021. Wie in Tabelle 1 ersichtlich, ist der Durchschnitt der Seitenanzahl des Geschäftsberichts um 78 % von 117 auf 208 Seiten gestiegen. Noch deutlicher ist der durchschnittliche Anstieg bei den Anhängen (+138 %) sowie dem Lagebericht (+277 %) zu sehen. 2021
2010
2000
Geschäftsbericht
208
140 +20 %
117 +78 %
Anhang
94
61 +54 %
40 +138 %
Lagebericht
45
25 +108 %
12 +277 %
Tabelle 1: Durchschnittlicher Berichtsumfang 2000, 2010 und 2021
Die Entwicklung des Berichtsumfangs heruntergebrochen auf die einzelnen Unternehmen kann Abbildung 1 entnommen werden. Geschäftsbericht
350 300 250 200 150 100 50 0 200
Anhang
150 100 50 0
Lagebereicht
100 80 60 40 20 0
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
3
Manner
OMV
Palfinger
Abbildung 1: Entwicklung Publizitätsumfang 2000 bis 2021
36 | Hirschler
Erste Group
Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht | Rz. 6
Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Bilanzskandale wird in der Öffentlichkeit der Ruf nach mehr Transparenz lauter.2 Dabei haben die Krisen und Skandale in der Vergangenheit bereits gezeigt, dass eine hohe Offenheit sich positiv auf die Unternehmen auswirken kann.3 Im nachfolgenden Beitrag werden die Grundlagen der Unternehmenspublizität erläutert und auch einige Forschungsbeiträge zur Wirkung der Offenlegung von Unternehmen vorgestellt.
4
II. Unternehmenspublizität – Überblick und Systematisierung Unternehmenspublizität ist „die zielgerichtete Kommunikation eines berichtenden Unternehmens von Informationen über seine Tätigkeit und wirtschaftliche Lage an bestimmte unternehmensexterne Adressatenkreise mit Hilfe von Publizitätsinstrumenten“.4
5
Unternehmenspublizität im Allgemeinen ist der Kommunikationsprozess von Sender und Empfänger5 mit zwischengeschaltetem Kommunikationskanal.6 Die Finanzberichterstattung ist ein Teilbereich dieser Unternehmenskommunikation. Die systematische Einordnung der Unternehmenspublizität und Abgrenzung von anderen Konzepten ist in Abbildung 2 dargestellt.
6
2 Siehe Leidner, Nur Transparenz kann Anleger vor einem zweiten Wirecard schützen, WirtschaftsWoche, 8.8.2020 (https://www.wiwo.de/finanzen/boerse/verkehrte-finanzwelt-nurtransparenz-kann-anleger-vor-einem-zweiten-wirecard-schuetzen/26061974.html). 3 Vgl. Gantenbein/Rikanovic, Offenheit zahlt sich aus. Einfluss von Unternehmenspublizität auf Kursvolatilität, Liquidität und Kapitalkosten, Neue Züricher Zeitung, 29.7.2020 (https:// edoc.unibas.ch/22253/1/20110105230335_4d24eab7ddc4d.pdf). 4 Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 5. 5 Siehe hierzu Abschnitt 1. 6 Siehe hierzu Abschnitt 2.; vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 9.
Hirschler | 37
Rz. 6 | Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht Public Relations: Gesamte Unternehmenskommunikation zusätzlich: weitere Berichtsinhalte ohne Bezug zur Unternehmenstätigkeit und wirtschaftlichen Lage, vielfältiger Adressatenkreis Unternehmenspublizität: Kommunikation unternehmensbezogener Informationen zusätzlich: weitere Berichtsinhalte mit Bezug zur Unternehmenstätigkeit und wirtschaftlichen Lage, vielfältiger Adressatenkreis Investor Relations: Gesamte Kapitalmarktkommunikation zusätzlich: weitere kapitalmarktorientierte Berichtsinhalte, Adressaten: Kapitalmarktteilnehmer Business Reporting Adressaten: Kapitalmarktteilnehmer verpflichtende Finanzberichterstattung
verpflichtende nichtfinanzielle Berichterstattung Value Reporting freiwilliges Shareholder und Corporate Return Reporting
Abbildung 2: Systematisierung der Unternehmenspublizität7
7
Unternehmenspublizität soll sicherstellen, dass Personengruppen, die selbst nicht Mitglieder des Unternehmens sind, über alle diejenigen Unternehmensangelegenheiten informiert sind, die von „allgemeinem Interesse“ sind. Den dahinterliegenden theoretischen Erklärungsansatz bildet das Prinzipal-Agenten-Modell. So können Konfliktsituationen aufgrund von Informationsasymmetrien zwischen Eigenkapitalgebern (Prinzipal) und dem Management von (kapitalmarktorientierten) Unternehmen (Agent) resultieren. Durch die Unternehmensberichterstattung sollen bestehende Informationsasymmetrien zwischen besser informierten Unternehmensinsidern und schlechter informierten externen Unternehmensbeteiligten reduziert bzw. beseitigt werden.8 1. Adressatenkreis der Unternehmenspublizität
8
Wie zuvor charakterisiert handelt es sich bei der Unternehmenspublizität um einen Kommunikationsprozess zwischen Sender und Empfänger. Der Sender in diesem
7 Modifiziert entnommen aus Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 7. 8 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 181; Velte/Weber, Outsiderund Insider-Systeme der Corporate Governance, Zeitschrift für Planung & Unternehmenssteuerung 2012, 21 ff.
38 | Hirschler
Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht | Rz. 10
Prozess ist ein Unternehmen. Empfänger sind die Adressaten der Kommunikation, wobei zwischen den primären und den sekundären Adressaten unterschieden werden kann. Die primären Adressaten der Unternehmenspublizität sind die unmittelbaren (Kapital-)Marktteilnehmer, deren wirtschaftliche Informationsinteressen befriedigt werden sollen. Dies umfasst neben Investoren9 auch etwaige Informationsmittler wie bspw. Investmentanalysten, Ratingagenturen oder die Wirtschaftspresse. Die sekundären Adressaten sind mittelbare (Kapital-)Marktteilnehmer. Dies umfasst neben Fremdkapitalgebern wie Banken oder Lieferanten auch andere Stakeholder wie Arbeitnehmer, Kunden, Wettbewerber, Aufsichtsbehörden und den Fiskus.10 2. Instrumente der Unternehmenspublizität Den Unternehmen steht zur Erfüllung der rechtlichen Informationspflichten sowie der wirtschaftlichen Informationsinteressen der Empfänger ein breites Instrumentarium zur Verfügung.11 Unternehmenspublizität umfasst sowohl periodisch wiederkehrende als auch fallweise genutzte Instrumente, die wiederum obligatorisch oder fakultativ sein können. Der Geschäftsbericht ist das zentrale Informationsinstrument der Unternehmenspublizität. Dieser richtet sich grundsätzlich an alle Interessensgruppen und umfasst den Jahres- (und Konzern-)abschluss und (Konzern-)Lagebericht, den Bericht des Aufsichtsrats, den Gewinnverwendungsvorschlag, den Bestätigungsvermerk sowie umfangreiche fakultative Inhalte (Unternehmensermessen). Die Hauptversammlung wäre in diesem Zusammenhang als obligatorisches Interaktionsinstrument zu nennen. Als fakultative Interaktions- bzw. Informationsinstrumente wären beispielhaft Roadshows, Pressekonferenzen, Conference Calls sowie Beiträge im Internet, in Finanzanzeigen oder Aktionärszeitschriften zu nennen.12
9
III. Unternehmenspublizität im Speziellen Die Unternehmenspublizität im Allgemeinen bezieht sich auf die Bereitstellung unternehmensbezogener Daten an eine unbestimmte Öffentlichkeit. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich primär auf die Offenlegung von Rechnungslegungsinformationen kapitalmarktorientierter Unternehmen (= Unternehmenspublizität im Speziellen). Diese senderseitige Eingrenzung auf kapitalmarktorientierte Unternehmen ist aus zwei Gründen sinnvoll. Zum einen handelt es sich dabei um den Kreis der Unternehmen, die eine besonders umfang- und facettenreiche Publizität aufweisen, und zum anderen unterliegen sie auch den umfassendsten Publizitätsbestimmungen (UGB, IFRS, AktG, BörseG, …).13 9 Dazu zählen nicht nur institutionelle Investoren, sondern auch Privatanleger, andere Unternehmen, Banken (siehe auch sekundäre Adressaten) sowie Venture-Capital-Geber. 10 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 9 ff. 11 Vgl. Jutzi, Unternehmenspublizität: Grundlinien einer rechtlichen Dogmatik zur Offenlegung von unternehmensbezogenen Informationen, 2017, Rz. 1119. 12 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 24 bzw. S. 69. 13 Siehe auch Kiehne in Böcking/Hommel/Wüstemann (Hrsg.), Rechnungswesen und Unternehmensüberwachung, 2012, S. 9.
Hirschler | 39
10
Rz. 11 | Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht
1. Gesetzliche Publizitätsvorschriften 11
Die Publizitätsvorschriften für Kapitalgesellschaften sind in Österreich in den §§ 277 bis 279 UGB geregelt. Diese sehen die Offenlegung des Jahresabschlusses durch Einreichung beim Firmenbuchgericht vor und zusätzlich für große Aktiengesellschaften die Veröffentlichung des Jahresabschlusses in den Bekanntmachungsblättern der Gesellschaft (Amtsblatt zur Wiener Zeitung).14
12
Die anzuwendenden Vorschriften differenzieren sowohl hinsichtlich des anzuwendenden Rechenwerks (UGB/IFRS) als auch ihres Umfangs nach der Rechtsform, der Unternehmensgröße und der Branche. Des Weiteren ist entscheidend, ob es sich um den Jahres- (und Konzern-)abschluss handelt.15 Aufbauend auf diesen Punkten sind die Publizitätsvorschriften bei börsennotierten Unternehmen am umfangreichsten.
13
Die Publizitätsvorschriften treffen sämtliche Kapitalgesellschaften, während Personengesellschaften (OG/KG) keiner Publizitätspflicht unterliegen, sofern es sich nicht um eine verdeckte Kapitalgesellschaft (bspw. GmbH & Co KG) handelt. Der Umfang der Publizitätspflicht ist abhängig von der Rechtsform und Größenklasse.16 Größen- Rechtsklasse form
Kapital- Kleinste gesellschaften und „verdeckte“ Kleine Kapitalgesellschaften
Pflichten Bilanz
GuV
Anhang
Lagebericht
Publizität
GmbH
l
l
X
X
Firmenbuch (nur Bilanz)
AG
l
l
l
l
Firmenbuch (nur Bilanz)
GmbH
l
l
l
X
Firmenbuch (nur Bilanz und Anhang)
AG
l
l
l
l
Firmenbuch
Mittelgroße AG und GmbH
l
l
l
l
Firmenbuch
Große AG und GmbH
l
l
l
l
Firmenbuch, große AG: Amtsblatt zur Wiener Zeitung
Tabelle 2: Publizitätsvorschriften des UGB17
14 Vgl. Bertl/Deutsch-Goldoni/Hirschler, Buchhaltungs- und Bilanzierungshandbuch, 12. Aufl. 2022, S. 269; Hirschler/Geweßler in Bergmann/Kalss (Hrsg.), Rechtsformwahl, 2020, Rz. 18/175 ff. 15 Vgl. dazu insgesamt ausführlich Hirschler/Geweßler in Bergmann/Kalss (Hrsg.), Rechtsformwahl, 2020, Rz. 18/1 ff. 16 Vgl. Hirschler/Geweßler in Bergmann/Kalss (Hrsg.), Rechtsformwahl, 2020, Rz. 18/141 ff. 17 Geringfügig modifiziert entnommen von Grbenic/Zunk/Baumüller, Die Jahresabschlussanalyse, 2. Aufl. 2018, S. 22.
40 | Hirschler
Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht | Rz. 16
Neben dem Jahres- (und Konzern-)abschluss sowie dem (Konzern-)Lagebericht mit dem entsprechenden Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers sind auch der ggf. gesonderte nichtfinanzielle Bericht, der Corporate-Governance-Bericht und der Bericht über Zahlungen an staatliche Stellen offenzulegen. Auch sind der Bericht des Aufsichtsrats, der Vorschlag über die Verwendung des Ergebnisses und der Beschluss über dessen Verwendung einzureichen. Dies hat spätestens neun Monate nach dem Abschlussstichtag zu erfolgen.18
14
Neben den gesetzlichen Publizitätsvorschriften können Unternehmen zusätzliche Informationen veröffentlichen. So werden in der Praxis von Unternehmen in einer gewissen Größenordnung auch Geschäftsberichte veröffentlicht. Wenngleich es sich um ein wichtiges Instrument der Investor Relations handelt, welches prominent auf den Unternehmenswebseiten als Download zur Verfügung steht, gibt es hierzu keine inhaltlichen Vorschriften.19 Sofern der Jahres- (und Konzern-)abschluss nicht entsprechend der gesetzlichen oder gesellschaftsvertraglichen Form vollständig wiedergegeben wird, ist hierauf gem. § 281 Abs. 2 UGB hinzuweisen.
15
2. Zielfunktionen und -konflikte bei Unternehmensabschlüssen Die Veröffentlichung von Abschlüssen gehört zu den regelmäßigen Publizitätsinstrumenten und soll den Abschlussadressaten Aufschluss über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens im abgelaufenen Geschäftsjahr geben.20 Zu den zentralen betriebswirtschaftlichen Funktionen des Jahres- (und Konzern-)abschlusses zählen die Erhaltungs-21 und die Informationsfunktion. Letztere soll durch die Bereitstellung von Details zur Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens bzw. Konzerns erfüllt werden.22 Tabelle 3 können die Interessen des Unternehmens und der Abschlussadressaten anhand der betriebswirtschaftlichen Funktionen des Abschlusses entnommen werden. Informationsfunktion
Interessen des Unternehmens
Interessen der Adressaten
Selbstinformation des Bilanzierenden über Ausschüttungs- und Entnahmemöglichkeiten Kontrollfunktion
Senkung des Risikos der potentiellen Kapitalanleger Früherkennung der Unternehmensentwicklung Stärkung der Stellung der Informationsadressaten
18 Vgl. Bertl/Deutsch-Goldoni/Hirschler, Buchhaltungs- und Bilanzierungshandbuch, 12. Aufl. 2022, S. 269. 19 Vgl. Grbenic/Zunk/Baumüller, Die Jahresabschlussanalyse, 2. Aufl. 2018, S. 24. 20 Vgl. Gantzhorn, Determinanten und Auswirkungen der freiwilligen prüferischen Durchsicht von Halbjahresfinanzberichten nach § 37w WpHG. Eine empirische Analyse für den deutschen Kapitalmarkt, 2015, S. 12 f. 21 Diese umfasst die Ausschüttungs- und Steuerbemessungsfunktion; siehe dazu im Detail Egger/Samer/Bertl, Der Jahresabschluss nach dem UGB Band I, 18. Aufl. 2022, S. 1 ff. 22 Vgl. Denk/Fritz-Schmied/Mitter/Wohlschlager/Wolfsgruber, Externe Unternehmensrechnung, 5. Aufl. 2016, S. 28.
Hirschler | 41
16
Rz. 16 | Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht Interessen des Unternehmens Erhaltungsfunktion
Interessen der Adressaten
Aufrechterhaltung des Unternehmensbestandes durch – die Verhinderung eines zu hohen Mittelabflusses an die Gesellschafter und – durch die Vermeidung des Ausweises einer zu hohen Steuerbemessungsgrundlage
Tabelle 3: Interessen anhand der Zielfunktionen23
17
Aus diesen Zielen können abhängig bspw. von der Eigentümerstruktur sowie normativen24 und wirtschaftlichen25 Rahmenbedingungen mögliche Interessenkonflikte resultieren.
18
Trotz aller bestehender gesetzlicher Regelungen betreffend die Rechnungslegung kann das Unternehmen (Management) aufgrund von insbes. sachverhaltsgestaltender und sachverhaltsabbildender Maßnahmen26 legal und im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften auf den Abschluss Einfluss nehmen. Diese willentliche und hinsichtlich der Unternehmensziele zweckorientierte Einflussnahme auf Form, Inhalt und Darstellung des unternehmensrechtlichen Jahres- (und Konzern-)abschlusses wird als Bilanz- oder Jahresabschlusspolitik bezeichnet. Dabei gilt es zu beachten, dass sich diese im Rahmen der durch die Rechtsordnung gezogenen Grenzen bewegt, wenngleich die Beeinflussung mit der Absicht erfolgt, die Rechtsfolgen des Abschlusses und/oder das Urteil der Informationsempfänger zu beeinflussen und/oder sie zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen.27
19
Die mit der Jahresabschlusspolitik verfolgten Ziele sind i.d.R. Mittel zur Verfolgung übergeordneter finanz-28 oder informationspolitischer Ziele. Hinsichtlich der informationspolitischen Unternehmensziele kann zwischen der Informationsvermeidung und der Informationsgestaltung – beides unter Beachtung der gesetzlichen Informationspflichten – unterschieden werden. So kann eine aktive (offensive) Publizitätspolitik darin begründet sein, dass ein Unternehmen einen hohen Wert auf Transparenz legt, oder aber, dass diese zur (Über-) Kompensierung von negativen Informationen bzw. (drohenden) Reputationsverlusten eingesetzt wird. Eine passive (defensive) Publizitätspolitik kann verfolgt werden, damit eine negative Entwicklung den Ab23 In Anlehnung an die Ausführungen in Egger/Samer/Bertl, Der Jahresabschluss nach dem UGB Band I, 18. Aufl. 2022, S. 1 ff. 24 Siehe bspw. Velte/Weber, Outsider- und Insider-Systeme der Corporate Governance, Zeitschrift für Planung & Unternehmenssteuerung 2012, 21. 25 Interessenskonflikte können entstehen, wenn die Qualität und/oder Entlohnung des Managements anhand von Ergebniskennzahlen gemessen wird oder Vertragsverlängerungen vom Ergebnis, Unternehmensfinanzierung, usw. abhängig gemacht werden. 26 Vgl. dazu Hirschler/Weintögl in Kert/Kodek, HB Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2022, Rz. 26.71. 27 Vgl. Hirschler, RWZ 2021/7-8, 209. 28 Als finanzpolitische Unternehmensziele können beispielhaft die Erhaltung oder die Steigerung der Ertragskraft bzw. Kapitalbeschaffungsmöglichkeiten genannt werden.
42 | Hirschler
Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht | Rz. 22
schlussadressaten nicht (sofort) ersichtlich ist, aber auch um eine positive Entwicklung nicht sofort offenzulegen.29
IV. Unternehmenspublizität – Einfluss auf die Kapitalkosten Ein häufig diskutiertes Motiv für die Publizität von unternehmensbezogenen Informationen ist die dadurch resultierende Verminderung der Kapitalkosten, insbes. der Eigenkapitalkosten eines Unternehmens. Im folgenden Kapitel wird einleitend die konzeptionelle Grundlage hinter dieser Annahme erörtert. Darauffolgend werden die unterschiedlichen Operationalisierungen für (Eigen-)Kapitalkosten beschrieben und anhand diverser Literaturbeiträge die Auswirkung von Unternehmenspublizität auf die Höhe dieser diskutiert.
20
1. Konzeptionelle Grundlagen Als ein wesentliches Ziel von vermehrter/erhöhter Unternehmenspublizität gilt die dadurch erhoffte/implizierte Senkung der Eigenkapitalkosten. Die grundlegende Annahme hinter dem Einfluss der Unternehmenspublizität auf die Kapitalkosten ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Unternehmenspublizität der Informationsasymmetrie der Eigenkapitalgeber gibt. Mit steigender Unternehmenspublizität vermindert sich die Informationsasymmetrie und in der Folge verringert sich der von den Eigenkapitalgebern geforderte Risikoaufschlag.30
21
Auf Basis dieser Grundannahme haben sich im Schrifttum zwei Argumentationslinien entwickelt, welche den Einfluss einer erhöhten bzw. verringerten Informationsasymmetrie auf die Kapitalkosten zu erklären versuchen. Einerseits steigert eine erhöhte Informationsasymmetrie die Transaktionskosten (Bid-Ask Spread), welche Investoren durch eine erhöhte Renditeforderung kompensiert haben möchten. Somit sinken die Renditeforderungen bei geringeren Transaktionskosten, welche durch eine verringerte Informationsasymmetrie argumentiert werden können. Andererseits beeinflusst eine verminderte Informationsasymmetrie das Prognoserisiko von Eigenkapitalgebern. Mit steigendem Informationsstand, abgeleitet aus publizierten Vergangenheitsdaten, sinken das Prognoserisiko und dadurch auch die Kapitalkosten. Daraus abgeleitet führt ein erhöhtes Prognoserisiko durch erhöhte Informationsasymmetrie zu erhöhten Kapitalkosten.31
22
29 Vgl. Hirschler, RWZ 2021/7-8, 209. 30 Vgl. Core, Journal of Accounting & Economics 31 Nr. 1–3, 2001, 441; selten wird in der Literatur auch ein gegenteiliger Effekt diskutiert, nämlich, dass mit steigender Unternehmenspublizität die Kapitalkosten steigen, vgl. diesbzgl. Zhang, Contemporary Accounting Research 18 Nr. 2, 2001, 363. 31 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 238.
Hirschler | 43
Rz. 22 | Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht
Kapitalkosten erhöht Prognoserisiko
Transaktionskosten
erhöht Informationsasymmetrie erhöht verminderte Unternehmenspublizität gesteigerte verringert Informationsasymmetrie verringert
Prognoserisiko
Transaktionskosten
verringert Kapitalkosten Abbildung 3: Konzeptionelle Grundlage des Einflusses von Unternehmenspublizität auf die Kapitalkosten32
2. Empirische Evidenz ausgewählter Operationalisierungen von Kapitalkosten 23
Im Schrifttum finden sich eine Vielzahl an empirischen Studien, welche den Einfluss von Unternehmenspublizität auf die Kapitalkosten eines Unternehmens untersu-
32 Eigene Darstellung in Anlehnung an die Ausführungen von Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 238.
44 | Hirschler
Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht | Rz. 26
chen.33 Das größte Problem liegt jedoch in den unterschiedlichen Methoden der Operationalisierung von (Eigen-)Kapitalkosten. Folgend werden die Implikationen von Unternehmenspublizität auf die Kapitalkosten anhand ausgewählter Operationalisierungen diskutiert.34 Das wohl bekannteste Modell und demnach der wohl am häufigsten untersuchte Ansatz stellt das Capital Asset Pricing Model (CAPM) dar. Nach dem CAPM ermitteln sich die risikoadjustierten Eigenkapitalkosten eines Unternehmens anhand der Summe eines risikolosen Zinssatzes und einer Marktrisikoprämie, welche um das unternehmensspezifische systematische Risiko (ß-Faktor) angepasst wird.35 Ausschließlich der unternehmensspezifische Betafaktor bestimmt die Eigenkapitalkosten eines Unternehmens, da in der Theorie sämtliche Marktteilnehmer von derselben Marktrisikoprämie und demselben risikolosen Zinssatz ausgehen. In der empirischen Forschung finden sich eher ernüchternde Erkenntnisse in Bezug auf den Einfluss von Unternehmenspublizität auf den Betafaktor eines Unternehmens. Botosan beobachtet entgegen der Erwartungshaltung, mit steigender Unternehmenspublizität ein steigendes systematisches Risiko.36 Weitere Studien erkennen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen systematischem Risiko und Unternehmenspublizität.37
24
Konzeptionell kann dieses Phänomen durch die im CAPM getroffene Grundannahme eines vollkommenen Kapitalmarkts erklärt werden. In der Theorie bestehen demnach keine Informationsasymmetrien zwischen den unterschiedlichen Marktteilnehmern. Somit kann eine vermehrte Unternehmenspublizität keinen Einfluss auf die Transaktionskosten oder das Prognoserisiko und in der Folge auf die Kapitalkosten mit sich bringen.
25
Eine weitere Form der Operationalisierung von Eigenkapitalkosten stellt das Dividendendiskontierungsmodell (Dividend-Discount-Model) dar. Dabei werden die implizierten Kapitalkosten aus der Abzinsung prognostizierter Ausschüttungen auf den aktuellen Unternehmenswert abgeleitet. Grundsätzlich findet sich im Schrifttum kaum empirische Evidenz, welche den Einfluss von Unternehmenspublizität auf die Kapitalkosten eines Unternehmens anhand des Dividendendiskontierungsmodells untersucht. Francis kann jedoch einen kapitalkostensenkenden Effekt aufgrund vermehrter Unternehmenspublizität feststellen.38
26
33 Vgl. für eine zusammenfassende Darstellung Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 239. 34 Weitere Operationalisierungen von Eigenkapitalkosten sind z.B. der Underpricingansatz, die Arbitragepreistheorie oder das Mindestrenditekonzept. 35 Für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem CAPM siehe beispielsweise Lintner, The Review of Economics and Statistics 47 Nr. 1, 1965, 13–37; Mossin, Econometrica 34 Nr. 4, 1966, 768–783; Sharpe, The Journal of Finance 19 Nr. 3, 1964, 425–442. 36 Vgl. Botosan, The Accounting Review 72 Nr. 3, 1997, 323. 37 Vgl. ua. Linsley/Shrives, The British Accounting Review 38 Nr. 4, 2006, 387; de Alencar, Brazilian Business Review 2 Nr. 1, 2005, 1. 38 Vgl. Francis, The Accounting Review 79 Nr. 4, 2004, 967.
Hirschler | 45
Rz. 27 | Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht
27
Diverse Studien untersuchen den Einfluss von Unternehmenspublizität auf die Kapitalkosten anhand des Underpricingansatzes.39 Dabei werden die Kapitalkosten als Unterschied zwischen dem Emissionspreis und der ersten Kursnotierung im Rahmen eines Börsengangs operationalisiert. Eine Reihe dieser Untersuchungen bestätigt einen Zusammenhang zwischen einer geringen Informationsasymmetrie und verminderten Kapitalkosten,40 jedoch werden die verwendeten Messgrößen für Unternehmenspublizität häufig kritisiert.41
28
Zusammengefasst kann der beschriebene Effekt von sinkenden Kapitalkosten mit steigender Unternehmenspublizität nicht klar aus den unzähligen empirischen Untersuchungen abgeleitet werden. Begründet wird dies vor allem durch die unzähligen Möglichkeiten der Operationalisierung von Kapitalkosten.42 3. Einfluss von Unternehmenspublizität auf die Marktkapitalisierung
29
Um der Kritik hinsichtlich der Operationalisierung von Kapitalkosten entgegenzuwirken, versuchten mehrere Autoren die Auswirkungen von Unternehmenspublizität auf die Kapitalkosten indirekt über die Marktkapitalisierung zu messen.43 Dabei wird die Annahme unterstellt, dass die Marktkapitalisierung der mit den Eigenkapitalkosten diskontierten zukünftigen Cashflows entspricht. Bei gleichbleibenden Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Cashflows führt somit ein geringerer Eigenkapitalzins zu einer höheren Marktkapitalisierung. Kritisch zu betrachten ist demnach die in den empirischen Untersuchungen häufig unterstellte Annahme, dass Unternehmensentscheidungen ausschließlich die Kapitalkosten beeinflussen und nicht die erwarteten Cashflows.44
30
Healy et al untersuchten im Zeitraum von 1980–1990 das Publizitätsverhalten amerikanischer Unternehmen und kamen zu dem Ergebnis, dass die Marktkapitalisierung von Unternehmen mit, im Vergleich zum Branchendurchschnitt, stärker steigendem Publizitätsniveau signifikant stärker zunimmt als für deren Peer Group.45 Ritter/Wells fanden einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen der Bereitstellung von Informationen über immaterielle Werte und der Marktkapitalisierung australischer Unternehmen.46 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Abdolomahamadi im Jahr 2005.47 39 Vgl. für einen Überblick Ljungqvist in Eckbo (Hrsg.), Handbook of Corporate Finance: Empirical Corporate Finance Volume 1, 2007, S. 384 ff. 40 Ljungqvist/Wilhelm in The Journal of Finance 60 Nr. 4, 2005, 1773; Benveniste in The Journal of Finance 58 Nr. 1, 2003, 577 ff. 41 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 248. 42 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 248. 43 Vgl. bspw. Ang/Gallery/Sidhu in Accounting and Finance 39 Nr. 3, 1999, 214 ff.; Barth in The Accounting Review 66 Nr. 3, 1991, 433 ff.; Abdolmohammadi in Journal of Intellectual Capital 6 Nr. 3, 2005, 404. 44 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 248. 45 Vgl. Healy/Hutton/Palepu, Contemporary Accounting Research 16 Nr. 3, 1999, 485. 46 Vgl. Ritter/Wells, Accounting and Finance 46 Nr. 5, 2006, 843. 47 Vgl. Adolomahamadi, Journal of Intellectual Capital 6 Nr. 3, 2005, 397.
46 | Hirschler
Publizität von Unternehmensabschlüssen aus betriebswirtschaftlicher Sicht | Rz. 34
Anders als bei einer direkten Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Unternehmenspublizität und Kapitalkosten kann der Einfluss indirekt über die Marktkapitalisierung nachhaltig bestätigt werden. Somit kann unter Berücksichtigung der Restriktionen dieser Methode ein positiver Effekt zwischen dem Ausmaß an Unternehmenspublizität und der Kapitalkosten festgestellt werden.48
31
V. Unternehmenspublizität – Einfluss auf die Marktliquidität Neben der Beziehung zwischen Unternehmenspublizität und Kapitalkosten sowie Marktkapitalisierung wird in der empirischen Rechnungslegungsforschung auch der Zusammenhang zwischen Unternehmenspublizität und Marktliquidität untersucht.49 Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der Definition und Messung von Marktliquidität und gibt im Anschluss einen Überblick über Forschungsergebnisse betreffend den Zusammenhang zwischen Unternehmenspublizität und Markliquidität.
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1. Definition und Messung von Marktliquidität Der Begriff „Liquidität“ wird häufig weit gefasst und verwendet, ohne dessen Bedeutung genau zu definieren. Dabei gibt es zumindest zwei unterschiedliche Liquiditätskonzepte50, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Zum einen gibt es die sogenannte monetäre Liquidität (monetary liquidity), welche sich auf die Menge an liquiden Mitteln in der Wirtschaft bezieht. Dieses Konzept der monetären Liquidität ist eng verbunden mit dem am Markt vorherrschenden Zinsniveau. Zum anderen gibt es die Marktliquidität (market liquidity), die als Maß für die Fähigkeit von Marktteilnehmer:innen angesehen wird, Wertpapiergeschäfte durchzuführen, ohne große Änderungen der Wertpapierpreise auszulösen.51 Für den vorliegenden Beitrag ist das zweitgenannte Konzept der Marktliquidität relevant. Demnach ist ein liquider Markt für Wertpapiere ein Markt, in dem Investoren Wertpapiere problemlos zu ihrem beizulegenden Zeitwert kaufen und verkaufen können. In illiquiden Märkten kann es hingegen schwierig sein Käufer für bzw. Verkäufer von Wertpapieren zu finden, sodass Transaktionen nur mit der Zahlung einer erheblichen Prämie bzw. erheblichen Abschlägen auf den beizulegenden Zeitwert durchgeführt werden können.52
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Die Messung (der Veränderung) von Marktliquidität ist insbes. für empirische Studien relevant53 und kann sich auf unterschiedliche Dimensionen der Marktliquidität
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48 Vgl. Grüning, Publizität börsennotierter Unternehmen, 2011, S. 255 ff. 49 Vgl. bspw. betreffend die Auswirkungen der Übernahme der IFRS in den EU-Rechtsrahmen auf die Marktliquidität ICAEW, The effects of mandatory IFRS adoption in the EU, 2015, 116 ff. 50 Es gibt weitere Liquiditätskonzepte wie bspw. das Konzept der Bilanzliquidität, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen wird. 51 Vgl. ECB, Financial Stability Review, 2007, 81. 52 Vgl. ICAEW, The effects of mandatory IFRS adoption in the EU, 2015, 117. 53 Vgl. ICAEW, The effects of mandatory IFRS adoption in the EU, 2015, 117.
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wie Dichte/Enge (tightness), Tiefe (depth) und Widerstandsfähigkeit (resiliance) beziehen.54 Die Dichte/Enge eines Markts bezieht sich auf das Ausmaß der Risikoprämien, die von Market Makern für das Halten von Wertpapierbeständen verlangt werden. Sie wird häufig anhand der Geld-Brief-Spanne auf den Aktienkurs, auch BidAsk-Spread genannt, gemessen. Der Bid-Ask-Spread spiegelt das Risiko des Market Makers beim Halten von Wertpapieren eines Unternehmens wider, wobei niedrigere Bid-Ask-Spreads mit einer höheren Marktliquidität und einem geringeren Risiko für den Market Maker gleichzusetzen sind. Die Tiefe und Widerstandsfähigkeit eines Marktes beziehen sich auf das Ausmaß, in dem Transaktionen sich auf Wertpapierpreise auswirken. Sie können anhand von Preisauswirkungen von Transaktionen gemessen werden.55 Dabei gilt, je geringer die Preisauswirkung einzelner Transaktionen ist, desto höher ist die Marktliquidität. Weiters wird die Anzahl der Handelstage mit Nullrenditen, d.h. die Anzahl der Handelstage ohne Preisänderungen, zur Messung der Marktliquidität herangezogen. Je geringer die Anzahl an Handelstagen mit Nullrenditen, desto höher ist die Marktliquidität.56 2. Zusammenhang von Unternehmenspublizität und Marktliquidität 35
Der Zusammenhang zwischen Unternehmenspublizität und Marktliquidität ergibt sich durch eine Reduktion der adversen Selektion am Markt. Durch erweiterte Offenlegungsvorschriften kann die Transparenz am Markt erhöht und dadurch die Informationsasymmetrie zwischen den potentiellen Käufern und Verkäufern von Wertpapieren verringert werden.57 Dieser Zusammenhang wird von zahlreichen empirischen Studien mit unterschiedlichen Forschungsgegenständen belegt. Nachfolgend werden beispielhaft Studien betreffend die Einführung neuer Rechnungslegungsstandards, die aufsichtliche Offenlegung während einer Krise und die Häufigkeit der Berichterstattung zusammengefasst.
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Markliquidität ist ein wirtschaftliches Ergebnis, das von vielen Regulierungsbehörden und Standardsettern durch die Gestaltung von Offenlegungsvorschriften angestrebt wird. Als Beispiel kann die Übernahme der IFRS in den EU-Rechtsrahmen und die damit verbundene verpflichtende Anwendung der IFRS auf Konzernabschlüsse von kapitalmarktorientierten Unternehmen sowie das Enforcement der IFRS genannt werden.58 Daske et al untersuchten die verpflichtende Übernahme der IFRS in 26 Ländern weltweit. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Marktliquidität im Durchschnitt um den Zeitpunkt der IFRS-Einführung zunahm. Die Kapitalmarktvorteile traten dabei laut Daske et al nur in Ländern auf, in denen Unternehmen Anreize hatten, transparent zu sein und in denen es ein gut funktionierendes Enforcement gab. Dieses Ergebnis unterstreicht laut den Autoren die zentrale Bedeutung von Anreizen zur transparen-
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Vgl. ECB, Financial Stability Review, 2007, 81. Vgl. ECB, Financial Stability Review, 2007, 81. Vgl. ICAEW, The effects of mandatory IFRS adoption in the EU, 2015, 117. Vgl. Verrechia, Journal of Accounting and Economics 32 Nr. 1-3, 2001, 151. Vgl. Bischof/Daske, Journal of Accounting Research 51 Nr. 5, 2013, 997.
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ten Berichterstattung sowie von wirksamen Enforcement-Mechanismen für die Qualität der Finanzberichterstattung.59 Bischof/Daske nutzten die EU-weiten Stresstests für Banken während der europäischen Staatsschuldenkrise, um die Folgen der aufsichtlichen Offenlegung von firmenspezifischen Informationen auf Kapitalmärkte zu untersuchen. Die Autoren stellten fest, dass die verpflichtenden Stresstests zu einer Zunahme der freiwilligen Offenlegung der Stresstestteilnehmer führten. Zudem deuten ihre Ergebnisse darauf hin, dass der Anstieg der Bid-Ask-Spreads nach den Stresstests im Jahr 2011 auf jene Stresstestteilnehmer zurückzuführen war, die nicht freiwillig Informationen zu Länderrisiken offenlegten. Der Rückgang der Marktliquidität war somit auf die Untergruppe der Stresstestteilnehmer beschränkt, die sich nicht zu mehr Transparenz verpflichteten.60
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Bornemann et al untersuchten die Aufhebung der verpflichtenden Anwendung des International Accounting Standard (IAS) 34: Zwischenberichterstattung auf die Quartalsberichte im Jahr 2015 sowie die Abschaffung der verpflichtenden Quartalsberichterstattung im Prime-Market Segment der Wiener Börse im Jahr 2019. Nach Beendigung der verpflichtenden vierteljährlichen Berichterstattung stand es Unternehmen im Prime-Market Segment frei, sowohl die Häufigkeit (d.h. viertel- oder halbjährlich) als auch den Umfang der Zwischenberichterstattung (d.h. IAS 34 Konformität oder keine IAS 34 Konformität) zu wählen. Die Autor:innen stellen fest, dass Unternehmen, welche die Quartalsberichterstattung beenden oder den Umfang am meisten einschränken, einen erheblichen Rückgang an Aktienliquidität erfahren. Zusammengefasst legen die Ergebnisse der Autor:innen nahe, dass Unternehmen die Kostenersparnisse durch geringere Häufigkeit und/oder Umfang der Berichterstattung sorgfältig mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Kosten in Form von reduzierter Aktienliquidität abwägen.61
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VI. Zusammenfassung Die Publizität von Unternehmensberichten ist nicht nur eine vom Gesetzgeber auferlegte Verpflichtung, die Kosten verursacht. Zahlreiche Studien legen nahe, dass eine transparente, Informationsasymmetrien reduzierende Unternehmensberichterstattung die Kapitalkosten des Unternehmens und damit die Beschaffung von Kapital durch das Unternehmen reduziert und damit die durch die Unternehmenspublizität verursachten Kosten mehr als kompensiert.
59 Vgl. Daske/Hail/Leuz/Verdi, Journal of Accounting Research 46, 2008, 1085. 60 Vgl. Bischof/Daske, Journal of Accounting Research 51 Nr. 5, 2013, 997. 61 Vgl. Bornemann/Moosmann/Novotny-Farkas, The Consequences of Abandoning the Quartlery Reporting Mandate in the Prime Market Segment: Evidence from Austria, 2021, 1 ff.
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Die Rolle des Aufsichtsrats bei Prüfung, Feststellung und Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses Dr. Eberhard Vetter Rechtsanwalt, Köln I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Phasen der Entstehung des Jahresabschlusses 1. Aufstellung des Jahresabschlusses 2. Prüfung und Billigung des Jahresabschlusses durch den Abschlussprüfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat . . . . . . . . . 4. Feststellung des Jahresabschlusses 5. Vorlage des Jahresabschlusses an die Hauptversammlung und Berichterstattung des Aufsichtsrats . 6. Offenlegung des Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fehlerhaftigkeit des festgestellten Jahresabschlusses 1. Fehlerarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reichweite der Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . 3. Heilung des Fehlers a) Bilanzielle Heilungswirkung . . b) Fehlende generelle Heilungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats 1. Prüfungsauftrag des Aufsichtsrats a) Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesteigerte Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats . . . . 2. Rolle des Prüfungsausschusses a) Vorprüfung des Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Halbjahresberichte als besondere Erkenntnisquelle . . . . . . . .
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c) Berichterstattung des Prüfungsausschusses im Aufsichtsratsplenum . . . . . . . . . . . . d) Besondere Expertise des Prüfungsausschusses . . . . . . . . . . . . 3. Information des Aufsichtsrats durch den Abschlussprüfer über überwachungsrelevante Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mündliche Berichterstattung des Abschlussprüfers in der Bilanzsitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Individuelle Verantwortung des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bekanntwerden der Fehlerhaftigkeit nach Feststellung des Jahresabschlusses 1. Nichtigkeit des Jahresabschlusses und Rechnungslegungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Minderschwere Fehler des Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . 3. Verantwortung des Aufsichtsrats a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entdeckung des Nichtigkeitsgrunds nach Ablauf der Heilungsfrist aa) Verantwortung des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verantwortung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . c) Fehlerentdeckung vor Ablauf der Heilungsfrist aa) Verantwortung des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verantwortung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . .
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Rz. 1 | Die Rolle des Aufsichtsrats VI. Fehlererkennung vor Vorlage des Jahresabschlusses an die Hauptversammlung 1. Verdacht auf Nichtigkeit des Jahresabschlusses . . . . . . . . . . . . . . . 66
2. Aufklärungsverantwortung des Aufsichtsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 VII. Thesen und regulatorische Handlungsempfehlungen
I. Einleitung 1
Der Jahresabschluss hat nach § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unternehmens zu vermitteln. Auch wenn er nach der despektierlichen Einschätzung des BGH „nur ein Rechenwerk“ darstellt,1 gilt er zutreffend als unverzichtbarer „Baustein“ des gesellschaftsrechtlichen Informations- und Gewinnrechtssystems sowie des kapitalmarktrechtlichen Informationssystems.2 Die Richtigkeit und Gültigkeit des Jahresabschlusses liegt aus Gründen der Sicherheit des Rechtsverkehrs auch im öffentlichen Interesse und geht damit über das Interesse der Gesellschaft und ihrer Eigentümer weit hinaus.3 Dies gilt unabhängig davon, ob die Gesellschaft börsennotiert ist oder ihrer Geschäftstätigkeit als kapitalmarktferne Gesellschaft nachgeht.
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Führen inhaltliche Fehler des Jahresabschlusses oder ein fehlerhaftes Verfahren der verantwortlichen Organe zu einem nichtigen Jahresabschluss, stellt dies vor allem für die AG und ihre Aktionäre aber auch für die Stakeholder insgesamt ein Ereignis mit nicht selten gravierenden Folgen dar, das es im allseitigen Interesse zu vermeiden gilt. Die Fehlerprävention ist in jedem Fall der nachträglichen Behebung von Fehlern und der Folgenbeseitigung, sofern sie denn überhaupt möglich sind, deutlich überlegen. Vor diesem Hintergrund ist es oberste Aufgabe der an der Entstehung des Jahresabschlusses intern wie extern Beteiligten zu verhindern, dass es überhaupt zu einem nichtigen Jahresabschluss kommt.
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Das Gesetz weist dem Aufsichtsrat der AG im Verfahren der Entstehung des Jahresabschlusses, das aus einem mehraktigen Prozess besteht,4 neben dem Vorstand gemäß § 171 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und § 172 Satz 1 AktG eine maßgebliche Rolle zu. Hierauf soll in einem ersten Schritt das Augenmerk gelegt werden, denn nicht selten 1 BGH v. 15.1.2007 – II ZR 245/05, BGHZ 170, 283 Rz. 26 – Otto; BGH v. 17.12.2001 – ZR II 27/01, NZG 2002, 518; ebenso Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 215. 2 Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 384; siehe auch Bezzenberger, WM 2020, 2093, 2097; Schön in FS 50 Jahre BGH, Bd. II 2000, S. 153, 160; zum Adressatenkreis siehe z.B. Clemm in FS Goerdeler, 1987, S. 93, 95 ff.; generell zur Informationsfunktion Merkt, Unternehmenspublizität, 2001, S. 334. 3 BGH v. 21.4.2020 – II ZR 56/8, AG 2020, 540 Rz. 19; Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 29; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 2; Schön in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 153, 160; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 40. 4 Mock in Bertl et al., Organe von Unternehmen in Recht und Rechnungswesen, 2019, S. 73.
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lassen sich Defizite beim Aufsichtsrat feststellen, wenn es im Nachhinein um die Beurteilung von fehlerhaften Jahresabschlüssen und ihren Gründen geht. In bekannten Fällen von spektakulären Unternehmenszusammenbrüchen wurden beim Aufsichtsrat hinsichtlich des Jahresabschlusses und der in ihm dargestellten Vermögens-, Finanz- und Ertragslage Informationsdefizite festgestellt.5 Bisweilen wurde in diesen Fällen das Versagen des Aufsichtsrats auch von ihm selbst eingeräumt6 oder ihm wurde Untätigkeit trotz öffentlich bekannter Anzeichen für Unregelmäßigkeiten attestiert.7 Im Anschluss daran geht es in einem zweiten Schritt um die Rolle des Aufsichtsrats im Fall des nichtigen Jahresabschlusses, denn es steht außer Frage, dass die an der Entstehung des Jahresabschlusses Beteiligten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen dürfen, wenn sie Kenntnis von der Fehlerhaftigkeit eines Jahresabschlusses haben, die dessen Nichtigkeit begründen. Dies gilt auch und erst recht, wenn der Verdacht auf Fehlerhaftigkeit aufkommt. Verhindern etwa Verfahrensfehler in Vorstand oder Aufsichtsrat den wirksamen Jahresabschluss, liegt aus inhaltlichen Gründen ein fehlerhafter und nichtiger Jahresabschluss vor oder besteht der Verdacht, dass der Jahresabschluss in förmlicher oder inhaltlicher Hinsicht mit Fehlern behaftet und deshalb nichtig sein könnte, enthält das AktG jedoch keine Bestimmungen, die dem Vorstand oder Aufsichtsrat konkrete Aufgaben zuweisen, was in diesem Fall zu tun ist. In den nachfolgen Ausführungen soll – beschränkt auf die Rolle des Aufsichtsrats – der Versuch unternommen werden, darauf Antworten zu finden. Die nachfolgenden Überlegungen beschränken sich auf den Jahresabschluss der AG. Lediglich am Rande wird auf den Lagebericht eingegangen, der gemäß § 264 Abs. 1 Satz 1 HGB nicht Teil des Jahresabschlusses ist. Die Überlegungen lassen sich auf die GmbH mit größerem Geschäftsbetrieb also mit obligatorischem Aufsichtsrat übertragen. Sowohl § 1 Abs. 1 Nr. 2 DrittelbG als auch § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG nehmen unter anderem auf die Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats nach § 171 AktG ausdrücklich Bezug. Im Übrigen kommen die Nichtigkeitsgründe von § 256 AktG mangels eigener Nichtigkeitsregelung im GmbHG bei der GmbH grundsätzlich analog zur Anwendung.8
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Der Konzernabschluss, der gemäß § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG zusammen mit dem Konzernlagebericht ebenfalls der Prüfung durch den Aufsichtsrat des Mutterunternehmens unterliegt, ist nicht Gegenstand der Überlegungen. Der Konzernabschluss ist, wie sich aus § 173 Abs. 1 Satz 2 AktG ergibt, nicht der Feststellung zugänglich9 und
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5 Siehe Holl, Die Reform des aktienrechtlichen Aufsichtsrats, 2002, S. 47 und 54. 6 Siehe z.B. Bericht des Aufsichtsrats der IKB Deutsche Industrie Kreditbank AG für das Geschäftsjahr 2006/2007 v. 16.2.2008, abgedruckt im Geschäftsbericht 2006/2007, S. 75; siehe auch Ball, Die Krisenwarnpflichten des Jahresabschlussprüfers gegenüber dem Aufsichtsrat, 2003, S. 63. 7 Siehe Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 888. 8 BGH v. 21.7.2008 – II ZR 39/07, NZG 2008, 783, 784; Bayer in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, Anh. zu § 47 GmbHG Rz. 24; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2021, § 46 Rz. 36; Wertenbruch in MünchKomm/GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 47 Anh. Rz. 123. 9 OLG Frankfurt v. 21.11.2006 – 5 U 115/05, AG 2007, 282; Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 172 Rz. 8; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 172 Rz. 5; siehe
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Rz. 5 | Die Rolle des Aufsichtsrats
kann nach herrschender Ansicht – ungeachtet seiner erheblichen Bedeutung als öffentliches Informationsinstrument10 – auch bei Fehlerhaftigkeit mangels Feststellungfähigkeit nicht nichtig sein.11 Die Vorschrift § 256 AktG über die Nichtigkeit des Jahresabschlusses ist nach ganz herrschender Ansicht insoweit auch nicht analog anwendbar.12 Ebenso wenig können Mängel eines Konzernabschlusses als Nichtigkeitsgrund des Jahresabschlusses geltend gemacht werden.13
II. Phasen der Entstehung des Jahresabschlusses 1. Aufstellung des Jahresabschlusses 6
Die Aufstellung des Jahresabschlusses weist § 264 Abs. 1 HGB den gesetzlichen Vertretern der Kapitalgesellschaft zu. Sie ist Geschäftsführungsmaßnahme14 und beruht auf der Bilanzierungspflicht, die in der AG vom Vorstand zu erfüllen ist.15 Der Abschluss muss gemäß § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft vermitteln.16 Mit dem aufgestellten Jahresabschluss, der wegen seines bloßen Entwurfscharakters noch bis zur Bilanzsitzung des Aufsichtsrats einem faktischen Änderungsvorbehalt des Vorstands unterliegt,17 manifestiert sich die durch Beschluss konkretisierte Meinung des Vorstands über das in Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung konkretisierte Rechenwerk über das abgelaufene Geschäftsjahr, das unter Wahrnehmung der ihm
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z.B. auch Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 172 AktG Rz. 8. Siehe dazu z.B. E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 116. A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 12; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 7; Waclawik in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl. 2022, § 256 Rz. 4. BGH v. 14.1.2008 – II ZR 282/06, AG 2008, 325; OLG Frankfurt v. 21.11.2006 – 5 U 115/ 05, AG 2007, 282; LG München I v. 12.4.2007 – 5 HK O 234/24/06, Der Konzern 2007, 537, 539; Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 35.; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 256 Rz. 3; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 32; a.A. Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 3. ADS, 6. Aufl. 1997, § 256 AktG Rz. 1; Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 39. Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 173; Pöschke in Großkomm/HGB, 6. Aufl. 2021, § 242 Rz. 16; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 172 Rz. 2; Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, § 264 Rz. 8; Seyfarth, Vorstandsrecht, 2016, § 8 Rz. 104. Böcking/Gros/Oser in Wiedmann/Böcking/Gros, Bilanzrecht, 4. Aufl. 2019, § 264 HGB Rz. 20; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2. Aufl. 2020, Rz. 611; Rabenhorst in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 57.19. LG München I v. 5.5.2022 – 5 HK O 15710/20 – wirecard, ZIP 2022, 1052, 1055. Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 45; Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 15; H.-P. Müller in FS Budde, 1995, S. 431, 433; Pöschke in Staub, HGB, 5. Aufl. 2014, § 242 Rz. 18; Schwieters in Kubis/Tödtmann, Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 3. Aufl. 2022, § 10 Rz. 228.
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eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten erstellt wurde.18 Der aufgestellte Jahresabschluss wie auch der vom Vorstand erstellte Lagebericht sind dem Aufsichtsrat gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 AktG zur Prüfung und Billigung vorzulegen. 2. Prüfung und Billigung des Jahresabschlusses durch den Abschlussprüfer In der prüfungspflichten Gesellschaft hat der Vorstand den Jahresabschluss und Lagebericht gemäß § 320 Abs. 1 Satz 1 HGB unverzüglich nach der Aufstellung dem Abschlussprüfer vorzulegen, der gemäß § 317 Abs. 1 Satz 2 HGB die Prüfung im Sinne der Übereinstimmung mit Gesetz und Satzung vorzunehmen hat.19 In der Unternehmenspraxis erfolgen die Aufstellung des Jahresabschlusses und die Erstellung des Lageberichts durch den Vorstand sowie die Prüfung durch den Abschlussprüfer jedoch sehr weitgehend parallel.20 Gegenstand der Prüfung durch den Abschlussprüfer sind der Jahresabschluss, bestehend aus Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung, die Buchführung einschließlich des Inventars sowie der Lagebericht.21 Das Prüfungsergebnis hat der Abschlussprüfer gemäß § 321 HGB im vertraulichen Prüfungsbericht und zur Information der Öffentlichkeit gemäß § 322 HGB in einem zu veröffentlichenden Formeltestat über die Erteilung, Verweigerung oder Einschränkung des Bestätigungsvermerks niederzulegen. Bei Unternehmen von öffentlichem Interesse hat der Abschlussprüfer gemäß Art. 10 Abs. 2 lit. c. Abschlussprüfer-VO zudem spezifische Erläuterungen zur Prüfung der wichtigsten Prüfungssachverhalte (key audit matters) zu machen.22
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Der Abschlussprüfer hat seinen Bericht nach § 321 Abs. 5 Satz 2 HGB dem Aufsichtsrat und dem Prüfungsausschuss vorzulegen sowie nach § 321 Abs. 5 Satz 3 HGB zugleich dem Vorstand zuzuleiten. § 170 Abs. 3 Satz 2 AktG erlaubt dem Aufsichtsrat zu beschließen, dass der Prüfungsbericht des Abschlussprüfers nur den Mitgliedern eines Ausschusses zugeleitet wird. Diese unter dem Gesichtspunkt der gleichen Rechtsstellung aller Aufsichtsratsmitglieder höchstproblematische Möglichkeit23 hat in der
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18 Kropff in FS Peltzer, 2001, S. 219, 220; Pöschke in Staub, HGB, 5. Aufl. 2014, § 242 HGB Rz. 17; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 Rz. 41; siehe auch Reiner in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 264 Rz. 18. 19 M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 4 Rz. 103; Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 317 Rz. 11; Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, § 317 Rz. 3; Schüppen in Heidel/Schall, HGB, 3. Aufl. 2020, § 317 Rz. 4. 20 ADS, 6. Aufl. 2000, § 320 HGB Rz. 13; Krasberg, Der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats einer AG nach dem BilMoG, 2010, S. 124; Kropff in FS Peltzer, 2001, S. 219, 221; Schwieters in Kubis/Tödtmann, Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 3. Aufl. 2022, § 10 Rz. 228. 21 OLG Düsseldorf v. 19.11.1998 – 8 U 59/98, NZG 1999, 901, 904; Mylich in Hachmeister/ Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 317 HGB Rz. 17 und 27; Schüppen in Heidel/Schall, HGB, 3. Aufl. 2020, § 317 Rz. 9. 22 VERORDNUNG (EU) Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über spezielle Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses 2005/909/EG der Kommission, ABl. L 158, S. 77. 23 Z.B. Götz, AG 1995, 337, 343; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 170 Rz. 89; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 Rz. 163.
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heutigen Unternehmenspraxis jedoch keine große praktische Bedeutung mehr.24 § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG schreibt vor, dass der Abschlussprüfer an den Verhandlungen des Prüfungsausschusses oder des Aufsichtsratsplenums über den Jahresabschluss teilzunehmen und über die wesentlichen Ergebnisse seiner Prüfung sowie insbesondere über wesentliche Schwächen des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems bezogen auf den Rechnungslegungsprozess zu berichten hat.25 3. Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat 9
In Konkretisierung der allgemeinen Überwachungspflicht des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 1 AktG hat dieser gemäß § 171 Abs. 1 AktG insbesondere26 die Prüfung des Jahresabschlusses, des Lageberichts wie auch des Vorschlags des Vorstands für die Verwendung des Bilanzgewinns vorzunehmen.27 Die Prüfungspflicht des Aufsichtsrats besteht selbständig neben der des Abschlussprüfers. Sie ist, wie nicht zuletzt § 111 Abs. 6 AktG erhellt, nicht auf Dritte übertragbar und darf gemäß § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG auch nicht vollends an einen Ausschuss delegiert werden. Die Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats überschneidet sich zum Teil mit der des Abschlussprüfers, geht aber darüber hinaus. Während sich dessen Prüfung gemäß § 317 Abs. 1 HGB auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Jahresabschlusses im Sinne der Übereinstimmung mit Gesetz und Satzung beschränkt,28 hat der Aufsichtsrat sowohl die Rechtmäßigkeit des Abschlusses als auch seine Zweckmäßigkeit zu prüfen.
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Nach Beendigung seiner Prüfung, in die in der börsennotierten AG zwangsläufig der Prüfungsausschuss zur Vorprüfung eingeschaltet ist, hat der Aufsichtsrat gemäß § 172 AktG über die Billigung des Jahresabschlusses in der sog. Bilanzsitzung zu beschließen. Im Fall der Billigung ist der Jahresabschluss festgestellt. 4. Feststellung des Jahresabschlusses
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Mit der Feststellung des Jahresabschlusses wird die Herstellung der Verbindlichkeit sowohl für die Gesellschaftsorgane untereinander als auch im Verhältnis zu Dritten
24 Siehe aber Köstler, WPg Sonderheft 2001, 20, 21. 25 Fischbach, Der Bilanzprüfungsausschuss des Aufsichtsrats und seine Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer, 2003, S. 233 ff.; Rabenhorst in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 60.192; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 135. 26 Zu den weiteren Prüfungsgegenständen siehe z.B. Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 15; Grigoleit/Zellner in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 171 Rz. 2. 27 Dörner, DB 2000, 101, 103; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 171 Rz. 3; Hommelhoff, ZGR 1983, 551, 555; Lutter, AG 2008, 1, 2; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 19. 28 M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 4 Rz. 103; Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 317 Rz. 11; Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, § 317 Rz. 3; Schüppen in Heidel/Schall, HGB, 3. Aufl. 2020, § 317 Rz. 4.
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Die Rolle des Aufsichtsrats | Rz. 14
bezeichnet.29 Sie ist ein korporatives Rechtsgeschäft eigener Art,30 das im Regelfall gemäß § 172 Satz 1, 1. Halbsatz AktG durch die Billigung des vom Vorstand aufgestellten und vorgelegten Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat vollendet ist. Die Feststellung liegt damit in der Gesamtzuständigkeit von Vorstand und Aufsichtsrat. Sofern der Aufsichtsrat den vom Vorstand vorlegten Jahresabschluss nicht billigt oder Vorstand und Aufsichtsrat dies gemeinsam beschließen, erfolgt die Feststellung des Jahresabschlusses gemäß § 172 Satz 1, 2. Halbsatz, § 173 Abs. 1 Satz 1 AktG durch die Hauptversammlung. Diese Alternative ist in der Praxis jedoch äußerst selten31 und soll hier nicht weiter thematisiert werden.32
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5. Vorlage des Jahresabschlusses an die Hauptversammlung und Berichterstattung des Aufsichtsrats Der Jahresabschluss ist der Hauptversammlung binnen der ersten acht Monate des folgenden Geschäftsjahres vorzulegen. Zudem hat der Aufsichtsrat der Hauptversammlung gemäß § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG über das Ergebnis seiner Prüfung des Jahresabschlusses einen schriftlichen Bericht vorzulegen,33 in dem mitzuteilen ist, ob in Ergänzung zum Testat des Abschlussprüfers nach dem abschließenden Ergebnis der Prüfung durch den Aufsichtsrat Einwendungen zu erheben sind und ob er den Jahresabschluss billigt.34
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6. Offenlegung des Jahresabschlusses Der Jahresabschluss ist nicht zuletzt auch ein Informationsinstrument. Deshalb ist die Offenlegung der Abschlussunterlagen für die verschiedenen Adressaten des Jahresabschlusses von besonderer Relevanz. Der festgestellte Jahresabschluss stellt nicht allein eine private interne Angelegenheit der Gesellschaft dar, sondern ist auch von öffentlichem Interesse. Vor diesem Hintergrund ordnete § 325 Abs. 1 Satz 2 HGB die
29 BGH v. 29.3.1996 – II ZR 263/94, BGHZ 132, 263, 266 (zur KG) – Portland Zementwerk; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 172 Rz. 7; Ekkenga in KölnKomm/ AktG, 3. Aufl. 2012, § 172 Rz. 2; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 172 Rz. 11. 30 BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 116 – Vereinte Krankenversicherung; OLG Dresden v. 9.2.2017 – 8 U 576/16, AG 2017, 482, 485; OLG Frankfurt v. 21.11.2006 – 5 U 115/05, AG 2007, 282; OLG Stuttgart v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, AG 2003, 527, 529 – eff-eff Fritz Fuss GmbH & Co KGaA; Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 183; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 387; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 172 Rz. 3; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 172 Rz. 16. 31 ADS, 6. Aufl. 1997, § 173 AktG Rz. 1; Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, AG, 5. Aufl. 2020, § 46 Rz. 7; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 173 Rz. 4. 32 Siehe dazu z.B. Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, AG, 5. Aufl. 2020, § 46 Rz. 7 ff. 33 Dazu z.B. Lutter, AG 2008, 1 ff.; E. Vetter, ZIP 2006, 257 ff. 34 Ekkenga, KölnerKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 81; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 224.
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elektronische Übermittlung der offenlegungspflichtigen Unterlagen an die das Unternehmensregister führende Stelle an.35 15
Handelt es sich um eine AG in der Form einer Kleinstkapitalgesellschaft i.S.v. § 267a HGB, entfällt gemäß § 326 Abs. 2 Satz 1 HGB die Pflicht zur Bekanntmachung des Jahresabschlusses; es genügt die Einreichung der Bilanz in elektronischer Form zur dauerhaften Hinterlegung beim Betreiber des Bundesanzeigers gemäß § 325 Abs. 1 Satz 2 HGB.
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Die Offenlegung des Jahresabschlusses lässt sich nicht als Element der Abschlussprüfung qualifizieren. Gleichwohl ist sie notwendige Voraussetzung der retrospektiven Kontrolle der Rechnungslegung durch Dritte.36 Ob diese tatsächlich stattfindet, lässt sich schwer vorhersagen und auch kaum steuern. Aber sie darf – wie nicht zuletzt der Fall Wirecard gezeigt hat – weder in ihrer Intensität noch in ihren Auswirkungen unterschätzt werden.37
III. Fehlerhaftigkeit des festgestellten Jahresabschlusses 1. Fehlerarten 17
Der Jahresabschluss kann unter unterschiedlichen Fehlern leiden. In Betracht kommen sowohl förmliche Fehler im Verfahren der Aufstellung und Feststellung des Jahresabschlusses, Prüfungsmängel, Gliederungsfehler, die die Klarheit und Verständlichkeit des Jahresabschlusses beeinträchtigen als auch materiell-inhaltliche Fehler durch Über- oder Unterbewertung einzelner Posten oder Verstöße gegen Ansatzvorschriften, die zu einer falschen Darstellung der Vermögens- oder Ertragslage der Gesellschaft führen. In den nachfolgenden Überlegungen wird es vorrangig um gravierende materiell-inhaltliche Fehler des Jahresabschlusses gehen, die die Wirksamkeit des Jahresabschlusses betreffen und die in der Praxis bedeutendsten und in ihren Auswirkungen folgenschwersten Nichtigkeitsgründe darstellen.
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Fehlerhaft ist ein Jahresabschluss, wenn er im Zeitpunkt der Feststellung auf Basis des erkennbaren Sachverhalts objektiv gegen gesetzliche Vorschriften, die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung, Satzungsbestimmungen oder sonstige Rechnungslegungspflichten verstößt.38
35 Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, § 8b Rz. 4; Rabenhorst in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 61.3. 36 Boecker/Zwirner, IRZ 2014, 95, 98; Böhmer, Rechnungslegung und ihre Anforderungen durch die Unternehmensorganisation, 2020, S. 231; Merkt, Unternehmenspublizität, 2001, S. 340. 37 Siehe dazu z.B. McCrum, House of Wirecard, 2022, passim; Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 480; Mock, ECFR 2021, 519, 522. 38 OLG Frankfurt v. 4.2.2019 – WpÜG 4/16, AG 2019, 687, 690; ADS, 6. Aufl. 1997, § 256 Rz. 68; W. Müller in FS Quack, 1993, S. 359, 366; zum Streit zwischen normativ-subjektivem Fehlerbegriff versus objektivem Fehlerbegriff, siehe z.B. Hennrichs in FS Böcking, 2021, S. 280, 285 ff.; Lüdenbach/Freiberg, DB 2019, 2305 ff.; Pöschke, WPg 2021, 872 ff.
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2. Reichweite der Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses Die zweifache Bilanzkontrolle durch Abschlussprüfer und Aufsichtsrat soll die Qualität und Fehlerfreiheit von Bilanzen gewährleisten. Die Unternehmenspraxis zeigt, dass sich dies nicht stets erreichen lässt und in Einzelfällen Jahresabschlüsse unter Fehlern leiden, die zu ihrer Nichtigkeit führen. Wegen der allgemeinen Bedeutung des Jahresabschlusses und der gravierenden Folgen der Nichtigkeit lässt der Gesetzgeber die Nichtigkeit jedoch nur unter engen Voraussetzungen zu. § 256 AktG verfolgt für den festgestellten Jahresabschluss generell das Ziel des Bestandsschutzes und ordnet – abschließend39 – in spezifischen Fällen die Nichtigkeit des fehlerhaften Jahresabschlusses an. Aus rechtspolitischer Sicht wird die Vorschrift wegen ihrer drastischen Folgen bisweilen als problematisch bezeichnet.40 Sie erfasst – wenig systematisch41 – neben formellen Fehlern seitens des Vorstands oder des Aufsichtsrats bei der Aufstellung bzw. Feststellung des Jahresabschlusses gemäß § 256 Abs. 2 AktG, Prüfungsmängel gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AktG, Gliederungsfehler gemäß § 256 Abs. 4 AktG42 sowie materiell-inhaltliche Fehler nach § 256 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 143 und 2 AktG, sofern sie bei der Beurteilung der Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft von einigem Gewicht sind.44 Fehler von geringerem Gewicht tangieren die Verbindlichkeit des Jahresabschlusses hingegen nicht.45 Unter dem Gesichtspunkt der unrichtigen Wiedergabe der Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft oder gar der Verschleierung verdienen die Bewertungsmängel, die als Nichtigkeitsgrund in § 256 Abs. 5 AktG geregelt sind, besondere Aufmerksamkeit.
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Die Nichtigkeit des Jahresabschlusses, die bei Stattgeben der Nichtigkeitsklage vom Gericht nach § 256 Abs. 6 Satz 2 AktG durch Urteil festgestellt wird, hat für alle Beteiligte weitreichende Konsequenzen. Die Feststellungwirkung des Jahresabschlusses
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39 BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 116 – „Vereinte Krankenversicherung“; A. Arnold, in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 7; Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 187; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 3; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 1. 40 Siehe z.B. Bezzenberger, WM 2020, 2144 „schlimmes Regelwerk“; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 256 Rz. 1 „desaströse Konsequenzen“; ähnlich Lutter in FS Semler, 1993, S. 835, 843. 41 Siehe z.B. Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 187; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 4. 42 Siehe z.B. LG Stuttgart v. 11.4.1994 – 6 KfH O 169/93, AG 1994, 473 – Südmilch AG; LG München I v. 20.12.2007 – 5 HK O 11783/07, Der Konzern 2008, 59. 43 Siehe z.B. OLG Stuttgart v. 14.5.2003 – 20 U 31/02, AG 2003, 527, 529 – eff-eff Fritz Fuss GmbH & Co KGaA; LG Stuttgart v. 29.12.2000 – 5 KfH O 148/00, DB 2001, 1025, 1026. 44 BGH v. 1.3.1982 – II ZR 23/81, BGHZ 83, 341, 347 (zur GmbH); BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 117 – Vereinte Krankenversicherung; Ehmann in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 256 Rz. 1; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 15, 54 und 59; Schön in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 153, 160; a.A. Heidel in Heidel, Aktienund Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020, § 256 AktG Rz. 12. 45 Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 196; Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 688.
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fällt aus und es verbleibt ein unverbindliches Zahlenwerk.46 Die Nichtigkeit erfasst den gesamten Vorgang der Feststellung also auch die von Vorstand und Aufsichtsrat dazu gefassten Beschlüsse47 mit der weiteren Konsequenz der Nichtigkeit etwa der gemäß § 58 AktG von ihnen gegebenenfalls vorgenommenen Einstellungen in oder Entnahmen aus Gewinnrücklagen.48 Ohne wirksamen Jahresabschluss liegt auch kein Bilanzgewinn vor. Deshalb ist es folgerichtig, wenn gemäß § 253 Abs. 1 Satz 1 AktG auch der Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung, der sich auf den im Jahresabschluss ausgewiesenen Bilanzgewinn bezieht, nichtig ist.49 Einer dabei beschlossenen Dividendenausschüttung fehlt dadurch der Rechtsgrund und die Aktionäre sind nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG zur Rückzahlung der erhaltenen Leistung verpflichtet, sofern nicht im Einzelfall die Voraussetzungen des Gutglaubensschutzes vorliegen.50 Darüber hinaus sieht sich der Vorstand wegen der unzulässigen Dividendenausschüttung der Haftung nach § 93 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2, 2. Alt. AktG ausgesetzt.51 3. Heilung des Fehlers a) Bilanzielle Heilungswirkung 21
Von besonderer praktischer Bedeutung ist, dass die Nichtigkeit des Jahresabschlusses nicht stets von Dauer sein muss, sondern in den meisten Fällen52 durch Zeitablauf beseitigt werden kann. § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG sieht aus Gründen der Rechtssicherheit im Rechtsverkehr für fast alle formellen und materiellen53 Nichtigkeitsgründe54 46 Jansen in BeckOGK/AktG, § 256 Rz. 93 (Stand 1.10.2022). 47 BGH v. 15.11.1993 – II ZR 235/92, BGHZ 124, 111, 116 – Vereinte Krankenversicherung; ADS, 6. Aufl. 1997, § 256 AktG Rz. 74; A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 90; Jansen in BeckOGK/AktG, § 256 Rz. 94 (Stand 1.10.2022); Kropff, ZGR 1994, 628, 634. 48 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 90; Jansen in BeckOGK/AktG, § 256 AktG Rz. 95 (Stand 1.10.2022); J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 78. 49 OLG Frankfurt v. 18.3.2008 – 5 U 171/06, AG 2008, 417, 419 – Leo Kirch/Deutsche Bank; OLG Stuttgart v. 16.11.2005 – 20 U 2/05, AG 2006, 340, 342 – Landesbank Baden-Württemberg; A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 90; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 390; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 25. 50 Grumann/Gillmann, NZG 2004, 839, 843; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 7; Kowalski, AG 1993, 503, 507; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 174 Rz. 168; Weilep/ Weilep, BB 2007, 147, 151; zu den dabei bestehenden praktischen Schwierigkeiten Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 260 ff. 51 Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 215; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 66; Kropff in FS Budde, 1995, S. 341, 355; Weilep/Weilep, BB 2007, 147, 152. 52 Zu den Ausnahmen siehe z.B. ADS, 6. Aufl. 1997, § 256 Rz. 85; Ehmann in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 256 Rz. 14. 53 Anders das österreichische Recht Diregger in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG, 3. Aufl. 2021, § 202 Rz. 35. 54 Zu den Ausnahmen siehe z.B. Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 270; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 65; Schwab in K. Schmidt/ Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 4 und 35.
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die Heilung der Nichtigkeit in Abhängigkeit von der Art und Schwere des Fehlers binnen eines Zeitraums von sechs Monaten bei Verfahrensmängeln oder von drei Jahren bei Inhaltsmängeln vor, sofern nicht bis zum Ablauf der jeweiligen Frist gemäß § 256 Abs. 7 AktG Nichtigkeitsklage erhoben worden ist, die gemäß § 246 Abs. 2 Satz 2, § 249 Abs. 1 Satz 1, § 256 Abs. 7 Satz 1 AktG gegen die Gesellschaft – vertreten durch Vorstand und Aufsichtsrat – zu erheben ist.55 Der maßgebliche Zeitpunkt für den Beginn der Heilungsfrist für ab dem 1.1.2022 beginnende Geschäftsjahre ist gemäß § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG die Einstellung des Jahresabschlusses im Unternehmensregister nach § 8b Abs. 2 Nr. 4 HGB i.V.m. § 325 Abs. 1 HGB n.F.56 Nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift kann die Nichtigkeit nach Fristablauf „nicht mehr geltend gemacht werden“. Es tritt rückwirkend ex tunc eine Änderung der materiellen Rechtslage ein.57 Der Jahresabschluss des betreffenden Geschäftsjahres ist dann im rechtlichen Sinne fehlerfrei.58 Gleiches gilt für das korporative Rechtsgeschäft der Feststellung des Jahresabschlusses insgesamt sowie den darauf beruhenden Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung, soweit dessen Nichtigkeit auf der Nichtigkeit des Jahresabschlusses beruht.59 Ist gemäß § 256 Abs. 7 AktG eine Nichtigkeitsklage erhoben, scheidet jedoch eine Heilung aus.60
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Infolge der Heilung ist der fehlerhafte Jahresabschluss wirksam und insoweit Rechtssicherheit hergestellt.61 Die Gesellschaft ist vor den negativen Folgen geschützt, die sich ergeben würden, „wenn nach Jahr und Tag die Nichtigkeit des Jahresabschlusses festgestellt“ würde.62 Die Rechnungslegung bleibt, soweit es sich um materielle Fehler des Jahresabschlusses handelt, in inhaltlicher Hinsicht gleichwohl fehlerhaft.63 Der Vorstand ist verpflichtet, den Fehler, sofern er noch fortbesteht, spätestens im nächs-
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55 Die Klageerhebung durch ein Mitglied von Vorstand oder Aufsichtsrat soll hier vernachlässigt werden. 56 Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 172 Rz. 11 und § 256 Rz. 30a; Rabenhorst in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 57.105. 57 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 84; Bezzenberger in Großkomm/ AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 267; Ehmann in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 256 Rz. 14; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 389; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 64; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 27. 58 Casper, Heilung nichtiger Beschlüsse im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 315; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 68; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 38; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 27; offengelassen BGH v. 2.7.2013 – 293/11, AG 2013, 678 Rz. 9 (zur GmbH). 59 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 84; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 68; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 27. 60 Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 256 Rz. 30; Kowalski, AG 1993, 502, 503; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 27. 61 BGH v. 2.7.2013 – 293/11, AG 2013, 678 Rz. 14 (zur GmbH). 62 Begründung RegE abgedruckt bei Kropff, AktG, 1965, S. 347. 63 Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 265a; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 389; Kropff in FS Budde, 1995, S. 341, 349; wohl auch J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 69.
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ten Jahresabschluss zu beheben, um gemäß § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln.64 b) Fehlende generelle Heilungswirkung 24
Die Heilungswirkung von § 256 Abs. 6 HGB hat in bilanzieller Hinsicht einen stabilisierenden Effekt, der Jahresabschluss ist rückwirkend wirksam und kann nicht mehr angegriffen werden, auch wenn Bewertungsfehler damit nicht beseitigt sind. Die Heilungswirkung erstreckt sich auch auf die Rechtmäßigkeit der von der Hauptversammlung beschlossenen Gewinnverwendung einschließlich der Dividendenausschüttung, sodass eventuelle Ansprüche der Gesellschaft gemäß § 62 Abs. 1 AktG auf Rückgewähr der erhaltenen Dividendenzahlungen hinfällig sind.65
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Soweit die Frage im Raum steht, ob Vorstand und Aufsichtsrat hinsichtlich der Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung ihre Pflichten erfüllt haben, tritt jedoch keine umfassende Heilung ein.66 Speziell mit Blick auf die Pflicht des Vorstands zur Aufstellung eines fehlerfreien Jahresabschlusses steht der Aufsichtsrat vor der Frage, ob der Gesellschaft infolge der zeitweiligen Nichtigkeit ein Schaden entstanden ist und deshalb Ersatzansprüche wegen des zunächst nichtigen Jahresabschlusses bestehen oder eine Abberufung des verantwortlichen Vorstandsmitglieds67 oder im Unternehmensinteresse andere Maßnahmen geboten sind.
IV. Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats 1. Prüfungsauftrag des Aufsichtsrats a) Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat im Allgemeinen 26
In Konkretisierung der allgemeinen Überwachungspflicht des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 1 AktG hat dieser gemäß § 171 Abs. 1 AktG insbesondere68 die Prüfung des Jahresabschlusses, des Lageberichts wie auch des Vorschlags des Vorstands für
64 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 85; Bezzenberger in Großkomm/ AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 266; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 38; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 27; Weilep/Weilep, BB 2007, 147, 149. 65 Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 267; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 172 Rz. 11 und § 256 Rz. 28; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 172 Rz. 112. 66 Heidel in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020, § 256 AktG Rz. 43; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 45; ebenso wohl Geist, DStR 1996, 306, 308. 67 Siehe dazu z.B. Mock in Bertl et al. (Hrsg.), Organe von Unternehmen in Recht und Rechnungswesen, 2019, S. 71 und 97. 68 Zu den weiteren Prüfungsgegenständen siehe z.B. Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 15; Grigoleit/Zellner in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 171 Rz. 2.
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die Verwendung des Bilanzgewinns vorzunehmen.69 Die Prüfungspflicht des Aufsichtsrats besteht selbständig neben der des Abschlussprüfers. Sie ist als Kardinalpflicht, wie sich aus § 107 Abs. 3 Satz 7 und § 111 Abs. 6 AktG ergibt, weder an einen Ausschuss noch an Dritte delegierbar. Die Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats überschneidet sich zum Teil mit der des Abschlussprüfers, geht aber darüber hinaus. Während sich dessen Prüfung gemäß § 317 Abs. 1 HGB auf die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Jahresabschlusses beschränkt,70 hat der Aufsichtsrat sowohl die Rechtmäßigkeit des Abschlusses als auch seine Zweckmäßigkeit zu prüfen. Die Prüfung erfolgt dabei nicht allein vergangenheitsorientiert, sondern bezieht vielmehr mit zukunftsorientiertem Blick unter Beachtung der langfristigen Interessen des Unternehmens auch die Zweckmäßigkeit der vom Vorstand im Rahmen der Aufstellung des Jahresabschlusses getroffenen bilanzpolitischen Entscheidungen ein, wie sie sich z.B. in der Ausübung von Wahlrechten hinsichtlich Bilanzansätzen, Abschreibungsmethoden, der Bemessung von Rückstellungen und Wertberichtigungen oder der Einstellung in sowie der Entnahmen aus Gewinnrücklagen konkretisieren.71 Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit wird vom Aufsichtsrat keine Duplizierung der Prüfung von Jahresabschluss und Lagebericht zu der bereits vom Abschlussprüfer durchgeführten Abschlussprüfung erwartet.72 Er darf (und muss) sich, sofern die Aussagen im Prüfungsbericht plausibel sind und auch sonst keine entgegenstehenden Anhaltspunkte ersichtlich sind, auf die tatsächlichen Feststellungen des Abschlussprüfers grundsätzlich verlassen und sie seiner eigenen Prüfung des Jahresabschlusses und den dabei anzustellenden eigenen Überlegungen zu Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der im Jahresabschluss manifestierten bilanzpolitischen Entscheidungen zugrunde legen.73 Dabei ist dem Aufsichtsrat ein eigenes bilanzpolitisches Ermessen eingeräumt.74 69 Dörner, DB 2000, 101, 103; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 171 Rz. 3; Hommelhoff, ZGR 1983, 551, 555; Lutter, AG 2008, 1, 2; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 19. 70 M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021, § 4 Rz. 103; Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 317 Rz. 11; Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, § 317 Rz. 3; Schüppen in Heidel/Schall, HGB, 3. Aufl. 2020, § 317 Rz. 4. 71 Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 690; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 6; Nonnenmacher in Schoppen, Corporate Governance, 2015, S. 166, 169; Schulze-Osterloh, ZIP 1998, 2129, 2134; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 36; Waclawik in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl. 2022, § 171 Rz. 9. 72 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 36; Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, AG, 5. Aufl. 2020, § 45 Rz. 15; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 9; Lutter, AG 2008, 1, 4; Richardt in Semler/v. Schenck/ Wilsing, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 5. Aufl. 2021, § 10 Rz. 205. 73 Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 25; Grigoleit/Zellner in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 171 Rz. 5; Nonnenmacher in Schoppen, Corporate Governance, 2015, S. 166, 169; Rürup in FS Budde, 1995, S. 543, 549 ff.; Schulz in Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl. 2021, § 171 Rz. 3a. 74 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 16; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 157; Semler, Leitung und Überwachung der AG, 2. Aufl. 1996, Rz. 209; E. Vetter in Fleischer/Koch/Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 103, 124.
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Was die Intensität der Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat anbetrifft, darf dieser sich jedoch, auch wenn ihm ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers vorliegt, keinesfalls einfach dessen Urteil anschließen und den vorgelegten Jahresabschluss blindlings billigen.75 Dies gilt erst recht dann, wenn der Abschlussprüfer – ohne den Bestätigungsvermerk einzuschränken – gemäß § 322 Abs. 3 Satz 2 HGB auf Umstände besonders hingewiesen hat. Der Aufsichtsrat ist nämlich bei Wahrnehmung seiner ihm gemäß § 171 AktG zugewiesenen Aufgabe neben dem Vorstand Träger einer eigenen unternehmerischen (Mit-) Entscheidungskompetenz,76 die er eigenverantwortlich wahrzunehmen hat.77 Er hat unter Zuhilfenahme des Berichts des Abschlussprüfers zu entscheiden, ob die vom Vorstand bei Aufstellung des Jahresabschlusses konkretisierten Wahl- und Ermessensentscheidungen dem Unternehmensinteresse entsprechen.78 Dabei werden die Mitglieder des Aufsichtsrats ihrer Aufgabe nur gerecht, wenn sie sich nach sorgfältiger Lektüre von Jahresabschluss und Lagebericht ein eigenes Urteil bilden.79 Dem vertraulichen Prüfungsbericht des Abschlussprüfers und dem auch an externe Dritte gerichteten Prüfungstestat kommt dabei ein ganz maßgebliches Gewicht zu. Zutreffend charakterisieren Rechtsprechung und Schrifttum den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers für die Beurteilung des Jahresabschlusses und des Lageberichts durch den Aufsichtsrat als dessen wichtigste Informationsquelle.80 Auf Grund dieser über die reine Überwachung der Geschäftsleitung hinausreichenden unternehmerischen Rolle, die – auch wenn der Aufsichtsrat den Jahresabschluss nicht selbst ändern kann81 – durch-
75 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 36; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 5; Scheffler in FS Havermann, 1995, S. 651, 667; Schulz in Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl. 2021, § 171 Rz. 2; siehe bereits RG v. 7.6.1939 – II 199/ 38, RGZ 161, 129, 140; a.A. wohl OLG Köln v. 5.5.1977 – 14 U 46/76, AG 1978, 17, 21 – Herstatt. 76 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 7; Hommelhoff in FS Marsch-Barner, 2018, S. 261, 262; Lutter, AG 2008, 1, 3; E. Vetter in Fleischer/Koch/ Kropff/Lutter, 50 Jahre AktG, S. 103, 124; kritisch gegenüber der Charakterisierung Dolzer, Emanzipation des Prüfungsausschusses, 2018, S. 140 ff. 77 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 53; Lutter, AG 2008, 1, 3; Rössler in FS Strobel, 2001, S 429, 447; Selter, Die Beratung des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder, 2014, Rz. 621; Semler, Leitung und Überwachung, 2. Aufl. 1996, Rz. 209; früher bereits Forster, ZfB 58 (1988), 789, 793; Hommelhoff, Die Konzernleitungspflicht, 1982, S. 188. 78 Scheffler, WPg 2002, 1289, 1291. 79 M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021, § 4 Rz. 104; Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 887; Schulz in Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl. 2021, § 171 Rz. 2. 80 OLG Frankfurt v. 7.1.1982 – 16 U 194, AG 1982, 194 – Hertie; LG Düsseldorf v. 19.7.1994 – 10 O 526/93, AG 1995, 333, 334 (zur GmbH); Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 16; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 7. Aufl. 2020, Rz. 180 und 505; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 28. 81 ADS, 6. Aufl. 2000, § 171 AktG Rz. 43; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 30; Schulz in Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl. 2021, § 171 Rz. 5; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 60.
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aus auch gestaltende Elemente beinhaltet, trägt der Aufsichtsrat die Mitverantwortung für den Jahresabschluss und die darin konkretisierte Bilanzpolitik.82 Die Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats erstreckt sich auch auf die besonderen Feststellungen, über die der Abschlussprüfer ausdrücklich zu berichten hat und die zum Teil in Art. 10 Abschlussprüfer-VO niedergelegt sind.83 Dazu zählen z.B. die Angaben zu etwaigen Mängeln des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems, zu den besonders wichtigen Prüfungssachverhalten bei kapitalmarktorientierten Gesellschaften (key audit matters),84 zu den besonderen aus dem jeweiligen Geschäftsmodellder konkreten Unternehmenssituation abgeleiteten mit dem Aufsichtsrat bzw. dem Prüfungsausschuss vereinbarten – allgemeinen wie jahresabschlussbezogenen – Prüfungsschwerpunkten85 oder zu besonderen Berichtspflichten. Aber auch Umstände, die die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers in Frage stellen könnten, hat der Aufsichtsrat gegebenenfalls einer vertieften Betrachtung zu unterziehen. Dies folgt mittelbar aus der in § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG ausdrücklich niedergelegten Pflicht des Aufsichtsrats sich im Rahmen seiner Überwachungsaufgabe mit der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers zu befassen.
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Der Aufsichtsrat kann zu seiner Unterstützung seiner Aufgaben nach § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG einen Prüfungsausschuss einsetzen. Handelt es sich um eine AG im öffentlichen Interesse i.S.v. § 316a Satz 2 HGB, ist die Einrichtung eines Prüfungsausschusses nach § 107 Abs. 4 Satz 1 AktG zwingend.86 Hat der Aufsichtsrat einen Prüfungsausschuss gebildet und liegt von diesem ein Bericht über dessen Vorprüfung des vom Vorstand aufgestellten Jahresabschlusses vor (siehe Rz. 27), gelten die vorstehenden Ausführungen zum Prüfungsbericht des Abschlussprüfers insoweit entsprechend. Der Aufsichtsrat darf dem Beschlussvorschlag des Prüfungsausschusses zur Billigung des Jahresabschlusses keinesfalls blind folgen, wenn er den Anforderungen von § 107 Abs. 3 Satz 7, § 171 AktG genügen will. Ungeachtet des Berichts des Prüfungsausschusses bleibt es dabei, dass sich das einzelne Aufsichtsratsmitglied ein
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82 Forster in FS Kropff, 1997, S. 71, 88; Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 889; Mattheus in Hommelhoff/Hopt/von Werder, Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 563, 571; Pöschke, ZGR 2018, 647, 652; Richardt in Semler/v. Schenck/Wilsing, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 5. Aufl. 2021, § 10 Rz. 204; Selter, Die Beratung des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder, 2014, Rz. 614 und 621; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 38. 83 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 23; Richardt in Semler/v. Schenck/Wilsing, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 5. Aufl. 2021, § 10 Rz. 202. 84 Plendl/Kling in WP-Handbuch, 15. Aufl. 2017, Kap. M Rz. 5; Schilha, ZIP 2016, 1316, 1325. 85 Cahn in Veil, Unternehmensrecht in der Reformdiskussion, 2013, S. 139, 145; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 111 Rz. 41; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 454; Plendl/Kling in WP-Handbuch, 15. Aufl. 2017, Kap. M Rz. 143; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 127. 86 Hennrichs, DB 2021, 268, 276; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 107 Rz. 42; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 29.34.
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eigenes Urteil über die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des vorgelegten Jahresabschlusses bilden muss, bevor es der Billigung zustimmt.87 b) Gesteigerte Prüfungsverantwortung des Aufsichtsrats 30
Generell richten sich nach herrschender Ansicht erhöhte Anforderungen an den Umfang und die Intensität der Überwachung durch den Aufsichtsrat, wenn sich die Gesellschaft oder auch nur ein einzelner Geschäftsbereich88 in einer wirtschaftlichen Krisensituation befindet.89 Dies gilt nicht nur für die Überwachung im Allgemeinen, sondern in besonderem Maße für die Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat.90 Bei schlechter Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage mag das Interesse des Vorstands groß sein, die wahre Situation des Unternehmens nicht offenkundig werden zu lassen und das bilanzielle Erscheinungsbild durch bilanzielle Maßnahmen zu optimieren. Nach vereinzelter Ansicht reicht dies bis zum Versuch des Managements, die wahre Situation des Unternehmens bewusst zu verschleiern.91 Derartige Maßnahmen sind, sofern sie sich im Rahmen des vom Gesetz eröffneten Rahmens halten, als Bilanzpolitik oder sog. Bilanzkosmetik rechtmäßig und können im Einzelfall durchaus legitim sein. Hierzu zählen z.B. die Ausübung von Aktivierungs- oder Bewertungswahlrechten nach § 240 Abs. 3, § 248 Abs. 2 HGB92 oder die Änderung der bisherigen Abschreibungsmethode bzw. der Festlegung der Nutzungsdauer.93 Man wird allerdings erwarten müssen, dass sie vom Vorstand über die gesetzliche
87 Grigoleit/Zellner in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 171 Rz. 9; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 104; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 12; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 27; früher bereits RG v. 4.10.1918 – II 498/17, RGZ 93, 338, 340. 88 Zutreffend Simon in FS Seibert, 2019, S. 847, 851. 89 BGH v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71, 82 – MPS; OLG Stuttgart v. 19.6.2012 – 20 W 1/12, AG 2012, 762, 763; OLG Hamburg v. 6.3.2015 – 11 U 222/13, AG 2015, 399, 401; KG v. 29.4.2021 – 2 U 108, 18, NZG 2021, 1358, 1361; M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 4 Rz. 95; Bürgers/Fischer in Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl. 2021, § 111 Rz. 6; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 304; Semler, Leitung und Überwachung der AG, 2. Aufl. 1996, S. 134 ff.; Spindler in BeckOGK/ AktG, § 111 Rz. 30 (Stand 1.10.2022); E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 27.14; a.A. Claussen, AG 1984, 20 ff.; kritisch auch Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG, 4. Aufl. 2020, § 111 Rz. 23 ff. 90 OLG Düsseldorf v. 22.11.2012 – I-6 U 18/12, AG 2013, 759, 762; OLG Stuttgart v. 15.3.2006 – 20 U 25/05, AG 2006, 379, 381; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 9. 91 Greiffenhagen in FS Ludewig, 1996, S. 303, 308; Richardt in Semler/v. Schenck/Wilsing, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 5. Aufl. 2021, § 10 Rz. 210; Beispiele bei Küting, DStR 1997, 84, 88 ff. 92 Siehe z.B. Küting, BB 2011, 2091, 2094; Richardt in Semler/v. Schenck/Wilsing, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 5. Aufl. 2021, § 10 Rz. 211; Rinker, Bilanzpolitik, Bilanzkosmetik, Bilanzfälschung, 2022, S. 26. 93 Rinker, Bilanzpolitik, Bilanzkosmetik, Bilanzfälschung, 2022, S. 43 ff.; 75 ff.
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Angabepflicht im Anhang nach § 284 Abs. 2 HGB94 hinaus gegenüber dem Aufsichtsrat erläutert werden.95 Spezifische Vorgaben lassen sich allerdings insoweit kaum formulieren. Der Aufsichtsrat muss, wenn ihm der Jahresabschluss vorgelegt wird, auch nicht generell, wenn das Unternehmen rote Zahlen schreibt, über die bloße Bilanzkosmetik hinausreichende kriminelle Maßnahmen des Vorstands vermuten. Aber er muss Warnsignale wie z.B. widersprüchliche Aussagen des Vorstands oder die deutlich verspätete Vorlage des Jahresabschlusses96 registrieren und darf bei seiner Prüfung des Jahresabschlusses die konkrete Krisensituation sowie ihre Ursachen nicht aus dem Auge verlieren und muss auf vom Vorstand vorgenommene bilanzpolitische Maßnahmen besonders achten.
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Während der Abschlussprüfer bei der Abschlussprüfung als Berufspflicht gemäß § 43 Abs. 4 WPO generell eine kritische Grundhaltung gegenüber dem Vorstand und dem von diesem aufgestellten Jahresabschluss oder Lagebericht einzunehmen hat,97 wäre es mit dem Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit, das das Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat prägt,98 nicht vereinbar, die kritische Grundhaltung auch zum festen Bestandteil der Sorgfaltspflicht des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder zu erklären. Ergeben sich jedoch aus dem Jahresabschluss oder dem Lagebericht Anhaltspunkte für Pflichtwidrigkeiten, darf der Aufsichtsrat nicht mehr uneingeschränkt auf die Richtigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Unterlagen vertrauen und sich lediglich auf die Prüfung der Plausibilität der Darstellung des Vorstands beschränken, vielmehr zwingen die Verdachtsmomente dazu, weitergehende Überlegungen anzustellen und umgehend das Gespräch mit dem Abschlussprüfer aufzunehmen.99
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Vom Aufsichtsrat einer prüfungspflichtigen AG wird im Rahmen der Abschlussprüfung nach allgemeiner Ansicht weder die Durchführung von eigenen Stichproben noch von eigenen Untersuchungen erwartet.100 Dem ist im Grundsatz zuzustimmen.
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94 Meyer in Staub, HGB, 6. Aufl. 2021, § 284 HGB Rz. 50; Haferkorn/Diemers in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 284 HGB Rz. 39. 95 Siehe auch Richardt in Semler/v. Schenck/Wilsing, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 5. Aufl. 2021, § 10 Rz. 213. 96 Siehe z.B. BGH v. 7.11.1977 – II ZR, AG 1978, 106, 108 – BONA; BGH v. 4.7.1977 – II ZR 150/75, WM 1977, 1221, 1225. 97 Chekushina/Loth, NZG 2014, 85, 86 ff.; siehe dazu jüngst auch Hommelhoff, BB 2020, 2284, 2285; Marten, DB 2022, 69 ff. 98 Hopt/Roth in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 Rz. 171; siehe auch OLG Düsseldorf v. 23.6.2008 – 9 U 22/08, AG 2008, 666. 99 Ebenso Hennrichs, DB 2021, 268, 278; früher bereits Greiffenhagen in FS Ludewig, 1996, S. 303, 308; siehe z.B. auch Böhmer, Rechnungslegung und ihre Anforderungen an die Unternehmensorganisation, 2020, S. 195 ff. 100 Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 171 Rz. 11; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 7. Aufl. 2020, Rz. 505; E. Vetter in Großkomm/ AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 125; einschränkend wohl Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 23.
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Ein Vorbehalt besteht jedoch insoweit, dass Anhaltspunkte oder Verdachtsmomente vorliegen, die die Richtigkeit einzelner Bilanzposten des Jahresabschlusses oder die Ordnungsmäßigkeit des Erstellungsprozesses selbst in Frage stellen. 34
Vagen Gerüchten über die Qualität des Jahresabschlusses muss der Aufsichtsrat allerdings nicht nachgehen. Thomas Möllers101 hat im Zusammenhang mit dem Wirecard-Fall darauf hingewiesen, dass jedoch auch Gerüchte im Kapitalmarktrecht relevant sein können.102 Enthält ein Gerücht einen ausreichend präzis beschriebenen Tatsachenkern, treffen den Vorstand im Rahmen der Ad-hoc-Publizität Handlungspflichten.103 Entsprechendes ist für die Organpflichten des Aufsichtsrats zur (zunächst) internen Klärung von Gerüchten, die den Jahresabschluss und die Verantwortung des Vorstands betreffen, anzunehmen. Bestehen zu einem Gerücht konkrete Anhaltspunkte oder liegen substantiierte Vorwürfe vor, die auf vernünftigen und nachvollziehbaren Überlegungen beruhen, ist der Aufsichtsrat verpflichtet, aktiv zu werden und sich um eine Klärung zu bemühen. Dies gilt auch dann, wenn ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers vorliegt.104 Joachim Hennrichs105 hat beispielhaft auf die Versäumnisse des Überwachungsorgans in den historischen Fällen ComROAD und Parmalat hingewiesen. In beiden Fällen lagen bis zum Zusammenbruch der Unternehmen uneingeschränkte Bestätigungsvermerke des Abschlussprüfers vor. Auch im Fall Wirecard blieb der Aufsichtsrat trotz der öffentlichen substantiierten Vorwürfe über falsche Bilanzen über mehrere Jahre hinweg untätig, bis er eine Sonderprüfung durch einen Wirtschaftsprüfer in Auftrag gegeben hat.106
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Der Aufsichtsrat wird bei Auffälligkeiten abhängig von der konkreten Situation im Sinne einer Eskalationsskala über den Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Instrumente und Maßnahmen zu entscheiden haben.107 Beginnend mit der direkten Aufforderung an den Vorstand zur Stellungnahme zu den Gerüchten. Dazu bedarf es nicht notwendigerweise eines Beschlusses des Aufsichtsrats. Vielmehr ist gemäß § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG auch jedes Aufsichtsratsmitglied berechtigt, eine Berichterstattung an den Aufsichtsrat zu verlangen. Darüber hinaus kommt für vertiefte Untersuchungen eine Aufforderung oder ein Auftrag an den Prüfungsausschuss in Betracht, damit dieser sich der Sache annimmt. Im Regelfall ergibt sich seine Zuständigkeit und die Möglichkeit das besondere Einsichts- und Prüfungsrecht nach § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG zu nutzen bereits aus dem Beschluss des Aufsichtsrats über die
101 Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 493 ff. 102 Siehe dazu z.B. Fleischer/Schmolke, AG 2007, 841, 846; Klöhn in Klöhn, MAR, 2019, Art. 7 MAR Rz. 60; ablehnend z.B. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 7 MAR Rz. 36. 103 BaFin-Emittenten-Leitfaden, Modul C. I.2.1.4.4, S. 14 und 39. 104 OLG Düsseldorf v. 22.11.2012 – I-6 U 18/12, AG 2013, 759, 762; Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 888; siehe auch Schulze-Osterloh, ZIP 1998, 2129, 2134. 105 Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 888. 106 Siehe z.B. Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 480 ff.; Schreiber, Süddeutsche Zeitung v. 27.11.2020; Wüstemann, comply 2020, 54, 56. 107 Siehe auch Semler, Leitung und Überwachung der AG, 2. Aufl. 1996, Rz. 247.
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Einsetzung des Prüfungsausschusses. Dieses Recht steht nach § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG, sofern keine Delegation erfolgt ist, nur dem Aufsichtsrat, nicht aber einem Ausschuss oder einem einzelnen Aufsichtsratsmitglied zu.108 Bei Befassung des Prüfungsausschusses kann nicht nur die konzentrierte Fachkompetenz seiner Mitglieder genutzt werden, auch die Vertraulichkeit der Untersuchung lässt sich eher im Ausschuss als im Aufsichtsratsplenum gewährleisten. Ob allerdings das Fragerecht, das den einzelnen Ausschussmitgliedern in der börsennotierten AG gemäß § 107 Abs. 4 Satz 4 AktG unmittelbar gegenüber den Leitern der Zentralbereiche Rechnungslegung, Controlling, Revision zusteht und das über den Ausschussvorsitzenden wahrzunehmen ist,109 hilfreich ist, hängt vom konkreten Einzelfall ab. Sofern sich der Verdacht gegen den Vorstand richtet, kommt es wegen der gleichzeitigen Vorlage der Antwort an den Vorstand kaum in Betracht. Letzte Stufe von Maßnahmen des Aufsichtsrats ist die gezielte eigene Untersuchung im Wege der Beauftragung externer Sachverständiger gemäß § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG.110 2. Rolle des Prüfungsausschusses a) Vorprüfung des Jahresabschlusses Die meisten größeren Gesellschaften verfügen über einen Prüfungsausschuss. Er ist seit dem FISG im Jahre 2021 gemäß § 107 Abs. 4 Satz 1 AktG bei public interest entities i.S.v. § 316a Satz 2 HGB und damit bei allen börsennotierten Gesellschaften eine zwingende Einrichtung,111 nachdem seine Einrichtung vom Deutschen Corporate Governance Kodex bereits seit dessen erstmaliger Bekanntmachung im Jahre 2002 empfohlen worden war.112 Die Funktion des Prüfungsausschusses ist zu Recht als Schlüsselrolle bei der Bilanzkontrolle charakterisiert worden.113 Seine Aufgaben sind in § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG beschrieben, nämlich Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, der Wirksamkeit des internen Kontrollsystems, des Risikomanagementsystems und des internen Revisionssystems sowie der Abschlussprüfung, insbesondere der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers die Qualität der Abschlussprüfung und der vom Abschlussprüfer zusätzlich erbrachten Leistungen. Ihm obliegt damit typischerweise nicht nur die Überwachung des gesamten Prozesses der Rechnungslegung,114 sondern auch die Vorprüfung des Jahresabschlusses und Lagebe-
108 Dittmar, NZG 2014, 210, 211, Habersack in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 83; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 111 Rz. 405. 109 Siehe dazu z.B. Bost, NZG 2021, 865, 866 ff.; E. Vetter, AG 2021, 584, 585 ff. 110 Siehe dazu z.B. Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 107 Rz. 46; Reichert/Ott, NZG 2014, 241, 248; M. Roth, NZG 2022, 53, 58; Spindler in BeckOGK/AktG, § 107 Rz. 171 (Stand: 1.10.2022); E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 130; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 763. 111 Siehe dazu z.B. Harnacke, Wpg 2021, 1093; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 107 Rz. 42. 112 Ziffer 5.3.2 Deutscher Corporate Governance Kodex, Fassung v. 26.2.2002. 113 Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 889; van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484, 492; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 26. 114 M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 4 Rz. 158; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 766.
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richts gestützt auf den Prüfungsbericht des Abschlussprüfers.115 Dabei wird der Prüfungsausschuss im Regelfall und jedenfalls dann, wenn sich die Gesellschaft in einer kritischen Lage befindet, bereits frühzeitig aktiv werden, indem er die Aufstellung des Jahresabschlusses durch den Vorstand und die Prüfung durch den Abschlussprüfer überwachend begleitet.116 b) Halbjahresberichte als besondere Erkenntnisquelle 37
Im Zusammenhang mit der Vorprüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts ist der Halbjahresbericht gemäß § 115 WpHG zu nennen, der einen verkürzten Abschluss und einen verkürzten Zwischenlagebericht enthält117 und der eine feste Verpflichtung der börsennotierten Gesellschaft ist. Ihm kommt im Hinblick auf die möglichst frühzeitige Sensibilisierung der Mitglieder des Aufsichtsrats118 und speziell der Mitglieder des Prüfungsausschusses eine besondere Bedeutung zu. Der Halbjahresbericht ist als Kapitalmarktinformationsinstrument nicht Bestandteil der Rechnungslegung und unterliegt auch nicht der Prüfung durch den Aufsichtsrat gemäß § 170 Abs. 1, § 171 Abs. 1 AktG.119 Gleichwohl kann nicht zweifelhaft sein, dass die Berichte nicht zuletzt wegen ihrer – wenn auch nicht rechtlich bindenden – aber faktisch präjudizierenden Wirkung für den Jahresabschluss120 sowie der nicht zu leugnenden Kapitalmarktrelevanz – der Überwachung durch den Aufsichtsrat nach § 111 Abs. 1 unterliegen.121 Im Rahmen der Ausschusssitzungen erfolgt in vielen Unternehmen unabhängig davon, ob auch eine prüferische Durchsicht durch den Abschlussprüfer i.S.v. § 115 Abs. 5 Satz 1 WpHG stattfindet, die Behandlung der Halbjahresberichte in dessen Beisein.122 Da die Rechnungslegungsmethoden zwischen Jahresabschluss und Zwischenabschluss übereinstimmen, werden dabei zwangsläufig auch bereits die Bilanzierungs- und Bewertungsentscheidungen des Vorstands sowie eventuelle Weichenstellungen der Rechnungslegung erörtert, die mit hoher Wahr115 Carl in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 3 Rz. 259. 116 M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 4 Rz. 108; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 34; Luther in Schoppen, Corporate Governance, 2015, S. 157, 159; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 Rz. 50. 117 Störk/Küster/Koch in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2017, G Rz. 65. 118 Siehe dazu z.B. auch Mülbert, ZHR 185 (2021), 2, 12. 119 Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 22; Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 115 WpHG Rz. 13; Maushake, Audit Committee, 2009, S. 445; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 Rz. 32. 120 Kupsch in FS Scherrer, 2004, S. 245, 254. 121 Fuchs, NZG 2016, 1015, 1016; Habersack in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 114; Huwer, Der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats, 2008, S. 206; Rabenhorst in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 59.12; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 765; siehe auch Arbeitskreis „Externe und Interne Überwachung der Unternehmung“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., DB 2000, 2281, 2284. 122 Siehe auch Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1167; Luther in Schoppen, Corporate Governance, 2015, S. 157, 159; Scheffler, ZGR 2004, 236, 246, 250; E. Vetter ZGR 2010, 751, 763.
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scheinlichkeit später auf den Jahresabschluss durchschlagen.123 Diese besonderen unterjährigen Erkenntnisse des Prüfungsausschusses, über die er das Aufsichtsratsplenum nach § 107 Abs. 3 Satz 8 AktG zu unterrichten hat, gilt es bei der Vorprüfung des Jahresabschlusses zu berücksichtigen. c) Berichterstattung des Prüfungsausschusses im Aufsichtsratsplenum Der Prüfungsausschuss hat dem Aufsichtsratsplenum über die von ihm durchgeführte Vorprüfung des Jahresabschlusses sowie das Ergebnis der Prüfung der mit dem Abschlussprüfer vereinbarten Prüfungsschwerpunkte zu berichten und eine Beschlussempfehlung vorzulegen.124 Diese Berichterstattung geht deutlich über die Berichterstattung nach § 107 Abs. 4 Satz 8 AktG hinaus.125 Sie muss durch den Prüfungsausschuss notwendigerweise in Textform126 sowie mit ausreichendem zeitlichem Vorlauf und in einer inhaltlichen Tiefe und Verständlichkeit erfolgen, dass auch den ausschussfremden Aufsichtsratsmitgliedern aufgrund ihres Studiums des Jahresabschlusses, des Prüfungsberichts des Abschlussprüfers und des Berichts des Prüfungsausschusses ein eigenes Urteil über den Jahresabschluss möglich ist.127 Eine lediglich mündliche Berichterstattung des Prüfungsausschusses in der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats, die als physische Sitzung durchgeführt werden sollte (siehe Rz. 45), trägt der Bedeutung der Aufgabe des Aufsichtsrats und der individuellen Verantwortung der Aufsichtsratsmitglieder zur Prüfung des Jahresabschlusses gemäß § 170 Abs. 1, § 171 Abs. 1 AktG keinesfalls ausreichend Rechnung. Vor diesem Hintergrund sollte in § 171 Abs. 1 AktG geregelt werden, dass die Bilanzsitzung des Aufsichtsrates als physische Sitzung stattzufinden und die Berichterstattung des Prüfungsausschusses über seine Prüfung des Jahresabschlusses in Textform zu erfolgen hat.
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Die Unternehmenspraxis entspricht in vielen Unternehmen nicht den genannten Anforderungen an die Berichterstattung des Prüfungsausschusses. In zahlreichen Fällen findet die Ausschusssitzung infolge des engen Zeitkorsetts nur einen Tag vor der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats statt.128 Damit dürfte eine angemessene Information
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123 Fischbach, Der Bilanzprüfungsausschuss des Aufsichtsrats und seine Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer, 2003, S. 203; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 170 Rz. 50; E. Vetter, ZGR 2010, 751, 763. 124 Siehe dazu E. Vetter in FS Grunewald, 2020, S. 1175, 1188 ff. 125 Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 7. Aufl. 2020, Rz. 788; E. Vetter in FS Grunewald, 2020, S. 1175, 1188 ff. 126 Hommelhoff, BB 1998, 2567, 2573; Hopt/Roth in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 519; E. Vetter in FS Grunewald, 2020, S. 1175, 1190; siehe auch Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 107 Rz. 64; a.A. z.B. Carl in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 3 Rz. 381; Hoffmann-Becking in Münchener Handbuch AG, 5. Aufl. 2020, § 32 Rz. 49; Selter, Die Beratung des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder, 2014, Rz. 412. 127 Hopt/Roth in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 107 Rz. 519 sprechen von einem Bericht mit ca. 20–30 Seiten. 128 Siehe z.B. Aufsichtsratsbericht Allianz SE v. 3.3.2022; Bayerische Motoren Werke AG v. 10.3.2021; Aufsichtsratsbericht BASF SE v. 23.2.2022; Aufsichtsratsbericht RWE AG v. 9.3.2022; Aufsichtsratsbericht Siemens AG v. 2.12.2021; Aufsichtsratsbericht Vonovia SE v. 17.3.2022.
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der übrigen Aufsichtsratsmitglieder mit ausreichendem zeitlichem Vorlauf und in Textform ausgeschlossen sein. Jedenfalls ist eine ordentliche Vorbereitung auf die vom Aufsichtsratsplenum in der Bilanzsitzung zu treffende Entscheidung über die Billigung des Jahresabschlusses, soweit es die nicht dem Prüfungsausschuss angehörenden Aufsichtsratsmitglieder anbetrifft, nicht jedenfalls nicht in angemessenem Umfang möglich. Der zwingenden gesetzlichen Vorgabe zur Prüfung und Billigung des Jahresabschlusses durch das Aufsichtsratsplenum (§ 107 Abs. 3 Satz 7, § 171 AktG) wird diese Praxis keinesfalls gerecht und es drängt sich die Frage auf, ob der Jahresabschluss – wenn auch nicht in formeller Hinsicht aber doch faktisch – letztlich nicht vom Prüfungsausschuss festgestellt wird.129 d) Besondere Expertise des Prüfungsausschusses 40
Es steht außer Zweifel, dass der Prüfungsausschuss zur Steigerung der Qualität der Bilanzkontrolle durch den Aufsichtsrat in der Regel wesentlich beitragen kann. Grund hierfür ist unter anderem die dort regelmäßig vorhandene und bei Unternehmen von öffentlichem Interesse teilweise zwingend geforderte hohe Sachkompetenz und das Erfahrungswissen der Ausschussmitglieder speziell auf dem Gebiet der Rechnungslegung und Abschlussprüfung. Nach § 100 Abs. 5 AktG müssen dem Prüfungsausschuss sowohl ein Mitglied mit Sachverstand auf dem Gebiet der Rechnungslegung als auch ein weiteres Mitglied mit Sachverstand auf dem Gebiet der Abschlussprüfung angehören. Diese Kompetenzen reichen deutlich über die Kenntnisse hinaus, über die das einfache Aufsichtsratsmitglied als übliche Mindestkenntnisse130 verfügen muss. Ob bei börsennotierten Gesellschaften stets von einer entsprechenden besonderen Expertise im Prüfungsausschuss auf den beiden genannten Gebieten ausgegangen werden kann, wird vereinzelt in Frage gestellt.131 Jedenfalls sind die Sanktionen bei Missachtung der Anforderungen gering.
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Aber nicht nur die Sachkompetenz der Ausschussmitglieder trägt zur Qualität der Bilanzkontrolle bei, sondern auch die laufende Berichterstattung des Vorstands im Prüfungsausschuss in Verbindung mit dem regelmäßigen Informationsaustausch mit dem Abschlussprüfer, dem eine Schlüsselrolle zukommt.132 3. Information des Aufsichtsrats durch den Abschlussprüfer über überwachungsrelevante Beobachtungen
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Von großer Bedeutung für die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats im Allgemeinen wie auch für die Prüfung des Jahresabschlusses und Lageberichts im Besonderen ist die Berichtspflicht des Abschlussprüfers gegenüber dem Aufsichtsrat. Ihr besonderer Wert resultiert daraus, dass der Aufsichtsrat die Informationen auf direktem Weg 129 130 131 132
Siehe auch Börsig/Löbbe in FS Hoffmann-Becking 2013, S. 125, 148. BGH v. 15.1.1982 – II ZR 27/82, BGHZ 85, 293, 295 – Hertie. Siehe auch Mock in FS E. Vetter 2019, S. 461, 464. Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 889; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 26; informativ z.B. Luther in Schoppen, Corporate Governance, 2015, S. 157, 159.
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aus einer vom Vorstand unabhängigen Quelle erhält. Gesetzliche Rede- und Warnpflichten des Abschlussprüfers ergeben sich aus § 321 Abs. 1 Satz 3 HGB und Art. 7 Abs. 1 Abschlussprüfer-VO. Ihnen ist als Element der ex-post-Kontrolle133 im Prüfungsbericht des Abschlussprüfers in einem gesonderten Abschnitt des Prüfungsberichts als „warnende Stimme“134 Rechnung zu tragen.135 Bei bestandsgefährdenden oder die Entwicklung beeinträchtigenden Tatsachen sowie bei schwerwiegenden Verstößen der gesetzlichen Vertreter kann in dringenden Fällen auch schon vor Beendigung der Abschlussprüfung eine Berichterstattung unmittelbar an den Aufsichtsratsvorsitzenden erforderlich sein.136 Die Empfehlung in D.8 Deutscher Corporate Governance Kodex geht über die bloße ex-post-Kontrolle hinaus, indem sie die laufende Überwachung durch den Aufsichtsrat im Sinne eines Frühwarnsystems stärkt.137 Danach soll mit dem Abschlussprüfer vereinbart werden, dass er dem Aufsichtsrat oder dem Prüfungsausschuss unverzüglich und nicht erst nach erfolgter Abschlussprüfung über alle für die Überwachungsund Prüfungsaufgaben wesentlichen Feststellungen und Vorkommnisse berichtet, die ihm während der Durchführung der Abschlussprüfung bekannt geworden sind.138 Die Empfehlung zu dieser vertraglichen Offenlegungspflicht genießt bei den börsennotierten Gesellschaften einen hohen Befolgungsgrad;139 andernfalls müsste die Offenlegungspflicht gesetzlich begründet werden. Sie eröffnet dem Aufsichtsrat oder dem Prüfungsausschuss die Möglichkeit, frühzeitig und losgelöst von der Beendigung der Prüfung des Jahresabschlusses und weitgehend frei von dem damit regelmäßig verbundenen engen Zeitrahmen Hinweisen oder Auffälligkeiten nachzugehen und gegebenenfalls gemäß § 111 Abs. 2 Satz und 2 AktG eingehende eigene Untersuchungen sowie Gegenmaßnahmen einzuleiten. Praktiker halten unabhängig davon
133 Der Gesetzgeber ordnet § 321 Abs. 1 Satz 3 HGB gleichwohl dem Frühwarnsystem zu, siehe RegE Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungsund Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), BT-Drucks. 19/24181, S. 186; ebenso Merkt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, § 321 Rz. 2; Habersack/Schürnbrand in Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, § 321 Rz. 22; Justenhoven/Deicke in Beck BilKomm, 13. Aufl. 2022, § 321 HGB Rz. 34. 134 BGH v. 15.12.1954 – II ZR 322/53, BGHZ 16, 17, 25. 135 Justenhoven/Deicke in Beck BilKomm, 13. Aufl. 2022, § 321 HGB Rz. 65; Mylich in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 321 HGB Rz. 52. 136 Habersack/Schürnbrand in Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, § 321 Rz. 22; Mylich in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 321 HGB Rz. 39; Plendl/Kling in WP Handbuch, 15. Aufl. 2017, M Rz. 259. 137 Habersack/Schürnbrand in Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, § 321 Rz. 34; Schindler/Haußer, WPg 2012, 233. 244; siehe auch IDW Prüfungsstandard: Zur Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Abschlussprüfung (IDW PS 210) abgedruckt WPg 2006, 1422 ff. 138 Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/von Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl. 2021, D.9 Rz. 7; E. Vetter/Peters in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, DCGK D.9 Rz. 3. 139 von Werder/Danilov/Schwarz, DB 2021, 2097, 2102.
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den engen Kontakt zwischen Aufsichtsratsvorsitzendem und Abschlussprüfer in jedem Fall für unumgänglich.140 44
Ungeachtet des hohen Befolgungsgrades der Kodex-Empfehlung zur Vereinbarung der frühzeitigen Unterrichtung des Aufsichtsrats durch den Abschlussprüfer ist zur generellen Stärkung des Frühwarnsystems insoweit eine gesetzliche Regelung geboten, um dadurch auch die nicht börsennotierte prüfungspflichtige Kapitalgesellschaft zu erfassen und bei ihr die laufende Kontrolle des Vorstands und die Prüfung des Jahresabschlusses zu stärken. 4. Mündliche Berichterstattung des Abschlussprüfers in der Bilanzsitzung
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Wichtige Informationen für die Prüfung durch den Aufsichtsrat, die über die vorgelegten schriftlichen Unterlagen hinausreichen, können sich schließlich aus der mündlichen Berichterstattung des Abschlussprüfers in der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats141 gemäß § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG und der anschließenden Diskussion mit der Möglichkeit zur Klärung offener Fragen ergeben.142 Dies setzt voraus, dass die persönliche Berichterstattung des Abschlussprüfers im Plenum auch tatsächlich stattfindet, was in der Praxis überwiegend aber nicht in jedem Fall gewährleistet ist143 und weder gesetzlich zwingend ist noch durch den Deutschen Corporate Governance Kodex empfohlen wird. Hat der Abschlussprüfer an der Sitzung des Prüfungsausschusses teilgenommen und dort bereits über das Ergebnis seiner Prüfung des Jahresabschlusses sowie über wesentliche Schwächen des internen Kontroll- und Risikomanagementsystems, soweit sie den Rechnungslegungsprozess betreffen, berichtet, besteht nämlich gemäß § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG keine gesetzliche Verpflichtung mehr an der Sitzung des Aufsichtsratsplenums ebenfalls teilzunehmen und zu berichten.144 Damit müssen sich die ausschussfremden Aufsichtsratsmitglieder in der Bilanzsitzung, wenn der Aufsichtsrat nicht die doppelte Berichterstattung durch den Abschlussprüfer veranlasst, neben dessem schriftlichen Prüfungsbericht mit dem – in den meisten Fällen – mündlichen Bericht des Prüfungsausschusses gemäß § 107 Abs. 3 140 Semler, Erinnerungen an die praktische Tätigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds, 2007, S. 57. 141 Zum Umfang der Berichterstattung siehe Arbeitskreis „Externe und Interne Überwachung der Unternehmung“ der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., DB 2000, 2281, 2284. 142 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1167, 1168; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 34; Scheffler, AG 1995, 207, 209; Theisen, Information und Berichterstattung des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2007, S. 41; generell BGH v. 15.1.1982 – II ZR 27/82, BGHZ 85, 293, 298 – Hertie. 143 Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 50 ff.; Nonnenmacher in FS Ballwieser, 2014, S. 547, 561; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 144; zu weitgehend Neuling, AG 2002, 610, 613, der in diesem Fall von der nichtigen Feststellung ausgehen will. 144 Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 52; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 131; Richardt in Semler/v. Schenck/Wilsing, Aufsichtsratshandbuch, 5. Aufl. 2021, § 10 Rz. 127; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 137.
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Satz 8 AktG und damit mit Informationen aus zweiter Hand begnügen,145 ohne dass die Möglichkeit zu direkten Rückfragen an die Autoren des Prüfungsberichts selbst besteht.146 Im Schrifttum wird von verschiedenen Autoren die persönliche Teilnahme und eine nach dem jeweiligen Adressatenkreis angepasste differenzierte Berichterstattung des Abschlussprüfers147 sowohl im Prüfungsausschuss als auch im Aufsichtsratsplenum vorgeschlagen,148 was bei börsennotierten Gesellschaften zumeist der tatsächlichen Übung entspricht.149 Wollen sich die ausschussfremden Aufsichtsratsmitglieder nicht alleine auf den Bericht des Prüfungsausschusses beschränken lassen, sondern die Möglichkeit der persönlichen Berichterstattung des Abschlussprüfers und seiner direkten Befragung im Sinne einer angemessenen Information gemäß § 116 Satz 1, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nutzen, müssen sie auf die mündliche Berichterstattung des Abschlussprüfers in der Bilanzsitzung drängen.150 Anstelle der Abhängigkeit von der Initiative des Aufsichtsrats sollte § 171 Abs. 2 AktG zwingend die Berichterstattung des Abschlussprüfers in der Sitzung des Prüfungsausschusses und des Aufsichtsratsplenums anordnen. Der Gesetzgeber beabsichtigt mit der direkten Berichterstattungspflicht des Abschlussprüfers in der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats den einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern die Möglichkeit zu Rückfragen und zu vertieften Erörterungen mit dem Abschlussprüfer zu eröffnen.151 Diese Möglichkeit wird in der Praxis nur unzureichend genutzt,152 was möglicherweise an Form und Inhalt der Berichterstattung liegt.153 Der Gesetzeszweck von § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG lässt sich im Übrigen nur dann angemessen und effektiv verwirklichen, wenn die Bilanzsitzung als physische Sitzung stattfindet. Eine virtuelle Aufsichtsratssitzung kann weder die Atmosphäre für eine rege Interaktion mit dem Abschlussprüfer herstellen noch wird sie die Unmittelbarkeit des Informationsaustauschs erreichen, wie das im direkten Gespräch bei persön-
145 Ekkenga in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2012, § 171 Rz. 52; Huwer, Der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats, 2008, S. 124; Maushake, Audit Committee, 2009, S. 519; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 148. 146 In der Praxis wird vom Fragerecht in der Bilanzsitzung jedoch wenig Gebrauch gemacht, Nonnenmacher, WPg Sonderheft 2001, S. 15, 16. 147 Fischbach, Der Bilanzprüfungsausschuss des Aufsichtsrats und seine Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer, 2003, S. 244; Theisen in Potthoff/Trescher, Das Aufsichtsratsmitglied, 6. Aufl. 2003, Rz. 1561; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 145. 148 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1169; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 131; Kropff in FS Müller, 2001, S. 481, 499; Lutter, AG 2008, 1, 3; Scheffler, WPg 2002, 1289, 1300; Velte, AG 2009, 102, 108; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 145, 148. 149 Maushake, Audit Committee, 2009, S. 519. 150 Siehe z.B. E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 148. 151 Kropff in FS Müller, 2001, S. 481, 499; Rürup in FS Budde, 1995, S. 543, 547; Theisen in Potthoff/Trescher, Das Aufsichtsratsmitglied, 6. Aufl. 2003, Rz. 1562; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 148. 152 Nonnenmacher, WPg Sonderheft 2001, S. 15, 16. 153 Siehe z.B. nur Köstler, WPg Sonderheft 2001, S. 20, 21.
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licher Anwesenheit der Beteiligten möglich ist.154 Die virtuelle Bilanzsitzung des Aufsichtsrats wird ungeachtet der technologischen Entwicklung der elektronischen Kommunikationsmittel der Bedeutung der Abschlussprüfung und der Feststellung des Jahresabschlusses, die der Gesetzgeber bewusst dem Plenarvorbehalt von § 107 Abs. 3 Satz 7 AktG unterworfen hat, nicht gerecht.155 Deshalb sollte die Bilanzsitzung des Aufsichtsrats in § 171 Abs. 1 AktG zwingend als Sitzung in Präsenz vorgesehen werden. Angesichts der im Aufsichtsratsplenum in vielen Gesellschaften nur unzureichend ausgebildeten Diskussionskultur bei der Erörterung des vom Abschlussprüfer und dem Prüfungsausschuss geprüften Jahresabschlusses156 sollte darüber hinaus der Deutsche Corporate Governance Kodex empfehlen, im Bericht des Aufsichtsrats an die Hauptversammlung anzugeben, ob die Aufsichtsratsmitglieder zum Jahresabschluss auch Fragen an den Abschlussprüfer gestellt haben. Die verbreitete Formulierung „der Abschlussprüfer hat für Fragen der Aufsichtsratsmitglieder zur Verfügung gestanden“157 deutet eher darauf hin, dass das Fragerecht im Plenum nicht aktiv wahrgenommen wird.158 Über die Gründe dieser Zurückhaltung, die Zweifel an der individuellen Verantwortung der Aufsichtsratsmitglieder begründen können, soll hier nicht spekuliert werden. 5. Individuelle Verantwortung des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds 47
Die Prüfung von Jahresabschluss und Lagebericht stellt nicht nur eine organschaftliche Aufgabe des Aufsichtsrats dar, sondern das einzelne Aufsichtsratsmitglied ist verpflichtet, die Unterlagen selbst sorgfältig und gewissenhaft durchzuarbeiten. Dazu hat es, wie z.B. § 25 d Abs. 1 Satz 1 KWG sektorspezifisch für beaufsichtigte Unternehmen ausdrücklich bestimmt und wie es Grundsatz 12 Deutscher Corporate Governance Kodex generell zum Ausdruck bringt, die notwendige Zeit aufzubringen.159 Im Fall der Erteilung eines uneingeschränkten Bestätigungsvermerks und wenn auch der Prüfungsausschuss keine Bedenken äußert, wird sich das einzelne Aufsichtsratsmitglied auf die Prüfung der inneren Plausibilität der vorgelegten Unterlagen be154 Ebenso z.B. Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, § 110 Rz. 20; Karrenbrock/Becker-Inglau, NZG 2020, 921, 924; Neuling, AG 2002, 610, 611; Spindler in BeckOGK/AktG, § 108 Rz. 66 (Stand 1.7.2022). 155 Neuling, AG 2002, 610, 613, 614; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 28.54; siehe auch Miettinen/Victoria Villeda, AG 2007, 346, 351; Reichard/Kaubisch, AG 2013, 150, 155; a.A. Breidenich, Organisation der Aufsichtsratsarbeit, 2020, S. 109; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 127; Kupfer/Nahrgang, ZIP 2021, 678, 682; Richardt in Semler/v. Schenck/Wilsing, Arbeitshandbuch des Aufsichtsrats, § 10 Rz. 128; Spindler in BeckOGK/AktG, § 108 Rz. 61 (Stand 1.10.2022); vgl. auch Habersack in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 110 Rz. 45; Velte, Wpg 2015, 482, 491. 156 Siehe z.B. Nonnenmacher, WPg Sonderheft 2001, S. 15, 16. 157 Siehe z.B. Aufsichtsratsbericht Deutsche Bank AG v. 4.3.2022; Aufsichtsratsbericht e.on SE v. 15.3.2022; Aufsichtsratsbericht thyssenkrupp AG v. 16.11.2022. 158 Zum typischen Fragebedarf siehe z.B. Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1169; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 34. 159 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1167, 1167; Rürup in FS Budde, 1995, S. 543, 551; Scheffler, AG 1995, 207, 209.
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schränken können.160 Seiner Aufgabe wird es aber nur gerecht, wenn es sich nach sorgfältiger Lektüre ein eigenes Bild von den Aussagen im Jahresabschluss und Lagebericht macht.161 Keinesfalls darf es sich allein auf den erteilten Bestätigungsvermerk und den Bericht des Prüfungsausschusses verlassen und auf die eigene kritische Prüfung des Jahresabschlusses verzichten.162 Das Aufsichtsratsmitglied hat bei der Prüfung von Jahresabschluss und Lagebericht seine speziellen Kenntnisse einschließlich seiner persönlichen Lebenserfahrung sowie eigene Informationen über Risiken aus schwebenden Prozessen, die Beurteilung von Geschäftspartnern oder die Werthaltigkeit von Forderungen oder anderer Vermögenspositionen zu berücksichtigen, die es etwa durch die unterjährigen schriftlichen Berichte des Vorstands gemäß § 90 Abs. 1 Nr. 3 AktG und dessen mündliche Erläuterungen in den Sitzungen sowie durch die Beratungen im Aufsichtsrat oder auf andere Weise erlangt hat.163 Hierin unterscheidet sich die besondere Verantwortung des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds gegenüber der des Abschlussprüfers, denn diese Informationen sind, soweit sie vom Vorstand nicht zwangsläufig gemäß § 90 Abs. 4 Satz 2 AktG in Textform erstattet und damit vom Abschlussprüfer ausgewertet werden können, jedenfalls im Regelfall nicht umfassend in den Sitzungsprotokollen des Aufsichtsrats dokumentiert, sodass der Abschlussprüfer zu diesen speziellen Informationen mangels Dokumentation oder sonstigem Hinweis in der Regel keinen Zugang hat. Insoweit ist dem Aufsichtsratsmitglied ein anderer Blick als dem Abschlussprüfer eröffnet.164 Es hat eventuellen Widersprüchen in den Unterlagen, Abweichungen oder Auffälligkeiten gegenüber der bisherigen Berichterstattung durch Rückfragen an den Vorstand oder den Abschlussprüfer – etwa in der Bilanzsitzung – nachzugehen und notfalls sogar durch Veranlassung weiterer Prüfungshandlungen des Aufsichtsrats einschließlich der Einschaltung von Sachverständigen gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG165 eine Klärung der offenen Fragen herbeizuführen.166 Bis zur Klärung der offenen Fragen scheidet die Billigung des Jahresabschlusses durch den 160 Siehe auch OLG Karlsruhe v. 29.4.2019 – 15 U 138/16, juris, Rz. 478 – Gelatine; siehe auch Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1167, 1168; Hennrichs in FS Hommelhoff, 2012, S. 383, 397; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 9; Rürup in FS Budde, 1995, S. 543, 550; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 47. 161 OLG Düsseldorf v. 6.11.2014 – I-6 U 16/14, AG 2015, 434, 436; M. Arnold in Goette/Arnold, Handbuch Aufsichtsrat, 2021 § 4 Rz. 104; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/ AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 98 und 104; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, 7. Aufl. 2020, Rz. 505. 162 Ebenso Hennrichs in FS Hommelhoff, 2012, S. 383, 399; W. Müller, WPg Sonderheft 2001, S. 131, 132. 163 BGH v. 7.11.1977 – II ZR – BONA, AG 1978, 106, 108; ADS, 6. Aufl. 1997, § 171 Rz. 20; Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 171 Rz. 12; Forster in FS Kropff, 1997, S. 71, 76; Hennrichs, ZHR 174 (2010), 683, 690; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 171 Rz. 100; Nonnenmacher in FS Ballwieser, 2014, S. 547, 555; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 39. 164 Ebenso bereits W. Müller, WPg Sonderheft 2001, S. 131, 132. 165 Siehe dazu auch Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 496. 166 Buhleier/Krowas, DB 2010, 1165, 1167, 1168; Forster in FS Kropff, 1997, S. 71, 80; Hennrichs in FS Röhricht, 2005, S. 881, 887; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 9; Rürup in
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Aufsichtsrat und die Abgabe des Berichts an die Hauptversammlung nach § 171 Abs. 2 Satz 4 AktG aus.167 49
Gesteigerte Anforderungen richten sich dabei an den Vorsitzenden des Aufsichtsrats, der gemäß der Empfehlung D.5 Deutscher Corporate Governance Kodex, die über die gesetzlichen Berichtspflichten nach § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG hinausgeht, typischerweise in regelmäßigem Kontakt mit dem Vorstand stehen soll und hierdurch wesentlich schneller als die übrigen Aufsichtsratsmitglieder Anhaltspunkte für eventuelle Unregelmäßigkeiten wahrnehmen und danach gebotene weitere Überwachungsmaßnahmen veranlassen kann. Entsprechendes gilt für den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses, der im Regelfall außerhalb von Sitzungen ebenfalls – wenn auch nicht auf Basis einer Kodex-Empfehlung – engen Kontakt zum Vorstand, typischerweise zum Finanzvorstand, hat.168 6. Zwischenfazit
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Die Prüfung des Jahresabschlusses, des Lageberichts und der anderen Unterlagen stellt für den Aufsichtsrat als Kollegialorgan im Rahmen seiner organschaftlichen Amtspflichten in jedem Fall eine Kardinalaufgabe dar,169 der sich alle Aufsichtsratsmitglieder gemäß der Vorgabe in § 111 Abs. 6 AktG persönlich zu widmen haben. Die Prüfungsverantwortung darf wegen des ausdrücklichen Plenarvorbehalts in § 107 Abs. 3 Satz 7, § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG auch nicht zur vollständigen Entlastung des Aufsichtsratsplenums an einen Ausschuss delegiert werden; seine Rolle ist auf die Vorprüfung des Jahresabschlusses beschränkt.
V. Bekanntwerden der Fehlerhaftigkeit nach Feststellung des Jahresabschlusses 1. Nichtigkeit des Jahresabschlusses und Rechnungslegungspflicht 51
Stellt sich heraus, dass der Jahresabschluss der Gesellschaft fehlerhaft ist und unter einem Nichtigkeitsgrund i.S.v. § 256 AktG leidet und ist keine Heilung eingetreten, haben Vorstand und Aufsichtsrat unabhängig vom konkreten Nichtigkeitsgrund ihre Pflicht zur Erstellung und Vorlage eines wirksamen Jahresabschlusses nicht erfüllt.170
167 168 169 170
FS Budde, 1995, S. 543, 550; Selter, Die Beratung des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder, 2014, Rz. 624; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 127. Rürup in FS Budde, 1995, S. 543, 550. Henning in FS Böcking, 2021, S. 91, 93. E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 171 Rz. 17; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 1; ähnlich Drygala in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 171 Rz. 3. A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 90; Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 215; Ehmann in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 256 Rz. 16; Geist, DStR 1996, 306, 307; J. Koch in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 78; Jungius/Schmidt, DB 2012, 1697, 1698; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 43.
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Die Konsequenz aus diesem Befund steht außer Frage. Der Vorstand ist weiterhin zur Aufstellung eines wirksamen und fehlerfreien Jahresabschlusses verpflichtet,171 der dem Aufsichtsrat gemäß § 170 AktG zur Prüfung vorzulegen ist. Der Aufsichtsrat hat die Einhaltung dieser Pflicht durch den Vorstand zu überwachen. Diese Pflichten ergeben sich nicht nur aus § 111 Abs. 1 AktG, sondern auch unmittelbar aus der gemeinsamen Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat für die Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung, wie sie unter anderem in § 172 AktG zum Ausdruck kommt.172
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2. Minderschwere Fehler des Jahresabschlusses Ist der Jahresabschluss fehlerhaft und führt der Fehler gleichwohl nicht zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses, besteht weder für den Vorstand noch für den Aufsichtsrat hinsichtlich des festgestellten Jahresabschlusses eine Pflicht zum Tätigwerden, da der Jahresabschluss des betreffenden Geschäftsjahres ungeachtet des Fehlers seine Rechtswirkung entfalten kann. Sind z.B. Vermögenspositionen im Jahresabschluss irrtümlich zu hoch oder zu niedrig angesetzt aber in ihrer Höhe weniger gravierend, ist allerdings kaum vorstellbar, dass der Vorstand nach Kenntnis des Fehlers und nachdem eine entsprechende Thematisierung des Problems z.B. im Prüfungsausschuss oder Aufsichtsratsplenum erfolgt ist, vollkommen untätig bleibt. In der Regel wird der Vorstand den Fehler, sofern er im Zeitpunkt seiner Entdeckung fortbesteht, in laufender Rechnung173 oder im Abschluss des Folgejahres korrigieren.174 Für den Aufsichtsrat ergibt sich insoweit unterjährig keine unmittelbare Pflicht zum Tätigwerden. Sofern der andauernde Fehler jedoch nicht behoben werden sollte, müsste der Vorstand befürchten, dass der Abschlussprüfer den Bestätigungsvermerk für den Jahresabschluss des folgenden Jahres einschränkt oder gar verweigert und der Aufsichtsrat die Billigung des Jahresabschlusses in der nächsten Bilanzsitzung ablehnt.
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Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen ein festgestellter und trotz seiner Fehlerhaftigkeit wirksamer Jahresabschluss gleichwohl geändert werden kann, soll hier nicht weiter vertieft werden.175 Entscheidend ist allerdings, dass der Vor-
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171 Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 56; W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 369. 172 ADS, 6. Aufl. 1997, § 172 AktG Rz. 38; Kropff in FS Budde, 1995, S. 341, 357; Lutter in FS Helmrich, 1994, S. 685, 693; W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 368. 173 Breker/Kuhn, WPg 2007, 770, 777. 174 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 93; ADS, 6. Aufl. 1997, § 256 AktG Rz. 93; Heidel in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020, § 256 AktG Rz. 39; W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 366; Rabenhorst in Marsch-Barner/ Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 57.109; Weilep/Weilep, BB 2007, 147, 149; a.A. Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 393. 175 Siehe dazu Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 393; H.-P. Müller in FS Budde, 1995, S. 431, 435; W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 366 ff.; Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 172 Rz. 10; Rabenhorst in Marsch-Barner/Schäfer, Handbuch börsennotierte AG, 5. Aufl. 2022, Rz. 57.109; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 172 Rz. 105 ff.
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stand dabei nicht alleine agieren kann, sondern zur Feststellung eines neu aufgestellten und geänderten Jahresabschlusses im Fall der prüfungspflichtigen AG der Nachtragsprüfung durch den Abschlussprüfer gemäß § 316 Abs. 3 HGB bedarf. Darüber hinaus ist er auf die dem Aufsichtsrat nach § 171 Abs. 1 AktG auch in diesem Fall unverändert obliegende Prüfung und Billigung des (geänderten) Jahresabschlusses nach § 172 AktG und damit insgesamt auf das Einverständnis und die Mitwirkung des Aufsichtsrats angewiesen ist.176 3. Verantwortung des Aufsichtsrats a) Allgemeines 55
Bei der Vermessung der Pflichten des Aufsichtsrats zur Beseitigung des bekanntgewordenen Nichtigkeitsgrundes und zur Herstellung eines ordnungsgemäßen und wirksamen Jahresabschlusses ist die zwingende aktienrechtliche Kompetenzordnung zu beachten. Dem Aufsichtsrat der AG kommt danach – mit wenigen Ausnahmen – keine gestaltende Geschäftsführungsaufgabe zu. Dies gilt ungeachtet seiner aus §§ 171, 172 AktG resultierenden Mitverantwortung hinsichtlich des Jahresabschlusses auch bei der Fehlerbeseitigung, denn das Gesetz lässt nicht erkennen, dass in dieser Situation die aktienrechtliche Kompetenzordnung aufgehoben ist. Die Aufstellung eines neuen fehlerfreien Jahresabschlusses ist und bleibt demnach alleinige Aufgabe des Vorstands, der seiner gesetzlichen Pflicht zur Rechnungslegung gemäß § 264 Abs. 1 HGB nachzukommen und einen wirksamen Jahresabschluss aufzustellen hat, da diese Pflicht bisher nicht erfüllt ist.177 Der Vorstand hat dabei kein besonderes Verfahren durchzuführen, denn bisher liegt infolge der Nichtigkeit ein Jahresabschluss noch nicht vor.178
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Der Aufsichtsrat hat, sobald der neu aufgestellte Jahresabschluss vorliegt und er im Fall der prüfungspflichtigen Gesellschaft vom Abschlussprüfer gemäß § 316 Abs. 1 HGB geprüft worden ist, seinerseits die Prüfung nach § 171 Abs. 1 AktG durchzuführen und über die Billigung des Jahresabschlusses zu beschließen.179
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Was die konkrete Vorgehensweise zur Behebung der Nichtigkeit des Jahresabschlusses anbetrifft, bei der der Aufsichtsrat zur Herstellung eines ordnungsgemäßen Jahresabschlusses mitzuwirken hat, ist nach der Art des Fehlers und dem Zeitpunkt seines Bekanntwerdens zu differenzieren.
176 Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 172 Rz. 10; E. Vetter in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2018, § 172 Rz. 99; Grigoleit/Zellner in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 172 Rz. 10. 177 Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 217; Lutter in FS Helmrich, 1994, S. 685, 694; W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 369; Kowalski, AG 1993, 502, 504. 178 Geist, DStR 1996, 306, 307; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 56; Lutter in FS Helmrich, 1994, S. 685, 693. 179 W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 369.
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b) Entdeckung des Nichtigkeitsgrunds nach Ablauf der Heilungsfrist aa) Verantwortung des Vorstands Wird der Nichtigkeitsgrund i.S.v. § 256 AktG erst nach Ablauf der jeweils auf ihn anzuwendenden sechsmonatigen oder dreijährigen Heilungsfrist nach § 256 Abs. 6 Satz 1 AktG erkannt, kann der Nichtigkeitsgrund nicht mehr geltend gemacht werden. Der Jahresabschluss ist damit trotz Fehlerhaftigkeit bestandsfest. Weder für den Vorstand noch für den Aufsichtsrat besteht eine Pflicht hinsichtlich des Jahresabschlusses nachträglich noch korrigierend einzugreifen.180 Nach Heilung von bloßen Verfahrensmängeln i.S.v. § 256 Abs. 2 AktG besteht ohnehin kein nachträglicher Korrekturbedarf, denn in qualitativ-inhaltlicher Hinsicht steht der durch Heilung wirksame Jahresabschluss dem verfahrensmäßig ordnungsgemäßen Jahresabschluss nicht nach. Aber auch bei einem mit inhaltlichen Fehlern behafteten Jahresabschlusses wird der Vorstand nach Eintritt der Heilung im Zweifel nichts veranlassen, um die Fehler im Jahresabschluss zu beseitigen. Dies gilt umso mehr, je weiter der fehlerhafte Jahresabschluss zurückliegt.
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Der Vorstand ist jedoch berechtigt den Fehler zum Anlass zu nehmen, den bisherigen durch Heilung wirksamen Jahresabschluss rückwirkend aufzuheben und den Jahresabschluss neu aufzustellen.181 Bis zur Feststellung des geänderten neuen Jahresabschlusses liegt insoweit nur ein – jederzeit änderbarer oder rückziehbarer – Entwurf vor, der auf den geheilten und damit wirksamen Jahresabschluss keinen Einfluss hat. Gleiches gilt für den mit der Neuaufstellung verbundenen konkludenten Beschluss über die Aufhebung des geheilten Jahresabschlusses. Beim Beschluss des Vorstands über die Aufstellung eines geänderten Jahresabschlusses handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung i.S.v. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, die nur bei Vorliegen eines besonderen Interesses der Gesellschaft, das gegenüber dem Interesse der Aktionäre und Dritter sorgfältig abzuwägen ist, gerechtfertigt werden kann. Für die Aufstellung eines durch Behebung von Bewertungsfehlern i.S.v. § 256 Abs. 5 AktG geänderten Jahresabschlusses hat der Vorstand die Lage des Unternehmens und den Erkenntnisstand zum Aufstellungstag des neuen Jahresabschlusses zugrunde zu legen.182 Dies bedeutet, dass nicht nur die Korrektur des konkreten Bewertungsfehlers, sondern möglicherweise auch zwischenzeitlich bekanntgewordene Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt der bilanzerhellenden Umstände183 die Höhe von Jahresüberschuss und Bilanzgewinn verändern können.184 Vor diesem Hintergrund ist der Vorstand im Normalfall gut beraten, nach Eintritt der Heilung keine Korrekturen am Jahresabschluss zurückliegender Geschäftsjahre vorzunehmen, sondern sich, sofern
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180 ADS, 6. Aufl. 1997, § 172 AktG Rz. 40; A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 84. 181 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 85; J. Koch in MünchKomm/ AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 69; Jungius/Schmidt, DB 2012, 1761, 1765. 182 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 93; Hennrichs/Pöschke in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 63; Jansen in BeckOGK/AktG, § 256 Rz. 99 (Stand 1.10.2022); Kropff, Wpg 2000, 1137, 1142 ff. 183 Siehe dazu z.B. Störk/Büssow in Beck BilKomm, 13. Aufl. 2022, § 252 HGB Rz. 52. 184 Einschränkend aber z.B. W. Müller in FS Quack, 1991, S. 359, 369.
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die Bewertungsfehler auch nach Jahren noch anhalten sollten, auf Maßnahmen in laufenden Rechnung zu beschränken.185 60
Bei Bekanntwerden eines Fehlers im Jahresabschluss ist der Vorstand allerdings – unabhängig von der Art des Fehlers – in jedem Fall verpflichtet, den gesamten Rechnungslegungsprozess sowie das komplexe Verfahren der Abschlusserstellung und Feststellung sorgfältig auf eventuelle Fehlerquellen, organisatorische Verfahrenslücken und sonstige Schwachstellen zu überprüfen, um die Ursachen zu klären und Wiederholungen zu vermeiden. Der Aufsichtsrat hat sich vom Vorstand über den Aufklärungs- und Ermittlungsprozess im Rahmen der allgemeinen Überwachungsaufgabe i.S.v. § 111 Abs. 1 AktG berichten zu lassen und die vom Vorstand getroffenen Maßnahmen kritisch auf ihre Tauglichkeit, Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen. Im Regelfall wird er dabei den Abschlussprüfer hinzuziehen. bb) Verantwortung des Aufsichtsrats
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Die Aufstellung des Jahresabschlusses wie auch die Entscheidung über die Aufhebung eines fehlerhaften, aber durch Fristablauf geheilten Jahresabschlusses und die Erstellung eines inhaltlich neuen, aber fehlerfreien Abschlusses liegen nach der aktienrechtlichen Kompetenzordnung in der alleinigen Verantwortung des Vorstands. Dem Aufsichtsrat kommt insoweit weder ein Initiativrecht noch ein Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand zu. Sofern sich der Vorstand ungeachtet der eingetretenen Heilung für die Aufstellung eines geänderten Jahresabschlusses entscheidet, beschränkt sich die Verantwortung des Aufsichtsrats darauf, die Beweggründe des Vorstands für die Aufstellung eines neuen geänderten Jahresabschlusses kritisch zu überprüfen und, wenn er insoweit dem Vorstand folgt, den neu aufgestellten und im Fall der prüfungspflichtigen AG vom Abschlussprüfer gemäß § 316 Abs. 3 HGB geprüften Jahresabschluss gemäß § 171 Abs. 1 AktG seinerseits unter Berücksichtigung des Berichts des Abschlussprüfers auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu prüfen und anschließend über die Billigung des Jahresabschlusses zu entscheiden. Lehnt der Aufsichtsrat die Billigung des neuen Jahresabschlusses ab, bleibt weiterhin der geheilte Jahresabschluss maßgeblich. Dem Prüfungsausschuss kommt bei den anstehenden Entscheidungen des Aufsichtsrats eine Unterstützungsfunktion zu, denn die endgültige Entscheidung über die Billigung des neuen geänderten Jahresabschlusses ist gemäß § 107 Abs. 3 Satz 7, § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG zwingend dem Aufsichtsratsplenum vorbehalten. c) Fehlerentdeckung vor Ablauf der Heilungsfrist aa) Verantwortung des Vorstands
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Hat der Vorstand Kenntnis von der Nichtigkeit des festgestellten Jahresabschlusses, ist streitig, ob es in sein Ermessen gestellt ist ungeachtet seiner Kenntnis von der Nichtigkeit gleichwohl auf den Eintritt der Heilung gemäß § 256 Abs. 6 AktG zu warten 185 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 85; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 38; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 27.
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oder ob in jedem Fall ein neuer fehlerfreier Jahresabschluss aufzustellen ist. Die Meinungen im Schrifttum dazu sind geteilt und eine höchstrichterliche Klärung der Streitfrage liegt nicht vor. Das BayObLG186 sowie Teile des Schrifttums lehnen eine unbedingte Pflicht zur Neuaufstellung ab und wollen dem Vorstand insoweit Ermessen einräumen. Danach ist im konkreten Fall mit Blick auf das Unternehmensinteresse eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem Aufwand und den eventuellen sonstigen Nachteilen, die mit einer weiteren Abschlussprüfung verbunden sind einerseits sowie den sonstigen Folgen, mit denen im Fall des Abwartens bis zum Ablauf der Heilungsfrist zu rechnen ist andererseits.187 Nach der Gegenansicht ist der Vorstand hingegen grundsätzlich verpflichtet, den fehlerhaften Jahresabschluss durch einen ordnungsgemäßen Jahresabschluss zu ersetzen, wobei auch nach dieser Ansicht Ausnahmen zulässig sein sollen, wenn der Eintritt der Heilung absehbar und die Folgen des Fehlers tolerabel sind.188 Es fällt schwer, die Entscheidung über die Befolgung der gesetzlichen Bestimmungen zur Aufstellung und Feststellung des Jahresabschlusses dem Ermessen des Vorstands und des Aufsichtsrats zu unterstellen;189 die Legalitätspflicht ist einer unternehmerischen Entscheidung i.S.v. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht zugänglich.190 Dies gilt grundsätzlich auch für die (Neu-)Aufstellung des Jahresabschlusses. Im Übrigen ist es kaum vorstellbar, dass aus dem nichtigen Jahresabschluss nur geringe Folgen für die zutreffende Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage resultieren, denn die von § 256 AktG angeordnete Nichtigkeit setzt gerade einen Fehler von einigem Gewicht voraus.191
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Bei Entdeckung eines die Nichtigkeit des Jahresabschlusses begründenden Verfahrensfehlers mag das Abwarten des Ablaufs der sechsmonatigen Heilungsfrist von § 256 Abs. 6 Satz 1 1. Alt. AktG vertretbar erscheinen. Bei Inhaltsfehlern, die nach § 256 Abs. 6 Satz 1 2. Alt. AktG einer Heilungsfrist von drei Jahren unterliegen und damit im Regelfall auch Auswirkungen auf die Erstellung des Jahresabschlusses des Folgejahres haben, wird man im Regelfall von einer Pflicht zur Korrektur im Wege der Neuaufstellung ausgehen müssen.192 Andererseits darf die Pflicht zur Neuaufstellung des Jahresabschlusses nicht rein abstrakt und unabhängig vom Ablauf des Heilungsverfahrens von § 256 Abs. 6 AktG eingefordert werden, wenn etwa mit der Feststellung des neuen geänderten Jahresabschlusses zeitgleich auch der nichtige Jahresabschluss geheilt wäre, denn der Gesetzgeber betrachtet den geheilten Jahresabschluss
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186 BayObLG v. 26.5.2000 – 3Z BR 111/00, AG 2001, 266. 187 Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 247; Waclawik in Hölters/Weber, AktG, 4. Aufl. 2022, § 256 Rz. 42. 188 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 94; Schön in FS 50 Jahre BGH, Bd. II 2000, S. 153, 163; Schwab in K. Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 256 Rz. 37. 189 Deutlich Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 256 Rz. 33. 190 Grigoleit/Tomasic in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 93 Rz. 42; Ihrig/Schäfer, Rechte und Pflichten des Vorstands, 2. Aufl. 2020, Rz. 1524b; Spindler in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2022, § 93 Rz. 52. 191 Ebenso Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 256 Rz. 33. 192 Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 222; Ehmann in Grigoleit, AktG, 2. Aufl. 2020, § 256 Rz. 16; Hennrichs, ZHR 168 (2004), 383, 389.
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gegenüber dem ordnungsgemäß festgestellten Jahresabschluss nicht als minderwertig. Vor diesem Hintergrund ist in der Sondersituation, dass die Heilung des nichtigen Jahresabschlusses durch Zeitablauf erkennbar schneller als die kostenintensive Neuaufstellung des Jahresabschlusses eintreten würde und darüber hinaus die Nichtigkeit des Jahresabschlusses vor der Aufstellung des Jahresabschlusses des laufenden Geschäftsjahres beseitigt wäre, ein kurzzeitiges Abwarten bis zum Eintritt der Heilungswirkung als unternehmerische Entscheidung i.S.v. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG mit den Organpflichten von Vorstand und Aufsichtsrat zur Vorlage eines wirksamen Jahresabschlusses vereinbar.193 Ein Abwarten der Heilungswirkung über mehrere Geschäftsjahre hinweg scheidet jedoch aus. bb) Verantwortung des Aufsichtsrats 65
Die Entscheidung, ob ungeachtet der Nichtigkeit des Jahresabschlusses die Heilung gemäß § 256 Abs. 6 AktG abgewartet werden oder ein neuer fehlerfreier Jahresabschluss aufgestellt werden soll, liegt nach der aktienrechtlichen Kompetenzordnung in der alleinigen Verantwortung des Vorstands. Der Aufsichtsrat darf ihm insoweit keine Weisungen erteilen. Andererseits steht fest, dass der Vorstand bei Vorliegen eines nichtigen Jahresabschlusses seine Pflicht zur Aufstellung eines gesetzmäßigen Jahresabschlusses (noch) nicht erfüllt hat194 und der Aufsichtsrat hat im Rahmen seiner Überwachungspflicht grundsätzlich den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten gemäß § 264 HGB anzuhalten. Hierbei wird sich der Aufsichtsrat nunmehr vor dem Hintergrund seiner Überwachungspflicht nach § 111 Abs. 1 AktG seinerseits fragen müssen, ob unter dem Gesichtspunkt der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit die Aufstellung eines neuen geänderten Jahresabschlusses unumgänglich ist oder ob auch das Abwarten bis zum Eintritt der Heilungswirkung gemäß § 256 Abs. 6 AktG eine im Rahmen des unternehmerischen Ermessens vertretbare Entscheidung ist. Es liegt nahe, dass der Aufsichtsrat diese Entscheidung vor dem Hintergrund der gemeinsamen Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat für die Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung, wie sie § 172 AktG widerspiegelt, in eigener Verantwortung, aber in enger Abstimmung mit dem Vorstand, treffen wird.
VI. Fehlererkennung vor Vorlage des Jahresabschlusses an die Hauptversammlung 1. Verdacht auf Nichtigkeit des Jahresabschlusses 66
Begründen konkrete Informationen oder Marktgerüchte den Verdacht, dass der bereits festgestellte Jahresabschluss der Gesellschaft fehlerhaft sein und gemäß § 256 193 A. Arnold in KölnKomm/AktG, 3. Aufl. 2017, § 256 Rz. 94; Balthasar, Die Bestandskraft handelsrechtlicher Jahresabschlüsse, 1999, S. 222; Kowalski, AG 1993, 503, 504; Lutter in FS Helmrich, 1994, S. 685, 694; E. Vetter in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 256 AktG Rz. 24; a.A. Barz in FS Schilling, 1973, S. 127, 132. 194 Fischbach, Der Bilanzprüfungsausschuss des Aufsichtsrats und seine Zusammenarbeit mit dem Abschlussprüfer, 2003, S. 203; Jungius/Schmidt, DB 2012, 1761.
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AktG nichtig sein könnte, sind Vorstand und Aufsichtsrat verpflichtet, den Vorwürfen nachzugehen, um schnellstmöglich eine Klärung herbeizuführen. Sollte die ordentliche Hauptversammlung bereits einberufen worden sein, der der Jahresabschluss gemäß § 175 Abs. 1 AktG vorgelegt werden muss, wird der Vorstand – begleitet von einer entsprechenden Ad-hoc Mitteilung nach Art. 17 MAR ungeachtet des für die Gesellschaft damit verbundenen Reputationsverlustes – die Einberufung im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat bis zur Klärung der Verdachtsmomente widerrufen.195 Ein bloßes Abwarten auf die Vorteile der Heilung nach § 256 Abs. 6 AktG lässt sich mit den Pflichten des Vorstands nicht verantworten.196 2. Aufklärungsverantwortung des Aufsichtsrats Der Aufsichtsrat ist verpflichtet, den Verdachtsmomenten umgehend nachzugehen. Dabei wird er aufgrund seiner allgemeinen Überwachungsverantwortung zu entscheiden haben, ob die Untersuchung vom Abschlussprüfer durchgeführt wird oder ob ein weiterer Abschlussprüfer mit der Prüfung beauftragt wird. Dabei wird er sich in jedem Fall auf die Expertise des Prüfungsausschusses stützen. Während die Beauftragung des bestellten Abschlussprüfers den Vorteil der Vertrautheit mit dem Unternehmen mit sich bringt und damit eine regelmäßig schnellere und kostengünstigere Aufklärung der Verdachtsmomente verspricht, ist mit der Beauftragung eines anderen Wirtschaftsprüfers gemäß § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG die höhere Gewähr einer Prüfung mit unbefangenem Blick verbunden.
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In Abhängigkeit von Ergebnis dieser Untersuchung wird der Vorstand entweder erneut die Hauptversammlung einberufen und ihr den bereits festgestellten Jahresabschluss vorlegen oder aber anstelle des fehlerhaften Jahresabschlusses dem Aufsichtsrat den von ihm aufgestellten neuen Jahresabschluss gemäß § 170 Abs. 1 AktG zur Prüfung und Billigung vorlegen.
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VII. Thesen und regulatorische Handlungsempfehlungen 1. Bei der Prüfung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat bildet der Bericht des Abschlussprüfers über seine Prüfung des Jahresabschlusses die wichtigste – weil vorstandsunabhängige – Informationsquelle für den Aufsichtsrat. 2. Der mündliche Bericht des Abschlussprüfers in der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats gemäß § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG ist eine weitere Hilfe für den Aufsichtsrat bei der Prüfung des Jahresabschlusses. Die Berichtspflicht des Abschlussprüfers entfällt jedoch, wenn er bereits zuvor dem Prüfungsausschuss Bericht erstattet hat. Im Hinblick auf die Bedeutung der mündlichen Berichterstattung folgt der gesetzliche Regelungsbedarf in § 171 Abs. 1 Satz 2 AktG: Die zwingende mündliche Be-
195 So geschehen z.B. im Fall der IKB Deutsche Industriebank AG im Bundesanzeiger v. 10.8.2007. 196 A.A. Bezzenberger in Großkomm/AktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 259a.
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richterstattung des Abschlussprüfers sowohl im Prüfungsausschuss als auch im Aufsichtsratsplenum. 3. Die mündliche Berichterstattung des Abschlussprüfers in der Bilanzsitzung des Aufsichtsrats eröffnet den Aufsichtsratsmitgliedern die Möglichkeit, Fragen an den Abschlussprüfer zum Jahresabschluss zu richten. Von dieser Möglichkeit wird allerdings von den Aufsichtsratsmitgliedern in der Praxis höchst selten Gebrauch gemacht. Hieraus ergibt sich Regelungsbedarf im Deutschen Corporate Governance Kodex im Wege der Empfehlung: Im Aufsichtsratsbericht an die Hauptversammlung soll angegeben werden, ob – getrennt nach Prüfungsausschuss und Aufsichtsratsplenum – von den Aufsichtsratsmitgliedern vom Fragerecht gegenüber dem Abschlussprüfer auch Gebrauch gemacht wurde. 4. Der Aufsichtsrat wird nur dann seinem Prüfungsauftrag und der Bedeutung der Bilanzsitzung mit mündlicher Berichterstattung des Abschlussprüfers, Berichterstattung des Prüfungsausschusses und Fragen der Aufsichtsratsmitglieder an den Abschlussprüfer gerecht, wenn die Bilanzsitzung als physische Sitzung stattfindet. Hieraus ergibt sich gesetzlicher Regelungsbedarf in § 171 Abs. 1 Satz 1 AktG: Die zwingende Durchführung der Bilanzsitzung in Form der physischen Sitzung des Aufsichtsrats.
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Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Corporate Governance – Die Rolle des Abschlussprüfers Prof. Dr. Matthias Schüppen Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Stuttgart I. Qualifikation und Funktionen der Abschlussprüfung 1. Unternehmensorgan oder Dritter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionen der Abschlussprüfung . 3. Exkurs: Prüfungspflichtige Gesellschaften ohne Abschlussprüfer? . . . II. Der Abschlussprüfer als Element der Corporate Governance 1. Primärverantwortung der Geschäftsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Korrekturfunktion der Abschlussprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Limitierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Meinungsverschiedenheiten zwischen Unternehmen und Abschlussprüfer . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Kommunikation des Abschlussprüfers 1. Fehlerbegriff und Prüfungsurteil . . 2. Widerruf des Bestätigungsvermerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Offenlegung des Prüfungsberichts und Erläuterung des Prüfungsergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung (Thesen)
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I. Qualifikation und Funktionen der Abschlussprüfung 1. Unternehmensorgan oder Dritter? Die Fälle Wirecard1 und Adler Group2 haben Verlierer und Gewinner. Zu den Gewinnern gehören nicht nur Short-Seller und die Financial Times, sondern paradoxer Weise auch die Abschlussprüfer. Dies weniger wegen der Millionen, die EY Partner im Zuge der geplanten Abspaltung des Beratungsgeschäfts angeblich erhalten;3 und für Wirtschaftsprüfer gilt auch nicht die Marketingweisheit „besser schlechte Presse als gar keine.“ Aber doch haben beide Fälle die Bedeutung guter Abschlussprüfung für das einzelne Unternehmen einerseits, für den Kapitalmarkt andererseits lehrbuchhaft exemplifiziert und unterstrichen.4
1 Siehe nur Mülbert, ZHR 2021 (185), 1; Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 480; Mock, ECFR 2021, 519, alle mit zahlr. Nachw. 2 Börsen-Zeitung v. 3.5.2022 (Nr. 84), S. 7: Fehlendes Testat schockiert Adler-Investoren. 3 FAZ v. 22.6.2022 (Nr. 142), S. 9: EY-Partnern winkt Geldregen im Fall einer Aufspaltung. 4 Ebenso Krolop in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2021, S. 19, 32.
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Rz. 2 | Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers
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Anders als Vorstand und Aufsichtsrat ist der Abschlussprüfer kein Organ der Gesellschaft.5 Zwar hatte der BGH dies zunächst – im Jahre 1954 – anders gesehen: Aufgrund seiner Eingliederung in die Organisation der Gesellschaft und der Tatsache, dass der Abschlussprüfer eine Arbeit leiste, die eigentlich der Aufsichtsrat leisten müsse, jedoch nicht leisten könne, hatte er ihm eine Organstellung zuerkannt.6 Diese Qualifikation hat der BGH jedoch später aufgegeben und spricht heute von einem „unparteiischen und unbeteiligten Dritten“ mit „öffentlicher Funktion“.7 Diese öffentliche Funktion des Abschlussprüfers als „gatekeeper“ und Informationsintermediär für die Validierung der veröffentlichten Rechnungslegungsinformation wird heute – nicht zuletzt im Europäischen Recht – betont.8
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Auf dieser Linie liegt es, den Bestätigungsvermerk als öffentliche Kapitalmarktinformation i.S.d. § 1 Abs. 2 KapMuG einzuordnen.9 Dass dies zutreffend ist, ergibt sich bereits daraus, dass das Regelbeispiel des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 KapMuG Jahresabschluss, Lagebericht etc. pars pro toto für die (externe) Rechnungslegung des Emittenten benennt, zu der auch der nicht ausdrücklich aufgeführte Bestätigungsvermerk gehört.10 Darüber hinaus erfüllt der Bestätigungsvermerk auch alle Tatbestandmerkmale der Legaldefinition in § 1 Abs. 2 Satz 1 KapMuG.11 Eine Einschränkung auf „interne Unternehmensdaten“ ist weder dem Wortlaut der Norm zu entnehmen noch nach Systematik und Regelungszweck angezeigt (abgesehen davon, dass sich Existenz und Prüfungsurteil im Bestätigungsvermerk auch mit guten Gründen als ein solches „internes Unternehmensdatum“ ansehen ließen). 2. Funktionen der Abschlussprüfung
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Trotz des geschilderten Anschauungswandels ist allerdings unverändert geblieben, dass auch eine unabhängige Abschlussprüfung eine Korrektur- und Beratungskomponente beinhaltet und ihr eine ganz maßgebliche Rolle in der Unterstützung des Aufsichtsrats bei dessen Kontrolle der Rechnungslegung zukommt. Der Abschlussprüfer ist unternehmensinterner „Gehilfe“ des Aufsichtsrats einerseits, mit einer öffentlichen Kontrollfunktion betrauter externer Amtswalter andererseits. Das durch diese hybride Stellung begründete Spannungsverhältnis12 stellt eine der wesentlichen Herausforderungen sowohl für die Regulierung als auch für die praktische Durchführung von Abschlussprüfungen dar. 5 Habersack/Schürnbrand in Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, vor § 316 Rz. 16 f.; Schüppen, Abschlussprüfung, 2. Aufl. 2022, vor § 316 HGB Rz. 9. 6 BGH v. 15.12.1954 – II ZR 322/53, BGHZ 16, 17, 25. 7 BGH v. 10.12.2009 – VII ZR 42/08, ZIP 2010, 284 Rz. 29. 8 Schüppen, Abschlussprüfung, 2. Aufl. 2022, § 316 HGB Rz. 4 f. 9 LG München I v. 14.3.2022 – 3 OH 2767/22 KapMuG (3 O 5875/20); OLG München v. 20.5.2022 – 13 U 9056/21, AG 2022, 829, 830 f. 10 LG München I v. 14.3.2022 – 3 OH 2767/22 KapMuG (3 O 5875/20) und Foerster, ZIP 2022, 1683, 1685 f.; a.A. LG Hamburg v. 26.8.2022 – 313 O 182/20 und Möllers, BKR 2022, 339. 11 Zutreffend OLG München v. 20.5.2022 – 13 U 9056/21, AG 2022, 829, 830 f.; Foerster, ZIP 2022, 1683, 1686 ff.; a.A. LG Hamburg v. 26.8.2022 – 313 O 182/20; Möllers, BKR 2022, 339, 341 ff. 12 Schüppen, ZIP 2012, 1317.
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Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers | Rz. 7
Vor diesem Hintergrund hat die Abschlussprüfung unternehmensintern und unternehmensextern Kontroll-, Informations- und Beglaubigungsfunktion.13 Mit der Rolle des Abschlussprüfers im Rahmen der Corporate Governance ist in erster Linie dessen unternehmensinterne Funktion angesprochen, die sich im Zusammenspiel mit den Gesellschaftsorganen entfalten und bewähren muss und – natürlich – vor allem darauf zielt, fehlerhafte Unternehmensabschlüsse zu verhindern (unten II.). Soweit dies nicht gelingt und sich ein Unternehmensabschluss schon bei der Prüfung oder nachträglich als fehlerhaft erweist, treten die Informationsfunktion und mit dieser verbundene Kommunikationsfragen in den Vordergrund (unten III.).
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3. Exkurs: Prüfungspflichtige Gesellschaften ohne Abschlussprüfer? Aufgrund der öffentlichen Funktion der Abschlussprüfung und der für prüfungspflichtige Unternehmen unabdingbaren gesetzlichen Verpflichtung (die grundsätzlich auch im Insolvenz- und Liquidationsstadium fortbesteht) wäre es ein nicht hinnehmbarer Zustand, wenn kein Abschlussprüfer bereit ist, die Prüfung eines „risikoträchtigen“ Unternehmens zu übernehmen, obwohl dieses zur Bezahlung eines angemessenen Honorarvorschusses bereit und in der Lage ist. Der Fall Adler Group lässt dieses Problem praktisch werden.14 Die WPO und deren § 51, der lediglich die Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung einer Auftragsablehnung normiert, enthält hier eine Regelungslücke.
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Das BVerfG hat die Ähnlichkeit der Berufe des Notars und des Wirtschaftsprüfers hervorgehoben. Im Bereich der Vorbehaltsaufgaben – zu denen die Abschlussprüfung zählt – ist der Wirtschaftsprüfer wie der Notar „öffentlich eingebunden“, wie sich aus Bestellung (§ 1 WPO), Berufseid (§ 17 WPO), Recht und Pflicht zur Siegelführung (§ 48 WPO) und die Berufsaufsicht durch die Wirtschaftsprüferkammer ergibt.15 Für den Bereich der Pflichtprüfung ist die aufgetretene Regelungslücke aufgrund dieser strukturellen Vergleichbarkeit des Amtes und der Situation – der durch Gesetz begründeten Angewiesenheit des Mandanten auf die Tätigkeit des Amtsträgers – durch eine analoge Anwendung des § 15 BNotO zu schließen. Danach darf ein Notar seine Urkundstätigkeit nicht ohne ausreichenden Grund verweigern, und der Begriff des „ausreichenden Grundes“ wird im Berufsstand der Notare zu Recht sehr restriktiv ausgelegt.16
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13 Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 316 Rz. 24 ff.; Habersack/Schürnbrand in Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, vor § 316 Rz. 1; Schüppen, Abschlussprüfung, 2. Aufl. 2022, § 316 HGB Rz. 6. 14 Siehe Börsen-Zeitung v. 31.8.2022 (Nr. 167 S. 13): Adler sucht verzweifelt nach einem Wirtschaftsprüfer; auf die nach der Absage von KPMG veröffentlichte Ausschreibung ging kein Angebot ein; auch die gezielte Ansprache von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften verlief bisher (November 2022) erfolglos; FAZ v. 31.8.2022 (Nr. 202), S. 21: Adler fehlt ein Testat – und der Bilanzprüfer. 15 BVerfG v. 8.4.1998 – 1 BvR 1773/96, NJW 1998, 2269, 2272; ebenso – für den vBP – BVerwG v. 26.8.1997 – 1 C 1/96, juris Rz. 15. 16 Siehe Reithmann in Bracker, BNotO, 9. Aufl. 2011, Rz. 43 ff., 49 f., 54 f.
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Rz. 8 | Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers
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Verfahrensrechtlich ist eine solche „Amtsgewährpflicht“ auf dem Gebiet der Abschlussprüfung durch die Wirtschaftsprüferkammer durchzusetzen. Zu deren Aufgaben gehört es, auf Antrag bei Streitigkeiten zwischen Wirtschaftsprüfern und ihren Auftraggebern zu vermitteln. Soweit die Kammer in diesem Rahmen eine Verletzung der aus § 15 BNotO (analog) folgenden Verpflichtung zur Auftragsannahme feststellt, kann sie durch Untersagungsverfügung die Aufrechterhaltung dieses pflichtwidrigen Verhaltens untersagen (§ 68a Satz 1 WPO). Durch die Möglichkeit einer vorläufigen Untersagungsverfügung (§ 68b WPO) kann der Berufsangehörige schon vor Rechtskraft der Untersagungsverfügung an weiteren Pflichtverstößen – hier der Fortsetzung der pflichtwidrigen Weigerung – gehindert werden.17
II. Der Abschlussprüfer als Element der Corporate Governance 1. Primärverantwortung der Geschäftsleitung 9
Die Primärverantwortung für fehlerfreie Unternehmensabschlüsse liegt bei der Geschäftsleitung, bei der Aktiengesellschaft also beim Vorstand (§§ 91, 92, 170 AktG, § 242, § 245, § 264, § 289 Abs. 1 Satz 5 (ggf. i.V.m. § 325 Abs. 2a Satz 4), § 290, § 297 Abs. 2 Satz 4, § 315 Abs. 1 Satz 5 (ggf. i.V.m. § 315e Abs. 1) HGB). Auch das FISG hat vor diesem Hintergrund zu Recht nicht nur Abschlussprüfung und Bilanzkontrolle, sondern den „Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung von Unternehmen“18 in den Blick genommen.19 2. Korrekturfunktion der Abschlussprüfung
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Die klare Trennung zwischen der Aufstellung von Unternehmensabschlüssen (in der Verantwortung der Geschäftsleitung) und deren Prüfung sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass der Prüfung auch in erheblichem Umfang eine Korrekturfunktion immanent ist. Während des Prüfungsprozesses – bei größeren Unternehmen ist wegen des bestehenden Zeitdrucks die Abschlussprüfung typischerweise ein parallel zur Aufstellung des Abschlusses verlaufender Prozess20 und bereits bei während des Geschäftsjahres auftretenden Zweifelsfragen der Bilanzierung holen der Finanzvorstand und die zuständigen Mitarbeiter vielfach die Meinung des Abschlussprüfers ein (vgl. § 33 Abs. 3 Satz 3 BS WP/vBP).
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Und selbst eine Fehlerfeststellung im Zuge der Abschlussprüfung führt zunächst einmal – und typischerweise – nicht zu einem negativen Prüfungsurteil, sondern vorgelagert zu der notwendigen Korrektur.21 Insoweit ist in § 321 Abs. 2 Satz 2 HGB aus17 BT-Drucks. 18/6282, 98; Reuss in Hense/Ulrich, WPO, 4. Aufl. 2022, § 68b WPO Rz. 2. 18 So die „Übersetzung“ von „Corporate Governance“ im RegE, BR-Drucks. 9/21, 2. 19 Hennrichs, DB 2021, 268, 276 ff.; Schüppen, DStR 2021, 246; Krolop in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2021, S. 19, 24 ff. 20 Justenhoven/Küster/Bernhardt in Beck BilKomm, 13. Aufl. 2022, § 317 HGB Rz. 25. 21 Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Auflage 2020, § 319 Rz. 58; Mylich in Hachmeister/Kahle/ Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 319 HGB Rz. 81; Justenhoven/Nagel in Beck BilKomm, 13. Aufl. 2022, § 319 HGB Rz. 49.
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drücklich vorgesehen, dass im Hauptteil des Prüfungsberichtes auch über Beanstandungen zu berichten ist, die nicht zur Einschränkung oder Versagung des Bestätigungsvermerks geführt haben. Die im Aufstellungs- und Prüfungsprozess möglichen und vielfach stattfindenden Korrekturen führen letztlich dazu, dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass ein uneingeschränkt testierter Unternehmensabschluss fehlerhaft ist. Einzelne Bilanzskandale und Fehlerfeststellungen ändern an diesem generellen Befund nichts.
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Wie gut Kontrolle und Korrektur funktionieren, ist eine Frage der Qualität der Abschlussprüfung, die wesentlich von der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers abhängt.22 Die durch Risiken von Selbstprüfung, Eigeninteressen, Bedrohung, Interessenvertretung oder übermäßiger Vertrautheit bestehenden Gefährdungen der Unabhängigkeit werden im europäischen und deutschen Recht umfangreichreich adressiert (Art. 21 f. EU-APrRiLi; § 319, § 319a HGB, §§ 29 ff. Berufssatzung). Zurecht als neuralgischer Punkt identifiziert, ist es insoweit laufend zu gesetzlichen Verschärfungen gekommen, zuletzt im FISG mit der Verkürzung der Rotationsfrist23 und dem Verbot von Steuerberatungs- und Bewertungsleistungen durch den Abschlussprüfer bei Unternehmen öffentlichen Interesses.24 In der Regulierung ist hier bereits ein hoher Standard erreicht worden.
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Einzelne Nachschärfungen sind vor allem denkbar hinsichtlich der Zeiträume, in denen die untersagten Nichtprüfungsleistungen unterbleiben müssen. Gegenwärtig kann der Abschlussprüfer unmittelbar im Folgejahr in eine Beraterrolle wechseln. Hier wird man über eine Cooling-Off Periode nachdenken müssen, ebenso wie dies hinsichtlich der Abschlussprüfung bereits bei der externen Rotation (und bei der internen Rotation des verantwortlichen Prüfungspartners) der Fall ist. Und natürlich ist jede Regulierung nur so gut wie ihre praktische Umsetzung, sodass gerade insoweit der unternehmensexternen (APAS/WPK) und internen (Aufsichtsrat, Prüfungsausschuss) Abschlussprüferaufsicht erhebliche Bedeutung zukommt.
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3. Limitierungen Auch der fachlich kompetente und unabhängige Abschlussprüfer unterliegt Limitierungen. Unter Berücksichtigung der Prinzipien der Wesentlichkeit und der Wirtschaftlichkeit zielt die Abschlussprüfung auf ein Prüfungsurteil unter „hinreichender Sicherheit“, absolute Sicherheit ist praktisch nicht erreichbar.25 Praktische Probleme ergeben sich aus dieser Limitierung selten.
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Eine nicht nur wirtschaftliche, sondern auch rechtliche Limitierung der Abschlussprüfung ergibt sich aus dem Faktor Zeit. Zwar finden sich im HGB keine unmit-
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Böcking/Gros, ZGR 2015, 305, 308. Hierzu Simons, WPg 2022, 1206. Hennrichs, DB 2021, 268, 270 f.; Schüppen, DStR 2021, 246, 248 f. IDW, WP Handbuch, 17. Aufl. 2021, Kap. L Rz. 3; Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 317 Rz. 73.
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Rz. 16 | Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers
telbaren zeitlichen Vorgaben für die Abschlussprüfung. Aus der Tatsache, dass die Durchführung der Prüfung Voraussetzung für die Feststellung des Abschlusses ist und sich aus den gesetzlichen Regelungen für die Aufstellung, Feststellung und Veröffentlichung von Unternehmensabschlüssen ein enges zeitliches Korsett ergibt, ergeben sich jedoch mittelbar auch verbindliche Vorgaben für die zur Abschlussprüfung zur Verfügung stehende Zeit (z.B. § 264 Abs. 1, § 290 Abs. 1 HGB, § 171 Abs. 1 AktG, § 123, 173 AktG, § 42a GmbHG, § 114 WpHG). Der Abschlussprüfer ist verpflichtet, die Prüfung in dem sich aus diesen gesellschafts- und kapitalmarktrechtlichen Vorschriften ergebenden zeitlichen Rahmen abzuschließen.26 Schlimmstenfalls muss dies mit einem Versagungsvermerk wegen eines Prüfungshemmnisses geschehen, wenn der Abschlussprüfer sich in der zur Verfügung stehenden Zeit kein Prüfungsurteil bilden konnte. 17
Fraglich ist, ob sich eine relevante und gegebenenfalls de lege ferenda zu korrigierende Limitierung aus dem gesetzlichen Prüfungsziel insofern ergibt, als die Abschlussprüfung nicht gezielt auf die Aufdeckung krimineller Handlungen wie Unterschlagungen oder Untreuehandlungen ausgerichtet ist. In jedem Bilanzskandal ist von Seiten der Abschlussprüfer zu hören, sie seien betrogen worden und hätten dies trotz der von ihnen ordnungsgemäß durchgeführten Prüfung nicht bemerken können und müssen.
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Ob es insoweit eine Veränderung der gesetzlichen Prüfungsvorschriften bedarf, ist umstritten.27 Tatsächlich ist ein Anlass hierfür nicht erkennbar. Selbstverständlich ist nach den anwendbaren Prüfungsstandards ein Abschlussprüfer nicht nur generell zu einer kritischen Grundhaltung28 verpflichtet, er muss auch bei Verdachtsmomenten und Anzeichen für dolose Handlungen weitere Prüfungshandlungen bis hin zu forensischen Untersuchungen vornehmen.29
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Gerade im Fall Wirecard ist dies – wie sich dem geleakten Wambach-Report entnehmen lässt – auch tatsächlich geschehen30; die Aufdeckung des Betrugs scheiterte nicht am unzureichenden Scope der Abschlussprüfung. Dass als notwendig erkannte Prüfungshandlungen nicht lege artis durchgeführt oder aus getroffenen Feststellungen nicht die gebotenen Schlüsse gezogen werden, lässt sich nicht dadurch ändern, dass ohnehin bestehende Prüfungsstandards in Gesetzesform gegossen werden.
26 Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 316 Rz. 23; ADS, 6. Aufl. 2000, § 322 HGB Rz. 218; Kalss in FS Ebke, 2021, S. 497, 505 f. 27 Siehe Schüppen, Abschlussprüfung, 2. Aufl. 2022, § 317 Rz. 8. 28 Insoweit erfolgte durch das FISG eine begrüßenswerte Nachschärfung, siehe jetzt § 43 Abs. 4 WPO und hierzu Krolop in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2021, S. 19, 34. 29 Vgl. IDW PS 210 „Zur Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Abschlussprüfung“; ISA 315 [DE] 240 „Verantwortlichkeiten des Abschlussprüfers“; ISA [DE] 315 (Revised) „Identifizierung und Beurteilung der Risiken westlicher falscher Darstellungen“, Farr, WPg 2021, 66. 30 Siehe FAZ v. 10.6.2022 (Nr. 133), S. 19: Welche Warnsignale es vor der Wirecard-Insolvenz gab.
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Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers | Rz. 24
4. Die Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsorgan Die Kontrolle der Geschäftsführung und damit insbesondere auch der von dieser aufgestellten Rechnungslegungsinstrumente obliegt in erster Linie den hierfür zuständigen Gesellschaftsorganen, in der sperrigen und abstrakten Sprache der International Standards of Auditing als „Those Charged with Governance“ umschrieben.31 Bei der GmbH und der Kommanditgesellschaft sind dies – soweit keine abweichenden Regelungen bestehen – beispielsweise die Gesellschafterversammlung, bei der Aktiengesellschaft der Aufsichtsrat (§§ 170, 171 AktG, § 42a GmbHG).
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Der Aufsichtsrat wiederum ist seit dem FISG bei Unternehmen öffentlichen Interesses durchweg verpflichtet, für die Themen der Rechnungslegung und Abschlussprüfung einen Prüfungsausschuss einzurichten (§ 107 Abs. 4 AktG).32 Gleichwohl kann allerdings die Pflicht zur Kontrolle der Rechnungslegung nach § 171 AktG nach geltendem Recht nicht auf den Prüfungsausschuss delegiert werden, insoweit kommt diesem nur vorbereitende Funktion zu.
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Obwohl im Gesetz nicht ausgesprochen, ist die Kontrolle der Rechnungslegung durch Gesellschafterversammlung oder Aufsichtsrat faktisch auf den Abschlussprüfer ausgelagert. Nach einhelliger Ansicht darf sich der Aufsichtsrat auf die Lektüre des Prüfungsberichtes und die Kommunikation mit dem Abschlussprüfer innerhalb und außerhalb der Bilanzsitzung beschränken.33 Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk erteilt wird. Nur soweit dies nicht der Fall ist, oder der Abschlussprüfer auf Besonderheiten und Probleme hinweist, ist der Aufsichtsrat verpflichtet, selbst in Prüfungshandlungen einzusteigen.34
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Trotz – oder gerade wegen – dieser Auslagerung ist die Kommunikation des Prüfungsausschusses, eine hervorgehobene Stellung kommt dabei dessen Vorsitzender zu, mit dem Abschlussprüfer von herausragender Bedeutung. Auch insoweit hat das FISG weitere Verbesserungen durch die Klarstellung der Aufgaben des Prüfungsausschusses gebracht. Einfluss auf die Prüfungsqualität kann der Prüfungsausschuss dabei insbesondere durch die Überwachung der Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und durch eine prüfungsbegleitende, laufende Kommunikation nehmen, die sich nicht auf die Bilanzsitzung beschränkt. Das kann heute weitgehend als Standard angesehen werden.
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Empfehlenswert ist es auch, dass der Prüfungsausschussvorsitzende an wesentlichen Besprechungen des Managements mit dem Abschlussprüfer in einem frühen Stadium der Prüfung oder bei etwaigen „Krisensitzungen“ teilnimmt. Es ist bedauerlich, dass eine bei der jüngsten Revision des Deutschen Corporate Governance Kodex zu-
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Vgl. ISA 260 (Revised): Communication with Those Charged with Governance. Siehe Velte, Der Konzern 2022, 275. Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 9 f. m.w.N. Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 171 Rz. 10.
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Rz. 24 | Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers
nächst vorgesehene entsprechende Empfehlung35 in die schließlich verabschiedete Neufassung 2022 keinen Eingang gefunden hat. 5. Meinungsverschiedenheiten zwischen Unternehmen und Abschlussprüfer 25
Selten, aber stets kritisch sind Fälle, in denen die angesprochene Korrekturfunktion der Abschlussprüfung deshalb nicht greift, weil zwischen Geschäftsleitung und Abschlussprüfer unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten über die Behandlung eines bestimmten Sachverhaltes in der Rechnungslegung bleiben. Wenn sich in einer solchen Situation der Aufsichtsrat hinter den Abschlussprüfer stellt – wie man es angesichts der Kontrollaufgabe des Aufsichtsrates eigentlich erwarten könnte –, führt die Macht des Faktischen in aller Regel dazu, dass sich der Vorstand der Sichtweise des Abschlussprüfers anschließen wird. Schwierig wird es, wenn sich der Aufsichtsrat hinter den Vorstand stellt und sich der Abschlussprüfer daher einer geschlossenen „Verwaltungsopposition“ gegenüber sieht. In diesem Fall steht er vor der Entscheidung, entweder seine (zu unterstellen: wohl begründete) Auffassung aufzugeben, oder den Bestätigungsvermerk einzuschränken oder zu versagen. Angesichts der weitreichenden negativen Auswirkungen einer Einschränkung, insbesondere aber einer Versagung des Bestätigungsvermerks ist dies für den Abschlussprüfer keine einfache Entscheidung.
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Zunehmender Beliebtheit erfreut sich (auch) in diesen Fällen die „Flucht“ in ein Prüfungshemmnis. Zwar führt auch dies zu einem Versagungsvermerk (§ 322 Abs. 5 HGB), aber nicht aufgrund von Einwendungen gegen die Rechnungslegung, sondern „weil der Abschlussprüfer nicht in der Lage ist, ein Prüfungsurteil abzugeben“. Zu begrüßen ist dieser neue Trend keineswegs.36
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Es würde naheliegen, in solchen Fällen das weitere Gesellschaftsorgan (Gesellschafterversammlung/Hauptversammlung) einzubeziehen oder jedenfalls dem Abschlussprüfer in der Gesellschafterversammlung (Hauptversammlung) ein Rede- und Fragenbeantwortungsrecht einzuräumen. Tatsächlich hat der Abschlussprüfer im geltenden Recht im Normalfall trotz Einschränkung der Versagung des Bestätigungsvermerks weder ein Rederecht noch eine Fragenbeantwortungspflicht. Die Teilnahme des Abschlussprüfers an der Hauptversammlung ist in § 176 Abs. 2 AktG de lege lata nur für den Fall vorgesehen, dass ausnahmsweise Vorstand und Aufsichtsrat die Feststellung des Jahresabschlusses der Hauptversammlung überlassen haben. Selbst dann ist der Abschlussprüfer nach der gesetzlichen Regelung nicht verpflichtet, einem Aktionär Auskunft zu erteilen (§ 176 Abs. 2 Satz 3 AktG) und hat er nach soweit er-
35 Empfehlung D.3 i.d.F. des Kommissionsvorschlags v. 21.1.2022; siehe v. Werder, DB 2022, 1755, 1759 f. 36 Zwar schließt auch der „Disclaimer of Opinion“, also die Versagung des Bestätigungsvermerks wegen eines Prüfungshemmnisses, die Prüfung ab, so dass der Jahresabschluss festgestellt werden kann; die Bank- und Kapitalmärkte bleiben dem Unternehmen allerdings regelmäßig verschlossen, vgl. z.B. die Äußerung des AR-Vorsitzenden der Adler Group, Stefan Kirsten, gegenüber der Börsen-Zeitung (v. 3.5.2022 (Nr. 84), S. 1: Testatsverweigerung lässt Adler-Aktie abstürzen).
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Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers | Rz. 29
sichtlich einhelliger Auffassung im Schrifttum kein Rederecht.37 Das ist dringend reformbedürftig und zwar nicht nur, wenn die Hauptversammlung den Jahresabschluss feststellt, sondern auch für alle Fälle der Einschränkung und Versagung des Bestätigungsvermerks.
III. Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Kommunikation des Abschlussprüfers 1. Fehlerbegriff und Prüfungsurteil Wer den Terminus des „fehlerhaften Unternehmensabschlusses“ verwendet, muss sich über den Begriff des Fehlers Rechenschaft ablegen. Dabei herrscht ein insbesondere die Behandlung von Bilanzrechtsfragen betreffender Streit zwischen den Anhängern eines normativ-subjektiven und eines objektiven Fehlerbegriffes. Für die Anhänger des subjektiven Fehlerbegriffes ist ein aufgrund einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung objektiv fehlerhafter Unternehmensabschluss bereits dann nicht als fehlerhaft zu bezeichnen, wenn die vom Bilanzaufsteller eingenommene Position bei der Aufstellung des Abschlusses als vertretbar gelten konnte.38 Auf diese Kontroverse ist hier nicht weiter einzugehen.
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Denn die Entscheidung, ob im Fall einer strittigen Bilanzrechtsfrage ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk erteilt werden kann, hängt nicht am objektiven bzw. subjektiven Fehlerbegriff. Der Bestätigungsvermerk ist ein Prüfungsurteil (§ 322 Abs. 1 Satz 1 HGB: „Das Ergebnis der Prüfung“; „Beurteilung des Prüfungsergebnisses“; § 322 Abs. 3 Satz 1: „[…] hat der Abschlussprüfer zu erklären, dass […] nach seiner Beurteilung […] „). Dieses Prüfungsurteil hat der Abschlussprüfer „unter Berücksichtigung objektiver Befunde nach persönlicher Wertung“39 der Prüfungsfeststellungen zu treffen. Dabei steht dem Abschlussprüfer, wie es auch sonst bei Prüfungsurteilen typisch ist, ein Beurteilungsspielraum zu.40 Dem ganz entsprechend stellt auch § 332 Abs. 1 HGB, der die Erteilung eines „inhaltlich unrichtigen Bestätigungsvermerks“ unter Strafe stellt, auf das subjektive Ergebnis der Prüfung ab und sanktioniert nicht eine etwaig unsorgfältige Prüfung, sondern (nur) die Unehrlichkeit des Prüfers.41 Wird eine strittige Bilanzrechtsfrage nach Beendigung der Abschlussprüfung höchstrichterlich anders entschieden, als dies der Abschlussprüfer bei seiner Beurteilung der gesetzlichen Vorschriften zugrunde gelegt hatte, ist zwar auf der
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37 Koch, AktG, 16. Aufl. 2022, § 176 Rz. 9. 38 IDW, WP Handbuch, 17. Aufl. 2021, Kap. B Rz. 271; a.A. Schüppen, DB 2022, 749, 750 f. 39 Vgl. Plendl in IDW, WP Handbuch, 17. Aufl. 2021, Kap. M Rz. 984; ADS, 6. Aufl. 2000, § 322 HGB Rz. 133 ff. 40 Plendl in IDW, WP Handbuch, 17. Aufl. 2021, Kap. M Rz. 984; und ADS, 6. Aufl. 2000, § 322 HGB Rz. 133 ff. verwenden den Begriff „Ermessensspielraum“, bei Übertragung verwaltungsrechtlicher Kategorien erscheint der Begriff des Beurteilungsspielraums zutreffender. 41 Vgl. Altenhain in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 332 HGB Rz. 1, 24 ff.
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Rz. 29 | Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse – Die Rolle des Abschlussprüfers
Grundlage eines objektiven Fehlerbegriffs der Jahresabschluss unrichtig, keineswegs aber das Prüfungsurteil. Denn an dem zu einem bestimmten Zeitpunkt gebildeten Urteil des Abschlussprüfers und dessen subjektiver Richtigkeit ändert sich dadurch ebenso wenig etwas, wie an dem Befund, dass er sein zum damaligen Zeitpunkt gebildetes Urteil im Bestätigungsvermerk zutreffend wiedergegeben hatte. 2. Widerruf des Bestätigungsvermerks 30
Nach einer in der Fachliteratur vorbereiteten42 Entscheidung des Kammergerichts43 ist der Abschlussprüfer bereits dann zum Widerruf des erteilten Bestätigungsvermerks verpflichtet, wenn er zu der sicheren Erkenntnis gelangt, er habe einen bestimmten Sachverhalt falsch gewürdigt und der Bestätigungsvermerk wäre bei korrekter Würdigung nicht in dieser Form erteilt worden. Auf das Bekanntwerden neuer Tatsachen oder die Aufdeckung von Täuschungen komme es nicht an, es genüge, wenn der Abschlussprüfer später einen eigenen Fehler erkennt.44 Auch wenn der Abschlussprüfer zu dem Schluss kommt, dass er Tatsachen, die bei Erteilung des Bestätigungsvermerks bereits bekannt waren, unzutreffend im Bestätigungsvermerk berücksichtigt hat, hat er grds. den Bestätigungsvermerk zu widerrufen.45 Vor diesem Hintergrund würden nach Erteilung des Bestätigungsvermerks „geläuterte“ Rechtsauffassungen zu strittigen Normen ebenfalls einen Widerrufsgrund darstellen.46
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Dass ein Bestätigungsvermerk nicht nur dann zu widerrufen sein soll, wenn er aufgrund von unvollständiger Information oder Täuschung in der Sache objektiv unzutreffend war, sondern auch, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass der Abschlussprüfer ohne eine solche Täuschung einen Sachverhalt unzutreffend gewürdigt hat, ist sehr fragwürdig. Konsequenterweise müsste man bei der (gebotenen) Heranziehung eines objektiven Fehlerbegriffs annehmen, dass auch Bestätigungsvermerke zu widerrufen sind, die auf einer sich im Nachhinein als unzutreffend erweisenden Rechtsauffassung beruhten. Das kann nicht überzeugen, weil der Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers das Ergebnis einer Prüfung ist und das Prüfungsergebnis zeitpunktbezogen und notwendig subjektiv ist. Die Entscheidung des Kammergerichts aus dem Jahre 2000 ist in einem einstweiligen Verfügungsverfahren ergangen und zu einem Sachverhalt, der eine vorsätzliche Falschbilanzierung durch die Geschäftsleitung nicht fernliegend erscheinen ließ. Richtigerweise sollte das zeitpunktbezogene Prüfungsurteil durch die nachträgliche Erkenntnis der Unrichtigkeit des 42 Vgl. Elkart/Naumann, WPg 1995 S. 402, 409; Kropff in Gessler/Hefermehl, AktG, § 167 Rz. 33; Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 15. Aufl., Anhang § 42 Rz. 49; Schultze/Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, 16. Aufl. 1996, § 41 Rz. 106. 43 Vgl. Kammergericht v. 19.9.2000 – 2 W 5362/00, AG 2001, 187. 44 Vgl. Kammergericht v. 19.9.2000 – 2 W 5362/00, AG 2001,189 rechte Spalte unten. 45 Vgl. Löffler/Kompenhans in IDW, WP Handbuch, 16. Aufl. 2018, Kap. N Rz. 61; Habersack/Schürnbrand in Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, § 322 Rz. 36. 46 Die Gegenansicht von Kompenhans in IDW, WP Handbuch, 16. Aufl. 2018, Kap. N Rz. 61, beruht darauf, dass es nach der – unzutreffenden – Rechtsauffassung des HFA des IDW für die Richtigkeit des handelsrechtlichen Abschlusses weiterhin nur auf die Vertretbarkeit der zugrunde gelegten Rechtsauffassung im Zeitpunkt der Abschlussfeststellung ankommen soll, vgl. FN-IDW 2013 S. 356, 358 f.
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Jahresabschlusses unberührt bleiben und nur in Fällen eines „Täuschungsversuchs“ (Bilanzfälschung, vorsätzliche Falschinformation des Abschlussprüfers) der Widerruf eines positiven Prüfungsurteils in Betracht kommen. 3. Offenlegung des Prüfungsberichts und Erläuterung des Prüfungsergebnisses Eine weitere, begrenzte Kommunikationsmöglichkeit im eröffneten oder mangels Masse nicht eröffneten Insolvenzverfahren ergibt sich aus § 321a HGB. Danach haben Gläubiger und Gesellschafter Zugang zum Prüfungsbericht und der Abschlussprüfer ein Recht zur Erläuterung seiner Prüfung.
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De lege ferenda sollte diese Kommunikationsmöglichkeit zu einer Kommunikationspflicht, jedenfalls gegenüber der Gesellschafterversammlung ausgebaut werden. Darüber hinaus scheint es sinnvoll, entsprechende Rechte und Pflichten auch über die Insolvenz hinaus auf andere „besondere Fälle“ zu erweitern, in denen Indizien für die Fehlerhaftigkeit eines Unternehmensabschlusses vorliegen. Zu denken ist dabei insbesondere an die Fälle der Einschränkung, der Versagung oder des Widerrufs des Bestätigungsvermerks.
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IV. Zusammenfassung (Thesen) 1. Der Abschlussprüfer ist als unabhängiger Sachverständiger wesentliches Element sowohl der unternehmensinternen Corporate Governance als auch der öffentlichen Rechnungslegungskontrolle. Aktuelle Problemfälle unterstreichen die Bedeutung einer qualitativ hochwertigen Abschlussprüfung. 2. Gesetzliche Prüfungspflicht und öffentliche Funktion der Abschlussprüfung bedingen eine grundsätzliche Pflicht zur Übernahme von Abschlussprüfungsmandaten. Die bestehende Regelungslücke der WPO ist durch die analoge Anwendung von § 15 BNotO zu schließen; die Durchsetzung obliegt auf Antrag der Wirtschaftsprüferkammer. 3. Aufgrund der gesetzlich vorgegebenen Ausrichtung auf die Aufdeckung von Unrichtigkeiten und Verstößen gegen die anwendbaren Rechnungslegungsnormen (§ 317 Abs. 1 Satz 3 HGB) ist mit der Kontrollfunktion der Abschlussprüfung auch eine erhebliche Korrekturfunktion verbunden; die Wahrscheinlichkeit, dass ein uneingeschränkt testierter Unternehmensabschluss in wesentlichen Punkten fehlerhaft ist, ist gering. 4. Risiken eines durch Selbstprüfung, Eigeninteressen, Bedrohung, Interessenvertretung oder übermäßige Vertrautheit korrumpierten Prüfungsurteils werden durch Gesetzgeber und Berufsstand zutreffend adressiert, auch wenn Nachschärfungen erforderlich bleiben. 5. Ob und inwieweit die Abschlussprüfung den Einsatz forensischer Methoden zur Aufdeckung von vorsätzlichen Falschbilanzierungen erfordert (de lege lata) oder Schüppen | 99
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erfordern sollte (de lege ferenda), ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Tatsächlich sind im Fall Wirecard solche erweiterten Prüfungshandlungen durchgeführt worden, so dass sich die anwendbaren Prüfungsstandards als angemessen erwiesen haben. Dass im Einzelfall als notwendig erkannte Prüfungshandlungen nicht lege artis durchgeführt oder aus getroffenen Feststellungen nicht die gebotenen Schlüsse gezogen werden, lässt sich durch Regulierung nicht ändern. 6. Der Abschlussprüfer ist verpflichtet, die Prüfung in dem sich aus den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften ergebenden zeitlichen Rahmen abzuschließen. 7. Durch die jüngere Gesetzgebung, namentlich das FISG, ist die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit zwischen Prüfungsausschuss und Abschlussprüfer laufend gestiegen. Sie kann erheblich zu einer weiteren Verbesserung der Qualität der Abschlussprüfung beitragen. 8. Stellt sich bei Meinungsverschiedenheiten der Prüfungsausschuss nicht auf die Seite des Abschlussprüfers, sondern auf die Seite des Vorstands, bleibt als ultima ratio die Einschränkung oder Versagung des Bestätigungsvermerks. Dabei gewinnt die Versagung wegen des Vorliegens von Prüfungshemmnissen („disclaimer of opinion“) an praktischer Bedeutung. 9. Unabhängig von der Kontroverse um den bilanziellen Fehlerbegriff ist das Ergebnis der Abschlussprüfung ein am Tage des Abschlusses der Prüfung abzugebendes Prüfungsurteil, das notwendig subjektiv ist. Nur unvollständige Information und Täuschung, nicht jedoch nachträglich gewonnene bessere Erkenntnis oder Meinungsumschwünge rechtfertigen eine „Korrektur“ dieses Prüfungsurteils durch Widerruf des Bestätigungsvermerks. 10. Im eröffneten oder mangels Masse nicht eröffneten Insolvenzverfahren ermöglicht § 321a HGB für Gläubiger und Gesellschafter den Zugang zu Prüfungsberichten und ein Erläuterungsrecht des Abschlussprüfers. De lege ferenda sollte eine Pflicht des Abschlussprüfers zu Auskünften und Fragebeantwortung gegenüber der Gesellschafter-versammlung begründet werden. Zudem sollten diese Rechte auf andere „besondere Fälle“ erweitert werden, in denen Indizien für die Fehlerhaftigkeit eines Unternehmensabschlusses vorliegen. Zu denken ist dabei insbesondere an die Fälle der Einschränkung, der Versagung oder des Widerrufs des Bestätigungsvermerks.
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Fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Öffentlichkeitsarbeit einer Finanzmarktaufsichtsbehörde Dr. Thorsten Pötzsch Exekutivdirektor Wertpapieraufsicht, Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rolle der BaFin bei fehlerhaften Abschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Neuordnung der Bilanzkontrolle nach Wirecard . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Konsequenzen des Gesetzgebers/ FISG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. „Blick in den Maschinenraum“ . . . . VI. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Sehr geehrter Herr Professor Storr, sehr geehrte Damen und Herren,1
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als ich für den heutigen Vortrag angefragt wurde, musste ich nicht lange zögern. Ich muss gestehen, dass eines meiner Entscheidungskriterien dabei nicht ganz uneigennützig war: Es ist wunderbar, an diesem großartigen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien zu Gast zu sein. Was für eine architektonische Meisterleistung von Sir Peter Cook! Vielen Dank für die Einladung! Mindestens genauso freue ich mich aber, heute mit Ihnen über die Perspektive der deutschen Wertpapieraufsicht auf das Thema fehlerhafte Unternehmensabschlüsse zu sprechen. Dass diese vor dem Hintergrund eines der größten Bilanzskandale der deutschen Geschichte spannend ist und von Presse und Öffentlichkeit zu Recht aufmerksam und kritisch beobachtet wird, steht außer Frage. Denn seien wir ganz ehrlich: Ohne das Kapitel Wirecard hätte die Bilanzkontrolle – durch Abschlussprüfer, aber auch staatliche Aufsicht – nicht die Brisanz und die Bedeutung, die sie jetzt hat. Ohne den nächsten etwa 20 Minuten vorzugreifen – ich bin überzeugt: Es ist essenziell, dass Aufsichtsbehörden ihren Umgang mit fehlerhaften Abschlüssen klar und aktiv kommunizieren.
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II. Rolle der BaFin bei fehlerhaften Abschlüssen Was hat nun ganz konkret die BaFin, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, mit fehlerhaften Unternehmensabschlüssen zu tun?
1 Die Vortragsform wurde beibehalten.
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In Deutschland ist die BaFin die maßgebliche Finanzmarktaufsichtsbehörde. Sie soll ein funktionsfähiges, stabiles und integres Finanzsystem gewährleisten. Aufgabe meines Geschäftsbereichs, der Wertpapieraufsicht, ist es, für faire und transparente Verhältnisse am Kapitalmarkt zu sorgen und Anleger zu schützen. Eines der wichtigsten Tätigkeitsgebiete ist dabei die Bilanzkontrolle.
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Das Enforcement ist für einen funktionierenden Finanzmarkt unerlässlich: Denn ohne korrekte, aussagekräftige Unternehmensabschlüsse, auf die die Anleger vertrauen können, gibt es keinen fairen und effizienten Kapitalmarkt. Dafür brauchen wir eine durchsetzungsstarke, funktionierende, schnelle und damit präventiv wirkende Bilanzkontrolle.
III. Neuordnung der Bilanzkontrolle nach Wirecard 6
In den vergangenen zwei Jahren hat sich im deutschen System der Bilanzkontrolle alles verändert. Den Grund dafür – Wirecard – habe ich bereits genannt. Sie erinnern sich sicher: Es ging um 1,9 Milliarden Euro aus angeblichem Drittpartnergeschäft des Unternehmens in Südostasien. Am 18.6.2020 musste Wirecard eingestehen, dass es bei den Saldenbestätigungen bezüglich der 1,9 Milliarden Euro offenbar zu Ungereimtheiten gekommen ist. Und nur vier Tage später, am 22.6.2020, wurde die böse Vorahnung dann letztendlich zur Gewissheit. Das Unternehmen teilte mit, dass das Geld nicht auffindbar sei und wahrscheinlich auch nie existierte. Für den deutschen Kapitalmarkt und die Finanzmarktaufsicht war der Wirecard-Skandal – ein Fall immenser Bilanzmanipulation bei einem DAX-Unternehmen – der Worst Case, ein extrem einschneidendes Ereignis. Er hat unter anderem dazu geführt, dass der Gesetzgeber das Enforcement neu aufgesetzt hat.
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Das war auch richtig, denn das alte System hat ganz offensichtlich nicht funktioniert. Ich kann mich noch gut an die Vorwürfe erinnern, die uns damals gemacht wurden. Viele waren gerechtfertigt, manche nicht unbedingt.
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Der zentrale Vorwurf war: Ihr habt nichts getan. Das war falsch. Die BaFin hatte gehandelt, durfte dies aber nicht kommunizieren. Wir hatten die DPR, die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, schon im Februar 2019 beauftragt, den verkürzten Abschluss 2018 von Wirecard zu prüfen.
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Die privatrechtlich organisierte DPR war im damaligen zweistufigen System der Bilanzkontrolle – die österreichischen Kollegen haben ein ähnliches System – die für Bilanzprüfungen auf der ersten Stufe primär zuständige Organisation. Die BaFin, auf der nachgelagerten zweiten Stufe angesiedelt, durfte gemäß der damals geltenden Rechtslage nur unter bestimmten Bedingungen in eine Rechnungslegungsprüfung der DPR eingreifen.
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Nämlich nur dann, wenn ihr die DPR berichtete, dass ein Unternehmen die Mitwirkung bei ihrer Prüfung verweigert hat oder das geprüfte Unternehmen mit dem von der DPR festgestellten Prüfungsergebnis nicht einverstanden war. Und ausdrücklich 102 | Pötzsch
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nur in diesen Fällen war die BaFin auf Grund Gesetzes befugt, ihre Bilanzkontrollprüfung auch bekannt zu machen. Daher durften wir im Fall Wirecard die Tatsache, dass wir die DPR mit der Prüfung beauftragt hatten, nicht veröffentlichen. Obwohl die BaFin also die Bilanzkontrollprüfung in Gang gesetzt hatte, blieben aktuelle und potenzielle Anleger wegen der gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten über diesen Umstand uninformiert. Eine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit darüber war gesetzlich ausgeschlossen. Die Pressereaktionen dazu sind Ihnen bekannt.
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Erst nachdem uns die DPR im Juli 2020 mitgeteilt hatte, dass die Wirecard AG ihre Mitwirkung an der DPR-Prüfung verweigert hat beziehungsweise mit deren Ergebnis nicht einverstanden war, wurden wir für die Prüfung zuständig. Damit konnten wir – sehr spät, eben erst im Juli 2020 – auch unsere Prüfungsanordnungen veröffentlichen.
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Nur mal zur Erinnerung: Bereits einige Wochen zuvor, am 18.6.2020, hatte das Unternehmen mit einer Ad-hoc-Mitteilung bekannt gegeben, dass der Wirtschaftsprüfer 1,9 Milliarden Euro nicht auffinden konnte.
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Ein zweiter großer Vorwurf lautete: Das zweistufige System der Bilanzkontrolle war für so einen Fall – einen langfristigen Betrug bei der Rechnungslegung, ausgehend wohl von der Management-Ebene – ungeeignet. Heute wissen wir: Dieser Vorwurf hat absolut ins Schwarze getroffen.
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Im Kern war die Bilanzkontrolle der DPR auf erster Stufe auf Kooperation mit den Unternehmen ausgerichtet. Es sollte eine freiwillige Mitwirkung der Unternehmen an der Rechnungslegungsprüfung ermöglichen, sozusagen als „Angebot an die Wirtschaft, sich beim Enforcement zu engagieren“, wie es in den Gesetzesmaterialien zum damaligen Bilanzkontrollgesetz nachzulesen ist.
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Deshalb war vorrangig die privatrechtlich verfasste DPR für die Bilanzkontrolle zuständig. Dieser fehlten selbstverständlich jegliche hoheitlichen Eingriffsbefugnisse gegenüber den Unternehmen – und damit die Power, in Verdachtsfällen auch durchzugreifen.
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Die BaFin als staatliche Behörde sollte erst unter den bereits erwähnten Voraussetzungen auf zweiter Stufe aktiv werden. Oder aber, als dritte und letzte Möglichkeit, die Bilanzkontrollprüfung der DPR „an sich ziehen“, wenn erhebliche Zweifel am Prüfergebnis der Prüfstelle oder an der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle bestanden. In der Literatur wurde uns im Enforcement-Verfahren die Rolle eines „Ersatzspielers“ zugesprochen. Ich finde, das ist ein sehr passender Vergleich.
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Heute ist klar: Das zweistufige System war zur Aufdeckung und Aufklärung krimineller Machenschaften völlig ungeeignet. Dafür darf die hoheitliche Behörde nicht auf der Ersatzbank sitzen. Deshalb hat der Gesetzgeber reagiert und die Bilanzkontrolle mit dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz, kurz FISG, nunmehr in die alleinige Verantwortung der BaFin gelegt und damit auf hoheitliche Eingriffe ausgerichtet.
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Ein dritter Vorwurf, der sich hieran direkt anschließt und den wir sehr oft gehört haben, war: Ihr habt nur zugeschaut, nicht rechtzeitig eingegriffen und das Verfahren der DPR gegen Wirecard nicht an Euch gezogen.
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Klare Antwort: Nach der damaligen Gesetzeslage konnten wir das nicht. Ich möchte die Diskussionen um die hohe Hürde der „erheblichen Zweifel“ im alten § 108 WpHG hier jetzt nicht rekapitulieren. Unter anderem war eine erhebliche Verfahrensdauer bei der DPR gerade nicht ausreichend, um die erheblichen Zweifel zu begründen. Schlussendlich waren wir, so wird es ebenfalls in der Literatur betont, zumindest auch durch die uns gesetzlich vorgegebenen Grenzen daran gehindert, frühzeitiger einzugreifen.
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Andere schwere Vorwürfe gegen die BaFin betrafen damals die Leerverkaufsmaßnahme in Bezug auf Wirecard-Papiere und die Anzeige von Journalisten wegen des Verdachts auf Marktmissbrauch. Diese Themen würden den heutigen Vortrag sprengen, ich möchte sie daher ausklammern.
IV. Konsequenzen des Gesetzgebers/FISG 22
Ich hatte es eben schon kurz erwähnt: Mit dem FISG hat der Gesetzgeber die Bilanzkontrolle in Deutschland grundlegend neu aufgestellt. Das erklärte Ziel ist es, Anhaltspunkte für fehlerhafte Rechnungslegung und damit auch für Bilanzmanipulation möglichst früh zu identifizieren und strafrechtlich relevante Sachverhalte gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft aufzuklären.
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Seit dem 1.1.2022 gibt es in Deutschland ein ausschließlich hoheitliches Enforcement, verantwortet durch die BaFin. Wir haben also die vollständige Kontrolle über das Prüfungsgeschehen. Und wir können in allen Prüfungsphasen hoheitliche Mittel einsetzen. Dazu gehören – das ist ebenfalls neu – auch forensische Untersuchungen. Mit alldem wollen wir eine schnellere, transparentere und effektivere Bilanzkontrolle gewährleisten.
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Durch die gesetzliche Änderung hat sich natürlich auch organisatorisch einiges verändert. Die Bilanzkontrolle ist direkt mir als Exekutivdirektor der Wertpapieraufsicht unterstellt. Das macht die Entscheidungswege kurz. Das Wirtschaftsprüfungs-Knowhow der DPR-Beschäftigten ist größtenteils erhalten geblieben, denn die meisten sind zu uns gewechselt. Außerdem konnten wir – auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt – weitere externe Mitarbeiter gewinnen. Wir haben jetzt deutlich mehr Wirtschaftsprüfer und Rechnungslegungsexperten als zuvor in unseren Reihen. Insgesamt soll die Bilanzkontrolle einmal 60 Mitarbeiter umfassen. Rund drei Viertel davon sind schon an Bord.
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Mit dem FISG hat der Gesetzgeber außerdem unsere Eingriffsbefugnisse deutlich erweitert. Zum Beispiel bei der Ermittlung von Rechnungslegungsverstößen. Das Stichwort „Forensik“ hatte ich bereits genannt.
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Durften wir früher im Wesentlichen nur die Vorlage von Unterlagen verlangen, erlaubt uns der neue § 107 WpHG heute darüber hinaus zum Beispiel Durchsuchungen, Sicherstellungen und Beschlagnahmen, natürlich unter Richtervorbehalt. Wir sind zudem berechtigt, Personen vorzuladen und zu vernehmen.
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Die zweite überaus wichtige Säule unserer neuen, besseren Bilanzkontrolle ist die Öffentlichkeitsarbeit. Das Bekanntmachungsregime, ebenfalls eingeführt durch das FISG, eröffnet uns auf diesem Gebiet ganz neue Möglichkeiten. Was heißt das konkret?
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Absolut wesentlich: Wir können nach § 107 WpHG bereits die Prüfungsanordnung bekannt machen. Das heißt: Der Kapitalmarkt sieht, wenn wir eine Prüfung starten.
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Bekannt machen meint hier und in den weiteren Fällen vor allem die Veröffentlichung der Information auf unserer Internetseite und im Bundesanzeiger. Bei Wirecard war das, wie ich gerade ausgeführt habe, von Gesetzes wegen unmöglich.
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Außerdem können wir – ebenfalls gemäß § 107 WpHG – während des gesamten Bilanzkontrollverfahrens über wesentliche Verfahrensschritte informieren. Oder über die Erkenntnisse, die wir im Laufe des Verfahrens gewonnen haben. Bei Wirecard ebenfalls undenkbar. Heute ist das anders. Heute haben wir hier deutlich mehr Freiheit im Enforcement.
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Aktiv kommunizieren können wir auch Prüfungsergebnisse. Wenn eine unserer Prüfungen ergibt, dass die Rechnungslegung eines Unternehmens fehlerhaft ist, dann stellen wir den Fehler fest und machen ihn grundsätzlich nach § 109 WpHG unverzüglich bekannt.
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Vor dem Inkrafttreten des FISG war das geprüfte Unternehmen dafür verantwortlich, den von uns oder der DPR festgestellten Fehler bekannt zu machen. Nach neuer Rechtslage nehmen wir die Bekanntmachung unverzüglich selbst vor. Bekanntmachungen von Fehlerfeststellungen können daher nun deutlich schneller erfolgen.
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Umgekehrt gilt das natürlich ebenso: Haben wir eine Prüfungsanordnung bekannt gemacht und ergeben sich im Rahmen der Prüfung keine Beanstandungen, veröffentlichen wir dies gemäß § 109 WpHG ebenfalls. Anleger werden also umfassend über den Ausgang der Prüfung informiert.
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Welche Möglichkeiten haben wir neben der Feststellung und Bekanntmachung eines konkreten Rechnungslegungsfehlers noch? Die sogenannte Bilanzkorrektur. § 109 WpHG sieht die Möglichkeit zur Feststellung vor, wie sich die Rechnungslegung ohne den Fehler dargestellt hätte.
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Wir können dann außerdem gegenüber dem Unternehmen anordnen, den Fehler unter Berücksichtigung unserer Rechtsauffassung und unter Neuaufstellung des Abschlusses oder Berichts zu berichtigen.
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Gegenüber der Öffentlichkeit können wir nach § 109 WpHG bekannt machen, wie sich die Rechnungslegung ohne den Fehler dargestellt hätte – und dem Kapital-
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markt so die berichtigten Informationen zur Verfügung stellen. Ein Punkt ist mir hier noch wichtig: Die Anordnung einer solchen Korrektur wird nicht der Regelfall sein. 37
Haben wir gegenüber dem geprüften Unternehmen angeordnet, dass der Fehler unter Berücksichtigung unserer Rechtsauffassung unter Neuaufstellung des Abschlusses oder Berichts für das geprüfte Geschäftsjahr oder im nächsten Abschluss oder Bericht zu berichtigen ist, und hat das Unternehmen dieser Anordnung Folge geleistet, indem es den bekannt gemachten Fehler behoben hat, dann machen wir gemäß § 109 WpHG auch das bekannt.
V. „Blick in den Maschinenraum“ 38
Soweit zu den rechtlichen Vorgaben. Aber wie setzen wir diese konkret in die Tat um? Lassen Sie uns dazu einen kurzen Blick in den „Maschinenraum“ werfen. Das Wichtigste vorweg: Der neue Motor läuft!
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Das neue Bekanntmachungsregime in der Bilanzkontrolle ermöglicht uns eine deutlich aktivere Kommunikation. Und diesen Spielraum nutzen wir auch. Denn Kommunikation hat für unsere Arbeit einen hohen Stellenwert. Das FISG hat die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen. Allein die Tatsache, dass wir aktiv kommunizieren können, soll Unternehmen idealerweise davon abschrecken, überhaupt Rechnungslegungsfehler zu begehen. In der Regel möchten sie ja nicht durch die BaFin, also die Finanzmarktaufsicht, in die Medien kommen.
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Wichtig ist mir, dass wir in puncto Kommunikation nicht auch nur den Anschein erwecken, willkürlich vorzugehen oder Unternehmen grundlos an den Pranger zu stellen. Wir haben uns klare Richtlinien gegeben und diese in Form einer Aufsichtsmitteilung im März auch veröffentlicht.
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Wir veröffentlichen demnach Prüfungsanordnungen, denen konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften zugrunde liegen. Also Anordnungen zu sog. Anlassprüfungen.
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Wenn wir mit einer Prüfungsanordnung an die Öffentlichkeit gehen, benennen wir das betroffene Unternehmen und den Prüfungsgrund, auf weitere Verfahrensdetails gehen wir nicht ein.
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Voraussetzung für alle Bekanntmachungen ist, dass daran ein öffentliches Interesse besteht. Woran machen wir das fest? Wir wägen in jedem Einzelfall das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit ab mit dem Interesse des betroffenen Unternehmens an der Geheimhaltung der angeordneten Prüfung. Entscheidende Kriterien sind für uns dabei die Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Rechnungslegungsvorschriften und dessen potenzielle Relevanz für den Kapitalmarkt.
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Mit unseren Bekanntmachungen möchten wir den Kapitalmarkt in die Lage versetzen, relevante Bilanzkontrollverfahren zur Kenntnis zu nehmen, sie adäquat zu be106 | Pötzsch
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werten und in Unternehmensbewertungen einfließen zu lassen. Gerade für Anleger und ihre Investitionsentscheidungen sind anhängige oder abgeschlossene Rechnungslegungsprüfungen wichtig. Die Bekanntmachungen von Maßnahmen der Bilanzkontrolle seit Jahresbeginn finden Sie auf unserer Webseite. Seit Januar haben wir dort 15 Meldungen veröffentlicht. Mit Blick auf die Zeit möchte ich drei Beispiele kurz hervorheben:
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Am 15.7.2022 haben wir eine Prüfungsanordnung publiziert. Sie betrifft den offengelegten Einzelabschluss und den dazugehörigen Lagebericht der Deutsche Konsum REIT-AG zum 30.9.2021. Wir haben diese Prüfung angeordnet, weil uns konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Bilanzierungen von Darlehensvereinbarungen und von erworbenen Darlehen entgegen IFRS 9 möglicherweise nicht vollständig und richtig erfasst und abgebildet worden sind.
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Kurz danach, am 1.8.2022, haben wir eine Teilfehlerfeststellung für den Konzernabschluss der Adler Real Estate AG zum 31.12.2019 bekannt gegeben. Das Immobilienprojekt „Glasmacherviertel“ in Düsseldorf-Gerresheim wurde mit 375 Millionen Euro angesetzt und damit aus unserer Sicht um mindestens 170 Millionen Euro bis höchstens 233 Millionen Euro zu hoch bewertet.
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Eine abschließende Fehlerbekanntmachung haben wir am 26.1.2022 publik gemacht, sie betraf den verkürzten Abschluss der E.On SE zum 30.6.2016. Die E.ON SE hatte die Ermittlung des beizulegenden Zeitwerts der vorgesehenen Uniper SE methodisch fehlerhaft vorgenommen.
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Alle diese Verfahren betreffen übrigens Unternehmensabschlüsse, denen Wirtschaftsprüfer bereits ihr Testat erteilt hatten.
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Sehr geehrte Damen und Herren,
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auf einige ausgewählte Aspekte rund um unsere Öffentlichkeitsarbeit zu fehlerhaften Unternehmensabschlüssen möchte ich gerne kurz gesondert eingehen. Zunächst auf die Teilfehlerfeststellung. Wie bereits erläutert, können wir unter dem neuen Bekanntmachungsregime grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt über die Zwischenergebnisse einer noch laufenden Prüfung kommunizieren. Wir machen daher nun erste, von uns final festgestellte Fehler in der Einkleidung einer sogenannten Teilfehlerfeststellung nach § 109 Abs. 2 WpHG bekannt. Ergibt sich also im Laufe einer Prüfung ein konkreter wesentlicher Rechnungslegungsfehler, warten wir nicht bis zum Abschluss der Prüfung. Dabei weisen wir natürlich auch darauf hin, dass die sonstige Prüfung des Abschlusses noch andauert. Wir informieren den Kapitalmarkt damit also möglichst frühzeitig.
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Ein gutes Beispiel ist die laufende Prüfung bei der ADLER Real Estate AG. Am 1.8.2022 haben wir, wie schon erläutert, bekannt gegeben, dass das Düsseldorfer Immobilienprojekt „Glasmacherviertel“ im Jahresabschluss des Unternehmens zum 31.12.2019 deutlich zu hoch bewertet ist. In diesem Fall haben wir übrigens – weil das Interesse der Öffentlichkeit besonders hoch war – die Fehlerbekanntmachung
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mit einer Pressemitteilung begleitet. Darin haben wir – im Sinne der Transparenz und Verständlichkeit, aber losgelöst vom konkreten Einzelfall – die betroffenen Rechnungslegungsvorschriften erläutert. 53
Der Vollständigkeit halber noch zum Fall ADLER: Wir prüfen hier natürlich auch im Hinblick auf möglichen Marktmissbrauch. Denn grundsätzlich können fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Marktmissbrauch – und hier ist mir der Begriff „können“ sehr wichtig – Hand in Hand gehen.
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Wenn es um Themen wie Bilanzmanipulation geht, bekommt natürlich auch die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft eine besondere Relevanz. Nach § 110 WpHG müssen wir Tatsachen, die den Verdacht einer Straftat im Zusammenhang mit der Rechnungslegung eines Unternehmens begründen, der für die Verfolgung zuständigen Behörde anzeigen.
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Wenn solche verdachtsbegründenden Tatsachen im konkreten Fall also vorliegen, besteht eine Pflicht zur Mitteilung an die Staatsanwaltschaft. Anschließend stimmen wir uns mit der Staatsanwaltschaft ab, bevor wir weitere Maßnahmen ergreifen oder auch wesentliche Untersuchungsschritte in einem Bilanzkontrollverfahren – etwa die Erstattung einer Strafanzeige – veröffentlichen.
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So stellen wir sicher, dass wir die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften (oder der Landeskriminalämter beziehungsweise des Bundeskriminalamtes) nicht gefährden, beispielsweise indem wir unabgestimmt Auskunfts- und Vorlageersuchen an das Unternehmen richten und die Verantwortlichen dadurch „aufschrecken“. Gleiches gilt für unsere Öffentlichkeitsarbeit.
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Sehr geehrte Damen und Herren, zurück zur Öffentlichkeitsarbeit. Bei aller Transparenz ist eines aber auch klar: Die Ankündigung einer Anlassprüfung führt naturgemäß zunächst einmal zu einer gewissen Unsicherheit. Sie kann am Kapitalmarkt Fragen aufwerfen. Was konkret ist der Vorwurf? Wo genau liegt der Fehler in der Rechnungslegung? Handelt es sich gar um Bilanzmanipulation?
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Daher gilt auch in der Kommunikation – wie immer in einem hoheitlichen Verwaltungsverfahren – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
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Dementsprechend geben wir ausschließlich Anlassprüfungen bekannt. Also solche Prüfungen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften vorliegen. Stichprobenkontrollen, die wiederum routinemäßig auf Grundlage einer bestimmten Risikozuordnung erfolgen, kommunizieren wir nicht.
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Außerdem ist es unser Ziel, die Zeit der Unsicherheit so kurz wie möglich zu halten. Wir betreiben Bilanzkontrollverfahren mit Hochdruck. Auch die Bekanntmachung von Teilfehlerfeststellungen hilft, Unsicherheit zu reduzieren, indem der Markt über den Stand des Verfahrens zeitnah informiert wird.
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Im Fall Wirecard hätten zahlreiche Anleger von einem Investment Abstand genommen, wäre bekannt gewesen, dass die BaFin eine Bilanzkontrollprüfung angestoßen hat. Denn eine höhere Transparenz, untermauert durch aktive Kommunikation, wird sich mittel- bis langfristig übersetzen in höheres Vertrauen – in die Bilanzkontrolle und in den Finanzmarkt als Ganzes.
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VI. Schluss Sehr geehrte Damen und Herren,
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seit Jahresbeginn ist das Enforcement einstufig; wir bei der BaFin tragen die alleinige Verantwortung für die Bilanzkontrolle in Deutschland. Das ist folgerichtig und konsequent. Die vom Gesetzgeber deutlich erweiterte Möglichkeit zur Öffentlichkeitsarbeit ist dabei eines unserer wichtigsten Instrumente. Weil sie Transparenz für den Kapitalmarkt schafft. Und weil sie auch abschreckt. Unsere Öffentlichkeitsarbeit ist verhältnismäßig; wir orientieren uns an klaren Richtlinien, die wir auch bekannt gemacht haben. Und wir gehen neue Wege, indem wir zum Beispiel auch Teilfehlerfeststellungen bekannt machen.
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Die entscheidende Frage ist jetzt natürlich: Reicht das, um einen neuen Fall Wirecard zu verhindern? Sie wissen selbst: Kriminalität in Unternehmen lässt sich nicht kraft Gesetzes ausschließen. Aber: Das Risiko erwischt zu werden, war jedenfalls noch nie so hoch wie jetzt. Und: Gesetzgeberisch, organisatorisch und personell wurden alle Voraussetzungen geschaffen für eine starke, risikoorientierte Bilanzkontrolle.
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Wir haben aus dem Skandal gelernt. Wir sind heute deutlich besser aufgestellt. Wir haben mehr Befugnisse, zum Beispiel in der Öffentlichkeitsarbeit, die wir auch nutzen. Und wir haben unser Ziel fest im Blick: faire und transparente Verhältnisse am deutschen Kapitalmarkt und Schutz der Anleger. Herzlichen Dank!
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Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen Prof. Dr. Florian Becker, LL.M. (Cambridge) Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Wirtschaftsrecht, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Information der Öffentlichkeit durch die BaFin . . . . . . . . . . . . 1. Die BaFin als Anstalt des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Aufgaben der BaFin . . . . . . . . . 3. BaFin und Wirecard . . . . . . . . . . . . 4. Ermächtigungsgrundlagen für öffentliche Warnungen durch die BaFin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Informationsrechtliche Generalklausel (§ 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befugnis für die öffentliche Information über Normverstöße (§ 6 Abs. 9 WpHG) . . . . . . . . . . c) Informationen über Prüfungen (§ 107 Abs. 1, 8 f. und § 109 WpHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Weitere spezielle Bekanntmachungsbefugnisse (§§ 123 ff. WpHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Befugnis zur Selbstvornahme von Veröffentlichungen und Mitteilungen (§ 6 Abs. 14 WpHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Rahmenbedingungen . . 53 1. Anwendbare Grundrechte . . . . . . . 54 2. Schutzbereiche und Eingriff . . . . . 59 a) Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 60 b) Informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Einordnung der Veröffentlichung in die Lehre von den Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4. Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5. Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 6. Inhaltliche Bindung . . . . . . . . . . . . 81 a) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . 84 b) Insbesondere: Sachliche Richtigkeit und Ungewissheit aa) Grundsatz: Pflicht zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . 87 bb) Ausnahme: Handeln unter Ungewissheit . . . . . . . . . . . . 90 7. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
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I. Einleitung Der moderne demokratische Staat spricht mit seinen Bürgern – und er spricht über sie.
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Zum einen erfüllt der Staat seine Aufgaben schon lange nicht mehr allein oder in erster Linie mittels Befehl und Gehorsam, sondern er ersetzt klassisch-hoheitliche durch kooperative Handlungsinstrumente oder aber er bereitet den hoheitlichen Eingriff zumindest kommunikativ, bisweilen aber auch inhaltlich vor – etwa durch Anhörungen oder gar die Aushandlung von Regelungen mit gesellschaftlichen Akteu-
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Rz. 2 | Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen
ren. Er nimmt kommunikativ und belehrend auf Diskussionen im gesellschaftlichen Bereich Einfluss oder begleitet staatliches Handeln durch korrespondierende Öffentlichkeitsarbeit, um auf diese Weise Akzeptanz für seine Maßnahmen zu fördern. 3
Zum anderen spricht der Staat aber auch über seine Bürger. Diese staatliche Informations- und Kommunikationstätigkeit dient einer Vielzahl von Zwecken: Sie bewegt sich noch im Kernbereich klassischer Staatsaufgaben, wenn die Bürger vor Gefahren – vor vergiftetem Wein,1 vor obskuren Jugendsekten2 oder vor Investitionen in Unternehmen mit fragwürdigem Geschäftsgebaren – gewarnt werden sollen. Staatliche Information dient bisweilen auch der Herstellung von Markttransparenz, so dass der mündige Verbraucher trotz entsprechender Informationsasymmetrien Konsumentscheidungen gut informiert und eigenverantwortlich trifft.3
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Hier ge- oder verbietet der Staat nichts. Er vertraut aber auf die Reaktion des von ihm informierten Bürgers oder Konsumenten und vielleicht auch auf die verhaltenslenkende Wirkung der Information bei demjenigen, vor dem gewarnt oder über den informiert wurde. Auf beiden Seiten erreicht der Staat sein Regelungsziel damit nicht unmittelbar durch hoheitlichen Zwang, sondern mittelbar-faktisch aufgrund der prima facie autonomen Reaktionen der Informationsempfänger auf das staatliche Informationshandeln.4 Immerhin genießt der Staat beim gewarnten Bürger eine gewisse Glaubwürdigkeit und das exponierte Unternehmen weiß um die alternativen, hoheitlichen Handlungsoptionen, die ihm gegebenenfalls ansonsten drohen könnten.
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Neuerdings wird die staatliche Information über Rechtsverstöße von Individuen und Unternehmen sogar – und zwar mit Zustimmung des Bundesverfassungsgerichts – im Sinne eines name and shame, eines modernen Prangers, als Sanktion für rechtswidriges Verhalten eingesetzt.5 Gerade dort, wo wirtschaftliche Interessen betroffen sind, hat eine Information der Öffentlichkeit über Fehlverhalten viel dramatischere Folgen für ein Unternehmen, als die diskrete Verhängung einer finanziellen Sanktion, die sofort und lautlos beglichen wird.
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Seit langem bemühen sich die Rechtsprechung und die Wissenschaft vom öffentlichen Recht diese ganz unterschiedlichen Phänomene veränderten staatlichen Kommunikations- und Informationsverhaltens verfassungsrechtlich zu domestizieren.
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Sichtbare Ergebnisse dieses Diskurses und der durch ihn entwickelten Grundrechtssensibilität sind eine ganze Reihe von Versuchen, das Phänomen staatlicher Kommunikations- und Informationstätigkeit gesetzlich, d.h. durch den Erlass entsprechender Ermächtigungsgrundlagen einzuhegen. Intensiv diskutierte Beispiele hierfür fin-
1 BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91, 1 BvR 1428/91, BVerfGE 105, 252 – Glykolwein. 2 BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 670/91, BVerfGE 105, 279 – Osho. 3 Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation, BTDrucks. 16/5404, 7. 4 Vgl. BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 670/91, BVerfGE 105, 279, 300 f. 5 BVerfG v. 21.3.2018 – 1 BvF 1/13, BVerfGE 148, 40, 52.
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Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen | Rz. 13
den sich in dem Bereich des Lebensmittelrechts,6 dessen Bedeutung für die Lebensmittelsicherheit jedermann sofort einleuchtet. Doch auch der hier zur Diskussion stehende wirtschaftliche Lebensbereich – das Recht des Wertpapierhandels – hat eine für den unbedarften Beobachter zwar weniger offensichtliche, aber doch fundamentale Bedeutung für die Wirtschafts- und Finanzordnung des Staates. Auch in diesem Bereich hat der Gesetzgeber mit der Zeit und z.T. zur Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben vielfältige Informationsbefugnisse und -pflichten der zuständigen Behörde geschaffen, deren verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen im Folgenden dargelegt werden soll.
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II. Die Information der Öffentlichkeit durch die BaFin Im Falle von Wirecard ist das ökonomische Schicksal von Unternehmen, Gläubigern und Aktionären wohl in erster Linie durch kriminelle Machenschaften besiegelt worden. Dennoch stellt sich in einem staatlicherseits stark regulierten und beaufsichtigten Umfeld immer auch die Frage nach möglichen behördlichen Versäumnissen, aus denen dann nicht nur politische Konsequenzen, sondern zudem Lehren für die Zukunft gezogen werden können. Hätte die „Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht“ (BaFin) früher prüfen, konsequenter eingreifen und – beides flankierend – die Öffentlichkeit früher warnen können oder gar müssen?
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Um diese Fragen beantworten zu können, bedarf es einer Betrachtung der insoweit einschlägigen Befugnisse, Handlungen und Unterlassungen der BaFin.
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1. Die BaFin als Anstalt des öffentlichen Rechts Die BaFin wurde im Jahre 2002 durch Zusammenlegung des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen, des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen und des Bundesaufsichtsamtes für den Wertpapierhandel als bundesunmittelbare, rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts gegründet (vgl. § 1 Abs. 1 FinDAG).
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2. Die Aufgaben der BaFin Das Errichtungsgesetz enthält keine kohärente verwaltungsrechtliche Aufgabenzuweisung an die neue Behörde. Diese lässt sich zunächst nur institutionell erschließen, da die BaFin nach § 4 Abs. 1 FinDAG die ursprünglich den genannten Behörden übertragenen Aufgaben übernommen hat.
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Die genauen Aufgaben und Befugnisse der BaFin wie auch der Börsenaufsichten der Länder, der Bundesbank, der EZB und der ESMA sind im Kapitalmarktrecht über zahlreiche Fachgesetze verteilt.7
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6 Vgl. z.B. § 40 LFGB, § 2 VIG. 7 Hippeli in BeckOK/WpHR, 4. Ed. 15.5.2022, § 6 WpHG Rz. 1.
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Die Befugnisse der BaFin werden dabei von der Maßgabe umklammert, dass sie bei der Wahrnehmung „ihres gesetzlichen Auftrags auch dem Schutz der kollektiven Verbraucherinteressen verpflichtet“ ist (§ 4 Abs. 1a WpHG).8 Diese Bezugnahme auf kollektive – aber eben gerade nicht individuelle – Interessen steht im Einklang mit der Aussage des § 4 Abs. 4 FinDAG,9 nach dem die Behörde ihre Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt. Damit ist eine Amtshaftung wegen Fehlern bei der Ausübung der Aufsicht generell ausgeschlossen, weil es den entsprechenden, möglicherweise verletzten Normen an einer für die Amtshaftung erforderlichen sachlichen und persönlichen Drittwirkung mangelt.10 Lediglich die beaufsichtigten Bankunternehmen selbst können (trotz der Regelung des § 4 Abs. 4 FinDAG) im Falle von rechtswidrigen repressiven Aufsichtsmaßnahmen einen Schadensersatzanspruch wegen einer Amtspflichtverletzung geltend machen.11
15
Eine bereichsspezifische Präzisierung der behördlichen Aufgaben findet sich dann u.a. in § 6 ff. WpHG. Doch stellt auch diese Norm nicht den Schlüssel zu einer umfassenden Aufsichtstätigkeit im Kapitalmarkt dar, sondern erfasst nur den Anwendungsbereich des WpHG selbst sowie der weiteren dort genannten Normen; andere Fachgesetze (BörsG, KWG, WpÜG, WpPG, VermAnlG, KAGB) weisen eigene Regelungen zu Aufgaben und Befugnissen auf.12
16
Mit Blick auf das Wertpapierhandelsrecht legt § 6 Abs. 2 WpHG für die BaFin neben der Aufgabe, „im Rahmen der ihr jeweils zugewiesenen Zuständigkeit die Einhaltung der Verbote und Gebote dieses Gesetzes“, weiterer deutscher Gesetze und Verordnungen sowie europäischen Sekundär- und Tertiärrechts zu überwachen, die Befugnis fest, „Anordnungen [zu] treffen, die zu ihrer Durchsetzung geeignet und erforderlich sind“.
17
Während der erste Satz eine bloße, nicht zu Grundrechtseingriffen ermächtigende Aufgabennorm darstellt, weist der zweite Satz der BaFin unspezifische Eingriffsbefugnisse im Stile einer polizeilichen Generalklausel13 zu, die indes allein schon wegen ihrer erheblichen inhaltlichen Unbestimmtheit rechtsstaatlich fragwürdig, sicher aber
8 Boehm in Park, Kapitalmarktstrafrecht, 5. Aufl. 2019, Kap. 1.2. Rz. 16. 9 Zu Hintergrund und Entstehung sowie zu der verfassungsrechtlichen Diskussion um die Vorgängervorschrift (§ 6 Abs. 4 KWG i.d.F.d. G. v. 22.10.1997, BGBl. I, S. 2518) vgl. Fischer in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, Kreditwesengesetz, Kommentar, 5. Aufl. 2016, Einf. KWG Rz. 170; Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 65 f. 10 Dies wurde bislang auch unionsrechtlich akzeptiert: EuGH v. 12.10.2004 – C-222/02, ECLI:EU:C:2004:606, Rz. 47, s.a. hierzu die Anm. Häde, EuZW, 2005, 39 ff.; s.a. Lehmann/Schürger, WM 2021, 905, 907 ff.; es ist allerdings umstritten, ob die Entscheidungen C-735/19, 571/16 insoweit eine Neubewertung veranlassen (s. dazu etwa Anm. Goj, BKR 2021, 431, 436; Schürger, BKR 2021, 601, 605, der darin eine Entscheidung für den Drittschutz sieht). 11 BGH v. 2.6.2005 – III ZR 365/03, NJW-RR 2005, 1406; Fischer in Boos/Fischer/SchulteMattler, Kreditwesengesetz, Kommentar, 5. Aufl. 2016, Einf. KWG Rz. 171. 12 Hippeli in BeckOK/WpHR, 4. Ed. 15.5.2022, § 6 WpHG Rz. 2. 13 Der Begriff findet sich auch in der Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 18/10936, 225.
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gegenüber spezifischen Eingriffsbefugnissen, von denen § 6 WpHG in den folgenden Absätzen selbst schon eine ganze Reihe enthält, subsidiär sind. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die behördlichen Prüfbefugnisse und -pflichten. Diese sind v.a. in §§ 106 ff. WpHG abschließend geregelt und an bestimmte Eingriffsvoraussetzungen gebunden. Daneben darf daher ein entsprechendes Prüfverfahren nicht etwa anlasslos auf der Grundlage von § 6 Abs. 1 Satz 2 WpHG eingeleitet werden
18
3. BaFin und Wirecard In dem komplexen Konzerngeflecht „Wirecard“ unterlag zwar wohl nicht die Konzernmutter, die Wirecard AG mit Sitz in Aschheim, wohl aber deren zu 100 % über eine weitere GmbH gehaltene Wirecard Bank AG als mit einer deutschen Genehmigung tätiges Kreditinstitut der Aufsicht der BaFin. Weitere Unternehmen wurden im Ausland von ausländischen Behörden beaufsichtigt. Ob nicht auch die Wirecard AG selbst als Finanzholdinggesellschaft im Sinne der CRR14 hätte beaufsichtigt werden müssen, war und ist zumindest umstritten.15
19
Vor dem Hintergrund einer sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden, vernichtenden Medienberichterstattung über Marktmanipulationen und Bilanzfälschungen durch ausländische Tochterunternehmen, der das Unternehmen allerdings immer wieder kraftvoll und erfolgreich entgegentrat, wuchsen auch bei der BaFin die Zweifel an der Tragfähigkeit der Bilanzen der Wirecard AG.
20
Da die Rechnungslegung zentrale Bedeutung für die wirtschaftliche Betätigung eines Unternehmens, seiner Finanzierung und für die Anleger aufweist, erfolgt deren Überwachung zum einen durch den Aufsichtsrat, die Hauptversammlung sowie durch die gesetzlich vorgesehene Prüfung der von Kapitalgesellschaften aufgestellten Bilanzen nach § 322 HGB. Das schon vor der causa Wirecard geschaffene, zumindest z.T. behördliche Bilanzkontrollverfahren dient zum anderen der komplementären staatlichen Überwachung der Rechnungslegung.16
21
Ursprünglich war das Verfahren zweistufig und unter Beteiligung eines privaten Akteurs aufgebaut: Der inzwischen aufgehobene17 § 342b HGB18 regelte bis zum Jahr 2022 Einrichtung, Aufgaben und Stellung der unabhängigen privatrechtlich organisierten und vom BMJ anerkannten Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung DPR
22
14 Richtlinie 2002/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2002 über die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines Finanzkonglomerats und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 79/267/EWG, 92/49/EWG, 92/96/EWG, 93/6/EWG und 93/22/EWG des Rates und der Richtlinien 98/78/EG und 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EU Nr. L 35 v. 11.2.2003, S. 1–27. 15 Lehmann/Schürger, WM 2021, 857, 859. 16 Schneider, NZG 2020, 1401, 1401. 17 Gesetz v. 3.6.2021, BGBl. I 2021, 1534 – Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz. 18 Gesetz v. 15.12.2004, BGBl. I 2004, 3408 – Bilanzkontrollgesetz.
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Rz. 22 | Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen
e.V. Deren Tätigkeit bildete neben den bereits genannten Kontrollinstanzen eine dritte Säule der Kontrolle der Rechnungslegung.19 23
Die DPR beteiligte sich unter Aufsicht der letztlich für eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung zuständigen BaFin20 an der Sicherstellung ordnungsgemäßer Rechnungslegung bei Unternehmen. Der Prüfstelle oblagen gesetzliche Anzeige- und Auskunftspflichten über die Durchführung und die Ergebnisse der Prüfungen, die allerdings auf Freiwilligkeit der Unternehmen beruhten.21
24
Nach einer Prüfung der DPR auf der ersten Stufe eines zweistufigen, z.T. unionsrechtlich vorgeprägten22 Enforcement-Verfahrens, konnte die BaFin – soweit Verstöße festgestellt wurden oder die Unternehmen auf der ersten Stufe nicht freiwillig mitwirkten – in der zweiten Stufe Prüfungen und die Veröffentlichung von Bilanzfehlern mit hoheitlichen Mitteln sowie weitere Maßnahmen durchsetzen (§ 106– § 113 WpHG).
25
Nach § 108 Abs. 2 WpHG a.F. konnte die BaFin von der Prüfstelle die Einleitung einer Prüfung verlangen, soweit die Voraussetzungen des § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG, mithin „soweit konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften vorliegen“.
26
Auf der Grundlage des § 108 Abs. 1 Satz 2 WpHG23 kam auch damals schon eine Verpflichtung der BaFin in Betracht, das Verfahren unmittelbar an sich zu ziehen und eine eigene Prüfung durchzuführen. Eine solche Übernahme der Prüfung konnte hiernach insbesondere dann erfolgen, wenn erhebliche Zweifel an der ordnungsgemäßen Prüfung durch die Prüfstelle bestehen, da die BaFin deren ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung sicherstellen muss.
27
In der causa Wirecard schickte die Prüfstelle wohl erst nach über einem Jahr einen Zwischenbericht an die BaFin. Zusätzlich gab es Medienberichte über eine nicht hinreichende personelle Besetzung bei der Prüfung. Diese Umstände können durchaus erhebliche Zweifel i.S.d. § 108 Abs. 1 Satz 2 begründen und hätten die BaFin zur Übernahme des Verfahrens bewegen können oder gar müssen.24
28
Als Reaktion auf den „Wirecard-Skandal“ hat die Bundesregierung einen „Aktionsplan zur Bekämpfung von Bilanzbetrug und Stärkung der Kontrolle über Kapital und Finanzmärkte“ zum 1.7.2021 auf den Weg gebracht und durch Art. 4 FISG ge19 20 21 22
Reinhardt in BeckOK/HGB, 37. Ed. 15.7.2022, § 342b Rz. 1. Lehmann/Schürger, WM 2021, 857. Reinhardt in BeckOK/HGB, 37. Ed. 15.7.2022, § 342b Einl. Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. EU Nr. L 390 v. 31.12.2004, S. 38–57. 23 Neugefasst durch Zweites Gesetz zur Novellierung von Finanzmarktvorschriften auf Grund europäischer Rechtsakte (Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz – 2. FiMaNoG) v. 23.6.2017, BGBI. I S. 1693. 24 Lehmann/Schürger, WM 2021, 857, 860 f.
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regelt.25 Seitdem sind Anlass- und Stichprobenprüfungen allein Sache der BaFin. Bei Verdacht von Bilanzverstößen kann direkt gegenüber dem Kapitalmarktunternehmen gehandelt werden. Zudem hat der Gesetzgeber das Spektrum hoheitlicher Untersuchungsbefugnisse ausgedehnt (z.B. erweiterte Auskunftsrechte, Durchsuchungen, Beschlagnahmungen).26 4. Ermächtigungsgrundlagen für öffentliche Warnungen durch die BaFin In der causa Wirecard wird der BaFin nun u.a. neben Versäumnissen bei der Prüfung selbst vor allem vorgeworfen, die Öffentlichkeit nicht rechtzeitig gewarnt und von den gegen die Wirecard AG stehenden Verdachtsmomenten in Kenntnis gesetzt zu haben; vielmehr habe die Behörde durch ihre Öffentlichkeitsarbeit den falschen Eindruck hervorgerufen, dass die zahlreichen medial vorgetragenen Verdächtigungen gegen das Unternehmen im Hinblick auf mögliche Rechtsverstöße unwahr seien.27
29
Dieser letztgenannte Vorwurf lenkt den Blick von den Rechtsgrundlagen für Prüfungen auf die verschiedenen Normen, die die Kommunikation der BaFin mit der Öffentlichkeit ermöglichen und begrenzen sollen.
30
a) Informationsrechtliche Generalklausel (§ 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG) Der Instrumentenkasten der BaFin wird ganz im Sinne der inzwischen üblichen Handlungsformen von Behörden durch eine Informationsbefugnis ergänzt. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG, der im Jahr 2017 zur Umsetzung einer Vorgabe aus der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente28 in das WpHG eingefügt wurde,29 kann die Behörde „insbesondere auf ihrer Internetseite öffentlich Warnungen aussprechen, soweit dies für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist“. Diese Warnungen sind also zwingend aufgabenakzessorisch.
31
Zu den damit eine Informationsbefugnis begründenden Aufgaben der BaFin gehört nach § 6 Abs. 2 Satz 2 WpHG auch die Beseitigung und Verhinderung von „Missständen“. Diese liegen jedenfalls dann vor, wenn ein „nachhaltiger Verstoß“ gegen
32
25 BGBI. I 2021, S. 1498. 26 https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Fachartikel/2021/fa_bj_2106_ FISG.html (zuletzt abgerufen am 8.11.2022); Haegler, BB 2021, 1838. 27 Lehmann/Schürger, WM 2021, 857, 861. 28 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 18/10936, 225 unter Hinweis auf Art. 69 Abs. 2 Buchst. q der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rats v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/ 92/EG und 2011/61/EU2014/65/EU, wonach die zuständigen Behörden mit allen für die Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Aufsichtsbefugnissen, Ermittlungsbefugnissen und Befugnissen zur Festlegung von Abhilfemaßnahmen auszustatten sind, von denen „mindestens“ auch die Befugnis umfasst sein muss, „öffentliche Bekanntmachungen abzugeben“. 29 Gesetz v. 23.6.2017, BGBl. I 2017, 1693 – Zweites Finanzmarktnovellierungsgesetz.
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zwingende gesetzliche Vorgaben des WpHG für betroffene Tätigkeiten vorliegt,30 so dass die BaFin jedenfalls auf der Grundlage von § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG oder – bei Vorliegen bestimmter sanktionierter oder sanktionierbarer Missstände – auf der Grundlage weiterer leges speciales die Öffentlichkeit grundsätzlich über diese Missstände informieren kann. 33
Die Warnung kann „insbesondere“ auf der Seite der BaFin veröffentlicht werden, wobei insoweit auch Kritik geäußert wird, dass die Warnungen hier nicht gerade prominent platziert sind.31 Daneben lässt der Gesetzeswortlaut auch Veröffentlichungen auf anderem Wege zu, so dass in extremen Fällen und bei besonderer Publikumsrelevanz auch Warnungen über solche Medien denkbar sind, die das breite Publikum konsumiert.
34
Die systematische Einbettung der Informationsbefugnis und ihr Zusammenhang mit der vorherigen Zuweisung der wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Aufgabe und Befugnis in § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG spricht für ihren primär gefahrenabwehrrechtlichen, präventiven und nicht an Repression orientierten Charakter.
35
Neben dieser allgemeinen aufgabenbezogenen Informationsbefugnis enthält das WpHG allerdings noch weitere Rechtsgrundlagen für behördliche Kommunikation. b) Befugnis für die öffentliche Information über Normverstöße (§ 6 Abs. 9 WpHG)
36
Eine besondere Ermächtigungsgrundlage für die Information der Öffentlichkeit enthält § 6 Abs. 9 WpHG, wenn ein beaufsichtigtes Unternehmen gegen eine der in der Norm genannten Vorschriften verstoßen oder die BaFin eine sich auf einen solchen Verstoß beziehende „vollziehbare Anordnung“ erlassen hat, die Anordnung also entweder bestandskräftig ist oder wenn ein Rechtsmittel gegen sie auch vor Bestandskraft keine aufschiebende Wirkung entfaltet. In zeitlicher Hinsicht ist die Anwendung dieser Norm also der Information nach § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG nachgelagert.
37
Aufgrund der noch spezielleren Vorschriften in §§ 123 f. WpHG, kann § 6 Abs. 9 WpHG aber auch nur zur Information über einen Verstoß ermächtigen, der noch nicht sanktioniert wurde und der vielleicht auch gar nicht sanktioniert wird: Die Informationsbefugnis kann mithin unabhängig von einer formellen Sanktionierung ausgeübt werden.32
38
Die Gesetzesbegründung führt insoweit als Motiv aus, dass die „‚öffentliche Warnung‘ … in diesem Zusammenhang weniger als Warnung vor der Person verstanden [wird], die den Verstoß begangen hat; vielmehr soll eine (ver)warnende Wirkung der
30 Hippeli in BeckOK/WpHR, 4. Ed. 15.5.2022, § 6 WpHG Rz. 27 unter Hinweis auf BVerwG, BeckRS 2002, 22531. 31 Hippeli in BeckOK/WpHR, 4. Ed. 15.5.2022, § 6 WpHG Rz. 55. 32 Hippeli in BeckOK/WpHR, 4. Ed. 15.5.2022, § 6 WpHG Rz. 61.
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Veröffentlichung gegenüber dem Verstoßenden selbst eintreten und ihn sowie übrige Markteilnehmer für die Zukunft zu normgemäßem Verhalten anhalten“.33 Der Gesetzgeber bemüht sich hier zwar, einen präventiven Charakter der Maßnahme darzulegen; das Sanktionselement für das betroffene Unternehmen sowie auch der Aspekt der Generalprävention, der eigentlich dem Verwaltungsrecht nicht zu eigen ist, scheinen bei dieser Formulierung aber sehr deutlich durch.
39
Vor diesem Hintergrund ist es das Mindeste, dass die Befugnis in § 6 Abs. 9 WpHG durch den Verweis in Satz 2 den weiteren Beschränkungen aus § 125 Abs. 3 und 5 WpHG unterworfen wird. Damit ist eine Veröffentlichung ausgeschlossen, wenn sie „die Finanzmärkte erheblich gefährden oder zu einem unverhältnismäßigen Schaden bei den Beteiligten führen“ würde; auch personenbezogene Daten dürfen nicht veröffentlicht werden, zumal diese typischerweise für die Kommunikation des Normverstoßes irrelevant sind (§ 123 Abs. 3 WpHG). Zudem gelten die Löschungsvorschriften des § 123 Abs. 5 WpHG.
40
c) Informationen über Prüfungen (§ 107 Abs. 1, 8 f. und § 109 WpHG) Im Zusammenhang mit der Veränderung des Enforcement-Verfahrens durch das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (FISG) ist die nunmehr allein verantwortliche BaFin auch ermächtigt worden, nach ihrem Ermessen über die Einleitung und das Ergebnis ihrer Anlass- und Stichprobenprüfungen (§ 107 Abs. 1 Satz 1 und 2 WpHG) öffentlich zu berichten.
41
Nach § 107 Abs. 1 Satz 6 WpHG kann die BaFin „ihre Anordnung [einer Prüfung] unter Nennung des betroffenen Unternehmens und den Grund für die Anordnung auf ihrer Internetseite bekannt machen, soweit hieran ein öffentliches Interesse besteht. Die Bekanntmachung des Grundes für die Anordnung darf keine personenbezogenen Daten enthalten“.
42
Ein Rückgriff auf die für das Informationshandeln geltende Generalklausel des § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG ist daher in dieser Situation nicht (mehr) erforderlich und auch nicht zulässig.
43
Die Gesetzesbegründung führt hierzu aus, dass die BaFin bei der Ausübung ihres Ermessens, ob eine Veröffentlichung erfolgen soll, das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit und das Interesse des Unternehmens an der Geheimhaltung der angeordneten Prüfung gegeneinander abwägen muss. Hinzu treten Überlegungen zu der Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes sowie seiner Bedeutung für den Kapitalmarkt. Die Bekanntmachung der Prüfung durch das Unternehmen selbst ist insoweit kein gleich geeignetes milderes Mittel. Nur durch die behördliche Bekanntmachung wird sichergestellt, dass diese verlässlich und ohne Vermischung mit anderen Informationen erfolgt und dass sie über eine zentrale Seite für alle Marktteilnehmer auffindbar bleibt.34
44
33 BT-Drucks. 18/7482, 59. 34 Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG), BT-Drucks. 19/26966, 77.
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45
Weiterhin darf die BaFin gem. § 107 Abs. 8 WpHG nach ihrem Ermessen auf der behördlichen „Internetseite wesentliche Verfahrensschritte und im Laufe des Verfahrens gewonnene Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Rechnungslegung unter Nennung des betroffenen Unternehmens bekannt machen, soweit hieran ein öffentliches Interesse besteht. Die Bekanntmachung der Verfahrensschritte und Erkenntnisse darf keine personenbezogenen Daten enthalten“.
46
Soweit die Prüfung durch die BaFin ergibt, dass die Rechnungslegung fehlerhaft ist, informiert die Behörde unverzüglich öffentlich über den festgestellten Fehler unter Nennung des betroffenen Unternehmens samt den wesentlichen Teilen der Begründung (§ 109 Abs. 2 WpHG), aber erneut ohne Nennung von personenbezogenen Daten (§ 109 Abs. 2 Satz 2 WpHG). Es handelt sich in diesem Fall allerdings um eine gebundene Entscheidung der Behörde. Aber auch hier findet die Informationsbefugnis eine Grenze: „Die Bundesanstalt sieht von einer Bekanntmachung ab, wenn hieran kein öffentliches Interesse besteht“ (§ 109 Abs. 2 Satz 2 WpHG).
47
Auch soweit die Prüfung keine Beanstandungen ergibt, ist dies der Öffentlichkeit mitzuteilen, wenn die Behörde zuvor auch die Tatsache der Prüfung bekannt gegeben hatte (§ 109 Abs. 3 WpHG). Bei dieser Bekanntmachung steht der Behörde ebenfalls kein Ermessen zu. d) Weitere spezielle Bekanntmachungsbefugnisse (§§ 123 ff. WpHG)
48
Die Informationsermächtigungen aus § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG sowie § 6 Abs. 9 WpHG werden durch Bekanntmachungsbefugnisse in §§ 123 ff. WpHG ergänzt, die ebenfalls weitgehend unionsrechtlich vorgeprägt sind.35
49
§ 123 Abs. 1 WpHG erlaubt die öffentliche Bekanntgabe von Maßnahmen bei Verstößen gegen das WpHG „soweit dies zur Beseitigung oder Verhinderung von Missständen nach § 6 Abs. 1 Satz 2 geeignet und erforderlich ist, es sei denn, diese Veröffentlichung würde die Finanzmärkte erheblich gefährden oder zu einem unverhältnismäßigen Schaden bei den Beteiligten führen“. Die folgenden Absätze erlauben die Bekanntgabe von Maßnahmen bei Verstößen gegen weitere Rechtsnormen.
50
Bemerkenswert ist hier die ausdrückliche Vorgabe in § 123 Abs. 5 WpHG, dass die bekanntgegebenen Informationen entweder fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung oder – soweit personenbezogene Daten bekanntgegeben wurden – sobald ihre Bekanntmachung nicht mehr erforderlich ist, zu löschen sind.
51
Diese Ermächtigungsgrundlagen verfolgen sowohl präventive wie auch repressive Anliegen.36 Insbesondere aber, wenn Maßnahmen nicht aus Gründen der Gefahrenabwehr bekanntgegeben werden, sondern Unternehmen für Rechtsverstöße an einen öffentlichen Pranger stellen und damit über die sonstigen Maßnahmen hinaus sanktionieren sollen, ist zu erwägen, ab wann in der Bekanntgabe auch eine Sanktion im 35 Sie dienen der Umsetzung von Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2003/6/EG, Böse/Jansen in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 123 WpHG Rz. 1. 36 Kämpfer/Trävers in BeckOK/WpHR, 5. Ed. 15.5.2022, § 123 WpHG Rz. 16 m.w.N.
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technischen Sinne liegt, die die Wahrung rechtsstaatlicher Sicherungen in Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren erfordert. e) Befugnis zur Selbstvornahme von Veröffentlichungen und Mitteilungen (§ 6 Abs. 14 WpHG) Eine weitere, im Ergebnis eher vollzugsrechtlich anmutende Informationsbefugnis, ist in § 6 Abs. 14 WpHG für den Fall enthalten, dass ein Unternehmen eine ihm gebotene Veröffentlichung nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht in der vorgeschriebenen Weise vornimmt. Hier kann die Behörde die entsprechende Mitteilung oder Veröffentlichung auf Kosten des Pflichtigen selbst vornehmen.
52
III. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Rahmenbedingungen Die Veröffentlichung von Informationen, die ein Unternehmen nicht im besten Licht dastehen lassen, erscheint zwar zunächst als gegenüber einem hoheitlichen Eingriff – wie etwa der Schließung des Unternehmens – weniger einschneidende Maßnahme. Sie kann aber (und soll dies häufig sogar) erhebliche Konsequenzen für die Position des Unternehmens im Markt, seinen Zugang zu Fremdfinanzierung und damit seinen wirtschaftlichen Erfolg insgesamt haben. Die funktionale Parallelität von klassisch-hoheitlichem Eingriff und der warnenden, lenkenden oder gar sanktionierenden Information legt die Frage nach dem grundrechtlichen Schutz des Unternehmens nahe.
53
1. Anwendbare Grundrechte Allerdings ist schon die Antwort auf die erste Frage nicht trivial: Welcher der wechselseitigen verflochtenen Rechtsordnungen im Mehrebenensystem sind denn die anzuwendenden Grundrechte überhaupt zu entnehmen?
54
Auch wenn die bislang vorgestellten Normen allesamt der deutschen Rechtsordnung entstammen, bedeutet dies nicht, dass sie ohne weiteres nur an deutschen Grundrechten zu messen sind, da die relevanten Ermächtigungsgrundlagen zumindest zum Teil auf unionsrechtliche Vorgaben zurückzuführen sind.
55
Soweit aber deutsche Regelungen der „Durchführung des Rechts der Union“ dienen (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh), ist der mitgliedstaatliche Gesetzgeber inhaltlich zumindest auch an die Grundrechte der EU (vgl. Art. 6 EUV) gebunden.
56
Allerdings sollen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts angesichts einer vollständig durch das Unionsrecht determinierten Regelung ausschließlich die Unionsgrundrechte den Maßstab für die Prüfung einer gesetzlichen Regelung bilden.37 Hingegen treten die Unionsgrundrechte zu den Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes hinzu, wenn dem Gesetzgeber bei dem Erlass seiner Regelungen „Spielräu-
57
37 BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, BVerfGE 152, 216, 233 – Recht auf Vergessen II.
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Rz. 57 | Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen
me verbleiben, das Unionsrecht dieser Gestaltung aber einen hinreichend gehaltvollen Rahmen setzt, der erkennbar auch unter Beachtung der Unionsgrundrechte konkretisiert werden soll“.38 58
Die unionsrechtlichen Vorgaben für die hier dargelegten Informationsansprüche sind inhaltlich recht dürftig ausgestaltet und lassen den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern bei ihrer Umsetzung einen erheblichen Spielraum, insbesondere was die Vorschriften über Zuständigkeit, Verfahren und den materiellen wie prozeduralen Schutz der Grundrechtsträger betrifft. Daher sind deutsche Grundrechte neben denen der EU anzuwenden. 2. Schutzbereiche und Eingriff
59
Als relevante Grundrechte, in die die staatliche Informationstätigkeit eingreifen könnte, kommen vor allem die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in Betracht. Dieses gilt inzwischen auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts39 mit gewissen Einschränkungen ebenfalls für juristische Personen.40 a) Berufsfreiheit
60
Die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG schützt im Zusammenwirken mit Art. 19 Abs. 3 GG die unternehmerische Tätigkeit in allen ihren Belangen. Geschützt sind damit auch die Entscheidungen des Unternehmens über seine Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit – der „gute Ruf“ – und seine Positionierung im Markt.41
61
Indes schützt die Berufsfreiheit in der bestehenden Wirtschaftsordnung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht vor der Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt durch Dritte, die für das wettbewerbliche Verhalten der Marktteilnehmer von Bedeutung sein können.
62
Das Grundrecht vermittelt einem Unternehmen nicht das Recht, „nur so von anderen dargestellt zu werden, wie es gesehen werden möchte oder wie es sich und seine Produkte selber sieht“.42 Dies gilt selbst dann, wenn dieser informierende „Dritte“ eine Behörde ist. In einem solchen Fall ist dann – zumindest nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts – nicht einmal der grundrechtliche Schutzbereich eröffnet; die staatlichen Informationsmaßnahmen bedürfen keiner Rechtfertigung und sind nicht auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen.
BVerfG v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13, BVerfGE 152, 152, 169 f. – Recht auf Vergessen I. Vgl. BVerfG v. 21.3.2018 – 1 BvF 1/13, BVerfGE 148, 40, 63. S.a. Becker in FS Stern 2012, S. 1233, 1244. Vgl. BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532, BVerfGE 50, 290, 363; BVerfG v. 29.10.2002 – 1 BvR 525/99, BVerfGE 106, 181, 192; Jarass in Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 17. Aufl. 2022, Art. 12 Rz. 12. 42 BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558, 1428/91, BVerfGE 105, 252, 266.
38 39 40 41
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Doch das Gericht konzediert auch, dass staatliches Informationshandeln die Rahmenbedingungen der Berufsausübung von Unternehmen ändern und je nach Zielsetzungen durch mittelbar-faktischen Wirkungen einem Grundrechtseingriff als funktionales Äquivalent gleichkommen kann.43 Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn eine amtliche Information direkt auf die Marktbedingungen konkret individualisierter Unternehmen zielt, indem sie die Grundlagen der Entscheidungen am Markt zweckgerichtet beeinflusst und so die Markt- und Wettbewerbssituation zum wirtschaftlichen Nachteil der betroffenen Unternehmen verändert.44
63
Soweit die BaFin mithin Informationen über mögliche Missstände mit einzelnen Unternehmen in Verbindung bringt oder gar eine Anlassprüfung nach § 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG ankündigt, weil „konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften vorliegen“, wirkt dies ebenso ohne weiteres auf die Marktbedingungen des betroffenen Unternehmens wie der Bericht über den Ablauf und das Ergebnis einer solchen Prüfung. Ein Grundrechtseingriff liegt dann vor. Dies gilt erst recht, wenn die BaFin über sanktionierbare oder sanktionierte Normverstöße von Unternehmen berichtet, da diese Information direkt auf die Reputation des betroffenen Unternehmens zielt.
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b) Informationelle Selbstbestimmung Das Bundesverfassungsgericht hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zunächst in enger Anlehnung an die Menschenwürde (Art. 1 GG) entwickelt.45 Das Grundrecht wahrt das Recht des Bürgers auf Selbstdarstellung und Selbstbewahrung im Hinblick auf seine personenbezogenen Daten und stellt bei Annahme eines weiten Eingriffsverständnisses jede Erhebung, Verarbeitung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener Daten unter einen strengen Rechtfertigungsvorbehalt.46
65
Auch die Weitergabe von Informationen, die in den sachlichen Schutzbereich des Grundrechts fallen, stellt einen Eingriff dar. Zudem begründet das Grundrecht prozedurale Schutzvorkehrungen bei der Datenverarbeitung; so etwa Auskunfts-, Aufklärungs- oder Löschungspflichten, die eingreifen, wenn die Daten nicht mehr für den vorgesehenen Zweck benötigt werden.
66
Die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Rechtfertigung von Eingriffen in das Grundrecht sind anspruchsvoll.47 Einschränkungen sind nur bei über-
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43 OVG Münster v. 28.4.2022 – 4 B 473/22, NJW 2022, 1547, 1550 unter Hinweis auf BVerfGE 148, 40; BVerfGE 105, 252; BVerfGE 105, 279; s.a. Ossenbühl, NVwZ 2011, 1357, 1359 f. 44 OVG Münster v. 28.4.2022 – 4 B 473/22, NJW 2022, 1547, 1550 unter Hinweis auf BVerfGE 148, 40; BVerfGE 105, 252; BVerfGE 105, 279. 45 BVerfG v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1, 41 ff. 46 Di Fabio in Dürig/Herzog/Scholz, GG, 98. EL März 2022, Art. 2 Abs. 1 Rz. 176; Gersdorf in Gerstdorf/Paal, BeckOK/InfoMedienR, 37. Ed. 1.5.2021, GRCh Art. 8 Rz. 18 f. 47 Dazu Di Fabio in Dürig/Herzog/Scholz, GG, 98. EL März 2022, Art. 2 Abs. 1 Rz. 179 ff.; Rixen in Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 2 Rz. 103 ff.
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wiegendem Allgemeininteresse und aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Befugnisnorm zulässig, deren Voraussetzungen der Intensität des Eingriffs gerecht werden müssen.48 Besondere Bedeutung haben insoweit auch die hier besonders streng verstandenen Gebote der Bestimmtheit und der Normenklarheit einer ermächtigenden Vorschrift.49 68
Auch ohne Durchgriff auf die hinter einem Unternehmen stehende natürliche Person50 ist das Grundrecht auf die Daten des Unternehmens anwendbar. Zwar wird vertreten, dass dies aufgrund der Verwurzelung des Grundrechts in der Menschenwürde eine wesenskonträre Anwendung darstelle.51 Ein mittelbarer Schutz von Unternehmensdaten sei daher nur dann anzunehmen, wenn sie Rückschlüsse auf die hinter dem Unternehmen stehenden konkreten Personen ermöglichen.52 Richtigerweise spricht aber Art. 19 Abs. 3 GG dafür, dass die juristische Person einen Eigenwert hat, und ihr datenrechtlicher Schutz von der tragenden Person loszulösen ist.53 Juristische Personen verfügen im vergleichbaren Maße über unternehmensbezogene Daten, deren Veröffentlichung ihren Interessen zuwiderlaufen kann.54
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Soweit also die durch die BaFin veröffentlichten Informationen unternehmensbezogene Daten enthalten, ist der Anwendungsbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung eröffnet. Dabei ist bemerkenswert, dass bei einigen der vorgestellten Ermächtigungsgrundlagen55 die Veröffentlichung individueller, personenbezogener Daten von vornherein ausgeschlossen ist. Diese Beschränkung zielt auf den ursprünglichen Kern des Grundrechts, hilft aber bei unternehmensbezogenen Informationen nicht weiter. 3. Einordnung der Veröffentlichung in die Lehre von den Handlungsformen
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Aus dem Vorliegen eines Grundrechtseingriffs kann aber nicht geschlossen werden, dass es sich bei der Bekanntgabe – unabhängig von deren jeweiliger Rechtsgrundlage – um einen Verwaltungsakt handelt. Es fehlt insoweit an einer Regelung, d.h. an einer Setzung von Rechtsfolgen. Die Bekanntgabe ist stets nur ein behördlicher Real-
48 BVerfG v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1, 44; BVerfG v. 28.1.1992 – 1 BvR 1319/91, BVerfGE 85, 219, 224; BVerfG v. 7.3.1995 – 1 BvR 1564/92, BVerfGE 92, 191, 197. 49 BVerfG v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, BVerfGE 65, 1, 46; BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 2357/04, 1 BvR 603/05, BVerfGE 118, 168, 186; BVerwG v. 20.2.1990 – 1 C 29/86, NJW 1990, 2765, 2766. 50 So für die europäische Ebene EuGH v. 9.11.2010, C-92/09, C-93/09, ECLI:EU:C:2010:662, juris Rz. 52 ff. 51 BVerfG v. 26.2.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220, 241. 52 Di Fabio in Dürig/Herzog/Scholz, GG, 98. EL März 2022, Art. 2 Abs. 1 Rz. 224; Lang in BeckOK/GG, 52. Ed. 15.8.2022, Art. 2 Rz. 143 ff.; Jarass, NJW 1989, 857, 860. 53 Becker in FS Stern 2012, S. 1233, 1244; Dreier in Dreier, GG I, Art. 19 Abs. 3 Rz. 38. 54 Becker in FS Stern 2012, S. 1233, 1246. 55 Vgl. § 6 Abs. 9 WpHG i.V.m. § 125 Abs. 3 und 5 WpHG, ausdrücklich § 107 Abs. 1 S. 7, Abs. 4 S. 3, Abs. 8 S. 2 WpHG.
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akt;56 und dies gilt unabhängig davon, ob die Behörde zu der Bekanntgabe verpflichtet ist oder ihr ein entsprechendes Ermessen zukommt.57 Relevant für die Einordnung in die Handlungsformenlehre ist allein die Wirkung einer Maßnahme in der Rechtssphäre der Betroffenen: besteht hier eine rechtliche Bindung, der Zwang zu einem Tun oder Unterlassen? Die Art und Weise des Zustandekommens der staatlichen Handlung oder die Regelungsdichte der einschlägigen Ermächtigungsgrundlage hat für die Beantwortung dieser formalen Frage indes keinerlei Bedeutung.
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Gegen die Einordnung der Informationstätigkeit als Realakt spricht auch nicht, dass ein Verwaltungsakt dann anzunehmen ist, wenn die Behörde auf Antrag eines Dritten eine Information oder Bekanntgabe ablehnt. Eine solche Ablehnung und die damit einhergehende Feststellung, dass die rechtlichen Voraussetzungen für eine behördliche Informationstätigkeit oder gar für einen subjektiv-öffentlichen Informationsanspruch nicht gegeben sind, stellt eine Regelung dar.
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4. Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage Da eine Behörde handelt, kommen Grundrechte als Grundlage ihrer Handlungsbefugnisse – etwa die Meinungsfreiheit – von vornherein nicht in Betracht. Allein das betroffene Unternehmen ist grundrechtsberechtigt, während die Behörde als Inhaber staatlicher Gewalt (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) verpflichtet ist, Grundrechte zu wahren und zu schützen. Behörde und betroffenes Unternehmen gehören somit jeweils unterschiedlich legitimierten Funktionsbereichen des Staates im weiteren Sinne an: grundrechtsgebundener Staat und grundrechtsberechtigte Gesellschaft. Beide Funktionsbereiche sind von verschiedenartigen Legitimationsmustern geprägt, die sich aus zwei miteinander inkompatiblen Quellen speisen58: einerseits aus der Freiheit des einzelnen Menschen, die ihre grundgesetzliche Bestätigung, Verstetigung und Umhegung in dem Grundrechtskatalog der Verfassung findet. Die Legitimation des Staates und seiner Behörden zum Handeln ruht andererseits auf dem Willen des Volkes (vgl. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), der seinen Ausdruck in dem parlamentarisch beschlossenen Gesetz und den aus ihm abgeleiteten materiellen Rechtsnormen findet.59 Grundrechtliche und demokratische Legitimation im Sinne einer Berechtigung, bestimmte Handlungen vorzunehmen oder Entscheidungen zu treffen sind daher streng voneinander zu differenzieren. Dies führt dazu, dass der Grundrechtsträger alles zu tun berechtigt ist, was ihm nicht durch verfassungsgemäßes Gesetz verboten ist, während der Staat und seine Behörden über diese Freiheit gerade nicht verfügen, sondern vielmehr einer Ermächtigung für ihre Handlungen bedürfen.60
56 Seibt/Wollenschläger, AG 2014, 593, 605; Böse/Jansen in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 123 WpHG Rz. 12. 57 So wohl Altenhain in KölnKomm/WpHG, 2. Aufl. 2014, § 40b Rz. 17. 58 Isensee, Der Staat 20 (1981), 161, 162 ff.; Isensee in Isensee/Kirchhof, HStR Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rz. 40 ff. 59 Isensee, Der Staat 20 (1981), 161, 162 f. 60 Isensee, Der Staat 20 (1981), 161, 167 ff.
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Somit ist wegen der faktisch-mittelbaren Auswirkungen der staatlichen Informationen auf grundrechtliche Schutzbereiche für die entsprechenden behördlichen Handlungen prinzipiell eine gesetzliche Grundlage erforderlich. 5. Bestimmtheit
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Wichtige Vorgaben für die gesetzlichen Grundlagen von Eingriffen in Grundrechte im Allgemeinen, in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung im Besonderen enthält das Bestimmtheitsgebot. Nach diesem müssen die gesetzlichen Regelungen nach „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ „steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe“ für die Exekutive beinhalten.61
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Das verlangt im Falle des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung eine hinreichend präzise bereichsspezifische Umgrenzung des Verwendungszwecks der betroffenen Informationen.62
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Insoweit rufen die spezifischen Ermächtigungsgrundlagen des WpHG weniger Bedenken hervor als der besonders weit formulierte und letztlich sich allein auf die Aufgabenerfüllung der BaFin beziehende § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG.
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Es kann indessen Situationen geben, in denen eine vorausschauende gesetzliche Normierung von Tatbestand und Rechtsfolgen behördlichen Informationshandelns aus rein praktischen Gründen kaum möglich ist. Dies ist insbesondere in neuartigen und vom Gesetzgeber nicht vorhersehbaren Situationen der Fall. Niemand kann vorhersehen, welche „Missstände“ es im Finanzmarkt der Zukunft womöglich geben wird, über die die Betroffenen dennoch zügig und gegebenenfalls sogar vor der Einleitung einer Anlassprüfung informiert werden müssen, um Schäden zu verhindern.
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Wenn man hier im Vorfeld der behördlichen Information eine genaue gesetzliche Normierung verlangen würde, könnte diese bestenfalls so allgemein und unbestimmt sein, dass sie dem Betroffenen keine Rechtssicherheit zu vermitteln vermag. In solchen Fällen genügt eine – gegebenenfalls auch verfassungsrechtliche – Aufgabenzuweisung an eine Behörde als Ermächtigungsgrundlage.63
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Ordnet man indes § 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG in den Gesamtkontext des Gesetzes ein, das immerhin heute auch besondere Vorschriften für die öffentliche Information über Einleitung, Ablauf und Ergebnis einer Unternehmensprüfung durch die BaFin aufweist, so wird deutlich, dass der Gesetzgeber sich hier zumindest bemüht hat, so viele spezifische Situationen wie möglich und einigermaßen vorhersehbar abzudecken, während die informationsrechtliche Generalklausel subsidiär anwendbar und
61 BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, 1 BvR 2357/04, 1 BvR 603/05, BVerfGE 118, 168, 186 f. 62 BVerfG v. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83, BVerfGE 65, 1, 46; BVerfG v. 13.6.2007 – 1 BvR 1550/03, 1 BvR 2357/04, 1 BvR 603/05, BVerfGE 118, 168, 187. 63 Vgl. BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 670/91, BVerfGE 105, 279, 301 ff.
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damit besonderen, vom Gesetzgeber nicht abstrakt-generell normierbaren Situationen vorbehalten bleibt. 6. Inhaltliche Bindung Weil und gerade dann, wenn behördliche Informationen zur Erfüllung öffentlicher Zwecke eingesetzt werden, wenn sie der Gefahrenabwehr dienen, Missetäter sanktionieren oder von vornherein von Fehlverhalten abschrecken sollen, erweist sich das behördliche Handeln als funktionales Äquivalent eines klassisch-hoheitlichen Eingriffs. Dies löst den Gesetzesvorbehalt aus, dem das WpHG mit den hier dargestellten Ermächtigungsgrundlagen für behördliche Information grundsätzlich Genüge tut.
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Der Behörde steht aber auch jenseits der bloßen Existenz einer Ermächtigungsgrundlage nicht frei, welche Informationen sie wann und auf welche Weise veröffentlicht und wann sie diese Informationen vielleicht sogar wieder einzuholen hat. Die gesetzliche Grundlage muss bereits so ausgestaltet sein, dass sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht und ihre Anwendung hat auch im Übrigen im Lichte der betroffenen Grundrechte und damit verhältnismäßig zu erfolgen.
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Amtliche Informationsmaßnahmen sind an den allgemeinen Grundsätzen für rechtsstaatliches Verhalten in der Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu orientieren. Mitgeteilte Tatsachen müssen objektiv zutreffend wiedergegeben werden. Werturteile dürfen nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen. Sie müssen bei verständiger Beurteilung auf einem im Wesentlichen zutreffenden oder zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen und dürfen zudem den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten.64
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a) Verhältnismäßigkeit Jede behördliche Information unterliegt als Grundrechtseingriff dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieses lenkt nicht nur die Entscheidung zu dem „ob“ der Veröffentlichung, sondern auch über deren Ort und Informationstiefe sowie deren notwendige Dauer, die aus diesem Grunde bereits durch einfachgesetzliche Löschungspflichten nach Zeitablauf begrenzt wird.65 Wo derartige Schutznormen nicht ausdrücklich einfachgesetzlich normiert sind, müssen sie im Wege verfassungskonformer Auslegung ermittelt werden.
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§ 6 Abs. 2 Satz 3 WpHG bringt die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips einfachgesetzlich dadurch zum Ausdruck, dass die Information „erforderlich“ sein muss. Etwas schwächer gelingt die Bezugnahme in den Fällen, in denen darauf verwiesen wird, dass eine Information erfolgen kann, wenn hieran ein „öffentliches Interesse“ besteht (§ 107 Abs. 1 Satz 6, Abs. 8 WpHG). Ein öffentliches Interesse ist aber ohne-
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64 OVG Münster v. 28.4.2022 – 4 B 473/22, NJW 2022, 1547, 1549 unter Hinweis auf BVerfGE 105, 252. 65 Vgl. § 123 Abs. 5 WpHG.
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Rz. 85 | Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen
hin Grundlage allen staatlichen Handelns, sodass diese ausdrückliche Bezugnahme letztlich entweder inhaltsleer bleibt oder aber so auszulegen ist, dass – wie bei jedem Grundrechtseingriff – ein das private Geheimhaltungsinteresse überwiegendes öffentliches Informationsinteresse nachzuweisen ist, das nicht mit weniger einschneidenden Mitteln befriedigt werden kann. 86
Die jeweiligen öffentlichen Interessen unterscheiden sich je nach Ermächtigungsgrundlage und liegen typischerweise entweder in der Gefahrenabwehr, der Herstellung von Markttransparenz oder aber in der (zusätzlichen) Sanktion für rechtswidriges Verhalten. Während es sich bei dem erstgenannten Aspekt um ein völlig legitimes Motiv für Grundrechtseingriffe handelt, das zweitgenannte Motiv zumindest zur Vermeidung von Informationsasymmetrien auch zu akzeptieren ist, darf die Eignung von Informationen mit Sanktionscharakter zumindest zum Zwecke der Gefahrenabwehr infrage gestellt werden, da Sanktion und Generalprävention keine verwaltungsrechtlichen Regelungsziele sind. Zumindest ist aber bei dem Einsatz von Information zu solchen Zwecken die zusätzliche Einbettung in Schutznormen zu erwägen, mit denen der staatliche Einsatz von Sanktionen begrenzt wird. Das Bundesverfassungsgericht teilt diese Bedenken allerdings nicht, da es davon ausgeht, dass die drohende Veröffentlichung von Informationen über rechtswidriges Verhalten eine legitime general- und spezialpräventive Wirkung hat.66 b) Insbesondere: Sachliche Richtigkeit und Ungewissheit aa) Grundsatz: Pflicht zur Wahrheit
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Der verfassungsrechtliche Kern des Problems behördlicher Informationstätigkeit im Bereich des WpHG liegt aber in der Frage begründet, wie sicher sich die Behörde ihrer Sache sein muss. Will die Behörde über Missstände informieren oder ordnet sie eine Anlassprüfung an und informiert die Öffentlichkeit hierüber, während der Anlass für die Prüfung objektiv nicht gegeben ist, dann verbreitet sie im Ergebnis unrichtige Tatsachen oder Einschätzungen.
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Die Verbreitung der Unwahrheit kann aber prima facie keinem legitimen öffentlichen Zweck dienen. Daher ist es dem Staat auch grundsätzlich untersagt, unwahre Tatsachen und falsche Informationen zu verbreiten.67 Diese äußerungsspezifische Vorgabe für staatliches Informationshandeln – gemeinhin als Richtigkeitsgebot bezeichnet68 – wird aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz69 oder aus dem Rechtsstaatsprinzip70 hergeleitet.
66 BVerfG v. 21.3.2018 – 1 BvF 1/13, BVerfGE 148, 40, 54. 67 Harding, Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken (Manuskript Diss. jur.), S. 369. 68 Schoch in Isensee/Kirchhof, HStR Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rz. 143. 69 Bumke, Die Verwaltung 37 (2004), 3, 21. 70 Zott, Aktive Informationen des Staates im Internet – Mittelalterlicher Pranger oder modernes Steuerungsinstrument?, 2016, S. 189.
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Dieser Maßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit behördlicher Informationen dürfte tatsächlich – unabhängig von der konkret anwendbaren Ermächtigungsgrundlage – die größte Hürde für eine Veröffentlichung von unternehmensbezogenen Tatsachen über kapitalmarktrechtliche „Missstände“ sein. Hier handelt es sich typischerweise um höchst komplexe Rechts- und Tatsachenlagen, die im Ergebnis zwischen Unternehmen und Behörde dauerhaft streitig sind und selten „objektiv“ ermittelt werden können. Dies ist umso schwieriger, je größer der zeitliche Druck auf die Entscheidung ist.
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bb) Ausnahme: Handeln unter Ungewissheit Nicht nur bei den zur Öffentlichkeitsinformation ermächtigenden Regelungen des WpHG bleibt es aber fraglich, ob eine Behörde mit einer Information der Öffentlichkeit wegen grundrechtlicher Erwägungen tatsächlich so lange abwarten muss, bis sie über eine – vermutlich ohnehin kaum zu erreichende – vollständige Gewissheit über die Rechts- und Tatsachenlage verfügt.
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Angesichts der sehr schnell eintretenden erheblichen finanziellen Auswirkungen von Verstößen gegen das WpHG auf einzelne Investoren aber auch auf die Märkte insgesamt kann es dann, wenn die Behörde erst bei vollständiger Gewissheit über Missstände oder Normverstöße informiert, sehr schnell zu spät sein. Die Information würde ihren Zweck – die Gefahrenabwehr – verfehlen.
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Gerade im Bereich staatlicher Warnungen und Empfehlungen ist aber zeitnahes Handeln für den Erfolg des staatlichen Informationshandelns von erheblicher Bedeutung.71 Nähme man die Rechtmäßigkeit staatlichen Informationshandelns nur unter der Bedingung objektiver und umfassender Richtigkeit an, so würde dies eine solche Informationstätigkeit zum Zwecke der Gefahrenabwehr letztlich lähmen, weil die Behörde niemals ganz sicher sein könnte, ob ihre Mitteilungen tatsächlich „objektiv“ wahr sind.
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Während sich eine solche Lähmung bis hin zur „objektiven“ Klärung des Sachverhalts dort noch verkraften lässt, wo öffentliche Information lediglich zur Entfaltung einer Prangerwirkung dient, würde sie im Zusammenhang mit der Gefahrenabwehr die staatliche Aufgabenerfüllung erheblich beeinträchtigen.
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In dem gleichen Maße, in dem die Polizeibehörden bei einem bloßen Gefahrenverdacht ebenso rechtmäßig handeln wie im Angesicht einer Anscheinsgefahr, ist staatliche Information bei unklarer Sachlage grundsätzlich möglich, unterliegt allerdings erhöhten Rechtfertigungsanforderungen.72
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71 Hierzu und dem folgenden Harding, Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Netzwerken (Manuskript Diss. jur.), S. 372. 72 Kühn, Bürgerbeeinflussung durch Berichterstattung staatlicher Stellen, 2018, S. 330; Martini/Kühl, JURA 2014, 1221, 1224; Zott, Aktive Informationen des Staates im Internet – Mittelalterlicher Pranger oder modernes Steuerungsinstrument?, 2016, S. 193 f.
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Rz. 95 | Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen
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Behauptungen „ins Blaue hinein“ können den verfassungsrechtlichen Anforderungen zwar nie genügen, doch kann die Behörde aus verfassungsrechtlicher Sicht unter besonderen Umständen auch solche Informationen bekanntgeben, deren Richtigkeit noch nicht abschließend geklärt ist, wenn anders eine Gefahr für die Informationsempfänger nicht abgewehrt werden kann.
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Natürlich rufen Informationen unter den Bedingungen der Ungewissheit gesteigerte prozedurale Anforderungen an ihre Rechtfertigung hervor, bei der die mit einer Fehlinformation einhergehenden Folgen für Unternehmen sowie für den bei den Informationsempfängern eintretenden Vertrauensverlust zu berücksichtigen sind.
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In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen an den Umgang mit nicht abschließend als richtig einzustufenden Informationen in seinem Glykol-Beschluss konkretisiert. Die Verbreitung unzutreffender Informationen kann zum Zwecke des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung verhältnismäßig und damit rechtmäßig sein, wenn sich die Behörde um Aufklärung bemüht und auf die mit der Informationspreisgabe einhergehenden Unsicherheiten hingewiesen wurde.73
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Die Behörde muss den Sachverhalt „vor seiner Verbreitung im Rahmen des Möglichen sorgsam und unter Nutzung verfügbarer Informationsquellen, gegebenenfalls auch unter Anhörung Betroffener, sowie in dem Bemühen um die nach den Umständen erreichbare Verlässlichkeit [aufklären]. … Verbleiben dennoch Unsicherheiten in tatsächlicher Hinsicht, ist der Staat an der Verbreitung der Informationen gleichwohl jedenfalls dann nicht gehindert, wenn es im öffentlichen Interesse liegt, dass die Marktteilnehmer über einen für ihr Verhalten wichtigen Umstand, etwa ein Verbraucherrisiko, aufgeklärt werden. In solchen Fällen wird es angezeigt sein, die Marktteilnehmer auf verbleibende Unsicherheiten über die Richtigkeit der Information hinzuweisen, um sie in die Lage zu versetzen, selbst zu entscheiden, wie sie mit der Ungewissheit umgehen wollen“.74
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Darüber erstreckt sich die prozedurale Komponente des Richtigkeitsgebots auch auf bereits publizierte Informationen. Im Falle nachträglich festgestellter Unrichtigkeit zwingt es dazu, Korrekturen vorzunehmen und weitere Verbreitungen zu unterlassen.75 Diese Verpflichtung korrespondiert mit einem Änderungs- oder Löschungsanspruch des Betroffenen. 7. Rechtsschutz
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Nach der Sonderzuweisung des § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 WpHG i.V.m. § 48 Abs. 4 WpÜG entscheidet das OLG Frankfurt a.M. über Beschwerden gegen Verfügungen nach dem Abschnitt 16 des WpHG.76 „Verfügungen“ sind dabei sämtliche von der
73 74 75 76
BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558, 1 BvR 1428/91, BVerfGE 105, 252, 272 f. BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558, 1 BvR 1428/91, BVerfGE 105, 252, 272. Kühn, Bürgerbeeinflussung durch Berichterstattung staatlicher Stellen, 2018, S. 330. Hennrichs in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 113 WpHG Rz. 2.
130 | Becker
Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen | Rz. 104
BaFin erlassene Verwaltungsakte (§ 35 Satz 1 VwVfG).77 Für ein solches Verständnis spricht neben dem Wortlaut der Norm auch ihr systematischer Zusammenhang mit dem in § 112 WpHG normierten Widerspruchsverfahren, das in § 68 VwGO nur für Verwaltungsakte vorgesehen ist.78 Bei Informationsmaßnahmen der BaFin handelt es sich mangels Regelungswirkung indes gerade nicht um Verwaltungs-, sondern um bloße Realakte. Der Rechtsgedanke der Sonderzuweisung des § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 WpHG i.V.m. § 48 Abs. 4 WpÜG, die größere Sachnähe der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Bereich der Rechnungslegung,79 spricht zwar dafür, auch Informationsmaßnahmen der BaFin als erfasst anzusehen. Dem steht jedoch neben Wortlaut und Systematik des Gesetzes der klare Wille des historischen Gesetzgebers entgegen, der die Sonderzuweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit bewusst nur auf Verwaltungsakte bezogen hat.80 Demnach ist für Klagen gegen die Informationstätigkeit der BaFin der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet.
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IV. Fazit Die BaFin ist mit der Aufsicht von Unternehmen in einem einigermaßen undurchsichtigen, jedenfalls komplexen und von hoher Geschwindigkeit geprägten Marktumfeld zuständig. Fehler sind hier schnell gemacht und können ebenso nachhaltige wirtschaftliche Konsequenzen für einzelne Unternehmen haben wie ein Nichthandeln der Behörde Dritte schädigen kann.
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In diesem komplexen Umfeld ist es die Aufgabe der Rechtsordnung durch Gewährleistung grundrechtlichen Schutzes einerseits, das Unternehmen in seiner Entscheidungsfreiheit abzusichern und zu gewährleisten, dass eine rechtmäßig erworbene Marktposition nicht durch unsachgemäßes behördliches Handeln beeinträchtigt wird. Andererseits müssen die zuständigen Behörden aber auch durch den Erlass möglichst präziser, aber dennoch im Hinblick auf künftige, nicht vorhersehbare Aufgaben hinreichend flexibler Ermächtigungsgrundlagen in den Stand versetzt werden, durch Fehlverhalten verursachte Gefahren und damit auch wirtschaftliche Schäden für Dritte abzuwehren.
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Ein wichtiges Instrument dieser Gefahrenabwehr ist die Information der Öffentlichkeit, die ihren Zweck allerdings nur dann rechtzeitig und sinnvoll erfüllen kann, wenn tatsächliche Unsicherheit nicht die Rechts- oder gar Verfassungswidrigkeit behördlichen Handelns zur Konsequenz hat. Liest und versteht man die einschlägigen
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77 Hennrichs in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 112 WpHG Rz. 2; Markworth in BeckOK/WpHR, 5. Ed. 15.8.2022, § 112 WpHG Rz. 4; Gelhausen/Hönsch, AG 2007, 308, 310. 78 Gelhausen/Hönsch, AG 2007, 308, 310. 79 Hennrichs in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 113 WpHG Rz. 2; s.a. BT-Drucks. 15/3421, 20. 80 Vgl. BT-Drucks. 15/3421, 20.
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Rz. 104 | Verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Rahmen
Ermächtigungsgrundlagen des WpHG im Lichte grundrechtlicher Vorgaben und vor allem im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips, ist dem Gesetzgeber hier ein vernünftiger Ausgleich zwischen der Notwendigkeit grundrechtlichen Schutzes einerseits und effektiver Gefahrenabwehr andererseits gelungen.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation im Kontext fehlerhafter Finanzberichterstattung und Regelpublizität Prof. Dr. Peter O. Mülbert/Dr. Alexander Sajnovits, M.Sc. (Oxford) Universität Mainz I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Finanzberichterstattung und Ad-hoc-Publizität 1. Finanzberichterstattung nach der Transparenzrichtlinie . . . . . . . . 2. Gegenstände der Finanzberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zweispuriges Publizitätsregime nach WpHG und HGB: Finanzberichterstattung und handelsbilanzrechtliche Regelpublizität a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Friktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis der Finanzberichterstattung zur Ad-hoc-Publizität . . . III. Ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformationen im Kontext der (fehlerhaften) Finanzberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Insiderinformationen i.S.d. Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 MAR . 2. Fehlerarten im Regime der Finanz- und Regelberichterstattung a) Arten von Fehlern . . . . . . . . . . . b) Erkennbarkeit und Zeitpunkt der Fehlerhaftigkeit . . . . . . . . . . c) Reichweite des normativsubjektiven Fehlerbegriffs . . . . . d) Fehler v. wertaufhellende Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fehlerfolgen im Regime der Finanz- und Regelberichterstattung 4. Fehlerhafte Finanzberichterstattung als Insiderinformation . . . . . a) Ursachen der Fehlerhaftigkeit als Insiderinformation . . . . . . . . b) Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung als solche . . . . aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . .
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bb) Fehler als Insiderinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahrensaspekte, insbesondere fehlerhafter bzw. versagter Bestätigungsvermerk . . . . . . d) Aufkommen eines Fehlerverdachts nach öffentlichem Bekanntwerden eines Finanzberichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anordnungen/Feststellung der BaFin im Enforcementverfahren (§§ 107 ff. WpHG) . . . . . . . . . . . . . . a) Anordnung einer Prüfung der Rechnungslegung durch die BaFin (§ 107 WpHG) . . . . . . . . b) Veröffentlichung der Anordnung und ihrer Gründe durch die BaFin (§ 107 Abs. 1 Satz 6 WpHG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Feststellung des Prüfungsergebnisses durch die BaFin (§ 109 Abs. 1 Satz 1 WpHG) . . . . . . . . d) Veröffentlichung der Feststellung durch die BaFin (§ 109 Abs. 2 Satz 1 WpHG) . . . . . . . . 6. Umstände im Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks/ der Feststellung der Ergebnisse der Prüfung durch die BaFin . . . . IV. Aufschub von der Ad-hocPublizitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . 1. Berechtigtes Emittenteninteresse . a) Gründe, die zur Fehlerhaftigkeit geführt haben . . . . . . . . . . . b) Fehlerhaftigkeit als solche . . . . . c) Verfahrensaspekte, insbesondere fehlerhafter/versagter Bestätigungsvermerk . . . . . . . . . d) Nachträgliches Aufkommen eines Fehlerverdachts . . . . . . . . .
43 48
49
50 51
53 54 57
59 63 65 71 73 77 78
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Rz. 1 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung e) Anordnungen/Feststellungen der BaFin im Enforcementverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 f) Umstände im Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks bzw. der Anordnung/Feststellung der Ergebnisse der Prüfung durch die BaFin . . . . . . . . . . 81
2. Keine Irreführung der Öffentlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3. Gewährleistung der Vertraulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 V. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . 87
I. Einführung 1
Das Verhältnis der Ad-hoc-Publizitätspflicht zur fehlerhaften kapitalmarktrechtlichen Finanzberichterstattung und – allgemeiner – der handelsbilanziellen Regelberichterstattung fristete lange ein Schattendasein.1 Jüngere Bilanzskandale ad-hoc-publizitätspflichtiger Unternehmen – insbesondere Wirecard – geben jedoch Anlass, dieses Verhältnis aufzubereiten. Dabei wird sich zeigen, dass nicht nur vorsätzliche Bilanzmanipulationen, sondern auch sonstige Fehler im Rahmen der Finanzberichterstattung bzw. der sonstigen Regelpublizität und sogar ein Enforcementverfahren der BaFin (§§ 107, 109 WpHG) zu Ad-hoc-Publizitätspflichten führen können und deshalb auch aus Sicht der Praxis dem Instrument des Aufschubs nach Art. 17 Abs. 4 Marktmissbrauchsverordnung (Market Abuse Regulation – MAR) besondere Bedeutung zukommt.
2
Auf dem Weg zum Aufschub (IV.) ist zunächst das zweispurige Publizitätsregime – die Finanzberichterstattung gem. den §§ 114 ff. WpHG und die Regelpublizität gem. den §§ 242 ff., 264 ff., 325 HGB – vorzustellen (II.1.–3.), gefolgt von einigen Beobachtungen zum Verhältnis der Ad-hoc-Publizitätspflicht gem. Art. 17 MAR zur Finanzberichterstattung (II.5.). Sodann geht es unter III. um Ad-hoc-Publizitätspflichten im Kontext einer fehlerhaften Finanzberichterstattung bzw. Regelpublizität. Insoweit werden zunächst die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 17 Abs. 1 MAR kurz aufgezeigt (III.1.), sodann Arten (III.2.) und handelsbilanzielle Rechtsfolgen (III.3.) von Fehlern der Finanzberichterstattung und Regelpublizität kategorisiert, bevor unter III.4. zentrale Fallgruppen fehlerhafter Finanzberichterstattung bzw. Regelpublizität als Insiderinformation herausgearbeitet werden. III.5. widmet sich den Besonderheiten von Anordnungen und Feststellungen der BaFin im Enforcementverfahren und in III.6. werden Umstände aus dem Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks bzw. der Feststellung der Ergebnisse der Prüfung durch die BaFin in das Ad-hoc-Publizitätsregime eingeordnet. IV. untersucht schließlich die Voraussetzungen des Aufschubs nach Art. 17 Abs. 4 MAR unter Rückgriff auf die unter III. herausgearbeiteten Fallgruppen. Das Kapitel schließt mit einem knappen Fazit (V.).
1 Siehe aber jüngst Markworth, BKR 2020, 438.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 4
II. Finanzberichterstattung und Ad-hoc-Publizität 1. Finanzberichterstattung nach der Transparenzrichtlinie Finanzberichte wurden als ein neues Berichtsformat von den Art. 4–6 der Transparenzrichtlinie 2004/109/EG2 (Transparenz-RL) eingeführt und sodann in Deutschland durch das Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz3 in nationales Recht umgesetzt (nunmehr §§ 114 ff. WpHG).4 Der Zweck der Transparenz-RL ist auf die Förderung von Markteffizienz und den Anlegerschutz ausgerichtet.5 Ausdrücklich heißt es in Erwägungsgrund 1 S. 2–3 Transparenz-RL, dass die „rechtzeitige Bekanntgabe zuverlässiger und umfassender Informationen über Wertpapieremittenten … das Vertrauen der Anleger nachhaltig [stärkt] und … eine fundierte Beurteilung ihres Geschäftsergebnisses und ihrer Vermögenslage [ermöglicht]. Dies erhöht sowohl den Anlegerschutz als auch die Markteffizienz“.
3
Mit der Einführung der Finanzberichte verbanden sich wesentliche Neuerungen. Die erstmalige Vorgabe zwingender Halbjahres- und Zwischenberichtspflichten (Art. 5 Transparenz-RL und Art. 6 Transparenz-RL a.F.) erweiterte die Regelberichterstattung kapitalmarktorientierter Unternehmen ganz wesentlich.6 Zwar entfiel die Zwischenberichtspflicht mit der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie 2013/50/EU – bzw. deren Umsetzung7 – wieder. Gleichwohl sehen noch immer viele Börsenbetreiber – jedenfalls für einige Marktsegmente – Quartalsberichte vor (etwa § 53 BörsO FWB), und auch der DCGK 2022 empfiehlt weiterhin eine unterjährige Information über die Geschäftsentwicklung, insbesondere über wesentliche Veränderungen der Geschäftsaussichten sowie der Risikosituation (Empfehlung F.3).8 Zudem wurde
4
2 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. EG Nr. L 390 v. 31.12.2004, S. 38 ff. 3 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG des europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz – TUG) v. 5.1.2007, BGBl. I 2007, 10 ff. 4 Zur Entstehungsgeschichte Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 1 ff.; Mock in Klöhn/Mock (Hrsg.), 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1053, 1062; Hennrichs/Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Vor § 114 ff. WpHG Rz. 1 ff.; knapp auch Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Vor Rz. 1. 5 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 1. 6 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 115 WpHG Rz. 1 f. 7 Gesetz zur Umsetzung der Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie v. 25.11.2015, BGBl. I 2015, 2029. 8 Dazu Bachmann in Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, DCGK, 8. Aufl. 2021, F.3 Rz. 6 ff. Kritisch zur Rechtmäßigkeit einer Empfehlung durch den Kodex Seibt/Wollenschläger, AG 2012, 305, 308.
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Rz. 4 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
der Bilanzeid als europäische Antwort auf den Sarbanes-Oxley-Act eingeführt (Art. 4 Abs. 2 lit. c Transparenz-RL).9 All dies gilt für alle dem Anwendungsbereich der Transparenz-RL unterfallende Emittenten, was der deutsche Gesetzgeber in den §§ 114 ff. WpHG als Anwendung auf Inlandsemittenten (§ 2 Abs. 14 WpHG) umgesetzt hat.10 2. Gegenstände der Finanzberichterstattung 5
Gegenstände der Finanzberichterstattung sind im Wesentlichen der Jahresfinanzbericht (§ 114 WpHG) und der Halbjahresfinanzbericht (§ 115 WpHG). Der Jahresfinanzbericht (§ 114 WpHG) umfasst folgende Bestandteile11: – Jahresabschluss, bestehend – sofern es sich um einen Inlandsemittenten mit Sitz in Deutschland handelt12 – aus Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung (§ 242 Abs. 3 HGB) sowie dem Anhang mit Erläuterungen und sonstigen Pflichtangaben (§§ 284 ff. HGB, § 160 AktG), ggf. ergänzt um die Kapitalflussrechnung und den Eigenkapitalspiegel (§ 264 Abs. 1 Satz 2 HGB).13 Hinzu kommt nach h. M. die Offenlegung des vom Abschlussprüfer erteilten Bestätigungsvermerks bzw., im Falle dessen Nichterteilung, eine Information darüber.14 – Lagebericht (§ 289 HGB), mit ergänzenden Angaben für bestimmte Aktiengesellschaften (§ 289a HGB) und der nichtfinanziellen Erklärung (§§ 289b, 289c HGB) sowie der Erklärung zur Unternehmensführung (§ 289f HGB);15 – Konzernabschluss und Konzernlagebericht (§ 290 HGB);16
9 Mülbert/Steup, NZG 2007, 761, 761; Fleischer, ZIP 2007, 97; Mock in KK-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37v Rz. 111. 10 Zu den Normadressaten der §§ 114 ff. WpHG Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 8 ff.; Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Rz. 2 f.; Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 114 ff. WpHG Rz. 7; kritisch zur Umsetzung durch das TUG Mülbert/Steup, NZG 2007, 761, 765 (richtlinienwidrig). 11 Näher Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 38 ff. 12 Insoweit ergibt sich die Veröffentlichungspflicht wegen § 114 Abs. 1 S. 1 WpHG nicht aus § 114 WpHG, sondern ausschließlich aus § 325 HGB. Siehe nur Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Rz. 20. 13 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 40 ff.; Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 114 ff. WpHG Rz. 29. 14 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 44; Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 114 ff. WpHG Rz. 30; Mock in KK-WpHG, 2. Aufl. 2014, § 37v Rz. 126. 15 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 45. 16 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 116 WpHG Rz. 3 ff.; Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 117 WpHG Vor Rz. 3.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 8
– Entsprechenserklärung gem. § 264 Abs. 2 Satz 3, § 289 Abs. 1 Satz 5 (sog. Bilanzeid)17 und – Bescheinigung der Wirtschaftsprüferkammer über Eintragung des Abschlussprüfers.18 Der Halbjahresfinanzbericht (§ 115 WpHG) umfasst folgende Bestandteile19:
6
– verkürzter Abschluss, Zwischenlagebericht, Bilanzeid20 sowie – ggf. – „Halbjahreskonzernfinanzbericht“ (§ 117 Nr. 2 WpHG)21 und – Bescheinigung zum Halbjahresfinanzbericht, sofern eine (freiwillige) Prüfung durchgeführt wurde.22 3. Zweispuriges Publizitätsregime nach WpHG und HGB: Finanzberichterstattung und handelsbilanzrechtliche Regelpublizität a) Überblick Im Ausgangspunkt hat der deutsche Gesetzgeber – den unionsrechtlichen Vorgaben der Art. 4 f. Transparenz-RL und Art. 30 ff. Bilanz-RL 2013/34/EU folgend – ein zweispuriges Publizitätsregime etabliert: Finanzberichterstattung gem. den §§ 114 ff. WpHG und handelsbilanzrechtliche Regelpublizität gem. den §§ 242 ff. HGB.23
7
Die jeweiligen Publizitätsinhalte der beiden Regimes – und damit auch die der kapitalmarktrechtlichen Finanzberichterstattung – werden allerdings im Wesentlichen vom materiellen Rechnungslegungsrecht bestimmt.24 Die Finanzberichterstattung baut nämlich hinsichtlich des materiellen Rechnungslegungsinhalts auf den handelsbilanzrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften der §§ 242 ff., 264 ff. HGB auf, wel-
8
17 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 46 f.; Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Rz. 21 f. 18 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 48 f.; Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Rz. 23; Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 114 ff. WpHG Rz. 31. 19 Näher Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 115 WpHG Rz. 14 ff. 20 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 115 WpHG Rz. 14 ff.; Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 115 WpHG Rz. 13 ff. 21 Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 117 WpHG Rz. 4 ff. 22 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 115 WpHG Rz. 46; Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 115 WpHG Rz. 21 ff. 23 Mülbert/Steup, NZG 2007, 761; Mülbert/Steup in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 4. Aufl. 2019, Rz. 41.260 ff. 24 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 38.
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Rz. 8 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
che ihrerseits durch unionsrechtliche Vorgaben (Bilanz-RL 2013/34/EU und Rechnungslegungs-VO EG Nr. 1606/2022) jedenfalls teilharmonisiert sind.25 9
Für Jahresfinanzberichte erstreckt sich die Anknüpfung der Finanzberichterstattung an die handelsbilanziellen Rechnungslegungsvorschriften sogar auf die Publizitätspflicht. Börsennotierte Kapitalgesellschaften, die bereits bzw., richtiger, auch nach § 325 HGB eine Offenlegungspflicht trifft, sind von den Veröffentlichungspflichten der § 114 Abs. 1 Satz 1, § 117 WpHG – nicht hingegen von jenen des § 114 Abs. 1 Satz 2 und 3 WpHG26 – befreit.27 Diese Befreiung soll eine aufgrund des jedenfalls inhaltlichen Gleichlaufs der beiden Publizitätsregimes überflüssige Doppelbelastung vermeiden.28 Zudem haben Reformen der handelsbilanziellen Publizitätsformen in den letzten Jahren auch Angleichungen hinsichtlich der Art der Veröffentlichung bewirkt.29
10
Die freiwillige Veröffentlichung des Jahresfinanzberichts im Rahmen der Finanzberichterstattung – ergänzend zur Veröffentlichung nach § 325 HGB – bleibt dem Emittenten unbenommen, und wird mitunter der Praxis sogar empfohlen.30 b) Friktionen
11
Die Kopplung der materiellen Inhalte der Finanzberichterstattung an das Handelsbilanzrecht – bzw. sogar die Befreiung von der Verpflichtung zur Veröffentlichung des Jahresfinanzberichts für solche Unternehmen, die nach § 325 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 HGB zur Offenlegung des (Konzern-)Jahresabschlusses und der dort genannten weiteren Unterlagen verpflichtet sind – bewirkt wegen der unterschiedlichen Zwecksetzungen der Transparenz-RL einerseits (Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts) und der handelsbilanziellen Rechnungslegung andererseits (Jahresabschluss als Maß für die Gewinnausschüttung, im Übrigen Informationsgrundlage für Aktionäre und ggfs. Fremdkapitalgeber sowie den Kapitalmarkt) gewisse Friktionen.31 Denn während die Bilanzierungsansätze im Vereinigten Königreich und den Vereinig-
25 Dazu nur Merkt in Hopt, HGB, 43. Aufl. 2023, Vor § 238 Rz. 1 ff.; Kahle/Braun in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2023, § 252 HGB Rz. 14 ff. zu den Bewertungsgrundsätzen. 26 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 16. 27 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 114 WpHG Rz. 13 ff.; Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 114 ff. WpHG Rz. 10; vgl. auch schon Mülbert/Steup, NZG 2007, 761, 763. 28 BT-Drucks. 16/2498, 43; dazu auch etwa Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Rz. 4. 29 Vgl. Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Rz. 4. 30 Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 114 WpHG Rz. 4; empfohlen von Heidelbach/Doleczik in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 114 WpHG Rz. 15. 31 Dazu auch Mock in Klöhn/Mock (Hrsg.), FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1052; Markworth, BKR 2020, 438, 440.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 12
ten Staaten nach ihrer Grundkonzeption (potenzielle) Gläubiger und Investoren mit aussagekräftigen Informationen über den Zustand und die Aussichten des Unternehmens versorgen sollen (true and fair value),32 sind jedenfalls das deutsche Bilanzrecht und auch andere kontinentaleuropäische Bilanzrechte noch immer vom Grundsatz der Zugangsbewertung zu Anschaffung- und Herstellungskosten und vom Vorsichtsprinzip – beides mit Blick auf die Ausschüttungsbemessungsfunktion für die Anteilseigner und zum Schutz der Fremdkapitalgläubiger – durch konservative Abschlüsse geprägt.33 Die Bilanz-RL und die Rechnungslegungs-VO haben zwar gewisse Aufweichungen bewirkt,34 doch bestehen nach wie vor Spielräume für eine Aufrechterhaltung der tradierten Systeme der Mitgliedstaaten. Insbesondere ist lediglich der Konzernabschluss zwingend nach den IFRS aufzustellen (§ 325e Abs. 1, 2 HGB) – die mit dem Grundsatz der Fair-value-Bilanzierung schon im Ausgangspunkt auf eine Information unterschiedlicher Marktteilnehmer (IAS 1.7) und besonders auch des Kapitalmarkts angelegt sind;35 im Übrigen besteht dagegen ein Wahlrecht nach Art. 5 VO EG Nr. 1606/2002, § 325 Abs. 2a HGB.36 Die Kapitalmarkteffizienz – als Regelungsziel der Transparenz-RL – wird befördert, wenn das Anlagekapital über die Kapitalmärkte zu denjenigen Investitionsobjekten fließt, bei denen es am (ökonomisch) effizientesten eingesetzt werden kann (Allokationseffizienz).37 Dies können Kapitalmärkte gewährleisten, wenn die Preise von Investitionsobjekten ihrem Fundamentalwert angenähert sind.38 Der Fundamentalwert 32 Dazu etwa Schön, ZHR 161 (1997), 133, 154 ff.; Mock, Finanzverfassung der Kapitalgesellschaften und internationale Rechnungslegung, 2007, S. 73 ff., 160 ff.; Hennrichs, ZHR 170 (2006), 498, 501 ff.; Merkt, Unternehmenspublizität, 2000, S. 122 ff. 33 Störk/Büssow in Beck’scherBilanz-Kommentar, 13. Aufl. 2022, § 252 HGB Rz. 42 ff.; Ballwieser in MüKoHGB, 4. Aufl. 2020, § 252 Rz. 43 ff.; Tiedchen in MüKo zum Bilanzrecht, 1. Auflage 2013, § 252 HGB Rz. 47 ff.; im vorliegenden Zusammenhang auch Markworth, BKR 2020, 438, 440. Kritisch zur Bedeutung des Vorsichtsprinzips Baetge/Ziesemer/ Schmidt in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 40. Erg.-Lfg. 2010, § 252 HGB Rz. 141 ff. 34 Zur Entwicklung nur Mock in Klöhn/Mock (Hrsg.), FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 1052, 1068 ff. m.w.N. Speziell zu den Einschränkungen im Rahmen des BilMoG nur Merkt in Hopt, HGB, 42. Aufl. 2023, § 252 Rz. 10. 35 Hennrichs, ZHR 170 (2006), 498, 502. 36 Zu diesem nur Zetzsche in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, § 325 HGB Rz. 82 ff.; Müller/Kirsch/Meth/Gimpel-Henning in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 104. Erg.-Lfg. April 2022, § 325 HGB Rz. 101 ff. 37 Aus dem ökonomischen Schrifttum nur Grossmann/Stieglitz, American Economic Review 70 (1980), 573; aus dem juristischen Schrifttum Grundmann in Grundmann, Bankvertragsrecht, Bd. 2, 5. Teil Rz. 8; Poelzig in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, Vorbem WpHG Rz. 42; Mülbert, ZHR 177 (2013), 161 (172); Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt, 2. Aufl. 1996, S. 120 und bereits Kohl/ Kübler/Walz/Wüstrich, ZHR 138 (1974), 1, 16 f.; Hopt, ZHR 141 (1977), 389, 413; Assmann, ZBB 1989, 49, 61. 38 von Hayek, 35 American Economic Review (1945), 519; Arrow, Review of Economic Studies 31 (1964), 91–96; Diamond, American Economic Review 57 (1967), 759; Hirshleifer, American Economic Review 61 (1972), 561; speziell auf Finanzmärkte bezogen Kyle/Viswanathan, American Economic Review 98 (2008), 274, 275; Subrahmanyam/Titman, Journal of Finance, 56 (2001), 2389.
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Rz. 12 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
eines Finanzinstruments ist auf der Basis der neo-klassischen Kapitalmarkttheorie von den künftigen Zahlungsströmen und dem Risiko des Finanzinstruments abhängig,39 wobei letzteres unter den Modellannahmen der Neo-Klassik aus der Perspektive eines diversifizierten Anlegers ermittelt und bewertet wird. Den klassischen Grundsätzen des deutschen Bilanzrechts verhaftete Bilanzen mit ihrem häufigen Vergangenheitsbezug40 sind daher aus Sicht des Kapitalmarkts mitunter nur begrenzt aussagekräftig für die angemessene – sprich: risikoadjustierte – Bewertung der künftigen Zahlungsströme der Finanztitel des jeweiligen Emittenten.41 4. Verhältnis der Finanzberichterstattung zur Ad-hoc-Publizität 13
Das Ad-hoc-Publizitätsregime der MAR statuiert im zentralen Art. 17 Abs. 1, dass ein Emittent ihn unmittelbar betreffende Insiderinformationen unverzüglich bekannt zu machen hat. Die Zwecke dieser anlassbezogenen Publizitätspflicht bei kursrelevanten Ereignissen bestehen in der Gewährleistung von Marktintegrität, der Vorbeugung von Insiderhandel (Erwägungsgrund 49 MAR)42 und der Gewährleistung von Funktionenschutz durch die Steigerung der Informations- und Allokationseffizienz des Markts.43
14
Mit den letzteren Erwägungen deckt sich der Schutzzweck jedenfalls teilweise mit demjenigen, den die Transparenz-RL mit der Finanzberichterstattung verfolgt44 (weniger hingegen mit jenen des allgemeinen Handelsbilanzrechts).45 Insofern kann die Ad-hoc-Publizitätspflicht in gewisser Weise auch als Ergänzung der regelmäßigen Finanzberichterstattung verstanden werden, indem sie dafür sorgt, dass die Kapitalmarktakteure neue kursrelevante Informationen zwischen den Regelberichten einpreisen können.46
39 Vgl. allgemein nur Berk/DeMarzo, Corporate Finance, 5th ed. 2020, Cap. 3.3, 3.4 und 3.5., S. 102 ff. 40 Soeben Text mit Fn. 34. 41 Vgl. auch Markworth, BKR 2020, 438, 440. 42 Vgl. schon Hopt, ZHR 159 (1005), 135, 147. Der EuGH stellt auf den Schutz der Integrität und die Stärkung des Vertrauens der Anleger ab, siehe EuGH v. 28.6.2012 – C-19/11 Rz. 24 – Geltl, NZG 2012, 784, 785. 43 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO Nr. 596/2014 Rz. 7; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 17 Rz. 6 ff.; Mülbert/Sajnovits, ZfPW 2016, 1, 33; Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001; Oechsler in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2021, § 826 Rz. 522; Mülbert/Steup, WM 2005, 1633, 1635. 44 Zu deren Schutzzwecken oben II.1. 45 Auf einen Gleichlauf der Schutzzwecke weist Markworth, BKR 2020, 438, 439 hin („gemeinsame Ausrichtung auf die Investitionsentscheidung der Anleger“), nimmt diesen Ausgangspunkt aber später teilweise zurück. 46 Zu dieser Ergänzungsfunktion nur BaFin, Emittentenleitfaden, Modul C, I.3.2.2.6., S. 35; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 9; Kumpan/Grütze in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 17 MAR Rz. 15, 22; Meyer in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 12.333; Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, 2. Aufl. 2022, § 10 Rz. 10.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 17
Regelungstechnisch unterscheidet sich das Ad-hoc-Regime hingegen deutlich, weil es sich bei Art. 17 MAR um vollharmonisiertes Verordnungsrecht handelt. In der Sache kommt hinzu, dass Art. 17 Abs. 1 MAR mit seiner (weitgehenden) Inkorporierung des Art. 7 MAR das Erfordernis einer Informationsveröffentlichung strikt an deren Kurserheblichkeit knüpft, während die Finanzberichterstattung über ihre materielle Anknüpfung an das Rechnungslegungsrecht die Offenlegung eines Katalogs von unterschiedlichen Informationen vorsieht, ohne dass diese einen Bezug zur Kurserheblichkeit aufweisen müssen, noch auch nur einen solchen regelmäßig aufweisen würden. Vielmehr führen gerade die Zwecksetzungen des Bilanzrechts, die sich etwa in den Ansatz- und Bewertungsvorschriften sowie allgemeiner im Vorsichtsprinzip niederschlagen,47 dazu, dass Teile der im Rahmen der Finanzberichterstattung offengelegten Informationen aus kapitalmarktrechtlicher Sicht ohne Relevanz sind.
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Die nur teilweise kongruenten Schutzzwecke und der unterschiedliche Regelungszugriff haben zur Folge, dass die Ad-hoc-Publizitätspflicht und die Pflicht zur Finanzberichterstattung in Idealkonkurrenz nebeneinander stehen.48 Die Ad-hocPflichtigkeit hängt allein von der Qualität einer Information als den Emittenten unmittelbar betreffende Insiderinformation ab, und zwar in dem Zeitpunkt, in dem die Information entsteht (bzw. der Emittent von dieser Kenntnis erlangt49).50 Keine Rolle spielt, ob die Information in die regelmäßige Finanzberichterstattung aufzunehmen ist, selbst wenn diese unmittelbar bevorsteht.51 Allenfalls stellt sich dann die Frage, ob ein Aufschub gem. Art. 17 Abs. 4 MAR in Betracht kommt.52
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III. Ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformationen im Kontext der (fehlerhaften) Finanzberichterstattung Im Kontext einer gegebenenfalls fehlerhaften Finanzberichterstattung kann eine gem. Art. 17 Abs. 1 MAR publizitätspflichtige Insiderinformation (1.) unter verschiedenen Aspekten vorliegen. Für die Frage, wann einem Fehler als solchem die Qualität einer
47 II.3.b), insbesondere Text vor Fn. 34. 48 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO Nr. 596/2014 Rz. 9; ESMA, Questions and Answers on the Market Abuse Regulation (MAR), 25 November 2022, ESMA70-145-111, A5.11; BaFin, Emittentenleitfaden, Modul C, I.3.2.2.6 S. 35; Kumpan/Grütze in Schwark/Zimmer, Art. 17 MAR Rz. 15, 22; Meyer in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 12.333; Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, § 10 Rz. 10; Klöhn in Klöhn, 2. Aufl. 2023, Art. 17 MAR Rz. 38 und Rz. 46 ff. speziell zum Enforcementverfahren; Mock, WpG 2018, 1594, 1598. 49 Zum Kenntniserfordernis Sajnovits, The Market Abuse Regulation and the Residual Role of National Law, EBI Working Paper 137/2023, S. 7 ff. abrufbar unter: https://papers.ssrn. com/sol3/papers.cfm?abstract_id= 4392675, auch mit Nachweisen zur Gegenauffassung. 50 Dazu noch unten III.1. 51 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO Nr. 596/2014 Rz. 9. 52 Vgl. auch ESMA70-156-2391 no. 1050. Näher unten IV.
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Rz. 17 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
Insiderinformation zukommen kann, sind zunächst knapp die verschiedenen Fehlertypen im Rahmen der Finanz- und Regelberichterstattung (2.) und deren jeweilige Rechtsfolgen (3.) aufzufächern. Hierauf aufbauend sind sodann die einzelnen Fehler bei der Finanzberichterstattung hinsichtlich ihrer Qualität als potenziell ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformationen zu würdigen (4.). Daneben kommen aber auch sonstige Umstände im Zusammenhang mit der Rechnungslegung als den Emittenten unmittelbar betreffende (potenzielle) Insiderinformationen in Betracht, insbesondere Anordnungen/Feststellung der BaFin im Rahmen eines Enforcementverfahrens gem. den §§ 107–109 WpHG (5.) sowie die Kommunikation mit dem Emittenten im Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks durch den Prüfer und im Vorfeld der Ergebnisfeststellung im Enforcementverfahren durch die BaFin (6.). 1. Insiderinformationen i.S.d. Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 MAR 18
Von einem Emittenten gem. Art. 17 Abs. 1 MAR unverzüglich bekanntzugebende Insiderinformationen sind alle nicht öffentlich bekannten präzisen Informationen, die einen oder mehrere Emittenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente (unmittelbar) betreffen und die, wenn sie öffentlich bekannt würden, geeignet wären, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen (Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR).
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Im hiesigen Kontext sind besonders die Tatbestandsmerkmale der Präzision und der Geeignetheit zur Kursbeeinflussung von Bedeutung. Eine Information ist nach Art. 7 Abs. 2 Satz 1 MAR präzise53, wenn damit eine Reihe von Umständen oder ein Ereignis gemeint sind, die bereits gegeben bzw. eingetreten sind oder bei denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie in Zukunft gegeben sein bzw. eintreten werden. Zudem müssen diese Informationen spezifisch genug sein, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung der Umstände oder Ereignisse auf die Kurse der Finanzinstrumente oder eines damit verbundenen derivativen Finanzinstruments zuzulassen (Art. 7 Abs. 2 Satz 1 MAR). Informationen sind geeignet, den Kurs von Finanzinstrumenten erheblich zu beeinflussen, wenn sie ein verständiger Anleger wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidung nutzen würde (Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR).54 53 Näher zur Präzision der Information Hopt/Kumpan in Ellenberger/Bunte, BankrechtsHandbuch, 6. Aufl. 2022, § 86 Rz. 43 f.; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 7 Rz. 77 ff.; Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 7 VO Nr. 596/2014 Rz. 8 ff.; Kumpan/Misterek in Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 5. Aufl. 2020, Art. 7 VO (EU) 596/2014 Rz. 26 ff.; Meyer in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 12.162 ff.; Hilgendorf/Kusche in Park, Kapitalmarktstrafrecht, 5. Aufl. 2019, Kap. 7.3, Art. 7 MAR Rz. 20 f.; Krause in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch Marktmissbrauchsrecht, 2. Aufl. 2023, § 6 Rz. 21 ff. 54 Näher zum erheblichen Kursbeeinflussungspotential gem. Art. 7 MAR Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 7 VO Nr. 596/2014 Rz. 78 ff.; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 7 Rz. 156 ff.; Buck-Heeb in Assmann/Schütze/Buck-Heeb, Handbuch des Kapitalanlagerechts, 5. Aufl. 2020, § 8 Rz. 106 ff.; Kumpan/Misterek in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 7 VO (EU)
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 21
Für die beiden Tatbestandsmerkmale ist mithin der Einfluss der Information auf den Kurs des jeweiligen Finanzinstruments entscheidend (Spezifität bzw. Eignung zur Kursbeeinflussung), wobei dieser jeweils aus der Perspektive eines verständigen Anlegers zu beurteilen ist. Der Begriff des „verständigen Anlegers“ wird in Rechtsprechung und Schrifttum bislang zwar durchaus unterschiedlich konturiert.55 Einig ist man sich aber darin, dass es sich um einen normativen Rechtsbegriff56 handelt, der objektiv, aber unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, zu bestimmen ist.57 Dabei ist der verständige Anleger nach einhelliger Auffassung jedenfalls an Fundamentalwertinformationen interessiert.58 Ob er darüber hinaus auch irrationale Marktschwankungen antizipiert –, mithin auch ein rein spekulativer Anleger sein kann – ist zwar umstritten,59 kann für die vorliegend behandelten Fallgruppen allerdings dahinstehen, da diese nach allen Auffassungen eine Kurserheblichkeit entweder aufweisen oder aber nicht.
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2. Fehlerarten im Regime der Finanz- und Regelberichterstattung Die Vorschriften zur Finanzberichterstattung in der Transparenz-RL und deren Umsetzung in den §§ 114 ff. WpHG enthalten kein eigenes Fehlerregime. Indem sie für Emittenten mit Sitz in Deutschland als zu veröffentlichende Unterlagen jeweils den gem. den Rechnungslegungsvorschriften des HGB aufgestellten Abschluss und Lagebericht in Bezug nehmen (§ 114 Abs. 2, § 115 Abs. 2, 3, § 117 WpHG), bestimmen die handelsbilanzrechtlichen Regeln zur Fehlerhaftigkeit insbesondere des (Konzern-) Jahresabschlusses mittelbar auch über die diesbezügliche Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung. Zudem wird das Fehlerregime auf die – gesetzlich nicht mehr vorgegebene, aber vertraglich teils vereinbarte (§ 53 BörsO FWB) – Quartalsberichterstattung anzuwenden sein, jedenfalls soweit sich der jeweilige Emittent zu einer Quartalsfinanzberichterstattung entsprechend der Vorgaben der §§ 114 ff. WpHG entscheidet (§ 53 Abs. 3 BörsO FWB).
55 56 57 58
59
596/2014 Rz. 119 ff.; Hopt/Kumpan in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 86 Rz. 54 f.; Brellochs in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 3. Aufl. 2020, § 1 Rz. 80 ff.; Krause in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch Marktmissbrauchsrecht, 2. Aufl. 2023, § 6 Rz. 100 ff.; Meyer in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 12.187 ff. Übersicht zu den unterschiedlichen Positionen bei Langenbucher, AG 2016, 417; Kumpan/Misterek, ZHR 184 (2020), 180, 189 ff.; Mülbert/Sajnovits, ECFR 2021, 256, 278 ff. Siehe nur Brellochs in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 3. Aufl. 2020, § 1 Rz. 83; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 7 Rz. 268. Brellochs in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 3. Aufl. 2020, § 1 Rz. 83; vgl. auch Mülbert in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Art. 12 VO Nr. 596/2014 Rz. 65. Siehe nur Sustmann/Rentsch/Gerding, AG 2022, 602, 605; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 7 Rz. 271 ff.; Mülbert/Sajnovits, ECFR 2021, 256, 278 ff.; Veil/Wiesner/Reichert, ECFR 2022, 445, 495 ff.; Ventoruzzo/Picciau in Ventoruzzo/Mock (ed.), MAR, 2. Aufl. 2022, Art. 7 para. B.7.67. Siehe nur Nietsch in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.11.2021, Art. 7 VO (EU) 596/2014 Rz. 116 ff.
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Rz. 22 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
a) Arten von Fehlern 22
Aus handelsbilanzrechtlicher Perspektive lassen sich drei Fehlerarten unterscheiden: formale Fehler und Gliederungsfehler (i), Inhaltsfehler (ii) und Verfahrensfehler (iii):
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(i) Formale Fehler/Gliederungsfehler: Formale Fehler und Gliederungsfehler betreffen nicht den Inhalt des Finanzberichts, sondern die Vorgaben zu dessen genauer Struktur.60 Relevant sind insoweit für den (Halb-)Jahres- und Konzernabschluss insbesondere die §§ 265, 266, 268–277 HGB sowie die Vorgaben zur Berücksichtigung von Formblättern.61 Formale Fehler sind insbesondere dann bedeutsam, wenn sie die Verständlichkeit von (Halb-)Jahres- oder Konzernabschluss in wesentlichen (vgl. § 256 Abs. 4 AktG) Aspekten gefährden.62
24
(ii) Inhaltsfehler: Inhaltsfehler betreffen insbesondere das gesamte Spektrum fehlerhafter Ansätze (Aktivierung und Passivierung) im Sinne der §§ 252 ff. HGB, worunter auch eine unterbliebene Aktivierung oder Passivierung fällt, ferner Fehler beim Anhang und Lagebericht bis hin zu deren jeweiligem gänzlichen Fehlen.63 Insoweit ist allerdings häufig ein Einschätzungsspielraum des Bilanzierenden insbesondere bei Prognosen zu berücksichtigen.64 Ein Fehler kann dann von vornherein nur vorliegen, wenn die Prognosen nicht plausibel oder widersprüchlich sind und/oder die zugrunde gelegten Annahmen nicht sachgerecht unter Ausschöpfung aller verfügbaren Informationen als Prognosegrundlage eingeflossen sind.65 Davon zu trennen sind Unsicherheiten bezüglich der Auslegung offener Rechtsbegriffe.66
25
(iii) Verfahrensfehler: Verfahrensfehler sind insbesondere das Fehlen der nach § 316 Abs. 1 HGB ggf. erforderlichen Prüfung,67 eine unterbliebene Nachtragsprüfung (§ 316 Abs. 3 HGB),68 die Nichteinhaltung der Mindestanforderungen an die Abschluss-
60 Koch in MüKoAktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 52; Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 54 ff. 61 Vgl. Überblick bei Koch in MüKoAktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 51 f.; Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 56 ff. 62 Zur Wesentlichkeit eines Gliederungsfehlers im Rahmen des § 256 Abs. 4 AktG Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 68. 63 Koch in MüKoAktG, 5. Aufl. 2021, § 256 Rz. 55; Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 71 ff.; vgl. auch Merkt in Hopt, HGB, 42. Aufl. 2023, § 252 Rz. 29. 64 Allgemein Hennrichs, AG 2006, 698, 704; zur eingeschränkten Bilanzkontrolle von Prognosen Hennrichs in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 109 WpHG Rz. 5; Pöschke, ZGR 2018, 647, 675 ff.; vgl. auch Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 46. 65 Vgl. Hennrichs, AG 2006, 698 (704); Hennrichs, DStR 2009, 1446, 1447. 66 Dazu sogleich III.2.c). 67 Dazu nur Merkt in Hopt, HGB, 42. Aufl. 2023, § 316 Rz. 1 f.; Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 133 ff. 68 Merkt in Hopt, HGB, 42. Aufl. 2023, § 316 Rz. 4; Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 164 ff.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 28
prüfung,69 insbesondere das Fehlen des erforderlichen Bestätigungsvermerks,70 sowie schließlich Fehler bei der Feststellung.71 b) Erkennbarkeit und Zeitpunkt der Fehlerhaftigkeit Damit ein handelsbilanzrechtlich erheblicher Fehler vorliegt, muss der objektiv gegebene Rechnungslegungsmangel nach h.M. und Praxis auch subjektiv erkennbar gewesen sein (normativ-subjektiver Fehlerbegriff).72 Anders gewendet muss der Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften für ordentliche Kaufleute erkennbar (gewesen) sein.73 Maßgeblich ist dabei der Ex-ante-Kenntnisstand des Bilanzerstellers, und zwar – jedenfalls beim Jahresabschluss – nach h.M. im Zeitpunkt der Feststellung.74
26
Dieser normativ-subjektive Fehlerbegriff ist zwar insbesondere im Gefolge einer Abkehr des Großen Senats des Bundesfinanzhofs von diesem Fehlerbegriff für das Steuerrecht75 nicht unumstritten,76 handelsbilanzrechtlich aber doch fest etabliert und auch in der Sache zum Schutz der Kaufleute nachvollziehbar.77
27
c) Reichweite des normativ-subjektiven Fehlerbegriffs Der normativ-subjektive Fehlerbegriff gilt nicht nur für Tatsachenfragen und echte Bewertungsfragen, sondern nach h.M. auch für eine Fehlerhaftigkeit aufgrund einer
69 Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 136 ff.; Jansen in BeckOGKAktG, Stand: 1.4.2023, § 256 Rz. 28 ff., 35 ff. 70 Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 139 ff.; Jansen in BeckOGKAktG, Stand: 1.4.2023, § 256 Rz. 31. 71 Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 171 ff.; Jansen in BeckOGKAktG, Stand: 1.4.2023, § 256 Rz. 45 ff., 55 ff. 72 OLG Düsseldorf v. 12.12.2019 – I-12 U 30/19, NZG 2020, 899 Rz. 22; Adler/Düring/ Schmalz, Rechnungslegung Rz. 43; Schön, FG 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, Bd. II, 153, 155 f.; Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 82; Hennrichs, DStR 2009, 1446, 1448; Schneider, ZIP 2020, 400; Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 42 ff. 73 OLG Düsseldorf v. 12.12.2019 – I-12 U 30/19, NZG 2020, 899 Rz. 22; Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 82. Jedenfalls für nichtwesentliche Fehler liegt ein entsprechender Fehlerbegriff auch den IFRS zugrunde (vgl. IAS 8.5, 8.42). Dazu nur Hennrichs in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 109 Rz. 7 f. 74 Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 82; IDW RS HFA 6, Änderung von Jahres- und Konzernabschlüssen, WPg Supplement 2/2007, 77, Rz. 14; Schön in FG 50 Jahre BGH, Bd. II, 2000, S. 153, 155 ff., 162; Hennrichs, NZG 2013, 681 ff.; Hüttemann in FS Priester, 2007, 301, 331–334; Pöschke, ZGR 2018, 647, 676ff; offengelassen von Bezzenberger in GroßKommAktG, 5. Aufl. 2020, § 256 Rz. 45. Soweit gesellschaftsrechtlich keine Feststellung erfolgt, wird man auf die Fertigstellung der Aufstellung abstellen müssen (vgl. Schön in FG 50 Jahre BGH, Bd. II, 2000, S. 153, 155 ff.). 75 BFH v. 31.3.2013 – GrS 1/10, BStBl. II 2013, 317. 76 Siehe Schultze-Osterloh, ZHR 179 (2015), 9. 77 Näher Hennrichs, NZG 2013, 681, 686 f.; Hennrichs, NZG 2014, 1001, 1004; Hennrichs/ Pöschke in MüKoAktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 82 m.w.N.
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Rz. 28 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
unsicheren Rechtslage.78 Bei rechtlichen Unsicherheiten fehlt es danach an der subjektiven Fehlerdimension, wenn die zugrunde gelegte Rechtsauffassung nachvollziehbar und vertretbar gewesen ist.79 29
Im Ausgangspunkt wird oder, nunmehr vielleicht, wurde der normativ-subjektive Fehlerbegriff auch für die Abschlussprüfung und die Bilanzkontrolle für maßgeblich gehalten.80 Jedoch ist das OLG Frankfurt a.M. für das (alte) Enforcementverfahren, d.h. das Verfahren vor seiner Reform durch das FISG,81 hiervon abgerückt und hält jedenfalls für Rechtsfehler im Bilanzkontrollverfahren einen objektiven Fehlerbegriff für maßgeblich (dazu noch sogleich III.3.).82 d) Fehler v. wertaufhellende Tatsachen
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Wertaufhellende Tatsachen geben Aufschluss über die Bewertung eines Vermögensgegenstands und lagen am Bilanzstichtag bereits objektiv vor,83 wurden aber (zunächst) nicht berücksichtigt,84 ohne dass dies für ordentliche Kaufleute erkennbar wäre. Zum Inhaltsfehler wird die Nichtberücksichtigung einer wertaufhellenden Tatsache, wenn dieser Rechnungslegungsmangel ordentlichen Kaufleute im Zeitraum bis zur Feststellung des Jahresabschlusses erkennbar wird.85 3. Fehlerfolgen im Regime der Finanz- und Regelberichterstattung
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Bei Fehlern des Jahresfinanzberichts in den beiden Bestandteilen (Konzern-)Abschluss und (Konzern-)Lagebericht ist aufgrund der Inbezugnahme der jeweils nach HGB erstellten Unterlagen (§ 114 Abs. 2, § 117 WpHG) ebenfalls das handelsbilanzrechtliche Fehlerfolgenregime maßgeblich, wenngleich die BaFin und das OLG Frankfurt a.M. – wie bereits erwähnt – zumindest für das Enforcementverfahren teilweise einen 78 OLG Düsseldorf v. 12.12.2019 – I-12 U 30/19, NZG 2020, 899 Rz. 28; Schön in FG 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000, Bd. II, 153, 155 f.; Pöschke, ZGR 2018, 647, 676 f.; Hennrichs/ Pöschke in MüKoAktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 82; Schneider, ZIP 2020, 400, 402; a.A. etwa Schulze-Osterloh, ZHR 179 (2015), 9, 43. 79 OLG Düsseldorf v. 12.12.2019 – I-12 U 30/19, NZG 2020, 899 Rz. 28; Hennrichs, NZG 2013, 681, 686. 80 Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG, 5. Aufl. 2022, § 172 Rz. 84 m.w.N. 81 Zu dieser nur Mülbert, ZHR 185 (2021), 2; Markworth/Bangen, BKR 2021, 417; Gros/Velte, Der Konzern 2021, 371; Scheffler, AG 2021, R347. 82 OLG Frankfurt, AG 2019, 687; zustimmend etwa Böcking/Gros/Wirth, Der Konzern 2019, 341; Anzinger/Hönsch in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 109 WpHG Rz. 2; Hucke in Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzrecht, 104. Erg.Lfg., § 342b HGB Rz. 810; kritisch dagegen etwa Schneider, ZIP 2020, 400; Pöschke, WPg 2019, 872. 83 Das unterscheidet sie von wertbegründenden Tatsachen. Diese haben ebenfalls Einfluss auf die Bewertung eines Vermögensgegenstands, ereignen sich objektiv jedoch erst nach dem Bilanzstichtag; s. nur Merkt in Hopt, HGB, 43. Aufl. 2023, § 252 Rz. 8; Kahle/Braun in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 252 HGB Rz. 106. 84 Merkt in Hopt, HGB, 43. Aufl. 2023, § 243 Rz. 13; Kahle/Braun in Hachmeister/Kahle/ Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 252 HGB Rz. 105. 85 Vgl. III.2.a) und b).
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 34
abweichenden Fehlerbegriff für maßgeblich halten86. Für den Halbjahresfinanzbericht wird man – auch wenn dieser handelsbilanzrechtlich nicht gefordert ist – im Ausgangspunkt zu einer entsprechenden Anwendung des handelsbilanziellen Fehlerregimes kommen, wobei mangels Feststellung eine dem Jahresabschluss vergleichbare Zurückhaltung bei Fehlerkorrekturen nicht geboten ist87. Entsprechendes gilt auch für eine freiwillig den Anforderungen der §§ 114 ff. WpHG entsprechende Quartalsberichterstattung i.S.d. § 53 Abs. 6 GO FWB. Handelsbilanzrechtliche Korrektur- und Änderungspflichten bestehen jedenfalls im gesamten Zeitraum bis zur Feststellung des Jahresabschlusses.88 Erst ab diesem Zeitpunkt – und beim Jahresabschluss vorbehaltlich des Vorliegens von Nichtigkeitsgründen (III.3.b)) – kommt dem Bestands- und Vertrauensschutz gegenüber dem Interesse an einer korrekten Darstellung in den Abschlüssen ein höheres Gewicht zu, sodass Korrektur- und Änderungspflichten regelmäßig nicht bestehen sollen.89
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4. Fehlerhafte Finanzberichterstattung als Insiderinformation Fehler bei der Finanzberichterstattung können unter verschiedenen Aspekten potenzielle Insiderinformationen darstellen bzw. auslösen. Dies reflektiert die folgende Aufgliederung nach Fehlerursachen (a), formeller/inhaltlicher Fehlerhaftigkeit der Finanz- und Regelpublizität (b) und Verfahrensaspekten, insbesondere der Versagung des Bestätigungsvermerks des Abschlussprüfers (c).
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a) Ursachen der Fehlerhaftigkeit als Insiderinformation Was die Ursache der Fehlerhaftigkeit als potenzielle Insiderinformation angeht, verläuft die Bewertung ganz parallel zu der vieldiskutierten Einordnung von Complianceverstößen als Insiderinformation.90 Die Ursachen der Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung können vielfältig sein und reichen von Fahrlässigkeit auf unte-
86 Dazu oben III.2.c). 87 Zutreffend verweist das Schrifttum deshalb auf die Heranziehung der vom Deutsche Rechnungslegungs Standards Comittee entwickelten DRS 16 zur Zwischenberichterstattung, siehe etwa Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 115 WpHG Rz. 13, 14 ff. 88 Euler/Klein in BeckOGKAktG, Stand: 1.1.2023, § 172 Rz. 27 sprechen von Modifikation statt Änderung, da in diesem Stadium noch gar kein änderbarer Jahresabschluss bestehe. Soweit (Teile der) Abschlüsse (Konzernjahresabschluss; Lagebericht; Halbjahresfinanzbericht) keiner formalen gesellschaftsrechtlichen Feststellung unterliegen, wird auf den Zeitpunkt des Abschlusses ihrer Aufstellung abzustellen sein (vgl. Schön in FG 50 Jahre BGH, Bd. II, 2000, S. 153, 155 ff.). 89 Sandleben in Schüppen/Schaub, Münchener Anwaltshandbuch Aktienrecht, 3. Aufl. 2018, § 17 Rz. 102; Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl., § 172 AktG Rz. 43. 90 Dazu nur Kumpan/Grütze in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 111; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 17 Rz. 423 ff., Art. 7 Rz. 406 f.; Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2001 f.; Sajnovits, WM 2016, 765, 766 f.
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ren Unternehmens- bzw. Hierarchieebenen, über organisatorische bzw. institutionelle Missstände der Rechnungslegung bis hin zum Bilanzbetrug. 35
Je stärker die Fehlerhaftigkeit auf Governancemissständen oder sogar (strafrechtlich relevanten) Complianceverstößen beruht, desto eher wird die Information ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential aufweisen. Der Emittentenleitfaden der BaFin spricht sogar davon, dass bereits der Verdacht auf Bilanzmanipulationen in der Regel ein erhebliches Kursbeeinflussungspotenzial aufweist.91 Mag auch diese Regelwertung zu pauschal und eine Bewertung des Verdachtsgrades im Einzelfall angezeigt sein,92 wird jedenfalls einem potenziellen Bilanzbetrug umfassend und unverzüglich nachzugehen und aus Vorsicht im noch unsicheren Verdachtsstadium unverzüglich eine Aufschubentscheidung zu treffen sein, sofern eine solche in Betracht kommt93. Nicht in Betracht kommt, eine Ad-hoc-Publizitätspflicht bei strafrechtlich relevanten Complianceverstößen aufgrund des Nemo-tenetur-Grundsatzes schon im Ausgangspunkt zu verneinen.94 b) Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung als solche
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Was die insider- und ad-hoc-rechtlichen Implikationen einer Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung als solcher anbelangt, bedarf es zunächst einer Grundlegung unter vier Aspekten (aa)), um in Anlehnung an die handelsbilanzrechtliche Fehlerlehre sodann die einzelnen Fehlerkategorien insiderinformationsrechtlich einzuwerten (bb)). aa) Grundlagen
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Eine fehlerhafte Finanzberichterstattung kann ad-hoc-rechtlich von vornherein nur relevant werden, wenn ein fehlerhafter Finanzbericht – gleich ob Jahres-, Halbjahresoder Quartalsfinanzbericht – schon öffentlich bekannt ist.95 Denn nur, wenn eine fehlerhafte Finanzberichterstattung im aktuellen Kurs bereits reflektiert ist, kann die Information über die Fehlerhaftigkeit als solche ein Kursbeeinflussungspotential aufweisen. Entscheidend ist für den verständigen Anleger nämlich, ob eine Abweichung zwischen der in der veröffentlichten bzw. offengelegten Finanz- bzw. Regelberichterstattung dargestellten Sachlage und der an sich darzustellenden Sachlage Auswirkungen auf seine Anlageentscheidung und damit im Wesentlichen auf die Cash-
91 92 93 94
BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, Stand: 25.3.2020, I.2.1.5.13, S. 22. Kritisch deshalb Markworth, BKR 2020, 438, 444. Unten IV.1.d). So aber jetzt Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 76 ff.; dagegen schon Sajnovits, WM 2016, 765, 772 f.; Klöhn in KölnKommWpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 Rz. 160; Seibt/Cziupka, AG 2015, 93, 103 jeweils zu § 15 WpHG a.F.; und nunmehr auch OLG Braunschweig AG 2022, 164 Rz. 59 ff. 95 Oder aber, ganz ausnahmsweise, in sonstiger Weise bereits eingepreist wurde (Insiderhandel).
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 40
flow-Prognose des Emittenten hat.96 In welcher Form der fehlerhafte Finanzbericht öffentlich bekannt wurde, im Rahmen einer Bilanzpressekonferenz, durch Veröffentlichung auf der Website oder im Rahmen der Einladung zur ordentlichen Hauptversammlung, ist dabei ohne Belang.97 Daraus folgt, dass Fehler, die in der Phase bis zur Publizität der Finanzberichte erkannt und ggf. korrigiert werden, für sich ad-hoc-rechtlich irrelevant sind. Derartige Fehler können aus Sicht der Art. 17, 7 MAR allenfalls aus sonstigen Gründen, etwa weil sie Aufschluss über einen Complianceverstoß oder Governancemissstände geben,98 relevant sein, nicht aber wegen der Fehlerhaftigkeit als solcher, da sich diese eben noch nicht auf die Kursentwicklung ausgewirkt hat.99
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Auch erlauben die handelsbilanzielle Fehlerlehre und die dieser immanenten (Wertungs-)Kriterien100 für sich genommen keine Antwort auf die Frage, ob eine (potenzielle) Insiderinformation vorliegt oder nicht. Denn für die Qualität als Insiderinformation i.S. des Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR und damit auch für die Ad-hoc-Publizitätspflicht, kommt es allein auf die Kurserheblichkeit der Information an,101 und damit auf die Frage, ob die Information für einen verständigen Anleger bei seiner Anlageentscheidung von Bedeutung ist. Dieser verständige Anleger interessiert sich für fundamentalwertrelevante Informationen.102 Keine Rolle spielt für ihn – es sei denn, aus der handelsbilanziellen Fehlerhaftigkeit ergeben sich besondere handelsbilanzielle/ gesellschaftsrechtliche Rechtsfolgen (Nichtigkeit)103 –, ob in der Abweichung ein „echter“ Fehler im handelsbilanzrechtlichen Sinne (normativ-subjektiver Fehlerbegriff) liegt, ob also ein etwaiger Verstoß für ordentliche Kaufleute bis zur Feststellung erkennbar war104. Für das Ad-hoc- bzw. Insiderrecht der MAR muss es daher – ebenso wie für das Steuerrecht – bei einem objektiven Fehlerbegriff bewenden.
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Das wirkt sich auch hinsichtlich der insiderrechtlichen Relevanz einer unklaren Sach- und Rechtslage bis zum öffentlichen Bekanntwerden eines Finanzberichts aus. Zwar kann eine solche Lage aufgrund des bilanzrechtlichen normativ-subjektiven Fehlerbegriffs dazu führen, dass die handelsbilanzrechtliche Fehlerhaftigkeit und damit auch die Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung zu verneinen ist.105 Für die Insiderinformationsqualität des Fehlers ist dies aber ohne Belang. Wenn die objektive Fehlerhaftigkeit – die ggf. auch eine Anpassung im laufenden Abschluss und/oder
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96 Oben III.1. und II.4. 97 Zum Zeitpunkt des gesetzlich zwingenden Publizitätsakts (§ 325 HGB, § 114 Abs. 2 WpHG) wird der Inhalt der Finanzberichte schon längst öffentlich bekannt sein. 98 Dazu soeben III.4.a). 99 Ausgeklammert bleiben Fälle, in denen der Fehler bereits zuvor aufgrund von Insiderhandel eingepreist wurde (Fn. 95). 100 Oben III.2 und 3. 101 III.1. 102 Fn. 58. 103 Insbesondere die Nichtigkeit (§ 256 AktG), dazu oben III.3.b). 104 Oben III.2.b) und c). 105 Oben III.2.b) und c).
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zumindest im nächsten Finanzbericht erforderlich machen kann – aus der Sicht eines verständigen Anlegers für seine Anlageentscheidung von Bedeutung ist, kommt diesem Umstand ein Kursbeeinflussungspotential zu, und dann ist er auch ad-hoc mitzuteilen. Die „innere Systematik des Bilanzrechts“106 gebietet keine andere Bewertung. Die Schutzzwecke der Ad-hoc-Publizität zwingen zur Veröffentlichung, wenn die Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 1 MAR vorliegen, und die nationale Fehlerlehre des deutschen Bilanzrechts vermag von dieser unionsrechtlichen Verpflichtung nicht zu dispensieren.107 41
Etwas anderes ist auch nicht, das sei ergänzend angemerkt, im Rahmen der an Art. 17 MAR anknüpfenden Schadensersatznormen der §§ 97, 98 WpHG angezeigt. Bei diesen hat sich der deutsche Gesetzgeber ausdrücklich für eine Anknüpfung an Art. 17 MAR entschieden (Unterlässt der Emittent, … unverzüglich eine Insiderinformation, die ihn unmittelbar betrifft, nach Artikel 17 der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 zu veröffentlichen …“) und somit im Wege einer dynamischen Verweisung den Inhalt des Art. 17 MAR auch im Rahmen der §§ 97, 98 WpHG für maßgeblich erklärt.108 Wollte man dieses Regime gewissermaßen bilanzrechtlich inspiriert von den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 17 MAR abkoppeln,109 müsste man sich unter dem Gesichtspunkt des Effet-utile-Grundsatzes der zunehmend drängenderen Frage stellen, ob eine solche Lösung den unionsrechtlichen Anforderungen an eine effektive Rechtsdurchsetzung der MAR noch gerecht wird.110
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Schließlich spielt es für die Ad-hoc-Publizitätspflicht – jedenfalls im Grundsatz – auch keine Rolle, ob der Fehler der Finanzberichterstattung handelsbilanziell eine Korrektur- bzw. Änderungspflicht auslöst oder nicht. Insbesondere bei einem festgestellten Jahresabschluss wird eine Änderungspflicht handelsbilanziell nur in engen Grenzen angenommen. Das hat aber keinen Einfluss darauf, ob die Information über die fehlerhafte Bilanzierung oder den sonstigen Fehler des Finanzberichts für die Anlage-
106 Markworth, BKR 2020, 438, 445. 107 Nichts anderes gilt im Ergebnis auch für den Fehlerbegriff der IAS/IFRS. Zwar sind diese, soweit auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 (vgl. ABl. EG Nr. L 243 v. 11.9.2002) im Wege des sog. Endorsement-Verfahrens durch die EU-Kommission jeweils anerkannt, ebenfalls unmittelbar geltendes Unionsrecht (nur OLG Frankfurt a.M. v. 4.2.2019 – WpüG 3/16, WpüG 4/16, BeckRS 2019, 6427 Rz. 87 m.w.N.). Auch insoweit bleibt es aber bei den unterschiedlichen Regelungszwecken und Tatbestandsvoraussetzungen, die eine Einwirkung auf die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 17 Abs. 1 MAR verbieten. 108 Hellgardt in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 98 WpHG Rz. 84. 109 So Markworth, BKR 2020, 438, 444; allgemein gegen eine Entkoppelung Hellgardt in Klöhn/Mock, FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 701, 712 f. 110 Hellgardt in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 98 WpHG Rz. 18 ff., 84; zu dieser Diskussion – im Zusammenhang mit der Marktmanipulation – auch Mülbert in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 15 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 45 ff.; Sajnovits, The Market Abuse Regulation and the Residual Role of National Law, EBI Working Paper 137/2023, S. 13 ff. abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id= 4392675.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 45
entscheidung des verständigen Anlegers relevant ist. Gleichermaßen ist ad-hoc-rechtlich ohne Bedeutung, ob ein Fehler tatsächlich korrigiert wird. Mit der Ad-hoc-Veröffentlichung kann jedenfalls nicht bis zu der alsbaldigen Korrektur zugewartet werden. Diese muss vielmehr unverzüglich (Art. 17 Abs. 1 MAR) erfolgen. bb) Fehler als Insiderinformation Von vorstehenden Prämissen ausgehend werden formale Fehler bzw. Gliederungsfehler eines bereits öffentlich bekannten Finanzberichts regelmäßig kein Kursbeeinflussungspotential aufweisen. Denn der verständige Anleger stützt seine Anlageentscheidung nicht auf Gliederungsaspekte. In Extremfällen kann dies anders sein, wenn der formale Fehler so schwer wiegt, dass die Verständlichkeit des gesamten Finanzberichts in Zweifel steht. Dann aber wird der formale Fehler regelmäßig zugleich bilanzrechtlich einen Verstoß gegen § 243 Abs. 2 HGB bedeuten,111 der dann – jedenfalls soweit der Jahresabschluss betroffen ist – auch dessen Nichtigkeit zur Folge hat (§ 256 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 AktG),112 was die Kurserheblichkeit noch erhöht113.
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Was die Kurserheblichkeit von Inhaltsfehlern eines bereits öffentlich bekannten Finanzberichts anbelangt, ist strukturell bedeutsam, dass insbesondere der Jahresabschluss (jedenfalls nach HGB) – in weiten Teilen – vergangenheitsbezogen ist.114 Die Kurserheblichkeit aus Sicht eines verständigen Anlegers ist dagegen zukunftsbezogen.115 Daher ist ein Inhaltsfehler der Finanzberichterstattung – auch ein erheblicher – nicht ohne weiteres auch immer eine Insiderinformation.116 Vielmehr ist für jeden konkret fehlerhaften Ansatz zu beurteilen, ob dieser für die Cash-Flow-Prognose von Bedeutung ist, und es kann keinesfalls von einem Automatismus von – auch signifikanter – Fehlerhaftigkeit und Kurserheblichkeit ausgegangen werden. Je signifikanter die Fehlerhaftigkeit, desto eher kann allerdings die Ursache der Fehlerhaftigkeit selbst als Insiderinformation in Betracht kommen.117
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Inhaltliche Fehler des Lageberichts, insbesondere solche der nichtfinanziellen Erklärung (§§ 289b, 289c HGB) und der Erklärung zur Unternehmensführung (§ 289f HGB), sind kaum einer abstrakten Ex-ante-Bewertung als (nicht) kurserheblich zugänglich. Insbesondere für die ESG-bezogenen Informationen der nichtfinanziellen Erklärung ist derzeit noch weitgehend ungeklärt, unter welchen Voraussetzungen ih-
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111 Siehe nur Merkt in Hopt, HGB, 42. Aufl. 2023, § 243 Rz. 4; Justenhoven/Usinger in Beck’scherBilanz-Kommentar, 13. Aufl. 2022, § 243 HGB Rz. 69; Malke/Schulz in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 243 HGB Rz. 40 ff. 112 Koch, AktG, 17. Aufl. 2023, § 256 Rz. 24. 113 Siehe sogleich (iii). 114 Schon oben II.3.b) und im vorliegenden Zusammenhang auch Markworth, BKR 2020, 438, 440. 115 Oben III.1. und II.3.b). 116 Vgl. auch Markworth, BKR 2020, 438, 440. 117 Dazu III.4.a).
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Rz. 45 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
nen überhaupt Kursrelevanz und damit die Qualität einer Insiderinformation zukommen kann.118 46
Etwas anderes gilt allerdings auch abstrakt für den gem. § 289 Abs. 1 Satz 4, § 315 Abs. 1 Satz 4 HGB abzubildenden Chancen- und Risikobericht, der auch unterjährig im Halbjahresfinanzbericht (§ 115 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 WpHG) aufzunehmen ist (konkretisiert durch die Deutschen Rechnungslegungsstandards 20 und 16).119 Denn insoweit sind (nahezu) ausschließlich künftige finanzielle Chancen und Risiken darzustellen,120 die für die Cash-Flow-Prognose ganz entscheidend sind und damit bei ihrer Fehlerhaftigkeit auch (erhebliches121) Kursbeeinflussungspotential aufweisen können122 und bei erheblichen Fehlern sogar regelmäßig aufweisen werden.
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Formale Fehler oder Inhaltsfehler des öffentlich bekannten und festgestellten (§ 172 AktG) Jahresabschlusses, die einen Nichtigkeitsgrund i.S. des § 256 Abs. 4 und/oder 5 AktG bilden, werden regelmäßig ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential aufweisen. Damit formale oder inhaltliche Fehler zur Nichtigkeit führen können, müssen sie allerdings so schwer wiegen, dass die Gesamtdarstellung wesentlich beeinträchtigt wird.123 Das wird dann i.d.R. auch die Anlageentscheidung eines verständigen Anlegers beeinflussen, weil und soweit dabei auch die Cash-Flow-Prognose betreffende zukunftsbezogene Informationen betroffen sein werden. Zudem hat die Nichtigkeit des Jahresabschlusses weitreichende rechtliche und tatsächliche (Reputationsverlust) Auswirkungen, denen ebenfalls – für sich genommen – regelmäßig erhebliches Kursbeeinflussungspotential zukommt. Zur konkret relevanten Information wird dann der Umstand, dass die Nichtigkeitsvoraussetzungen gegeben sind und nicht mehr allein die Information darüber, dass bzw. welcher Fehler vorliegt. c) Verfahrensaspekte, insbesondere fehlerhafter bzw. versagter Bestätigungsvermerk
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Bei Verfahrensfehlern wird eine etwaige Kurserheblichkeit bzw. ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential regelmäßig nicht aus der Verfahrensfehlerhaftigkeit als solcher, sondern vielmehr aus den Umständen resultieren, die zu dem Verfahrensfehler geführt haben. Dies gilt insbesondere bei der Versagung des Bestätigungsvermerks durch den Abschlussprüfer. Der Wertung im Emittentenleitfaden, dass der Versagung in aller Regel erhebliches Kursbeeinflussungspotential zukommt,124 wird man insofern zustimmen können.125 Denn die Versagung setzt voraus, dass schwerwiegende 118 Mülbert/Sajnovits, WM 2020, 1557; Mülbert/Sajnovits, ECFR 2021, 256, 277 ff.; Sustmann/Rentsch/Gerding, AG 2022, 602, 605 ff.; Veil/Wiesner/Reichert, ECFR 2022, 445, 495 ff. 119 Dazu Kraack, AG 2022, 267, 270 ff. auch im Kontext mit der Ad-hoc-Publizitätspflicht. 120 Zum Inhalt Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 289 HGB Rz. 24 ff. 121 Zur Erheblichkeitsschwelle Mülbert/Sajnovits, WM 2020, 1557, 1564 f. m.w.N. 122 Überzeugend Kraack, AG 2022, 267, 272. 123 Koch, AktG, 17. Aufl. 2023, § 256 Rz. 24 und 25. 124 BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, Stand: 25.3.2020, I.2.1.5.13, S. 22. 125 Zustimmend auch Markworth, BKR 2020, 438, 445; Mock, WpG 2018, 1594, 1597.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 50
Fehler vorliegen oder dass ein Prüfungsurteil überhaupt nicht abgegeben werden kann.126 Aus Sicht eines verständigen Anlegers stellt sie damit ein starkes Indiz dafür dar, dass Complianceverstöße im Vorfeld der Rechnungslegung gegeben sind, die ihrerseits Rückschlüsse auf eine mangelhafte Governancestruktur bzw. auf Complianceverstöße zulassen.127 Dies beeinflusst die Anlageentscheidung eines verständigen Anlegers ganz regelmäßig. d) Aufkommen eines Fehlerverdachts nach öffentlichem Bekanntwerden eines Finanzberichts Eine ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformation kann auch beim nachträglichen Aufkommen eines Fehlerverdachts vorliegen. Dabei ist im Ausgangspunkt unerheblich, ob dieser Verdacht aus Unklarheiten hinsichtlich Tatsachen, aus solchen hinsichtlich Rechtsfragen oder aus einer Gemengelage von unklaren Tatsachen und divergierenden Rechtsmeinungen resultiert, denn allein schon die Existenz eines Verdachts ist eine dem Beweis zugängliche Tatsache.128 Vergleichbar der insiderrechtlichen Behandlung von Meinungen,129 kann je nachdem, wer den Verdacht hegt und welche tatsächlichen Erkenntnisse nach Art und Umfang ihm zugrunde liegen, der Verdacht eine präzise Information darstellen (z.B. Nachricht eines Whistleblowers). Zudem kann der Verdacht bereits kurserheblich sein, was allein davon abhängt, welche Auswirkungen für die Anlageentscheidung des verständigen Anlegers zu erwarten sind.130
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5. Anordnungen/Feststellung der BaFin im Enforcementverfahren (§§ 107 ff. WpHG) Im Kontext eines Enforcementverfahrens der BaFin (§§ 107 ff. WpHG) kommen mehrere Umstände als (potenzielle) Insiderinformation in Betracht. Im chronologischen Verlauf eines Verfahrens stellt sich die Frage nach einem erheblichen Kursbeeinflussungspotential für die folgenden drei Verfahrensmomente131: die Einleitung einer Prüfung der Rechnungslegung durch die BaFin (a), die Veröffentlichung der Anordnung und ihrer Gründe durch die BaFin (b) sowie das Prüfungsergebnis und seine Veröffentlichung (c).
126 Merkt in Hopt, HGB, 42. Aufl. 2023, § 322 Rz. 10; Philipps in Hachmeister/Kahle/Mock/ Schüppen, Bilanzrecht, 3. Aufl. 2022, § 322 HGB Rz. 55 ff., 59 ff. 127 Vgl. oben III.4.a). 128 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 7 VO Nr. 596/2014 Rz. 38. 129 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 7 VO Nr. 596/2014 Rz. 19; Rz. 37 ff. zum Verdacht auf Rechtsverstöße als Insiderinformation. 130 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 7 VO Nr. 596/2014 Rz. 38. 131 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 244 ff.; Assmann, AG 2006, 261 zum alten Enforcement-Verfahren der DPR.
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Rz. 51 | Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung
a) Anordnung einer Prüfung der Rechnungslegung durch die BaFin (§ 107 WpHG) 51
Ordnet die BaFin eine Prüfung aufgrund des Vorliegens „konkreter Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften“ an (§ 107 Abs. 1 Satz 1 WpHG) – anderes gilt bei stichprobenartiger Prüfung (§ 107 Abs. 1 Satz 3 WpHG)132 –, wird ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential dieses Umstands in aller Regel zu bejahen sein.133 Die Einordnung als Insiderinformation ist dabei unabhängig davon, ob der Emittent einen (vermeintlichen) Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften bestreitet, die Rechtmäßigkeit der Anordnung der BaFin in Zweifel zieht oder Rechtsmittel dagegen einlegt bzw. einzulegen beabsichtigt. Denn ein verständiger Anleger wird allein die Tatsache, dass die BaFin eine Prüfung einleitet, zur Grundlage seiner Anlageentscheidung machen, weil dies die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, dass Complianceverstöße oder jedenfalls schwerwiegende Fehler der Rechnungslegung vorliegen. Die Zwecksetzungen des Enforcementverfahrens lassen sich – unabhängig davon, ob diese tatsächlich eine Zurückhaltung bei der Veröffentlichung nahelegen134 – schon deshalb nicht für eine einschränkende Auslegung des Insiderinformationsbegriffs heranziehen, weil diese Norm des Unionssekundärrechts unionsrechtsautonom auszulegen ist. Rein im nationalen Recht gründende Erwägungen tragen daher keine einschränkende Auslegung des unionalen Verordnungsrechts.135 Einen unionsrechtskonformen Weg kann vielmehr nur136 der Aufschub gem. Art. 17 Abs. 4 MAR bieten.
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Eine Ad-hoc-Publizitätspflicht des Emittenten hinsichtlich der Anordnung als Insiderinformation liegt dabei erst vor, wenn dieser von der Information Kenntnis erlangt bzw. Kenntnis haben müsste.137 Das kann entweder mit der Bekanntgabe der Anordnung selbst der Fall sein (§ 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) oder aber, wenn der Emit-
132 Vgl. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 245; tendenziell auch Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 17 Rz. 433; a.A. Markworth, BKR 2020, 438, 446. 133 Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 17 Rz. 433 („liegt nahe“); vgl. zum alten Enforcementverfahren durch die DPR auch Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 245 ff.; auch schon Assmann, AG 2006, 261, 265 f. 134 So Markworth, BKR 2020, 438, 446. 135 Unionsrechtskonform ist es daher nicht, die „Kursrelevanz der anlassbezogenen Eröffnung eines Enforcement-Verfahrens regelmäßig zu verneinen“. Entweder diese ist kursrelevant oder sie ist es nicht und dies gilt es in jedem Einzelfall nach den MAR immanenten Kriterien zu bewerten. 136 Auf diesen Weg weist auch Markworth, BKR 2020, 438, 446 hin. 137 Auf die umstrittene Frage eines Kenntniserfordernisses und einer Wissenszurechnung ist hier nicht einzugehen (dazu nur Sajnovits, The Market Abuse Regulation and the Residual Role of National Law, EBI Working Paper 137/2023, S. 7 ff. m.w.N., abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4392675). Einigkeit wird jedenfalls bestehen, dass ein Verstoß gegen Art. 17 MAR so lange nicht in Betracht kommt, wie der Emittent von der BaFin noch überhaupt nicht über den Inhalt der (bevorstehenden) Feststellung informiert wurde und davon auch nicht aus sonstigen Quellen erfahren hat.
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Ad-hoc-Kapitalmarktkommunikation und fehlerhafte Finanzberichterstattung | Rz. 55
tent als Beteiligter des Verfahrens bereits vorab über den bevorstehenden Erlass des Verwaltungsakts informiert wurde.138 Eine bevorstehende Veröffentlichung der Anordnung durch die BaFin (§ 107 Abs. 1 Satz 6 WpHG), die ebenfalls unverzüglich nach Bekanntgabe an das betroffene Unternehmen zu erfolgen hat,139 dispensiert den Emittenten nicht von seiner eigenen Pflicht zur unverzüglichen Ad-hoc-Mitteilung gem. Art. 17 Abs. 1 MAR. b) Veröffentlichung der Anordnung und ihrer Gründe durch die BaFin (§ 107 Abs. 1 Satz 6 WpHG) Die Veröffentlichung der Anordnung und ihrer Gründe kann ebenfalls ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential zukommen. Hat der Emittent bereits die Einleitung der Prüfung samt ihrer Gründe ad-hoc mitgeteilt, wird der tatsächlichen Veröffentlichung der Anordnung durch die BaFin allerdings kaum je ein weiteres Kursbeeinflussungspotential zukommen. Im Übrigen entfällt eine emittentenseitige Veröffentlichungspflicht ohnehin mit der Veröffentlichung durch die BaFin.
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c) Feststellung des Prüfungsergebnisses durch die BaFin (§ 109 Abs. 1 Satz 1 WpHG) Was das Ergebnis der Prüfung anbelangt, und dies gilt für Verdachtsprüfungen und anlasslose Prüfungen gleichermaßen, hängt dessen Kursbeeinflussungspotential vom konkreten Inhalt und den Markterwartungen hinsichtlich des Ergebnisses ab. Jedenfalls soweit die BaFin eine erhebliche Fehlerhaftigkeit feststellt – die Feststellung ist Verwaltungsakt und bedarf zu ihrer Wirksamkeit einer Bekanntgabe gegenüber dem Adressaten (§ 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) –, wird in der Regel ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential zu bejahen sein. Ebenso liegt es, wenn auch mit gegenläufigem Kursbeeinflussungspotential, wenn die BaFin – entgegen einer breiten Markterwartung – keine Beanstandungen hat. Die Qualität als Insiderinformation ist dabei wiederum unabhängig davon, ob der Emittent den Verstoß gegen die Rechnungslegungsvorschriften bestreitet, die Rechtmäßigkeit der Feststellungen der BaFin in Zweifel zieht oder Rechtsmittel dagegen einlegt bzw. einzulegen gedenkt.
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Soweit die BaFin zusätzlich anordnet – wie seit den Änderungen durch das FISG möglich – dass der Rechnungslegungsfehler berichtigt wird (§ 109 Abs. 1 Satz 4), kann dieser Anordnung besondere Kursrelevanz insbesondere im Falle einer Rückwärtsberichtigung zukommen. Denn diese soll mit Blick auf die grundsätzliche Bestandskraft festgestellter Jahresabschlüsse ausweislich der Regierungsbegründung zum FISG
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138 Eine derartige Vorabinformation wird – richtigerweise sogar mit Gelegenheit zur Stellungnahme (dazu noch III.6.) – im Rahmen des § 28 Abs. 1 VwVfG und aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör geboten sein. Siehe Anzinger/Hönsch in Assmann/ Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 107 WpHG Rz. 4, wonach, dass eine Anhörung nur in Ausnahmefällen unterbleiben kann. 139 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 109 WpHG Rz. 26.
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nur in Betracht kommen, wenn wegen des Ausmaßes des Fehlers eine Korrektur im Folgeabschluss nicht genügend ist.140 56
Eine Ad-hoc-Publizitätspflicht des Emittenten hinsichtlich der Feststellung als Insiderinformation liegt – ebenso wie bei der Anordnung – dabei erst vor, wenn dieser von der Information Kenntnis erlangt bzw. Kenntnis haben müsste.141 Das kann entweder mit der Bekanntgabe der Feststellung selbst der Fall sein (§ 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) oder aber, wenn der Emittent als Beteiligter des Verfahrens bereits vorab über den bevorstehenden Erlass des Verwaltungsakts informiert wurde.142 Eine bevorstehende Veröffentlichung der Feststellung durch die BaFin (§ 109 Abs. 2 Satz 1 WpHG), die ebenfalls unverzüglich nach Bekanntgabe an das betroffene Unternehmen zu erfolgen hat,143 dispensiert den Emittenten nicht von seiner eigenen Pflicht zur unverzüglichen Ad-hoc-Mitteilung gem. Art. 17 Abs. 1 MAR. d) Veröffentlichung der Feststellung durch die BaFin (§ 109 Abs. 2 Satz 1 WpHG)
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Hinsichtlich der Veröffentlichung der Feststellung durch die BaFin gilt – wie schon zur Veröffentlichung über die Anordnung der Prüfung –, dass dieser – je nach Inhalt – zwar ein erhebliches Kursbeeinflussungspotential zukommen kann.144 Hat der Emittent die ihm als Ergebnis der Prüfung bekanntgegebenen Feststellungen seinerseits ad-hoc mitgeteilt, wird den näheren Gründen der Feststellung in der Veröffentlichung tendenziell aber kein neuerliches Kursbeeinflussungspotential zukommen. Im Übrigen entfällt die emittentenseitige Veröffentlichungspflicht mit der Veröffentlichung durch die BaFin.
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Etwas anderes gilt für etwaige von der BaFin veröffentlichte Zwischenergebnisse („Teil-Fehlerfeststellungen“), wie etwa im Fall Adler geschehen (§ 107 Abs. 8 Satz 1 WpHG).145 Auch eine Teilfehlerfeststellung durch die BaFin kann Kursbeeinflus140 RegB BT-Drucks. 19/26966, S. 83. 141 Auf die umstrittene Frage eines Kenntniserfordernisses und einer Wissenszurechnung ist hier nicht einzugehen (dazu nur Sajnovits, The Market Abuse Regulation and the Residual Role of National Law, EBI Working Paper 137/2023, S. 7 ff. abrufbar unter: https:// papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id= 4392675). Einigkeit wird jedenfalls bestehen, dass ein Verstoß gegen Art. 17 MAR so lange nicht in Betracht kommt, wie der Emittent von der BaFin noch überhaupt nicht über den Inhalt der (bevorstehenden) Feststellung informiert wurde und davon auch nicht aus sonstigen Quellen erfahren hat. 142 Eine derartige Vorabinformation wird – richtigerweise sogar mit Gelegenheit zur Stellungnahme (dazu noch III.6.) – im Rahmen des § 28 Abs. 1 VwVfG und aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör geboten sein. Siehe Anzinger/Hönsch in Assmann/ Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 109 WpHG Rz. 26, 29 und auch Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, 83. 143 Hönsch/Anzinger in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 109 WpHG Rz. 26. 144 Vgl. zur Insiderinformationsqualität der Feststellung soeben III.5.c). 145 Siehe Pressemitteilung der BaFin v. 1.8.2022, abrufbar unter: https://www.bafin.de/Shared Docs/Veroeffentlichungen/DE/Pressemitteilung/2022/pm_2022_08_01_ADLER_Real_Es tate.html. Zur Veröffentlichung von Zwischenschritten nach § 107 Abs. 8 Satz 1 WpHG
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sungspotential aufweisen und diese damit zur Insiderinformation machen. Wird der Emittent vorab durch die BaFin von einer bevorstehenden Veröffentlichung informiert, erlangt er von dieser Kenntnis146 und ist dann auch zu einer Ad-hoc-Veröffentlichung verpflichtet. 6. Umstände im Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks/ der Feststellung der Ergebnisse der Prüfung durch die BaFin Im Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks und der Feststellung der Ergebnisse der Prüfung der BaFin stehen insider- und ad-hoc-rechtlich insbesondere die Ankündigung des Abschlussprüfers über die Versagung des Bestätigungsvermerks und etwaige Kommunikation mit der BaFin über mögliche Ergebnisse der Prüfung gem. § 109 WpHG – im Rahmen der Anhörungspflichten gem. § 28 VwVfG – im Fokus (z.B. Übersendung des Entwurfs des Bescheids mit Gelegenheit zum Kommentar)147.
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Insider- und ad-hoc-rechtlich geht es dabei um das Vorliegen eines Zwischenschritts. Für diese gilt nach Art. 7 Abs. 3 MAR, dass im Ausgangspunkt jeder Zwischenschritt eigenständig auf seine Insiderinformationsqualität zu prüfen ist. Umstritten ist dabei bekanntlich, welche Rolle der Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses im Rahmen der Eignung zur erheblichen Kursbeeinflussung zukommt.148 Richtigerweise ist in der Sache insoweit regelmäßig der Probability/Magnitude-Test anzuwenden, da ansonsten eine Sperrwirkung des – nach den Umständen eher unwahrscheinlichen – Endereignisses gegenüber den jeweiligen Zwischenschritten einträte, was namentlich Art. 7 Abs. 2 Satz 2 MAR zuwiderliefe.149 Zudem ist es auch in der Sache nicht geboten, Zwischenschritte generell von Art. 7 MAR auszunehmen, denn es verbleibt die Möglichkeit des Aufschubs gem. Art. 17 Abs. 4 MAR.
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Im Ergebnis wird deshalb ganz regelmäßig schon die Ankündigung der Versagung des Bestätigungsvermerks und auch eine Anhörung über die bevorstehende Feststellung der Ergebnisse der Prüfung (soweit auch die Feststellung selbst kursrelevant wäre150) eine ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformation darstellen, es sei denn, es
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Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 107 WpHG Rz. 37 ff. und auch Begr RegE BT-Drucks. 19/26966, S. 79: „Mit der neuen Regelung kann nicht nur das abschließende Ergebnis der Prüfung veröffentlicht werden, sondern auch jeder Zwischenschritt“. Vgl. oben III.5.a) mit Fn. 136. Zur gem. § 28 Abs. 1 VwVfG auch in diesem Rahmen gebotenen Anhörung nur Anzinger/Hönsch in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 109 WpHG Rz. 26, 29 und auch Begr. RegE FISG, BT-Drucks. 19/26966, 83. Zur Diskussion Nietsch in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.11.2021, Art. 7 VO (EU) 596/2014 Rz. 131 ff. Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 7 Rz. 204 ff.; differenzierend Nietsch in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.11.2021, Art. 7 VO (EU) 596/2014 Rz. 85 ff.; a.A. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 7 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 80. Soeben III.5.
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fehlt im Einzelfall an der Präzision, da der Eintritt des Endereignisses aus ex ante Sicht noch nicht hinreichend wahrscheinlich ist. Das hängt von der Kommunikation im konkreten Fall ab. Ist der Eintritt – ohne weitere hinzugedachte Maßnahmen des Emittenten – danach überwiegend wahrscheinlich, kann eine bereits ad-hoc-pflichtige Insiderinformation vorliegen. Will der Emittent das Endereignis durch Maßnahmen/Gespräche usw. abwenden, muss er sich dem Mittel des Aufschubs gem. Art. 17 Abs. 4 MAR bedienen. 62
An dieser Einordnung könnte sich, darauf sei noch hingewiesen, bei Umsetzung der von der Europäischen Kommission im Vorschlag für einen Listing Act enthaltenen Reformvorschläge etwas ändern.151 Danach soll nämlich ein zweigeteiltes Regime des Insiderinformationsbegriffs für die Insiderdelikte einerseits und das Ad-hoc-Regime andererseits eingeführt werden. Nach dem von der Kommission vorgeschlagenen neuen Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 MAR-E soll die Pflicht nach Satz 1 nämlich nicht „für Zwischenschritte in einem zeitlich gestreckten Vorgang im Sinne von Artikel 7 Absätze 2 und 3 [gelten], wenn diese Schritte mit der Herbeiführung einer Reihe von Umständen oder eines Ereignisses verbunden sind“. Verallgemeinernd hat die von der Kommission vorgeschlagene Formulierung zur Folge, im Wesentlichen alle Zwischenschritte als ad-hoc-publizitätspflichtige Informationen zu eliminieren. Das geht über die eigentliche – durchaus berechtigte – Intention des Vorschlags eines zweigeteilten Insiderinformationsbegriffs weit hinaus.
IV. Aufschub von der Ad-hoc-Publizitätspflicht 63
Ein Emittent kann die Offenlegung von Insiderinformationen gem. Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 MAR auf eigene Verantwortung aufschieben, sofern die unverzügliche Offenlegung geeignet wäre, die berechtigten Interessen des Emittenten zu beeinträchtigen (lit. a)), die Aufschiebung der Offenlegung nicht geeignet wäre, die Öffentlichkeit irrezuführen (lit. b)) und der Emittent die Geheimhaltung der Insiderinformation sicherstellen kann (lit. c)). Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 2 MAR stellt klar, dass dies auch im Fall eines zeitlich gestreckten Vorgangs für diejenigen Zwischenschritte gilt, die für sich genommen Insiderinformationen darstellen.
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Der Aufschub der Ad-hoc-Publizitätspflicht nach Art. 17 Abs. 4 MAR erfordert eine aktive Entscheidung des Emittenten.152 Zuständig für die Aufschubentscheidung ist 151 Zu diesem Veil/Wiesner/Reichert, ECFR 2022, 445; Misterek, ZIP 2023, 400; Kuthe, ZIP 2023, 773; Kührt/Schreiber, BKR 2023, 351; Gumpp, BKR 2023, 82. 152 Buck-Heeb in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, Art. 17 VO (EU) 596/ 2014 Rz. 292; Hopt/Kumpan in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 86 Rz. 151; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 17 Rz. 184; Meyer in Kümpel/ Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 12.361; Kumpan/Schmidt in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 17 VO Nr. 596/2014 Rz. 180; Mülbert/Sajnovits, WM 2001, 2003; a.A. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 89 ff., der aber eine solche der Praxis gleichwohl empfiehlt.
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grundsätzlich das geschäftsführende Organ des Emittenten, bei einer deutschen Aktiengesellschaft mithin der Vorstand.153 Dieser kann die Entscheidung den allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen gemäß delegieren.154 Die BaFin scheint tendenziell immer noch zu verlangen, dass an der Aufschubentscheidung ein Mitglied der Geschäftsführung beteiligt sein muss,155 weshalb in der Praxis auch bei einer Delegation an ein Ad-hoc-Gremium zumindest ein Vorstandsmitglied an der Entscheidung mitwirken sollte. 1. Berechtigtes Emittenteninteresse Als erste Voraussetzung einer rechtmäßigen Aufschubentscheidung muss die unverzügliche Bekanntgabe geeignet sein, die berechtigten Interessen des Emittenten zu beeinträchtigen. Dass das berechtigte Emittenteninteresse das Informationsinteresse des Markts überwiegt, ist nicht erforderlich.156 Nach dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 4 MAR genügt das Vorliegen berechtigter Interessen für sich genommen für einen Aufschub, ohne dass es einer Abwägung bedürfte.157 Denn der unmittelbar anwendbare und vollharmonisierende Verordnungstext kennt ebenso wenig wie die Durchführungs-VO (EU) 2016/1055 der Europäischen Kommission ein Abwägungserfordernis. Art. 17 Abs. 4 MAR ist vielmehr die Wertung zu entnehmen, dass ein berechtigtes Emittenteninteresse das Informationsinteresse des Markts generell überwiegt, solange nur keine Irreführung des Markts zu befürchten ist und Insiderhandel wirksam vorgebeugt wird.158 Hieran vermag das nach wie vor in § 6 Satz 1 WpAV (n.F.) vor-
153 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 92; Buck-Heeb in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 278. 154 Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 92; Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2003; zu § 15 WpHG a.F. Mülbert in FS Stilz, 2014, S. 411, 412 ff. m.w.N. 155 BaFin, Emittentenleitfaden Modul C, I.3.3.1.1., S. 36: „sollte“; strenger noch BaFin, Art. 17 MAR – Veröffentlichung von Insiderinformation (FAQs), Stand: 20.6.2017, III.1., S. 4 f. (nicht mehr auf der Website der BaFin abrufbar). Näher zum Ganzen Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 92. 156 So auch Hopt/Kumpan in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 86 Rz. 153; Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 17 Rz. 167 ff.; Buck-Heeb in BeckOK, Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 304; Kumpan/ Schmidt in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 209; Poelzig in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 4. Aufl. 2020, Bd. 2 Bank- und Börsenrecht, Art. 17 MAR Rz. 24; Klöhn, AG 2016, 423, 430. 157 Poelzig, NZG 2016, 761, 764; Frowein/Berger in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, 3. Aufl. 2020, § 10 Rz. 62; Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2003. Auch die ESMA, der es nach Art. 17 Abs. 11 MAR obliegt, Leitlinien für die Erstellung einer nicht abschließenden indikativen Liste berechtigter Interessen des Emittenten zu entwerfen, spricht nicht von dem Erfordernis für den Emittenten, eine Interessenabwägung durchzuführen. A.A. Assmann in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO Nr. 596/2014 Rz. 105. 158 Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2003.
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gesehene Abwägungserfordernis nichts zu ändern; dieses ist vielmehr seinerseits unanwendbar.159 66
Unter dem Emittenteninteresse ist – unabhängig von den Beispielen in den Erwägungsgründen und der indikativen Liste der ESMA – verallgemeinernd das Aktionärsinteresse im Sinne des Shareholder-value-Konzepts160 und damit das Interesse der Aktionäre an einer Maximierung des Fundamentalwerts der Aktie des Emittenten zu verstehen.161 Ein Aufschub kommt damit in Betracht, wenn im Zeitpunkt des konkreten Aufschubs die erwarteten wirtschaftlichen Risiken sofortiger Publizität die erwarteten wirtschaftlichen Chancen sofortiger Publizität für die Aktionäre übersteigen.
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Ob sich die konkrete Informationszurückhaltung vor dem Hintergrund des Unionsrechts und – soweit ergänzend heranzuziehen162 – des mitgliedstaatlichen Rechts als berechtigt erweist, kann nur mit Blick auf die konkrete Information und die Zwecksetzung ihrer Zurückhaltung beantwortet werden. Insbesondere darf sich die Informationszurückhaltung nicht als rechtsmissbräuchlich erweisen. Insoweit geht es aber nicht um die allgemeine Einhaltung aller nur denkbaren Rechtsnormen während eines Aufschubs, sondern vielmehr nur um die Sicherstellung, dass gerade der Aufschub einer Ad-hoc-Mitteilung vor dem Hintergrund der Zwecksetzungen des Marktmissbrauchsrechts nicht rechtsmissbräuchlich erfolgt.163 Generell gilt, dass ein berechtigtes Emittenteninteresse nicht allein in der schlichten Nichtinformation oder verzögerten Information des Marktes bestehen kann, sondern – wie sich auch aus Erwägungsgrund 50 MAR ergibt – immer ein darüber hinausgehendes (weiteres) Interesse gegeben sein muss.
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In Anlehnung auch an die Beispiele in Erwägungsgrund 50 der MAR lassen sich insbesondere drei Fallgruppen identifizieren, in denen eine berechtigtes Emittenteninteresse regelmäßig vorliegen wird: (1) Sicherung selbstgeschaffener Informationsvortei-
159 Zutreffend Klöhn, AG 2016, 423, 431. 160 Ausführlich Mülbert, ZGR 1997, 129. 161 Klöhn/Schmolke, ZGR 2016, 866, 874 ff.; Klöhn, ZIP 2015, 1145, 1153 f.; Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2004; Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch Marktmissbrauchsrecht, 2. Aufl. 2023, § 10 Rz. 103; Schwarzfischer, ZBB 2022, 12, 19. Für die Maßgeblichkeit des Aktionärsinteresses im Sinne des Shareholder-value-Konzepts lassen sich zudem ökonomische und rechtsvergleichende Argumente vorbringen. Dazu Klöhn/ Schmolke, ZGR 2016, 866, 874 ff. 162 Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Heranziehung nationalen Rechts im Rahmen der MAR Sajnovits, The Market Abuse Regulation and the Residual Role of National Law, EBI Working Paper 137/2023, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers. cfm?abstract_id= 4392675. 163 So tendenziell auch noch Klöhn, ZHR 178 (2014), 55, 85, 88 ff.; Zimmer/Kruse in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 15 Rz. 58 im Rahmen der Interessenabwägung; weitergehend zu Art. 17 Abs. 4 MAR Klöhn in Klöhn, MAR, 2. Aufl. 2023, Art. 17 Rz. 175 f., der das Berechtigungskriterium als Rechtsmissbrauchsverbot zum Schutz Dritter (nicht notwendigerweise Marktteilnehmer) verstehen will.
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len (corporate opportunities),164 (2) Zurückhaltung negativer schadensgeeigneter Informationen zur Schadensreduzierung165 und (3) Zurückhaltung potenziell irreführender bzw. „unfertiger“ Informationen.166 Ob dem Emittenten bei der Konkretisierung des berechtigten Emittenteninteresses ein Beurteilungsspielraum zukommt, ist umstritten. Hinsichtlich der Frage, ob der Aufschub im berechtigten Emittenteninteresse liegt, wird ein solcher aber richtigerweise anzuerkennen sein.167 Kein Beurteilungsspielraum besteht demgegenüber hinsichtlich des Vorliegens einer Ad-hoc-Publizitätspflicht168 und nicht hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 4 MAR für eine rechtmäßige Aufschubentscheidung.169
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Die obige Fallgruppenbildung170 zu Insiderinformationen im Zusammenhang mit einer (fehlerhaften) Finanzberichterstattung fortführend, ist auch im Rahmen des berechtigten Interesses für einen Aufschub zu unterscheiden:
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a) Gründe, die zur Fehlerhaftigkeit geführt haben Soweit die Gründe, die zur Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung geführt haben, eine Insiderinformation darstellen,171 kommt ein berechtigtes Aufschubinteresse 164 Schön in FS Karsten Schmidt II, 2019, S. 391; Klöhn/Schmolke, ZGR 2016, 866, 875; Kumpan/Grütze/Schmidt/Grübler in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 232 ff.; in dieselbe Richtung Hössl-Neumann/Baumgartner, ECFR 2019, 484, 508 ff.; vgl. auch schon Begr RegE BT-Drucks. 12/6679, S. 48: „selbst erarbeitete Wettbewerbsvorteile“. 165 Dazu sogleich IV.1.a). 166 Vgl. Erwägungsgrund 50 lit. b) MAR. 167 Klöhn/Schmolke, ZGR 2016, 866, 882 ff.; Hössl-Neumann/Baumgartner, ECFR 2019, 484, 527 ff.; Koch in FS Grunewald, 2021, S. 547, 558 f., 565 f.; Schwarzfischer, ZBB 2022, 12, 23 f.; in der Tendenz auch Seibt in Bankrechtstag 2017, 2018, S. 81, 102 ff.; Seibt, BB 2019, 2563, 2569; Hansen, ERA Forum 18 (2017), 21, 33; Payne, Disclosure of Inside Information, ECGI Law Working Paper No. 422/2018, 2018, S. 10 f.; a.A. wohl Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 106, der davon spricht, dass die Beurteilung aus der Sicht eines verständigen Anlegers erfolgen müsse; Veil/Brüggemann in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch Marktmissbrauchsrecht, 2. Aufl. 2023, § 10 Rz. 108; Buck-Heeb in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 288 f.; zweifelnd Kumpan/Grütze/Schmidt/Grübler in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 193. 168 Hössl-Neumann/Baumgartner, ECFR 2019, 484, 499 unter überzeugendem Verweis auf die Rechtsprechung des EuGHs in den Rechtssachen Geltl und Lafonta, bei denen der Gerichtshof sehr strenge Anforderungen hinsichtlich des Vorliegens einer Insiderinformation aufgestellt hat und dies damit begründet hat, dass hier keine Umgehung der Vorschriften riskiert werden könne, indem man den Emittenten Argumentationsspielraum überlässt. 169 Hössl-Neumann/Baumgartner, ECFR 2019, 484, 505 (zu Art. 17 Abs. 4 lit. c MAR) und 505 ff. (zu Art. 17 Abs. 4 lit. b MAR); Klöhn/Schmolke, ZGR 2016, 866, 892. 170 III.4. 171 Oben III.4.a).
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insbesondere in Betracht, wenn sich der Emittent im Aufschubzeitraum aktiv um eine Schadensabwendung oder -minderung bemüht; und zwar ganz unabhängig davon, ob es sich bei den die Insiderinformation konstituierenden Umständen um einen Complianceverstoß oder gar eine Straftat (Bilanzbetrug) handelt.172 Insofern verwundert es auch nicht, dass die ganz herrschende Meinung in Fällen von Behördenverhandlungen – etwa im Nachgang zu Kartellverstößen – bereits seit langem ein berechtigtes Emittenteninteresse anerkennt.173 72
Bei unentdeckten Complianceverstößen – auch im Zusammenhang mit einer daraus resultierenden fehlerhaften Finanzberichterstattung – kann sogar ein ewiger Aufschub im berechtigten Interesse des Emittenten liegen.174 Voraussetzung ist allerdings, dass aus Sicht des Emittenten eine rationale Aussicht darauf besteht, die Bekanntgabe gegenüber der Öffentlichkeit so lange aufzuschieben, bis etwaige Schadensersatzansprüche oder Bußgelder gegenüber dem Emittenten verjährt sind bzw. bis die Kurserheblichkeit der Information aus sonstigen Gründen entfällt.175 Nur ein berechtigtes Interesse des Emittenten kann aber von der Ad-hoc-Publizitätspflicht dispensieren: Deshalb darf es beispielsweise nicht nur darum gehen, Fehlverhalten des amtierenden Vorstands zu vertuschen.176
172 Buck-Heeb in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, Art. 17 VO (EU) 596/ 2014 Rz. 342; Seibt, BB 2019, 2563, 2569; Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2005 f.; Klöhn/Schmolke, ZGR 2016, 866, 877; Seibt in Bankrechtstag 2017, 2018, S. 81, 101; vgl. auch OLG Braunschweig, BKR 2022, 660 Rz. 50. Nicht überzeugen kann daher die in der Literatur vertretene Auffassung, an der Zurückhaltung von Informationen über Complianceverstöße, insbesondere über Straftaten, könne generell kein berechtigtes Emittenteninteresse bestehen (so Hössl-Neumann/Baumgartner, ECFR 2019, 484, 518 ff.). Diese restriktive Sichtweise fußt nämlich auf einem verkürzten konzeptionellen Verständnis der Aufschubmöglichkeit, da die Autoren nur dann von einem berechtigten Emittenteninteresse am Aufschub ausgehen, wenn die Rechtsordnung dem Emittenten an der zurückgehaltenen Information Eigentums- bzw. Nutzungsrechte (property rights) zuweist. Dieses Konzept wird aber durch die MAR nicht getragen, wie sich auch aus der Liste der berechtigen Interessen des Emittenten der ESMA ergibt, die diese auf Grundlage des Art. 17 Abs. 11 MAR erstellt hat (ESMA, MAR-Leitlinien – Aufschub der Offenlegung, S. 4 f. Rz. 8., dort insbesondere Verhandlungen im Falle von Reorganisationen und Fälle der Gefährdung der finanziellen Überlebensfähigkeit des Emittenten). 173 Assmann in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO Nr. 596/2014 Rz. 114; Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2041, 2043; Seibt/Cziupka, AG 2015, 93, 101, 103 f. und schon Dreher, WuW 2010, 731, 739; Auch der CESR Advice zur MAD I stellte ganz allgemein auf Verhandlungen ab, ohne diese auf Vertragsverhandlungen zu begrenzen. Siehe CESR, CESR’s Advice on Level 2 Implementing Measures for the proposed Market Abuse Directive, CESR/02-089d Rz. 70 Beispiel 1): „Matters in course of negotiation: it could be justified to delay disclosure when disclosure would be likely to affect the conclusion of a deal or the normal course of negotiations“. 174 Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2005 f.; Klöhn/Schmolke, ZGR 2016, 866, 877. 175 Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2005 f.; Schockenhoff, NZG 2015, 409, 413 f. 176 Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2001, 2005 f.
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b) Fehlerhaftigkeit als solche Was einen Aufschub im Falle einer Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht aufgrund der Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung als solcher anbelangt, wird ein berechtigtes Emittenteninteresse – von Fällen eines (zunächst noch bloßen) Fehlerverdachts177 abgesehen – jedenfalls dann nicht in Betracht kommen, wenn der Fehler eine bilanzrechtliche Änderungs- bzw. Korrekturpflicht auslöst – was bei einem veröffentlichte Finanzbericht jedenfalls für den Jahresabschluss regelmäßig nach dessen Feststellung nur bei Vorliegen von Nichtigkeitsgründen in Betracht kommt178. Denn insoweit besteht bilanzrechtlich eine Pflicht ggf. sogar zur Neuaufstellung, jedenfalls aber zur Korrektur, die bei ihrer Kurserheblichkeit unverzüglich ad-hoc bekanntgemacht werden muss, unabhängig davon, ob die bilanzrechtliche Korrektur auch kurzfristig erfolgen könnte.
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Ein berechtigtes Interesse an einem Aufschub scheidet zudem regelmäßig aus, wenn zwar keine Pflicht zur Änderung bzw. Korrektur des fehlerhaften Finanzberichts besteht, der Vorstand aber im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens und in den gesetzlichen Grenzen sich für eine Änderung/Korrektur entschieden hat. Auch dann muss diese bei der Kurserheblichkeit durch eine Ad-hoc-Mitteilung vorweggenommen werden.
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Schließlich wird man ein berechtigtes Interesse an einem Aufschub der Veröffentlichung über die (kurserhebliche) Fehlerhaftigkeit auch dann verneinen müssen, wenn die Korrektur des Fehlers zu einer Abweichung des jeweiligen Bilanzpostens in einem Folgeabschluss führt. Denn auch insoweit würde es nur um eine Hinauszögerung der Veröffentlichung gehen, die ohne zusätzliche Elemente (z.B. die Eruierung von Möglichkeiten legitimer Bilanzkosmetik) gerade kein berechtigtes Emittenteninteresse darstellt.
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Damit verbleiben bei kursrelevanten Fehlern der Finanzberichterstattung als solchen im Grunde nur eher theoretische Fälle für den Aufschub, in denen die Fehlerhaftigkeit zwar kurserheblich ist, aber gleichwohl weder eine Korrektur/Änderung des fehlerhaften Berichts, noch eine Anpassung im Folgebericht zur Folge hat.
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c) Verfahrensaspekte, insbesondere fehlerhafter/versagter Bestätigungsvermerk Bei Verfahrensaspekten steht die Versagung oder jedenfalls die nur eingeschränkte Erteilung des Bestätigungsvermerks des Abschlussprüfers ganz im Vordergrund, weil diesem Vorgang ganz regelmäßig ein (erhebliches) Kursbeeinflussungspotential innewohnen wird.179 Wurde der Bestätigungsvermerk bereits versagt bzw. nur mit Einschränkungen erteilt, kann für einen Aufschub kein berechtigtes Interesse bestehen, da insoweit bereits kurserhebliche Fakten geschaffen wurden, die sich durch weitere
177 Dazu sogleich IV.1. 178 Oben III.3.b). 179 Oben III.4.c).
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„verdeckte“ Bemühungen des Emittenten nicht mehr beheben lassen.180 Werden noch Gespräche mit dem Abschlussprüfer vor der Versagung geführt, kommt ein Aufschub dagegen in Betracht.181 d) Nachträgliches Aufkommen eines Fehlerverdachts 78
Beim nachträglichen Aufkommen eines Fehlerverdachts, mithin nach öffentlichem Bekanntwerden des jeweiligen Finanzberichts, kommt ein Aufschub zwar nicht unter dem Aspekt einer noch unklaren Sach- und Rechtslage und einer damit zusammenhängenden Vermeidung einer Irreführung des Kapitalmarkts182, wohl aber unter dem Aspekt der Zurückhaltung einer negativen schadensgeneigten Information183 in Betracht. Denn jedenfalls solange der Fehler noch nicht sicher feststeht und damit eine Änderung/Korrektur der Finanzberichterstattung oder eine Reflexion der Fehlerhaftigkeit im Folgebericht noch gar nicht zwingend geboten ist, hat der Emittent ein Interesse an der Zurückhaltung des Verdachts. Es geht insoweit gerade noch nicht um eine bloße Verzögerung der Publizität. e) Anordnungen/Feststellungen der BaFin im Enforcementverfahren
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Was die Anordnung oder Feststellungen der BaFin im Enforcementverfahren anbelangt, kommt ein Aufschub bei sicher bevorstehendem Erlass der jeweiligen Verwaltungsakte nicht in Betracht. Ein berechtigtes Interesse des Emittenten an einer nur verzögerten Information des Marktes besteht nicht. Wird der Emittent deshalb durch die Behörde vorab über den bevorstehenden Erlass informiert und sieht er keine Möglichkeit, ebendiesen zu verhindern, verbleibt es bei der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung.
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Anderes gilt, wenn der Emittent im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Anordnung/Feststellung und deren bevorstehende Veröffentlichung vorgeht und Möglichkeiten bestehen, deren Inhalt oder Bekanntwerden zu verhindern.184 f) Umstände im Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks bzw. der Anordnung/Feststellung der Ergebnisse der Prüfung durch die BaFin
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Soweit im Vorfeld der Versagung des Bestätigungsvermerks oder der Einleitung einer Prüfung und der Feststellung von Fehlern noch Verhandlungen bzw. Kommunikation mit dem Abschlussprüfer bzw. der BaFin laufen, kommt ein berechtigtes Interesse durchaus in Betracht (vgl. auch Erwägungsgrund 50 lit. a MAR, der nicht lediglich auf Vertrags-, sondern etwa auch auf Behörden“verhandlungen“ zugeschnitten ist).185 Da180 Siehe oben II.2. mit Fn. 14. 181 Sogleich IV.1.f). 182 Insoweit ist im Lichte der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Geltl und Lafonta Zurückhaltung geboten. Siehe Hössl-Neumann/Baumgartner, ECFR 2019, 484, 511 ff. 183 Vgl. oben IV.1.a). 184 Dazu sogleich IV.1.f). 185 Zur Gefährdung laufender (Behörden-)Verhandlungen als berechtigtes Emittenteninteresse Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl.
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für muss Emittent berechtigt davon ausgehen, dass das „Endereignis“ – Versagung des Bestätigungsvermerks oder Anordnung/Feststellung der BaFin – noch abgewendet werden kann oder jedenfalls dessen Folgen abgemildert werden können und eine vorherige Veröffentlichung dieses Ziel beeinträchtigten könnte.186 In welcher Form der Emittent versucht, dieses Endereignis abzuwenden, sei es durch Gespräche mit der Behörde oder im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes187, ist dabei im Ausgangspunkt ohne Belang. Denn in beiden Fällen wird jedenfalls eine vorzeitige Publizität im Wege einer Ad-hoc-Mitteilung die Handlungsmöglichkeiten des Emittenten beeinträchtigen oder jedenfalls stören, und sei es auch nur aufgrund eines steigenden öffentlichen Drucks und entsprechender Presseberichterstattung.188 Je schwerwiegender die rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen der bevorstehenden Entscheidung des Abschlussprüfers/der BaFin für den Emittenten sind, desto geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Abwendung des Endereignisses bzw. an eine Schadensreduzierung.189 2. Keine Irreführung der Öffentlichkeit? Der Aufschub der Offenlegung darf nicht geeignet sein, die Öffentlichkeit irrezuführen (Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. b) MAR). Die Erwägungsgründe der MAR sprechen davon, dass eine Irreführung der Öffentlichkeit durch den Aufschub unwahrscheinlich sein muss (Erwägungsgrund 49 Satz 4 MAR). Die Voraussetzung zeigt deutlich, dass die MAR dem berechtigten Emittenteninteresse zwar einen Vorrang vor dem Informationsinteresse des Markts zuspricht,190 eine Beeinträchtigung der Marktintegrität durch eine Irreführung von Anlegern aber nicht akzeptiert. Eine Irreführung folgt dabei natürlich noch nicht alleine daraus, dass dem Markt die vom Aufschub betroffene Information nicht zur Verfügung steht.191 Andernfalls käme ein Aufschub überhaupt nie in Betracht.192
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Mit Blick auf die hier diskutierten Fallgruppen steht die Frage der Nichtirreführung insbesondere in Konstellationen im Raum, in denen eine erkannte Fehlerhaftigkeit der Finanzberichterstattung ad-hoc mittgeteilt wird – auch weil und soweit ein Auf-
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2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 109; Kumpan/Schmidt in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 240. Vgl. auch Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 17 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 119; OLG Braunschweig, BKR 2022, 660 Rz. 50 f. (zu § 15 WpHG a.F.). Zum Rechtsschutz gegen VA und anschließende Veröffentlichung (Realakt) Markworth in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, § 109 WpHG Rz. 33 f. Vgl. ESMA, Final Report – Guidelines on the Market Abuse Regulation – market soundings and delay of disclosure of inside information, ESMA/2016/1130, 3.2.1. Rz. 55; Klöhn/Schmolke, ZGR 2016, 866, 877 f.; Klöhn, ZIP 2015, 1145, 1154. Vgl. Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2041, 2043; Klöhn in Klöhn, MAR, 1. Aufl. 2018, Art. 17 Rz. 200 und BaFin, Emittentenleitfaden, Modul C, I.3.3.1.2 S. 37 mit Fn. 61. IV.1.a). Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2022, § 86 Rz. 156. Hopt/Kumpan in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 86 Rz. 156.
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schub nicht in Betracht kommt –, über die der Fehlerhaftigkeit zugrundeliegenden Ursachen (z.B. Complianceverstoß), obwohl ihrerseits kurserheblich, dagegen nicht berichtet werden soll. Zwar kann die Zurückhaltung der Information über einen Complianceverstoß auch im Zusammenhang mit Fehlern der Finanzberichterstattung durchaus im berechtigten Emittenteninteresse liegen.193 Wird allerdings eine Ad-hocMitteilung über eine erhebliche Änderung/Korrektur des Finanzberichts aufgrund seiner Fehlerhaftigkeit veröffentlicht, gleichzeitig aber keine Ausführungen zu den Gründen dieser Fehlerhaftigkeit gemacht, kann dies den Kapitalmarkt irreführen.194 3. Gewährleistung der Vertraulichkeit 84
Bei der Aufschubentscheidung und während des Aufschubs muss schließlich die Geheimhaltung der Insiderinformation sichergestellt sein (Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. c) MAR). Kann der Emittent die Geheimhaltung nicht mehr sicherstellen, ist er zur unverzüglichen Veröffentlichung der ihn unmittelbar betreffenden Insiderinformation verpflichtet (Art. 17 Abs. 7 MAR i.V.m. Art. 17 Abs. 1 MAR). Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. c) MAR fordert insoweit die Einrichtung von Informationshindernissen, um den Zugang zu Insiderinformationen durch andere Personen als diejenigen zu verhindern, die sie für die normale Ausübung ihrer Arbeit, ihres Berufs oder ihrer Aufgaben beim Emittenten benötigen.195 Diese Informationshindernisse müssen effektiv sein und umso strikter eingerichtet werden, je mehr Personen in den Prozess des Aufschubs eingebunden werden.196
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Im Zusammenhang mit einer fehlerhaften Finanzberichterstattung und den hier diskutierten Fallgruppen steht die Gewährleistung der Vertraulichkeit insbesondere in Konstellation der Vorfeldkommunikation mit Abschlussprüfer oder BaFin197 in Rede. Denn insoweit ist eine etwaige Insiderinformation nicht allein emittentenintern vorhanden und kann der Emittent daher nicht mit seinen eigenen Informationssicherungssystemen deren Geheimhaltung sicherstellen.
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Allerdings genügt insoweit wegen des Gleichlaufs der Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. c) und des Art. 17 Abs. 8 MAR bei der berechtigten Offenlegung von Insiderinformationen198 auch eine Verschwiegenheitspflicht des emitten193 Oben IV.1.a). 194 Vgl. Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2041, 2044 zur möglichen Irreführung bei Complianceverstößen, wenn über diese nicht ad hoc informiert wird, gleichzeitig aber Rückstellungen gebildet werden. 195 Vgl. auch schon Art. 3 Abs. 2 lit. b) Durchführungsrichtlinie 2002/124/EG. Ob man auch insofern anknüpfend an EuGH v. 22.11.2005 – C-384/02 – Grøngaard und Bang, WM 2006, 612 verlangen muss, dass die Weitergabe unerlässlich ist (so zu § 15 Abs. 3 WpHG a.F. Assmann in Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2012, § 15 Rz. 162), ist einstweilen umstritten. Zur Frage im Rahmen des Art. 10 MAR Zetzsche, NZG 2015, 817. 196 ESMA, Final report – Draft technical standards on the Market Abuse Regulation, ESMA/2015/1455, 7.3. Rz. 248. 197 Zu deren Insiderinformationsqualität III.6.; zum berechtigten Interesse an einem Aufschub IV.1.f). 198 Dazu näher Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2041, 2044 ff.
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tenexternen Insiders, hier mithin des Abschlussprüfers und der zuständigen/involvierten Behördenmitarbeiter. Insoweit genügen die bereits gesetzlich bestehenden Verschwiegenheitspflichten von Berufsgeheimnisträgern (insoweit § 43 Abs. 1 Satz 1 WPO) und Behördenmitarbeitern (hier: § 21 WpHG).199
V. Schlussbemerkungen Die Ad-hoc-Publizität wird weithin (auch) als eine inhaltliche Ergänzung der Regelpublizität gesehen. Das trifft in dem Sinn zu, dass die Ad-hoc-Publizität die unterjährige Veröffentlichung von (noch) nichtöffentlichen kursrelevanten Informationen gebieten kann, die nachfolgend auch im Halbjahres- oder Jahresfinanzbericht zu verarbeiten sind. Was dagegen die Folgen einer fehlerhaften Finanzberichterstattung angeht, stehen das deutsche handelsbilanzrechtliche Fehlerregime und das Ad-hoc-Publizitätsregime der EU ganz unverbunden nebeneinander.200 Beide folgen unterschiedlichen Prinzipien und Wertungsmaßstäben, ohne Inbezugnahme der Eigengesetzlichkeiten des jeweiligen anderen Regimes. Eine (gewisse) Verzahnung der beiden Regimes unterläge nur insoweit dem alleinigen Regelungszugriff des deutschen Gesetzgebers, als Modifikationen des autonomen handelsbilanzrechtlichen Fehlerregimes sowie gegebenenfalls ferner der Art. 17 MAR jeweils in sich aufnehmenden §§ 97, 98 WpHG in Rede stünde. Änderungen beim unionsrechtlichen Art. 17 MAR sind hingegen Sache des Unionsgesetzgebers. Insofern könnten die von der Europäischen Kommission in dem als Listing Act geläufigen Reformpaket vorgeschlagenen Modifikationen – richtiger wohl: Entschärfungen – des Insiderinformationsbegriffs bei gestreckten Vorgängen im Rahmen des Art. 17 MAR201 den Emittenten auch im Kontext fehlerhafter Finanzberichterstattung Erleichterungen bringen. Insbesondere im Vorfeld der Versagung des Vermerks des Abschlussprüfers und der Feststellung/ Anordnung der BaFin gemäß § 109 WpHG, aber auch der Veröffentlichung einer Korrektur eines fehlerhaften Finanzberichts – bei letzteren jedenfalls dann, wenn man den Fehler, dessen Ermittlung und die nach handelsbilanzrechtlichen Maßstäben gegebenenfalls vorzunehmenden Korrekturen der Abschlüsse202 als Bestandteile eines einheitlichen bzw. gestreckten Vorgangs begreift, könnte sie einen weitgehenden Wegfall bislang ad-hoc-publizitätspflichtiger Umstände bedeuten. Bis zum Inkrafttreten dieser weitreichenden oder auch eines etwas weniger invasiven Eingriffs beim Insiderinformationsbegriff im Kontext des Art. 17 MAR bleibt den Emittenten nur der Rückgriff auf das Instrument des Aufschubs nach Art. 17 Abs. 4 MAR – wobei die Voraussetzungen für eine Aufschubentscheidung im Kontext fehlerhafter Finanzberichterstattung eher selten gegeben sein werden.203
199 Siehe nur Mülbert/Sajnovits, WM 2017, 2041, 2045 ff.; Veil/Brüggemeier in Meyer/Veil/ Rönnau, Handbuch Marktmissbrauchsrecht, 2. Aufl. 2023, § 10 Rz. 235 ff.; Buck-Heeb in BeckOK Wertpapierhandelsrecht, Stand: 15.2.2023, Art. 17 VO (EU) 596/2014 Rz. 263.1. 200 Oben III.2./3. v. III.4. 201 Oben III.6. a.E. 202 Oben III.3. 203 Oben IV.
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Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen Lehren aus dem Wirecard-Skandal Prof. Dr. Tim Florstedt EBS Law School, Wiesbaden I. Der aktuelle Anlass . . . . . . . . . . . . . II. Die Rolle der Finanzanalysten und Finanzjournalisten im Fall der Wirecard AG . . . . . . . . . . . . . . . 1. Investigativer Journalismus: House of Wirecard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rolle der Shortseller . . . . . . . . . . 3. Die optimistische Einschätzung der Analystenmehrheit . . . . . . . . . . . III. Der Pflichtenkanon bei der Erstellung von Finanzanalysen de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anforderungen an die Finanzanalyse (Art. 20 MAR) . . . . . . . . . . . a) Verhaltenspflichten in Bezug auf den Inhalt der Finanzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Offenlegungspflichten, insbesondere Anforderungen an die Unabhängigkeit . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Organisationsvorgaben für Wertpapierdienstleistungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Marktmissbrauchsrecht . . . . . . IV. Ausgewählte Folgerungen zum Reformbedarf und zu Reformaussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die fehlende Tatbestandsklarheit des EU-Rechts a) Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . .
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b) Normkonkretisierung mithilfe der nationalen Vorläuferregeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit: gebotene Überarbeitung von MAR und MiFID II . . . . . . 2. Know your product: für mehr materiell-rechtliche Verhaltenspflichten bei qualifizierten Gerüchten . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systembezug zum Recht der sonstigen „Informationsintermediäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zum Inhalt: Nachforschungsoder bloße Warnpflichten? . . . . d) Wann ist ein Gerücht genügend qualifiziert? . . . . . . . . . . . . e) Sonderproblem: sind anonyme Hinweise stets unbeachtlich? . . 3. Offenlegung von Interessenkonflikten – aber welche? . . . . . . . . . . . . a) Empfehlungen in Kundenverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlungen mit Werbecharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Orientierungsfunktion staatlicher Beurteilungen . . . . . 4. Darstellung von Zusammenfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu optimistische und einseitige Anlageempfehlungen geben in Zeiten von Finanzkrisen und -skandalen immer wieder Anlass zu rechtspolitischer Kritik an den kapitalmarktrechtlichen Vorgaben. Auch der Fall der Wirecard AG legt es nahe, über die Rolle und das Recht der Finanzanalysen noch einmal gründlich nachzudenken: die trotz aller Florstedt | 169
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Rz. 1 | Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen
Warnzeichen fortgesetzt positiven Empfehlungen für Kapitalmarktteilnehmer waren ein wichtiger Teil eines Finanzsystems, das beim Zusammenbruch der Wirecard AG insgesamt versagt hat. Der Beitrag geht darauf ein und entwickelt einige Vorschläge, wie das Recht auf die Erfahrungen mit einem der bislang größten Unternehmenszusammenbrüche in Deutschland reagieren sollte.
I. Der aktuelle Anlass 2
Die rechtspolitische Aufarbeitung des Wirecard-Skandals hat mit dem FISG1 eine erste Stufe, aber keinen Abschluss erreicht. Neuerdings tritt ein breites Interesse an den bisher vernachlässigten Themenbereichen auf, dazu gehört die Ahnungslosigkeit oder Unbekümmertheit einer auffälligen Mehrheit von Finanzanalysten in Bezug auf den jahrelang erhobenen Vorwurf der betrügerischen Bilanzierung.2 Ließ man sich von einer bündigen Berieselung durch den Wirecard-Vorstand ablenken oder drücken sich hier tiefere, vom Rechtssystem nicht bewältigte Problemgründe aus? Bereits nach den großen Bilanzskandalen bei Enron, WorldCom und anderen erhielten die bis kurz vor dem Abschwung mehrheitlichen Kaufempfehlungen um die Jahrtausendwende besondere Aufmerksamkeit, die als systematisch zu optimistisch und oft unsachlich-motiviert kritisiert wurden.3 Der seither im deutschen und europäischen Recht adaptierte Lösungsansatz auf ein Mindestmaß gedrungen: Interessenkonflikte in Banken und Analysehäusern führen zu letztlich nicht objektiven Urteilen; diese Konflikte sollen durch formale Organisations- und Offenlegungsregime unterbunden werden.
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Thema des Beitrags ist der heutige Rechtsrahmen für solche Finanzanalysen, der trotz zahlreicher äußerlich gesehen erheblicher Änderungen seit § 34b WpHG 2004 konzeptionell und inhaltlich weithin unangetastet blieb. Für dessen Beurteilung wird sich eine Befassung mit den Geschehnissen bei der Wirecard AG aus einer Reihe von Gründen anbieten. Dazu zu rechnen sind die schlicht falschen und unreflektierten Kaufempfehlungen trotz zahlloser Hinweise im Markt über einen mehrjährigen Zeitraum. Eine Besonderheit des Wirecard-Falls ist zudem das symbiotische Vorgehen von Presse und kritischen Investoren, die Rolle der Zeitungsberichterstattung sollte deswegen in die Betrachtung einbezogen werden. Das erneute Nachdenken über die kapitalmarktrechtlichen Pflichten von Analysten lohnt schließlich vor dem Hintergrund der anstehenden Reform der MAR,4 welche es durchaus zuließe, auch den Rechtsrahmen für Finanzanalysen noch einmal nachzubessern.
1 Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG, BGBl. I 2021, 1534. 2 Vgl. etwa Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 485 f. = Möllers, The Wirecard accounting scandal in Germany, and how the financial industry failed to spot it, The International Lawyer, vol. 54, no. 3, 2021, 325; s. auch die Anhörung BT-Drucks. 19/ 30900, 599 ff. 3 Seibt, ZGR 2006, 510; Choi/Fisch, 113 Yale Law Journal, 269, 289 f. 4 Durch den EU-Listing Act, Überblick bei Schmidt, NZG 2021, 1617, 1618.
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Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen | Rz. 5
II. Die Rolle der Finanzanalysten und Finanzjournalisten im Fall der Wirecard AG Der Wert von Finanzanalysen für die Prävention und Aufklärung von Bilanzbetrug steht heute in theoretischer und empirischer Hinsicht außer Zweifel. Theoretisch gesehen übernehmen Finanzanalysten ähnlich wie Abschlussprüfer oder Ratingagenturen die Aufgabe, das Informationsgefälle zwischen Emittenten und Anlegern abzubauen: in dem Urteil „kaufen“, „halten“ oder „verkaufen“ ist idealerweise eine Beurteilungshilfe zu Bilanzangaben und auch zu kursierenden Betrugsvorwürfen mitenthalten.5 Empirisch gesehen werden die meisten Bilanz- und ähnlichen Betrugsfälle nicht etwa durch die Aufsicht oder die Wirtschaftsprüfung aufgedeckt, vielmehr sind die Hinweise durch Whistleblower, spezialisierte Short-Seller und Analysten von annähernd gleichem Gewicht.6 Die Einbeziehung der Rolle dieser Marktakteure in die Aufarbeitung des Wirecard-Skandals liegt deswegen auf der Hand, steht hingegen weithin aus.
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1. Investigativer Journalismus: House of Wirecard Aufklärende Berichte von Rechtsbrüchen und Bilanzfälschungen gingen der Insolvenz der Wirecard AG im Jahr 2020 lange voraus. Bereits im Jahr 2008 wurde die Konzernrechnungslegung 2007 als unvollständig und irreführend, die Ertragslage der Bankensparte als intransparent beanstandet; zudem würden Erträge aus OnlineWettgeschäften verschleiert.7 Analoge Äußerungen hat es auch in den Folgejahren gegeben,8 der Zusammenbruch des bilanziellen „Kartenhauses“ wird heute auf eine Artikelserie in der Financial Times seit 2015 zurückgeführt. Auch andere Zeitschriften berichteten relativ früh kritisch,9 ein Großteil der Finanzpresse hat dagegen die positive Grundhaltung der Analysten und Behörden übernommen,10 andere wechselten erst vergleichsweise spät über zu einer skeptischen Berichterstattung.11 Die in der Financial Times veröffentlichten Vorwürfe waren wegen der (gezielt herbeigeführten) Komplexität der Sachverhalte (Verlagerungen ins Ausland; reger Gebrauch
5 Vgl. allg. zum Zweck einer Finanzanalyse nur Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarktes, 2017, S. 24. 6 Eine ausf. Untersuchung zu Fällen in den USA in den Jahren 1996 bis 2004 kam zu dem Ergebnis, dass nur 6 % solcher Taten durch die Aufsicht, 14 % durch die Wirtschaftsprüfer und 16 % durch sonstige staatliche Stellen entdeckt wurden; dem stehe eine gleichwertige Aufklärungsleistung von Presse und Finanzanalysen (14 % der Fälle) und immerhin von 6 % durch Leerverkäufer gegenüber, Dyck/Morse/Zingales, 65 The Journal of Finance (2010), 2213, 2225. 7 Vgl. die Ausf. von Bosler auf der Wirecard Hauptversammlung 2008, geschildert bei Löw/ Kunzweiler, Der Fall Wirecard, 2021, S. 17. 8 Vgl. Löw/Kunzweiler, Der Fall Wirecard, 2021, S. 17 ff. 9 Dohms, Die Bilanz, an der selbst Analysten verzweifeln, Manager Magazin v. 23.2.2017. 10 Dazu werden in Sachbüchern zum Thema auch die Süddeutsche Zeitung, das Handelsblatt, die Welt und die FAZ gerechnet, vgl. Holtermann, Geniale Betrüger, 2021, S. 105 ff. mit weiteren Angaben. 11 Holtermann, Geniale Betrüger, 2021, S. 105 ff., z.B. Handelsblatt und Süddeutsche Zeitung.
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Rz. 5 | Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen
von Scheinfirmen und Drittpartnern) für die damit befassten Finanzanalysten nicht stets leicht nachzuvollziehen oder zu verifizieren; aber es gab durchaus zahlreiche sehr eingängige, einfache Warnhinweise. Die Reihe beginnt im Jahr 2015 mit einem Hinweis auf eine Erklärungslücke in der Bilanz zu einem Betrag von 250 Mio. € und einem bemerkenswerten Kauf eines indischen Zahlungsdienstleisters für 340 Mio. €, der im Jahr zuvor nur mit 46 Mio. € bewertet worden war.12 Dass dies ein paradigmengleiches Lehrbuchbeispiel einer related party transaction ist (ein tunneling durch Manager), gilt noch nicht als belegt, wird aber oft behauptet.13 Die Hinterleute der Verkäufer waren auch in Abschluss- und Sonderprüfung nicht eindeutig zu ermitteln, ob der Kaufpreis trotz der Wertsteigerung angemessen war, ließ sich aus einer Fernsicht vielleicht nicht so eindeutig sagen. Sehr viel einfacher nachzuvollziehen war beispielsweise die Entlarvung der Geschäfte mit „Al-Alam“, die mit einem Umsatz von 265 Mio. € verbucht waren, der sich als mehr oder weniger erfunden herausstellte: hier konnte schon 2016 ermittelt werden, dass die große Mehrheit der 34 angeblichen Hauptkunden entweder nicht aktiv oder nicht auffindbar war; 15 angebliche Kunden hatten gegenüber der Financial Times behauptet, den Namen Wirecard noch nie gehört zu haben.14 6
Viel beachtet wurde auch die Besprechung eines „Zatarra“-Berichts von Shortsellern,15 der den Verdacht der Geldwäsche, Dokumentenfälschung und des Round Trippings äußerte (dazu noch sogleich, unter 2.). Zahlreiche Einzelpunkte wurden in der Folge von den Reportern oftmals mithilfe von Hinweisgebern aufgedeckt, es genügt hier, einen weiteren Auszug aus der Berichterstattung im Jahr 2019 anzudeuten: Es wurden Ergebnisse einer der Presse zugespielten Präsentation „Project Tiger“ veröffentlicht, die graphisch anschaulich machte, wie rund 37 Mio. € in sieben komplexen, kreisläufigen Geschäften zwischen Tochtergesellschaften und externen Unternehmen hin- und herbewegt wurden.16 Die Kreisgeschäfte sollten die Hongkonger Währungsbehörde über regen Umsatz im asiatischen Raum täuschen; bezweckt wurde damit offenbar, dass man der Wirecard AG erlaubte, Prepaid-Bankkarten in China auszugeben.17
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Die Vorwürfe führten im Oktober auf Druck der Investoren dazu, dass eine „Sonderuntersuchung“ (d.h. eine Prüfung ungeachtet der strengen Anforderungen von § 258 AktG) durch KPMG in Auftrag gegeben wurde,18 die am 27.4.2020 u.a. festhielt, dass 12 13 14 15
Löw/Kunzweiler, Der Fall Wirecard, 2021, S. 24 f. S. etwa Kessler, Der Aktionär v. 14.3.2019. Löw/Kunzweiler, Der Fall Wirecard, 2021, S. 20 ff. Abrufbar auf der Internetseite von Viceroy Research, s. dazu auch Löw/Kunzweiler, Der Fall Wirecard, 2021, S. 17 ff. 16 McCrum/Palma, Executive at Wirecard suspected of using forged contracts, Financial Times v. 30.1.2019. 17 McCrum/Palma, Wirecard: inside an accounting scandal, Financial Times v. 7.2.2019. Zur Aufdeckung des Fehlverhaltens wurde eine externe Anwaltskanzlei (Rajah & Tann Singapore LLP) beauftragt; Wirecard dementierte die Untersuchungsergebnisse, s. McCrum/ Palma, Wirecard’s law firm found evidence of forgery and false contracts, Financial Times v. 1.2.2019. 18 Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 481.
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zahlreiche Buchungen mangels Unterlagen und originaler Belege nicht bestätigt werden konnten.19 2. Die Rolle der Shortseller Die Wirecard AG gab vielfach Anlass zu hochspekulativen Anlagen. Sie zog auch die Aufmerksamkeit professioneller Leerverkäufer auf sich. Bereits im Jahr 2008 hat ein Vorstandsmitglied der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. (SdK) angebliche Bilanzfehler öffentlich gemacht und per Leerverkäufen auf einen Kursverfall spekuliert.20 Hier braucht nur der im Februar 2016 erschienene Zatarra-Report von Fraser Perring und Matthew Earl genannt werden. Inhaltlich wies der Bericht bereits richtig auf den Verstoß gegen Geldwäschebestimmungen und Luftbuchungen im Bereich des Treuhandvermögens hin, andere Vorwürfe, etwa Rechtsverstöße beim OnlineGlücksspiel, sind wohl noch nicht bestätigt; der Bericht gilt in der Literatur (auch deswegen) teilweise als inhaltlich unrichtig.21 Er blieb zudem ohne Angabe eines Datums und war anonym verfasst, die Autoren gaben an, die Verfolgung durch die Emittentin gefürchtet zu haben und berichteten von mehreren Hundert Morddrohungen; die tatsächliche Bedrängung und Überwachung von Journalisten und Analysten durch die Wirecard AG ist jedenfalls gut belegt.22
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Die Staatsanwaltschaft München ermittelte infolge der Berichte nicht etwa gegen die Emittentin, sondern gegen die Verfasser des Zatarra-Reports. Das Verfahren wurde im Jahr 2017 gegen Geldzahlung nach § 153a StPO eingestellt:23 Die BaFin sah aber im Februar 2019 wegen weiterer „Angriffe“ von Leerverkäufern das Vertrauen in die marktliche Preisbildung als gefährdet an, befürchtete eine „erhebliche Abwärtsspirale“24 und sprach erstmals überhaupt ein Leerverkaufsverbot aus.25 Der scheinbar konsequente Folgefehler war es, gegen den Journalisten der Financial Times Strafanzeige zu stellen.26
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19 KPMG, Sonderbericht über die unabhängige Sonderprüfung, Wirecard AG v. 27.4.2020, abrufbar auf der Internetseite der Wirecard AG. 20 Beteiligte der SDK wurden damals wegen Marktmanipulation verurteilt, da sie trotz der Leerverkäufe den Interessenkonflikt nicht hinreichend klar offengelegt hätten, dazu Möllers/Hailer in FS Schneider, 2011, S. 831 ff.; Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 480. 21 So Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 70 ohne N.; anders die Darstellung bei Löw/Kunzweiler, Der Fall Wirecard, 2021, S. 17 ff., dort wird auch auf eine Verurteilung wegen Umgehung verbotenen Glücksspieles eingegangen, für dessen Abwicklung Wirecard genutzt wurde. 22 Löw/Kunzweiler, Der Fall Wirecard, 2021, S. 20 ff. 23 BT-Drucks. 19/30900, 873, 1634. 24 Allgemeinverfügung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) v. 18.2.2019, Geschäftszeichen WA 25-Wp 5700-2019/0002, abrufbar auf der Internetseite der BaFin. 25 Art. 20 Abs. 2 EU-LeerverkaufsVO (VO (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.3.2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps (ABI L 86/1 v. 24.3.2012)). 26 Ott/Schreiber/Willmroth, SZ v. 13.7.2020.
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Rz. 10 | Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen
3. Die optimistische Einschätzung der Analystenmehrheit 10
Die große Mehrheit der Analysten stand den Vorwürfen bis zuletzt weithin unkritisch gegenüber, die ans Licht gehobenen Rechtsbrüche und Lügen in der Bilanz wurden ausgeblendet.27 Viel diskutiert wurde der Einzelfall der jahrelang konstanten Empfehlungen einer Analystin der Commerzbank AG, die von Dan McCrum als „Fan“-Girl der Wirecard AG diffamiert wurde, die ihrerseits dessen Berichterstattung als „fake news“ bezeichnete28 und die nach einer Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss v.a. wegen einer gewissen Nähe zu dem Unternehmen fristlos entlassen wurde.29 Von Interesse ist hier nur die verbreitete symptomatische Nicht-Beachtung der Betrugsgerüchte.30 Auffallend hohe Kursziele noch kurz vor der Insolvenz waren kein Einzelfall.31 Besonders eklatant sind das Festhalten an Kaufempfehlungen und die gesteigerten Kursprognosen durch mehrere, kleinere Bankhäuser noch nachdem der KPMG-Bericht im April 2020 erschien.32 Auch das Gesamtbild ist ernüchternd. In den gängigen Finanzportalen stehen sogar für den Zeitraum von 2019 bis 2020 trotz der sich immer mehr verdichtenden Hinweise gerade einmal 13 Verkaufs- ganzen 187 Kaufempfehlungen bei 54 neutralen Bewertungen gegenüber,33 und 20 der neutralen Empfehlungen sind korrigierender Art in (zaghafter) Reaktion auf den KPMG-Bericht.34
III. Der Pflichtenkanon bei der Erstellung von Finanzanalysen de lege lata 11
Für Finanzanalysen sind drei Teilbereiche des Kapitalmarktrechts wesentlich: die Sorgfalts- und Offenlegungsstandards in Art. 20 MAR i.V.m. der DelVO 2016/958, gem. § 85 WpHG bzw. für Wertpapierfirmen gem. Art. 16 Abs. 3 MiFID II i.V.m. 27 Ein Grund bleibt, dass Kaufempfehlungen von sell-side Analysten überwiegen, vgl. zu diesem Problem bereits Fisch, 55 UCLA Law Review (2007), 39, 41. 28 BT-Drucks. 19/30900, 708; McCrum, House of Wirecard, 2022, S. 18. 29 BT-Drucks. 19/30900, 702 ff. 30 Vgl. auch BT-Drucks. 19/30900, 729, 731. 31 Die Commerzbank, Baader Bank, Hauck und Aufhäuser oder die Warburg Bank gaben beispielsweise noch im Mai und April 2020 Kaufempfehlungen und erhöhte Kursziele (zwischen 230 und 270 € bei einem damals aktuellen Kurs zwischen 77 und 125 €) ab; vgl. für Einzelheiten Buschmann/Zdrzalek, Wirtschaftswoche v. 22.7.2022, S. 79 f. 32 Auch hier müssen einige Beispiele angeführt werden: Hauck & Aufhäuser etwa setzten ihre Empfehlungen bei immer dichter werdenden Hinweisen auf manipulatives Vorgehen herauf, als die KPMG-Untersuchung begann, wurde das Kursziel nochmals um 30 € erhöht; ein Analyst der Warburg sprach zwei Kaufempfehlungen noch nach Veröffentlichung des KPMG-Berichts aus, ein Analyst der Baader Bank empfahl die Aktie nach der Veröffentlichung des KPMG-Berichts sieben Mal zum Kauf und bewertete den KPMG-Bericht positiv, Buschmann/Zdrzalek, Wirtschaftswoche v. 22.7.2022, S. 79 f. 33 Angaben nach Finanzen.net (zuletzt abgerufen am 7.12.2022). 34 Ein vorbildliches Gegenbeispiel ist die warnende Analyse von Levin für Autonomous Research v. 1.11.2019, in der die geäußerten Verdachtsmomente sorgfältig erwogen und bewertet werden.
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Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen | Rz. 14
Art. 36 f. DelVO 2017/565 die allgemeinen Organisationspflichten für Unternehmen, die Anlageempfehlungen erstellen und schließlich das Marktmissbrauchsrecht der Art. 7–15 MAR. 1. Anforderungen an die Finanzanalyse (Art. 20 MAR) Wer eine Anlageempfehlung oder Anlagestrategieempfehlung abgibt, hat zunächst die Gebote des Art. 20 MAR zu beachten, welche durch die DelVO 2016/958 konkretisiert werden. Der materielle Pflichtgehalt (Erfordernis der „erforderlichen Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit“) und das Hinweisgebot bei „möglichen Interessenkonflikten“ sind im Kern seit § 34b Abs. 1 WpHG 2004 und seinen Ergänzungen durch §§ 2 bis 5 FinAnV 200435 geltendes Recht.36
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a) Verhaltenspflichten in Bezug auf den Inhalt der Finanzanalyse Die Autorenschaft darf nicht verheimlicht werden, Art. 2 Abs. 1 lit. a DelVO 2016/ 958. Dass zudem eine Mindestsachkenntnis vorausgesetzt ist, muss per Interpretation ermittelt werden.37 Einen Registrierungszwang für Analysten kennt das deutsche (anders als das US-amerikanische38) Recht nicht, die allgemeine Aufsicht über Wertpapierfirmen genügt; bei aufsichtsfreien Unternehmen hat eine schlichte Anzeige (Name, Anschrift, Handelsregisternummer, Tatsachen, die mögliche Interessenkonflikte begründen können) gegenüber der BaFin zu erfolgen (§ 86 WpHG).39
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In der Analyse selbst sind Tatsachen von Werturteilen zu trennen und wesentliche Informationsquellen anzugeben. Informationen sind gem. Art. 20 Abs. 1 MAR objektiv darzustellen; gem. Art. 2–4 DelVO 2016/958 hat das klar und unmissverständlich zu geschehen.40 Wenn diese sich (nach verkehrsüblich-sorgfältiger Überprüfung)41 nicht als eindeutig zuverlässig erweisen, muss auf entsprechende Zweifel hingewiesen werden, Art. 3 Abs. 1 lit. a, b, und c DelVO 2016/958. Für professionelle
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35 Finanzanalyseverordnung des BMF auf der Grundlage von § 34b Abs. 8 WpHG 2002. Zur Entwicklung Meyer in FS 25 Jahre WpHG, 2019, S. 939 f. 36 Auf Grundlage von Art. 6 MAD (2003/6/EG) und Art. 3 ff. Durchführungs-RL 2003/125/ EG der Kommission. 37 Vgl. Foerster in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 23 Rz. 96; zu § 34b Abs. 1 Satz 1 WpHG 2007, vgl. Koller in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, 4. Aufl. 2006, § 34b WpHG Rz. 18 ff.; Fett in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 34b WpHG Rz. 41 ff. 38 Nach FINRA Rule 1220 (b) (6) muss sich ein Research Analyst bei der Financial Industry Regulatory Authority (FINRA) registrieren, zudem ist eine Qualifikationsprüfung abzulegen (Series 86/87 – Research Analyst), abrufbar auf der Internetseite der FINRA. 39 Vgl. Fuchs in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 34c WpHG Rz. 3; Fett in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 86 WpHG Rz. 3. 40 Sajnovits in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 20 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 70 ff.; Foerster in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 23 Rz. 82 ff. 41 Rothenhöfer in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, 1. Aufl. 2018, § 22 Rz. 23; Sajnovits in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 20 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 75.
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Rz. 14 | Kapitalmarktrechtliche Pflichten bei der Erstellung von Finanzanalysen
Analysten ist nach Art. 4 DelVO 2016/958 zudem gefordert, dass Bewertungsgrundlagen und -methoden sowie die ihnen zugrunde liegenden Annahmen zusammengefasst werden (lit. b); außerdem ist die Bedeutung jeder erstellten Empfehlung (insb. zu „Erwerb“, „Veräußerung“ oder „Halten“) ausreichend zu erläutern, vor Risiken ist zu warnen (lit. e).42 15
Blickt man von hier aus zurück, fällt der erste Formalfehler des Zatarra-Reports leicht auf, der keinen Autoren erkennen lässt. Weiter hat die BaFin die Quellenangaben beanstandet, die aus bloßen Verweisen auf andere Internetfundstellen bestanden;43 die Tätigkeit als Finanzanalyst war entgegen § 34c WpHG a.F. (§ 86 WpHG n.F.) nicht angezeigt worden.44 Die Berichterstattung der Financial Times hingegen unterfiel schon den geschilderten Pflichten nicht, da diese nicht auf objektive Schilderungen bezogen sind.45 b) Offenlegungspflichten, insbesondere Anforderungen an die Unabhängigkeit
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Gesetzliche Unabhängigkeitsgebote sind im Recht der Finanzanalysen durchaus älter als im Recht der Bonitätsratings.46 Auch Unabhängigkeit soll „prozedural“, d.h. durch Organisation47 und Offenlegung, nicht durch materiell-inhaltliche Anforderungen hergestellt werden.48 Die Offenlegungen müssen so konkret sein, dass sich der Investor eine Meinung zu Art und Ausmaß des Interessenkonflikts bilden kann.49 Es sind in der Analyse (ganz allgemein) alle Beziehungen und Umstände offenzulegen, bei denen möglicherweise damit zu rechnen ist, dass sie die Objektivität der Empfehlung beeinträchtigen können (s.a. Art. 5 Abs. 1 DelVO 2016/958).50 An einer solchen schädlichen Gefährdung soll es aber fehlen, wo die mit der Erstellung der Empfehlung befassten Personen wirksam, etwa durch chinese walls von Informationen über die aktuellen Interessen der Wertpapierfirma abgeschnitten sind.51 Wer nicht geringfügige
42 Eine inhaltliche Auseinandersetzung erfolgt nur auf Ersuchen der Aufsichtsbehörden gem. Art. 3 Abs. 3 DelVO 2016/958, Rothenhöfer in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, 1. Aufl. 2018, § 22 Rz. 13. 43 Vgl. BT-Drucks. 19/30900, 158. 44 Antworten und Informationen zu Fragen und Informationsbitten aus der Sitzung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags am 29.7.2020, S. 4 (abrufbar auf der Seite des MBF). 45 Vgl. im Kontext Mülbert/Sajnovits, BKR 2019, 313, 316. 46 Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarktes, 2017, S. 624. 47 Dazu näher sogleich unter 2. 48 In der Analyse sind daher nur Abhängigkeiten nach Art. 20 Abs. 1, 3 MAR i.V.m. Art. 5 und 6 DelVO 2016/958 offenzulegen. 49 Foerster in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 23 Rz. 98. 50 Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 20 VO (EU) 596/2014 Rz. 98; in den Fällen des Art. 6 Abs. 1 DelVO 2016/958 genügt eine abstrakte Gefährdungslage, vgl. Foerster in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 23 Rz. 99. 51 Fuchs in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 34b Rz. 42 f., das gilt nicht für die abstrakten Gefährdungstatbestände in Art. 6 Abs. 1 DelVO 2016/958; Wertpapierfirmen müssen ihre organisatorischen Informationsschranken offenlegen, Art. 6 Abs. 2 DelVO 2016/958.
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Vorteile von dem Emittenten bezieht, ist allerdings niemals „objektiv“ und neutral.52 Dass auch andere bedeutende finanzielle Interessen schädlich sind, ist nicht in Art. 5 Abs. 1 DelVO 2016/958 expliziert; wie etwa die Kreditvergabe an den Emittenten zu bewerten ist, wird deswegen auch verschieden beurteilt.53 Die Offenlegung von Interessenkonflikten ist heute üblich, auch dem Zatarra-Report ist ein einseitiger Disclaimer vorangestellt. Ungeklärt ist indessen, wie weit die gebotene Transparenz geht, v.a. ob auch Umfang und die Absicht einer zeitnahen Schließung einer Leerverkaufsposition54 angegeben werden müssen. Der Regelungszugriff bleibt insgesamt formal, materiell-inhaltliche Pflichten sind eher angedeutet. Die für den Wirecard-Fall wichtige Frage, wie die Analysten mit einer bedenkenswerten Verdachtslage umgehen müssen, ist beispielsweise nicht geregelt. In der Literatur wurde zum Teil gefordert, den Emittenten vorab anzuhören, wenn Analysten über einen Verdacht, etwa der Bilanzfälschung, berichten.55 Gesichert ist der Standpunkt nicht. Analoges gilt für die Frage, ob und wann der Analyst zu Verifikationsbemühungen in Zweifelsfällen verpflichtet ist.56
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2. Allgemeine Organisationsvorgaben für Wertpapierdienstleistungsunternehmen Wenn Banken oder andere Wertpapierdienstleister Finanzanalysen erstellen57, müssen diese nach Maßgabe von Art. 16 MiFID II i.V.m. Art. 34 Abs. 3, Art. 36 f. DelVO 2017/565 organisiert sein. Kontakte zwischen Analysten und Personen anderer Abteilungen, die ein Interesse am Analyseergebnis haben (Art. 37 Abs. 2 lit. c DelVO 2017/565), sind zu beschränken. Der freie Informationsaustausch zwischen Analyse-
52 Rothenhöfer in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, 1. Aufl. 2018, § 22 Rz. 35; zur alten Rechtslage s. auch Göres, Interessenkonflikte, 2004, S. 199. 53 Für schädlichen Interessenkonflikt bei großen Krediten, bei angeschlagenen Emittenten auch bei kleinen und mittelgroßen Koller in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, 4. Aufl. 2006, § 34b WpHG Rz. 27; ebenso zur neuen Rechtslage Sajnovits in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 20 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 82. Ein erhebliches finanzielles Interesse bejaht Möllers in KölnKomm/WpHG, 2. Aufl. 2014, § 34b WpHG Rz. 182 in Fn. 481, aber Interessenkonflikte seien durch chinese walls ausgeschlossen. Schon keine Beeinträchtigung der Unvoreingenommenheit sieht Göres in Kümpel/Hammen/Ekkenga, Kapitalmarktrecht, Stand: Dezember 2019, 634b/3 Rz. 86. 54 Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 101 f.; aber der Disclaimer nutzt nichts (gegen Schockhof/Kohlmann, AG 2016, 517, 523), das Presseprivileg ist nicht anwendbar (unstr.). 55 Vgl. vorerst nur Poelzig, ZHR 184 (2020), 697, 727 f. m.w.N. 56 Vgl. vorerst nur Rothenhöfer in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, 1. Aufl. 2018, § 22 Rz. 22; näher dazu noch unten IV 2. 57 Die Vorgaben gelten für „Wertpapierfirmen“ gem. Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 MiFID II, bzw. in deutscher Umsetzung „Wertpapierdienstleistungsunternehmen“ (Kredit-, Finanzdienstleistungs-, Wertpapierinstitute) gem. § 2 Abs. 10 WpHG, Patz in BeckOK/WpHR, Stand: 15.5.2022, Art. 24 VO (EU) 600/2014 Rz. 28; Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 2 WpHG Rz. 180.
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und Finance-Abteilung ist also bereits heute verboten.58 Die Einhaltung der Vorgaben ist zu überwachen (Abs. 3 lit. b). Auch hier sollen Prozessanforderungen und Transparenz59 Unabhängigkeit garantieren.60 Dem Emittenten darf keine günstige Analyse versprochen werden (Abs. 2 lit. e); es ist die Gewährung von Vorteilen durch den Emittenten auszuschließen, die nicht „absolut geringfügig“ sind, schon die Übernahme von Hotel- oder Bewirtungskosten gilt als schädlich.61 Andere Unternehmen, die Finanzanalysen veröffentlichen, haben die themenverwandten, weniger strengen Gebote des § 85 WpHG zu beachten, nach dem per Organisation Interessenkonflikte „möglichst gering“ zu halten sind; es müssen „angemessene Kontrollverfahren“ eingerichtet sein.62 19
Die Regeln scheinen im Fall der Wirecard AG weithin eingehalten worden zu sein. Ob diese auf die Analysten Einfluss genommen hat, wurde bisweilen vermutet; aber Belege hat man dafür bisher nicht angeben können.63 Auch fehlen klare Hinweise, dass die Trennung der Organisationsbereiche eine Problemursache gewesen ist. Die Leerverkäufer unterlagen schon nicht den Vorgaben nach MiFID II, weil sie im eigenen Namen und auf eigene Rechnung handelten und keine Wertpapierdienstleistungen erbrachten.64
58 Vgl. Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarktes, 2017, S. 660; die Geschäftsinteressen der Bereiche Unternehmensfinanzierung, Verkauf und Handel werden als besonders konfliktträchtig für die Objektivität und Unabhängigkeit der Finanzanalysen angesehen, vgl. Singhof in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2019, L. Emissionsgeschäft Rz. 238, s. auch Erwägungsgrund 51 f. VO (EU) 2017/565 sowie Faust in Ellenberger/Bunte, BankR-HdB, 6. Aufl. 2022, § 89 Rz. 158a; die Durchleitung von Informationen durch die gebotene chinese wall ist nach §§ 63 ff. WpHG (nur) zur Sicherstellung der sachgerechten Aufgabenerfüllung zulässig, Faust in Ellenberger/Bunte, BankR-HdB, 6. Aufl. 2022, § 89 Rz. 157. 59 Gemäß Art. 6 Abs. 2 DelVO 2016/958. 60 Hinzu kommen Verhältnismäßigkeitsregeln und weitere Einschränkungen, so muss die Organisation gem. Art. 34 Abs. 3 Unterabs. 1 DelVO 2017/565 nur einen für die Größe der Wertpapierfirma angemessenen Grad an Unabhängigkeit sicherstellen, vgl. Fett in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 85 WpHG Rz. 29; Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarktes, 2017, S. 624. 61 Foerster in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 23 Rz. 148; die erklärenden Schreiben der BaFin betreffen etwa die Grenzen zur Übernahme von Reise- und Unterbringungskosten von Analysten durch Emittenten oder Stillhalteperioden insb. bei Going-Public-Grundsätzen, vgl. Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarktes, 2017, S. 623. 62 § 85 Abs. 1 Satz 1, 2 WpHG. 63 Bartz/Hesse/Traufetter, Spiegel Online v. 14.1.2021: Die Spionin, die Wirecard liebte, abrufbar auf der Internetseite der Zeitung; vgl. auch die Aussagen der Zeugin Paus vor dem Untersuchungsausschuss, BT-Drucks. 19/30900, 616 ff. 64 § 2 Abs. 8 Nr. 1, 3 WpHG. Sie betreiben auch kein Market-Making, systematische Internalisierung, Eigen- oder Hochfrequenzhandel oder sonstige Vermittlungs-, Verwaltungs-, Beratungs- oder Emissionstätigkeit, § 2 Abs. 8 Nr. 2, 4–10 WpHG, daher fallen z.B. auch Ratingagenturen nicht darunter, Habersack, ZHR 169 (2005), 185, 191; das alleinige Erstellen von Finanzanalysen als Wertpapiernebendienstleistung (Anh. I B (5) MiFID II) ist nicht ausreichend, s. Assmann in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, § 2 WpHG Rz. 201; vgl. auch RegE, BT-Drucks. 13/7142, 102.
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3. Das Marktmissbrauchsrecht Das Verbot der Marktmanipulation gem. Art. 12, 15 MAR wird als wichtigste Schranke für überzogen negative oder schlicht fehlerhafte Warnungen v.a. durch Leerverkäufer begriffen.65 Es versteht sich: Wer schuldhaft unwahre Tatsachen öffentlich macht, die einen verständigen Anleger zum Handel bewegen, der begeht eine informationsgestützte Marktmanipulation gem. Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR.66 Das Verbreiten von (erkannt-falschen oder irreführenden)67 Informationen – einschließlich von „Gerüchten“68 –, die (wahrscheinlich) falsche oder irreführende Signale geben können, ist danach untersagt. Wann reißerische Aufmachungen („worthless paper“69) tatbestandlich sind, ist weniger eindeutig.70 Der maßgebende Empfängerhorizont („verständiger Anleger“) ist kaum konturiert,71 der geforderte Wirkungsgrad der falschen oder irreführenden Signale oder des künstlichen Kursniveaus ist es ebenso wenig. Die MAR lässt offen, wann die Nachfrage, das Angebot oder der Preis des Finanzinstrumentes falsch oder irreführend sind, wann das Kursniveau „anormal oder künstlich“ ist und ganz allgemein, ob der Schutz nur einsetzt, wenn sich ein Bezug zu einem Fundamentalwert herstellen lässt oder über die Angebots- und Nachfragesituation getäuscht wird.72 Die Anwendung dieser Vorgaben im Wirecard-Fall ist oft und genügend diskutiert worden, sie bleibt angesichts solcher Abstraktheit allerdings
65 Ein Verstoß gegen die insiderrechtlichen Gebote in Art. 8, 14 MAR kommt nicht in Betracht, wenn die Analyse auf Grundlage von Informationen erstellt wurde, die ohne Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften erlangt worden sind, vgl. ErwGrd. 28 Satz 1 MAR und aus der Lit. Poelzig, ZHR 184 (2020), 697, 728 ff.; Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 88 f. 66 Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 197; Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 74. 67 Bereits die Informationen müssen falsch oder irreführend sein, Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 69 f.; Fleischer in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 20a Rz. 20. 68 S. bereits den Wortlaut Art. 12 Abs. 1 lit. c und ErwGrd 47 MAR; verstanden als „unverbürgte Nachrichten“ mit ungewissem Wahrheitsgehalt, s. etwa Schmolke in Klöhn, MAR, 1. Aufl. 2018, Art. 12 Rz. 244; vor Geltung der MAR konnten sie allenfalls als sonstige Täuschungshandlung erfasst werden, s. Saliger in Park, Kapitalmarktstrafrecht, 5. Aufl. 2019, § 119 Abs. 1, 4, § 120 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 15 Nr. 2 WpHG i.V.m. Art. 15, 12 MAR Rz. 195, vgl. auch Merkner/Sustmann, NZG 2005, 729, 731. 69 So der Zatarra-Report auf Seite 1. 70 Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 72 (Gesamtlage irreführend zu negativ dargestellt); a.A. Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 197 (evidente Unvertretbarkeit der gezogenen Schlüsse fordernd). 71 S. Eichelberger, Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 251: „Nahezu jede Angabe kann irreführend sein, wenn nur das maßgebliche Empfängerverständnis niedrig genug angesetzt wird und umgekehrt.“ Eingehend Kumpan/Misterek, ZHR 184 (2020), 180, 189 ff. 72 S. Schmolke in Klöhn, MAR, 1. Aufl. 2018, Art. 12 Rz. 47 ff., sowie 257 und 264; und bereits Eichelberger, Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 259 f., 290 ff.
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unsicher.73 Dazu gehören die Fragen, ob das im Zatarra-Bericht gezeichnete Gesamtbild irreführend negativ gezeichnet war74 oder ob eine informationsgestützte Manipulation durch Unterlassen möglich ist,75 die dann durch pflichtwidriges Verschweigen von Verkaufspositionen (unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 LeerverkaufsVO) verwirklicht sein konnte.76 21
Wenn die Empfehlung keine falschen oder irreführenden Informationen enthält, kommt immer noch ein Verstoß gegen Art. 12 Abs. 2 lit. d MAR durch sog. Scalping in Betracht. Die Handhabung der Norm begegnet ähnlichen Schwierigkeiten. Der Empfehlende hat deutlich auf ein konfligierendes Eigeninteresse an dem Finanzinstrument hinzuweisen, aber wann ein Medienzugang ausgenutzt wird77 oder wann „ordnungsgemäße“ und „wirksame“ Transparenz erreicht ist, kann anhand des Regelwerks oft nicht klar entschieden werden.78
IV. Ausgewählte Folgerungen zum Reformbedarf und zu Reformaussichten 22
Die im Folgenden angebotenen Lehren aus den Erfahrungen mit Finanzempfehlungen für die Wirecard-Aktie seit 2015 sind auf drei zugegeben exemplarische Teilaspekte bezogen: die zu unklaren und deswegen präventiv-unwirksamen Gesetzesvorgaben (unter 1.), den zu formalistischen Regelungszugriff, der sich vor allem keine Nachforschungspflicht für Analysten zu explizieren zutraut (unter 2.) und schließlich den Versuch, das Problem der Interessenkonflikte in den Griff zu bekommen, der sich als zu schablonenhaft und löchrig geregelt erwiesen hat (unter 3.).79
73 S. etwa Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 199. 74 Vgl. Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 72; Möllers, NZG 2018, 649, 652; a.A. Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 197; vgl. ferner, Poelzig, ZHR 184 (2020), 697, 725 f. (für Täuschung über die Werthaltigkeit der Aktie als innere Tatsache). 75 S. etwa verneinend Zimmer/Bator in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 12 MAR Rz. 98; Schröder/Poller in Schröder, HdB Kapitalmarktstrafrecht, 4. Aufl. 2020, Kap. 3 Rz. 226; a.A. Nietsch, WM 2020, 717, 720. 76 So in der Tat Schockenhoff/Cullmann, AG 2016, 517, 520 f.; Frömel, Maßnahmen von Unternehmen gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 72 f. und 81 f. 77 Vgl. Langenbucher/Hau/Wentz, ZBB 2019, 307, 312 („Zugang zu Medien“ als journalistische Produkte verstehend); anders die wohl h.M., zu dieser Schmolke in Klöhn, MAR, 1. Aufl. 2018, Art. 12 Rz. 366 m.w.N. 78 Vgl. zu den Anwendungsproblemen durch Unbestimmtheit der Norm etwa Eichelberger, Das Verbot der Marktmanipulation (§ 20a WpHG), 2006, S. 175 ff. sowie Schockenhoff/ Culmann, AG 2016, 517, 521; s. auch sogleich IV. 1. 79 Aus Raumgründen nicht näher einzugehen ist auf die Frage, wie die hier geschilderten Pflichten besser durchgesetzt werden können, vgl. auch dazu im Kontext ausf. Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 487 ff.
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1. Die fehlende Tatbestandsklarheit des EU-Rechts a) Problemaufriss Die erste Folgerung ist eher banal und besteht darin, dass die Rechtsvorgaben der MAR und MiFID II (auch) bei den Verhaltenspflichten für Finanzanalysten zu unbestimmt sind80. Die Ursachen sind zum einen für das Unionsrecht insgesamt kennzeichnend: Die „Diplomatisierung des Rechts“81, also die kompromisshafte Rechtserzeugung durch Beteiligung der Mitgliedstaaten, führt tendenziell zur Abstraktion; es fehlt zudem jede tatbestandspräzisierende Rechtsprechung; das wiederum liegt an den institutionellen Begrenzungen der Gerichtsverfassung, v.a. der Vorlageabhängigkeit und dem limitierten Prüfungsumfang82. Zum anderen ist das Versagen in diesem Teil des Finanzsystems auch den formalistischen und von technischen Details überbordenden, inhaltlich aber gehaltsarmen Vorgaben der MAR und MiFID II geschuldet: hinter einem eklatanten Textaufwuchs liegt eine faktische Verkümmerung der Pflichtentatbestände83.
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Dieser Mangel an tatbestandsklaren Pflichten zeigt sich ebenfalls exemplarisch bei der Beurteilung des Zatarra-Berichts aus dem Jahr 2016 anhand von Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR84. Man nehme nur die – auch für Shortseller ungewöhnliche – Angabe eines „Kursziels“ von Null. Viele sahen bereits darin eine vermessene Übertreibung und strafbare Irreführung85, aber im Rückblick kann man den Hinweis, die Verfolgung eines illegalen Geschäftsmodells sei ohne Bestand, schwerlich als falsch ansehen. Auf der anderen Seite war die Begründung nicht ganz richtig (es bestand schon wirtschaftlich kein valides Geschäft) und zu einseitig (man überging z.B. das legale Geschäft mit Handelsketten wie Aldi oder IKEA)86. Für ein sicheres Urteil – und nur darauf kommt es an dieser Stelle an – fehlt im Grunde jeder Maßstab: Das „falsche oder irreführende Signal“ ist weder in Art. 12 MAR noch im Anhang I MAR bestimmt. Die Delegierte VO (EU) 2016/522 weist auch nur auf einen Sonderfall der
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80 Die Unbestimmtheit des Art. 12 Abs. 1 lit. a MAR ist seit langem Gegenstand der Kritik, vgl. zu den verfassungs- und primärrechtlichen Bedenken Jarass, GRCh, EU-GRCharta, Art. 53 Rz. 8 ff.; Schröder, HRRS 2013, 253, 258 f.; bzgl. § 20a WpHG a.F. Vogel in Assmann/Uwe H. Schneider, WpHG, 6. Aufl. 2016, Vor. § 20a WpHG Rz. 19 ff.; Schwark in Schwark/Zimmer, KMRK, 4. Aufl. 2010, § 20a WpHG Rz. 34. Vgl. unlängst zum Aufschub von Ad-hoc Mitteilungen sowie dem Begriff der Insiderinformation, Veil/Wiesner/Reichert, Disclosure and Enforcement under the EU Listing Act, 2022, sub. D. II. 81 Nach Lübbe-Wolff, Merkur Nr. 822, 2017, S. 57 ff. 82 Vgl. Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374, 379. 83 Ähnliche Beurteilung bei Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 491; Möllers, NZG 2018, 649, 651, jew. zum Objektivitätsgebot des Art. 20 MAR. 84 Vgl. dazu auch BT-Drucks. 19/30900, 157 f. 85 Möllers, NZG 2018, 649, 653; Frömel, Maßnahmen der Zielgesellschaft gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 71 f., a.A. Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 197. 86 Zu Wirecards Kunden zählten u.a. VISA, Mastercard und Paypal, aber auch Handelsketten wie Aldi oder IKEA, vgl. im Kontext auch Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 480.
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handelsgestützten Manipulation hin, der keinerlei Anleitung für Zweifelsfälle gibt.87 Diese fehlenden Haltepunkte für eine Rechtsanwendung lassen sich wie gesagt vielfach feststellen (II.). Die Rechtsanwendung behält deswegen etwas Zufälliges und kann leicht durch heimliche Vorurteile geleitet werden. b) Normkonkretisierung mithilfe der nationalen Vorläuferregeln? 25
Man kann in zwei Richtungen versuchen, diese Abstraktion in subsumtionsfähige, greifbare Kriterien zu verwandeln. Der erste, eher simple Weg bestünde darin, dass die Aufsicht sich auf den bereits erreichten Konkretisierungsstand (durch die MaKonV und die FinAV oder den Emittentenleitfaden von 2005) zurückbesinnt.88 Dass dieses Verfahren fruchtbar, aber zugleich begrenzt ist, zeigen drei Beispiele: (1) Was unter dem Objektivitätsgebot an Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit der Prüfung verlangt ist,89 wird im Unionsrecht nicht gesagt, wurde in § 34b Abs. 1 Satz 1 WpHG generalklauselhaft erwähnt und u.a. in § 3 Abs. 2 FinAnV näher gefasst (Zuverlässigkeit der Informationsquellen ist „mit vertretbarem Aufwand“ sicherzustellen).90 Zudem waren die DFVA-Standards (Wahrheit, Vollständigkeit und Richtigkeit der Analyse) zu beachten.91 Nach herrschendem Verständnis war in diesen Vorgaben eingeschlossen, dass positive oder negative Einzelumstände nicht einfach ausgeblendet werden durften; schon gar nicht durfte man ins „Blaue hinein“ empfehlen92; die Informationsgrundlagen mussten in angemessenem Umfang mit öffentlich verfügbaren Mitteln aufgearbeitet werden.93 (2) Gemäß § 4 Abs. 3 FinAnV mussten Analysen die genutzten Bewertungsgrundlagen und -methoden zusammenfassen. Hier hat man bisweilen auf die Rechtsprechung „Stiftung Warentest“ Bezug genommen94 und eine sachkundige, neutrale Untersuchung gefordert, die um „objektive Richtigkeit bemüht“ sein muss.95 Das Vorgehen und die gezogenen Schlüsse mussten ver87 S. zum „Trash und Cash“ Anh. II Abschnitt 1 Nr. 4 lit. d DelVO 2016/522; es geht „nur“ um die Vorspiegelung nicht vorhandener Marktaktivität, Saliger in Park, Kapitalmarktstrafrecht, 5. Aufl. 2019, Kommentierung zu § 119 WpHG Abs. 1, Abs. 4, § 120 WpHG Abs. 2 Nr. 3, Abs. 15 Nr. 2 i.V.m. Art. 15, 12 MAR Rz. 129. 88 So auch Möllers, NZG 2018, 649, 655 ff. 89 Möllers, NZG 2018, 649, 655. 90 Möllers, NZG 2018, 649, 652. 91 Meyer, AG 2003, 610, 612; Möllers/Lebherz, BKR 2007, 349, 353 f.; Seibt, ZGR 2006, 501, 521; Fuchs in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 34b Rz. 32, mangels Kundenbeziehung aber nicht die Anforderungen des § 31 WpHG a.F. (jetzt § 63 WpHG). 92 Möllers, NZG 2018, 649, 652 f.; ebenso Möllers/Cyglakow, JZ 2018, 1131, 1136 f.; Eisele in Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-HdB, 4. Aufl. 2011, § 109 Rz. 88; vgl. auch Seibt, ZGR 2006, 501, 521. 93 Zur a.F. Begr. zu § 3 Abs. 2 FinAnV, ZBB 2004, 422, 424; Schwalm, Die Erstellung von Finanzanalysen nach § 34b WpHG, 2007, S. 145 und S. 148; zur n.F. Kumpan in Schwark/Zimmer/Schmidt, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 20 VO (EU) 596/2014 Rz. 84. 94 Im Kontext Möllers, NZG 2018, 649, 653; s. auch zur Parallelfrage beim Bonitätsrating, Habersack, ZHR 169 (2005) 185, 201; Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarktes, 2017, S. 582. 95 BGH v. 9.12.1975 – VI ZR 157/73, NJW 1976, 620, 622; bestätigt durch BGH v. 10.3.1987 – VI ZR 144/86, ZIP 1987, 662 = NJW 1987, 2222, 2224 = EWiR 1987, 585 (Kreft); BGH
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tretbar sein.96 Gerade in diesem Punkt besteht unter den geltenden Vorgaben große Unsicherheit.97 (3) Nach § 5 Abs. 1 FinAnV musste eine Empfehlung „unvoreingenommen“ und nachvollziehbar sein.98 Umstände, welche das Urteil insofern auch nur gefährdeten, waren anzugeben.99 Dazu zu rechnen waren finanzielle Interessen in Bezug auf die analysierten Finanzinstrumente oder Emittenten (§ 5 Abs. 3 Nr. 2 lit. e FinAnV).100 Das geltende Recht hält am Prinzip der unvoreingenommenen Empfehlung fest, indem analoge Konfliktlagen nicht verschwiegen werden dürfen (Art. 5 Abs. 1 DelVO 2016/958).101 Die Konkretisierungen (abstrakter) Konfliktlagen in Art. 6 DelVO 2016/958 bleiben aber bei der Beschreibung einiger schädlicher Geschäftsbeziehungen zur Emittentin und eng gefassten Einzelfällen stehen.102 Auf die generalklauselartige explizite Einbeziehung „sonstiger bedeutender finanzieller Interessen in Bezug auf die Emittenten“ (wie noch in der FinAnV) wurde im geltenden Normtext verzichtet.103 Als Fazit lässt sich festhalten: Zunächst, dass die „Materialisierung“ der abstrakten Norminhalte zwar auf dem Auslegungsweg möglich ist, das nationale Altrecht gibt dazu Interpretationsangebote. Allerdings war auch das Altrecht in vielen Punkt oft umstritten und ungeklärt. Man sieht an dieser Stelle zudem, wie sehr ein solcher Lösungszugriff (d.h. ein Rückgriff auf die nationalen Vorgängerregeln) durch das Prinzip der Vollharmonisierung begrenzt wird. Es kann einerseits keine Rede davon sein, dass der Befehl der Vollharmonisierung stets im Wege stünde, wo es schlicht an Re-
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v. 21.2.1989 – VI ZR 18/88, NJW 1989, 1923, 1924; BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 114/96, NJW 1997, 2593, 2594 = EWiR 1997, 885 (Foerster). BGH v. 9.12.1975 – VI ZR 157/73, NJW 1976, 620, 622; BGH v. 17.6.1997 – VI ZR 114/ 96, NJW 1997, 2593, 2594. Vgl. nur zum einen Foerster in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 23 Rz. 89 (Wertung muss nicht vertretbar sein); a.A. Sajnovits in Assmann/ Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 20 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 87. Möllers, NZG 2018, 649, 655. Vgl. zu § 34b WpHG Abs. 1 2004 i.V.m. § 5 Abs. 1 FinAnV Fuchs in Fuchs, WpHG, 2. Aufl. 2016, § 34b WpHG Rz. 41; Hettermann/Althoff, WM 2006, 265, 269, denn bereits der Anschein von Abhängigkeit und Parteilichkeit soll den Wert einer Finanzanalyse erheblich reduzieren können. Diese Norm hat in der DelVO 2016/958 keine Entsprechung mehr. Offenlegung von Umständen, die die „Objektivität beeinträchtigen“ können. Neben bedeutenden Anteilen oder Kauf-/Verkaufspositionen (Abs. 1 lit. a und b) des Analysten geht es bei der Konkretisierung von schädlichen Geschäftsbeziehungen nur um Tätigkeiten als Marktmacher oder Liquiditätsspender, Mitwirkung an einer Emission in den letzten zwölf Monaten, Vereinbarungen über die Erbringung von Wertpapierdienstleistungen nach MiFID II oder Vereinbarungen über die Erstellung von Anlageempfehlungen (Abs. 1 lit. c). Damit wird die Behandlung finanzieller Konfliktlagen „nur“ noch durch die Generalklausel in Art. 5 Abs. 1 DelVO 2016/565 erfassbar, zu praktischen Unterschieden muss das indessen nicht führen, vgl. allgemein zur Weite der Generalklausel Kumpan in Schwark/ Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 20 VO (EU) 596/2014 Rz. 98; zu Kreditverhältnissen Sajnovits in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 20 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 81 f.
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gelungsinhalten zu generalklauselhaften Begriffen („objektiv“, „Interessenkonflikt“) fehlt,104 aber der Rekurs auf den alten Rechtsbestand gerät andererseits schnell an die Grenzen des noch Zulässigen. Wenn etwa in der Literatur gefordert wurde, den Emittenten anzuhören, bevor der Analyst über einen Verdacht urteilt, ließe sich das auf das Objektivitätsgebot rückbeziehen,105 d.h. die „Einlassung“ wäre im „objektiven“ Analysetext zu erwähnen.106 Ob das aber noch eine zulässige Interpretation ist, hat man, da der unionsrechtliche Gesetzestext dafür wenig hergibt, mit guten Gründen bezweifelt.107 Analoges gilt für die Frage, wie weit die Offenlegung zu gehen hat: reicht es aus, nur darauf hinzuweisen, dass eine Shortposition besteht108 oder muss auch der genaue Umfang109 und die Absicht, die Position bei einem bestimmten Kursziel zu schließen110 offengelegt werden. Auch das ist anhand des dürftigen Gesetzesmaterials nicht sicher entscheidbar und eine „Auffüllung“ dieser Lücke auf nationaler Ebene durch Angabe eines abstrakten Grenzwerts ginge wohl bereits über die bloße, unionsrechtlich noch zulässige Konturbildung im vollharmonisierten Bereich hinaus. c) Fazit: gebotene Überarbeitung von MAR und MiFID II 27
Angesichts dessen sollten die Pflichten oder zumindest die Typologien in MAR und MiFID II und den Delegierten Verordnungen nachgeschärft werden.111 Anschauungsbeispiele und Diskussionsangebote hat man dazu inzwischen genug.112 Aus Raumgründen sollen hier nur Einzelaspekte vertieft werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Nachforschungspflicht bei Gerüchten über Bilanzfehler (dazu sogleich unter 2.) sowie der Problemkreis der „Interessenkonflikte“ (unter 3.).
104 Siehe zu solchen Konkretisierungsmöglichkeiten im europarechtlich determinierten Bereich etwa Lippstreu, Wege der Rechtsangleichung im Vertragsrecht, 2014, S. 172. 105 Vgl. Möllers/Cyglakow, JZ 2018, 1131, 1135 ff. 106 Möllers/Cyglakow, JZ 2018, 1131, 1137. 107 Kritisch Schmolke, ZGR 2020, 291, 302; ähnlich Poelzig, ZHR 184 (2020), 697, 727 f. sowie Mülbert/Sajnovits, BKR 2019, 313, 316. 108 So Mülbert, ZHR 182 (2018), 105, 108. 109 So Schmolke, ZGR 2020, 291, 307; Wentz, WM 2019, 196, 199 f. 110 Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 149 f.; ebenso Poelzig, ZHR 184 (2020), 697, 723 f.; folgt man diesen weitergehenden Ansichten, so wäre bei vielen der bisherigen Shortattacken (bei Wirecard, Ströer, Aurelius, ProSiebenSat. 1, Grenke) eine ordnungsgemäße Offenlegung zu verneinen, vgl. auch Frömel, Maßnahmen des Unternehmens gegen unberechtigte Short-Sell-Attacken, 2020, S. 67. 111 Die anstehende Überarbeitung der MAR sollte deswegen auch auf das Verbot der Marktmanipulation bezogen werden, in der aktuellen Reformdiskussion stehen jedoch andere Gesichtspunkte im Vordergrund, vgl. Schmidt, NZG 2021, 1617, 1618; Veil/Wiesner/Reichert, Disclosure and Enforcement under the EU Listing Act, 2022, sub. D. II. 112 Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 268 ff.; Frömel, Maßnahmen der Zielgesellschaft gegen unberechtigte Shortattacken, 2020, S. 270 f.; die Regelung generell in Frage stellend Schröder, HdB Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl. 2015, Rz. 559; Schäfer, BKR 2004, 78, 79; ebenso zu LV-Attacken Neumann, Strafbarkeit von Leerverkaufsattacken, 2022, S. 150; ferner Poelzig, ZHR 184 (2020), 697, 757.
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2. Know your product: für mehr materiell-rechtliche Verhaltenspflichten bei qualifizierten Gerüchten Das geschilderte Versagen der Analysten als Kontrollinstanz weist darauf hin, dass man über materielle Prüf- und Nachforschungspflichten nochmals sprechen sollte: qualifizierte Gerüchte im Markt dürfen nicht folgenlos übergangen werden. Über die Kategorien „Objektivität“ und „Interessenkonflikt“ wird der Schutz vor Fehlleitungen heute zu formal begründet. Der für die Post-Enron Zeit typische Regelungszugriff113 ist gekennzeichnet durch eine beachtliche Vermehrung des Regelungstexts bei dem Versuch einer bloßen Schutzgewähr durch angepasste Verfahren (statt ausformulierter materiell-rechtlicher Zusatzpflichten).114 Dieser formalistische Ansatz mag ein inhaltliches Urteil über die Finanzanalyse anhand materiellrechtlicher Maßstäbe als „richtig“ oder „falsch“ vermeiden helfen.115 Die Erfahrungen legen es aber nahe, dass Analysten infolge dieses Problemzugriffs allzu leicht die Verdachtsmomente unberücksichtigt lassen.116 Bereits die weithin fehlende Relation von publizierten Hinweisen und Kurszielangaben (II. 3.) weist darauf hin.
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a) Grundsatz Es wäre angesichts dieser Erfahrungen eine konsequente Fortsetzung anerkannter Verhaltensregeln, und zwar des durch den BGH aufgestellten Grundsatz know your product,117 der in Zweifelsfällen zu Nachforschungspflichten führen sollte. Mit der schon bestehenden Hinweispflicht bei zweifelhafter Tatsachengrundlage bietet Art. 3 der DelVO 2016/958 schon heute in Abs. 1 lit. b und c einen systematischen Anknüpfungspunkt. Danach sind alle für die gewählte Analysemethode wichtigen und verfügbaren Daten einzubeziehen.118 Inwieweit die Zuverlässigkeit der Quellen zu 113 Auch im US-Recht sind die Vorgaben für Finanzanalysen in diesem Sinn formal, diese müssen sich registrieren (FINRA Rule 1220 (b) (6)); es sind Vorkehrungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten zu treffen und solche Konflikte sind offenzulegen (FINRA Rule 2241). 114 Auf die Tendenz zu immer mehr Offenlegungspflichten hat schon Kalss, ZGR 2007, 520, 522 hingewiesen; s. auch Fazley, Regulierung der Finanzanalysten und Behavioral Finance, 2008, S. 185 ff. (Kritik an zu langen Pflichtangaben, die den Charakter eines Beipackzettels hätten). Zu Interessenkonflikten s. sogleich, unter 3. 115 Aus diesem Blickwinkel sind die unbestimmten Rechtsbegriffe und die Formalpflichten also in der notwendigen Subjektivität des Urteils begründet; dazu Möllers/Lebherz, BKR 2007, 349, 351 mit Nachweisen zum Meinungsstand zu § 34 WpHG in Fn. 41, 42. 116 Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 492 ff. 117 Grundlegend BGH v. 6.7.1993 – XI ZR 12/93, ZIP 1993, 1148 = NJW 1993, 2433, 2434 sowie 2. LS = EWiR 1993, 857 (Köndgen). Zur Entwicklung s. Möllers/Puhle, JZ 2012, 592 f.; Wiechers/Henning, WM-Beilage 2015 Heft 47 Sonderbeil. 4, S. 4, 7 ff. 118 Möllers/Lebherz, BKR 2007, 349, 353; Rothenhöfer in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, 1. Aufl. 2018, § 22 Rz. 17. Das können auch ggf. unzuverlässige Gerüchte sein, Sajnovits in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 20 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 75. Bei einer technischen Analyse sind nur die markt- und kursbezogenen Daten über einen ausreichend langen Zeitraum einzuholen, Seibt, ZGR 2006, 501, 521; Möllers/Lebherz, BKR 2007, 349, 353 f.; Eisele in Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-HdB, 2. Aufl. 2001, § 109 Rz. 39; a.A. Meyer,
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prüfen ist, wird verschieden beurteilt.119 Auch hier ist die Rückbesinnung auf die alte Rechtslage hilfreich, in der eine Mindestpflicht zu Kontrolle und Verifikation in § 3 Abs. 2 FinAnV120 expliziert war.121 Diese Altansätze sind als Interpretationsmittel für (den fast wortgleichen) Art. 3 Abs. 1 lit. b und c DelVO 2016/958 nicht verbindlich, zeigen aber die richtige Auslegungsart zutreffend an. b) Systembezug zum Recht der sonstigen „Informationsintermediäre“ 30
Ein Systemabgleich im Recht der „Informationsintermediäre“ gibt weitere Anhaltspunkte, auch wenn die Parallelfragen für die Abschlussprüfung und Bonitätsratings nicht befriedigend gelöst sein mögen. Im FISG ist das Thema „Kontrollpflichten“ nicht angegangen worden,122 gesichert ist nur, dass die Angaben der Geschäftsleitung kein genügender Beleg, sondern eine zu überprüfende Behauptung sind; klar ist aber auch, dass solche Angaben, wenn sie plausibel sind, nicht von Grund auf neu ermittelt werden müssen.123 Beim Rating gelten keine strengeren Grundsätze. Nach Art. 8 Abs. 2 der RatingVO (EG 1060/2009) ist eine „gründliche Analyse aller Informationen“ gefordert, wiederum aber nur solche, die „zur Verfügung stehen“; zudem ist sicherzustellen, dass die herangezogenen Daten „von ausreichender Qualität“ sind und „aus zuverlässigen Quellen“ stammen.124 Was über eine Plausibilitätsprüfung hinaus
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AG 2003, 610, 612, denn eine Analyse sei primär eine subjektive Wertung des Erstellers, insofern sei der DFVA-Kodex zu pauschal, in Fn. 20. Rothenhöfer in Meyer/Veil/Rönnau, Handbuch zum Marktmissbrauchsrecht, 1. Aufl. 2018, § 22 Rz. 22; Sajnovits in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, Art. 20 VO (EU) Nr. 596/2014 Rz. 75; Kumpan in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, Art. 20 VO (EU) 596/2014 Rz. 84; a.A. Foerster in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 23 Rz. 86, „keine Verpflichtung, eine Informationsquelle auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen“. Die Norm lautete: „Die Zuverlässigkeit von Informationsquellen ist vor deren Verwendung so weit als mit vertretbarem Aufwand möglich sicherzustellen. Auf bestehende Zweifel ist hinzuweisen“. Zur Prüfpflicht unter § 34b WpHG vgl. etwa Schwalm, Die Erstellung von Finanzanalysen nach § 34b WpHG, 2007, S. 143 f. (zudem Anfangsverdacht i.S.v. § 152 Abs. 2 StPO als Orientierungshilfe); Möllers/Lebherz, BKR 2007, 349, 354 f. (Prüfung in Abhängigkeit vom Bekanntheitsgrad der Quelle); ähnlich die Begr. zu § 3 Abs. 2 FinAnV, ZBB 2004, 422, 424. Das soll aber nicht so weit gehen, dass Manipulation und Betrug aufzudecken wären, Möllers/Lebherz, BKR 2007, 349, 354 f.; Schwalm, Die Erstellung von Finanzanalysen nach § 34b WpHG, 2007, S. 143 f. Vgl. Mülbert, ZHR 185 (2021), 2, 8 f.; Lenz, BB 2021, 683 ff.; Stüttgen, ZIP 2021, 300, 305. Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarkts, 2017, S. 579 f.; Gehringer, Abschlussprüfung, 2002, S. 53 m.w.N.; ähnlich Kragler, Wirtschaftsprüfung und externe Qualitätskontrolle, 2003, S. 318. Einzelheiten sind wenig geklärt, einige halten es bei einem Auftragsrating für erforderlich, dass wesentliche Forderungsbestände überprüft werden, s. Göres in Habersack/Mülbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 2. Aufl. 2013, § 25 Rz. 33; andere halten die Zugrundelegung der Angaben im Wertpapierprospekt für ausreichend, Schroeter, Ratings, 2014, S. 753 m.w.N.; eine Pflicht zur Nachfrage beim Emittenten wird bei auftragslosen Ratings weithin verneint, vgl. Habersack, ZHR 169 (2005), 185, 201; Foerster in Habersack/Mül-
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geboten ist, wird man als ungeklärt bezeichnen können.125 Die systematische Betrachtung weist also insgesamt durchaus auf materiell-rechtliche Prüfpflichten hin, ohne dass von hier aus ein Ableitungszusammenhang zum Recht der Finanzanalysen erstellt werden könnte. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass ein vollständig-formaler Pflichtenkanon im Recht der Informationsintermediäre insgesamt zu kurz greift. c) Zum Inhalt: Nachforschungs- oder bloße Warnpflichten? Man kann aus diesem Systembezug auch ersehen, dass die Aufgabenintensität abgestuft werden muss. Der Analyst hat keine besonderen Einsichts- und Auskunftsrechte (wie in § 320 HGB), er handelt auch nicht im öffentlichen Auftrag. Er sollte zwar – insofern wie der Abschlussprüfer – stets in Betracht ziehen, dass er es mit einer betrügerisch falschen Darstellung zu tun haben kann (vgl. § 43 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 WPO), aber die Prüfungsarbeit bei Verdachtsmomenten reicht nicht an das für die Abschlussprüfung oder das Bonitätsrating zu fordernde Mindestmaß heran. Allgemein wird man sich auf den Standpunkt stellen: der Finanzanalyst muss qualifizierte Gerüchte zu einem Bilanzbetrug ernst nehmen, die Folgen für sein Analyseurteil bedenken und vor allem in konkreter, nicht floskelhafter Art offenlegen. Der Hauptinhalt der Analystenpflichten ist also weniger auf eine (unrealistische) Verifikation oder (in Betrugsfällen eher nutzlose) Nachfrage gerichtet, als vielmehr auf die inhaltliche Befassung mit den marktöffentlichen Vorwürfen sowie einem für Anleger verständlichen Rückbezug zum Analyseurteil.
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d) Wann ist ein Gerücht genügend qualifiziert? Das offenbare Abgrenzungsproblem, welches die Formulierung materieller Prüfpflichten belastet, liegt in der Bestimmung dessen, was ein Analyst nicht übergehen darf: wann ist ein Gerücht genügend substantiiert, qualifiziert oder wesentlich? Es liegt nahe, eine Berücksichtigungspflicht als Ausdruck des Objektivitätsprinzips durch einen Rekurs auf die verwandten kapitalmarktrechtlichen Reaktionspflichten des Unternehmens zu entwickeln:126 Gerüchte können als „Umstände“ Insiderinformationen nach Art. 7 Abs. 2 MAR sein127, zudem ist der Aufschub nach Art. 17 Abs. 4 und 5 MAR nicht mehr möglich, wenn „ausreichend präzise Gerüchte“ (Art. 17 Abs. 7 Unbert/Schlitt, Kapitalmarktinf-HdB, 3. Aufl. 2020, § 24 Rz. 56 f.; anderes wird für Auftragsratings angenommen, vgl. Habersack, ZHR 169 (2005), 185, 201. 125 Leyens, Informationsintermediäre des Kapitalmarktes, 2017, S. 580 f. 126 Zu diesen vgl. Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, 2006, S. 237 ff.; Klöhn in KölnKomm/WpHG, 2. Aufl. 2014, § 15 WpHG Rz. 238 ff.; Fleischer/Schmolke, AG 2007, 841, 849 f. Auch kann es für das Unternehmen zu Recherche- und Informationspflichten bei Gerüchten durch Whistleblower kommen, vgl. Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 494 f. Einen anderen Ansatz für die Reaktionspflicht des Aufsichtsrats im Kontext wählt der Arbeitskreis Externe und Interne Überwachung der Unternehmung (AKEIÜ), DB 2022, 1849, 1853 (auf § 152 Abs. 2 StPO abstellend). 127 Vgl. Art. 7 Abs. 2 Satz 1 MAR, sofern die „Informationen darüber hinaus spezifisch genug sind, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung“ auf das Finanzinstrument zuzulassen.
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terabs. 2 MAR) der Vertraulichkeit im Wege stehen. Danach kommt es auf das Gewicht der Quelle,128 auf Stringenz, Nachvollziehbarkeit und Substanz129 sowie auf Objektivität an.130 Überträgt man diese Grundsätze, erleichtert dies die Einspannung in die Alternativen von irrelevantem Marktgerede und zu berücksichtigenden Indizien, von einem bloßen Verdacht und ernstzunehmenden Hinweis: Eine Reaktionspflicht auch von Analysten kann durch eine Reihe von Kriterien begründet sein: Zunächst geht es darum, wie nachvollziehbar und vertieft die Kritik ist.131 Dann wird man zu fragen haben, wie verlässlich und seriös der Autor ist, die Publikation in einer renommierten Wirtschaftszeitung hat ein höheres Gewicht als anonyme Analysen von Leerverkäufern mit fiktiv-ironischen Übertiteln (wie „Zatarra“); eine (in Zukunft früher bekannt gegebene132) Ermittlung der Aufsicht oder der Staatsanwaltschaft hat ein sehr viel höheres Gewicht als eine unbelegte Vermutungsäußerung in einem Chatroom.133 33
Auf den Wirecard-Fall bezogen bedeutet dies, dass man schwerlich eigene Rechercheleistungen dazu hätte verlangen sollen, ob beispielweise Manager die Hinterleute der Hermestransaktion im Jahr 2015 waren, ob die Scheinfirmen in Asien gar nicht bestanden oder ob es das Treuhandvermögen gab.134 Andererseits wären die plausiblen Hinweise, dass z.B. unter der Firmenadresse ärmliche Bauernhäuser auffindbar waren oder dass eine Vielzahl von „Drittpartnern“ den Namen Wirecard noch nie gehört hatte usf., ein durchaus zu berücksichtigendes Moment gewesen. Das gilt auch für die publik gemachten Untersuchungsdokumente und den KPMG-Bericht. Eine solch begrenzte Auseinandersetzungspflicht ist zumutbar. Es kann nicht sein, dass man trotz der eklatanten Hinweise sozusagen ohne von Exceltabellen aufzublicken, zu falschen, aber gesetzeskonformen Empfehlungen kommt. e) Sonderproblem: sind anonyme Hinweise stets unbeachtlich?
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Der oft sehr kritisch beurteilte Zatarra-Bericht weist noch auf eine Detailfrage hin: Es ist bisweilen gesagt worden, dass anonyme Behauptungen im Markt bei Finanz-
128 ErwGrd. 14 der MAR nennt die Verlässlichkeit der Informationsquelle als Kriterium. 129 Retsch, NZG 2016, 1201, 1205. 130 Buck-Heeb in Assmann/Schütze/Buck-Heeb, HdB Kapitalanlagerecht, 5. Aufl. 2020, § 8 Rz. 64; Grundmann in GK-HGB, Band 11/1 Bankvertragsrecht Investmentbanking I, 5. Aufl. 2017, 6. Teil Rz. 344; Hopt/Kumpan in Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-HdB, 3. Aufl. 2007, § 107 Rz. 50. 131 Es wird für die Qualifikation auf die Begründungstiefe ankommen, vgl. Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 496. Er empfiehlt ein bewegliches System: „Je glaubwürdiger und fundierter ein Gerücht vorgetragen wird, desto größer müssen die Anstrengungen des Unternehmens sein, dieses zu verifizieren oder zu falsifizieren“. 132 Vgl. § 107 Abs. 1 Satz 6 WpHG, eingeführt durch das FISG, BGBl. 2021 I, 1534, 1535. 133 Siehe schon zum alten Recht Schwalm, Die Erstellung von Finanzanalysen nach § 34b WpHG, 2007, S. 143 f. 134 Auch Abschlussprüfung und „Sonderuntersuchung“ haben in diesen Fragen Ergebnisse z.T. erst nach aufwändiger Prüfung (Treuhandkonten) oder gar nicht (Related Party Transactions) hervorgebracht, vgl. oben, II. 1.
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analysen nicht beachtet werden müssen,135 aber das wird man angesichts des Wirecard-Falls auch anders beurteilen können. Der (anonyme) Zatarra-Bericht hatte einen berechtigten Wahrheitskern und die Gründe der Anonymität lassen sich nicht auf den Wunsch der Haftungsvermeidung reduzieren.136 So wie man mit gutem Grund auch über die Beachtlichkeit anonymer Hinweise von Whistleblowern heute spricht,137 sollte der Formalverstoß bei substanzhaften, nachvollziehbaren öffentlichen Enthüllungen nicht stets davon entlasten, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen; das Verschweigen der Urheberschaft kann, anders gesagt, berücksichtigt werden, aber nur als Abwägungsposten, der durch eine plausible und gut belegte Schilderung ausgeglichen werden kann. 3. Offenlegung von Interessenkonflikten – aber welche? Es ist ein weithin akzeptierter Befund, dass die vergangenen großen Finanzkrisen – von 1988/1990, die der Enron-Zeit um 2001/2002 sowie von 2007/2008 – in besonderer Weise durch Interessenkonflikte mitverursacht und ermöglicht wurden.138 Das Wort „Interessenkonflikt“ wurde die Normalschablone, welche auf zahlreiche Krisenursachen verlässlich hinwies, von der Rolle der Ratingagenturen, den politisch beeinflussten Aufsichtsbehörden bis hin zu den aufsichtsträgen Überwachungsgremien in deutschen Landesbanken. Der Lösungsansatz in Art. 20 MAR steht in dieser Regulierungstradition. Bereits durch § 34b WpHG a.F. sollte v.a. die abhängigkeitsbegründende Querfinanzierung durch andere Geschäftsbereiche unterbunden werden. Es galt der Rechtspolitik als genügend belegt, dass Analystenoptimismus die notwendige Folge ist, wenn diese mit Erträgen aus dem Investmentbanking bezahlt werden. Zwar hat man die Problematik mit der MiFID durchaus abstrahiert, denn in der Delegierten VO wird der Informationsaustausch zwischen Abteilungen begrenzt, wenn „Interessen möglicherweise kollidieren“139. Blickt man zurück auf den Fall Wirecard, ist das nicht genug, man hat andere Gründe des eklatanten Überoptimismus zu vermuten.
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a) Empfehlungen in Kundenverhältnissen Von der Transparenz durch „Disclaimer“ oder organisatorische Trennung erwartet sich das geltende Recht, dass Sonderinteressen die Analyseergebnisse nicht mehr beeinflussen. Es ist vielen aufgefallen, dass mit der Wirecard AG ein wichtiger Kreditkunde durch analysierende Bankhäuser jahrelang positiv beurteilt wurde.140 Hier
135 So wohl Möllers in FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, 2021, S. 479, 497 (gegen Reaktionspflicht bei unbekanntem Urheber des Gerüchts). 136 Siehe oben, II. 2. 137 Vgl. zur Parallelfrage zu § 16 Abs. 1 Satz 3, § 27 Abs. 1 Satz 3, 4 HinSchG-RegE v. 19.9.2022 (anonym eingegangene Meldungen „sollten“ bearbeitet werden), BT-Drucks. 20/3442, S. 81 und statt vieler die Kritik bei Gerdermann, ZRP 2022, 98, 99 f. 138 Vgl. dazu Florstedt in FS Baums, 2017, S. 433 ff. sowie Florstedt, ZBB 2013, 81 ff. (zur Finanzkrise 2007/8). 139 Art. 34 Abs. 3 lit. b DelVO 2017/565. 140 BT-Drucks. 10/30900, 743, 745.
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kann man sinnvollerweise nicht mehr auf eine Unabhängigkeitsdefinition setzen, die bei einer organisatorischen Trennung oder bei unmittelbaren Finanzvorteilen für den Analysten stehen bleibt. Researchanalysen sind ein wichtiger Bestandteil in Kundenbeziehungen schlechthin. Ein Aktienanalyst wird es sich schwerlich erlauben können, einen Kreditkunden „herunterzuschreiben“, auch wird sich eine Erwartungshaltung aufgebaut haben, wenn ein Bankanalyst einen (potentiellen) Kunden jahrelang positiv bewertet hat: er gerät in Erklärungsnot, wenn er plötzlich eine Kehrtwende vollzieht. Es muss hier auch nicht zu einem direkten Kontakt zu der Kreditabteilung kommen, die Gefährdungslage ist abstrakt vorhanden, es muss hier nichts mehr durch die „chinesische Mauer“ gestochen werden. 37
Will man deswegen bei dem derzeitigen Schematismus nicht stehen bleiben, findet sich ein erster systematischer Anhaltspunkt in Art. 36 Abs. 2 der DelVO 2017/565, nach dem Empfehlungen mit werblichem Charakter als Marketingmitteilungen zu kennzeichnen sind. Man wird nicht so weit gehen, dass ein bestehendes Kredit- oder ähnliches Kundenverhältnis stets zu analog strengen Kennzeichnungspflichten (wie bei einer Werbung) führt,141 es entspricht aber zwanglos dem Leitgedanken des geltenden Rechts (Schutz durch Transparenz), wenn auf die abstrakte Interessenkollision unmissverständlich hinzuweisen ist.142 Bei Entscheidungen über Kursaussichten einer Aktie sollten deswegen wesentliche Groß- und Millionenkredite angegeben werden müssen143. b) Empfehlungen mit Werbecharakter
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Die Bestimmung der schädlichen Interessenkonflikte ist nicht nur auf bestehende, sondern auch auf (gewünschte) zukünftige Aufträge und Geschäftsverhältnisse beziehbar. Als eine der Konsortialbanken die Kredite an Vorstände der Wirecard nicht verlängerte, gewährten kleinere Banken neues Fremdkapital.144 Ob es Zufall ist, dass im gleichen Zeitraum überpositive Analyseurteile durch andere, eher lokal oder doch national tätige Banken nachweislich sind, ist bislang nicht untersucht worden.145 Die Objektivitätsgrundsätze können jedenfalls nicht nur auf die laufenden Geschäftsbeziehungen bezogen bleiben, vielmehr ist die Bewerbung um Mandanten, Aufträge oder Fremdkapital durch unsachlich-subjektive Empfehlungen eine durchaus ernstzunehmende Gefahr. Da diese schwerlich durch Warnpflichten beherrschbar ist, gehört es in den Bereich der gebotenen Kontrolle durch die Aufsicht, solche überpositi-
141 Zu diesen etwa Rothenhöfer in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, § 63 WpHG Rz. 151 ff. 142 Gemäß Art. 6 DelVO 2016/958. 143 Es wird dabei nicht genügen, die hohen Grenzen der Meldungsvorschriften nach der CRR II (dazu etwa Fischer/Boegl in Ellenberger/Bunte, BankR-HdB, 6. Aufl. 2022, § 117 Rz. 18 ff.) zu übertragen; das wird man angesichts der Empfehlungen v.a. auch der kleineren Konsortialbanken kaum als wirksamen Schutz ansehen, vgl. zur Rolle der beteiligten Banken im Wirecard-Fall BT-Drucks. 10/30900, 598, 1842. 144 Vgl. zu Einzelheiten BT-Drucks. 19/30900, 1635 f. 145 II. 3.
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ven Analyseurteile kritischer zu prüfen, als es bisher der Fall gewesen ist. Die hinreichende Grundlage ist mit § 85 Abs. 2 i.V.m. § 88 WpHG146 dazu bereits vorhanden. c) Exkurs: Orientierungsfunktion staatlicher Beurteilungen Die gravierenderen Interessenkonflikte, die für die Finanzkrisen ursächlich waren, bestanden eher in den Verflechtungen von Interessen zwischen Kontrolleur und Kontrollierten und nicht zuletzt zwischen öffentlicher und privatwirtschaftlicher Sphäre. Die Abschlussprüfer von Enron hatten zuvor mitberaten, wie mit Scheinfirmen Scheingewinne angeblich legal ausweisbar würden,147 als die subprime-Papiere (vor allem in der deutschen Provinz) als gefahrlose Anlagechance galten, hatten die dem Produkt gegenüber allzu positiv gestimmten Ratingagenturen die Beimischungen hochriskanter Kreditzusagen beratend mitgestaltet.148 Erleichtert wurden diese Verfilzungen zwischen Wirtschaft und Politik, von der Freundschaft des Vorstandsvorsitzenden Enrons zum Präsidenten der Vereinigten Staaten149 bis hin zu der Einflussnahme von deutschen Staatssekretären des BMF, die zugleich sowohl Kontrolleure privater Banken als auch der Aufsicht waren.150 In der juristischen Diskussion war das – zu Unrecht – kaum ein Thema. Auch der Fall „Wirecard“ gibt Anlass, erneut über den Einfluss von Politik und öffentlicher Hand nachzudenken: Das Werben der Kanzlerin für die Wirecard AG auf einer Chinareise im Jahr 2018 mag man als Politikroutine nicht zu hoch veranlagen, aber das beispielgebende und erstmals ausgesprochene Leerverkaufsverbot sowie das einseitige Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen die Kritiker der Wirecard AG und gegen Leeverkäufer hat der Markt durchaus als Falsifizierung der Pressevorwürfe missverstanden.151
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Das führt auf den ersten Blick von dem Thema probandum fort. Und doch: Dass staatliche Maßnahmen die Analysten fehlgeleitet haben, ist nicht nur oft als Verteidigung vorgetragen worden, sondern auch naheliegend. In der US-amerikanischen Forschung ist gut belegt, dass (Kreditrating-)Analysten, die nicht der Partei des jeweiligen Präsidenten angehören, die Kreditwürdigkeit von Unternehmen häufiger nach unten korrigieren, als diejenigen, die nach den Wählerverzeichnissen der Regie-
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146 Anlasslose Prüfung zur Einhaltung der Pflichten nach Art. 20 MAR auch i.V.m. der DelVO 2016/958, daneben besteht die allgemeine Befugnis der BaFin, Anordnungen zu Einhaltung der Ge- und Verbote der ihrer Aufsicht obliegenden Wertpapierfirmen zu treffen, § 6 Abs. 2 Satz 2 WpHG, s. Fett in Schwark/Zimmer, KMRK, 5. Aufl. 2020, WpHG § 85 Rz. 62. 147 Report of investigation of Enron Corporation and related entities regarding federal tax and compensation issues, and policy recommendations, Joint Committee on Taxation, 2003, S. 105 f. und 119 f. 148 Schroeter, Ratings, 2014, S. 48, 730 ff. 149 Vgl. The Wall Street Journal v. 17.1.2002, A Scandal Centerpiece: Enron’s Political Connections. 150 Vgl. auch zur Sicht des Bundesfinanzministeriums auf Suprime-Anlagen Asmussen, ZfgK 2006, 1016 und dazu Florstedt, AG 2010, 315, 322. 151 Vgl. dazu die Einlassung der Analystin Paus, BT-Drucks. 19/30900, 732; vgl. zum vieldiskutierten Verhältnis zwischen der einbezogenen Anwaltskanzlei Bub Gauweiler & Partner und der Staatsanwaltschaft München etwa BT-Drucks. 19/30900, 1902 f.
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rungspartei zugehörig sind.152 Das Versagen der Analysten im Fall „Wirecard“ jedenfalls gibt Anlass, auch die Problematik einer politisch abhängigen Staatsanwaltschaft und Aufsicht erneut zu diskutieren.153 4. Darstellung von Zusammenfassungen 41
Es bleibt angesichts eines zuvörderst auf Transparenz setzenden Regelungskonzepts auch klarzustellen: Die gebotenen Warnhinweise zu Interessenkonflikten durch Kundenverhältnisse oder durch fehlende Überprüfbarkeit herangezogener Analysedaten wären für die Privatanleger unter dem geltenden Recht derzeit kaum eine Hilfe. Auf den Webseiten der gängigen Finanzportalen finden sich allenfalls Verweise auf die jeweiligen Angaben der Emittenten,154 die abstrakt bleiben;155 bisweilen fehlen auf solchen Webseiten oder den Seiten der Depotbanken Hinweise auf Interessenkonflikte.156 Wenn Offenlegung (statt durch die Aufsicht kontrollierte Prüfpflichten) der wichtigste Regelungsmechanismus bleiben soll, müssen die Analysen besser und gerade auch in diesen Punkten genauer dargestellt werden. Davon ist man vor allem in Deutschland noch immer weit entfernt. Ein institutioneller Investor wird die Empfehlungen ohnehin nach den Analysekapazitäten der Autoren einschätzen können, aber wenn Privatanlegern noch immer nur abstrakteste Hinweise auf Interessenkollisionen und aussagelose Angaben zur „Urteilsfindung“ von irrational-optimistischen Kurszielen angegeben werden müssen (oft nur die Beschreibung der Art der Geschäftsbeziehung), wird auch eine materiell-rechtlich erhöhte Pflichtenintensität wenig ausrichten. Die entsprechenden Datenbanken, welche beispielsweise die BaFin vorhält, können in diesem Sinn erweitert werden.157 Vorzugswürdig bleibt eine Datenbank für die ganze Union.158
152 Kempf, 76 The Journal of Finance (2021), S. 2805. 153 Für eine EU-einheitliche unabhängige Aufsicht als Konsequenz aus dem Wirecard-Skandal bereits Krahnen/Langenbucher, SAFE Policy Letter, No. 88, S. 5. Vgl. zum Einfluss des BMF auf die BaFin BT-Drucks. 19/30900, 1266 ff. 154 Man wird auf die Seite dpa-afx.de verwiesen. Vollständige (Original-)Analysen sind nur gegen Zahlung einsehbar, z.B. über FactSet oder The Screener. 155 Die Commerzbank (zu ihrer Rolle im Kontext vgl. BT-Drucks. 19/30900, 1631 ff.) etwa weist (nur) darauf hin, dass „innerhalb der letzten 12 Monate Investment-BankingDienstleistungen für […] erbracht wurden oder vereinbart wurde, solche zu erbringen“; Kreditverhältnisse werden nicht erwähnt, abrufbar auf deren Internetseite (unter Regulatorik/Interessenkonflikte). In vielen anderen Fällen fehlen selbst solche Hinweise. Zur Rolle der Banken im Wirecard-Fall s. Fn. 31. 156 So etwa auf der Website von Onvista; ein ähnliches Bild ergibt sich bei den über Depotbanken einsehbaren Analysen. In den unter Finanzportalen auffindbaren Analysefassungen der Konsortialpartner eines im Jahr 2011 ausgereichten und 2018 verlängerten Milliardenkredits (BT-Drucks. 19/30900, 1631) finden sich beispielsweise keine Hinweise auf die Zusammenarbeit mit Wirecard. 157 Zu den verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten s. die noch immer aktuellen Vorschläge bei Fazley, Regulierung der Finanzanalysten, 2008, S. 224 f. 158 In diese Richtung bereits Fazley, Regulierung der Finanzanalysten, 2008, S. 229.
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Eine Pflicht, die Analysen vollständig dem Anlegerpublikum ohne jedes Entgelt zur Verfügung zu stellen, kommt dabei nicht in Betracht.159 Im Kern muss es darum gehen, den ausnutzungsfähigen und -anfälligen Signalwert der Analysen für die Kapitalmarktteilnehmer, den die Unternehmen leicht durch Hinweis auf die Summe positiver Empfehlungen oder unvollständige Zusammenfassungen erzielen können und erzielt haben, durch leicht nachvollziehbare Hinweise dazu zu relativieren, wie und ob die „qualifizierten“ Gerüchte berücksichtigt wurden. Durch eine staatlich kontrollierte Datenbank könnte dabei das Durcheinander behoben werden, das notwendig entsteht, wenn man es den Finanzportalen, Nachrichtendiensten oder Depotbanken überlässt, die zusammenfassenden Informationen selbst auszuwählen und darzustellen160.
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V. Ausblick Die Bewertung des Rechts der Finanzanalyse geht trotz einer Reihe von Defiziten und Unwägbarkeiten nicht dahin, dass der Wirecard-Skandal auch in diesem Bereich Fundamentalreformen einfordert. Die rechtspolitische Diskussion zur Aufarbeitung des Systemversagens mag hier nicht ihren dringlichsten Gegenstand haben. Aber es trifft zu, dass die geltenden Rechtsschranken zu unbestimmt sind, zu formal bleiben und (auch deswegen) nicht genügend durchgesetzt werden. Der stark vermehrte Normtext von MAR und MiFID II ist in Wahrheit ein inhaltlich-verarmtes Inflationsgut, dem eine wichtige Anwendungsdimension mangelt: sie bezeichnen die Verhaltensgebote für Finanzanalysten zu wenig. Worauf es ankommt, ist: die unionsrechtlichen Vorgaben klarer zu fassen, konkrete materiell-rechtliche Kontrollpflichten für Analysten zu positivieren, die schädlichen Interessenkonflikte schlüssiger zu bestimmen und einen auch für Privatanleger verständlichen Zustand der Mindesttransparenz herzustellen.
159 Fisch, 55 UCLA LAW REVIEW (2007), 39, 49 ff.; Fisch, 10 Lewis & Clark Law Review (2006), 57, 80. 160 Ein immer noch aktueller Überblick über die verschiedenen Schilderungsarten findet sich bei Fazley, Regulierung der Finanzanalysten, 2008, S. 216 ff. Siehe auch zum Vorschlag einer bei der BaFin geführten zentralen Datenbank im Kontext Fazley, Regulierung der Finanzanalysten, 2008, S. 225.
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Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen Prof. Dr. Dörte Poelzig Universität Hamburg Marc Kanzler Rechtsanwalt, München I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kapitalmarktinformationshaftung am Primärmarkt . . . . . . . . . . . 1. Spezialgesetzliche Prospekthaftung 2. Deliktsrechtliche Prospekthaftung . III. Kapitalmarktinformationshaftung am Sekundärmarkt . . . . . . . . 1. Passivlegitimation a) Haftung des Emittenten . . . . . . b) Haftung der Organmitglieder . .
1 3 4 6 7 8 10
c) Haftung der Abschlussprüfer . . d) Haftung der BaFin . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt der Kapitalmarktinformationshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . c) Beweiserleichterungen . . . . . . . . IV. Fazit
12 15 17 18 19 21 24
I. Einleitung Nachdem in den vorhergehenden Beiträgen die verschiedenen Akteure, die an der Kommunikation fehlerhafter Unternehmensabschlüsse beteiligt sind, und ihre Bedeutung vorgestellt wurden, schließt sich die Frage an, wer haftet wie für den Schaden der Anleger am Kapitalmarkt. So geht es in der Aufarbeitung von Wirecard vor allem um Ansprüche von Anlegern, die aufgrund der geschönten Bilanzen Wertpapiere am Kapitalmarkt zu teuer erworben haben. Ihre möglichen Ansprüche waren bereits Gegenstand einer Vielzahl anhängiger und abgeschlossener Verfahren vor deutschen Gerichten.1 Im Fokus der aktuellen Haftungsdebatte um Wirecard stehen vor allem die Abschlussprüfer und die BaFin. Doch primär verantwortlich für die ordnungsgemäße Veröffentlichung der Finanzberichte am Kapitalmarkt ist die börsennotierte Gesellschaft. Sie ist nach deutschem Recht gemäß §§ 114 f. WpHG beziehungsweise § 325 HGB und nach österreichischem Recht gemäß §§ 124 f. BörseG verpflichtet, Jahres- und Halbjahresfinanzberichte zu veröffentlichen. Intern ist der Vorstand für die Regelpublizität zuständig: So müssen die Vorstandsmitglieder in einem Bilanzeid versichern, dass der Jahresabschluss nach bestem Wissen ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt. Um die Richtigkeit der Un1 Vgl. etwa: OLG München v. 9.12.2021 – 8 U 6063/21, AG 2022, 368; OLG München v. 13.12.2021 – 3 U 6014/21, AG 2022, 373.
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Rz. 1 | Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen
ternehmensabschlüsse sicherzustellen, gibt es darüber hinaus interne und externe Kontrollmechanismen. Intern hat der Aufsichtsrat den Jahresabschluss gemäß § 171 AktG zu prüfen. Die externe Kontrolle erfolgt durch die obligatorische Abschlussprüfung (§ 316 HGB) und durch die BaFin im Rahmen der Bilanzkontrolle, die sie bis zum Inkrafttreten des FISG Ende 2021 noch arbeitsteilig gemeinsam mit dem DPR e. V. wahrgenommen hat.2 2
Für die Frage, welche dieser Akteure für die Schäden der Anleger haften, ist zwischen dem Primärmarkt und dem Sekundärmarkt zu unterscheiden. Daher wird zunächst auf die Kapitalmarktinformationshaftung am Primärmarkt und sodann am Sekundärmarkt eingegangen. Unabhängig davon, wer haftet, stellt sich stets die Frage, welchen Schaden Anleger unter welchen Voraussetzungen ersetzt verlangen können, ob und inwieweit sie also Anspruch auf Rückzahlung des gesamten Erwerbspreises gegen Rückgabe der Wertpapiere, den sogenannten Transaktionsschaden, oder Anspruch auf Erstattung der zu viel gezahlten Differenz, also den Kursdifferenzschaden, haben. Daher wird jeweils auch ein Blick auf den Inhalt der Haftung geworfen.
II. Kapitalmarktinformationshaftung am Primärmarkt 3
Eine grundlegende Weichenstellung für die Voraussetzungen und den Inhalt der Kapitalmarktinformationshaftung ist zunächst die Frage, ob fehlerhafte Unternehmensabschlüsse Bestandteil der Publizität am Primärmarkt oder am Sekundärmarkt sind. 1. Spezialgesetzliche Prospekthaftung
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Werden fehlerhafte Unternehmensabschlüsse in Börsenzulassungs- oder Vertriebsprospekten bei der Emission von Wertpapieren am Primärmarkt veröffentlicht, gilt hierfür die spezialgesetzliche Prospekthaftung gemäß §§ 9, 10 WpPG.3 Sie beschränkt den Kreis der Haftpflichtigen auf sogenannte Prospektverantwortliche und Prospekterlasser. Dazu gehören in erster Linie der Emittent und die emissionsbegleitenden Konsortialbanken, da sie als Prospektverantwortliche die Gesamtverantwortung für den Prospektinhalt übernehmen. Grundsätzlich nicht der Prospekthaftung unterliegen hingegen die anderen Akteure. Etwas anderes gilt ausnahmsweise bei einem eigenen wirtschaftlichen Interesse. So können unter Umständen auch Organmitglieder als Prospekterlasser in Anspruch genommen werden, wenn sie als wirtschaftliche Hintermänner agieren.4 Für die spezialgesetzliche Prospekthaftung gilt ein im Vergleich zum allgemeinen Deliktsrecht erhöhter Verschuldensmaßstab: Gehaftet wird aufgrund der komplexen Gemengelage am Kapitalmarkt nur für grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz (s. § 12 Abs. 1 WpPG).
2 Simons, NZG 2021, 1429, 1435 f. 3 Vgl. zum Inhalt des Prospekts etwa: Singhof in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2019, L. Emissionsgeschäft Rz. 47 m.w.N. 4 Groß in EBJS, 4. Aufl. 2020, § 9 WpPG Rz. 42 ff.
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Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen | Rz. 6
Werden die fehlerhaften Unternehmensberichte in einem Börsenzulassungs- oder Vertriebsprospekt am Primärmarkt veröffentlicht, verpflichtet die spezialgesetzliche Prospekthaftung gemäß §§ 9, 10 WpPG ausdrücklich zum Ersatz des Erwerbspreises gegen Rückgabe der Wertpapiere und erklärt damit den sogenannten Transaktionsschaden oder Vertragsabschlussschaden für ersatzfähig.5 Die haftungsbegründende Kausalität setzt die Ursächlichkeit des Prospekts für den Erwerb der Wertpapiere voraus. Da es sich bei Anlageentscheidungen um komplexe Entscheidungen handelt, die durch ein Bündel an rationalen und irrationalen, unter Umständen auch spekulativen Motiven beeinflusst werden, gelingt der Nachweis der konkreten Transaktionskausalität in der Praxis nur selten.6 Daher ist der Gesetzgeber dem Anleger im Rahmen der spezialgesetzlichen Prospekthaftung mit einer gesetzlichen Beweislastumkehr zur Seite gesprungen. Die haftungsbegründende Kausalität wird gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 WpPG widerleglich vermutet.
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2. Deliktsrechtliche Prospekthaftung Neben der spezialgesetzlichen Prospekthaftung lässt § 16 Abs. 2 WpPG weitergehende Ansprüche nach allgemeinem Deliktsrecht zu. Das hat insbesondere eine Haftung gemäß §§ 826, 823 Abs. 2 BGB auch derjenigen zur Folge, die – wie in der Regel Vorstand, Aufsichtsrat und Abschlussprüfer – zwar weder Prospektverantwortliche noch Prospekterlasser sind, aber vorsätzlich zur fehlerhaften Unternehmensberichterstattung in einem Prospekt beigetragen haben. Hier hilft die Rechtsprechung dem Anleger vor allem mit der sogenannten Figur der positiven Anlagestimmung7 sowie einem Anscheinsbeweis8 auf Grundlage der allgemeinen Lebenserfahrung: Demnach spricht nach einer aktuellen Entscheidung des III. Zivilsenats des BGH die allgemeine Lebenserfahrung dafür, dass Prospektfehler – wie etwa ein im Prospekt abgedruckter fehlerhafter Jahresabschluss – ursächlich sind für den Erwerb der emittierten Wertpapiere, da Prospekte Anleger umfassend informieren und bei seinen Anlageentscheidungen unterstützen sollen.9
5 Vgl. etwa: Groß in EBJS, 4. Aufl. 2020, § 9 WpPG Rz. 108 f. 6 Vgl. BGH v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, NJW 2004, 2664, 2666; Förster in BeckOK/BGB, 63. Ed. 1.8.2022, § 826 Rz. 190; Buck-Heeb/Dieckmann, AG 2008, 681, 683; Poelzig, ZBB 2021, 73, 82. 7 Vgl. schon BGH v. 14.7.1998 – XI ZR 173/97, NJW 1998, 3345, 3347; RG v. 11.10.1912 – II 106/12, RGZ 80, 196, 205 f. – juris; OLG Frankfurt a.M. v. 17.3.2005 – 1 U 149/04, BB 2005, 1648, 1649. 8 BGH v. 12.3.2020 – VII ZR 236/19, NZG 2020, 1030 Rz. 39; BGH v. 21.2.2013 – III ZR 139/12, NJW 2013, 1877 Rz. 15; BGH v. 1.3.2004 – II ZR 88/02, NJW 2004, 2228, 2230; BGH v. 3.12.2007 – II ZR 21/06, BKR 2008, 163 Rz. 16; BGH v. 6.10.1980 – II ZR 60/80, NJW 1981, 1449, 1451. 9 BGH v. 5.5.2022 – III ZR 135/20, NJW 2022, 2266; ebenso: BGH v. 12.3.2020 – VII ZR 236/19, NZG 2020, 1030 Rz. 39; BGH v. 21.2.2013 – III ZR 139/12, NJW 2013, 1877 Rz. 15; BGH v. 1.3.2004 – II ZR 88/02, NJW 2004, 2228, 2230; BGH v. 3.12.2007 – II ZR 21/06, BKR 2008, 163 Rz. 16; BGH v. 6.10.1980 – II ZR 60/80, NJW 1981, 1449, 1451.
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Rz. 7 | Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen
III. Kapitalmarktinformationshaftung am Sekundärmarkt 7
Anders liegt der Fall, wenn fehlerhafte Unternehmensabschlüsse am Sekundärmarkt veröffentlicht werden. 1. Passivlegitimation a) Haftung des Emittenten
8
Börsennotierte Gesellschaften sind nach deutschem Recht gemäß § 325 HGB10; § 114 WpHG und nach österreichischem Recht gemäß § 124 BörseG verpflichtet, insbesondere den Jahresabschluss samt Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers zu veröffentlichen. Grundlage für die Regelpublizität bildet die europäische Transparenzrichtlinie11. Eine der Prospekthaftung vergleichbare spezialgesetzliche Haftung für die Veröffentlichung fehlerhafter Unternehmensabschlüsse am Sekundärmarkt existiert nicht. Zwar kennt das Kapitalmarktrecht mit den §§ 97, 98 WpHG eine spezialgesetzliche Haftung des Emittenten für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen am Sekundärmarkt. Eine analoge Anwendung dieser Vorschriften auf die fehlerhafte Regelpublizität scheidet jedoch mangels planwidriger Regelungslücke aus.12 Aus der Gesetzgebungsgeschichte – spätestens seit Einführung des FISG – ergibt sich, dass es jedenfalls an der Planwidrigkeit einer Regelungslücke fehlt.13 Der Gesetzgeber hat sich mehrfach mit einer weitergehenden spezialgesetzlichen Haftung befasst – zuletzt, speziell zu fehlerhaften Jahresabschlüssen, bei der Einführung des FISG.14 Stets hat der Gesetzgeber davon abgesehen eine solche Haftung zu normieren. Es handelt sich
10 Nach § 325 Abs. 2 HGB nehmen die Mitglieder die Veröffentlichungspflicht für die Gesellschaft war. Es handelt sich somit jedenfalls auch um eine Pflicht der Gesellschaft selbst, das ergibt sich auch aus § 335 Abs. 2 Satz 2 HGB. Vgl. auch: Drinhausen in BeckOGK/ HGB, 1.12.2021, § 325 Rz. 85; LG Bonn v. 30.1.2017 – 36 T 435/16, DStR 2017, 1444. 11 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG; überarbeitet durch die am 27.11.2013 in Kraft getretene Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie (Richtlinie 2013/50/EU). 12 BGH v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, AG 2012, 209, 210; Hellgardt in Assmann/Uwe H. Schneider/Mülbert, §§ 97, 98 WpHG Rz. 57; Schmolke, ZBB 2012, 165, 168; a.A.: Mülbert/Steup, NZG 2007, 761, 766; Mülbert/Steup in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 4. Aufl. 2019, Haftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformation, Rz. 41.281 ff. 13 So auch: BGH v. 13.12.2011 – XI ZR 51/10, AG 2012, 209, 210; OLG Düsseldorf v. 7.4.2011 – 6 U 7/10, AG 2011, 706, 708; OLG Düsseldorf v. 27.1.2010 – 15 U 230/09, juris Rz. 36 ff.; Maier-Reimer/Seulen in Habersack/Mülbert/Schlitt, Handbuch der Kapitalmarktinformation, § 30 Rz. 11; Schmolke, ZBB 2012, 165, 168; Hellgardt in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, § 97 WpHG Rz. 57. 14 Vgl. bereits: BT-Drucks. 19/26966, 1 ff., 55 ff.
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daher um eine bewusste Regelungslücke.15 Die §§ 97, 98 WpHG sind nicht analogiefähig.16 Somit kommt hier allenfalls das allgemeine Deliktsrecht, namentlich die § 823 Abs. 2, § 826 BGB, als Haftungsgrundlage in Betracht. Der Emittent haftet daher jedenfalls bei Vorsatz des Vorstands, dessen Verschulden ihm gemäß § 31 BGB zugerechnet wird, auf Grundlage von §§ 826, 31 BGB und § 823 Abs. 2, § 31 BGB in Verbindung etwa mit §§ 263, 264a StGB. Ob eine Emittentenhaftung darüber hinaus auch bei fahrlässigem Verhalten in Betracht kommt, hängt letztlich davon ab, ob die Vorschriften zur Regelpublizität als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB einzuordnen sind.17 Die bislang überwiegende Auffassung lehnt dies mit der Begründung ab, dass die Regelpublizität – wie viele andere kapitalmarktrechtliche Regelungen – ausschließlich dem öffentlichen Interesse zu dienen bestimmt sei.18 Zunehmend wird jedoch auf das europäische Unionsrecht verwiesen, namentlich auf die Transparenzrichtlinie.19 Diese verpflichtet in Art. 7 die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die Emittenten, deren Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgane oder die verantwortlichen Personen haften. Daher ist aus unionsrechtlicher Sicht eine Haftung der Gesellschaft oder alternativ der Organe geboten. Dahinter steht der europäische Effektivitätsgrundsatz, der eine wirksame Durchsetzung des europäischen Rechts in den Mitgliedstaaten verlangt und das Privatrecht im Sinne eines private enforcement als wirksames Instrument der Verhaltenssteuerung betrachtet.20 Mangels
15 Hellgardt in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, § 97 WpHG Rz. 57. 16 Hellgardt in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, § 97 WpHG Rz. 57. 17 Vgl. hierzu ausführlich Schneider, Schutzgesetzhaftung für fehlerhafte Rechnungslegung, 2021, S. 32 ff. 18 Zuletzt: Markworth, BKR 2020, 438, 442 f. m.w.N.; vgl. zudem allgemein zur Schutzgesetzeigenschaft von handelsbilanzrechtlichen Vorschriften: Schlosser/Stephan-Wimmer, GmbHR 2019, 449, 450 ff.; Pöschke in Staub, HGB, 5. Aufl. 2014, § 238 Rz. 4; Hüttemann/Meyer in Staub, HGB, 5. Aufl. 2014, § 264 Rz. 62; Claussen in KölnKommRLR, 2011, § 264 HGB Rz. 70; Paefgen in GroßkommGmbHG, 3. Aufl. 2020, § 41 Rz. 27; Drüen in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2. Aufl. 2020, § 238 HGB Rz. 2; Spindler in MünchKomm/AktG, 5. Aufl. 2019, § 91 Rz. 12; Canaris in FS Larenz, 1983, S. 27, 73 f.; Canaris, Handelsrecht, 23. Aufl. 2000, S. 272 f.; Hennrichs in FS Kollhosser, Bd. II, 2004, S. 201, 214; Grigoleit, Gesellschafterhaftung für interne Einflussnahme im Recht der GmbH, 2006, S. 138; Beurskens, Haftung für enttäuschtes Aktionärsvertrauen, 2008, S. 71 f.; Brinckmann, Kapitalmarktrechtliche Finanzberichterstattung, 2009, S. 187; Hahn, Regelpublizitätshaftung, 2018, S. 183 ff. (zu den HGB-Vorschriften), S. 206 ff. (zu den IAS/IFRS). 19 Vgl. zuletzt Schneider, Schutzgesetzhaftung für fehlerhafte Rechnungslegung, 2021, S. 163 ff., 251 ff. m.w.N.; Schnorr, ZHR 170 (2006), 9, 14 ff.; Cloppenburg, Haftung für fehlerhafte Sekundärmarktinformation am nicht geregelten Kapitalmarkt, Bonn 2010, S. 72 ff.; Hellgardt in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, § 97 WpHG Rz. 56. 20 Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, S. 255 ff.
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Rz. 9 | Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen
einer spezialgesetzlichen Emittentenhaftung ist die Schutzgesetzeigenschaft im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB daher in europarechtskonformer Auslegung zu bejahen.21 b) Haftung der Organmitglieder 10
Die Organe, also Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft, haften für die schuldhafte Veröffentlichung fehlerhafter Unternehmensberichte unter Verstoß gegen die Regelpublizität in erster Linie gegenüber der Gesellschaft wegen der Verletzung einer Legalitätspflicht gemäß § 93 Abs. 2, § 116 AktG. Ist die Gesellschaft auf Grundlage der §§ 826, 823 Abs. 2 BGB gegenüber Anlegern wegen der fehlerhaften Unternehmensberichterstattung zum Schadensersatz verpflichtet, kann sie insoweit Regress nehmen.
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Eine unmittelbare Außenhaftung der Organe gegenüber den Anlegern kommt jedenfalls bei einem vorsätzlichen Verhalten in Betracht. Grundlage hierfür bilden auch wiederum die §§ 826, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 263, 264a StGB. Eine Haftung der Organe gegenüber Anlegern für fahrlässig fehlerhafte Veröffentlichungen auf Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB wird, wie im Falle des Emittenten, überwiegend mit der Begründung abgelehnt, dass es an einem tauglichen Schutzgesetz fehlt.22 Allerdings werden auch hier die Stimmen lauter, die eine Organhaftung aus unionsrechtlichen Gründen für zwingend erforderlich erachten.23 Art. 7 der europäischen Transparenzrichtlinie verlangt jedoch eine Haftung der Organe lediglich alternativ zur Haftung der Gesellschaft. Hiernach genügt also, wenn die Gesellschaft für die Veröffentlichung fehlerhafter Unternehmensabschlüsse haftet. Eine Außenhaftung der Organe ist unionsrechtlich nicht zwingend geboten. c) Haftung der Abschlussprüfer
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Im Fokus der aktuellen Debatte um Wirecard steht die Haftung der Abschlussprüfer gegenüber den geschädigten Anlegern. Abschlussprüfer haften jedoch für schuldhafte Pflichtverletzungen bei der Prüfung des Jahresabschlusses gemäß § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB in erster Linie gegenüber der Kapitalgesellschaft und der Höhe nach begrenzt. Mit dem FISG wurde in Reaktion auf den Wirecard-Skandal die summenmäßige Haftungsbegrenzung zwar angehoben; eine unmittelbare Haftung der Abschlussprüfer gegenüber Anlegern wurde aber nicht eingeführt. Daher sind auch insoweit die allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Vorschriften maßgeblich. Eine Haftung der Abschlussprüfer für bloße Fahrlässigkeit scheidet demnach aus. So kommt eine vertragliche Haftung nach den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter nicht in Betracht, da der Vertrag zwischen der Gesellschaft und dem Abschlussprüfer nach überwiegender Auffassung keine Schutzwirkung zugunsten der
21 S. bereits Hellgardt, Kapitalmarktdeliktsrecht, 2008, S. 251 ff. 22 Fleischer, WM 2006, 2021, 2026; Hennrichs in FS für Kollhosser, 2004, Bd. II, S. 201. 23 Fehrenbacher in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 325 Rz. 121; differenzierend: Schneider, Schutzgesetzhaftung für fehlerhafte Rechnungslegung, 2021, S. 253 ff. m.w.N.
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Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen | Rz. 14
Anleger entfaltet.24 Für eine Expertenhaftung auf Grundlage des § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB fehlt das notwendige persönliche Vertrauen, das Abschlussprüfer bei den geschädigten Anlegern in Anspruch nehmen müssten.25 Eine deliktsrechtliche Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB für die fahrlässige unsorgfältige Abschlussprüfung scheitert schließlich daran, dass die Vorschriften zur Abschlussprüfung gemäß §§ 316 ff. HGB sowie die europäische AbschlussprüferVO nach überwiegender Auffassung keine Schutzgesetze zugunsten der Anleger sind.26 Zwar lässt sich seit dem FISG eine deliktsrechtliche Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB für leichtfertiges Verhalten über den Straftatbestand des § 332 HGB als Schutzgesetz begründen, denn die Strafbarkeit wurde auf leichtfertiges Verhalten erstreckt.27 Der praktische Anwendungsbereich und damit auch die Abschlussprüferhaftung für leichtfertiges Verhalten ist aber sehr beschränkt, denn der Straftatbestand erfasst nur die Erteilung eines inhaltlich unrichtigen Bestätigungsvermerks, nicht hingegen die zutreffende Wiedergabe eines objektiv falschen Ergebnisses nach einer grob unsorgfältig durchgeführten Prüfung.28 Eine weitergehende Haftung für jegliche fahrlässige Verstöße ist auch nicht auf Grundlage des europäischen Unionsrechts geboten.29 Art. 7 der Transparenzrichtlinie verlangt ausdrücklich nur eine Haftung des Emittenten oder alternativ seiner Organe. Darüber hinaus hat der EuGH in einer Entscheidung aus 2017 eine Haftung für sogenannte Gatekeeper, die zur Beaufsichtigung primär Verantwortlicher verpflichtet sind, trotz individualschützender Bedeutung der Regelung abgelehnt.30 In dieser Entscheidung ging es um die Einhaltung von Produktsicherheitsvorschriften durch Hersteller von Brustimplantaten, die durch die Zertifizierungsstelle überwacht werden. Die Zertifizierungsstelle ist ähnlich wie ein Abschlussprüfer als Gatekeeper für die Einhaltung der Regelungen lediglich sekundär verantwortlich.31
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Daher scheidet eine deliktsrechtliche Haftung der Abschlussprüfer für fahrlässige Pflichtverletzungen gegenüber den geschädigten Anlegern regelmäßig aus. Davon unberührt bleibt jedoch die Haftung für Vorsatz gemäß § 826 BGB.32 Voraussetzung hierfür ist grundsätzlich ein sittenwidrig, vorsätzlich schädigendes Verhalten; die Rechtsprechung hat die Anforderungen an den Vorsatz im Rahmen der sogenannte
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24 Vgl. zum Streitstand Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 323 Rz. 135 ff.; Justenhoven/Feldmüller in BeckBilKomm, 13. Aufl. 2022, § 323 HGB Rz. 175 ff. 25 Meyer, BKR 2019, 372, 374; Homborg/Landahl, NZG 2021, 859, 861; Bormann in BeckOGK/HGB, 15.11.2020, § 323 Rz. 164; Barta, NZG 2006, 855, 857. 26 Homborg/Landahl, NZG 2021, 859, 860; Merkt in Hopt, 41. Aufl. 2022, § 323 HGB Rz. 8; Mirtschink, Die Haftung des Wirtschaftsprüfers gegenüber Dritten, 2006, S. 132 ff. 27 Justenhoven/Feldmüller in BeckBilKomm, 13. Aufl. 2022, § 323 HGB Rz. 145. 28 Klinger in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 332 Rz. 29 m.w.N. 29 Näher hierzu Poelzig, ZBB 2021, 73, 79 ff. 30 EuGH v. 16.2.2017 – C-219/15, Rz. 55, ECLI:EU:C:2017:128 – Schmitt/TÜV Rheinland, NJW 2017, 1161. 31 EuGH v. 16.2.2017 – C-219/15, Rz. 55, ECLI:EU:C:2017:128 – Schmitt/TÜV Rheinland, NJW 2017, 1161; Wagner, JZ 2018, 130, 133; Poelzig, ZBB 2021, 73, 79. 32 Homborg/Landahl, NZG 2021, 859, 860 f.; Bormann in BeckOGK/HGB, 15.11.2020, § 323 Rz. 169; Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 323 Rz. 103.
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Rz. 14 | Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen
Expertenhaftung indes erheblich abgesenkt und lässt bereits gewissenloses und damit leichtfertiges Handeln zur Haftungsbegründung genügen.33 d) Haftung der BaFin 15
Neben den Abschlussprüfern steht schließlich auch die BaFin im Fokus der Haftungsklagen geschädigter Anleger.34 Ihr wird vorgeworfen, ihre Pflicht zur Bilanzkontrolle gemäß §§ 106 ff. WpHG nicht ordnungsgemäß erfüllt zu haben.35 Als Grundlage für eine Haftung der BaFin kommen der Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG sowie der europarechtliche Staatshaftungsanspruch in Betracht. Voraussetzung hierfür ist jeweils, dass die Aufsichtspflicht der BaFin zumindest auch den Zweck hat, dem Schutz der Interessen der einzelnen Anleger zu dienen. Höchstrichterlich entschieden ist diese Frage bislang noch nicht. Die bisher ergangenen unterinstanzlichen Entscheidungen und eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2005 lehnen eine Haftung der BaFin für Fehler bei der Bilanzkontrolle indes ab.36 Begründung hierfür ist § 4 Abs. 4 FinDAG. Dieser sieht ausdrücklich vor, dass die BaFin ausschließlich im öffentlichen Interesse und gerade nicht im Interesse der einzelnen Anleger tätig wird. Eine ähnliche Vorschrift existiert mit § 3 Abs. 1 Satz 3 FMABG auch im österreichischen Recht. Daher scheidet eine Amts- oder Staatshaftung für eine unzureichende Prüfung der Unternehmensabschlüsse und Unternehmensberichte durch die Kapitalmarktaufsichtsbehörden nach überwiegender Auffassung grundsätzlich aus.37 Etwas anderes gilt ausnahmsweise bei Amtsmissbrauch, wenn also ein besonders verwerfliches Verhalten der Amtsträger vorliegt, das von sachfremden, rein persönlichen Motiven getragen wird.38
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Auch hier werden die Stimmen lauter, die eine weitergehende Haftung der BaFin bereits für fahrlässige Fehler bei der Aufsicht und nicht erst bei Amtsmissbrauch aus unionsrechtlichen Gründen befürworten.39 Zwar hat der EuGH vor einigen Jahren in der Rs. Peter Paul den Ausschluss der Amtshaftung im deutschen Bank- und Kapital-
33 Poelzig, ZBB 2021, 73, 81 ff.; BGH v. 17.9.1985 – VI ZR 73/84, NJW 1986, 181; BGH v. 12.3.2020 – VII ZR 236/19, NZG 2020, 1030, 1032; kritisch hierzu s. nur Canaris, ZHR 163 (1999), 206, 214 f.; Ebke in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 323 Rz. 107 („besonders ‚leichtfüßiges‘ Überspringen der Vorsatzhürde des § 826 BGB“); Honsell in FS Medicus, 1999, S. 211, 215 f.; Hopt, AcP 183 (1983), 608, 633: („Denaturierung“). 34 Vgl. hierzu ausführlich: Renner, ZBB 2021, 1; Lehmann/Schürger, WM 2021, 857; Lehmann/Schürger, WM 2021, 905. 35 Vgl. zur Haftung der BaFin ausführlich: Renner, ZBB 2021, 1. 36 BGH v. 20.1.2005 – III ZR 48/01, EuZW 2005, 186; sowie zuletzt OLG Frankfurt a. M. v. 6.2.2020 – 1 U 83/19, BKR 2020, 597 Rz. 32. 37 BGH v. 20.1.2005 – III ZR 48/01, EuZW 2005, 186; sowie zuletzt OLG Frankfurt a. M. v. 6.2.2020 – 1 U 83/19, BKR 2020, 597 Rz. 32; Döhmel in Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 7. Aufl. 2019, Vorbemerkungen zu §§ 6–11 WpHG Rz. 50 m.w.N. 38 Dörr in BeckOGK/BGB, 1.8.2022, § 839 Rz. 151 m.w.N. 39 Renner, ZBB 2021, 1; Lehmann/Schürger, WM 2021, 857; Lehmann/Schürger, WM 2021, 905; Schürger, BKR 2021, 601; differenzierend: Goldmann, EuR 2022, 569.
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Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen | Rz. 18
marktrecht noch für unionsrechtskonform erklärt.40 Die Befürworter einer Haftung der BaFin stützen sich nunmehr aber auf jüngere Entscheidungen des EuGH.41 So stellte das Gericht etwa in der Rs. Euromin Holdings Ende 2020 fest, dass der Ausschluss der Staatshaftung im Übernahmerecht zulasten des Bieters unionsrechtwidrig ist.42 Ob sich dies auf die Verletzungen von Aufsichtspflichten bei der Bilanzkontrolle in Umsetzung der Transparenzrichtlinie übertragen lässt, bleibt abzuwarten. Denn im Unterschied zur Übernahmerichtlinie äußert sich die Transparenzrichtlinie in Art. 7 ausdrücklich zur Haftung und verlangt diese nur auf Seiten der Emittenten oder ihrer Organe, nicht aber für die mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörden. e) Zwischenergebnis Damit lässt sich zunächst festhalten: Sämtliche Akteure, die an der Veröffentlichung fehlerhafter Unternehmensabschlüsse am Sekundärmarkt beteiligt sind, der Emittent, der Vorstand sowie der Aufsichtsrat, der Abschlussprüfer und die BaFin haften gegenüber den geschädigten Anlegern, wenn ihnen jeweils Vorsatz zur Last gelegt werden kann. Ob und inwieweit sie auch bei bloßer Fahrlässigkeit haften, darüber gehen die Meinungen vor allem mit Blick auf das europäische Unionsrecht weit auseinander. Die europäische Transparenzrichtlinie erfordert zwingend eine Haftung der börsennotierten Gesellschaft oder alternativ ihrer Organe für die fahrlässige Veröffentlichung fehlerhafter Unternehmensberichte unter Verstoß gegen die Regelpublizität. Den unionsrechtlichen Mindestanforderungen würde daher eine Haftung des Emittenten auf Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. der Regelpublizität als Schutzgesetz und die damit verbundene Organhaftung im Innenverhältnis gegenüber der Gesellschaft genügen. Eine Kapitalmarktinformationshaftung der anderen Akteure für fahrlässiges Verhalten scheidet jedenfalls nach bislang überwiegender Auffassung aus und ist auch aus unionsrechtlicher Perspektive nicht geboten.
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2. Inhalt der Kapitalmarktinformationshaftung Unabhängig davon, wer nach den soeben dargestellten Grundsätzen für die fehlerhafte Unternehmensberichterstattung haftet, stellt sich stets die Frage, welchen Schaden die Anleger ersetzt verlangen können. Der ersatzfähige Schaden und die Anforderungen an die haftungsbegründende Kausalität sind bei deliktsrechtlichen Ansprüchen für die fehlerhafte Unternehmensberichterstattung am Sekundärmarkt umstritten.43
40 EuGH v. 12.10.2004 – C-222/02, ECLI:EU:C:2004:606 – Peter Paul u.a./Bundesrepublik Deutschland, EuZW 2004, 689. 41 EuGH v. 4.10.2018 – C-571/16, ECLI:EU:C:2018:807 – Kantarev, WM 2019, 156; EuGH v. 10.12.2020 – C-735/19, ECLI:EU:C:2020:1014 – Euromin Holdings (Cyprus), BKR 2021, 431. 42 EuGH v. 10.12.2020 – C-735/19, ECLI:EU:C:2020:1014 – Euromin Holdings (Cyprus), BKR 2021, 431. 43 Vgl. etwa: Buck-Heeb, AG 2022, 337; Bork, ZRI 2022, 201; Schneider, Schutzgesetzhaftung für fehlerhafte Rechnungslegung, 2021, S. 266 ff.
Poelzig/Kanzler | 203
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Rz. 19 | Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen
a) Meinungsstand 19
Gestritten wird zunächst darüber, ob ausschließlich der Kursdifferenzschaden und/ oder der Transaktionsschaden ersatzfähig sind. Nach teilweise vertretener Auffassung können die Anleger ausschließlich den sog. Transaktionsschaden ersetzt verlangen.44 Der Transaktionsschaden ist durch Rückabwicklung des Anlagegeschäfts nach dem Prinzip der Naturalrestitution zu ersetzen.45 In der Regel46 besteht hiernach also ein Anspruch auf Erstattung des gezahlten Erwerbspreises Zug um Zug gegen Übertragung der Wertpapiere auf den Schädiger.47 Andere beschränken die deliktsrechtliche Kapitalmarktinformationshaftung am Sekundärmarkt auf den Ersatz des sog. Kursdifferenzschadens.48 Der Kursdifferenzschaden besteht darin, dass der Anleger zu teuer gekauft beziehungsweise zu billig verkauft hat.49 Der Kursdifferenzschaden erfasst also den Unterschiedsbetrag zwischen dem Preis, zu dem der Anleger tatsächlich erworben beziehungsweise veräußert hat, und demjenigen, zu dem er im Fall ordnungsgemäßer Unternehmensberichterstattung hypothetisch erworben beziehungsweise veräußert hätte.50 Nach der Rechtsprechung können die Anleger alternativ entweder den Transaktionsschaden oder den Kursdifferenzschaden ersetzt verlangen.51
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Umstritten sind auch die Anforderungen an die haftungsbegründende Kausalität. Der BGH und einige Stimmen im Schrifttum gehen davon aus, dass die haftungsbegründende Kausalität stets – unabhängig von dem ersetzbaren Schaden – die konkrete Transaktionskausalität voraussetzt, also die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und der Investitionsentscheidung.52 Andere meinen, dass auf der Tatbestandsebene die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und der Preisbeeinflussung für den Anspruch auf Ersatz des Kursdifferenzschadens ausreicht.53
44 Hellgardt, Kapitalmarktdeliktsrecht, 2008, S. 492 ff., 508 ff.; Wagner, ZGR 2008, 495, 507 ff. meint, dass der Transaktionsschaden jedenfalls dann nicht zu ersetzen sei, wenn er den Kursdifferenzschaden um mehr als 30 % übersteigt und stützt sich dabei auf § 251 Abs. 2 BGB. 45 Wagner in MünchKomm/BGB, 8. Aufl. 2020, § 826 Rz. 120; Poelzig in EBJS, 4. Aufl. 2020, § 98 WpHG Rz. 29, jeweils m.w.N. 46 Der Regelfall dürfte der zu teure Erwerb von Wertpapieren sein. Denkbar ist aber auch ein zu günstiger Verkauf von Wertpapieren. In diesem Fall wäre die Übertragung von Wertpapieren an den Geschädigten Zug um Zug gegen die Zahlung des Erlöspreises geschuldet. 47 Wagner in MünchKomm/BGB, 8. Aufl. 2020, § 826 Rz. 120; Poelzig in EBJS, 4. Aufl. 2020, § 98 WpHG Rz. 29, jeweils m.w.N. 48 Ekkenga/Kuntz in Soergel, 13. Aufl. 2014, § 249 BGB Rz. 26. 49 Poelzig in EBJS, 4. Aufl. 2020, § 98 WpHG Rz. 27 f. m.w.N. 50 Poelzig in EBJS, 4. Aufl. 2020, § 98 WpHG Rz. 27 f. m.w.N. 51 BGH v. 28.11.2005 – II ZR 246/04 – ComROAD II, AG 2007, 324; BGH v. 15.2.2006 – II ZR 246/04, ZIP 2007, 679. 52 Buck-Heeb, AG 2022, 337; Bork, ZRI 2022, 201. 53 Schneider, Schutzgesetzhaftung für fehlerhafte Rechnungslegung, 2021, S. 228 ff.; Baums, ZHR 167, 139, 182; Wagner, ZGR 2008, 495, 528 f.; Klöhn, ZHR 178 (2014), 671, 705 f.
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Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen | Rz. 23
b) Stellungnahme Für den Inhalt der deliktsrechtlichen Kapitalmarktinformationshaftung am Sekundärmarkt ist nach der jeweiligen Anspruchsgrundlage zu differenzieren: Für Ansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB ist stets auf den Schutzzweck des konkret verletzten Schutzgesetzes abzustellen. Entscheidend ist, ob das Schutzgesetz ausschließlich die individuelle Willensfreiheit oder – wie die §§ 114 ff. WpHG – (auch) ein allgemeines Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Marktes und die Marktpreisbildung schützt. Während im ersten Fall die Transaktionskausalität erforderlich ist, genügt im zweiten Fall die Preiskausalität für den Ersatz des Kursdifferenzschadens.
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Der Tatbestand des § 826 BGB ist dagegen nach überzeugender Auffassung nur erfüllt, wenn eine Transaktionskausalität, also die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und der Anlageentscheidung, dargelegt und bewiesen wird. Das ergibt sich aus dem Schutzzweck, den § 826 BGB im Rahmen der Kapitalmarktinformationshaftung54 verfolgt. Zwar ist § 826 BGB, anders als § 823 Abs. 1 BGB, gerade nicht auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter beschränkt und erfasst auch bloße Vermögensschäden.55 § 826 BGB schützt nach der Rechtsprechung des BGH aber ausschließlich die Integrität der freien Willensbildung56 und gerade nicht ein allgemeines Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Marktes und die Marktpreisbildung.57 Daher kommt es für die deliktsrechtliche Kapitalmarktinformationshaftung gemäß § 826 BGB stets darauf an, ob der Schaden durch die informationelle Beeinflussung der Willensbildung des geschädigten Anlegers entstanden ist.
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Auch auf der Rechtsfolgenseite ergibt sich somit, dass stets nur der Transaktionsschaden ersatzfähig ist.58 Der Kursdifferenzschaden ist auf der Rechtsfolgenseite – insoweit entgegen der Auffassung des BGH59 – auch dann nicht zu ersetzen, wenn tatbestandlich eine Transaktionskausalität nachgewiesen worden ist. Auch im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität ist der Schutzzweck der Norm zu beachten. Der Schutzzweck des § 826 BGB erfasst auf der Rechtsfolgenseite, genauso wie auf der Tatbestandsseite, nur die Integrität der freien Willensbildung. Der Kursdifferenzscha-
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54 Der Schutzzweck der Norm ist nicht generell, sondern bezogen auf die konkret verletzte Verhaltensnorm zu beurteilen, BGH v. 14.10.1971 – VII ZR 313/69, NJW 1972, 36, 37; Wagner in MünchKomm/BGB, 8. Aufl. 2020, § 826 Rz. 49. 55 RG v. 11.3.1912 – VI 442/11, RGZ 79, 55, 58 – juris; RG v. 11.4.1901 – VI 443/00 O, RGZ 48, 114, 124 – juris; BGH v. 9.2.2009 – II ZR 292/07, NJW 2009, 2127 – Sanitary; Förster in BeckOK/BGB, 63. Ed. 1.8.2022, § 826 Rz. 25; der Schaden könnte somit auch darin zu sehen sein, dass ein Finanzinstrument zu teuer erworben/zu billig veräußert wurde; der Geschädigte also eine zu hohe Gegenleistung geleistet hat beziehungsweise eine niedrige Gegenleistung erhalten hat. 56 Ähnlich Beneke, Vertrauensgedanke und Rechtsfortbildung, 2018, S. 153 („Schutz von berechtigtem, konkret-personenbezogenen Vertrauen“). 57 So: BGH v. 4.6.2007 – II ZR 173/05 – ComROAD V, AG 2007, 623 ff.; BGH v. 7.1.2008 – II ZR 229/05, NZG 2008, 382, 384 Rz. 15 f.; Buck-Heeb, AG 2022, 337, 340; Bork, ZRI 2022, 201, 203. 58 Vgl. auch: Ekkenga/Kuntz in Soergel, 13. Aufl. 2014, § 249 BGB Rz. 26. 59 BGH v. 28.11.2005 – II ZR 246/04 – ComROAD II, AG 2007, 324; BGH v. 15.2.2006 – II ZR 246/04, ZIP 2007, 679.
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den stellt auch kein Minus zum Transaktionsschaden dar, sondern ist kein vom Schutzzweck des § 826 BGB erfasster Schaden. Die individuelle Willensfreiheit des Anlegers ist beim Kursdifferenzschaden nicht berührt, da der Anleger die Anlageentscheidung ohnehin getroffen hätte. Überdies müsste der Anspruchsteller im Zivilprozess widersprüchlich vortragen:60 Er müsste einerseits – für die Darlegung der Transaktionskausalität – behaupten, dass er von der Anlageentscheidung abgesehen hätte, wenn er von der Pflichtverletzung gewusst hätte und zugleich – für die Darlegung des Schadens – behaupten, dass er die Anlageentscheidung dennoch getroffen hätte, wenn er von der Pflichtverletzung gewusst hätte. Die Aussagen widersprechen sich und es läge ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht nach § 138 ZPO vor.61 c) Beweiserleichterungen 24
Das „Nadelöhr“62 zur Begründung der deliktsrechtlichen Kapitalmarktinformationshaftung ist daher die haftungsbegründende Kausalität: Der Anleger muss als Anspruchsteller für die Transaktionskausalität grundsätzlich darlegen und beweisen, dass die Anlageentscheidung konkret auf der fehlerhaften Kapitalmarktinformation beruht; also in der Regel, dass er bei ordnungsgemäßer Unternehmensberichterstattung vom Erwerb der Wertpapiere Abstand genommen hätte. Da eine gesetzliche Beweislastumkehr wie für die spezialgesetzliche Prospekthaftung in § 12 Abs. 2 Nr. 1 WpPG (s. II. 1.) für die deliktsrechtlichen Ansprüche wegen fehlerhafter Unternehmensabschlüsse nicht existiert, wird diskutiert, ob und inwieweit dem Anleger Beweiserleichterungen im Rahmen der deliktsrechtlichen Haftung für die fehlerhafte Unternehmensberichterstattung zugutekommen.63
25
Das OLG München hatte jüngst in zwei Hinweisbeschlüssen zu deliktsrechtlichen Ansprüchen am Sekundärmarkt in Sachen Wirecard – wie der BGH im Falle einer Veröffentlichung am Primärmarkt – sowohl eine positive Anlagestimmung als auch einen Anscheinsbeweis zugunsten der Anleger bejaht.64 Demnach soll die allgemeine Lebenserfahrung dafür sprechen, dass Anleger die Wertpapiere bei ordnungsgemäßer Berichterstattung am Sekundärmarkt nicht erworben hätten. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen der Veröffentlichung in einem Prospekt am Primärmarkt und der Veröffentlichung im Rahmen der Regelpublizität am Sekundärmarkt. Denn anders als Wertpapierprospekte am Primärmarkt bezweckt die Regelpublizität am Sekundärmarkt keine umfassende Information des Anlegers, sondern informiert nur punktuell über einen bestimmten Ausschnitt des Unterneh-
60 Vgl. ähnlich bereits Buck-Heeb, AG 2022, 337, 340, die dieses Argument bereits bei der haftungsbegründenden Kausalität anführt. 61 Buck-Heeb, AG 2022, 337, 340. 62 Körner, NJW 2004, 3386, 3387. 63 OLG München v. 9.12.2021 – 8 U 6063/21, AG 2022, 368; OLG München v. 13.12.2021 – 3 U 6014/21, AG 2022, 373; Buck-Heeb, AG 2022, 337, 341; Bork, ZRI 2022, 201, 205 jeweils m.w.N. 64 OLG München v. 9.12.2021 – 8 U 6063/21, AG 2022, 368; OLG München v. 13.12.2021 – 3 U 6014/21, AG 2022, 373.
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mens.65 Sie beschränkt sich nur auf ausschnittartige Informationen, die stichtagsbezogen sind und ausschließlich die Vergangenheit betrachten.66 Dagegen erfolgt, anders als bei Wertpapierprospekten, kein unmittelbarer Ausblick in die Zukunft.67 So hat auch der BGH Beweiserleichterungen im Zusammenhang mit der Haftung für fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen regelmäßig zurückgewiesen, da diese ebenfalls nur punktuelle, ausschnittartige Informationen liefern.68 Abzuwarten bleibt, wie der BGH dies im Zusammenhang mit der Regelpublizität sieht. Das Fehlen einer allgemeinen Beweislastumkehr aufgrund einer positiven Anlagestimmung oder eines Anscheinsbeweises schließt freilich nicht aus, dass der Nachweis in einem außergewöhnlichen Fall – wie Wirecard – dennoch gelingt.
IV. Fazit 1. Sämtliche Akteure – der Emittent, der Vorstand und der Aufsichtsrat, der Abschlussprüfer und die BaFin – haften geschädigten Anlegern für die Veröffentlichung fehlerhafter Unternehmensabschlüsse am Primärmarkt und am Sekundärmarkt, wenn sie vorsätzlich ihre Pflichten verletzt haben. Bei fahrlässigen Verstößen ist zu differenzieren. 2. Werden fehlerhafte Unternehmensberichte am Primärmarkt in einem Börsenzulassungs- oder Verkaufsprospekt veröffentlicht, greift die spezialgesetzliche Prospekthaftung bei grob fahrlässigem Verhalten und verpflichtet insbesondere den Emittenten als Prospektverantwortlichen. Die anderen Akteure haften für Veröffentlichungen am Primärmarkt bei Fahrlässigkeit grundsätzlich nicht. 3. Werden fehlerhafte Unternehmensberichte am Sekundärmarkt veröffentlicht, hängt die Kapitalmarktinformationshaftung der beteiligten Akteure von der Einordnung der jeweiligen Pflichten als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB beziehungsweise im Falle der BaFin als drittgerichtete Amtspflicht gemäß § 839 BGB ab. Dies kann – wie insbesondere für Verstöße des Emittenten gegen die Regelpublizität – aus unionsrechtlichen Gründen zur effektiven Durchsetzung der Transparenzrichtlinie geboten sein. 4. Allerdings eignet sich das allgemeine Deliktsrecht für die Kapitalmarktinformationshaftung wegen der Veröffentlichung fehlerhafter Unternehmensberichte nur 65 Vgl. etwa: Fehrenbacher in MünchKomm/HGB, 4. Aufl. 2020, § 325 Rz. 7; Merk in BeckOK/HGB, 38. Ed. 15.10.2022, § 242 Rz. 2. 66 Merk in BeckOK/HGB, 38. Ed. 15.10.2022, § 242 Rz. 2 m.w.N. 67 Merk in BeckOK/HGB, 38. Ed. 15.10.2022, § 242 Rz. 2 m.w.N. 68 BGH v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, NJW 2004, 2664 – Infomatec; BGH v. 28.11.2005 – II ZR 246/04, NZG 2007, 346 Rz. 8; BGH v. 26.6.2006 – II ZR 153/05, NZG 2007, 269 Rz. 5; BGH v. 4.6.2007 – II ZR 147/05, NZG 2007, 708 Rz. 16; BGH v. 4.6.2007 – II ZR 173/05, NZG 2007, 711 Rz. 16; BGH v. 7.1.2008 – II ZR 229/05, NZG 2008, 382 Rz. 16; BGH v. 3.3.2008 – II ZR 310/0, NZG 2008, 386 Rz. 16 – jeweils ComROAD; bestätigt von BGH v. 4.6.2013 – VI ZR 288/12, NZG 2013, 992; zustimmend: Poelzig, ZBB 2021, 73, 82 f.; Bork, ZRI 2022, 201, 206.
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Rz. 25 | Kapitalmarktinformationshaftung bei fehlerhaften Unternehmensabschlüssen
bedingt. Denn es hat in erster Linie den Schutz individueller Interessen und nicht die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes im Blick. Um den Besonderheiten des Kapitalmarktes ausreichend Rechnung zu tragen, wäre die Einführung einer spezialgesetzlichen Haftung nach dem Vorbild der Haftung für Ad-hoc-Mitteilungen beschränkt auf grob fahrlässige oder vorsätzliche Verstöße gegen die Regelpublizität sinnvoll. Mit dem Vorschlag für ein Kapitalmarktinformationshaftungsgesetz, das vor einigen Jahren diskutiert wurde, liegen bereits wertvolle Vorarbeiten auf dem Tisch.
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Berichterstattung über fehlerhafte Unternehmensabschlüsse und Pressefreiheit Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek Wirtschaftsuniversität Wien I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das System des Art. 21 MAR 1. Tatbestand … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. … und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . .
1 4 14
III. Grundsätze der Presse- und Kommunikationsfreiheit und ihre Übertragbarkeit auf Art. 21 MAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Presse als Marktakteur oder Marktkontrolleur? . . . . . . . . . . . . . .
25 38
I. Einleitung Der Kapitalmarkt beruht auf Information. Wesentliches Anliegen des Kapitalmarktrechts ist es daher auch, eine entsprechende Information der Akteure am Kapitalmarkt1 sicherzustellen und Informationsasymmetrien auszugleichen bzw. ihnen vorzubeugen. Falsche oder irreführende kapitalmarktrelevante Informationen verletzen als Marktmanipulation die Integrität des Kapitalmarkts (und gegebenenfalls die Rechte einzelner Akteure); vergleichbar wird die Integrität des Kapitalmarkts beeinträchtigt, wenn Insiderinformationen gegenüber bestimmten Personen offengelegt werden und solcherart Informationsvorteile einzelner Akteure am Kapitalmarkt geschaffen werden.2 Aus Sicht des Kapitalmarktrechts ist es daher wesentlich, dass kapitalmarktrelevantes Informationsverhalten den einschlägigen Regelungen zur Sicherung der Integrität des Kapitalmarkts entspricht.
1
Die Information der Öffentlichkeit ist Aufgabe und Geschäft der Presse wie der Massenmedien im Allgemeinen.3 Im Interesse einer offenen geistigen Auseinandersetzung und eines öffentlichen Meinungsbildungsprozesses, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft wesensnotwendig sind, ist der Presse nicht nur die Aufgabe verfassungsrechtlich garantiert, Informationen und Ideen über Angelegenheiten von politischem und sonstigem öffentlichen Interesse zu verbreiten, sondern es ist auch das
2
1 Eine wesentliche Informationsaufgabe am Kapitalmarkt liegt dabei bei den Finanzintermediären, siehe dazu nur Kalss, Kapitalmarktrecht, in Holoubek/Potacs (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht II, 2019, S. 3, 8 f. 2 Vgl. näher wiederum nur Kalss, Kapitalmarktrecht, S. 29 ff. 3 Der Beitrag stellt im Folgenden auf die Presse pars pro toto für analoge wie digitale Massenmedien ab, wobei grundsätzlich die Aussagen zur Presse mutatis mutandis auch auf elektronische Massenmedien übertragbar sind. Auf einzelne Differenzierungen wird punktuell im Text eingegangen.
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Rz. 2 | Berichterstattung über Unternehmensabschlüsse und Pressefreiheit
Recht der Öffentlichkeit, diese Informationen zu erhalten.4 Ihre Aufgabe als „public watchdog“ kann die Presse vielfach nur erfüllen, wenn sie auf vertrauliche Informationen zurückgreift, die die Spur zur Aufdeckung von Missständen von öffentlichem Belang legen. Die Geschichte der Pressefreiheit von New York Times5 über Walraff6 bis zu Observer and Guardian7 ist ein eindrucksvoller Beleg für diese Zusammenhänge. 3
Damit offenbart sich ein Konflikt, dem Art. 21 MAR8 Rechnung zu tragen trachtet, wenn diese Bestimmung die Weitergabe oder Verbreitung von kapitalmarktrelevanten Informationen in den Medien im Besonderen für journalistische Zwecke adressiert und insoweit die Bestimmungen über Insiderinformationen in Art. 10 MAR, über Marktmanipulation durch falsche oder irreführende Informationen im Sinne von Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR und für Anlageempfehlungen gemäß Art. 20 MAR im Lichte der Pressefreiheit differenzierend angewendet wissen will. Art. 21 MAR verweist damit für die kapitalmarktrechtliche Beurteilung eines bestimmten medialen Informationsverhaltens auf die Regeln der Pressefreiheit. Was das bedeutet und welche Funktion der Presse in Bezug auf den Kapitalmarkt damit zukommt, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Dazu dient zunächst ein Überblick über das Regelungssystem des Art. 21 MAR (im Folgenden Punkt II.). Daran schließen sich Überlegungen, inwieweit Grundsätze der Presse- und Kommunikationsfreiheit in das System des Art. 21 MAR zu übertragen sind (Punkt III.). Am Schluss steht ein Resümee zur Bedeutung der Presse und damit der Massenmedien für den Kapitalmarkt (Punkt IV.).
II. Das System des Art. 21 MAR 1. Tatbestand … 4
Art. 21 MAR kommt zur Anwendung, wenn – für journalistische Zwecke oder andere Ausdrucksformen – in den Medien – Informationen – offengelegt oder verbreitet oder Empfehlungen gegeben oder verbreitet
5
werden. Für derartiges Informationshandeln gilt sodann die noch näher zu behandelnde Rechtsfolge einer durch Pressefreiheit und journalistische Berufs- und Stan4 Zu diesem wesentlich demokratisch funktionalen Ansatz des Verständnisses von Presseund Medienfreiheit in der Rechtsprechung des EGMR siehe nur EGMR v. 26.4.1979, Nr. 6538/74 – Sunday Times; EGMR v. 26.11.1991, Nr. 13.585/88 – Observer and Guardian. 5 New York Times Co. v. United States, 403 U.S. 713 (1971). 6 BVerfG v. 25.1.1984 – 1 BvR 272/81, BVerfGE 66, 116 – Springer/Walraff. 7 EGMR v. 26.11.1991, Nr. 13.585/88 – Observer and Guardian. 8 Verordnung (EU) 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung).
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Berichterstattung über Unternehmensabschlüsse und Pressefreiheit | Rz. 7
desregeln modifizierten Anwendung zentraler Schutzbestimmungen der MAR zur Sicherung der Integrität des Kapitalmarkts vor diesen beeinträchtigenden Informationen. Die Vorgängerregelung des Art. 1 Z. 2 lit. c Marktmissbrauchsrichtlinie9 hatte noch in Bezug auf falsche oder irreführende Informationen über die Medien eine an die personenbezogene Tätigkeit als Journalist anknüpfende10 Berücksichtigung einschlägiger Berufsregeln vorgesehen.11 Demgegenüber enthält Art. 21 MAR nach herrschender Auffassung12 kein „Journalistenprivileg“ im engeren Sinn, sondern stellt funktionell zunächst einmal maßgeblich darauf ab, dass entsprechende Informationen in den Medien „für journalistische Zwecke“ weitergegeben oder verbreitet werden. Art. 21 MAR ist allerdings tatbestandlich nicht auf Informationshandeln zu journalistischen Zwecken beschränkt, sondern bezieht ausdrücklich auch „andere Ausdrucksformen“ mit ein.
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Damit sind schwierige Unterscheidungen angesprochen, die auch im kommunikationsfreiheitlichen Kontext nicht einfach zu bewältigen sind. Die grundrechtlichen Garantien der Pressefreiheit hat die Rechtsprechung zunächst in Bezug auf Presseunternehmen und damit Einrichtungen entwickelt, die als Intermediär in journalistisch professioneller Weise „Nachrichten und Ideen“ für den öffentlichen Diskurs, also den „Marktplatz der Meinungen“ bereitstellen. Entscheidend ist in dieser Hinsicht zunächst die Funktion als Medium, dem für diesen öffentlichen Diskurs eine entscheidende Auswahl- und Qualitätssicherungsfunktion zukommt. Die Presse wie die Massenmedien im Allgemeinen filtern die für den öffentlichen Diskurs relevanten Informationen und sie sichern über entsprechende professionelle Berufsstandards im Sinne der Einhaltung der Regeln journalistischer Sorgfalt die Integrität dieser Informationen. Diese wesentliche Rolle der Presse (sowie der elektronischen Massenmedien) als Intermediär verkennt natürlich nicht, dass – um ein auf den Rundfunk bezogenes Diktum des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen13 – journalistische Informationen für die Öffentlichkeit nicht nur ein Medium, sondern ein eminenter Faktor der öffentlichen Meinungsbildung sind, genauso wenig wie übersehen wird, dass unterschiedliche Qualitätsstandards in der journalistischen Berichterstattung nach dem Konzept der Pressefreiheit über ein außenplurales Vielfaltsmodell ausgeglichen werden.14
7
9 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003. 10 „Bei Journalisten, die in Ausübung ihres Berufs handeln“. 11 Dazu näher Klöhn/Büttner, Finanzjournalismus und neues Marktmissbrauchsrecht, WM 2016, 2241, 2243. 12 Siehe nur Klöhn in Klöhn (Hrsg.), Marktmissbrauchsverordnung, 2018, Art. 21 MAR Rz. 9. 13 Siehe BverfG v. 28.2.1961 – 2 BvG 1 u. 2/60, BVerfGE 12, 205: „Der Rundfunk ist mehr als nur „Medium“ der öffentlichen Meinungsbildung; er ist ein eminenter „Faktor“ der öffentlichen Meinungsbildung. 14 Ob und inwieweit diese idealtypischen Annahmen für die Funktion der Presse als Intermediär insbesondere unter digitalen Kommunikationsbedingungen (weiterhin) zutreffen, ist eine andere, hier nicht weiter zu vertiefende Frage.
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Rz. 8 | Berichterstattung über Unternehmensabschlüsse und Pressefreiheit
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Dieses medienunternehmensspezifische Verständnis von Presse- und Rundfunkfreiheit hat insbesondere die Rechtsprechung des EGMR in der Folge auch auf nicht journalistische Einrichtungen übertragen, die sich gleichwohl die Information der Öffentlichkeit über bestimmte Angelegenheiten von öffentlichem Interesse und eine einschlägige Meinungsbildung im öffentlichen Diskurs zur Zielsetzung machen: sogenannte „social watchdogs“, also Gruppierungen und Einrichtungen der Zivilgesellschaft, die verschiedenste soziale, umweltbezogene, regierungskritische und viele vergleichbare Anliegen bündeln.15 Die Möglichkeiten und Veränderungen (des Zugangs zu) öffentlicher Kommunikation durch digitale Verbreitungswege haben schließlich dazu geführt, dass in spezifischen Konstellationen auch einzelne – der typische Blogger – als „private watchdog“ funktional in die Nähe von Presse und Rundfunk gerückt wurden, wenn sie im Einzelfall vergleichbare Aufgaben der Verbreitung von Nachrichten und Ideen von öffentlichem Interesse wahrnehmen.16 Was das etwa für eine differenzierte Anwendung kommunikationsgrundrechtlicher Inhalte bedeutet, insbesondere ob und inwieweit die aus demokratisch funktionaler Perspektive entwickelten Schutzstandards für Presse und Rundfunk auch für solche „social“ und „private watchdogs“ gelten, ist Gegenstand der Diskussion.17 Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit bestimmte „Presseprivilegien“ wie journalistischer Quellenschutz oder der Freiheitsschutz bei Wahrung journalistischer Sorgfaltsstandards, die mit Blick auf die demokratische Funktion der Presse als Intermediär entwickelt worden sind, auch für derartige social oder private watchdogs zur Anwendung kommen (sollen). Die Rechtsprechung des EGMR tendiert zu einer einzelfallbezogenen Beurteilung, die aber grundsätzlich eine solche Übertragung vornimmt.
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Art. 21 MAR trägt diesen Entwicklungen offensichtlich auf zweifache Weise Rechnung. Zum einen ist journalistisches Informationshandeln nicht zwingend an eine einschlägige Berufsausübung gekoppelt, sodass auch entsprechend journalistisch ausgewählte und bearbeitete Informationen von Art. 21 MAR erfasst sind, auch wenn sie nicht in einem Presse-, Rundfunk- oder Medienunternehmen im engeren Sinn, sondern etwa über einschlägige Informationsplattformen der oben erwähnten „social watchdogs“ erfolgen (solange eben eine entsprechende journalistische Bearbeitung
15 Siehe nur EGMR v. 22.4.2013 (GK), Nr. 48.876/08 – Animal Defenders International, Rz. 103; EGMR v. 28.11.2013, Nr. 39.534/07 – Österreichische Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung eines wirtschaftlich gesunden land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes, Rz. 34; EGMR v. 14.4.2009, Nr. 37.374/05 – Tarsasag a szabadsagjogokert, Rz. 27. 16 Vgl. zu Whistleblowern EGMR v. 12.2.2008 (GK), Nr. 14.277/04 – Guja, Rz. 77; EGMR v. 21.7.2011, Nr. 28.274/08 – Heinisch, Rz. 69. 17 Zu den Ausgangsbedingungen digitaler Kommunikation statt vieler Lehofer, Pluralismus unter den Bedingungen des Internets, in Berka/Grabenwarter/Holoubek (Hrsg.), Meinungsvielfalt im Rundfunk und in den Online-Medien, 2014, S. 93 ff.; zur einschlägigen Diskussion etwa Bezemek, Die Unabhängigkeit der Medien vom Staat, in Berka/Grabenwarter/Holoubek (Hrsg.), Unabhängigkeit der Medien, 2011, S. 23 (insb. S. 30 ff.); Holoubek, „Social watchdogs“: nicht professionell organisierte Medienmacher im Lichte der Medienfreiheit, in Berka/Holoubek/Leitl-Staudinger (Hrsg.), BürgerInnen im Web, 2016, S. 1 ff.
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Berichterstattung über Unternehmensabschlüsse und Pressefreiheit | Rz. 12
der Information erfolgt). Insofern knüpft Art. 21 MAR funktions- und nicht berufsbezogen an journalistischem Informationshandeln an. Zum anderen knüpft diese Bestimmung über die Wendung, dass auch „andere Ausdrucksformen in den Medien“ erfasst sind, am diesbezüglich weiten Schutzbereich der Kommunikationsfreiheit und der erwähnten Einbeziehung auch von „private watchdogs“ in einen funktionalen Medienfreiheitsschutz, wie er grundsätzlich für Medienunternehmen besteht, an und erfasst damit grundsätzlich auch Informationshandeln, das nicht journalistisch, sondern aus sonstigen Gründen individuell motiviert ist. Diese Unterscheidung zwischen Informationshandeln zu journalistischen Zwecken und sonstiger medialer Kommunikation, die freilich unter dem Schutz der Kommunikationsfreiheit steht, spiegelt sich auf der Rechtsfolgenseite des Art. 21 MAR wider, wenn dort im Zusammenhang mit derartigem Informationshandeln nicht zu journalistischen Zwecken auf die Freiheit der Meinungsäußerung (und nicht die Regeln der Pressefreiheit) abgestellt wird. Das bedeutet auch eine gewisse Differenzierung auf der Rechtsfolgenseite.
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Tatbestandlich lässt sich fragen, ob als „andere Ausdrucksformen“ von Art. 21 MAR jegliche mediale kapitalmarktbezogene Information erfasst sein soll, oder ob es zusätzlich darauf ankommt, dass das individuelle Informationshandeln mit der Zielsetzung einer Information der Öffentlichkeit über für diese relevante „Nachrichten und Ideen“ erfolgt, also ein Informationshandeln vorliegt, dass – wie beispielsweise bei Whistleblowern in bestimmtem Kontext – unter demokratisch funktionalen Gesichtspunkten journalistischem Informationshandeln zumindest nahe kommt. Geht man, was mit guten Gründen argumentiert werden kann,18 davon aus, dass derartiges individuelles, zunächst nicht journalistisch motiviertes, aber im öffentlichen Interesse liegendes Informationshandeln durch die Meinungsäußerungsfreiheit (und nicht im engeren durch die Pressefreiheit) gedeckt ist, aber aus dem Grund der demokratisch funktionalen Bedeutung des Informationshandelns entsprechende Abwägungsgesichtspunkte aus der Dogmatik der Pressefreiheit zu übertragen sind, dann fügt sich eine solche, „andere Ausdrucksformen“ in entsprechender Weise tatbestandlich eingrenzende Auslegung auch vor dem Hintergrund der durch Abstellen auf Pressefreiheit einer- und Meinungsäußerungsfreiheit andererseits differenzierenden Rechtsfolgenseite in das kommunikationsfreiheitsrechtliche Gesamtbild. Art. 21 MAR bedeutet eben eine gewisse Privilegierung bestimmten Informationshandelns aufgrund des an diesem Informationshandeln bestehenden öffentlichen Interesses und will nicht jegliches kapitalmarktbezogene Informationshandeln in den Medien zu welchem Zweck auch immer erfassen.
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Von Art. 21 MAR erfasst sind Informationen im weiteren Sinn der Presse- und Meinungsfreiheit, das heißt sowohl Informationen im engeren Sinn als auch Meinungen, Kommentare und Bewertungen. Gerade auch im Hinblick auf Informationshandeln für journalistische Zwecke gehört beides untrennbar zusammen (ungeachtet des Umstands, dass journalistische Sorgfaltsregeln zur Transparenz verpflichten können, wo Informationsvermittlung und wo die persönliche Bewertung dieser Informationen
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18 Näher Holoubek, „Social watchdogs“, insb. S. 9 ff.
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Rz. 12 | Berichterstattung über Unternehmensabschlüsse und Pressefreiheit
stattfindet). Wie der EGMR im Zusammenhang mit Art. 10 EMRK festgestellt hat, lässt sich die Aufgabe der Presse nicht auf eine Informationsaufgabe im engeren Sinn, die die Bewertung der Informationen der sonstigen Öffentlichkeit überlässt, reduzieren; vielmehr gehört auch die kritische Bewertung zur Aufgabe der Presse, damit jene „offene geistige Auseinandersetzung“19 gewährleistet wird, auf die Art. 10 EMRK entscheidend abstellt.20 Art. 21 MAR macht damit aber unzweifelhaft deutlich, dass auch der Kapitalmarkt Gegenstand eben jener kritischen öffentlichen Auseinandersetzung ist, die in einer demokratischen Gesellschaft nach dem Konzept des Art. 10 EMRK alle relevanten gesellschaftlichen (wie staatlichen) Teilbereiche erfasst. Es besteht auch für den Kapitalmarkt keine „Bereichsausnahme“ von öffentlicher Diskussion. Darauf wird zurückzukommen sein. 13
Art. 21 MAR erfasst grundsätzlich einschlägiges Informationshandeln in den Medien, also mediales Informationshandeln. Das schließt nicht aus, dass Kommunikation, die mit derartigem medialen Informationshandeln in einem Zusammenhang steht, also etwa die redaktionsinterne Kommunikation vor einer entsprechenden medialen Veröffentlichung, ebenso dem Schutz des Art. 21 MAR unterfällt und insbesondere Art. 10 MAR auch diesbezüglich entsprechend im Lichte der Pressefreiheit zu verstehen ist.21 2. … und Rechtsfolgen
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Ist ein Informationshandeln von Art. 21 MAR tatbestandlich erfasst, dann gilt für dieses Informationshandeln im Hinblick auf kapitalmarktrechtliche Informationsbeschränkungen Besonderes. Bei der Beurteilung einschlägigen Informationshandelns für die Zwecke der Anwendung der Bestimmungen über – unrechtmäßige Offenlegung von Insiderinformationen (Art. 10 MAR), – Marktmanipulation durch falsche oder irreführende mediale Information (Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR) und – Anlageempfehlungen (Art. 20 MAR)
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sind „die Regeln der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien sowie der journalistischen Berufs- und Standesregeln zu berücksichtigen“.
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Diese besondere Berücksichtigung, dass es sich um ein von Art. 21 MAR erfasstes Informationshandeln für journalistische Zwecke oder andere Ausdrucksformen in den Medien handelt, gilt freilich dann nicht, wenn dieses in der Absicht, einen individuellen Vorteil (für sich oder nahestehende Personen) zu erzielen oder in der Absicht erfolgt, den Markt in Bezug auf das Angebot von Finanzinstrumenten, die Nachfrage danach oder ihren Kurs irrezuführen. Persönliche Bereicherung oder Irreführungsabsicht schließen also die Anwendung des Art. 21 MAR aus. 19 VfSlg 12.086/1989. 20 Siehe EGMR v. 8.7.1986, Nr. 9815/82 – Lingens. 21 Vgl. dazu Klöhn/Büttner, WM 2016, 2243, Fn. 23.
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Im Hinblick auf diese Rechtsfolgenanordnungen wird in der Literatur typischerweise die Bedeutung von Art. 21 MAR insoweit als begrenzt angesehen, als dieser Bestimmung zunächst einmal vor allem klarstellende Wirkung im Hinblick auf die Berücksichtigung der Pressefreiheit nach den einschlägigen grundrechtlichen Verbürgungen, insbesondere des Art. 11 GRC,22 zukommt.23 Dennoch darf hier eines nicht übersehen werden: Art. 21 MAR transformiert die auch sonst gebotene grundrechtskonforme Interpretation in eine (einfachgesetzliche) Anordnung einer EU-Verordnung. Weil Art. 21 MAR i.V.m. den einschlägigen Regelungen der Art. 10, 12 Abs. 1 lit. c und 20 MAR für die diese Bestimmungen jeweils vollziehende Behörde zukommt, wird solcherart die einschlägige grundrechtliche Vorgabe zum unmittelbaren gesetzlichen Anwendungsgebot für diese Behörde. Es ist also nicht mehr „nur“ eine grundrechtskonforme Interpretation, die die Behörde zu einer entsprechenden Anwendung der genannten Regelungen in Art. 10, 12 Abs. 1 lit. c und 20 MAR verhält, sondern ein eben auch aus Art. 21 MAR erfließendes Gebot, das insoweit zu einem entsprechenden Normgehalt der Art. 10, 12 Abs. 1 lit. c und 20 MAR führt, sodass eine mangelnde Berücksichtigung der Pressefreiheit unmittelbar eine Gesetzwidrigkeit wegen Verstoßes gegen die genannten Bestimmungen der MAR darstellt.24 Sollten einer entsprechenden Anwendung des Art. 21 MAR i.V.m. den verwiesenen kapitalmarktrechtlichen Informationsregelungen in der MAR innerstaatliche Bestimmungen entgegenstehen, so könnte, ginge es um eine entsprechende Restriktion eines Informationshandelns etwa zu journalistischen Zwecken, die Behörde selbst diese innerstaatlichen Bestimmungen kraft Anwendungsvorrangs der genannten Bestimmungen der MAR außer Betracht lassen.
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Weiters ist wesentlich, dass Art. 21 MAR nicht nur eine entsprechende Berücksichtigung der Presse- und Meinungsfreiheit anordnet, sondern ebenso eine der journalistischen Berufs- und Standesregeln. Damit werden Regelungen der Selbstregulierung gesetzlich insoweit für maßgeblich erklärt, als sie verbindlich einen Maßstab für die Auslegung von Art. 10, 12 Abs. 1 lit. c und 20 MAR darstellen.25
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In diesem Zusammenhang stellt sich damit vor allem einmal die Frage, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass bestimmtes Informationshandeln auf Basis
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22 Grundsätzlich fällt die MAR-Verordnung naturgemäß in den Anwendungsbereich der GRC; wo die Verordnung freilich Anwendungsspielräume lässt, können an sich im Wege entsprechender verfassungs- oder konventionskonformer Auslegung auch entsprechende Medienfreiheitsverbürgungen des innerstaatlichen Verfassungsrechts bzw. der EMRK heranzuziehen seien, wenn man von einer entsprechenden „doppelten Bedingtheit“ des einschlägigen Vollzughandelns (Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, 13. Aufl. 2022, Rz. 201a) insbesondere der für die Vollziehung der Art. 10, 12 und 20 MAR zuständigen Aufsichtsbehörde (und in der Folge der Verwaltungsgerichte) ausgeht. 23 Klöhn/Büttner, WM 2016, 2242; Hartlieb in Gruber (Hrsg.), BörseG 2018, 2020, Art. 21 MAR, Rz. 4. 24 Ob Art. 21 MAR den innerstaatlichen Anforderungen eines strikt verstandenen Determinierungsgebots des Legalitätsprinzips entsprechen würde, kann im Hinblick auf die Regelung in einer EU-Verordnung dahinstehen. 25 Siehe zu dieser von ihnen als „Erhärtung weichen Rechts“ bezeichneten Regelungstechnik mit weiteren Hinweisen Klöhn/Büttner, WM 2016, 2242, 2246 f.
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journalistischer Sorgfaltsstandards erfolgt. Nach medienrechtlichen Grundsätzen exkulpiert die Wahrnehmung journalistischer Sorgfalt bei Medieninhaltsdelikten, bei denen der Wahrheitsbeweis zulässig ist, Medieninhaber oder Medienmitarbeiter, ohne dass es auf den Wahrheitsbeweis im engeren Sinn ankäme.26 Besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Information, hat der Journalist die gebotene journalistische Sorgfalt angewandt und liegen für ihn auf dieser Basis hinreichende Gründe vor, die Behauptung für wahr zu halten, entfällt etwa die Strafbarkeit wegen übler Nachrede.27 Diese journalistischen Sorgfaltsstandards sind an der Maßstabsfigur eines verantwortungsvollen, gewissenhaften, verständigen, sach- und fachkundigen Journalisten orientiert, der sorgfältige Recherchen anstellt und dabei dem Grundsatz audiatur et altera pars Rechnung trägt.28 20
Diese Maßstäbe der Wahrnehmung journalistischer Sorgfalt haben auch grundrechtliche Relevanz. So sieht der EGMR grundsätzlich den besonders privilegierten Schutz journalistischen Informationshandelns durch Art. 10 EMRK in Bezug auf Journalisten gewährleistet, die „nach Treu und Glauben und auf einer genauen Tatsachengrundlage handeln und zuverlässige und präzise Informationen im Einklang mit der journalistischen Ethik liefern“.29 Diese Grundsätze werden insbesondere bei der Anwendung des Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR eine Rolle spielen, wenn es darum geht, ob der für ein journalistisches Informationshandeln Verantwortliche „wusste oder hätte wissen müssen“, dass eine bestimmte kapitalmarktrelevante Information falsch oder irreführend war. Mehr als die Einhaltung der Grundsätze journalistischer Sorgfalt darf im Lichte des Art. 21 MAR und des Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR diesbezüglich bei Informationshandeln zu journalistischen Zwecken nicht verlangt werden.
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Grundsätzlich konkretisieren die einschlägigen Berufs- und Standesregeln im Wesentlichen diese Grundsätze journalistischer Sorgfalt insbesondere im Hinblick auf typische Konfliktsituationen und Fallkonstellationen journalistischer Tätigkeit.30
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Der österreichische Presserat hat den einschlägigen Punkt, der die Verwertung beruflich erlangter Informationen zum persönlichen Vorteil von Medienmitarbeitern ausschließen soll,31 durch eigene Richtlinien zur Finanz- und Wirtschaftsberichtserstat26 Siehe § 29 MedienG und dazu nur Heindl in Berka/Heindl/Höhne/Koukal (Hrsg.), Mediengesetz, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2019, § 29 Rz. 7. 27 Betrifft allerdings die Veröffentlichung den höchstpersönlichen Lebensbereich, ist der Journalist nur dann nicht zu bestrafen, wenn die Behauptung wahr ist und in unmittelbarem Zusammenhang mit dem öffentlichen Leben steht. 28 Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa OGH v. 21.1.2009 – 15 Os 125/08h; 15 Os 126/08 f.; 15 Os 127/08 b; näher Heindl in Berka/Heindl/Höhne/Koukal, § 29 Rz. 17 ff. 29 EGMR v. 7.2.2012 (GK), Nr. 39.954/08 – Axel Springer AG, Rz. 93; EGMR v. 20.5.1999 (GK), Nr. 21.980/93 – Bladet Tromso, Rz. 59 ff. 30 So etwa die Grundsätze für die publizistische Arbeit (Ehrenkodex für die österreichische Presse) des österreichischen Presserats, Fassung v. 7.3.2019, abrufbar unter , oder die Publizistischen Grundsätze (Pressekodex) des deutschen Presserats, Fassung v. 22.3.2017, abrufbar unter . 31 Punkt 11 des Ehrenkodex für die österreichische Presse.
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tung konkretisiert.32 Diese sehen etwa vor, dass Marktmanipulationen durch Verbreitung falscher oder irreführender Informationen mit den Grundsätzen der Medienethik unvereinbar sind und demzufolge Journalisten „Analysen und sonstige Informationen mit Empfehlungen zu Anlagestrategien sachgerecht darbieten und Eigeninteressen und Interessenkonflikte offenlegen“ müssen. Zu einer solchen sachgerechten Darbietung gehört es, Tatsachen „deutlich von Auslegungen, Schätzungen, Stellungnahmen und anderen Arten nicht sachbezogener Informationen zu unterscheiden“, und darauf zu achten, dass alle Quellen zuverlässig sind; besteht Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit einer Quelle, „ist klar darauf hinzuweisen“. „Alle Prognosen, Vorhersagen und angestrebten Kursziele sind klar als solche zu kennzeichnen, auf die bei ihrer Erstellung oder Verwendung zugrunde gelegten wesentlichen Annahmen ist hinzuweisen.“ In einschlägigen Berichten sind Interessen und Interessenkonflikte offen zu legen, das heißt, alle Umstände, „die die Objektivität der Empfehlung beeinträchtigen können, insbesondere wenn die die redaktionelle Verantwortung tragende Person oder das Medienunternehmen oder eine an diesem eine kontrollierende Beteiligung haltende Person ein nennenswertes finanzielles Interesse an einem Finanzinstrument, das Gegenstand der Empfehlung ist, haben oder ein erheblicher Interessenkonflikt im Zusammenhang mit einem Emittenten, auf den sich die Empfehlung bezieht, besteht.“ Diese Regeln für die Finanz- und Wirtschaftsberichterstattung finden allerdings Anwendung nur auf redaktionelle Finanz- und Wirtschaftsberichte, die Analysen und sonstige Informationen mit expliziten oder impliziten Empfehlungen zu Anlagestrategien enthalten, wobei die Veröffentlichung im Ressort Finanzen oder im Ressort Wirtschaft ein Indiz dafür ist, dass ein Finanz- oder Wirtschaftsbericht vorliegt.
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Unmittelbar einschlägig sind diese Berufs- und Standesregeln wohl für Art. 20 MAR, wenn es um journalistisch aufbereitete Anlageempfehlungen geht. Deutlich schwieriger ist zu beurteilen, welche Maßstäbe heranzuziehen sind, wenn es um die Berichterstattung über (straf-)rechtswidriges Unternehmensverhalten, etwa um (mögliche) Bilanzfälschungen oder vergleichbare Manipulationen geht. Hier stehen typischerweise keine verlässlichen Quellen, sondern zumeist nur Informationen aus vertraulichen Quellen einer Journalistin oder eines Journalisten zur Verfügung, gleichwohl besteht ein besonderes öffentliches Interesse an der Berichterstattung über derartige Missstände. Darauf wird am Schluss dieses Beitrags noch einmal zurückzukommen sein.
24
III. Grundsätze der Presse- und Kommunikationsfreiheit und ihre Übertragbarkeit auf Art. 21 MAR Die besondere Bedeutung der Pressefreiheit und der damit vermittelte besondere grundrechtliche Schutz für journalistisches Informationshandeln ist in der demokra32 Richtlinien des Österreichischen Presserates zur Finanz- und Wirtschaftsberichterstattung (Konkretisierungen zu Punkt 11 der Grundsätze für die publizistische Arbeit – Ehrenkodex für die österreichische Presse), Fassung v. 2.12.2013, abrufbar unter .
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tischen Funktion einer freien Presseberichterstattung als wesentliches Konstituens des öffentlichen Diskurses, der freien geistigen Auseinandersetzung, begründet, auf die eine freiheitlich demokratische Gesellschaft angewiesen ist. Der Presse kommt in dieser grundrechtlichen Konzeption zum einen eine wesentliche Rolle als Intermediär beim Agenda-Setting in der öffentlichen Debatte zu. Zum anderen gewährleistet Pressefreiheit und freie journalistische Berichterstattung der Öffentlichkeit „one of the best means of discovering and forming an opinion of the ideas and attitudes of political leaders“.33 Die Presse hat die Funktion des „public watchdog“, dem im Sinne des Topos von der „vierten Gewalt“ eine wesentliche Kontrollfunktion gegenüber zunächst einmal insbesondere staatlichen Machtträgern zukommt. Alles in allem, „freedom of political debate is at the very core of the concept of a democratic society“.34 Politikerinnen und Politiker stehen damit im Zentrum der Aufmerksamkeit der Presseberichterstattung und müssen, das ist der Kern der sogenannten „public figures“Doktrin, ein besonderes Maß an Kontrolle und Kritik durch die Presse tolerieren, weil und insoweit ihnen ihre Machtstellung demokratisch (nur) verliehen ist. 26
Dahinter steht auch der Gedanke, dass insbesondere investigative Presseberichterstattung wesentlich dazu beiträgt, das Informationsgefälle zwischen staatlichen Machtträgern und der Öffentlichkeit und damit den Einzelnen auszugleichen und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse auf die Tagesordnung der politischen Debatte zu heben. Wesentlich ist im Lichte der Pressefreiheit dabei auch, dass es Politikerinnen und Politikern möglich ist, kraft ihrer Funktion Zugang zu dieser öffentlichen Debatte zu finden und auf Kritik auch öffentlich angemessen reagieren zu können. Nicht der in besserem Wissen um das Allgemeinwohl begründete Geheimhaltungsanspruch des Staates und seiner Funktionsträger ist die Regel, sondern die freie geistige Auseinandersetzung, in der im Sinne einer Konsenstheorie der Wahrheit nachvollziehbar über „richtig“ oder „falsch“ bzw. „besser“ oder „schlechter“ verhandelt werden kann.35
27
Nun ist wirtschaftliche Macht aus dem Blickwinkel des Einzelnen, der den Marktkräften in vielerlei Hinsicht ebenso „ausgeliefert“ ist wie staatlicher Macht, im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft ebenso wichtig, auch wenn die Funktionsbedingungen und die Grundlage der jeweiligen Machtposition zunächst einmal natürlich unterschiedlich sind. Sowohl was die Aufgabe anlangt, bestimmte Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zum Gegen-
33 EGMR v. 8.7.1986, Nr. 9815/82 – Lingens, Rz. 41. 34 EGMR v. 8.7.1986, Nr. 9815/82 – Lingens, Rz. 41; zuvor bereits EGMR v. 26.4.1979, Nr. 6538/74 – Sunday Times; für einen detaillierteren Überblick statt aller Holoubek, Kommunikationsfreiheit in Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa VII/1, 2. Aufl. 2014, S. 596 ff. 35 Vgl. nur BVerfG v. 19.5.2020 – 1 BvR 2397/19 Rz. 16 (Meinungsaustausch in gleicher Freiheit als „Lebenselement“ der freiheitlich demokratischen Grundordnung); näher Berka/ Binder/Kneihs, Die Grundrechte, 2. Aufl. 2019, S. 658 f.; zu diesen Argumenten im Kontext digitaler Kommunikation über Plattformen Holoubek, Plattformregulierung aus grundrechtlicher Perspektive in Grabenwarter/Holoubek/Leitl-Staudinger (Hrsg.), Regulierung von Kommunikationsplattformen, 2022, S. 29, 42 ff.
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stand auch öffentlicher Debatte zu machen, als auch im Hinblick auf den Kontrollaspekt besteht aus grundrechtlicher Sicht gegenüber Wirtschaftsakteuren ein vergleichbarer Schutzbedarf wie gegenüber staatlichen Akteuren.36 Freilich geht es hier nicht darum, staatliche Macht eins zu eins mit wirtschaftlicher Macht gleichzusetzen, sondern grundrechtliche Schutzwirkungen in differenzierter Weise auch gegenüber privaten Machtträgern zur Geltung zu bringen. Grundgedanken der Pressefreiheit lassen sich so auf bestimmte, eine entsprechende wirtschaftliche Machtposition ausübende Unternehmen und die sie treffende Presseberichterstattung übertragen. Dies hat der EGMR bereits mehrfach getan. So betont der Gerichtshof, dass „large public companies inevitably and knowingly lay themselves open to close scrutiny of their acts and, as in the case of the business men and women who manage them, the limits of acceptable criticism are wider in the case of such companies“.37 Allerdings besteht ein ebenso anerkennenswertes gegenläufiges Interesse „in protecting the commercial success and viability of companies, for the benefit of shareholders and employees, but also for the wider economic good“.38 Schon zuvor hatte der EGMR in einer seinen frühen Leitentscheidungen zu commercial speech zur Bedeutung medialer Berichterstattung in einer Marktwirtschaft grundsätzlich festgehalten: „in a market economy an undertaking which seeks to set up a business inevitably exposes itself to close scrutiny of its practices by its competitors. Its commercial strategy and the manner in which it honours its commitments may give rise to criticism on the part of consumers and the specialised press. In order to carry out this task, the specialised press must be able to disclose facts which could be of interest to its readers and thereby contribute to the openness of business activities“.39 Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen kann es aber rechtfertigen, dass auch wahre Vorgänge unter bestimmten Umständen nicht öffentlich zugänglich gemacht werden dürfen. Insbesondere bei der Veröffentlichung einzelner Vorfälle ist darauf zu achten, dass nicht ohne weiteren Nachweis der falsche Eindruck entsteht, dass dieser Vorfall für eine generelle Praxis steht.40
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Insbesondere große Wirtschaftsunternehmen stehen nach der Rechtsprechung des EGMR also durchaus im Zentrum legitimer Aufmerksamkeit durch Presseberichterstattung, auch wirtschaftliche Macht unterliegt der Kontrolle durch die vierte Gewalt. Freilich ist diese Macht nicht demokratisch verliehen, sondern privatautonom aufgebaut. Dieser idealtypische Gegensatz wird freilich durch vielfache Verflechtungen zwischen Staat und Wirtschaft relativiert, sodass insbesondere wiederum für große Wirtschaftsunternehmen gute Argumente für eine entsprechende gesellschaftliche Accountability sprechen. In diesem Zusammenhang ist auf jene Rechtspre-
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36 Siehe nur Pöschl, Sicherung grund- und menschenrechtlicher Standards gegenüber neuen Gefährdungen durch private und ausländische Akteure, VVDStRL 74, 2015, S. 406, insb. S. 418 ff. 37 EGMR v. 15.2.2005, Nr. 68.416/01 – Steel and Morris, Rz. 94. 38 EGMR v. 15.2.2005, Nr. 68.416/01 – Steel and Morris, Rz. 94; ähnlich EGMR v. 20.5.1999, Nr. 21.980/93 – Bladet Tromso. 39 EGMR v. 20.11.1989, Nr. 10.572/83 – Marktinternverlag GmbH. 40 EGMR v. 20.11.1989, Nr. 10.572/83 – Marktinternverlag GmbH.
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chung des EGMR hinzuweisen, die Grundaussagen aus seiner „public-figures“-Doktrin in Bezug auf Politikerinnen und Politiker auch auf sogenannte freiwillige Personen der Zeitgeschichte überträgt.41 Wer selbst aus freien Stücken die Bühne der Öffentlichkeit betritt, muss sich dann auch der öffentlichen Debatte stellen. Insoweit dürften gute Argumente bestehen, insbesondere für börsennotierte Unternehmen („going public“) davon auszugehen, dass sie in qualifizierter Weise in der Öffentlichkeit stehen und damit auch entsprechend öffentlicher Debatte unterliegen und die Kontrolle durch die Öffentlichkeit und damit die Presseberichterstattung tolerieren müssen. 30
Was lässt sich aus dem Vorstehenden für die Integration des Aspekts der Pressefreiheit durch Art. 21 MAR in die einschlägigen kapitalmarktrechtlichen Informationsregelungen gewinnen? Es sprechen wohl gute Argumente dafür, dass der Kapitalmarkt als wesentlicher Teilbereich der Gesellschaft mit unter den heutigen Wirtschaftsbedingungen unmittelbaren und nachhaltigen Auswirkungen auf ihre Entwicklung eine „Institution“42 ist, die als solche zurecht in der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Damit kommt der Presse auch in Bezug auf den Kapitalmarkt jene Aufgabe zu, die ihr grundsätzlich gegenüber Angelegenheiten von besonderem öffentlichem Interesse übertragen ist: Wesentliche Angelegenheiten zum Gegenstand öffentlicher Debatte zu machen und gegenüber den einschlägigen Akteuren eine Kontrollfunktion auszuüben, wie sie mit der ihnen am Kapitalmarkt verliehenen Macht umgehen. Auch hier tritt die Presse als vierte Gewalt zu den kapitalmarktinternen Kontrollmechanismen hinzu, genauso wie die Kontrolle der Presse gegenüber staatlichen Aktivitäten ungeachtet staatlicher Rechtsschutz- und Kontrollmechanismen greift. Dass es kapitalmarktrechtliche Vorkehrungen für Governance und Kontrolle gibt, nimmt der Kontrollaufgabe der Presse in keiner Weise ihre Bedeutung.
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Daraus folgt, dass an Fehlentwicklungen am Kapitalmarkt und deren Aufdeckung durch die Presse ein vergleichbares öffentliches Interesse besteht wie etwa für Fehlentwicklungen im staatlichen Machtapparat. Gegenüber unzulässiger Politikbeeinflussung, der Verursachung von Umweltschäden oder der Unterdrückung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besteht gegenüber den Akteuren am Kapitalmarkt genauso wie gegenüber sonstigen Wirtschaftsakteuren ein öffentliches Interesse in einer demokratischen Gesellschaft. Eine diesen Interessen Rechnung tragende Presseberichterstattung findet enge Grenzen (nur) dort, wo in einer gewichtenden Abwägung dieses öffentliche Interesse ausnahmsweise gegenüber entgegenstehenden Geheimhaltungsinteressen zurücktreten muss. Geschäftsgeheimnisse sind hier etwa mit dem Schutz des höchstpersönlichen Lebensbereichs von Politikerinnen und Politikern43 vergleichbar. In diesen Konstellationen ist es schwer vorstellbar, dass die Integrität des Kapitalmarkts als Schutzgut das öffentliche Interesse an der Aufdeckung etwa eines Umweltskandals übersteigt.
41 EGMR v. 24.6.2004, Nr. 59.320/00 – von Hannover (Nr. 1). 42 Vgl. St. Weber, Der Markt als rechtliche Institution, JBl 1994, 792 ff. 43 Zu dessen Schutz durch Art. 8 EMRK in Abwägung mit Art. 10 EMRK Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, S. 438 f.
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Dem Aspekt der Integrität des Kapitalmarkts kommt freilich dann relevante Bedeutung zu, wenn es um die Berichterstattung über Fehlentwicklungen am Kapitalmarkt sozusagen aus kapitalmarktinternen Gründen geht. Auch hier wird man davon ausgehen können, dass die Pressefreiheit grundsätzlich auch eine Berichterstattung über die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts schützt und es Aufgabe der Presse im vorgenannt beschriebenen Sinn ist, Zusammenhänge und insbesondere auch aus bestimmter Sicht problematische Entwicklungen am Kapitalmarkt zum Gegenstand öffentlicher Debatte zu machen. Wenn die vorstehenden Überlegungen etwas für sich haben, dann unterliegt der Kapitalmarkt eben öffentlicher Aufmerksamkeit und damit einschlägiger Kontrolle durch die Presse.
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Bei einer Berichterstattung über fehlerhafte Unternehmensabschlüsse kommt es damit also zu einer Abwägung zwischen dem Schutz der Integrität des Kapitalmarkts, dem insbesondere die in Art. 21 MAR verwiesenen Art. 10 und 12 Abs. 1 lit. c MAR im vorliegenden Zusammenhang dienen, und dem durch die Pressefreiheit geschützten Interesse an der Veröffentlichung derartiger Umstände. Verfolgt die Presseberichterstattung also insoweit das öffentliche Interesse an einer kritischen, im Sinne einer informierenden, bewertenden und kontrollierenden Berichterstattung über den Kapitalmarkt, dann steht dieses Veröffentlichungsinteresse dem Anliegen der Integrität des Kapitalmarkts insbesondere im Hinblick auf die Regulierung entsprechend beeinflussenden Informationshandelns gegenüber. In dieser Abwägung spielen dann Gesichtspunkte eine Rolle, die von ihrer Wertung her aus der Rechtsprechung zur Presse als „public watchdog“ und den Abwägungsprozessen gegenüber staatlichen Geheimhaltungsansprüchen wie Aspekten des Persönlichkeitsschutzes bekannt sind.44 Daher besteht ein abgestuftes Interesse an Vorgängen, die als Bilanzfälschung einzustufen sind, gegenüber solchen, die unter dem Begriff der „Bilanzkosmetik“ zusammengefasst werden können; dennoch besteht auch an letzterem ein legitimes öffentliches Interesse. Das unterschiedliche Gewicht des öffentlichen Interesses ist aber als Veröffentlichungsinteresse gegenüber kapitalmarktbezogenen Integritätsaspekten in Anschlag zu bringen, sodass auch Störungen in der heiklen Informationsbalance am Kapitalmarkt hingenommen werden müssen, wenn es um die Berichterstattung über gewichtige Fehler in Unternehmensabschlüssen geht. Je einschneidender die Störung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts auf Seiten der Kapitalmarktakteure ist, desto weniger fällt eine Informationsverzerrung durch entsprechende Presseberichterstattung ins Gewicht.
33
Das bedeutet etwa auch, dass die redaktionelle Vorbereitung einschlägigen Informationshandelns durch die Presse von der Pressefreiheit geschützt ist und nicht jede Informationsweitergabe innerhalb der Redaktion von Art. 10 MAR erfasst sein kann, wenn Art. 21 MAR zur Anwendung kommt. Art. 10 MAR verhält wegen Art. 21 MAR die Journalistin oder den Journalisten nicht, einschlägige Berichterstattung über Fehlentwicklungen am Kapitalmarkt, also etwa über fehlerhafte Unternehmensabschlüsse, allein zu bearbeiten und mit niemanden in der Redaktion zu teilen. Dass für alle entsprechend informierten Mitglieder der Redaktion die entsprechenden
34
44 Ausführlich dazu Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, S. 434 ff.
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journalistischen Sorgfaltsstandards, dieses Wissen nicht zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil auszunutzen, gelten, ist die Kehrseite dieser Medaille. 35
Im Hinblick auf Art. 21 MAR ist auch eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Reichweiten bestimmter Presseerzeugnisse zu relativieren. Die „Lokalzeitung“ ist nicht gehalten, eine von ihr investigativ ermittelte Story über fehlerhafte Unternehmensabschlüsse eines großen börsennotierten Unternehmens einem landesweiten Medium anzubieten und nicht selbst zu veröffentlichen. Erstens würde damit ein wesentlicher Anreiz für investigativen Journalismus konterkariert, der durch die Pressefreiheit mitgeschützt ist. Zum zweiten ist unter heutigen medialen Bedingungen überhaupt zweifelhaft, ob – besteht nur ein entsprechendes öffentliches Interesse – eine lokale Begrenzung von Information noch angenommen werden kann.
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Schließlich ist im vorliegenden Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass kapitalmarktbezogene Berichterstattung durch die Presse insbesondere auch die Tätigkeit staatlicher Aufsichtsbehörden zum Gegenstand hat. Hier treffen sich unternehmensbezogene mit staatsbezogener Berichterstattung, weil allfällige Fehlentwicklungen in der staatlichen Kapitalmarktaufsicht wohl regelmäßig etwas mit entsprechenden Fehlentwicklungen bei Kapitalmarktakteuren zu tun haben. Auch daran zeigt sich, dass Unternehmen und Staat am Markt institutionell verflochten sind, so dass staatsbezogene wie unternehmensbezogene Berichterstattung im Zusammenhang gesehen werden müssen.
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Eine dritte typischerweise zu unterscheidende Konstellation ist jene, in der die Presse kapitalmarktbezogen informiert, also Finanzberichterstattung im engeren Sinn in Form von Anlageinformationen vornimmt. Hierfür bilden die auf derartige Finanzberichterstattung abzielenden Berufsregeln auch aus dem Blickwinkel der Pressefreiheit wohl einen geeigneten Maßstab. In dieser Konstellation steht die Integrität der kapitalmarktbezogenen Information sowohl aus der Sicht der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts wie aus der Sicht des einschlägigen medialen Informationshandelns im Vordergrund.
IV. Presse als Marktakteur oder Marktkontrolleur? 38
Resümierend lässt sich festhalten: Der Kapitalmarkt ist kein Arkanum, das öffentlicher Aufmerksamkeit entzogen wäre. Auch seine besonderen Funktionsbedingungen insbesondere im Hinblick auf kapitalmarktbezogenes Informationshandeln eximieren den Kapitalmarkt nicht vom öffentlichen Interesse, das sowohl an der Tätigkeit der Akteure am Kapitalmarkt wie an der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts insgesamt besteht. Damit kommt der Presse in Bezug auf den Kapitalmarkt wie auch sonst gegenüber Angelegenheiten von öffentlichem Interesse ihre genuine Aufgabe zu, die Öffentlichkeit herzustellen, zu informieren und zu bewerten und auf diese Weise auch die im einschlägigen Feld Agierenden zu kontrollieren.
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Dass die Presse in ihrer Funktion als Intermediär dabei nicht nur als Informationsdrehscheibe fungiert, sondern im öffentlichen Diskussionsprozess auch durch die 222 | Holoubek
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Verbreitung von „Ideen“, also durch kritische Bewertung und Meinungsäußerung, und damit bezogen auf den kapitalmarktbezogenen Informationsstand durchaus als Akteur agiert, liegt in der unvermeidbaren Doppelrolle von Medium und Faktor öffentlicher Meinungsbildung begründet. Dies ist im Konzept von Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft grundgelegt und muss auch für den Kapitalmarkt aus grundrechtlicher Sicht gelten. Art. 21 MAR transponiert diese Anforderungen in die Auslegung informationsbezogener kapitalmarktrechtlicher Regelungen. Soweit Presseberichterstattung insbesondere auch über fehlerhafte Unternehmensabschlüsse im Interesse einer kritischen Kontrolle der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts erfolgt und letztlich damit öffentlichen Kapitalmarktinteressen dient, trägt das journalistische Informationshandeln ein sehr gewichtiges externes Interesse, das nur unter besonderen Umständen gegenüber einem internen kapitalmarktbezogenen Interesse an Informationsbeschränkungen zurücktreten muss. Hier müssen für eine einschlägige Abwägung besondere Umstände vorliegen. Das ist insbesondere bei der Auslegung von Art. 10 bzw. Art. 12 Abs. 1 lit. c MAR i.V.m. Art. 21 MAR wesentlich.
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Die Abwägung folgt in gewisser Hinsicht einer anderen Rationalität, wenn Presseberichterstattung einem kapitalmarktbezogenen Informationsinteresse, also insbesondere der Anlegerinformation dient. Hier bewegt sich auch journalistisches Informationshandeln innerhalb der kapitalmarktbezogenen Informationslogik, sodass insbesondere erhöhte journalistische Sorgfaltsstandards, wie sie in einschlägigen Berufsregeln auch schon zusammengefasst sind, zur Anwendung kommen.
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