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German Pages 638 Year 2006
Planung - Steuerung - Kontrolle
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1022
Planung - Steuerung - Kontrolle Festschrift für Richard Bartlsperger zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Max-Emanuel Geis Dieter C. Umbach
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-12175-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort
Vermutlich wird es niemanden, der Richard Bartlsperger etwas näher kennt, auch nur im mindesten verwundern, dass er anfänglich dem Gedanken einer Festschrift für ihn eher ablehnend gegenüberstand. Der „Jubilar" - allein das Wort ist ihm sicherlich ein Graus - ist kein Mann, der nach Ehrungen strebt, öffentlicher Anerkennung, nach prestigereichen Projekten, bedeutenden Prozessvertretungen und dergleichen. Er hat in seiner gradlinigen Art immer Themen in Wort und Schrift den Vorzug gegeben, die sich sach- und niveaubezogen für ihn als wichtig und durchdenkenswert zeigten, dogmatisch interessant und weiterführend in bislang ungeklärte Bereiche. Das konnte anstrengend sein, sowohl für ihn, der sich mit wichtigen Fragestellungen auf ein regelrechtes Ringen eingelassen hat (und dies auch gegenwärtig immer noch tut), aber auch für andere, wie jeder weiß, der sich im Verlauf einer längeren Diskussion oft die eigenen Lücken in der dogmatischen Basis vergegenwärtigen musste und dann am Ende mit einem freundlich-resignierenden Kopfnicken aus dem Gespräch verabschiedet wurde. Insofern ist er sich wohl auf seinem Wege von Erlangen nach Mannheim und wieder zurück nach Erlangen treu geblieben. Sicherlich war der erste Lehrstuhl in Mannheim für den jungen sportlich-hochgewachsenen, recht zurückhaltenden Privatdozenten aus Erlangen ein Start in eine ungewohnte Welt: die der lebenstüchtigen Pfälzer und der weltoffenen-toleranten Badener - ein bisschen hat er sie wohl alle aus den Lehrstuhlräumen i m Westflügel des Mannheimer Schlosses als Leichtgewichte angesehen. Bei den Studenten erschien er alsbald unter zwei diametralen Perspektiven: Die einen, die ihn fürchteten, weil sie das - meist zutreffende - Gefühl bekamen, so recht keine Ahnung zu haben, und die anderen, die das von ihm geforderte Niveau akzeptierten und wissbegierig von ihm lernten und dies noch heute als ihre sie prägende juristische Zeit nennen. Die Mitarbeiter hatten einen „Lehrstuhlchef', der sehr wohl - dann mit zunehmend bayerischem Tonklang - poltern konnte, aber - eine durchaus rühmenswerte Ausnahme i m akademischen Lebensbereich - weder nachtragend noch in der Fakultät zu irgendeiner Intrige fähig oder auch nur willens war. Das hatte zur Folge, dass er an der Fakultät bald einen Ruf als verlässlicher, grundsatztreuer und sachausgerichteter Kollege hatte. Sein wissenschaftliches Standing war durch seine Promotions- und seine Habilitationsschrift vorgeprägt: Die eine über die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie (1964) war für Doktoranden einerseits eine Ermutigung, weil es für heutige Verhältnisse ein nachgerade knappes Bändchen von „nur' 4 ca. 140 Seiten war, andererseits aber gerade wieder in seiner stringenten Kürze und Gedankenführung kaum
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Vorwort
als Beispiel erreichbar war, die andere ein anerkanntes Grundlagenwerk über ein bedeutendes Thema: „Verkehrssicherungspflicht und Öffentliche Sache" (1970), von auch hoher praktischer Bedeutung. In die Mannheimer Zeit von 1970 bis 1974 fiel auch die ehrenvolle und für den jungen Lehrstuhl aufregende Zeit der Ausrichtung der Staatsrechtslehrertagung in Mannheim (1973) und - ein Jahr später - Richard Bartlspergers Bielefelder Referat über „Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung - Zur Lage der zweiten Gewalt", ein Thema, das eigentlich nicht im Zentrum seines Forschungsspektrums stand, das er aber mit typischer Energie sich erarbeitete und mit Bravour meisterte. Die wissenschaftliche Seite wurde ergänzt durch Wanderungen des Lehrstuhls in der Pfalz und in Franken, bei denen die Sportlichkeit der Mitarbeiter selten an die Ausdauer des Lehrstuhlinhabers heranreichte. Insgesamt war der Beginn in Mannheim eigentlich nur eine Ouvertüre zur erheblich längeren, von 1974 bis zur Emeritierung 2002 dauernden Erlanger Epoche. Zurück in Bayern, entwickelte sich Richard Bartlsperger zur anerkannten Koryphäe im Planungs- und Verkehrsrecht, einem damals noch jungen Rechtsgebiet, was sich auch in der Mitgliedschaft in einschlägigen politischen Gremien und in der Organisation einer wegweisenden Tagung zur Funktion des Sachverständigen niederschlug. Neben der Forschung machten die kompromisslose Gewissenhaftigkeit und das vorbehaltlose Engagement in der Lehre bei anhaltender Bescheidenheit den gebürtigen Münchner zum Exponenten nachgerade preußischer Kardinaltugenden und zu einer tragenden Säule der Fakultät. Exemplarisch sei seine Initiativfunktion bei der großangelegten Erlanger Absolventenbefragung genannt, zu einem Zeitpunkt, als der Evaluationsgedanke noch nicht die heutigen hysterischen Ausmaße angenommen hatte. Über die Fakultät hinaus stellte er sich der Selbstverwaltung und Standespolitik als Erlanger Verbandsvertreter im Hochschulverband. Er hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er die Entwicklung der Hochschule insgesamt skeptisch sah und sieht, inzwischen wohl mit der schon erwähnten freundlichen Resignation. Diese hatte übrigens nie den Grund, dass früher alles besser gewesen wäre, sondern die Überzeugung, dass es eigentlich künftig erheblich besser sein könne, wenn man sich eben entsprechend grundsatztreu anstrenge. Diese Festschrift wäre nicht entstanden, wenn sich nicht eine große Anzahl von Freunden und Weggefährten zur Mitwirkung gefunden hätte. Ihrer Bereitschaft und Geduld mit den Herausgebern gilt der erste Dank. Sehr herzlich danken wir auch den Herren Prof. Dr. Norbert Simon und Dr. Florian Simon, die das Erscheinen des Bandes im Verlag Duncker&Humblot, Berlin, möglich gemacht haben (und die der Juristischen Fakultät der F A U in besonderer Weise verbunden sind), für die angenehme und hervorragende Kooperation. Schließlich wäre das Projekt nicht durchführbar gewesen, wenn sich nicht der Alumni-Verein der Erlanger Juristischen Fakultät unter Vorsitz von Herrn Notar Dr. Kornexl, Nürnberg, und die Jan Brauers-Stiftung, Baden-Baden, großzügig an den Herstellungskosten beteiligt hätten. Auch ihnen gilt unser ausdrücklicher Dank. Schließlich ist den Mitarbeitern des Erlanger Lehrstuhls zu danken, die den beiden Herausgebern eine wesentliche
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Vorwort
Hilfe waren, insbesondere Frau Marion Pohan für die Überlast an vielfältiger Korrespondenz und Herrn Wiss. Ass. Dr. Daniel Krausnick für die stets zuverlässige Gesamtredaktion und „Harmonisierung" der individuellen Manuskripte. Die Zusammenarbeit auf vielfältigen Ebenen und die Vorfreude auf die akademische Übergabefeier haben den Herausgebern - dem akademischen Schüler und dem Nachfolger auf dem Erlanger Lehrstuhl - die Gewissheit vermittelt, dass das Festschriftprojekt (ohne Ansehung der Bartlspergerschen Bescheidenheit) zwingend war. M i t allen daran Beteiligten bleibt uns der herzliche Zuruf: A d multos annos! Erlangen/Karlsruhe/Potsdam, i m März 2006 Dieter C. Umbach
Max-Emanuel
Geis
Inhaltsverzeichnis I. Staat und Verfassung Die politischen Parteien in der Mediendemokratie Von Peter Badura
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Der enteignungsrechtliche Übernahmeanspruch des Eigentümers Von Rüdiger Breuer
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Der Staat in den Grenzen seiner Wirksamkeit. Z u m staatstheoretischen Verhältnis von Staat und Wettbewerb Von Bernd Grzeszick
41
Staat, Recht und Verfassung i m Prozeß der Integration - Smends Integrationslehre in ihrer Ausgangsgestalt und in der Rezeption unter der Geltung des Grundgesetzes Von Christian Hillgruber
63
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz. Die Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften als Probierstein Von Matthias Jestaedt
79
Die Verschärfung des Versammlungsrechts Von Jürgen Kohl
99
„Biblischer Geschichtsunterricht" - muslimische Lehrkräfte - Islamunterricht in Bremen. Aktuelle Anmerkungen zu einem alten Problem Von Christoph Link
109
Das Vertrauensschutzprinzip im Verfassungs- und Verwaltungsrecht Von Karl Albrecht Schachtschneider
133
Ehe, Erbe und Verfassungsrecht - ein Märchen Von DieterC.
Umbach
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Inhaltsverzeichnis
Informationsfreiheit und Verfassungsrecht 165
Von Bernhard W. Wegener
Politik und Sachverstand Von Reinhold Zippelius
185
II. Verfahren und Kontrolle Verfassungsrechtsprechung ohne Grenzen? Bemerkungen zum Versuch, dem Bundesverfassungsgericht „funktionell-rechtlich" Schranken zu setzen Von HansBoldt
199
Der Punkt als Norm - Rechtsschutz gegen Flugrouten und Warteschleifen Von Max-Emanuel
Geis
215
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen als verfahrensrechtliches Prinzip in der Europäischen Union Von Thomas Würtenberger
233
Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht Von Jan Ziekow
247
III. Planung und Gestaltung „Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende? Von Willi Blümel
263
Zur Zulässigkeit raumordnerischer Gebietskategorien im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB Von Wilfried
Erbguth
279
Grundlagen und Grundsätze des Lärmschutzes beim Bau von Verkehrswegen Von Hans Carl Fickert
293
Unzeitgemäße Betrachtungen anlässlich der Neufassung des Bayerischen Landesplanungsgesetzes Von Ulrich Höhnberg
309
Inhaltsverzeichnis Die Gewichtung der Umweltbelange durch die Umweltprüfung in der b a u p l a n u n g s rechtlichen Abwägung nach dem E A G Bau (BauGB 2004) bei der Aufstellung der Bauleitpläne. Zugleich zu der begrenzten Wirkung des Nachhaltigkeitsprinzips im Planungsrecht Von Werner Hoppe
321
Regionale Planungsverbände - Unverzichtbar für eine kommunaladäquate Umsetzung der Landesplanung in Flächenländern am Beispiel Bayern Von Franz-Ludwig
Knemeyer
339
Die Ausweitung der Öffentlichkeitsbeteiligung an umweltrelevanten Planungsvorhaben - Erkenntnishilfe für die Planungsbehörden oder ihre demokratische Kontrolle? Von Helmut Lecheler
353
Die Reform des Bayerischen Landesplanungsgesetzes Von Gerrit Μ aussen
363
Datenschutz in der Planfeststellung Von Michael Ronellenfitsch
373
Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben - Möglichkeiten zur Sicherstellung von Raumverträglichkeit Von Willy Spannowsky
389
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für die Auslegung und Anwendung des § 906 BGB Von Klaus Vieweg und Thomas Regenfus
405
Die Fachplanung in der Phase ihrer Europäisierung Von Rainer Wahl
427
IV. Steuerung und Ordnung Administrative Aspekte der Juristenausbildungsreform 2002 Von Heinrich de Wall
451
Die Baugenehmigung - Baustein oder Schlussstein der Baufreigabe? Von Dirk Ehlers
463
Zur Untersagung nach § 12 ROG und Art. 24 BayLplG Von Konrad Goppel
483
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Inhaltsverzeichnis
Aktuelle Probleme des Luftreinhalterechts in der E U und in Deutschland Von Hans-Joachim
Koch
497
Die Privatisierung der Nebenbetriebe auf den Bundesautobahnen - eine Zwischenbilanz Von Siegfried
Rinke
515
Geschäftsführung ohne Auftrag zum Zwecke der Gefahrenabwehr Von Wolf-Rüdiger
Schenke
529
Brennpunkte des neuen Energiewirtschaftsgesetzes Von Matthias Schmidt-Preuß
573
Entwicklungslinien im Recht der Nutzung städtischer Straßen Von Udo Steiner
587
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht Von Rolf Stober
599
Schriftenverzeichnis Richard Bartlsperger
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Autorenverzeichnis
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I. Staat und Verfassung
Die politischen Parteien in der Mediendemokratie Von Peter Badura, München
I. Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit 1. Parteienstaat, Parteiendemokratie Die Demokratisierung des Wahlrechts seit der Mitte des 19. Jahrhunderts führte nach der inneren Logik der parlamentarischen Repräsentation durch die gewählte Volksvertretung die politischen Parteien in die beherrschende Stellung des demokratischen Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung und des Parlamentarismus. Das Parteienwesen wurde als „demokratischer Naturprozeß" (.Friedrich Naumann) erkannt, die parlamentarische Demokratie in Entgegensetzung zum Honoratiorenstaat von Bildung und Besitz als „Parteienstaat" (Gerhard Leibholz) qualifiziert. Die politische Erfahrung und Beurteilung wurde vom neuen Staatsrecht der demokratischen Republik aufgenommen und den Parteien wurde schließlich mit der auch ausdrücklichen „Institutionalisierung" im Verfassungsgesetz ein aus dem privatrechtlichen Vereinswesen herausgehobener verfassungsrechtlicher Status zugewiesen (Art. 21 GG). 1 Der verfassungsrechtliche Status der Parteien ist durch den Bezug zu den Institutionen der parlamentarischen Demokratie gerechtfertigt, aber auch darauf beschränkt. I m übrigen bleibt es dabei, daß die Parteien sich in dem parteienrechtlich nicht restringierten Bereich des Gesellschaftlichen und der allgemeinen politischen Freiheit bewegen. 2 Alles andere läge in der vom Bundesverfassungsgericht verworfenen „logischen Konsequenz eines radikal zu Ende gedachten Parteienstaates" 3 . In der Demokratie geht die Grenzlinie zwischen Staat und Gesellschaft weitgehend verloren. Die Trennung von Staat und Gesellschaft wird in der Parteiendemokratie im politischen Prozeß, wenn auch 1 P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. II, Heidelberg 2004, § 25, Rn. 55 ff.; P. Kunig, Parteien, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Bd. II, 2. Aufl., Heidelberg 1998, § 33, Rn. 14 ff. 2 Η. H. Klein, in: T. M a u n z / G . Dürig u. a. (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 21, München 2001/2005, Rn. 152 ff., 255 ff.
3 BVerfGE 11,266(273).
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Peter Badura
nicht in den Institutionen der staatlich verfaßten Rechtsgemeinschaft, überwunden. Die Parteien sind Ausdruck der politischen Freiheit, andererseits aber die lebendige Kraft, welche die parlamentarische Demokratie konstituiert. Der Aufstieg der Parteiendemokratie, dann das Vordringen der organisierten Interessen und der öffentlichen Meinung, besonders durch die Massenmedien, vor allem aber der auf Egalität und soziale Sicherheit drängende Wohlfahrtsstaat haben die klassischen Institutionen des Verfassungsstaates und der parlamentarischen Demokratie einem weitreichenden Veränderungsprozeß unterworfen. Kernstück der demokratischen Verfassung ist die durch sie geordnete und gebundene Politik und damit die Aufgabe und Leistung der Staatsleitung und der gesetzgebenden Volksvertretung. Der staatsrechtliche Begriff und die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Gesetzgebung können nicht getrennt von dem Kampf oder „Wettbewerb" der Parteien um die nach dem egalitären Mehrheitsprinzip vergebene Macht und um die Bestimmung der sachlichen Ziele staatlichen Handelns definiert werden. Wenn es um Gewährleistung der Freiheiten der Massenmedien und die Sicherung ihrer „Staatsfreiheit" geht, andererseits aber auch den Parteien als „frei konkurrierenden, aus eigener Kraft wirkenden und vom Staat unabhängigen Gruppen" 4 Staatsfreiheit vindiziert wird, ist damit noch nicht die Frage beantwortet, welche Rolle den Parteien in den Medien zugestanden werden darf oder muß und inwieweit der Staat auf die Finanzierung der Parteien Einfluß nehmen darf oder muß. Die politischen Parteien sind nicht der Staat, sie sind aber die in der parlamentarischen Demokratie institutionell notwendigen Vereinigungen für die Verwirklichung der Repräsentation der Volkssouveränität in der gewählten Volksvertretung. Nach der von der Verfassung vorausgesetzten Staatspraxis sind die Parteien im gesellschaftlichen Leben wurzelnde Gruppierungen, denen die Aufnahme, Formierung und Artikulation der Meinungen und Interessen zukommt, durch deren Vermittlung sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Sie sind die beherrschenden Kräfte in Staatsleitung und Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und kommunaler Selbstverwaltung. A n die „Systemgrenzen von Staat und Gesellschaft" sind sie nicht gebunden. 5 Die Freiheiten der Medien (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und die Freiheit der Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG) und - auf ganz anderer Ebene - die Unabhängigkeit der Rechtsprechung sind wesentliche institutionelle Grenzen des Parteienstaates. Seine immanenten Grenzen sind die Gründungs-, Organisations- und Betätigungsfreiheit der Parteien, ihre Chancengleichheit und die besonderen Vorkehrungen und Pflichten des Parteien-Artikels (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 und 4, Abs. 2 GG). Art 20 GG gebietet die „Offenheit des politischen Prozesses". Damit sich der in der Verfassung angelegte politische Wettbewerb tatsächlich einstellen kann, bedarf es chancengleicher Bedingungen, vor
4 BVerfGE 20, 56 (101); 52, 63 (85); 73, 40 (85); 85, 264 (284 f.); 104, 14 (19). 5 D. Grimm, Politische Parteien, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin 1994, § 14, Rn. 74.
Die politischen Parteien in der Mediendemokratie
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allem einen für alle offenen Zugang zum „politischen Markt". Der im Mehrparteiensystem angelegte politische Wettbewerb soll Unterschiede hervorbringen - je nach Zuspruch der Bürger. Diesen darf die öffentliche Gewalt nicht ignorieren oder gar konterkarieren. 6 Grundrechte können den Parteien unabhängig von ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status gemäß Art. 21 Abs. 1 GG wie jedermann zustehen (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG). 7
2. Teilhabe an der öffentlichen Meinung Die verfassungsrechtlich intendierte Rolle der politischen Parteien im Prozeß demokratischer Willensbildung und staatlicher Entscheidungsfindung, die auch durch sie zu erreichende, für die demokratische Ordnung unerläßliche „Rückkoppelung zwischen Staatsorganen und Volk", gibt es den Parteien auf, politische Ziele zu formulieren und diese den Bürgern zu vermitteln sowie daran mitzuwirken, daß die Gesellschaft wie auch den einzelnen Bürger betreffende Probleme erkannt, benannt und angemessenen Lösungen zugeführt werden. Die Parteien müssen nach außen tätig werden, im Wettbewerb mit anderen Parteien und sonstigen auf die Bildung der öffentlichen Meinung Einfluß nehmenden Einrichtungen und Verbänden die Bürger von der Richtigkeit ihrer Politik zu überzeugen versuchen. 8 Das Verlautbarungsinteresse und der Öffentlichkeitsanspruch der Parteien im Rahmen der ihnen obliegenden Mitwirkung an der politischen Willensbildung, das durch Art. 21 GG institutionell und als subjektives Recht garantiert ist, ist nicht in jeder Hinsicht von ihrer Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung und Entscheidungsfindung trennbar und insoweit kein Schutzobjekt grundrechtlicher Freiheit. Die den Parteien zukommende Wirksamkeit im politischen Prozeß der Demokratie setzt naturgemäß einen Zugang zu der von den Massenmedien vermittelten und organisierten öffentlichen Meinung voraus (vgl. § 1 Abs. 2 PartG). Damit wird die Sphäre der durch die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geordneten und garantierten Freiheit der Presse und des Rundfunks betreten. Die Öffentlichkeitsarbeit der Parteien kann den Schutz der Medienfreiheiten beanspruchen, muß sich aber auch den mit diesen Grundrechten angestrebten Gewährleistungen einer freiheitlichen publizistischen Ordnung unterwerfen. Soweit die Parteien ihre Rolle i m Konzert der öffentlichen Meinung unternehmerisch zu verwirklichen suchen, insbesondere durch Gründung von oder Beteiligung an Medienunternehmen, fällt das unter den Schutz der Medienfreiheiten, soweit diese eine Unternehmensfreiheit
6 BVerfGE 111,382(398,404). 7 BVerfGE 84, 290 (299). Bundespräsidialamt (Hrsg.), Bericht der Kommission unabhängiger Sachverständiger zu Fragen der Parteienfinanzierung, Baden-Baden 2001, S. 84 f.; H. H. Klein (Anm. 2), Rn. 186. - Anders P. M. Huber, Parteien in der Demokratie, in: P. Badur a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, 2. Bd., S. 6 0 9 / 6 1 2 ff.
« BVerfGE 52, 63 (83); 85, 264 (284 f.).
Peter Badura
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einschließen. In dieser Hinsicht besteht ein substantieller Unterschied zwischen der Presse und dem Rundfunk im Hinblick auf den Schutz und die Garantie des Freiheitsbereichs. Im übrigen muß das Gesetz, das diese Freiheiten ausgestaltet und einschränkt, abgesehen von den Maßgaben des Art. 5 Abs. 2 GG, den besonderen Status der Parteien (Art. 21 GG) und deren Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung und Entscheidungsfindung berücksichtigen und einen Ausgleich von Parteiendemokratie und Mediendemokratie finden, einen Ausgleich, der die publizistische und gewissermaßen plebiszitäre Kontrolle des Parteienstaates durch die freie öffentliche Meinungsbildung sicherstellt. Die politischen Parteien können an der „Staatsfreiheit" der Medien nicht als „staatsfreie" Unternehmen partizipie-
3. Parteienrechtliche Rechenschaftslegung Die Pflicht der Parteien, über ihre Finanzierung öffentlich Rechenschaft zu geben (Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG), ist durch das 35. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1983 (BGBl. I S. 1481) in Verbindung mit einer Neufassung der §§ 23 ff. PartG durch Art. 1 des Gesetzes vom 22. Dezember 1983 (BGBl. I S. 1577) erweitert worden und erfaßt seitdem auch die Verwendung ihrer Mittel und ihr Vermögen. Die danach in den Rechenschaftsbericht aufzunehmende Vermögensrechnung wies zunächst als Besitzposten „Finanzanlagen" auf (§ 24 Abs. 4 Nr. 3 PartG 1983). Das Achte Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes vom 28. Juni 2002 (BGBl. I S. 2268) hat diesem Besitzposten der „Vermögensbilanz" die Untergliederung in „1. Beteiligungen an Unternehmen, 2. sonstige Finanzanlagen" hinzugefügt und hierzu eine Detaillierung in einem Erläuterungsteil gefordert, u. a. dadurch, daß die „Hauptprodukte von Medienunternehmen" zu benennen sind, soweit Beteiligungen an diesen bestehen (§ 24 Abs. 6 Nr. 1 A. II, Abs. 7 Nr. 2 und 3 PartG). Dies soll die Öffentlichkeit auf die Möglichkeit einer parteipolitischen Einflußnahme auf den redaktionellen Inhalt des Mediums hinweisen. 1 0 Nach dem Grundgedanken des verfassungsrechtlichen Transparenzgebots soll die Finanzgebarung der Parteien, sollen vor allem die Quellen ihrer finanziellen Hilfsmittel offengelegt werden, so daß eine Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen transparent wird. 1 1 Der verfassungsrechtliche Sinn und die Zielsetzung des Transparenzgebots besteht i m Hauptpunkt darin, das Finanzgebaren der Parteien als der in der parlamentarischen Demokratie dominierenden politischen Kräfte in das Licht der Öffentlichkeit zu bringen und so den Wählern und 9 Bundespräsidialamt, Kommissionsbericht (Anm. 7), S. 85 f.; H. H. Klein, Ergänzende Bemerkungen ebd., S. 227 ff.; ders., in: M a u n z / D ü r i g (Anm. 2), Rn. 283 ff.; Huber, Parteien (Anm. 7), S. 617 f.; ders., Κ & R 2004, 216; M. Möstl, D Ö V 2003,106. 10
Interfraktioneller Gesetzentwurf, BT-Drucks. 14/8778, Begründung, S. 19.
ι ' BVerfGE 85, 264 (318 ff.).
Die politischen Parteien in der Mediendemokratie
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den konkurrierenden Parteien, nicht zuletzt durch die kritische Berichterstattung der Medien, Kenntnis und Kontrolle zu ermöglichen. Die gesetzliche Ausformung der verfassungsrechtlich gebotenen Rechenschaftspflicht der Parteien muß das Transparenzgebot durch eine sachgerechte Publizitätspflicht zur Wirksamkeit bringen, darf dabei aber nicht aus dem Auge verlieren, daß die Parteien frei gebildete Vereinigungen des gesellschaftlichen Raumes außerhalb der organisierten Staatlichkeit sind und bleiben müssen, deren Selbstbestimmungsrecht und Betätigungsfreiheit nicht ohne hinreichende Rechtfertigung und nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werden darf. Die Rechenschaftspflicht der Parteien hinsichtlich der Herkunft und Verwendung der Mittel sowie über ihr Vermögen ist ein Gegenstand des Parteienrechts und kann nur durch Bundesgesetz geregelt werden (Art. 21 Abs. 3 GG). Ob und in welcher Weise eine Offenlegungspflicht im Impressum eines Presseerzeugnisses begründet werden darf, ist dagegen ein Problem der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und kompetenzrechtlich eine Frage des Presserechts und nicht des Parteienrechts. Für die Abgrenzung der Gesetzgebungsrechte des Bundes und der Länder kommt es auf den Gegenstand einer Regelung an. Maßgebend ist die unmittelbar durch das Gesetz geregelte Materie und nur in Bezug darauf das Ziel, der Inhalt und die Wirkung, die das Gesetz hat. 1 2 Gegenstand einer Impressumspflicht ist das wirtschaftliche und publizistische Verhalten eines Unternehmens bei der Veröffentlichung von Presseerzeugnissen. Daß das Ziel und die Wirkung der presserechtlichen Offenlegungspflicht die Gewährleistung einer offenen Information und damit einer funktionsfähigen politischen Willensbildung des Volkes ist, ist kompetenzrechtlich nicht ausschlaggebend. Entsprechendes gilt für die Abgrenzung der Gesetzgebungsrechte i m Bereich des Rundfunks. Die Beteiligung der Parteien an der Selbstverwaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die gesetzlichen Zugangsvoraussetzungen zu einer privaten, d. h. unternehmerischen Veranstaltung von Rundfunk, bestimmen sich nach dem Grundrecht der freien Berichterstattung durch Rundfunk (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und nicht nach dem Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und nicht - im Fall der Parteien - nach den Mitwirkungsrechten der Parteien an der politischen Meinungs- und Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 GG). Folgerichtig ist die Frage eines Ausschlusses politischer Parteien von der Beteiligung an Unternehmen, die Rundfunk veranstalten oder an Rundfunkunternehmen unmittelbar oder mittelbar beteiligt sind, Gegenstand des Rundfunkrechts und damit der Landesgesetzgebung (Art. 30, 70 Abs. 1 GG), nicht aber Gegenstand des Parteienrechts, das Bundesgesetze regeln (Art. 21 Abs. 3 GG). Es ist Sache der Landesgesetzgebung zu regeln, ob und welcher Einfluß den politischen Parteien in Medienunternehmen eingeräumt werden muß und darf. Die parteienrechtlich geforderte Vermögensbilanz im Rahmen der Rechenschaftspflicht der Parteien (§ 24 Abs. 6 und 7 PartG) impliziert keine Entscheidung über die Zulässigkeit der Beteiligung an Medienunternehmen.
12 BVerfGE 36, 193 (202 f.); 36, 314 (319); BVerfG NJW 1991, 879.
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I I . Information und Meinungsbildung durch die freie Presse 1. Das Grundrecht der Pressefreiheit Das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) garantiert die freie Herstellung und Verbreitung von Presseerzeugnissen durch den verfassungsrechtlichen Schutz publizistischen, wirtschaftlichen und verlegerischen Handelns. Es gewährt negatorische Rechte der Presseunternehmen, einschließlich der Presseunternehmensfreiheit, und enthält eine objektive Gewährleistung der freien Presse. Eine freie Presse ist unentbehrlich für die freie private und politische Meinungsbildung und für das wirtschaftliche und kulturelle Leben. 1 3 Dem Grundrecht, das zuerst ein gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt gerichtetes Freiheits- und Abwehrrecht ist, ist ein Auftrag für den Gesetzgeber zu entnehmen, die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen des freiheitlichen Pressewesens zu schaffen und die Freiheit der Presse im politischen Prozeß und im gesellschaftlichen Leben zu schützen. Die Pressefreiheit findet ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, die ihrerseits ihrem Inhalt nach und auf der Anwendungsebene dem Grundrecht Rechnung zu tragen haben, in den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG). Die Pressefreiheit kann, unter Beachtung ihres Schutzund Garantiegehalts, durch das Gesetz nach dem Maß der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zur Verwirklichung vorrangiger Gemeinwohlbelange, d. h. Vorschriften der „allgemeinen Gesetze", eingeschränkt werden. Soweit der Presse ein „öffentlicher Auftrag" zugeschrieben wird, wird damit die Bedeutung der freien Presse für die öffentliche Meinung charakterisiert; ein Rechtstitel für eine besondere Pflichtbindung der Presse im Sinn von Qualitäts- und Seriositätsanforderungen liegt darin nicht.
2. Presserechtliche Offenlegungspflicht der Parteien Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes auch dadurch mit, daß sie politische Ziele formulieren und diese den Bürgern vermitteln und daß sie die Öffentlichkeit über ihre Programme, ihre Arbeit und ihre Bestrebungen informieren. Sie bedienen sich der Medien und sind auf den Zugang zu den Medien angewiesen. Den Parteien kommen dafür die Rechte und Pflichten des Art. 21 GG, aber auch die publizistischen und wirtschaftlichen Freiheitsrechte zu. Sie haben das grundrechtlich gewährleistete Recht, sich im Rahmen der Gesetze im Pressebereich unternehmerisch zu betätigen. Der verfassungsrechtliche Status der Parteien und ihre verfassungsrechtlich intendierte Wirksamkeit in den staatlichen Institu-
13 BVerfGE 20, 162 (174 ff).
Die politischen Parteien in der Mediendemokratie
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tionen der parlamentarischen Demokratie kann es zum Schutz der freien Presse rechtfertigen, den Einfluß der Parteien im Pressewesen und deren Beteiligung an Presseunternehmen zum Gegenstand gesetzlicher Regelungen zu machen, sowohl im Presserecht selbst, wie auch im Parteienrecht und im Kartellrecht. Dabei geht es nicht oder nur in Ausnahmefällen um Einschränkungen der unternehmerischen Presseaktivität der Parteien, sondern in erster Linie um eine Transparenz des Parteieneinflusses. Während die insoweit bestehende Rechenschaftspflicht des Parteienrechts das die Willensbildung des Volks beeinflussende Handeln der Parteien betrifft, zielt eine presserechtliche Offenlegungspflicht auf die Gewährleistung der Freiheit der Presse und deren Funktion für Kritik und Kontrolle mit den Mitteln der öffentlichen Meinung. Das Erfordernis der Allgemeinheit, das die gesetzliche Anordnung einer presserechtlichen Offenlegungspflicht rechtfertigt, ist die offene und ausreichende Information des Publikums über die Beteiligungen und sonstigen Einflußbeziehungen politischer Parteien im Pressewesen, näherhin bei periodischen Druckerzeugnissen, um auf diese Weise einen möglichst unverfälschten und transparenten Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung zu erreichen. Es ist sachgerecht und durch die verfassungsrechtlich eingerichtete Organisation und Entscheidungsfindung der Demokratie geboten, den Einfluß gerade und besonders der Parteien in den Medien offen zu legen. 1 4 Die Massenmedien sind eine publizistische Ergänzung der institutionalisierten Staatlichkeit und gewissermaßen ein Gegengewicht plebiszitärer Demokratie gegen die Parteiendemokratie. Der Parteienartikel der Verfassung (Art. 21 GG) bringt zur Geltung, daß die Parteien im Hinblick auf die freie öffentliche Meinungsbildung mit den Unternehmen, Gesellschaften und sonstigen Vereinigungen (Art. 9 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG) nicht vergleichbar sind.
3. Novelle zum Hessischen Pressegesetz Ein Gesetzentwurf der Landesregierung für ein Gesetz zur Änderung des Hessischen Pressegesetzes vom 12. September 2005 (LT-Drucks. 16/4393) sieht vor, daß der Verleger eines periodischen Druckwerkes zu bestimmten Erscheinungszeitpunkten im Impressum des Druckwerks die Beteiligungsverhältnisse einer politischen Partei, die an dem Unternehmen unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist, 14 Vgl. Entwurf der Fraktion der C D U / C S U für ein Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes, BT-Drucks. 14/7441 (13. 11. 2001), Begründung, S. 7, wo allerdings aus dem „Sonderstatus, den die Parteien im bundesdeutschen Verfassungsgefüge einnehmen", Grenzen für den Betrieb, den Besitz und die Beteiligung an Medienunternehmen außerhalb des M i t w i r kungsauftrags des Art. 21 GG abgeleitet und die Geltung des Art. 12 Abs. 1 GG für Parteien abgelehnt wird. Eine derart „strikte Trennung von Parteien und Medien" läßt sich verfassungsrechtlich nicht begründen. Art. 21 GG kann als verfassungsimmanente Schranke der Grundrechtsausübung aufgefaßt, nicht aber als Ausschluß der Grundrechtsgeltung für die wirtschaftliche und publizistische Betätigung der Parteien - abgesehen von Art. 9 Abs. 1 GG - konstruiert werden.
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durch Angabe des Namens der politischen Partei und der Art und des Umfangs der Beteiligung offen zu legen hat. Die Offenlegungspflicht ist durch eine Bagatellklausel eingeschränkt (§ 5 Abs. 3 und 4 in der Fassung des Gesetzentwurfs). Die Novelle soll die in einer Demokratie unentbehrliche umfassende Information durch eine freie, regelmäßig erscheinende Presse verbessern. Die Begründung des Gesetzentwurfs gibt die verfassungsrechtlichen Erwägungen, aus denen sich die Zulässigkeit der Offenlegungspflicht ergibt, ausführlich und einleuchtend wieder. 1 5 Die Offenlegung der Beteiligung von politischen Parteien beeinträchtige den Funktionsauftrag der Parteien und die ihnen zustehenden Grundrechte nicht, sondern mache nur deutlich, daß die betreffende Zeitung nicht mehr im vollen Sinne unabhängiges Medium der Berichterstattung und Vermittlung von Meinungen, sondern zugleich ein Instrument der Partei im politischen Meinungskampf sein könne. Ohne eine Regelung über die Pflicht zur Offenlegung der Rechtsbeziehungen und Beteiligungsverhältnisse würde der Bürger in seiner Einschätzung behindert, ob eine freie Berichterstattung oder eine von politischen oder wirtschaftlichen Interessen beeinflußte Berichterstattung vorliege. Parteien stünden auf Grund ihrer durch Art. 21 GG vorgezeichneten Funktion in einem Näheverhältnis zum Staat, das die Offenlegung einer versteckt beherrschenden Medienbeteiligung einer politischen Partei an einem Unternehmen verlange. Die verfassungsrechtlich intendierte Vermittlungs- und Kontrollfunktion der Presse müsse durch das Gesetz gewährleistet werden. Die grundsätzlich umfassende und unreglementierte Presse-Veranstaltungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), die auch den politischen Parteien zustehe, dürfe beschränkt werden, um „Funktionsstörungen" der Presse zu verhindern, zu denen es u. a. kommen könne, wenn die Presse, die unter den Bedingungen des Parteienstaates die politische Arbeit der Parteien kontrollieren und kritisch vermitteln solle, ihrerseits von den Parteien kontrolliert, beeinflußt und beherrscht werden könne.
III. Gewährleistung der Rundfunkfreiheit durch Gesetz 1. Das Grundrecht Die publizistische Vermittlung der Meinungen und Interessen durch die Medien ist nicht politisch indifferent. Die Massenmedien sind längst Werkzeug und Forum einer plebiszitären Demokratie geworden. Sie sind selbst Teil des politischen Systems, nicht einfach Akteure der dem Staat gegenüberstehenden Gesellschaft mit den Attributen grundrechtlicher Freiheit. Die „Staatsfreiheit" des Rundfunks allein garantiert nicht schon publizistische Unabhängigkeit. Die Rundfunkfreiheit ist ein is Gesetzentwurf, LT-Drucks. 16/4393, S. 6 ff. - Vgl. die Schriftlichen Stellungnahmen von H. H. Klein und P. Badura zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Hessischen Landtages am 17. November 2005.
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Grundrecht und als Abwehrrecht und Schutzgarantie ausschlaggebend. Sie ist aber auch ein institutionelles Element der demokratischen Willensbildung und Entscheidungsfindung. Die normativen und organisatorischen Vorkehrungen zur Verwirklichung der grundrechtlichen Freiheit des Rundfunks - und zumal des für die Gewährleistung der Rundfunkfreiheit im dualen System essentiellen öffentlichrechtlichen Rundfunks - sind durch Verfassungsgericht, Staatsvertrag und Gesetz imponierend ausgebaut worden. So unverzichtbar der Staat damit als Garant einer umfassend zu verstehenden Rundfunkfreiheit ist, so sehr sind seine Repräsentanten, und damit nicht zuletzt die Parteien, doch selbst in Gefahr, die Rundfunkveranstaltung ihren Interessen unterzuordnen. Das gilt für die notwendigen einmaligen Ausgestaltungs- und Einrichtungsakte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, mehr aber noch für die wiederkehrenden Maßnahmen der Ausstattung und der Beaufsichtigung. 16 Zur Stellung der Selbstverwaltungsgremien hat sich das Bundesverfassungsgericht knapp und entschieden geäußert: Der Rundfunkrat der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist „Sachwalter der Interessen der Allgemeinheit, nicht Sprachrohr politischer Kräfte". 1 7 Für die Unternehmen des privaten Rundfunks stellt sich die Frage anders, wenn auch nach demselben Grundgedanken. Eine Betätigung der Parteien als Rundfunkunternehmer kann durch die Rundfunkgesetze der Länder ausgeschlossen werden. Darauf, ob im Rundfunk eine Lage der Binnen- oder der gesicherten Außenpluralität besteht, kommt es nicht an. Maßgebend sind vielmehr die Gesichtspunkte der Staatsferne und der Überparteilichkeit des Rundfunks. 1 8 Die Autonomie des Rundfunks - wie aller engeren Gemeinschaften - ist Teil des Ganzen. Sie kann ebensowenig wie die individuelle Freiheit aller durch die Abwehr staatlicher Eingriffe und die Abschottung einer rechtlich unkartierbaren Zone subjektiven Beliebens gesichert werden. Die Rundfunkfreiheit kann nicht als Ausgrenzung und Befestigung eines „staatsfreien" Raums selbstgenügsamer Gruppeninteressen oder selbstreferentieller Eigenwelten verstanden werden. 1 9 Die Abwehr funktionswidriger Eingriffe des Staates ist nur eine Seite der Garantie. Die andere Seite der Grundrechtswirkung, die Ordnungs- und Gewährleistungsfunktion, entspringt der Notwendigkeit, die gemeinschaftliche Leistung des Rundfunks zu organisieren und institutionell so auszugestalten, daß die intendierte Freiheit der 16 BVerfGE 87, 181; 90, 60. - Ρ Badura, Die publizistische Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks - Staatsfreiheit und Parteieneinfluß, in: H. A b e l e / H . Fünfg e l d / A . Riva(Hrsg.), Aktuelle Problemfelder im Rundfunk: Qualität, Unabhängigkeit, Personal, Berlin 2004, S. 41. 17 BVerfGE 60, 53 (65 f.). ι» BVerfGE 73, 118 (190). - Das Urteil des NdsStGH vom 6. Sept. 2005 - StGH 4 / 0 4 (DVB1. 2005, 1515) hat die niedersächsische Regelung mittelbarer Beteiligung politischer Parteien an privaten Rundfunkunternehmen als unverhältnismäßig verworfen, aber eine Beschränkung des Medieneinflusses politischer Parteien durch Landesgesetz nicht schlechthin für unzulässig erklärt. 19 P. Badura, Die steinerne Hand, in: Festschrift für Gerd Jauch zum 65. Geburtstag (Hrsg.: B. Töpper), München 1990, S. 1.
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Berichterstattung entstehen und erhalten werden kann. Der Staat und sein Gesetz erscheinen als Organisator und Protektor der Freiheit - aber eben nicht um des publizistischen Interesses als Selbstzweck willen, sondern wegen der Bedeutung der publizistischen Leistung für die Allgemeinheit. Die staatsgeschaffene und staatlich protegierte Autonomie des Rundfunks ist eine Balance politischer und publizistischer Kräfte zur Sicherung der Freiheit der Berichterstattung gegen Vermachtung, Instrumentalisierung und Einseitigkeit.
2. Unternehmensfreiheit privater Rundfunkveranstalter Die Schutz- und Garantiewirkung der Rundfunkfreiheit unterscheidet sich von derjenigen der Pressefreiheit hinsichtlich des Zugangs von Veranstaltungsinteressenten zu dem Medium. Das Grundrecht sichert die als Freiheit und objektive Gewährleistung garantierte freie Berichterstattung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die Unternehmen des privaten Rundfunks. Es bedarf der Ausgestaltung durch Gesetz, um die organisatorischen Bedingungen einer Veranstaltung von Rundfunksendungen einschließlich der Zugangsvoraussetzungen der privaten Medienunternehmen bereitzustellen und einen freien, zur unabhängigen und ausgewogenen Berichterstattung befähigten Rundfunks zu gewährleisten. 2 0 Das Grundrecht garantiert demnach eine Rundfunkunternehmensfreiheit nur nach Maßgabe des Gesetzes, das die durch das Grundrecht festgelegte objektive Gewährleistung der Freiheit des Rundfunks beachten muß. Dementsprechend ist der Zugang zur Veranstaltung von Rundfunksendungen von einer Regelung durch Gesetz abhängig und nur nach Maßgabe des Gesetzes rechtlich möglich. Dem Regelungsauftrag des Grundrechts folgend muß der Gesetzgeber die Staatsferne und Überparteilichkeit des öffentlich-rechtlichen und des privaten Rundfunks sichern. Eine der Pressefreiheit vergleichbare Rundfunkunternehmensfreiheit steht den Medienunternehmen und den etwa an ihnen beteiligten politischen Parteien im Bereich des privaten Rundfunks nur nach Maßgabe der sich an Art. 5 Abs. 1 Satz 2 in Verb, mit Art. 3 Abs. I GG (Chancengleichheit, Willkürverbot) orientierenden und insbesondere die durch das Grundrecht festgelegte objektive Gewährleistung der Freiheit des Rundfunks beachtenden Gesetzgebung zu. Das Bundesverfassungsgericht hat an dieser differenzierenden Schutz- und Garantiewirkung der Pressefreiheit und der Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk trotz der literarischen Kritik festgehalten. 21 Es hat in neuerer Zeit jedoch deutlicher betont, daß der 20 BVerfGE 59, 295; 73, 118; 83, 238. - R Badura, Gewährleistung der Freiheit des Rundfunks, „Funktion" des Rundfunks und „öffentliche Aufgabe" der Rundfunkveranstalter, in: Festschrift für Franz Knöpfle zum 70. Geburtstag (Hrsg. D. Merten), München 1996, S. 1; C. Giehl, Der Wettbewerb zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkveranstaltern, Baden-Baden 1993; H. Bethge, Die Freiheit des privaten Rundfunks, D Ö V 2002, 673. 21 BVerfGE 83, 238 (295 ff.); 90, 60 (87 ff.); 91, 125 (134 f.); 95, 163 (173). - H. H. Klein, Art. 21 (Anm. 2), Rn. 288; C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. K l e i n / C . Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, München 2005, Art. 5, Rn. 108 ff., 149 ff.
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Zugang zu privater Rundfunkveranstaltung und die Ausübung von gesetzlich zugelassenem privaten Rundfunk an dem Grundrecht zu messen sind und Gegenstand subjektiver Grundrechtsberechtigungen sein können. 2 2 Eine originäre Rundfunkunternehmerfreiheit nach dem Muster der Pressefreiheit als Bestandteil der dualen Rundfunkordnung oder der im Entstehen begriffenen weltweiten „elektronischen" Informationsgesellschaft 23 ist bisher keine aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ableitbare Rechtsfolge. Sie ist auch gemeinschaftsrechtlich nicht vorgegeben. Nationale Regelungen, die die freie Veranstaltung von Rundfunksendungen einschränken, sind gemeinschaftsrechtlich zulässig, wenn sie notwendig sind, um den pluralistischen und nichtkommerziellen Charakter des durch diese Regelung eingeführten Rundfunksystems zu gewährleisten. 24 Der Zugang und Einfluß politischer Parteien im Bereich des privaten Rundfunks bleibt auf die beschränkte Reichweite des Grundrechts angewiesen.
3. Rundfunkrechtliche Zugangsbeschränkungen für politische Parteien Die Rundfunk- und Mediengesetze der Länder regeln die Zulassung privater Veranstalter zur Veranstaltung von Rundfunk 2 5 und bestimmen in diesem Zusammenhang auch, welche Personen, Vereinigungen und Unternehmen zum Angebot von Rundfunkprogrammen und -Sendungen zugelassen werden können. Politischen Parteien darf eine Zulassung nicht erteilt werden. In den letzten Jahren sind in einige Gesetze besondere Vorschriften über die Zulassung von Unternehmen eingefügt worden, an denen politische Parteien beteiligt sind oder auf die sie sonst einen Einfluß ausüben können. Diese Vorschriften zielen darauf ab, auch mittelbare Einflußmöglichkeiten politischer Parteien auf den privaten Rundfunk auszuschließen. Durch das Gesetz vom 24. Juli 2003 (GVB1. S. 4 7 7 ) 2 6 ist in das Bayerische Mediengesetz folgende Bestimmung aufgenommen worden (Art. 24 Abs. 3 BayMG):
22 BVerfGE 97, 298 (310 IT.); BayVerfGH BayVBl. 2005, 689. 23 Siehe M. Bullinger, Medien, Pressefreiheit, Rundfunkverfassung, in: 50 Jahre Bundesverfassungsgericht (Anm. 7), 2. Bd., S. 193/200 ff.
24 EuGH Urteil vom 3. Febr. 1993 - Rs. C - 1 4 8 / 9 1 - Veronica Omroep, Slg. 1993,1-487. 25 Siehe die Vorschriften der §§ 20 ff. des Rundfunkstaatsvertrages vom 31. Aug. 1991, zuletzt geändert durch den Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 8. bis 15. Okt. 2004. 26 Gesetzentwurf der Staatsregierung, LTag Drucks. 14/12033. - Siehe die Anhörung vor dem Ausschuß für Hochschule, Forschung und Kultur des Bayerischen Landtages am 4. Juni 2003 (Protokoll der 94. Sitzung) und insbes. die Ausführungen von M. Morlok zur Begründung seiner These, daß der Gesetzgeber politische Parteien nicht grundsätzlich von der Beteiligung an Medienunternehmen ausschließen könne. „Staatsferne" sei kein selbsttragender Rechtfertigungsgrund.
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Peter Badura Politische Parteien oder Wählergruppen und Unternehmen und Vereinigungen, an denen politische Parteien und Wählergruppen unmittelbar oder mittelbar beteiligt sind, dürfen keine Rundfunkprogramme und -Sendungen anbieten. Das Gleiche gilt für Treuhandverhältnisse und stille Beteiligungen von politischen Parteien und Wählergruppen. Die Sätze 1 und 2 finden keine Anwendung auf geringfügige mittelbare Beteiligungen ohne Stimmund Kontrollrecht.
Verbunden damit ist eine den Vertrauensschutz respektierende Übergangsvorschrift (Art. 41 Abs. 4 BayMG). Die Begründung des Gesetzentwurfs rechtfertigt die den Einfluß politischer Parteien i m privaten Rundfunk eindämmende Neuregelung damit, daß die nunmehr unzulässigen Beteiligungen und Rechtsbeziehungen dem Gebot der Staatsferne des Rundfunks widersprächen; denn politische Parteien seien der staatlichen Sphäre zuzurechnen. M i t der Neuregelung werde die Unabhängigkeit und die Meinungsvielfalt i m Bereich der privaten Rundfunkangebote in Bayern gestärkt. In Niedersachsen hatte das Gesetz zur Änderung des Mediengesetzes vom 11. Dezember 2003 (GVB1. S. 4 2 3 ) 2 7 die Vorschrift des § 6 Abs. 3 NMedienG novelliert und folgende Regelung getroffen, mit der die bestehenden Beschränkungen zu Lasten politischer Parteien ergänzt und verschärft wurden (§ 6 Abs. 3 Satz 2 bis 4): Die Zulassung darf auch nicht einer juristischen Person oder einer Vereinigung erteilt werden, an der eine politische Partei oder eine Wählergruppe still, durch ein Treuhand Verhältnis oder mittelbar in gleich welcher Form beteiligt ist. Satz 2 gilt für mittelbare Beteiligungen nicht, wenn die politische Partei oder Wählergruppe mindestens in einer Beteiligungsstufe an einer juristischen Person oder Vereinigung zu weniger als zehn vom Hundert der Kapital- oder Stimmrechtsanteile beteiligt ist. Satz 2 gilt für mittelbare Beteiligungen außerdem nicht, wenn die von Satz 3 nicht erfaßten Beteiligungen beim Veranstalter insgesamt weniger als zehn vom Hundert der Kapital- oder Stimmrechts-Anteile erreichen und ein maßgeblicher Einfluß einer politischen Partei oder Wählergruppe auf die Geschäftsführung oder Programmgestaltung des Veranstalters weder unmittelbar noch mittelbar ausgeübt werden kann.
Nach dem Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs vom 6. September 2005 - StGH 4 / 0 4 - ist diese Vorschrift mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 2 N V unvereinbar und daher nichtig. Zwar diene sie dem Gebot der Staatsferne und der Stärkung der Unabhängigkeit und Meinungsvielfalt des Rundfunks in Niedersachsen. Damit hätte sie eine verfassungskonforme Zielsetzung. Sie überschreite jedoch die Grenzen, die der Regelungsfreiheit des Gesetzgebers insoweit gezogen seien. Das Ziel, Staatsferne, Überparteilichkeit sowie Meinungsvielfalt des Rundfunks im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu sichern, rechtfertige nicht den weitgehenden Ausschluß politischer Parteien von der Veranstaltung privaten Rundfunks.
27 Gesetzentwurf der Fraktionen der C D U und der FDP, LT-Drucks. 15/450.
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Unter der Prämisse, daß das Grundrecht der Rundfunkfreiheit eine der Pressefreiheit vergleichbare Unternehmensfreiheit nicht gewährt, muß dem Gesetzgeber zur Gewährleistung der Freiheit des Rundfunks ein weiter Spielraum der Ausgestaltung zugestanden werden, um einen ins Gewicht fallenden Einfluß der politischen Parteien auf den Rundfunk auszuschließen, wie er i m Bereich des privaten Rundfunks durch unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an Medienunternehmen mit den Mitteln des Gesellschafts- und Konzernrechts ermöglicht wird. Eine zu verhindernde Störung der funktionsgerechten publizistischen Aufgabenwahrnehmung wird allein durch Offenlegung der Beziehungen, „Kontrolle durch Transparenz", nicht ausgeschlossen. Der Gesetzgeber kann nicht nur der Beherrschung des Rundfunks durch Staat oder Parteien, sondern auch dem greifbaren oder möglichen Einfluß von Staat und Parteien entgegentreten. Dabei muß nicht nur die Staatsferne und Unabhängigkeit des Rundfunks in Rechnung gestellt werden. Einflußnahme kann auch durch andere Sachverhalte ermöglicht werden, so u. a. medienpolitisch oder personalwirtschaftlich, also nicht allein durch offene „Indienstnahme" oder „Instrumentalisierung". Die Schutz- und Ordnungsfunktion des Grundrechts muß im gesetzlich zu sichernden Gleichgewicht der Parteiendemokratie und der Mediendemokratie zur Geltung kommen.
Der enteignungsrechtliche Übernahmeanspruch des Eigentümers Von Rüdiger Breuer, Bonn
I. Problemstellung Zahlreiche Gesetze verschiedener Rechtsgebiete gewähren dem Eigentümer bei einer öffentlich-rechtlichen Sozialwidmung seines Grundstücks einen Übernahmeanspruch gegen den begünstigten Aufgaben- oder Vorhabenträger. Dieser Anspruch setzt voraus, daß die Sozialwidmung dominant ist und die privatnützige Verwendung des betroffenen Grundstücks ausschließt und es infolgedessen dem Eigentümer angesichts der statuierten Verbote und Pflichten wirtschaftlich nicht zuzumuten ist, das betroffene Grundstück zu behalten oder es in der bisherigen oder einer anderen zulässigen Art zu nutzen. Damit erhält der Eigentümer ein Initiativrecht, das mit der klassischen Enteignung korrespondiert 1 . Während diese als Güterbeschaffungsvorgang dem Aufgaben- oder Vorhabenträger den hoheitlichen Zwangserwerb des benötigten Grundstücks ermöglicht und so dessen öffentlichrechtliche Sozialwidmung durchsetzt, befähigt der Übernahmeanspruch den Eigentümer, von sich aus der dominanten Sozialwidmung seines Grundstücks zu entgehen. Die Übernahme des betroffenen Grundstücks muß nach den zugrundeliegenden Gesetzen durchweg zu einem Preis erfolgen, der nach den Vorschriften über die Enteignungsentschädigung zu bemessen ist. A u f diese Weise wird, in der Terminologie der alten Enteigungsdoktrin formuliert, ein Zwangskauf geschlossen 2 . Aufgrund des Übernahmeanspruchs braucht der Eigentümer nicht zu warten, ob und wann der begünstigte Aufgaben- oder Vorhabenträger das betroffene Grundstück entweder freihändig oder im Wege eines Enteigungsverfahrens zu er1
In diesem Sinne schon C. S. Grünhut, Das Enteigriungsrecht, 1873, S. 230 ff., mit besonderer Bezugnahme auf das französische Enteignungsrecht; Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1895, Bd. II, S. 53 f. (ausnahmsweises „Selbstbetriebsrecht" des Eigentümers); dazu auch, allerdings kritisch gegenüber der Verallgemeinerung Μ. Layer, Principien des Enteignungsrechtes, 1902, S. 447 f.; i m Zusammenhang mit dem Recht auf Ausdehnung der Enteignung ferner v. Rohland, Zur Theorie und Praxis des Deutschen Enteignungsrechts, 1875, S. 91 ff., insbes. S. 99 ff., mit der Bemerkung, daß das Ausdehnungsrecht bei Beschränkung des Eigentums „ganz dieselbe Natur" wie bei der teilweisen Eigentumsentziehung habe, sowie mit Hinweisen auf zahlreiche Landesgesetze; zum geltenden Recht des § 40 BauGB Breuer, in: Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006, § 40 Rn. 6 ff. 2 Vgl. dazu etwa Georg Meyer, Das Recht der Expropriation, 1868, S. 68 ff.; v. Rohland (Anm. 1), S. 29 ff.; kritisch Layer (Anm. 1), S. 318 f.
2 FS Bartlsperger
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werben sucht. Vielmehr kann der Eigentümer mit der Geltendmachung des Übernahmeanspruchs von sich aus erreichen, daß das Grundstückseigentum der dominanten Sozialwidmung folgt, also auf den begünstigten Aufgaben- oder Vorhabenträger übergeht. Zugleich ist so - ebenso wie i m Falle der Enteignung - gewährleistet, daß der Eigentümer mittels des gesetzlich vorgeschriebenen Preises ein anderes, gleichwertiges Objekt erwerben und privatnützig verwenden kann. Demgemäß wird das Übernahmeverlangen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum mit einem Enteignungsantrag des Eigentümers gegen sich selbst gleichgesetzt 3 . Aus dieser funktionalen Sicht erscheint der Übernahmeanspruch als spiegelbildliches Pendant zur klassischen Enteignung. Für den Eigentümer präsentiert sich das Rechtsinstitut des Übernahmeanspruchs geradezu als Königsweg, wenn es darum geht, einer „Inanspruchnahme" des Eigentums entgegenzutreten, die den Betroffenen aufgrund der öffentlich-rechtlichen, dominant wirkenden Sozialwidmung an einer privatnützigen Verwendung hindert und zum bloßen Treuhänder der Allgemeinheit herabstuft, ohne daß der begünstigte Aufgaben- oder Vorhabenträger seinerseits Erwerbsverhandlungen oder ein Enteignungsverfahren einleitet 4 . Gerade in einer solchen Schwebelage greift der gesetzliche Übernahmeanspruch ein. Er schützt den Eigentümer vor einer Perpetuierung der Schwebelage und somit vor einem unvollendeten, aber blockierend wirkenden Zugriff der „öffentlichen Hand" auf das betroffene Grundstück. Anders ausgedrückt: M i t dem Übernahmeanspruch kann der Eigentümer die dominante und dauerhafte Sozialwidmung seines Grundstücks verhindern, also dessen kalte Sozialisierung abwehren. Diese Funktion des Übernahmeanspruchs und sein korrespondierendes Verhältnis zur klassischen Enteignung fordern zu einer eigentumsdogmatischen Analyse heraus. Insbesondere gilt es zu klären, ob der Übernahmeanspruch selbst enteignungsrechtlichen Charakter hat. Präzisiert man die maßgebende Frage, so geht sie dahin, ob die gesetzlich geregelten, zuvor nur grob umrissenen Voraussetzungen des Übernahmenanspruchs Enteignungstatbestände i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG darstellen und dieser Anspruch demgemäß als zulässiger und gebotener Modus der Enteignungsentschädigung nach Art. 14 Abs. 3 Satz 2 und 3 GG zu qualifizieren ist. Hierfür spricht vor allem die spiegelbildliche Beziehung zwischen der klassischen Enteignung durch die „öffentliche Hand" und dem Übernahmeanspruch des betroffenen Eigentümers, der einer dominanten Sozialwidmung seines Grundstücks ausgesetzt ist und mittels dieses Anspruchs von sich aus den Eigentumsübergang erzwingen kann. Umgekehrt bleibt die Rückfrage zu stellen, ob die enteignungsrechtliche Qualifizierung des einfachgesetzlich geregelten Übernahmeanspruchs mit der neueren 3 So Grünhut (Anm. 1), S. 231; i m neueren Schrifttum Memmesheimer/Upmeier/Schönstein, Denkmalrecht in Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1989, § 31 DSchG Rn. 14; König, BauR 2001, 1374(1375). 4 Deutlich in diesem Sinne Grünhut (Anm. 1), S. 231; ferner R. Breuer, Die Bodennutzung i m Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 190 ff.; ders., in: Schrödter (Anm. 1).
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eigentumsdogmatischen Konzeption des BVerfG 5 und der hieran anknüpfenden Rechtslehre 6 vereinbar ist. Aus dieser Sicht spitzt sich das eigentumsdogmatische Problem auf die Gegenfrage zu, ob der Übernahmeanspruch des betroffenen Eigentümers nicht vielmehr Bestandteil einer gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundstückseigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ist. Dann wären weder die LegtitimationsVoraussetzungen noch die Rechtsfolgenpostulate des Art. 14 Abs. 3 GG anwendbar. Insbesondere bewegte man sich dann außerhalb des tatbestandlichen Anwendungsbereichs der Enteignung und des Gebots einer Enteignungsentschädigung. Geht man von dieser Deutung aus, so wären bei der gesetzlichen Regelung des Übernahmenanspruchs wie auch bei gerichtlichen Entscheidungen über die Zuerkennung eines solchen Anspruchs lediglich die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Instituts- und Grundrechtsgarantie des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 GG sowie der kontrapunktischen Sozialpflichtigkeit nach Art. 14 Abs. 2 GG zu beachten. Hiernach käme dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der sich von den harten, am Ultima-ratio-Prinzip ausgerichteten Ausnahmeanforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG grundlegend unterscheidet. Dieser Unterschied der eigentumsdogmatischen Kategorien und Maßstäbe ist auch für die Rechtsauslegung und -anwendung, also namentlich für die gerichtlichen Entscheidungen über geltend gemachte Übernahmeansprüche bedeutsam. Jedenfalls ist er unter dem Gesichtspunkt der verfassungskonformen Gesetzesauslegung relevant. Bei der so gestellten eigentumsdogmatischen Qualifizierungsfrage ist zu berücksichtigen, daß der verfassungsrechtliche Enteignungsbegriff in jüngerer Zeit wieder auf die sog. klassische Enteignung beschränkt und ausschließlich als Güterbeschaffungsvorgang gedeutet wird. So ist bereits i m Anschluß an den Naßauskiesungsbeschluß des BVerfG 7 die These aufgestellt worden, die Enteignung sei generell nur noch als Entzug von Eigentum im Sinne eines „hoheitlich bewirkten Rechtsübergangs" zu verstehen 8 . A u f dieser Linie liegt auch die Ansicht, daß zwar nicht die Legalenteignung, wohl aber die Administrativenteignung ausschließlich als Güterbeschaffungsvorgang gedeutet werden müsse 9 . Damit hat sich seit längerem die Verabschiedung der Aufopferungsenteignung jedenfalls auf der Ebene der Administrativenteignung abgezeichnet - eine Entwicklung, die gegen den vom RG und vom B G H erweiterten Enteignungsbegriff 10 gerichtet war. M i t der jüngeren
5 BVerfGE 52, 1 (27); 56, 249 (260); 58, 300 (330 ff.); 72, 66 (76); 79, 174 (191, 198); 100, 226 (239 f.); 102, 1 (15 f.); 104, 1 (9 f.). 6 So namentlich Roz.ek, die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, S. 12 ff., 19 ff., 161 ff.
7 BVerfGE 58, 300 (330 ff.). 8 So Rittstieg, NJW 1982, 721 (723 f.). 9 So Osterloh, DVB1. 1991, 906 (912 f.); Lege, NJW 1993, 2565 (2569); ders., JZ 1994, 431 (438); ders., Zwangskontrakt und Güterdefinition, 1995, S. 57 f.; weitergehend, nämlich generell gegen die Rechtsfigur der Aufopferungsenteignung, Rozek (Anm. 6), S. 151 ff., 224 f., 230 f., 283. 2*
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Rechtsprechung, derzufolge die Enteignung begriffsnotwendig auf die vollständige oder teilweise, der hoheitlichen Güterbeschaffung dienende Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen beschränkt ist und gesetzliche Bodennutzungsregelungen sowie Bebauungsplanfestsetzungen stets Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums i. S. des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen, hat das BVerfG die geforderte Rückkehr zum klassischen Enteignungsbegriff vollzogen 1 1 . Die Frage, wie der einfachgesetzlich geregelte Übernahmeanspruch des Eigentümers verfassungsrechtlich zu qualifizieren ist, führt mithin in einen Zwiespalt. Der eingangs dargelegten enteignungsrechtlichen Deutung steht ein Verständnis gegenüber, das den Übernahmeanspruch als Bestandteil einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des betroffenen Eigentums aufzufassen scheint. M i t den folgenden Überlegungen sei der Versuch unternommen, den aufgedeckten Zwiespalt durch eine konsistente Lösung zu überwinden.
II. Der einfachgesetzliche Befund: Der Übernahmeanspruch des Eigentümers im geltenden Gesetzesrecht 1. Der Übernahmeanspruch im Planungsschadensrecht des BauGB a) Im Planungsschadensrecht des BauGB ist ein Übernahmeanspruch des Eigentümers zum einen als regelmäßige Rechtsfolge für die Fälle geregelt, in denen im Bebauungsplan Flächen für Zwecke und Vorhaben des Gemein wohls oder für eine sonstige fremdnützige Verwendung festgesetzt sind (§ 40 Abs. 1 und 2 BauGB). Dies gilt z. B. für die Festsetzung von Flächen für den Gemeinbedarf sowie für Sport- und Spielanlagen, Flächen für Personengruppen mit besonderem Wohnbedarf, von der Bebauung freizuhaltende Schutzflächen, Flächen für besondere Anlagen und Vorkehrungen zum Schutz vor (Umwelt-)Einwirkungen, Verkehrsflächen, Versorgungsflächen, Flächen für die Abfall- und Abwasserbeseitigung, Grünflächen sowie von der Bebauung freizuhaltende Flächen (§ 40 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 und 12 BauGB). Derartige Festsetzungen sind gegenüber dem Eigentümer heteronom, also fremdnützig 1 2 . Sie schneiden ihm die privatnüt10 Vgl. dazu statt vieler: Scheuner, in: Reinhardt/Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, 1954, S. 85 ff.; Werner Weber, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 345 ff., 370 ff.; Papier, in: M a u n z / D ü r i g , GG, Art. 14 Rn. 343 ff., 363 ff., 524 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 169 ff.
ι· Vgl. im Anschluß an BVerfG, N V w Z 1999, 979 f. (Planungsschadensrecht), BVerfGE 100, 226 (239 f.) (Denkmalschutz) und BVerfGE 104, 1 (9 f.) (Baulandumlegung) statt vieler: Papier (Fn. 10), Art. 14 Rn. 354 f., 422 ff., 527, 654 f.; Haas, N V w Z 2002, 272 ff.; auch Hendler, DVB1. 2001, 1233 (1237 f.); ders., in: FS für Maurer, 2001, S. 127 (131); Breuer, in: Schrödter (Fn. 1 ), § 39 Rn. 11, § 40 Rn. 6a, § 42 Rn. 16 ff. 12 Breuer, Bodennutzung (Fn. 4); ders., in: Schrödter (Fn. 1), § 40 Rn. 1, 6, 11 f.; auch Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 9. Aufl. 2005, § 40 Rn. 1; Wahlhäuser, Die moderne städtebauliche Planung und das Planungsschadensrecht, 2002, S. 141.
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zige Verwendung seines Grundstücks ab. Der Eigentümer kann deshalb die Übernahme der betroffenen Flächen verlangen, wenn und soweit es ihm mit Rücksicht auf die Festsetzung oder Durchführung des Bebauungsplans wirtschaftlich nicht mehr zuzumuten ist, das Grundstück zu behalten oder es in der bisherigen oder einer anderen zulässigen Art zu nutzen (§ 40 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BauGB). Dieser Übernahmeanspruch greift allein aufgrund der Festsetzung der heteronomen Nutzung ein, also unabhängig davon, ob die öffentliche Hand aufgrund der Festsetzung der heteronomen Nutzung das Verfahren der klassischen Enteignung gemäß den § § 8 5 ff. BauGB oder ein Umlegungsverfahren gemäß den § § 4 5 ff. BauGB betreibt oder zu betreiben beabsichtigt. Die Festsetzung der heteronomen Nutzung löst demnach als solche bereits die Entschädigungspflicht aus. Dem betroffenen Eigentümer wird mit dem Übernahmeanspruch nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 BauGB die Möglichkeit eröffnet, die Initiative zu einer entschädigungsrechtlichen Lösung der aufgetretenen Interessenkollision zu ergreifen, ohne die Initiative der öffentlichen Hand zur Durchführung der klassischen Enteignung oder einer Umlegung abwarten zu müssen 13 . Damit kann der Eigentümer von sich aus die Konsequenz aus der planerischen Sozialwidmung seines Grundstücks ziehen, indem er die Änderung der Güterzuordnung durchsetzt. Der Bebauungsplan mit Festsetzungen nach § 40 Abs. 1 BauGB und eine eventuell nachfolgende klassische Enteignung gemäß den § § 8 5 ff. BauGB sind mithin zweistufig angelegt. Setzt ein Bebauungsplan für ein bisher privat genutztes Grundstück mit Baulandqualität z. B. eine öffentliche Grünfläche oder eine Fläche für den Gemeinbedarf fest, so bedarf es im Rahmen der Abwägung grundsätzlich keiner vorgezogenen Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine eventuell nachfolgende Enteignung des Grundstücks nach den § § 8 5 ff. BauGB erfüllt sind. Der Bebauungsplan enthält keine Vorentscheidung über die Zulässigkeit der klassischen städtebaulichen Enteignung nach den §§ 85 ff. B a u G B 1 4 . Bei der Aufstellung des Bebauungsplans muß jedoch im Rahmen der planerischen Abwägung nach § 1 Abs. 6 und 7 BauGB das private, durch die Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gesicherte Interesse am Erhalt bestehender baulicher Nutzungsrechte mit dem öffentlichen Interesse an einer städtebaulichen Neuordnung des Planungsgebiets abgewogen werden. Dabei ist in die Abwägung einzustellen, daß sich „der Entzug der baulichen Nutzungsmöglichkeiten für den Betroffenen wie eine Teilenteignung auswirken kann" und dem Bestandschutz daher „ein den von Art. 14 Abs. 3 GG erfaßten Fällen vergleichbares Gewicht z u k o m m t " 1 5 . Dennoch erfüllt die planerische Festsetzung einer für den Eigentümer heteronomen Nutzung für sich allein noch keinen Enteignungs- und somit auch keinen Ent13
Breuer, in: Schrödter (Anm. 1).
14 BVerfG, N V w Z 1999, 979 f.; BVerwG, N V w Z 1991, 873; a.A. Krohn, in: FS für Weyreuther, 1993, S. 421 (424, Fn. 20). •5 BVerfG, N V w Z 1999, 979 f. und N V w Z 2003, 727 (728); auch Wahlhäuser (Anm. 12), S. 226.
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schädigungstatbestand, da die bisherige Nutzung zulässig bleibt und die Ausführung der festgesetzten heteronomen Nutzung ungewiß i s t 1 6 . Vielmehr muß die Folge konkreter festsetzungsspezifischer Vermögensnachteile gemäß § 40 Abs. 2 BauGB hinzutreten. Erst damit wird die heteronome Festsetzung für den betroffenen Eigentümer „spürbar' 4 und deshalb entschädigungspflichtig, was die ältere Rechtsprechung als „enteignende Wirkung" gedeutet hat 1 7 . Unabhängig von dieser eigentumsdogmatischen Qualifizierung ist festzuhalten, daß der Übernahmeanspruch nach § 40 Abs. 2 BauGB als Pendant zur klassischen Enteignung die Güterzuordnung durchbricht. Er führt somit zu einer gegenständlichen Gesamtlösung des Nutzungskonflikts, da der Eigentümer sich wegen der heteronomen planerischen Festsetzung von dem betroffenen Grundstück trennen und den Eigentumsübergang auf den begünstigten Aufgaben- oder Vorhabenträger verlangen kann 1 8 . b) Zum anderen sieht das geltende Planungsschadensrecht einen Übernahmeanspruch vor, wenn die zulässige Nutzung eines Grundstücks (durch einen Bebauungsplan) aufgehoben wird (§ 42 Abs. 9 i.V.m. § 40 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BauGB). In einem solchen Fall kann der betroffene Eigentümer wahlweise die in § 42 Abs. 1 BauGB vorgesehene Geldentschädigung oder die Übernahme des Grundstücks durch den begünstigten Aufgaben- oder Vorhabenträger verlangen 19 . Wie die Verweisung des § 42 Abs. 9 auf § 40 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BauGB ergibt, setzt der wahlweise Übernahmenanspruch voraus, daß es dem Eigentümer mit Rücksicht auf die Festsetzung oder Durchführung des nutzungsaufhebenden Bebauungsplans wirtschaftlich nicht mehr zuzumuten ist, das Grundstück zu behalten oder es in der bisherigen oder einer anderen zulässigen Art zu nutzen. M i t dem Übernahmeverlangen kann der Eigentümer auch hier anstelle des bloßen Nachteilsausgleichs in Gestalt der Geldentschädigung eine gegenständliche Gesamtlösung des Nutzungskonflikts erreichen, indem er sich von dem betroffenen Grundstück trennen und mit dem hierfür zu zahlenden Preis ein anderes Objekt erwerben kann 2 0 . Dies gilt insbesondere für ein anderes Grundstück, das in gleicher Weise wie das umgewidmete und abgestoßene Ausgangsgrundstück nutzbar ist. Auch hier durchbricht der Übernahmeanspruch die Güterzuordnung. c) Entschädigung und Verfahren der Übernahme haben innerhalb des Planungsschadensrechts des BauGB eine Regelung gefunden, die dem enteignungsrechtlichen Kontext entspricht. Ist die Entschädigung durch Übernahme des Grundstücks zu leisten und kommt eine Einigung hierüber nicht zustande, so kann der 16 Bielenberg/Runkel, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 40 Rn. 42; W. Schrödter, in: Schrödter (Anm. 1), § 8 Rn. 6.
17 B G H Z 50, 93 (96 ff.); 63, 240 (247 f.); 93, 165 (169); 97, 1 (7); BGH, N V w Z - R R 1991, 593 (594); NJW 1998, 2215 (2216 f.); vgl. Breuer, in: Schrödter (Anm. 1), § 40 Rn. 7, 13 ff. m. w. N. ι» Breuer, in: Schrödter (Anm. 1), § 40 Rn. 8: „Totallösung". 19 BT-Drucks. 7 / 4 7 9 3 , S. 40; Breuer, in: Schrödter (Anm. 1), § 42 Rn. 77 f. 20 Bielenberg!Runkel
(Anm. 16), § 4 2 R n . 128\ Breuer, in: Schrödter (Anm. 1), § 4 2 R n . 7 8 .
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Eigentümer die Entziehung des Eigentums verlangen (§ 43 Abs. 1 Satz 1 BauGB). Der Eigentümer kann den dahingehenden Antrag bei der Enteignungsbehörde stellen (§ 43 Abs. 1 Satz 2 BauGB). A u f die Entziehung des Eigentums finden dabei die Vorschriften über die klassische städtebauliche Enteignung (§§ 8 5 - 1 2 2 BauGB) entsprechend Anwendung (§ 43 Abs. 1 Satz 3 BauGB).
2. Der Übernahmeanspruch im Denkmalschutzrecht der Länder Im Denkmalschutzrecht der Länder findet der Übernahmeanspruch des Eigentümers eine weitere Domäne von erheblicher rechtspraktischer Bedeutung. Hierfür sei beispielhaft auf die Regelung im Denkmal Schutzgesetz des Landes NordrheinWestfalen (DSchG NRW) verwiesen. Die Eigentümer und sonstigen Nutzungsberechtigten haben hiernach ihre Denkmäler instand zu halten, instand zu setzen, sachgemäß zu behandeln und vor Gefährdung zu schützen, soweit ihnen dies zumutbar ist (§ 7 Abs. 1 Satz 1 DSchG NRW). Diese Pflicht sowie die weiteren öffentlich-rechtlichen Bindungen des Gesetzes entstehen mit der konstitutiven Eintragung in die Denkmalliste (als Baudenkmal, ortsfestes Bodendenkmal oder bewegliches Denkmal) oder mit der vorläufigen Unterschutzstellung gemäß § 4 DSchG NRW (§ 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 DSchG NRW). Für die Zumutbarkeit ist auch zu berücksichtigen, inwieweit Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln oder steuerliche Vorteile in Anspruch genommen werden können (§ 7 Abs. 1 Satz 2 DSchG NRW). Ebenso können Eigentümer und sonstige Nutzungsberechtigte zu einer bestimmten Nutzung nur verpflichtet werden, wenn ihnen diese zumutbar ist (§ 8 Abs. 2 Satz 1 DSchG NRW). Dagegen ist der Erlaubsnisvorbehalt des § 9 DSchG NRW wie auch der gesetzliche Maßstab der denkmalbehördlichen Erlaubniserteilung oder -versagung von der Zumutbarkeit abgekoppelt 21 : Der Erlaubnis der Unteren Denkmalbehörde bedarf u. a., wer Baudenkmäler oder ortsfeste Bodendenkmäler beseitigen, verändern, an einen anderen Ort verbringen oder die bisherige Nutzung ändern w i l l (§ 9 Abs. 1 Buchst, a DSchG NRW). Die Erlaubnis ist zu erteilen, wenn Gründe des Denkmalschutzes nicht entgegenstehen oder ein überwiegendes öffentliches Interesse die Maßnahme verlangt (§ 9 Abs. 2 DSchG NRW). I m Umkehrschluß ist hieraus zu folgern, daß die Untere Denkmalbehörde die Erlaubnis versagen muß, wenn Gründe des Denkmalschutzes der erlaubnispflichtigen Maßnahme entgegenstehen, diese Gründe nicht durch Auflagen, sonstige Nebenbestimmungen oder Inhaltsbeschränkungen eines Erlaubnisbescheides ausgeräumt werden können und kein überwiegendes öffentliches Interesse die beabsichtigte Maßnahme verlangt. Diese öffentlich-rechtliche, ohne Zumutbarkeitsvorbehalt durchgreifende Inpflichtnahme des Eigentümers wird durch die enteignungs- und entschädigungs21 Memmesheimer/ 1374(1375).
Upmeier/Schönstein
(Anm. 3), § 31 DSchG Rn. 2; König, BauR 2001,
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rechtlichen Vorschriften der §§ 30, 31 und 33 DSchG NRW aufgefangen 22 . § 30 DSchG NRW enthält eine Ermächtigung zur klassischen Enteignung. Insbesondere können hiernach Baudenkmäler und ortsfeste Bodendenkmäler enteignet werden, wenn allein dadurch ein Denkmal in seinem Bestand, seiner Eigenart oder seinem Erscheinungsbild erhalten werden kann (§ 30 Abs. 1 Buchst, a DSchG NRW). Diese Voraussetzungen liegen vor, wenn die adäquate Erhaltung und Nutzung den Rahmen der wirtschaftlichen Zumutbarkeit i. S. der §§ 7, 8 DSchG NRW überschreitet und die gesetzlich vorbehaltene Erlaubnis für Beseitigungs- oder Änderungsmaßnahmen des Eigentümers nach § 9 Abs. 1 und 2 DSchG NRW versagt werden muß. Das Enteignungsrecht steht insofern grundsätzlich dem Land oder einer anderen juristischen Person des öffentlichen Rechts zu (§ 30 Abs. 2 DSchG NRW). A u f das Verfahren und die Höhe der zu leistenden Enteignungsentschädigung ist das Landesenteignungs- und -entschädigungsgesetz (EEG NRW) anzuwenden (§ 30 Abs. 3 Satz 1 DSchG NRW). Hiermit korrespondiert in der eingangs skizzierten Weise der Übernahmeanspruch nach § 31 DSchG N R W 2 3 . Der Eigentümer kann hiernach die Übernahme eines Denkmals durch die Gemeinde verlangen, wenn und soweit es ihm mit Rücksicht auf seine Pflicht zur Erhaltung des Denkmals aufgrund einer behördlichen Maßnahme nach dem DSchG wirtschaftlich nicht zuzumuten ist, das Denkmal zu behalten oder in der bisherigen oder einer anderen zulässigen Art zu nutzen. A u f die Modalitäten des Übernahmeverlangens und des Übernahmepreises finden die Bestimmungen des § 30 DSchG NRW und somit auch die dort in Bezug genommenen Vorschriften des EEG NRW entsprechende Anwendung (§ 31 Satz 2 DSchG NRW). Während die § § 3 0 und 31 DSchG NRW den erzwingbaren Eigentumsübergang und somit eine gegenständliche Gesamtlösung ermöglichen und aufgrund der spiegelbildlichen Initiativrechte einerseits der öffentlichen Hand und andererseits des betroffenen Eigentümers miteinander korrespondieren, hat die Entschädigungsregelung des § 33 DSchG NRW eine andere Funktion. Nach dieser Vorschrift ist eine angemessene Entschädigung in Geld zu gewähren, soweit der Vollzug des DSchG NRW „enteignende Wirkung" hat. A u f die Grundsätze, die Berechnung und die Geltendmachung dieser Entschädigung ist das EEG NRW anzuwenden (§ 33 Satz 2 DSchG NRW). Aufgrund der neueren Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, zur Wiederverengung des Enteignungsbegriffs und zur Rechtsfigur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums i m Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG liegt eine eigentumsdogmatische Um22 Vgl. O V G Münster, O V G E 42, 235 (239 f.), wonach es bei vorliegender (gewichtiger) Denkmalwürdigkeit einer baulichen Anlage nicht unverhältnismäßig ist, den Eigentümer auf die Ansprüche aus den §§ 31 und 33 DSchG NRW zu verweisen; auch O V G Münster, Urt. v. 15. 8. 1997, Az. 7 A 133/95, http://www.jurisweb.de/jurisweb/cgi-bin/j2000cgi.sh , Rn. 44.; Oebbecke, V R 1980, 384 (386); Memmesheimeri Upmeier/Schönstein (Anm. 3), § 31 DSchG Rn. 2; König, BauR 2001, 1374 (1375). 23
Vgl. oben in und bei Anm. 1, 3.
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deutung des § 33 DSchG NRW nahe. Mangels eines denkbaren Enteignungstatbestandes ist die in dieser Vorschrift geregelte Entschädigung nicht mehr als Enteignungsentschädigung deutbar. In Betracht kommt jedoch ihre Umdeutung zu einer gesetzlichen Ausgleichspflicht im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 G G 2 4 . Jedenfalls dient § 33 DSchG NRW dem Zweck, eine dem Eigentümer durch denkmalschutzrechtliche Maßnahmen im Einzelfall auferlegte Belastung in Geld auszugleichen. Nach ihrem Inhalt und ihrer gesetzessystematischen Stellung setzt diese Vorschrift voraus, daß der betroffene Eigentümer - anders als in den Fällen der § § 3 0 und 31 DSchG NRW - das als Bau- oder Bodendenkmal geschützte Objekt behält, durch die denkmalschutzrechtliche Inpflichtnahme aber in concreto unverhältnismäßig oder unzumutbar belastet wird. Infolgedessen soll durch den Geldausgleich die Privatnützigkeit des betroffenen Eigentums wiederhergestellt werden, damit die Anforderungen der Instituts- und Grundrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG gewahrt bleiben. Auch im Rahmen der enteignungs- und entschädigungsrechtlichen Vorschriften des Denkmalschutzrechts bewirkt der Übernahmeanspruch (wie nach § 31 DSchG NRW) somit eine gegenständliche Gesamtlösung, indem er die Güterzuordnung durchbricht. Hiermit kann der Eigentümer auf die dominante, die Privatnützigkeit aufhebende Inpflichtnahme reagieren und sich von dem Denkmaleigentum trennen, um mittels des Übernahmepreises ein anderes, privatnützig verwendbares Objekt erwerben zu können. Demgegenüber dient eine Geldentschädigung (wie nach § 33 DSchG NRW) dem bloßen Ausgleich einer überschießenden Belastung. Sie schließt mithin eine Rentabilitätslücke und erweist sich so als Instrument eines versöhnenden Lastenausgleichs zwischen Denkmalschutz und Eigentum. Damit wird die gestörte, potentiell aber fortbestehende Privatnützigkeit des betroffenen Denkmaleigentums wiederhergestellt. Hierbei bleibt die Güterzuordnung gewahrt. M i t diesem Unterschied zeigt sich die eigentumsrechtliche Besonderheit des Übernahmeanspruchs auch i m Denkmalschutzrecht.
3. Der Übernahmeanspruch im Naturschutz- und Landschaftspflegerecht der Länder Ähnlich wie im Planungsschadensrecht des BauGB und im Denkmalschutzrecht sind auch im Naturschutz- und Landschaftspflegerecht der Länder Übernahmeansprüche des Eigentümers vorgesehen. Die einschlägigen Landesgesetze 25 enthalten durchweg zunächst Ermächtigungen zur klassischen Enteignung insbesondere 24 So O V G Münster, NWVB1. 1996, 386; Urt. v. 15. 8. 1997 (Anm. 22), Rn. 56 ff. 25 § 47 Abs. 3 NatSchG B W ; Art. 36 Abs. 2 BayNatSchG; § 71 Abs. 3 Satz 3 BbgNatSchG; § 38 Abs. 2 BremNatSchG; § 39 Abs. 2 HambNatSchG; § 39 Abs. 2 HessNatSchG; § 51 Abs. 3 NdsNatSchG; § 7 Abs. 5 L G NRW; § 37 Abs. 3 SaarlNatSchG; § 38 Abs. 5 Satz 3 und 4 SächsNatSchG; § 60 Abs. 3 NatSchG L S A ; § 42 Abs. 2 NatSchG SH; § 50 Abs. 3 ThürNatSchG.
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von Grundeigentum. Daneben treffen diese Gesetze Regelungen über Ansprüche auf eine Entschädigung in Geld. Voraussetzung solcher Ansprüche ist, daß der Eigentümer oder sonstige Nutzungsberechtigte durch näher bezeichnete Maßnahmen, Gebote oder Verbote der betreffenden Landesgesetze oder aufgrund dieser Gesetze schwerwiegende, rechtsbegrifflich präzisierte Nachteile erleidet und hierdurch unverhältnismäßige Beeinträchtigungen erfährt. Des weiteren kann der Eigentümer in solchen Fällen die ganze oder teilweise Übernahme eines Grundstücks verlangen, wenn und soweit es ihm mit Rücksicht auf die entstandenen Nutzungsbeschränkungen nicht mehr zumutbar ist, das Grundstück zu behalten. Dieser Übernahmeanspruch ist vor allem für land- oder forstwirtschaftlich genutztes Grundeigentum bedeutsam. Auch hier dient er dazu, dem Eigentümer bei dominanter Sozialwidmung und aufgehobener Privatnützigkeit des betroffenen Grundstücks - unabhängig von einem Verfahren der klassischen Enteignung - ein spiegelbildliches Initiativrecht zu verschaffen, mit dem er seinerseits eine gegenständliche Gesamtlösung herbeiführen kann, indem er sich von seinem Grundstück trennen und die Zahlung eines Übernahmepreises nach Maßgabe einer Enteignungsentschädigung verlangen kann. Dieser Preis bemißt sich, dem Enteignungsrecht entsprechend, nach dem Verkehrswert des betroffenen Grundstücks 26 .
4. Der Übernahmeanspruch im Wasserrecht Zur Ausfüllung der bundesrahmenrechtlichen Entschädigungsnorm des § 20 W H G treffen auch die Landeswassergesetze Entschädigungsregelungen, die in schwerwiegenden Fällen der aufgehobenen Privatnützigkeit in einen Übernahmeanspruch des betroffenen Eigentümers münden 2 7 . Eine solche Regelung findet sich z. B. in § 135 L W G NRW. Wird die Nutzung eines Grundstücks infolge der die Entschädigungspflicht auslösenden Verfügung unmöglich gemacht oder erheblich erschwert, so kann der Grundstückseigentümer hiernach verlangen, daß der Entschädigungspflichtige das Grundstück übernimmt; hierauf ist das EEG NRW anzuwenden (§ 135 Abs. 1 Satz 1 und 2 W G NRW). Die Wassergesetze anderer Länder enthalten entsprechende Vorschriften. Auch hierin wird dem Eigentümer die gegenständliche Gesamtlösung, nämlich die Trennung von seinem Grundstück zu einem enteignungsrechtlich bemessenen Übernahmepreis 28 , ermöglicht und so die Güterzuordnung durchbrochen.
26 BayObLG, N V w Z - R R 1992, 117. 27 § 94 Abs. 2 W G B W ; Art. 74 Abs. 4 BayWG; § 84 Abs. 1 BerlWG; § 57 Abs. 3 BremWG; § 78 HambWG; § 67 Abs. 3 HessWG; § 105 Abs. 2 W G M V ; § 55 Abs. 3 NdsWG; § 135 W G NRW; § 100 Abs. 1 SaarlWG; § 117 Abs. 1 SächsWG; § 57 Abs. 3 W G LSA; § 104 Abs. 2 W G SH; § 101 Abs. 2 ThürWG. D. h. grundsätzlich zum Verkehrswert; vgl. Czy chow ski / Reinhardt, W H G , 8. Aufl. 2003, § 20 Rn. 30; Zeitler, in: S i e d e r / Z e i t l e r / D a h m e / K n o p p , BayWG, Bd. I, Art. 74 Rn. 23; Drost, Das Wasserrecht in Bayern, Bd. II, Art. 74 BayWG Rn. 21.
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5. Der Übernahmeanspruch in den Enteignungsgesetzen der Länder Nordrhein-Westfalen und Brandenburg Die rechtssystematische Erkenntnis, daß der Übernahmeanspruch des Eigentümers als spiegelbildliches Pendant zur klassischen Enteignung fungiert, hat in den Enteignungsgesetzen der Länder Nordrhein-Westfalen und Brandenburg einen positivrechtlichen Niederschlag gefunden. Zuerst hat der Gesetzgeber in NordrheinWestfalen innerhalb des Landesenteignungs- und -entschädigungsgesetzes vom 20. 6. 1989 2 9 eine Regelung über das Übernahmeverfahren getroffen. Hat der Eigentümer außerhalb eines Verfahrens der klassischen Enteignung (nach den §§ 1 8 - 3 6 EEG NRW) einen Anspruch auf Übernahme seines Grundstücks und kommt eine Einigung mit dem Übernahmepflichtigen nicht zustande, so kann danach der Eigentümer bei der Enteignungsbehörde (in Sonderfällen bei der „zuständigen Behörde") einen Antrag auf Entziehung des Eigentums stellen (§ 40 Satz 1 EEG NRW). A u f das hierdurch eingeleitete Übernahmeverfahren sind die Vorschriften über die Enteignungsentschädigung und das Enteignungsverfahren entsprechend anzuwenden (§ 40 Satz 2 i.V.m. den § § 8 - 1 7 und 1 8 - 3 6 EEG NRW). Eine gleichlautende Regelung enthält § 40 des Enteignungsgesetzes des Landes Brandenburg vom 19. 10. 1992 3 0 . Damit haben die Enteignungsgesetze in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg ersichtlich das Regelungsmodell des § 43 Abs. 1 BauGB übernommen. Ebenso wie dieses wahren sie den Kontext zwischen der klassischen, von der öffentlichen Hand betriebenen Enteignung und dem Übernahmeanspruch, mit dessen Geltendmachung der Eigentümer von sich aus den Eigentumsübergang gegen eine nach Enteignungsgrundsätzen bemessene „Entschädigung verlangen kann, sofern das betroffene Eigentumsobjekt - etwa durch Maßnahmen nach den zuvor erwähnten Vorschriften des Denkmalschutzrechts, des Naturschutz- und Landschaftspflegerechts oder des Wasserrechts - eine dominante Sozialwidmung erfährt und hierdurch seine Privatnützigkeit einbüßt.
III. Die verfassungsrechtliche Qualifizierung des Übernahmeanspruchs im Rahmen der Eigentumsgarantie 1. Eigentumsdogmatische Grundlagen Geht man auf der verfassungsrechtlichen Ebene der Frage nach, ob der im einfachen Gesetzesrecht verankerte Übernahmeanspruch enteignungsrechtlichen Charakter hat und den Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG entsprechen muß oder als Bestandteil einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu qualifizieren ist, so gilt es zunächst, die eigentumsdogmatischen Grundlagen offenzulegen. Aus dieser Perspektive ist der Blick auf die jün29 GVB1. NRW, S. 366. 30 BbgGVBl. I, S. 430.
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gere, insbesondere vom BVerfG geprägte Rechtsprechung und die gegenwärtige Rechtslehre zu richten, die zumeist an die Judikate und die eigentumsdogmatische Konzeption des BVerfG anknüpft 3 1 . Das BVerfG geht zutreffend davon aus, daß „Inhaltsbestimmung, Legalenteignung und Administrativenteignung . . . jeweils eigenständige Rechtsinstitute (sind), die das Grundgesetz deutlich voneinander absetzt 4 ' 32 . Danach stellt die Inhaltsbestimmung gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter dar, die als Eigentum i m verfassungsrechtlichen Sinne zu verstehen sind. Sie ist mithin auf die Normierung objektivrechtlicher Vorschriften gerichtet, die den Inhalt des Eigentumsrechts für die Zukunft in allgemeiner Form bestimm e n 3 3 . Demgegenüber bezeichnet das BVerfG die Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG als „staatlichen Zugriff auf das Eigentum des einzelnen". Sie zielt, wie das BVerfG formuliert, „auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen, die durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sind" 3 4 . Anstelle der Formel von der „vollständigen oder teilweisen Entziehung" konkreter subjektiver Rechtspositionen hat das BVerfG vorübergehend auch die Umschreibungen verwendet, daß die Enteignung „individuelle Rechte entzieht oder beschneidet" und solche Rechte durch die Enteignung „entzogen oder gemindert werden" 3 5 . Demgemäß ist insbesondere die Belastung eines fremden Grundstücks mit einer Dienstbarkeit „ i m Umfang dieses Rechts Entziehung oder Beschränkung von Eigentümerbefugnissen und damit Enteignung" 3 6 . Unklar ist vor allem geblieben, was unter der „teilweisen Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen" im Sinne des formalisierten und verengten Enteignungsbegriffs zu verstehen ist. Auch der Versuch, die teilweise Entziehung als Zugriff auf abspaltbare Teilrechte zu definieren 3 7 , hat die Unklarheiten nicht behoben 38 . Überschreitet der Gesetzgeber bei einer allgemeinen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums die verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 14 Abs. 1 und 2 GG, so ist die gesetzliche Regelung verfassungswidrig und nichtig. Sie kann - entgegen der früheren Praxis des B G H 3 9 - nicht in eine Enteignung oder einen 31
Vgl. oben in und bei Anm. 5 - 1 1 .
32 BVerfGE 58, 300(331). 33 BVerfGE 52, 1 (27); 56, 249 (260); 58, 137 (144 f.); 58, 300 (330); 72, 66 (76); 79, 174 (198); 87, 114 (138 f.); 100, 226 (240); 101, 239 (259); 102, 1 (15 f.); 104, 1 (9). 34 BVerfGE 52, 1 (27); 56, 249 (260); 70, 191 (199 f.); 71, 137 (143); 72, 66 (76); 74, 264 (280); 79, 174 (191); 100, 226 (239 f.); 101, 239 (259); 102, 1 (15 f.); 104, 1 (9 f.). 35 So BVerfGE 52, 1 (27, 28), allerdings in bezug auf die Legalenteignung; vgl. auch BVerfGE 25, 112(121). 36 BVerfGE 56, 249 (260) im Anschluß an BVerfGE 45, 297 (339). 37 So Maurer, in : FS für Dürig, 1990, S. 293 (304); Ehlers, V V D S t R L 51 (1992), 211 (237); ähnlich Burgi, N V w Z 1994, 527 ff. 38 Kritisch auch Pietzcker, N V w Z 1991, 418 (419); Götz, DVB1. 1993, 1356; Schwabe, DVB1. 1993, 840 ff.; Deutsch, DVB1. 1995, 546 (549).
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„enteignenden Eingriff" umgedeutet werden. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG schützt vorrangig den Bestand des Eigentums. Verletzt eine gesetzliche Regelung oder ihr Vollzug die Bestandsgarantie, so kann dieser Verfassungsverstoß nicht durch die Zubilligung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Entschädigung „geheilt" werden. Als inhaltsüberschreitendes Gesetz 4 0 scheitert eine solche Regelung an Art. 14 Abs. 1 GG. Dagegen scheidet Art. 14 Abs. 3 GG als verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab des inhaltsüberschreitenden Gesetzes aus 4 1 . Dieser Rechtsprechung des BVerfG kommen mehrere Verdienste zu. Sie hat nicht nur dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG klarere rechtsdogmatische Konturen verliehen. Vielmehr hat sie darüber hinaus die Gestaltungsbefugnis und Regelungsverantwortung des Gesetzgebers gestärkt und gegenüber der Entschädigungsjudikatur der ordentlichen Gerichte abgeschirmt. Hierdurch hat insbesondere die gesetzlich auszugestaltende Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) den gebührenden Stellenwert erhalten. Hervorhebung verdient ferner der vom BVerfG überzeugend herausgestellte Vorrang der Bestandsgarantie (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) vor der Wertgarantie des Eigentums (Art. 14 Abs. 3 GG). Daraus folgt, daß der von hoheitlichen Eingriffen betroffene Eigentümer primär über ein Abwehrrecht verfügt und nicht wahlweise anstelle der Eingriffsabwehr eine Entschädigung verlangen kann 4 2 . A n die jüngere Rechtsprechung des BVerfG wird vielfach die Vorstellung geknüpft, daß die herkömmliche Problematik der Abgrenzung zwischen der (jedenfalls grundsätzlich) entschädigungsfreien Eigentums- oder Sozialbindung und der unbedingt entschädigungspflichtigen Enteignung lediglich auf einem überholten, einseitig und voreilig an der Entschädigungsfrage orientierten Verständnis beruhe. Damit verbindet sich die Erwartung, daß infolge der verfassungsrechtlich anerkannten Eigenständigkeit der gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums sowie aufgrund des Vorrangs der primären Bestandsgarantie (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) vor der sekundären Wertgarantie des Eigentums (Art. 14 Abs. 3 GG) die überkommene Abgrenzung zwischen Eigentumsbindung und Enteignung überwunden sei 4 3 . Diese Vorstellung ist jedoch überspitzt und so nicht haltbar. 39 So z. B. B G H Z 60, 126 ff. 40
Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. 1983, S. 113; der Sache nach auch ders. (Anm. 10), S. 17, dort allerdings ohne den Begriff „inhaltsüberschreitendes Gesetz". 41 BVerfG 51,1 (27 f.); 58, 300 (320); 79, 174 (191 f.); 83, 201 (211 ff.), allerdings mit Unklarheiten; BVerfG, N V w Z 1999, 979 (980); BVerfGE 100, 226 (240); 102, 1(16); 104, 1 (9 f.); auch BVerwGE 84, 361 (366 f.); 94, 1 (5); BVerwG, N V w Z 1997, 887 (889 f.); BVerwGE 104, 68 ff.; 112, 373; BVerwG, N V w Z 2003, 1116; B G H Z 121,73; 121,328; 123, 242; 126, 379; vertiefend Böhmer, Der Staat 24 (1985), 157 (192 ff.); ders., NJW 1988, 2561 (2573 f.); Steinberg/Lubberger, Aufopferung - Enteignung und Staatshaftung, 1991, S. 31 ff.; Lubberger, Eigentumsdogmatik, 1995, S. 21 ff. 42 Grundlegend BVerfGE 24, 367 (400 f.); 58, 300 (322 ff.); vgl. auch Böhmer (Anm. 41); Rozek (Anm. 6), S. 236 ff. 43 So Böhmer, Der Staat 24 (1985), 157 ff., insbes. 192 ff.; ders., NJW 1988, 2561 (2563 ff., 2571 ff.); Rozek (Anm. 6), S. 19 ff., 81 ff., 161 ff.
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Zwar überzeugt es, daß eine verfassungswidrige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nicht in eine Enteignung umschlägt, somit nicht unter Art. 14 Abs. 3 GG fällt und keinen Anspruch auf eine Enteignungsentschädigung auslöst. Jedoch bleibt für den Gesetzgeber (ex ante) ebenso wie für den Rechtsanwender (ex post) die eigentumsrechtliche Einordnung bestimmter Regelungen und der gesetzlich vorgesehenen Vollzugsakte notwendig. Danach beurteilt sich, ob die betreffenden Regelungen und Vollzugsakte an Art. 14 Abs. 1 und 2 GG oder an Art. 14 Abs. 3 GG zu messen sind. Im ersteren Fall können sie entweder den Rahmen einer zulässigen Inhalts- und Schrankenbestimmung wahren, also die gebotene Prüfung als verfassungsmäßige Eigentums- oder Sozialbindung bestehen, oder als verfassungswidrige, von Seiten des betroffenen Bürgers abwehrbare „Inhaltsüberschreitung" scheitern. Im letzteren Fall können sie allenfalls aufgrund der besonderen Legitimationsvoraussetzungen der Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG (zu denen u. a. die Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG gehört) ausnahmsweise gerechtfertigt sein. Die schwierige Abgrenzungs- und Einordnungsproblematik hat sich als solche nicht verändert. Dabei gilt es, die Vielfalt sozialgestaltender und lenkender Zugriffe des Staates auf das Eigentum in differenzierter Weise zu erfassen und zu qualifizieren 4 4 . Dies trifft namentlich für die gesetzliche oder administrative Aufhebung oder Beschränkung von Nutzungs- und Verfügungsrechten des Eigentümers, für Verbote und Gebote hinsichtlich der Eigentumsnutzung sowie für planerische oder planbedingte Gestaltungs- und Eingriffsbefugnisse der Verwaltung zu, wie sie für die zuvor umrissenen Rechtsgebiete, nämlich für das Planungsschadensrecht des BauGB sowie das Denkmalschutz- und Umweltrecht typisch sind. Die erforderliche Abgrenzung wird auf radikale Weise vereinfacht, wenn der verfassungsrechtliche Enteignungsbegriff wieder auf die sog. klassische Enteignung beschränkt und ausschließlich als Güterbeschaffungsvorgang gedeutet w i r d 4 5 . A u f dieser Linie hat das BVerfG in seiner jüngeren Rechtsprechung die Enteignung auf die vollständige oder teilweise, der hoheitlichen Güterbeschaffung dienende Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen beschränkt 46 . Demgemäß hat das BVerfG gesetzliche Regelungen der Boden- und Anlagennutzung sowie die hierauf gestützten Gebote, Verbote und Nutzungsbeschränkungen generell als Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums i.S. des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG qualifiziert. Dies gilt für die Nutzungsregelungen eines Bebauungsplans und die Tatbestände des Planungsschadensrechts (§§ 39 ff. B a u G B ) 4 7 , die Baulandumlegung (§§ 45 ff. B a u G B ) 4 8 und die Unterschutzstellung eines Baudenk44 Ebenso Ossenbühl (Anm. 10), S. 167 ff.; Leisner, Beilage I zu AgrarR 1984, S. 29 f.; Breuer, NuR 1996, 537 (544 ff.); ders., in: Schrödter (Anm. 1), § 39 Rn. 10, auch § 18 Rn. 3 b. 45 Vgl. dazu, ausgehend von BVerfGE 58, 300 (330 ff.), oben in und bei Anm. 7 - 1 1 . 46 So vollends BVerfGE 104, 1 (9 f.); auch BVerfGE 100, 226 (239 f.). 47 BVerfG, N V w Z 1999, 979 f.; vgl. dazu Breuer, in: Schrödter (Anm. 1), § 39 Rn. 6 ff., § 40 Rn. 6a ff., § 41 Rn. 3, 22 f., § 42 Rn. 11 f., 16 ff.
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mais 4 9 . Damit hat das BVerfG die geforderte Rückkehr zum klassischen Enteignungsbegriff vollzogen. Die Einordnung einer gesetzlichen oder gesetzesvollziehenden Nutzungsregelung als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums ist jedoch nicht mit der Entschädigungsfreiheit gleichzusetzen. Es gibt vielmehr ausgleichs- oder entschädigungspflichtige Inhaltsbestimmungen des Eigentums, die sich durch eine besondere Eingriffsschwere auszeichnen. Der Gesetzgeber muß sie im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nach den Grundsätzen des Übermaßverbotes und des Gleichheitssatzes verfassungskonform gestalten, indem er den betroffenen Eigentümern Ausgleichs- oder Entschädigungsansprüche gewährt 5 0 . Die Konzeption der ausgleichs- oder entschädigungspflichtigen Inhaltsbestimmung begegnet allerdings verfassungsdogmatischen Bedenken in zwei Richtungen 5 1 . Einerseits ist auch aus heutiger Sicht daran festzuhalten, daß die gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums grundsätzlich entschädigungsfrei ist. Sie braucht prinzipiell nicht durch eine Entschädigung des verpflichteten Eigentümers „erkauft" zu werden. Andererseits ist zu bedenken, daß die besonderen Legitimationsvoraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG einschließlich der Junktimklausel allein für die Enteignung gelten. Die Konstruktion der ausgleichs- oder entschädigungspflichtigen Inhaltsbestimmung gemäß Art. 14 Abs. 1 GG vermittelt daher nicht den gleichen rechtsstaatlichen Schutz wie die Einordnung eines Eingriffs als Enteignung. Im übrigen führt die verallgemeinerte Annahme einer auf Art. 14 Abs. 1 GG gestützten Ausgleichs- oder Entschädigungspflicht für übermäßige Belastungen im Rahmen einer gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums zu einer apokryphen Problemverlagerung. Hiermit lebt die alte Abgrenzung zwischen entschädigungsfreier Eigentums- oder Sozialbindung und entschädigungspflichtiger, früher weit verstandener Enteignung unter neuer Begriffsflagge, aber mit den Formeln der tradierten „Schwellentheorien" sowie mit zusätzlichen Verwicklungen wieder auf 5 2 . In materieller Hinsicht bleibt bedeutsam, daß Art. 14 Abs. 1 GG neben dem Bestandsschutz auch die Privatnützigkeit des Eigentums garantiert 53 . Jedenfalls 48 BVerfGE 104, 1 (9 f.); vgl. dazu Haas, N V w Z 2002, 272 ff.; auch Breuer, in: Schrödter (Anm. 1), § 4 5 Rn. 23 ff. 49 BVerfGE 100, 226 (239 f.). 50 So BVerfGE 58, 137 (145, 147, 149 ff.); 79, 174 (191); 100, 226 (243, 244 ff.); BVerfG, N V w Z 2003, 727 f.; ferner statt vieler: Schulze-Osterloh, Das Prinzip der Eigentumsopferentschädigung im Zivilrecht und im öffentlichen Recht, 1980, S. 276 ff.; Maurer, DVB1. 1991, 781 ff.; Steinberg/Lubberger (Anm. 41), S. 211 ff.; Wahlhäuser (Anm. 12), S. 86 f. 51 Papier (Anm. 10), Art. 14 Rn. 336 ff.; ders., DVB1. 2000, 1398 (1402). 52 Papier (Anm. 10), Art. 14 Rn. 353; Bryde, in: v. M ü n c h / K u n i g , GG, Bd. I, 5. Aufl. 2000, Art. 14 Rn. 65; Lege, JZ 1994, 431 ff.; Breuer, NuR 1996, 537 (542 ff.); Ossenbühl, in: FS für Friauf, 1997, S. 391 ff.; König , DVB1. 1999, 854 ff. 53 BVerfGE 52, 1 (30); 70, 191 (199 f.); 79, 174 (198); 81, 208 (220); 87, 114 (138 f.); 91, 294 (308); 98, 17 (35); 100, 226 (241); 101, 54 (74 f.); 104, 1 (8 f.); BVerfG, N V w Z 2003, 727; NJW-RR 2004, 371; vgl. auch Hendler, DVB1. 2001, 1233 (1236 f.).
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muß dem Eigentümer ein Mindestmaß an Privatnützigkeit verbleiben, damit der Kernbereich der Eigentumsgarantie nicht ausgehöhlt wird. Wenn durch Nutzungsbeschränkungen und -verböte jegliche private Nutzung des Eigentümers zugunsten rein heteronomer Nutzungsmöglichkeiten ausgeschlossen wird, die betroffenen Gegenstände also aus der Sicht des Eigentümers einer umfassenden Fremdnützigkeit unterworfen werden, liegt jedenfalls keine entschädigungsfreie Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums vor. Eine totale Substanzentleerung des Eigentums, die keine Rechtsposition mehr beläßt, die den Namen „Eigentum" verdient, stellt vielmehr eine Durchbrechung der Bestandsgarantie des Eigentums dar. Ein derart umfassender Zugriff ist auch heute noch unter Verwendung der allgemeinen Abgrenzungskriterien als eigentumsvernichtende, besonders zu rechtfertigende und entschädigungspflichtige Enteignung zu qualifizieren 5 4 . Wenn man hingegen im Anschluß an die jüngere Rechtsprechung des BVerfG die Enteignung allein als Güterbeschaffungsvorgang versteht, mutiert die totale Substanzentleerung des Eigentums, solange dieses nicht entzogen wird, zu einer ausgleichs- oder entschädigungspflichtigen Inhalts- oder Schrankenbestimmung im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 G G 5 5 . Jedenfalls bleibt das materielle Kriterium der Privatnützigkeit die entscheidende Sonde für die Abgrenzung zwischen entschädigungsfreien und ausgleichs- oder entschädigungspflichtigen Fremdbestimmungen über das Eigentum. Damit liegt offen zutage, daß die gegenwärtig vorherrschende, vom BVerfG geprägte Konzeption der Eigentumsgarantie an Grenzen ihrer Leistungskraft stößt. Vor allem führt eine rigide Verengung des Enteignungsbegriffs zu einer Problemverlagerung (von Abs. 3 zu Abs. 1 des Art. 14 GG), folglich zu drohenden Schutzdefiziten (mangels Anwendbarkeit des Art. 14 Abs. 3 GG) und schließlich zu zwanghaften Reparaturversuchen im Bereich des Art. 14 Abs. 1 GG.
2. Der enteignungsrechtliche Charakter des planungsschadensrechtlichen Übernahmeanspruchs nach den §§ 40 Abs. 2 und 42 Abs. 9 BauGB Was das Planungsschadensrecht betrifft, so werden die Tatbestände der § § 3 9 ff. BauGB und die dort zugrundeliegenden Festsetzungen eines Bebauungsplans neuerdings im Anschluß an die Rechtsprechung des BVerfG meist als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums qualifiziert 5 6 . Angesichts dieser Entwick54 So auch Wendt, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 14 Rn. 157a m. w. N.; grundlegend schon Ernst Rudolf Huber, Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss. 96 (136), 438 (464). 55 Papier, in: FS für Hoppe, 2000, S. 213 (219). 56 So Bielenberg/Runkel (Anm. 16), Vorbem. §§ 3 9 - 4 4 Rn. 49; Maurer (Anm. 37); Steinberg/Lubberger (Anm. 41), S. 117; Ehlers, V V D S t R L 51 (1992), 221 (237); Deutsch, DVB1. 1995, 546 (551, 553); Ossenbähl (Anm. 52), S. 398; Papier {Anm. 55), S. 214; Peine, Öffentliches Baurecht, 4. Aufl. 2003, Rn. 926.
Der enteignungsrechtliche Übernahmeanspruch des Eigentümers
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lung wird man die Planungsschäden - entgegen der älteren Deutung - nicht mehr allgemein als Enteignungstatbestände qualifizieren können. Somit wird man das Planungsschadensrecht der § § 3 9 ff. BauGB nicht mehr insgesamt an Art. 14 Abs. 3 GG messen dürfen. Differenzierungen finden sich in der Literatur bei denjenigen, welche die Tatbestände der §§ 39 ff. BauGB teils der Inhalts- und Schrankenbestimmung, teils der Enteignung zuordnen 57 . Anlaß zu solchen Differenzierungen gibt schon das obiter dictum des BVerfG, daß der Entzug der baulichen Nutzungsmöglichkeiten sich für den Betroffenen wie eine Teilenteignung auswirken könne und dem Bestandsschutz daher „ein den von Art. 14 Abs. 3 GG erfaßten Fällen vergleichbares Gewicht" zukomme 5 8 . a) Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist die positive planerische Festsetzung einer für den Eigentümer heteronomen Nutzung nach § 40 Abs. 1 BauGB eine entschädigungspflichtige Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG, sofern dem Eigentümer - was regelmäßig zu erwarten ist - konkrete festsetzungsspezifische Vermögensnachteile entstehen 59 . Entscheidend ist, daß hier die autonome privatnützige Disposition des Eigentümers über die Bodennutzung für die Zukunft gänzlich verdrängt oder illusorisch gemacht wird. Damit werden die Grenzen einer zulässigen „Eigentumsbindung" im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG überschritten; denn eine gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG und somit eine verfassungskonforme, diesen Namen verdienende „Eigentumsbindung" setzt voraus, daß dem Eigentümer überhaupt eine Privatnützigkeit verbleibt 6 0 . Daran fehlt es, wenn das betroffene Grundstück durch die Festsetzung eines Bebauungsplans nach § 40 As. 1 BauGB einer ausschließlich heteronomen Nutzung „gewidmet" wird. Für den Eigentümer ist es dann im allgemeinen nicht tragbar, den Entzug des Grundstücks oder ein freihändiges Erwerbsangebot seitens der öffentlichen Hand abzuwarten und bis zum Vollzug der heteronomen Nutzungsfestsetzung die ungewisse Schwebelage hinzunehmen. Dieser Gesichtspunkt bildet bereits den entscheidenden Grund für die Zuerkennung einer Enteignungsentschädigung im ersten Fluchtlinienurteil des Reichsgerichts 61 und ist auch vom B G H zutreffend betont worden 6 2 . 57 So Battis, N V w Z 1982, 589 f.; ders. (Anm. 12), Vorbem. vor §§ 3 9 - 4 4 Rn. 5; Brohm, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl. 2002, § 17 Rn. 8: §§ 40, 41 als Enteignungsentschädigung, § 39 als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums, ebenso § 42, soweit eine privatnützige Verwendungsmöglichkeit verbleibt; Burgi, N V w Z 1994, 527 (533); Krohn, in: FS für Schlichter, 1995, S. 439 (449 f., 452); Jarass, NJW 2000, 2841 (2845); ders., in: FS für Hoppe, 2000, S. 229 (238). 58 BVerfG, N V w Z 1999, 979 (980); kritisch zu dieser „Relativierung" (Anm. 16), Vorbem. §§ 3 9 - 4 4 Rn. 49.
Bielenberg/Runkel
59 Vgl. dazu die Nachw. oben in Anm. 17. 60 BVerfGE 24, 367 (389 f.); 26, 215 (222); 31, 229 (240); 37, 132 (140); 52, 1 (30); 68, 361 (367 f.); 70, 191 (200); 79, 174 (198); 87, 114 (138 f.); 91, 294 (308); 100, 226 (241); BVerfG, NJW 2000, 798; DVB1. 2002, 1567. 61 RGZ 128, 18. 62 B G H Z 63, 240. 3 FS Bartlspcrgcr
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Die eigentumsrechtliche Qualifizierung des gesamten Planungsschadensrechts und somit auch des § 40 BauGB ist erst in eine offene Diskussion geraten, seit die neuere Rechtsprechung, den Weichenstellungen des BVerfG folgend, Nutzungsbeschränkungen aufgrund der Unterschutzstellungen des Naturschutz- wie des Denkmalschutzrechts kategorisch - d. h. unabhängig von der konkreten Zweckwidmung und Belastungsschwere - nicht als Enteignung, sondern als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums eingestuft hat 6 3 . Eine derart pauschale Unterwerfung des Bodeneigentums wäre indessen mit Art. 14 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Obwohl das BVerfG das Planungsschadensrecht der § § 3 9 ff. BauGB allgemein als Bestandteil der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums i.S. des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG bezeichnet h a t 6 4 , differenziert der B G H zu Recht. So hat der B G H die eigentumsrechtliche Qualifizierung des § 42 BauGB offengelassen 6 5 , in § 40 BauGB hingegen die Regelung einer Enteignungsentschädigung gesehen, weil diese Norm auf eine ausschließlich fremdnützige Planung reagiere 66 . Auch im Schrifttum wird zutreffend aufgrund materieller Kriterien daran festgehalten, daß § 40 BauGB zumindest dann als Enteignungstatbestand einzuordnen sei, wenn ein Dritter als Begünstigter Verfügungsmacht über das Grundstück des betroffenen Eigentümers erhält 6 7 . Diese Differenzierungen gehen zu Recht davon aus, daß für die Abgrenzung zwischen entschädigungsfreier Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums, ausgleichs- oder entschädigungspflichtiger Inhaltsbestimmung und strikt entschädigungspflichtiger Enteignung materielle Kriterien der Privatnützigkeit maßgebend sind. Durch die Entwicklung der Rechtsprechung und der Eigentumsdogmatik wird mithin der Enteignungscharakter der heteronomen Nutzungsfestsetzungen nach § 40 BauGB nicht widerlegt. Vielmehr ist mit den heteronomen Festsetzungen nach § 40 Abs. 1 BauGB entschieden, daß die erfaßten Grundstücke auf die Dauer nicht mehr in der Hand des betroffenen Eigentümers privatnützig verwendbar, sondern einer anderweitigen, ausschließlich im öffentlichen Interesse liegenden Nutzung zugeführt werden. Diese Zweckwidmung und die hiermit verbundene Ermöglichung der planakzessorischen Enteignung nach den §§ 85 ff BauGB sprechen nach wie vor dafür, schon den heteronomen Nutzungsfestsetzungen des Bebauungsplans nach § 40 Abs. 1 BauGB Enteignungscharakter zuzuerkennen, sobald die regelmäßige Folge konkreter festsetzungsspezifischer Vermögensnachteile eintritt. Die hierfür vorgeschriebene Entschädigung durch Übernahme des Grundstücks, also durch „Zwangskauf', ist daher als Modus der Enteignungsentschädigung zu qualifizieren 6 8 . 63
Vgl. die Nachw. oben in Anm. 7 - 11, 41, 4 5 - 4 9 .
64 BVerfG, N V w Z 1999, 979 f.; N V w Z 2003, 727 f. 65 B G H Z 135, 192(199). 66 B G H Z 141, 319 (323 ff.). 6v So Battis (Anm. 12), § 40 Rn. 3; Jarass (Anm. 57); Wühlhäuser, BauR 2003, 1488 (1497); ähnlich Wendt (Anm. 54), Art. 14 Rn. 125. 6« So auch Paetow in: BerlK zum BauGB, § 40 Rn. 2; Battis (Anm. 12), § 40 Rn. 3; Steinberg/ Lübbe rger (Anm. 41), S. 117; Burgi, N V w Z 1994, 527 (533); Krohn (Anm. 57), S. 452;
Der enteignungsrechtliche Übernahmeanspruch des Eigentümers
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Demgemäß hat auf der Rechtsfolgeseite der Übernahmeanspruch des betroffenen Eigentümers nach § 40 Abs. 2 BauGB enteignungsrechtlichen Charakter. Dieser Anspruch stellt weder ein Inhaltselement des Eigentums noch einen eigentumsbewahrenden, die Privatnützigkeit erhaltenden Ausgleich im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG dar. Vielmehr bewirkt die nach Art. 14 Abs. 3 Satz 2 und 3 GG gebotene Enteignungsentschädigung durch Übernahme des betroffenen Grundstücks, daß die bestehende Güterzuordnung durchbrochen wird. Setzt der Bebauungsplan eine für den Eigentümer heteronome Nutzung fest und tritt die festsetzungsspezifische Wirkung ein, derzufolge eine autonome privatnützige Disposition des Eigentümers über die Bodennutzung gänzlich verdrängt oder illusorisch gemacht wird, so wird das betroffene Eigentum zum „nudum ius". Es ist substanzentleert, also materiell „ent-eignet". Daher ist der Übernahmeanspruch grundsätzlich verfassungsrechtlich geboten. Im allgemeinen wird allerdings nur bemerkt, daß die Einräumung eines Übernahmeanspruchs anstelle einer Geldentschädigung in den Fällen des § 40 BauGB verfassungsrechtlich zulässig sei 6 9 . Über diese Aussage geht die Erkenntnis hinaus, daß der Übernahmeanspruch nach § 40 Abs. 2 BauGB grundsätzlich verfassungsrechtlich geboten i s t 7 0 . Seine Grundlage ist Art. 14 Abs. 3 Satz 2 und 3 GG, wonach die Entschädigung „unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen" ist. Typischerweise geht unter den Voraussetzungen, die in § 40 Abs. 2 BauGB umschrieben sind, das schutzbedürftige Interesse des Eigentümers dahin, daß mit dem Übernahmeanspruch eine gegenständliche Gesamtlösung herbeigeführt wird, indem der Eigentümer sich von dem fremdnützig beplanten Grundstück trennen und mit dem hierfür zu zahlenden, nach Enteignungsgrundsätzen wie eine Geldentschädigung zu bemessenden Preis ein anderes Objekt erwerben kann. Der bloße Nachteilsausgleich in Gestalt eines Geldentschädigungsanspruchs wird in solchen Fällen den Interessen des Eigentümers, dessen autonome privatnützige Disposition durch die Festsetzung einer heteronomen Nutzung verdrängt oder illusorisch gemacht wird, regelmäßig nicht gerecht. Im Einzelfall kann ein Eigentümer allerdings aus subjektiven Gründen auch unter den Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 BauGB daran interessiert sein, statt der Übernahme eine Geldentschädigung verlangen und sein Grundstück behalten zu können. In solchen Fällen erhebt sich die Frage, ob der Gesetzgeber den Eigentümer zwangsweise unter Ausschluß der Geldentschädigung auf den Übernahmeanspruch verweisen kann. Diese Frage muß bejaht werden. § 40 Abs. 2 und 3 BauGB verstößt nicht gegen Art. 14 GG, soweit dem Eigentümer, dessen Grundstück im Bebauungsplan die Festsetzung einer heteronomen Nutzung erfahren hat und dadurch im Verkehrswert gesunken ist, im allgemeinen ein Übernahmeanspruch, nicht aber ein Geldentschädigungsanspruch gewährt w i r d 7 1 . Dabei hat a.A. Bielenberg/Runkel (Anm. 16), § 40 Rn. 9: ausgleichspflichtige auch Vogel, in Brügelmann, BauGB, § 40 Rn. 7.
Inhaltsbestimmung;
69 So B G H Z 50, 93 (96 ff.); 93, 165 (167); 97, 1 (3); Papier (Anm. 10), Art. 14 Rn. 416; Battis (Anm. 12), § 40 Rn. 3; Schmidt-Aßmann, BauR 1976, 145 (148 f., 152 ff.). 70
*
So bereits Breuer, in: Schrödter (Anm. 1), § 40 Rn. 8.
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sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG dem Gesetzgeber eine typisierende, an den grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen orientierte Entschädigungsregelung gestattet. b) Entsprechendes gilt auch für den Übernahmeanspruch nach § 42 Abs. 9 BauGB. Zwar ist in den Fällen der Änderung oder Aufhebung einer zulässigen Nutzung durch einen Bebauungsplan grundsätzlich eine Geldentschädigung und nur ausnahmsweise unter den wiedergegebenen Voraussetzungen ein Übernahmeanspruch des betroffenen Eigentümers vorgeschrieben (§ 42 Abs. 1 und 9 BauGB). Dies ist jedoch verfassungsrechtlich unbedenklich. Grundsätzlich entspricht bei den negativ wirkenden planerischen Eingriffen in die Bodennutzbarkeit (§ 42 Abs. 1 und 2 BauGB) oder in eine ausgeübte Nutzung (§ 42 Abs. 3 und 4 BauGB) die Geldentschädigung bei enteignungsrechtlichem Ansatz dem Postulat „gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten" (Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG). Entsprechendes gilt bei der jüngeren Deutung des § 42 BauGB als inhalts- und schrankenbestimmender Vorschrift der Eigentumsordnung (gemäß Art. 14 Abs. 1 GG) im Hinblick auf verfassungsnotwendige Ausgleichspflichten. Im allgemeinen wird hier gerade das Interesse des betroffenen Eigentümers dahin gehen, daß er sein Grundstück behalten und eine Geldentschädigung insoweit verlangen kann, wie er im Hinblick auf die Nutzung oder deren Vorbereitung Vermögensnachteile erlitten hat. Unter den in § 42 Abs. 9 i. V. m. § 40 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BauGB geregelten Voraussetzungen kann jedoch das Postulat „gerechter Abwägung" im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG wie auch das Ausgleichsgebot nach Art. 14 Abs. 1 GG ausnahmsweise die Eröffnung der gegenständlichen Gesamtlösung durch Übernahme des Grundstücks verfassungsrechtlich gebieten, da dem Eigentümer so im Wege der Trennung von seinem Grundstück und der Entschädigung für das gesamte Grundstück eine anderweitige privatnützige Vermögensanlage seiner Wahl ermöglicht w i r d 7 2 .
3. Der enteignungsrechtliche Charakter des Übernahmeanspruchs im Denkmalschutzrecht Für die verfassungsrechtliche Qualifizierung des denkmalschutzrechtlichen Übernahmeanspruchs (z. B. nach § 31 DSchG NRW) gelten grundsätzlich die gleichen Kriterien, die den enteignungsrechtlichen Charakter des planungsschadensrechtlichen Übernahmeanspruchs (nach den § § 4 0 Abs. 2 und 42 Abs. 9 BauGB) begründen. Hierfür spricht auch ein obiter dictum des BVerfG in dem Beschluß zum rheinland-pfälzischen Denkmalschutzrecht. Dort heißt es, bei einer die Privatnützigkeit „nahezu vollständig" beseitigenden Unterschutzstellung nähere sich die 71 Ebenso die in Anm. 69 zitierten Stimmen; auch Paetow (Anm. 68), § 40 Rn. 2 f.; Wahlhäuser (Anm. 12), S. 242 ff. 72 Insofern übereinstimmend Bielenberg/Runkel Schrödter (Anm. 1), § 42 Rn. 78.
(Anm. 16), § 42 Rn. 128; Breuer, in:
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Rechtsposition des Betroffenen einer Lage, in der sie den Namen „Eigentum" nicht mehr verdiene; die Belastung sei dann möglicherweise nicht mehr zumutbar. Erfordere das Allgemeinwohl nach Auffassung des Gesetzgebers dennoch die Erhaltung des geschützten Objekts, so könne dies nur auf dem Wege der Enteignung erreicht werden 7 3 . Damit gerät die scheinbar klare Abgrenzung zwischen der vom BVerfG angenommenen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums und der Enteignung wieder ins Zwielicht. Hieran hat sich heftige Kritik entzündet. Die Kritiker werfen dem BVerfG einen „Bruch in der Begründung" sowie eine „Bankrotterklärung" 7 4 , die heraufbeschworene Gefahr einer „offenen Flanke" und einen „latenten Widerspruch" zwischen formellen und materiellen Kriterien 7 5 vor. Manche ziehen hieraus die naheliegende und treffende Konsequenz, daß der totale Nutzungsentzug, der nur ein „nudum ius" des Eigentums beläßt, nach Ansicht des BVerfG aus der Kategorie der Inhaltsbestimmung herausfallen s o l l 7 6 . Damit erweist sich zum einen nochmals, wie brüchig die verfassungsrechtliche Abgrenzung zwischen der grundsätzlich entschädigungsfreien, auf gesetzlicher Inhalts- und Schrankenbestimmung beruhenden Sozialbindung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 GG, der ausnahmsweise ausgleichs- oder entschädigungspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung und der unbedingt entschädigungspflichtigen Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG geblieben ist. Insbesondere erscheint der Kategorienwechsel von der entschädigungspflichtigen (Aufopferungs-)Enteignung zur ausgleichs- oder entschädigungspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung wenig ergiebig. Zum anderen drängt sich vor diesem Hintergrund um so mehr die Konsequenz auf, dem Übernahmeanspruch des Eigentümers auch im Denkmalschutzrecht enteignungsrechtlichen Charakter zuzuerkennen, weil er wegen der dominanten Sozialwidmung des betroffenen Bau- oder Bodendenkmals die Güterzuordnung durchbricht und insofern ebenso wie im Bauplanungs- und Umweltrecht als spiegelbildliches Pendant zur klassischen Enteignung fungiert 7 7 . Dagegen ist der B G H der Ansicht, die gesetzliche Regelung des denkmalschutzrechtlichen Übernahmeanspruchs (wie in § 31 DSchG NRW) sei eine verfassungskonforme und wirksame Inhaltsbestimmung des Eigentums, somit keine Enteignung und nicht an Art. 14 Abs. 3 GG zu messen. Deshalb finde hierauf die Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG, die sich nur auf Enteignungen (i.S. der Rechtsprechung des BVerfG) beziehe, keine Anwendung 7 8 . Die denkmalschutz73 BVerfGE 100,226(243). 74 So Battis, NuR 2000, 421 (424). 75 Sο Rollen NJW 2001, 1003 (1007). 76 So Ossenbühl, JZ 1999, 899 (900); wohl auch Battis, NuR 2000, 421 (424); Hendler, in: FS für Maurer, 2001, S. 127 (132 f.); Wendt (Anm. 54), Art. 14 Rn. 157a. 77 Zutreffend daher die in Anm. 3 Genannten. 78 B G H Z 121, 73 (78 f.) = DVB1. 1993, 430 mit zu Recht krit. Anm. von Schwabe, S. 840 ff.; ebenso wie der BGH: HessVGH, E S V G H 45, 241 (247).
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Rüdiger Breuer
rechtliche Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG und dem Prinzip der Sozialbindung (Art. 14 Abs. 2 GG) erklärt der B G H in Anbetracht der Bau- und Bodendenkmäler mit dem altvertrauten Gedanken der Situationsgebundenheit. Die gesetzmäßige Unterschutzstellung aktualisiere und konkretisiere eine Bindung, die dem Grundstückseigentum im Hinblick auf die Situation schon zuvor immanent gewesen und durch das Gesetz anerkannt sei 7 9 . Schon hierin sieht der BGH das Zerstörungs- und Veränderungsverbot, das Erhaltungsgebot und das Hindernis einer Baugenehmigung für Stubstanzveränderungen begründet. Dies alles ist im Ansatz durchaus zutreffend, aber nur bis zu der Grenze, die in Normen wie § 31 DSchG NRW rechtsbegrifflich beschrieben ist: Wenn und soweit es dem Eigentümer mit Rücksicht auf seine Pflicht zur Erhaltung des Denkmals aufgrund einer gesetzesvollziehenden behördlichen Maßnahme nicht zuzumuten ist, das Denkmal zu behalten oder es in der bisherigen oder einer anderen zulässigen Art zu nutzen, kippt die Inhaltsbestimmung des sozialpflichtigen Eigentums in eine dominante Sozialwidmung um, die sich als fremdnützige „Inanspruchnahme" und „Ent-Eigung" darstellt 8 0 . Das Eigentum wird unter den beschriebenen Voraussetzungen zu einer formalen Hülle, die nicht mehr privat-, sondern nur noch fremdnützig gehalten wird, d. h. zum „nudum ius". Der Eigentümer wird so zum wirtschaftlichen Treuhänder eines Gemeinguts. Eine solche Rechtslage läßt sich nicht mehr als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erklären. Vielmehr führt sie konsequenterweise zum Eigentumsübergang, den der öffentliche Aufgabenträger im Wege der klassischen Enteignung (z. B. nach § 30 DSchG NRW) und der betroffene Eigentümer mittels des Übernahmeanspruchs (z. B. nach § 31 DSchG NRW) erzwingen kann. Dabei bewegt man sich im Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 3 GG und seiner qualifizierten Legitimationserfordernisse. Dies erkennt offenbar auch das BVerfG in seinen wiedergegebenen, zu Unrecht kritisierten Wendungen an 8 1 . Indirekt scheint auch der B G H den enteignungsrechtlichen Kontext zu respektieren, indem das Gericht die Entscheidungen über den Übernahmeanspruch nach § 31 DSchG NRW und die Höhe der dafür zu leistenden „Entschädigung" in dasselbe gerichtliche Verfahren nach Enteignungsrecht (seinerzeit noch nach dem Preußischen Enteignungsgesetz) verweist 8 2 . Ob die rechtsbegrifflichen, beispielsweise in § 31 DSchG NRW formulierten Voraussetzungen des Übernahmeanspruchs im Einzelfall erfüllt sind, ob eine gesetzesvollziehende Maßnahme der Denkmalbehörde also eine unzumutbare, die Pri™ B G H Z 121, 73 (78 f.); im Ansatz ebenso O V G Münster, Urt. v. 15. 8. 1997 (Anm. 22), Rn. 38 ff.; kritisch zum Ansatz der Situationsgebundenheit Parodi, Eigentumsbindung und Enteignung im Natur- und Denkmalschutz, 1984, S. 44 ff. 80 Zum Enteignungskriterium der Inanspruchnahme nach wie vor treffend Kutscher, Die Enteignung, 1938, S. 125 f.; hieran anknüpfend bereits Breuer, NuR 1996, 537 (546); im Ergebnis übereinstimmend Parodi (Anm. 79), S. 156 f.
«ι BVerfG E 100, 226 (243); dazu oben in und bei Anm. 7 3 - 7 6 . «2 B G H Z 121, 73 (74, 76 f.), noch unter der Geltung des PrEnteignG von 1874.
Der enteignungsrechtliche Übernahmeanspruch des Eigentümers
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vatnützigkeit beseitigende Sozialwidmung des Denkmalgrundstücks darstellt und somit eine fremdnützige Inanspruchnahme des Grundstücks vorliegt, hängt freilich von den konkreten Umständen ab. Bei Baudenkmälern, deren notwendige Erhaltung dauerhaft unrentabel ist und die auch keiner rentablen Nutzung zugeführt werden können, wird man damit rechnen müssen, daß die Voraussetzungen des Übernahmeanspruchs erfüllt sein können 8 3 . Gleiches gilt bei der Unterschutzstellung von Bodendenkmälern, wenn deren Ergrabung vorgesehen ist und die bisherige bauliche oder gewerbliche Nutzung des betroffenen Grundstücks infolgedessen aus rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen zum Erliegen k o m m t 8 4 . Falls hingegen ein Bodendenkmal in einem landwirtschaftlich genutzten Grundstück unter Schutz gestellt wird, die landwirtschaftliche Nutzung unverändert möglich bleibt und die Privatnützigkeit des Grundeigentums somit fortbesteht, dürfte es regelmäßig an den Voraussetzungen eines Übernahmeanspruchs fehlen. Ferner dürfte in der Regel eine administrative Aufhebung der Privatnützigkeit fehlen und ein Übernahmeverlangen in der Regel unbegründet sein, wenn ein Baudenkmal unter Schutz gestellt wird, das seit alters her aus jeder Aktivnutzung ausgeschieden ist und sich in einer quasi-musealen Situation befindet; Beispiele hierfür bilden Bürgst ruinen .
4. Die fremdnützige Inanspruchnahme als enteignungsrechtliches Qualifikationskriterium der Übernahmenansprüche im Umweltrecht Umweltrechtliche Nutzungsverbote und -beschränkungen werden heute allgemein - unabhängig von der Eingriffs- und Belastungsschwere für den Eigentüm e r - als Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums i.S. des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG qualifiziert 8 6 . Dies ist im Grundsatz, wie oben ausgeführt, gewiß richtig. So scheinen auch die wiedergegebenen Tatbestände der Übernahmeansprüche, die im Naturschutz- und Landschaftspflegerecht sowie im Wasserrecht geregelt sind 8 7 , als allenfalls ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums und nicht etwa als Enteignungstatbestände qualifizierbar zu sein. Im Lichte der Erkenntnisse, die sich im Planungsschadensrecht (zu den § § 4 0 Abs. 2 und 42 Abs. 9 BauGB) und im Denkmalschutzrecht (z. B. zu § 31 DSchG NRW) gewinnen lassen, wird man jedoch auch im Umweltrecht eine verfassungsrechtlich vor-
So der zugrundeliegende Fall in BVerfGE 100, 226. 84 So der zugrundeliegende Fall in B G H Z 121, 73; dazu auch BGH, N V w Z - R R 1990, 595. 85 Vgl. dazu Hönes, NuR 2002, 324 (325). 86 Vgl. die Nachw. oben in Anm. 7 - 1 1 , 41, 4 5 - 4 9 ; besonders deutlich BVerwGE 84, 361 f.; 94, 1 (5 ff.); B G H Z 121, 328 ff.; zum Ganzen auch Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl. 2004, Rn. 171 ff., 880 ff. 87
Vgl. die in den Anm. 25 und 27 aufgeführten Vorschriften.
Rüdiger Breuer
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gegebene Grenze anerkennen müssen, die durch das Rechtsinstitut des Eigentums i.S. des Art. 14 Abs. 1 GG gesetzt ist: Wenn die umweltrechtlichen Nutzungsverbote und -beschränkungen dem Eigentümer jegliche Möglichkeit der privatnützigen Verwendung nehmen, mithin als fremdnützige „Inanspruchnahme" des Eigentums wirken und dieses als „nudum ius" denaturieren und den Eigentümer zum bloßen Treuhänder der Allgemeinheit herabstufen, kann unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt mehr von einer Inhaltsbestimmung des Eigentums die Rede sein. Vielmehr kann dann nur noch vom institutionellen Gegenteil, nämlich von einer Enteignungsmaßnahme gesprochen werden, die an Art. 14 Abs. 3 GG gemessen werden m u ß 8 8 und konsequenterweise nach einer rechtsförmlichen Vollendung verlangt. Diese kann entweder in der klassischen, gesetzlich vorgesehenen Enteignung (d. h. in der hoheitlichen Entziehung des Eigentums) oder i m Eigentumsübergang aufgrund des gesetzlichen Übernahmeanspruchs des Eigentümers bestehen. Auch hier sollten sich Rechtsprechung und Literatur nicht länger der Erkenntnis verschließen, daß die fremdnützige Inanspruchnahme des Eigentums eine materielle Übernahme der Sachherrschaft darstellt. Deshalb muß sie als Enteignung i.S. des Art. 14 Abs. 3 GG qualifiziert und juristisch abgewickelt werden.
IV. Ergebnis Die Wiederverengung des Enteignungsbegriffs auf die hoheitliche Güterbeschaffung darf nicht auf die Spitze getrieben werden. Die näher betrachteten Übernahmeansprüche des Eigentümers im Bau-, Denkmal- und Umweltrecht lassen sich nicht mehr als Inhaltsbestimmung des Eigentums einordnen. Vielmehr beruhen sie auf einer eigentumsaufhebenden Beseitigung jeglicher Privatnützigkeit. Sie durchbrechen deshalb die Güterzuordnung und initiieren eine „Ent-Eignung". Daher muß ihnen ein enteignungsrechtlicher Charakter zuerkannt werden. Sie sind demgemäß an Art. 14 Abs. 3 GG zu messen. Gegenteilige Aussagen in Rechtsprechung und Literatur bedürfen der Korrektur.
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Vgl. zu den zugrunde gelegten Kriterien die Nachw. oben in Anm. 80.
D e r Staat i n den G r e n z e n seiner W i r k s a m k e i t Zum staatstheoretischen Verhältnis von Staat und Wettbewerb Von Bernd Grzeszick, Erlangen
I. Staat im Wettbewerb Der Staat ist stets von außerrechtlichen Vorgängen abhängig. 1 Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis sehen Rechtswissenschaftler den modernen Verfassungsstaat seit einiger Zeit veränderten Bedingungen ausgesetzt, die mittlerweile wieder vermehrt zu dieser tendenziell in Vergessenheit geratenen staatstheoretischen Perspektive auf den Staat führen. Lange Zeit ging es vor allem darum, den Staat rechtsstaatlich zu bändigen und dadurch die Freiheit der Bürger zu schützen. Höhepunkt dieser Entwicklung schien der Abschied vom Staat zu sein, der verschiedentlich gefordert oder gar schon konstatiert wurde. 2 An die Stelle des Staates sollte die - selbstverständlich weltumspannende - Zivilgesellschaft treten, die ihre Probleme im offenen und fairen Diskurs aller Beteiligten bewältigt. 3 Diese Erwartung an die Entwicklung von Staat und Gesellschaft ist enttäuscht worden. Stattdessen zeigt sich, dass an die Stelle des Abschieds vom Staat der Umbau des Staates und dessen Wiederentdeckung getreten ist. 4 Dahinter steht die Einsicht, dass die grundlegende Funktion staatlicher Ordnung, ein friedliches Zusammenleben der Bürger zu ermöglichen, auch unter veränderten Umständen weiterhin erreicht werden soll, und zu diesem Zweck der Staat weiterhin erforderlich ist. 5 Allerdings schicken die veränderten Umstände sich an, in ganz erheblichem Maße auf die Staatlichkeit einzuwirken. Insbesondere die ökonomischen Zusammen1 Vgl. R. Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staatund Rechtstheorie, Erlangen 1964, S. 126 ff., 138 ff.
2 Vgl. dazu G. F. Schuppert, D Ö V 1995, S. 761 ff. m. w. N. 3
Stellvertretend: J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt, 1985; ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992. 4 Vgl. G. F. Schuppert, Der Staat 28 (1989), S. 91 ff.; D. Osborne /T. Gaebler, Reinventing Government, Reading/Mass. (USA), 1992; R. Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat?, Baden-Baden, 1993; G. F. Schuppert (Anm. 2); jew. m. w. N. 5 Dazu nur 7. Isensee, JZ 1999, S. 265 (271 ff.).
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hänge der modernen Gesellschaft haben eine ungeahnte Dynamik entwickelt. Auf diese Veränderungen sehr schnell reagiert haben die Unternehmen, die ihre Tätigkeiten in einer internationalen Struktur so aufteilen, dass es den größten Gewinn bringt, und die Möglichkeiten schneller und preiswerter Datenübermittlung beschleunigen diesen Prozess weiter; die Ländergrenzen sind für sie nur noch mittelbar von Bedeutung. Wesentlich langsamer reagiert dagegen unser bisher verbindliches und verbindendes Gemeinschaftsmodell: der hoheitlich handelnde Staat. Als Organisationsform unseres Zusammenlebens erfährt er zur Zeit einen Wandel. Kollektives Wohlergehen und individuelle Entwicklung differieren zunehmend, und die homogene Verteilung des Lebensstandards kann immer weniger aufrechterhalten werden. 6 Dies hat Auswirkungen für die Perspektive auf den Staat. Staaten werden in einem direkten ökonomischen Wettbewerb als Standorte verglichen, 7 und der Staat mit seiner Rechtsordnung sei zwar ein, aber eben nur noch ein Standortfaktor im globalen Wettbewerb. Aus dieser Sicht befindet sich der Staat trotz der bei ihm monopolisierten Hoheitsbefugnisse in einem Wettbewerb. Damit ist nun die zentrale Frage aufgeworfen, die es im Folgenden zu beantworten gilt: Welche Erkenntnisse hält die Staatstheorie für das Verhältnis von Hoheit und Wettbewerb in Bezug auf den Staat bereit?
II. Die Bedeutung von Hoheit und Wettbewerb für den Staat Hoheit und Wettbewerb sind als Ordnungsprinzipien in der Struktur des modernen Verfassungsstaates in einer spezifischen Gegenläufigkeit eingefangen. Während Hoheit dem Staat als souveräne Herrschaftsorganisation 8 vorbehalten ist, die demokratisch legitimiert und dem vom Gesetzgeber festgelegten Gemeinwohl verpflichtet ist, wird der Wettbewerb den Bürgern zugeordnet, die in grundrechtliche Freiheit gestellt sind. 9 Die Frage nach dem Verhältnis von Hoheit und Wettbewerb betrifft deshalb das Verhältnis zwischen staatlicher Hoheit und bürgerlicher Freiheit: Je positiver die Wirkungen des freien Wettbewerbs der Bürger für die Wohlfahrt der Gesellschaft gesehen werden, desto größer fällt die Rechtfertigungslast für den in den Wettbewerb intervenierenden Staat aus, und umgekehrt. Das Verhältnis von Hoheit und Wettbewerb gibt daher Aufschluss über Organisation und Rechtfertigung staatlicher Gewalt, denn der liberal-demokratische Staat rechtfer6 Vgl. W. Weidenfeld , Die neue demokratische Frage, in: ders. (Hrsg.), Demokratie am Wendepunkt, Berlin^ 1996, S. 9 f. 7
F. Clainnont,
Le Monde Diplomatique Avril 1997, S. 1 (16 f.).
8
Zu den beiden Staatsbegriffen J. Isensee, in: ders./R Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 2. Aull., Heidelberg 1996, § 57 Rn. 7. 9 M. Wallerath,
JZ 2001. S. 209 (213).
Der Staat in den Grenzen seiner Wirksamkeit
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tigt sich durch das Maß an individueller Freiheit und Wohlfahrt, das seine Bürger genießen. 10
1. Das Hoheitsprinzip a) Begriff'
und Grundlagen des Hoheitsprinzips
Hoheit bezeichnet eine soziale Ordnungsstruktur im Sinne einer grundsätzlichen Hierarchie. Die mit Hoheit ausgestattete Einheit hat prinzipiellen Vorrang vor den der Hoheit unterworfenen Einheiten. Hoheitlichkeit ist in modernen Staaten ein exklusives Attribut staatlichen Verhaltens: Hoheitliche Handlungen können allein vom Staat vorgenommen werden. Entscheidend für die Qualifizierung als hoheitlich ist dabei die Legitimation: Die Handlung oder Aufgabe ist eine hoheitliche, wenn und weil sie dem Staat in seiner Eigenschaft als Träger von Hoheitsmacht vorbehalten ist. Hoheitliches Handeln ist exklusiv dem Staat vorbehalten, weil nur dieser das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" innehat. Dieses ist der Grund dafür, dass der Staat gegenüber seinen Bürgern einseitig, verbindlich und mit Zwang bewehrt handeln darf. Die Bewehrung mit legitimem Zwang ist die Besonderheit der hoheitlichen Tätigkeit des Staates 12 und verweist auf das Spezifikum von Hoheitlichkeit: Die Koppelung an das Gewaltmonopol des Staates als Beschreibung der Oberhoheit des Staates über andere Gewalten. Soweit eine Aufgabe dem Bereich der Hoheitlichkeit zugeordnet wird, ist deshalb die grundsätzliche Rechtsstruktur sowohl der Aufgabe als auch deren Wahrnehmung klar. Die Aufgabe wird dem Staat in seiner Eigenschaft als souveräne Herrschaftsorganisation zugeordnet. Die entsprechenden Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat sind auf beiden Seiten nicht von Freiheit im Sinne individueller Beliebigkeit geprägt, sondern von einer spezifischen Bindung, die die Freiheit des einzelnen Bürgers mit der Freiheit seiner Mitbürger im Wege des Staates als Organisationsform der Herrschaft von Menschen über Menschen in ein bestimmtes Verhältnis setzt: das der rechtlich verfassten Freiheit. Diese Rechtsbeziehungen sind dialektisch geprägt. Die Rechtsstellung des Staates ist einerseits von Souveränität im Sinne einer Allzuständigkeit 1 3 gekennzeichnet, da der Staat grundsätzlich auf sämtliche Lebensbereiche zugreifen und sie rechtlichen Regelungen unterwerfen kann. Die Freiheit des Zugriffs wird aber andererseits rechtlich eingefangen durch Rechtsregeln, die die staatliche Freiheit be10
J. Isensee (Anm. 5) 277; U. Di Fabio , Der Staat als Institution. Zur Kontingenz der
modernen Staalsidee, in: J. Isensee/H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, München, 1999, S. 225 (228). " M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Köln 1972, S. 821 f. •2 E. Forsthoff,
Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl., München, 1973, S. 294.
13 J. Isensee (Anm. 8) Rn. 158 ff.
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grenzen. Dies sind zum einen die Grundrechte, die im jeweiligen Anwendungsbereich zunächst den Bürger in Freiheit setzen dadurch, dass der Staat jede staatlich zu verantwortende Freiheitsverkürzung zu rechtfertigen hat. Hinzu treten Verfahrens- und Zuständigkeitsregeln, die die staatliche Macht beschränken. Zum anderen ist die Souveränität des Staates an die demokratische Legitimation gebunden: Die Frage, welches konkrete Ziel der Staat verfolgen soll, wird im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben politisch entschieden und beruht auf der demokratischen Legitimation durch eine entsprechende Mehrheit. Der Staat ist damit an Rechtsregeln gebunden, die das Staatshandeln mäßigen, legitimieren und damit auf das jeweils zu konkretisierende Gemeinwohl verpflichten.
b) Hoheitsprinzip
und Gemeinwohlfähigkeit
des Staates
Diese Zusammenhänge legen den Sinn des Hoheitsprinzips offen. Das Hoheitsprinzip ist i m modernen Verfassungsstaat Bedingung der Realisierung eines weitgehend offenen Gemeinwohls. Dem Staat wird die Hoheit zugeordnet, um Einschränkungen der individuellen Freiheit der Bürger regeln und durchsetzen und damit das Gemeinwohl hervorbringen zu können. Das Hoheitsprinzip ist deshalb Ausdruck der Souveränität in ihrer Eigenschaft als Bedingung der Gemeinwohlfähigkeit des Staates. 14 Welche Aufgaben der Staat hat, also: wie das Gemeinwohl als Vorstellung von der richtigen Ordnung des Gemeinwesens aussieht, ist zwar aus der Hoheitlichkeit des Staates allein grundsätzlich nicht zu bestimmen. Aus der Hoheitlichkeit und dem damit verbundenen Gewaltmonopol folgt allein die Aufgabe der Sicherung eines Grundbestandes an physischer, rechtlicher und sozialer Sicherheit. 15 Darüber hinaus ist offen, wie die richtige Ordnung des Gemeinwesens auszusehen hat, weshalb das Hoheitsprinzip keine Aussagen über konkrete Aufgaben des modernen Staates enthält, sondern über dessen prinzipiellen Befugnisse. Allerdings steht die inhaltliche Offenheit des Gemeinwohls der besonderen Bedeutung des Hoheitsprinzips im modernen, liberal-demokratisch verfassten Staat nicht entgegen, im Gegenteil: Gerade in der Offenheit gegenüber der Frage, welche Aufgaben staatlich geregelt werden, zeigt sich die Souveränität des Staates im Sinne der Allzuständigkeit. Der Staat kann grundsätzlich alles aufgreifen und zum Regelungsgegenstand machen; das Gemeinwohl ist i m modernen Verfassungsstaat in weiten Teilen wandelbar, eben: offen. 1 6 In der Konsequenz steht das Hoheitsprinzip nicht für ein bestimmtes Regelungsziel, sondern ist notwendiges Mittel, damit der Staat die ihm als Gemeinwohlgarant zugeordneten Aufgaben erfüllen kann. Die mit dem Hoheitsprinzip bezeichnete Überordnung des Staates über ande•4 J. Isensee (Anm. 8) Rn. 43. «5 J. Isensee (Anm. 8) Rn. 44 ff 16 C. Engel, Rechtstheorie 32 (2001), S. 23 ff.
Der Staat in den Grenzen seiner Wirksamkeit
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re Gewalten ist nicht Selbstzweck oder Ziel des Staates, sondern Mittel zur Durchsetzung des Gemeinwohls.
2. Das Wettbewerbsprinzip a) Prinzip und Grundlagen des Wettbewerbs Wettbewerb im allgemeinen Sinne ist ein soziales Handlungs- und Organisationsprinzip. 1 7 Wettbewerb entsteht, wenn mehrere Akteure an einer bestimmten Aufgabe, in der Regel die Herstellung von Gütern, mitwirken möchten und die Art bzw. der Umfang der Mitwirkung des einzelnen Akteurs durch seinen Erfolg in Bezug auf die Aufgabenerfüllung gegenüber den anderen Akteuren bestimmt w i r d . 1 8 Wettbewerb beruht demnach auf der Interaktion von Akteuren. Gedachter Ort der Interaktion ist der Markt als Allokationsfeld für die Wettbewerbsakteure. Diese vereinbaren i m Wege von Angebot und Nachfrage den Tausch von Gütern. Unter den Voraussetzungen eigennützigen Verhaltens sowie der Knappheit der eingesetzten und bzw. oder der erzeugten Güter führt die Freiheit der Akteure dazu, dass sie miteinander in Konkurrenz treten: Jeder Akteur versucht, sein Verhalten so einzurichten, dass er möglichst wenig eigene Güter einsetzt und möglichst viele der erzeugten Güter erhält. Wettbewerb ist demnach ein soziales Auswahlprinzip, durch das bestimmt wird, welche Funktionen bzw. Güter den Akteuren bei der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe zufallen.
b) Bedingungen und Folgen von Wettbewerb Die theoretischen Grundlagen des Wettbewerbs sind Gegenstand intensiver Diskussion. Insbesondere die Wirtschaftstheorie hat verschiedene Ansätze hervorgebracht, die Funktionsweise, Ablauf und Ziel des Wettbewerbs unterschiedlich bestimmen. 1 9 Jenseits der Diskussion über die theoretischen Grundlagen besteht aber weitgehende Einigkeit über die wesentlichen Bedingungen und Folgen des Wettbewerbs. 20 Der Wettbewerb bestimmt die Angebotsstruktur der Güter und gibt damit Antwort auf die Frage, in welchem Verfahren welche Güter produziert wer17 Jh. Wessels, Artikel „Wettbewerb", in: Görres-Gesellschaft 6. Aufl., Band V I I I , 1963, Sp. 642 f.
(Hrsg.), Staatslexikon,
ι« Th. Wessels (Anm. 17) Sp. 642 ff. 19 Skizze der klassischen Nationalökonomie: K.-H. Fezer, JZ 1990, S. 657 (659). Wettbewerb als Entdeckungsverfahren: F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: ders., Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 249 ff.; E. Hoppmann, Das Konzept der optimalen Wettbewerbsintensität, Neue Jahrbücher zur Nationalökonomie und Statistik 179 (1966), S. 286 ff. Theorie eines funktionsfähigen Wettbewerbs: J. M. Clark, American Economic Review 30 (1940), S. 241 ff. 20 Vgl. K.-H. Fezer (Anm. 19) S. 659 ff.
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den. Weiter bestimmt der Wettbewerb die Nachfragestruktur, also die Organisation der Verteilung der Güter. Zusammengenommen bestimmt der Wettbewerb damit über die Verteilung des gesamtwirtschaftlichen Produktionsergebnisses. Grundlage des Wettbewerbs ist dabei die Freiheit der Akteure im Sinne von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Betätigung als Marktteilnehmer. Wettbewerb ist deshalb sowohl ein Prinzip der Individualfreiheit der einzelnen Akteure als auch ein Prinzip der Sozialordnung des Gemeinwesens. 21 Die Legitimation von Wettbewerb als soziales Ordnungs- und Handlungsprinzip liegt dabei in der Annahme, dass Wettbewerb den Wohlstand aller Beteiligten mehrt. Der Weg dahin soll in der Steigerung der Allokationseffizienz liegen: Knappe Güter würden so verteilt, dass ein volkswirtschaftliches Optimum entstehe. Effizienz wird zum maßgeblichen Kriterium für die Bewertung des Handelns der Akteure, wobei insbesondere auch die bei der Verteilung von Gütern entstehenden Kosten für Transaktionen und Informationen berücksichtigt werden. 2 2 Der Wettbewerb von Konkurrenten um ein knappes Gut steigere die Effizienz des Verhaltens der Akteure in Bezug auf die Produktion von Gütern und führe damit zu einer besseren Ressourcenallokation. Im Ergebnis werde das Verhalten der Akteure deshalb durch den Wettbewerb so gesteuert, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen maximiert werde. 2 3
3. Das Wettbewerbsprinzip als Herausforderung des Staates Das Wettbewerbsprinzip ist als allgemeines soziales Verhaltens- und Organisationsprinzip in seiner Anwendung nicht von vorneherein auf das klassische Wirtschaften mit materialen Waren und Dienstleistungen beschränkt. Auch in anderen Bereichen kann Wettbewerb stattfinden und sinnvoll sein, soweit die Grundidee greift, den Gesamtnutzen der Beteiligten durch eigennützige Konkurrenz zwischen diesen zu mehren. Dem entsprechend hat die Ökonomie ihren Gegenstandsbereich über wirtschaftliche Güter und Märkte hinaus auch auf andere soziale Institutionen erstreckt. 24 Das Handeln der Akteure soll dabei auch hinsichtlich kollektiver Phänomene als Verhalten im Sinne individueller Nutzenmaximierung verstanden werden. Die auf Wirtschaft im engeren Sinn bezogene Ökonomie wandelt sich zur politischen Ökonomie bzw. Institutionenökonomik. 2 5 21 K.-H. Fezer (Anm. 19) S. 660. 22 Grundlegend R. H. Coase, The Nature of the Firm, in: The Firm, the Market and the Law, Chicago, 1988, S. 33 (36 ff.); ders., The Problem of Social Cost, in: The Firm, the Market and the Law, Chicago, 1988, S. 95 (114 ff.). 23
Dazu nur Η. Eidenmüller,
24
V. Vanberg, Die zwei Soziologien, Tübingen, 1975, S. 15 ff., 78 ff.
Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Aufl., Tübingen, 1998, S. 21 ff.
25 Zu den Ausdifferenzierungen nur /. Pies, Normative Institutionenökonomik, Tübingen, 1993, S. 86 ff., 198 ff.; R. Richter/E. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, 2. Aufl., Tübingen, 1999, S. 33 ff., 453 ff.; J. Martiensen, Institutionenökonomik, München, 2000, S. 75 ff., 103 ff.; jew. m. w. N.
Der Staat in den Grenzen seiner Wirksamkeit
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Um der gewandelten Aufgabe gerecht zu werden, wird der ökonomische Ansatz im Rahmen der politischen Ökonomie erheblich verändert. Zum einen wird der Bereich des Individualnutzens erweitert: Im Rahmen der Ökonomik fallen darunter alle Ziele, die sich die Akteure gemäß ihren je eigenen Vorstellungen setzen mögen; der zu maximierende Eigennutzen kann jegliches individuelle Interesse erfassen. 2 6 Zum anderen wird die Perspektive verändert: In den Mittelpunkt der Untersuchung rücken an Stelle des Marktes andere soziale Institutionen, z. B. bestimmte Rechtsregeln. Diese Institutionen, die in der klassischen Ökonomie als Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns vorausgesetzt oder als Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Akteure betrachtet werden, werden nun im Rahmen der Ökonomik selber zum Gegenstand des Versuchs, ihre Existenz auf das den Eigennutzen maximierende Verhalten der Akteure zurückzuführen. 27 M i t der Wandlung von der Ökonomie zur Ökonomik wird zum Teil auch eine normative Ausrichtung der Ökonomik verbunden. 28 Die normative Ökonomik beansprucht, Handlungsanweisungen in Bezug auf die Institutionen zu entwickeln. Soweit Institutionen mit der Maximierung des Eigennutzens nicht zu erklären sind, sind sie irrational und so zu verändern, dass sie der ökonomischen Vernunft mit dem Ziel der individuellen Nutzenmaximierung entsprechen. Dieser Ansatz wird im Rahmen der konstitutionellen politischen Ökonomie bzw. der ökonomischen Verfassungstheorie auf eine bestimmte Institution angewendet: den Staat. 29 Maßstab der ökonomischen Bewertung ist auch hier das Kalkül eines rationalen, am Eigennutzen interessierten Individuums. Der Staat wird aus der Sicht des einzelnen Bürgers betrachtet, der Vorteile und Nachteile einer staatlichen Ordnung für sich abwägt. Soweit ökonomische Staats- und Verfassungstheorien normativ verstanden werden, 3 0 wird damit zugleich auch der Individualismus normativ aufgeladen: Der Staat wird daran gemessen, ob er dem individuellen Nutzenkalkül der Bürger entspricht. 31 Die Entscheidungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder über die Mehrung ihres individuellen Nutzens werden zum normativen Maßstab und damit zur Legitimationsgrundlage des Gemeinwesens gemacht. Die ökonomische Betrachtung des Staates hat ein Leitmotiv: Steigerung der Rationalität des Staates. Der ökonomische Ansatz wird zur Grundlage einer Staats26 P. Behrens, Über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Nationalökonomie: Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 7 (1988), S. 209 (218). 27 2
G. Kirchgässner,
« G. Kirchgässner
Homo Oeconomicus, 2. Aufl., Tübingen, 2000, S. 96 ff. (Anm. 27) S. 234 ff.
29
Vgl. J. M. Buchanan/G. Tullock, The Calculus of Consent, Ann A r b o r / M i c h . (USA), 1962; D. Mueller, Public Choice, Cambridge, 1979; ders., Public Choice II, Cambridge, 1989; J. M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, Tübingen, 1984; G. Brennan/J. M. Buchanan. Die Begründung von Regeln, Tübingen, 1993. 30 J. M. Buchanan, IHS-Journal 3 (1979), S. 1 ff.; G. Brennan/J. insbes. S. 2 f., 12 ff., 25 ff., 30 f. G. Brennan/J.
M. Buchanan (Anm. 29) S. 20 f.
M. Buchanan (Anm. 29),
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theorie, die beansprucht, die Vorstellung eines gemeinwohlfördernden Staates als Mythos zu entlarven, der eine ideologische Verbrämung für bestimmte Gruppeninteressen sei; an diese Stelle solle eine rationale Kritik des Staates im Sinne der wirklichen Interessen der Bürger treten. 32 Die Konstitutionelle Ökonomik vermittelt damit eine Perspektive auf Hoheit und Wettbewerb, die diese Ordnungsprinzipien als alternative Ordnungsmechanismen in Konkurrenz zueinander stellt: Hoheitsprinzip und Wettbewerbsprinzip treten in einen Wettbewerb um die bessere Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens. 33
4. Das Verhältnis von Hoheit und Wettbewerb in Bezug auf den Staat a) Grundsätzlicher
Gegensatz zwischen Hoheit und Wettbewerb
Das Verhältnis zwischen Hoheit und Wettbewerb ist von prinzipieller Spannung gezeichnet. Das Hoheitsprinzip beruht auf einem Monopol, dem der legitimen physischen Gewalt, und es äußert sich in einseitigem, hierarchischem, mit Zwang bewehrtem Handeln. Das Wettbewerbsprinzip beruht dagegen auf Konkurrenz, also der Freiheit und dem individuellem Eigennutzen der Akteure, und es äußert sich in freiwilligen Tauschvorgängen zwischen diesen. Der Unterschied zwischen den beiden Prinzipien gerät dabei zu einem normativen Gegensatz, soweit ein Prinzip Vorrang vor dem anderen beansprucht. Dieser Anspruch ist in den Begründungen der jeweiligen Prinzipien angelegt. Hoheit wird zum einen damit gerechtfertigt, dass die Freiheit der Einzelnen und damit Konkurrenz und Wettbewerb zwischen den Einzelnen durch hoheitliches Handeln erst ermöglicht werde, also Hoheit Voraussetzung von Wettbewerb sei. Zum anderen sei hoheitliches Vorgehen dadurch legitimiert, dass der Wettbewerb und seine Folgen an einem anders als durch den Wettbewerb zu bestimmenden Gemeinwohl zu messen und gegebenenfalls zu korrigieren seien. Dagegen beruht die Idee des Wettbewerbs auf der Überlegung, dass das Gemeinwohl sich erst aus dem Wettbewerb ergebe, und deshalb das Gemeinwohl durch die freie Konkurrenz der eigennützig handelnden Akteure optimal erreicht werden könne, weshalb eine am Gemeinwohl orientierte Hoheit auf den Wettbewerb auszurichten und diesem unterzuordnen sei. Im Ergebnis stehen Hoheitsprinzip und Wettbewerbsprinzip demnach zueinander in einem normativen Gegensatz.
32 G. Brennan/J. 33
M. Buchanan (Anm. 29) S. 43 ff., insbes. S. 57 ff., 62 ff.
St. Tontrup, Ökonomik in der dogmatischen Jurisprudenz, in: C. Engel (Hrsg.), Methodische Zugänge zu einem Recht der Gemeinschaftsgüter, Baden-Baden, 1998, S. 41 (104).
Der Staat in den Grenzen seiner Wirksamkeit
49
b) Gegensatz von Hoheit und Wettbewerb in der Struktur des modernen Verfassungsstaates Dieser Gegensatz von Hoheit und Wettbewerb wird im modernen Verfassungsstaat in einem dialektischen Verhältnis gegenseitiger Verwiesenheit eingefangen. Der Staat hat wegen seiner Souveränität grundsätzlich die Befugnis, Lebensbereiche zu regeln; bei der Regelung ist er aber an die Verfahrens- und Zuständigkeitsregeln des Staatsorganisationsrechts sowie an die Grundrechte der Bürger gebunden. Der Bürger wird durch die Grundrechte grundsätzlich in Freiheit gesetzt, da der Staat jede staatlich zu verantwortende Freiheitsverkürzung zu rechtfertigen hat; aber soweit dies gerechtfertigt ist, darf der Staat die grundrechtlich geschützte Freiheit einschränken. Die Entscheidung darüber, ob der Staat von seiner Befugnis Gebrauch macht, ist wiederum an die Freiheit der Bürger gekoppelt: die demokratische Freiheit, die die Bürger in Wahlen und Abstimmungen ausüben. Diese Freiheit ist Grundlage des politischen Wettbewerbs zwischen den Bürgern um die Bestimmung des Gemeinwohls. Diese dialektische Einbindung von Hoheit und Wettbewerb im Sinne einer gegenseitigen Verwiesenheit hebt aber den prinzipiellen Gegensatz von Hoheitsprinzip und Wettbewerbsprinzip nicht auf, sondern setzt ihn voraus durch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 34 die dem Verfassungsrecht in der Struktur der Grundrechte und des Staatsorganisationsrechts zugrunde liegt. Der Gegensatz zwischen Hoheitsprinzip und Wettbewerbsprinzip wird durch die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und die diese Unterscheidung wiedergebende Struktur des Verfassungsrechts auch im modernen Verfassungsstaat virulent. Der Anspruch des Wettbewerbsprinzips, Grundlage einer aufgeklärten, vernünftigen Staatlichkeit zu sein, wird damit zur Herausforderung liberal-demokratischer Verfassungsstaaten: Auch deren staatliche Ordnung muss sich der Frage stellen, ob sie der legitimatorischen Herausforderung durch den Gedanken des Wettbewerbs der in Freiheit gesetzten, eigennützig handelnden Bürger gewachsen ist.
c) Wettbewerb
und Gemeinwohl nicht stets Gegensatz
Dabei kann dem Wettbewerbsprinzip nicht entgegnet werden, dass ihm von vorneherein die Gemeinwohlorientierung fehle. Wettbewerb ist ein Mechanismus, knappe Güter so zu verteilen, dass sie optimal genutzt werden. Soweit das Ziel der Herstellung eines bestimmten Gutes akzeptiert wird, erweist sich das eigennützige utilitaristische Kalkül des Wettbewerbs deshalb als ein Projekt mit ethischem Mehrwert: Der Wettbewerb führt dazu, aus verschiedenen Produktionsweisen diejenigen auszuwählen, die die vorhandenen Güter zur Produktion des neuen Gutes optimal nutzen. Soweit das Ziel akzeptiert wird, greift die den Wettbewerb legiti34
E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen, 1973. 4 FS Bartlsperger
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mierende Überlegung, dass der Gemeinnutzen durch den Eigennutzen gefördert wird. Das individuelle Erfolgsstreben fördert dabei das Interesse der Gesellschaft nachhaltiger und besser als hoheitlich reguliertes Wirtschaften. 35 Der in der grundrechtlichen Freiheit der einzelnen Bürger angelegte Wettbewerb ist ein durch die eigennützige ökonomische Rationalität gesteuertes Entdeckungs- und Lernverfahren, das aus den individuellen Freiheitsimpulsen seinen Antrieb empfängt und insoweit bei der Ordnung der sozialen Beziehungen der Beteiligten anderen Ordnungskonzepten überlegen i s t . 3 6
d) Frage nach den Grenzen der Legitimation
des Wettbewerbs
Die Grenzen des normativen Richtigkeitsanspruchs des Wettbewerbs sind deshalb an anderen Stellen zu suchen. Zum einen sind die Bedingungen des Wettbewerbs in den Blick zu nehmen: Wettbewerb ist kein sich selbst erzeugendes und stabilisierendes Prinzip, sondern bedarf hoheitlicher Regelungen, die eine effiziente Güterallokation ermöglichen und sichern. Zum anderen sind die Voraussetzungen der Legitimation des Wettbewerbs als Ordnungsmechanismus zu beachten: Wettbewerb ist als soziales Ordnungsprinzip nicht umfassend legitimiert, denn sein Richtigkeitsanspruch hat prinzipielle Grenzen. Hinsichtlich der Bedingungen einer effizienten Güterallokation durch Wettbewerb zeigt sich, dass Wettbewerb der staatlichen Herrschaftsgewalt bedarf. Die Funktionsfähigkeit des Marktes, durch Wettbewerb Wohlstand für alle Bürger zu ermöglichen, hängt von den rechtlichen Regeln ab. Nur durch allgemeine Regeln, die von einem Staat unparteiisch durchgesetzt werden, kann eine Wettbewerbsordnung errichtet und aufrechterhalten werden, die den einzelnen Bürger von einer nötigenden Willkür anderer Bürger unabhängig macht und dadurch jedem Bürger ermöglicht, seine individuellen Ziele zu verfolgen. Die entsprechenden hoheitlich gesetzten und durchgesetzten Rechtsregeln sind Voraussetzung einer effizienten Güterallokation durch Wettbewerb. 37 Zwar ist damit über den konkreten Inhalt der Regeln noch nichts gesagt. Dieser hängt davon ab, welcher Theorie des Wettbewerbs man anhängt: Die jeweilige Vorstellung vom Wettbewerb bildet den inhaltlichen Bezugspunkt der den Wettbewerb ermöglichenden und schützenden Regeln. Unabhängig von der jeweiligen Vorstellung von Wettbewerb und der entsprechenden Ausgestaltung der den Wettbewerb ermöglichenden und schützenden Rechtsregeln kann aber festgehalten werden, dass Wettbewerb hoheitlich gesetzte und durchgesetzte Regeln benötigt.
35 P. Kirchhof, Staatliche Verantwortung und privatwirtschaftliche Freiheit, in: H.-D. Horn u. a. (Hrsg.), Recht im Pluralismus, Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, S. 3(16).
36 Vgl. P. Kirchhof ( Anm. 35) S. 16. 37 K.-H. Fezer ( Anm. 19) S. 661.
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Nur so kann erreicht werden, dass nicht die Freiheit der Bürger im Wettbewerb den offenen Markt verengt und die Freiheitswahrnehmung die Freiheitsvoraussetzungen zerstört. Allerdings ist zu betonen, dass die entsprechende Begründung von Hoheitsmacht strikt auf den Wettbewerb ausgerichtet ist: Diese Hoheitsmacht ist dadurch begründet, dass sie Wettbewerb ermöglicht. Die derart begründete Gewalt kann nur soweit Hoheitlichkeit beanspruchen, als dies erforderlich ist, den Wettbewerb der Bürger zu ermöglichen, weshalb ein dieser Begründung entsprechender Staat auf die Gewährung eines Mindestmaßes von Schutz und Sicherheit beschränkt ist. 3 8 In diesem Bereich greift der Gegensatz zwischen Hoheitsprinzip und Wettbewerbsprinzip nicht: Die Hoheit ist Voraussetzung von Wettbewerb und durch diesen legitimiert.
e) Voraussetzungen
von Legitimation
durch Wettbewerb
Das Verhältnis zwischen Hoheit und Wettbewerb wird demnach erst dort zum Gegensatz, wo Hoheit nicht Voraussetzung von Wettbewerb ist. Dabei zeigt sich, dass der Anspruch des Wettbewerbsprinzips, ein allgemeines Ordnungsprinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sein, mit grundsätzlichen Problemen behaftet ist. Wettbewerb ist als Ordnungsprinzip nicht umfassend legitimiert, denn es fehlt eine Begründung dafür, dass die durch den Wettbewerb erzeugte Ordnung umfassenden Anspruch auf Richtigkeit hat. 3 9 Die Legitimation des Wettbewerbs als allgemeines Ordnungsprinzip mit dem Argument, dass die durch den Wettbewerb bewirkte Güterverteilung für den Gesamtnutzen der Gesellschaft eine objektiv optimale Verteilung sei, greift zu kurz. 4 0 Die Feststellung des Gesamtnutzens der Gesellschaft erfordert einen Vergleich zwischen den Nutzen der einzelnen Akteure. Dies bereitet aber jenseits der klassischen materiellen Güterwirtschaft Probleme: Auch dann, wenn die Verhaltensmuster der Akteure als eigennützig und die Vorteile der Akteure als Nutzen erfasst werden können, kann das Verhältnis der verschiedenen Nutzen zueinander regelmäßig nicht objektiv nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten optimiert werden, denn die verschiedenen Nutzen sind häufig konzeptionell inkommensurabel und lassen sich nicht miteinander nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten verrechnen 4 1 Der dann zur Feststellung des objektiv optimalen Gesamtnutzens erforderliche interpersonale Nutzenvergleich erfordert wiederum einen gemeinsamen objektiven Maßstab zur Bewertung des Nutzens eines Gutes für die Beteiligten, denn nur dann können die verschiedenen Nutzen miteinander ökonomisch sinnvoll verglichen, also verrechnet werden. Diese objektive Nutzenbewertung ist der Bewertungsmaßstab, auf dessen Grundlage der gesellschaftliche 38 Idealtypisch: R. Nozick , Anarchie, Staat, Utopie, München, 1974, S. 25 ff., 111 ff. 39 Vgl. M. Wallerath 40 4
(Anm. 9) S. 214 f.
Dazu umfassend B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin, 1976, S. 127 ff.
> C Engel (Anm. 16) S. 27 ff., insbes. 31.
4:
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Nutzen einer Güterverteilung objektiv bewertet wird. Der Wettbewerb funktioniert aber stets relational und intersubjektiv, da der Nutzen der Güter jeweils aus der Sicht der einzelnen Akteure verglichen wird. Deshalb kann der Wettbewerb einen objektiven Bewertungsmaßstab nicht selbst bereitstellen, sondern muss dazu auf andere soziale Ordnungsprinzipien und deren Legitimation zurückgreifen. Der Anspruch des Wettbewerbs, ein allgemeines Ordnungsprinzip der Gesellschaft zu sein, kann deshalb nur mit einer Begründung legitimiert werden, die auf den Anspruch einer objektiv optimalen Güterverteilung verzichtet. In der Konsequenz dieses Ansatzes wird die Nutzenbewertung nicht objektiviert, sondern bleibt jedem Akteur selbst überlassen: Wettbewerb sei als Ordnungsprinzip dadurch legitimiert, dass er auf den individuellen Nutzenbewertungen der Akteure beruhe. Allerdings ist auch dieser Ansatz nicht überzeugend, denn aus der hier allein maßgeblichen Sicht des einzelnen Akteurs können andere Ordnungsmodelle gegenüber dem Wettbewerb vorzugswürdig sein. Der Grund dafür liegt darin, dass Wettbewerb aus der Perspektive des einzelnen Akteurs die Gefahr birgt, dass er gegenüber den anderen Akteuren bei der Güterverteilung schlechter abschneidet. Der konkrete Ablauf und damit das Ergebnis der Güterverteilung im Wettbewerb hängen unter anderem von den persönlichen Fähigkeiten sowie von der Ressourcenmacht der Akteure ab, und diese Faktoren sind in bestehenden sozialen Ordnungen von den Akteuren nicht ohne weiteres zu ändern, sondern gehören zu deren Erstausstattung, mit der sie am Wettbewerb teilnehmen. Markt und Wettbewerb setzen diese Unterschiede zwischen den Akteuren voraus und verlängern sie: Je geringer die Erstausstattung eines Akteurs mit Gütern und persönlichen Fähigkeiten ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er im Laufe des Wettbewerbs im Vergleich zu den anderen Akteuren weniger Güter haben wird. Markt und Wettbewerb beruhen auf diesen Unterschieden und bringen aufgrund dieser systematisch Asymmetrien in der Verteilung von Kosten, Nutzen und Lasten hervor, die auch im Laufe der Zeit vom Markt selbst nicht ausgeglichen werden. 4 2 Dieser Umstand verweist auf einen zentralen Schwachpunkt in der Legitimation einer Ordnung durch den Wettbewerb: Die Ausgangsverteilung der Ressourcen wird als gegebene Randbedingung akzeptiert, ohne deren Legitimation zu thematisieren. 43 Die Ordnung des Wettbewerbs rechtfertigt sich aus der effizienten Verteilung von knappen Gütern unter bestimmten Umständen. Zu diesen Umständen gehört auch die Erstverteilung derjenigen Ressourcen, welche die Marktdurchsetzungskraft der Beteiligten bestimmten: Güter und persönliche Fähigkeiten. Die Frage nach der Legitimation der Erstverteilung der im Wettbewerb zu verteilenden Güter wird aber bei der Rechtfertigung des Wettbewerbs als gesellschaftliches Ordnungsprinzip nicht in den Blick genommen; 4 4 Gleiches gilt für das Anknüpfen 42
F. Nullmeier/T. Pritzlaff, Gemeinsinn durch Konkurrenz, in: H. M ü n k l e r / H . Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Berlin, 2002, S. 187 (188). 43
C. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, Berlin, 1997, S. 26.
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an die für den Wettbewerb relevanten individuellen Fähigkeiten. Dieses Legitimationsdefizit ist erheblich: Da die Verteilung dieser Ressourcen den durch den Wettbewerb initiierten sozialen Wandel prägt, bleibt dieses Defizit nicht auf die Ausgangslage beschränkt, sondern betrifft auch den darauf beruhenden Wettbewerb und die dadurch geschaffene Sozialordnung. Deutlich wird dies aus der Perspektive des einzelnen Akteurs. Aus der Sicht des eigennützig handelnden Einzelnen ist ökonomische Rationalität anderen Ordnungsprinzipien nicht stets vorzuziehen, vor allem dann nicht, wenn man die eigene Position und damit Leistungsfähigkeit im Vergleich zu anderen abschätzen kann. Ein Anknüpfen an die den Wettbewerb prägenden Faktoren ist aus der eigennützigen Sicht eines Akteurs nur soweit vernünftig, als er bei der dadurch bewirkten Güterverteilung bevorzugt wird. Falls seine Ressourcenausstattung ihn nur in geringem Maße zur Durchsetzung seiner Interessen im Wettbewerb befähigt, kann es aus seiner eigennützigen Sicht durchaus vorteilhaft sein, statt des Wettbewerbs andere Ordnungsprinzipien zu bevorzugen, z. B. Sozialstaatlichkeit. Hier wird ein Gegensatz zwischen Eigennutzen und Effizienz offenbar, der darauf beruht, dass der Ordnungsanspruch des Wettbewerbsprinzips in seiner ursprünglichen Fassung darauf gründet, dass der Wettbewerb zu einer Güterverteilung führt, die der Gesamtheit der Akteure höheren Nutzen bringt, nicht aber jedem Beteiligten. Diesen Gegensatz - und das damit verbundene Legitimationsdefizit einer Wettbewerbsordnung aus der Sicht einzelner Akteure - zu überwinden ist Ausgangspunkt der Ansätze der Wohlfahrtsökonomik. Dabei soll die ökonomische, d. h. eigennützige Vorteilhaftigkeit aus der Sicht des einzelnen Akteurs dadurch erreicht werden, dass die Möglichkeit von Kompensationen in die Überlegungen einbezogen wird. Die durch den Wettbewerb bewirkte Güterverteilung soll aus der Sicht des benachteiligten Akteurs dadurch vorzugswürdig werden, dass seine Nachteile aus den Gewinnen der im Wettbewerb bessergestellten Akteure kompensiert werden können. 4 5 Damit könne erreicht werden, dass im Ergebnis nicht allein die Gesamtheit der Akteure ökonomisch besser gestellt werde, sondern zugleich auch jeder einzelne Akteur zumindest nicht schlechter gestellt werde. Allerdings wird dadurch das Problem der Legitimation des Anknüpfens an eine bestimmte Ausstattung mit Gütern und Fähigkeiten nicht gelöst. Denn auch die Verteilung durch eine Ordnung von Wettbewerb mit Kompensation beruht auf der jeweiligen Ausgangsverteilung der Ressourcen, ohne aber auf die Frage nach deren Legitimation eine Antwort zu geben 4 6 Zudem bringt eine Legitimation durch die Einbeziehung der Möglichkeit von Kompensationen weitere Probleme mit sich: Die Frage nach der Statthaftigkeit interpersonaler Nutzenvergleiche taucht wieder 44 P. Ulrich, Republikanischer Liberalismus und Corporate Citizenship, in: M ü n k l e r / Bluhm (Anm. 42) S. 279 f. 4
5 N. Kaldor, Economic Journal 49 (1939), S. 549 ff.; J. Hicks, Economic Journal 49 (1939), S. 696 ff. 4
6 C. Kirchner (Anm. 43) S. 26.
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auf, und die Begründung einer Sozialordnung aus einer Verbindung von Kompensationsmöglichkeiten mit dem idealen Modell vollständiger Märkte führt zu einer Lösung von den Präferenzen der einzelnen Akteure und damit vom ökonomischen Legitimationskriterium der vernünftigen, weil eigennützigen Zustimmung zu einer Ordnung 4 7 Diesen Problemen der Wohlfahrtsökonomik versucht die Konstitutionelle Ökonomik zu entgehen, indem sie zur Rechtfertigung der Sozialordnung nicht auf eine Effizienz, sondern auf die mögliche Zustimmung der einzelnen Akteure abstellt. Die eine Ordnung ausmachenden Institutionen seien durch allgemeine Zustimmungsfähigkeit legitimiert. Das Abstellen auf allgemeine Zustimmungsfähigkeit führe dazu, dass die Akteure bei der Bildung des - hypothetischen - Konsenses ihren je eigenen Nutzen in Rechnung stellen könnten. Damit würden die Präferenzen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und damit zugleich deren komparative Nutzenerwägungen eingefangen. 48 Die entsprechende Sozialordnung sei dadurch gerechtfertigt, dass sie jedem Akteur Kooperationsvorteile bringe und deshalb für alle zustimmungsfähig sei. 4 9 Insbesondere könnten auch nichtmarktwirtschaftliche Verteilungsentscheidungen aus der Sicht der Einzelnen legitimiert sein. Durch entsprechende Verteilungen sollten die im Wettbewerb aufgrund ihrer Ausstattung mit Gütern und Fähigkeiten benachteiligten Akteure dazu bewegt werden, die Wettbewerbsordnung gleichwohl zu akzeptieren. Eine Marktwirtschaft brauche die Akzeptanz aller beteiligten Akteure, da andernfalls die Verwirklichung der Sozialordnung gestört werden könne. 5 0 Deshalb sei die Verteilung der erwirtschafteten Ergebnisse auch für diejenigen von Nutzen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und Güter im Wettbewerb gut positioniert sind. Der für die ökonomische Legitimation einer Ordnung zentrale Zusammenhang zwischen der Sozialordnung und dem Eigennutzen der Akteure ist gegeben. Dies trifft allerdings auch auf die Ausgangsbedingungen zu, auf denen die Zustimmungsfähigkeit der Sozialordnung beruht: Deren Legitimation wird schlicht vorausgesetzt. Da von den Ausgangsbedingungen der Inhalt der gedachten Zustimmung abhängt, beruht die Konstitutionelle Ökonomik darauf, dass die Ausgangsbedingungen der gedachten Zustimmung legitimiert sind. Die Konstitutionelle Ökonomik gleicht insoweit klassischen Sozialvertragstheorien, nach denen die Legitimation einer sozialen Ordnung durch den Gesellschaftsvertrag darauf beruht, dass die Ausgangsbedingungen des gedachten Vertrages legitimiert sind, weil von diesen Bedingungen Inhalt und Geltung des Vertrages abhängen. 51 Die Legitimation dieser Ausgangsbedingungen, zu denen die Ressourcenausstattung der Beteilig47 c. Kirchner (Anm. 43) S. 26 f.; St. Tontrup (Anm. 33) S. 93 ff. 48 C. Kirchner (Anm. 43) S. 28. 49 St. Tontrup (Anm. 33) S. 101. 50 K. Homann/I. Pies, Sozialpolitik für den Markt: Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik, in: I. P i e s / M . Leschke (Hrsg.), James Buchanans Konstitutionelle Ökonomik, Tübingen, 1996, S. 203 (221 ff.).
si St. Tontrup (Anm. 33) S. 108 ff., insbes. S. 115 f.
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ten gehört, wird aber von der Konstitutionellen Ökonomik nicht geleistet, sondern als gegeben genommen und damit unhinterfragt vorausgesetzt. 52 Demgegenüber hilft auch eine Strategie der Verallgemeinerung nicht, denn in realen Gesellschaften sind die Verteilungswirkungen eines Ordnungsprinzips relativ gut abzusehen. Die Konstitutionelle Ökonomik bleibt die zu ihrer Legitimation notwendige Antwort auf die Rechtfertigung ihrer Voraussetzungen, der Ausgangsverteilung der Ressourcen, schuldig. Hier zeigt sich, dass das Wettbewerbsprinzip als Ausdruck der ökonomischen Vernunft legitimatorische Unterscheidungskraft erst durch einen festen Bezugspunkt erlangt, von dem aus es seine Rationalität entfalten kann 5 3 . Staatstheoretisch gewendet fehlt dem Wettbewerb eine Begründung des Gemeinwohls als Ausdruck für ein Staatsziel. Die Ökonomik vermag zwar die Realisierung von Staatszielen zu steuern; die Bestimmung der Ziele des Gemeinwesens und damit dessen grundsätzliche Legitimation kann sie aber nicht leisten.
f) Primat von Hoheit gegenüber Wettbewerb Das grundsätzliche legitimatorische Defizit des Wettbewerbsprinzips führt zur Legitimation des Hoheitsprinzips. Die Mitglieder der sozialen Ordnung können und müssen sich in modernen Gesellschaften in weiten Teilen darüber verständigen, nach welchen Ordnungsprinzipien sie ihr Zusammenleben regeln möchten. Die Frage, ob die soziale Ordnung durch Wettbewerb oder durch andere Ordnungsprinzipien geprägt sein soll, setzt die Möglichkeit zu einer Wahl zwischen den verschiedenen Ordnungen voraus. Dem entspricht ein Begriff des Gemeinwohls, der nicht von vorneherein auf eine bestimmte inhaltliche Ordnung festgelegt ist, sondern offen ist. Hier greift nun die Legitimation des Hoheitsprinzips, denn das Hoheitsprinzip ist im modernen Verfassungsstaat Bedingung der Realisierung des weitgehend offenen Gemeinwohls. Dem Staat wird als Ausdruck seiner Souveränität die Hoheit zugeordnet, um Einschränkungen der individuellen Freiheit der Bürger regeln und durchsetzen zu können. Das Hoheitsprinzip steht dabei nicht für ein bestimmtes inhaltliches Regelungsziel, sondern ist Mittel dazu, dass der Staat die ihm zugeordneten Aufgaben regeln, diese Regelungen durchsetzen und damit das jeweilige Gemeinwohl hervorbringen kann. Die mit dem Hoheitsprinzip gekennzeichnete Überordnung des Staates über andere Gewalten ist notwendige Voraussetzung, um die Fähigkeit zur Findung und zur Durchsetzung des jeweiligen Gemeinwohls zu erhalten. Das Hoheitsprinzip ist deshalb Ausdruck der Souveränität in ihrer Eigenschaft als Bedingung der Gemeinwohlfähigkeit des Staates. Damit ist das grundsätzliche Verhältnis zwischen Hoheit und Wettbewerb als allgemeine soziale Ordnungsprinzipien geklärt. Da der Wettbewerb als Ausdruck ökonomischer Vernunft zu seiner Legitimation der Bestimmung eines Gemein52 G. Roellecke, Rechtstheorie 31 (2000), S. 1 (4). 53 St. Tontrup (Anm. 33) S. 115.
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wohls bedarf, hat dieses im Konfliktfall Vorrang vor dem Wettbewerb. Dieser legitimatorische Primat des Gemeinwohls prägt das Verhältnis zwischen Hoheit und Wettbewerb: Die Frage stellen zu können, ob die Ordnung eines Gemeinwesens durch das Wettbewerbsprinzip oder durch andere Prinzipien geprägt werden soll, setzt die Hoheit des Gemeinwesens als Bedingung der Möglichkeit politischer Entscheidung und Steuerung voraus. Hoheit hat Vorrang gegenüber Wettbewerb.
III. Nutzen einer ökonomischen Betrachtung des Staates Trotz der gezeigten Grenzen ist eine an der Idee des Wettbewerbs orientierte ökonomische Betrachtung des Staates sinnvoll: Sie trägt dazu bei, die Rationalität des Staates präziser zu ermitteln, indem sie offen legt, wieweit die staatliche Ordnung mit ökonomischer Vernunft begründet werden kann. Dem entsprechend kann es erkenntnisbringend sein, das Wettbewerbsprinzip als Ausdruck ökonomischer Rationalität auf die staatliche Ordnung anzuwenden. Der Ertrag entsprechender Betrachtungen fällt dabei aber unterschiedlich aus, je nachdem, wie das staatstheoretische Verhältnis zwischen Wettbewerb und Hoheit den jeweils betrachteten Bereich prägt, und wie diese Prägung vom Verfassungsrecht reflektiert wird:
1. Wettbewerb und das Verhältnis zwischen Bürger und Staat Im Verhältnis zwischen Bürger und Staat wird die ökonomische Vernunft des Wettbewerbs in der dialektischen Struktur von staatlicher Hoheit und grundrechtlicher Freiheit eingefangen. Aus der Rechtfertigungslast für staatliche Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Freiheit der Bürger folgt für die Hervorbringung des Gemeinwohls der Grundsatz der liberalen Subsidiarität staatlichen Handelns: Der Staat sollte jenseits seines ausschließlichen Aufgabenbereichs nur soweit handeln, als die Bürger in ihrer Freiheit den durch das Gemeinwohl vorgesetzten Zweck nicht erreichen oder der Staat mit seinen Mitteln das betreffende Interesse in besserer Weise zu fördern vermag. Der durch den Grundsatz der Subsidiarität 54 gestützte Vorrang grundrechtlich geschützter privater Freiheit entspricht ökonomischer Vernunft, da der Staat seine knappen sachlichen und persönlichen Mittel, die ihm allein als Treuhänder der Allgemeinheit zustehen, nur für solche Aufgaben einsetzen soll, denen die private Initiative nicht gerecht wird. Von diesem Bereich ist der grundsätzlich dem Staat vorbehaltene Bereich zu unterscheiden. 55 Bei diesen zeigt sich der Primat der Hoheit des Staates gegenüber dem Wettbewerb der freien Bürger. Dem Staat sind solche Aufgaben zugeordnet, 54
Dazu J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin, 1968.
55
Dazu sowie zum folgenden J. Isensee (Anm. 8) Rn. 150 f.
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deren Erfüllung wesentlich und notwendig durch den Einsatz des dem Staat vorbehaltenen Mittels, des physischen Zwangs, geprägt wird. Dies sind insbesondere Polizei und Militär sowie Justiz und Zwangsvollstreckung. Wegen des besonderen Legitimationsbedürfnisses, das nur der Staat erfüllen kann, liegen diese Aufgaben grundsätzlich außerhalb der grundrechtlichen Schutzbereiche. Zwar können in diesen Aufgabenbereichen Private mit einzelnen Funktionen beliehen werden; auch kann es in diesen Aufgabenbereichen Tätigkeiten geben, die nicht auf eine staatliche Beleihung zurückgehen müssen. Eine generelle Entäußerung dieser spezifisch hoheitlichen Aufgaben an die Bürger, also ihre Privatisierung, wäre jedoch unzulässig.
2. Wettbewerb und die Organisation von Hoheitsgewalt Deutlich geringer fallen die Erträge des Unterfangens aus, die Organisation von Hoheitsträgern sowie deren Verhältnis zueinander mittels der ökonomischen Vernunft des Wettbewerbs zu bestimmen. Die Logik des Wettbewerbs trifft hier auf eine andere Ausgangslage. So wie die Bürger im modernen Staat durch die Grundrechte zunächst in Freiheit gesetzt werden, ist der Staat kraft seiner Souveränität bei der Bestimmung seiner Ziele, der Konkretisierung des offenen Gemeinwohls, zwar zunächst frei. Allerdings ist er wegen der damit verbundenen Gefahren für die Freiheit der Bürger rechtsstaatlich sowie demokratisch gebunden und hat diese Bindungen bei der Bestimmung und Verwirklichung des Gemeinwohls zu beachten. Eine Ökonomisierung der staatlichen Hoheitsgewalt reibt sich deshalb an der spezifischen Funktionslogik von Hoheitsträgern, die rechtlich in den Prinzipien der Gewaltenteilung, der Verhältnismäßigkeit, der Bestimmtheit sowie der demokratischen Legitimation erfasst wird. Die damit verbundenen Probleme werden bei einer näheren Betrachtung deutlich. Zum einen erfordert eine ökonomische Steuerung die Orientierung an einem bestimmten eigenen Nutzen der Akteure, der als Anreiz zur Erzielung von Erfolg bei der Verteilung der knappen Güter wirkt. Im Bereich des Staates entsteht dabei das Problem, dass der Nutzen von Hoheitsgewalt nicht in sich besteht, sondern in der Verwirklichung des jeweiligen Gemeinwohls. Aber auch wenn der eigene Nutzen eines Hoheitsträgers an das jeweilige Gemeinwohl gekoppelt wird und damit die Orientierung am Gemeinwohl gewahrt ist, sind damit die Schwierigkeiten noch nicht überwunden. Denn zum anderen setzt Wettbewerb eine Freiheit der Wahl der Akteure zwischen verschiedenen Möglichkeiten voraus. Eine entsprechende Freiheit der staatlichen Hoheitsmacht kollidiert aber mit den spezifischen Anforderungen an die staatliche Kompetenzordnung: Deren Ausgestaltung muss möglichst strikt sein, um den rechtsstaatlichen Anforderungen der Bestimmtheit und der Gesetzesbindung des Staatshandelns zu entsprechen sowie politische Steuerung und Verantwortlichkeit zu ermöglichen und damit die demokratische Legitimation staatlichen Handelns zu sichern.
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Soweit ökonomisches Denken sich innerhalb der entsprechenden Grenzen des Verfassungsrechts bewegt, ist es auf das Ziel ausgerichtet, den Grad der Verwirklichung des jeweiligen normativen Programms zu steigern. 56 Effizienz bewirkt dabei Optimierung der rechtsstaatlichen Aufgabenwahrnehmung. Entsprechende Überlegungen fließen in das Übermaßverbot ein und stehen hinter dem Gebot einer funktions- und organadäquaten Kompetenzordnung, demzufolge staatliche Entscheidungen möglichst von Organen getroffen werden sollen, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. 57 Allerdings ist ein Wettbewerb bei dieser Betrachtungsweise von vorneherein dadurch begrenzt, dass eine Relativierung der rechtsstaatlichen Bindungen der Hoheitsgewalt ausgeschlossen ist. 5 8 Für die ökonomische Kritik des Staates bleibt deshalb nur ein begrenzter, eher schmaler Anwendungsbereich.
3. Wettbewerb und Staatlichkeit Das grundsätzliche staatskritische Potential ökonomischen Denkens ist mit der weitergehenden Frage verbunden, ob die rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen des modernen Staates vernünftig im Sinne der eigennützigen Perspektive der Bürger sind. Hier ist zu berücksichtigen, dass die Strukturen des modernen Staates sich im Laufe der Zeit im Wettbewerb der verschiedenen Formen der Organisation von Herrschaft herausgebildet haben. Eine adäquate institutionenökonomische Betrachtung des Staates muss bei der Frage nach der Effizienz des Staates als Herrschaftsorganisation die in die Strukturen des modernen Staates eingegangene, mit diesen verbundene Vernunft in ihre Analyse einstellen. Andernfalls ist die Betrachtung verkürzt und unzutreffend, da sie die Besonderheiten bei der Organisation von Herrschaft nicht erfasst und ihnen nicht gerecht werden kann. Bei der entsprechenden Betrachtung erweist sich das Hoheitsprinzip als gut begründet: Es beruht auf der Souveränität des Staates als einem Konzept der Organisation von Herrschaft im Staat als Macht-, Legitimations- und Friedenseinheit nach innen und außen, das sich seit der frühen Neuzeit gegen konkurrierende Konzepte durchgesetzt hat. Wettbewerb, der Änderungen in der Organisation und Legitimation staatlicher Herrschaft bewirkt, ist in jüngerer Zeit vor allem in Bereichen zu beobachten, in denen das Hoheitsprinzip entweder nicht berührt wird, oder in denen es weniger prägend wirkt. Beispiel für einen Wettbewerb, der das Prinzip der Hoheitlichkeit nicht berührt, ist der Systemwettbewerb zwischen den Staaten des Westens und den Staaten des Ostblocks. Die beteiligten Staaten verfügten jeweils über Hoheit-
56 A. Voßkuhle, VerwArch 92 (2001), S. 184 (197 ff.). 57 BVerfGE 68, 1 (86). 58 A. Voßkuhle (Anm. 56) S. 198.
59
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lichkeit; die Konkurrenz betraf die konkreten politischen Legitimationsprinzipien: Liberale Demokratie gegen sozialistisch-kommunistische Planwirtschaft. Der Sozialismus hätte die politische Konkurrenz durch die Alternative der liberalen Demokratie nur als abgeschottetes System aushalten, 59 genauer: den Wettbewerb vermeiden können. Diese Bedingung war aber unter den ökonomischen Austauschzwängen moderner, entwickelter Wirtschaften und der Allgegenwärtigkeit von Informationen nicht mehr gegeben. Die Legitimität des sozialistischen Systems war in Folge des unaufhaltsam wachsenden Systemvergleichswissens seiner Bürger nicht mehr zu behaupten. Beispiele für Wettbewerb, der vom Prinzip der Hoheitlichkeit nur wenig geprägt ist, liefert der als Globalisierung bezeichnete Vorgang der zunehmenden internationalen Interdependenz. Der dadurch entfachte Wettbewerb zwischen den Staaten ist von der Konkurrenz um Güter, Kapital und Personen abhängig und damit von deren Mobilität. Diese ist für Güter und Kapital zunehmend gegeben, da die Staaten versuchen, die Vorteile des internationalen Freihandels zu nutzen. Mobilität ist aber nicht auf Güter und Gelder beschränkt, sondern hat Bedeutung auch für das personale Substrat von Staaten: die Bürger. Technologische Fortschritte und politische Prozesse haben in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu einem Abbau von Distanzkosten geführt, dem eine zunehmende Mobilität entspricht. Zwar darf dabei als Wettbewerbsfaktor nicht nur der materielle Wohlstand betrachtet werden; auch die weiteren, sozio-ökonomischen Faktoren wie Heimat, Herkunft und Tradition sind dabei von Bedeutung. Aber auch diese weiteren, sozialen Faktoren verändern sich; insbesondere in den westlichen Staaten verringert eine fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft sowie eine internationale Angleichung der Lebensstile und Werte die sozialen Kosten des Wechsels. Die sozio-ökonomischen Kosten der Abwanderung sinken und können es vor allem für wirtschaftlich, sozial und kulturell leistungsfähige Bürger vernünftig erscheinen lassen, in andere Staat abzuwandern. In Zeiten von zunehmender Freizügigkeit von Personen und Gütern sowie zunehmenden Freihandels rückt deshalb die Frage nach dem Zusammenhalt von Gesellschaften in den Vordergrund. Deshalb erhöht der Vorgang der Globalisierung den Druck auf die Staaten, für die Bürger möglichst attraktiv zu sein.
4. Europäische Integration: Bestätigung des Hoheitsprinzips Der derart bedingte Verlust an Steuerungsfähigkeit auf der Ebene der einzelnen Staaten kann teilweise durch internationale Zusammenarbeit ausgeglichen werden. Die engste Form internationaler Zusammenarbeit, die Europäische Gemeinschaft, zeichnet in Bezug auf die Hoheitlichkeit eine Besonderheit aus: Sie hat nicht nur Befugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten, sondern auch in den Mitgliedstaaten, indem sie sich mit Rechtsakten direkt an die Bürger wenden kann. Die Europäische 59 H. Lübbe, Gemeinwohl (Anm. 42) S. 293 (294).
als Aufgabe
der Ordnungspolitik,
in:
Münkler/Bluhm
60
Bernd Grzeszick
Gemeinschaft übt gegenüber den Bürgern Hoheitsrechte aus. Dies wirft im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten die Frage nach der Souveränität auf. 6 0 Damit scheint zugleich das Hoheitsprinzip erneut im Wettbewerb zu stehen, diesmal mit der Europäischen Gemeinschaft. Eine genaue Betrachtung zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist. Die entsprechenden Hoheitsrechte sind der Gemeinschaft von den Mitgliedstaaten übertragen worden. In diesen Bereichen handelt nun statt der Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit Hoheitsmacht. In dem Maße, in dem sie dies tut, wird zwar die Frage nach der demokratischen Legitimation und der rechtsstaatlichen Einbindung der Hoheitsgewalt auf europäischer Ebene relevant: Die zunehmende Verlagerung hoheitlicher Befugnisse gegenüber den Bürgern von den nationalen Staaten auf die Gemeinschaft wird vom Aufbau entsprechender verfassungsrechtlicher Strukturen begleitet, die als Teil einer Europäischen Verfassung im funktionalen Sinne, also als rationale Selbstbegrenzung organisierter Herrschaftsmacht verstanden werden können. Die Idee des Hoheitsprinzips, dass die organisierte Herrschaftsgewalt zur Verwirklichung des Gemeinwohls einseitig und verbindlich handeln können muss, wird durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft und deren hoheitliches Handeln aber nicht in Frage gestellt, sondern nun von der Gemeinschaft in Anspruch genommen und damit bestätigt: 61 Das Hoheitsprinzip setzt sich auf der europäischen Ebene gegen konkurrierende Konzepte der Organisation von Herrschaftsgewalt durch. Hoheit ist damit auch auf europäischer Ebene im Wettbewerb mit anderen Prinzipien der Organisation von Herrschaftsgewalt erfolgreich.
IV. Resümee: Bestätigung tradierter Staatstheorie Nach alledem fällt der Ertrag ökonomischer Überlegungen für die Staatstheorie recht gering aus. Trotz der aufgezeigten Grenzen ist eine ökonomische, an der Idee des Wettbewerbs orientierte Betrachtung des Staates aber sinnvoll: Sie kann dazu beitragen, die Rationalität des Staates präziser zu ermitteln. Eine ökonomische Betrachtung des Staates verdeutlicht, wieweit die staatliche Ordnung mit ökonomischer Vernunft begründet werden kann, und wieweit andere Begründungen erfolgen - oder zumindest erfolgen müssten. Die Betrachtung des Staates aus der ökonomischen Perspektive des Wettbewerbs kann zum einen dazu verwendet werden, die ökonomischen Folgen staatlicher Maßnahmen deutlich zu machen. Zum anderen kann die ökonomische Betrachtung des Staates als Kontrastfolie verwendet werden, um herauszuarbeiten, wo die staatliche Ordnung auf andere als ökonomische, also aus der Sicht der Bürger eigennützige Rationalitäten zurückgreift. 60 u. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, Tübingen, 1998, S. 94, 98 f., 122 ff., 134, 139 ff. 61 So zur Staatlichkeit als Kategorie J. Isensee (Anm. 5) S. 276.
Der Staat in den Grenzen seiner Wirksamkeit
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Der ökonomischen Betrachtung des Staates und seines Verfassungsrechts kommt damit das Verdienst zu, den Blick auf die Vorgänge jenseits des Rechts zu lenken. Zwar kommt dem Recht gegenüber außerrechtlichen Vorgängen ein Selbststand zu. Änderungen im außerrechtlichen Bereich wirken aber auf das Recht zurück. Dies gilt auch für den Staat, dessen rechtliche Ordnung einer nicht-rechtlichen Rationalitätskontrolle unterliegt. Im Ergebnis wird damit die Einsicht bestätigt, die Wilhelm von Humboldt bereits im Titel seiner Schrift aus dem Jahr 1792 angedeutet hat: dass der Staat legitime Herrschaft nur in den Grenzen seiner Wirksamkeit beanspruchen kann. 6 2
62 W. y. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: ders., Werke, hrsgg. v. A. F l i t n e r / K . Giel, Band I, 3. Aufl., Darmstadt, 1980, S. 56 ff.
Staat, Recht und Verfassung im Prozeß der Integration - Smends Integrationslehre in ihrer Ausgangsgestalt und in der Rezeption unter der Geltung des Grundgesetzes Von Christian Hillgruber,
Bonn
I. Einleitung Smends Integrationslehre übt nach wie vor eine beachtliche Faszinationskraft aus - auch noch 30 Jahre nach seinem Tod. 1 Dies belegen zahlreiche, ihr nicht nur aus diesem Anlaß gewidmete Abhandlungen. 2 Der Jubilar, der mit diesem Beitrag geehrt werden soll, hat der „Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie" seine Erlanger Doktorarbeit gewidmet. Die Dissertation gilt mit Recht als eine der „ertragreichsten Erarbeitungen der Integrationslehre". 3 Die nachfolgenden eigenen Überlegungen, die um den Dreiklang Staat Recht - Verfassung kreisen, versuchen eine Rekonstruktion der Smendschen Integrationslehre und ihrer Verwandlung in der Rezeption nach 1945. Sie soll Aufschluß über die juristische Fruchtbarkeit von Smends origineller staatstheoretischer Grundlegung geben, aus der dieser selbst weitreichende verfassungstheoretische und sogar positivrechtliche Folgerungen gezogen hat, die unter der Geltung des Grundgesetzes in modifizierter Form aufgegriffen worden sind.
II. Die Integrationslehre - Staatstheorie ohne Recht Wenn man eine bestimmte Staatstheorie begreifen will, so erweist es sich im allgemeinen als hilfreich, sich zunächst darüber Klarheit zu verschaffen, gegen welches bisher vorherrschende oder gerade neu propagierte Staatsverständnis sie sich wendet: A n ihrem Gegenbild könnt Ihr sie erkennen!
ι Würdigung des Werks durch P. Badura, Der Staat 16 (1977), 305 ff. 2
Siehe nur u. a. R. Lhotta (Hrsg.), Die Integration des modernen Staates, Baden-Baden 2005; W. Hennis, Integration durch Verfassung? - Rudolf Smend und die Zugänge zum Verfassungsproblem nach 50 Jahren unter dem Grundgesetz, JZ 1999, 485 ff.; C. Möllers, Staat als Argument, München 2000, S. 100 - 115; C. Bickenbach, JuS 2005, 588 ff. 3 S. Korioth,
Integration und Bundesstaat, Berlin 1990, S. 101 Fn. 57.
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Das gilt auch und gerade für Smends Integrationslehre. Smend sieht Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts die deutsche Staatstheorie in eine Sackgasse geraten, aus der sie nur ein theoretischer Befreiungsschlag herausführen kann. Als Sackgasse betrachtet Smend den von ihm so bezeichneten „reinen Formalismus" Kelsens und seiner Schule. Er spricht von „einer fortschreitenden Entleerung an sachlichem Ergebnis bis zu dem jetzt ganz bewußt erreichten Nullpunkt von Kelsens Allgemeiner Staatslehre von 1925". 4 Als „Nullpunkt" mußte Smend Kelsens rein rechtliche Staatsanschauung erscheinen, weil sie den Staat unter Überwindung der Jellinekschen Zwei-Seiten-Theorie, die zwischen dem soziologisch zu betrachtenden Staat als politisch-realem Phänomen der Macht und dem juristisch zu analysierenden Staat als Rechtspersönlichkeit differenzierte, mit der für ihn geltenden Rechtsordnung identifizierte. 5 Die bewußte Ausblendung der sozialen wie geistigen Wirklichkeit, der politischen Lage der Nation, mußte die Staatstheorie aber nach Ansicht Smends ihrer Fähigkeit berauben, eine Antwort auf das drängendste Strukturproblem, d. h. das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und (staatlicher) Gemeinschaft zu finden. 6 Die „radikale Denaturierung des Staats von aller Eigennatur, allem politischen Charakter" schließe auch „jede Einsicht in den spezifischen Charakter seiner einzelnen Momente aus und gleichsam sein Verständnis als Wirklichkeit und eine sachgemäße Auslegung seiner verfassungsmäßigen Normierung". 7 Wege aus der Sackgasse könne nur eine „materiale Staatstheorie" aufzeigen 8 , die „Irrwege räumlich-statischen Denkens", das auch Jellineks Drei-Elementen-Lehre vom Staat zugrunde liege 9 , gelte es dagegen zu verlassen. „Gebot der Stunde für Staatstheorie und Staatsrechtslehre" sei „die Wendung zur geisteswissenschaftlichen Methode", in deren Anwendung die Einzelnen und die Gemeinschaft nicht isoliert, an und für sich, sondern „nur als Momente einer dialektischen Zusammenordnung" aufgefaßt und „ w i r k l i c h " verstanden werden könnten. 1 0 Smend geht es also um nichts weniger als die Begründung einer neuen „Soziologie" des Staates, die diesem als einem Phänomen „der geistigen Welt", die „wirklich", nicht bloß ideeller Natur ist, gerecht werden soll und daher „der Struktur der geistig-gesellschaftlichen Wirklichkeit" 1 1 angemessen sein muss. Der Staat ist für Smend in erster Linie Gemeinschaft im Geiste, „ein Gesamterlebnis", das „Einheitsgefüge der fließenden Sinnerlebnisse der Einzelnen". 1 2 „Dies Einheitsgefüge selbst aber, auch wenn es sich noch so sehr in Symbolen, Formen und Satzungen 4
R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München und Leipzig 1928, S. 4.
5 Korioth (Anm. 3), S. 99 f. 6 Smend (Anm. 4), S. 5 f. 7 Smend (Anm. 4), S. 106 f. Polemische Replik durch Hans Kelsen, Der Staat als Integration, Wien 1930.
« Smend (Anm. 4), S. 5. 9 Smend (Anm. 4), S. 8 f. 10 Smend (Anm. 4), S. 7. 11 Smend (Anm. 4), S. 11. '2 Ebd. sowie S. 13.
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verfestigt, ist doch stets i m Flusse, denn es ist nur wirklich, sofern es stets von neuem aktualisiert oder vielmehr neu hervorgebracht w i r d " . 1 3 Die Wirklichkeit des Staates ist also eine geistige, nämlich wechselseitige geistige „Auswirkung" der in der staatlichen Gemeinschaft miteinander Verbundenen, und deshalb entzieht sich der dauernde, wesensgestaltende staatliche Lebenszusammenhang als Verstehenszusammenhang auch genauer Verortung, läßt sich nirgendwo „festmachen". Der Staat ist zwar auch „realer Willensverband" 1 4 , bedeutet aber vor allem die Aufgabe „geistiger E i n u n g " 1 5 : Die Wirklichkeit des Staates „ist nicht eine natürliche Tatsache, die hinzunehmen ist, sondern eine Kulturerrungenschaft, die wie alle Realitäten des geistigen Lebens selbst fließendes Leben, also steter Erneuerung und Weiterführung bedürftig, eben deshalb aber auch stets in Frage gestellt i s t " . 1 6 Damit hat Smend bereits den Grund für seine Integrationslehre gelegt: Als geistiges Kollektivgebilde existiert der Staat nicht statisch und substanzhaft, sondern nur als Sinneinheit in geistiger „Bewältigung und Weiterbildung", die ein ständiger dynamischer Prozeß ist. „So ist insbesondere der Staat nicht ein ruhendes Ganzes, das einzelne Lebensäußerungen, Gesetze, diplomatische Akte, Urteile, Verwaltungshandlungen von sich ausgehen läßt. Sondern er ist überhaupt nur vorhanden in diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhangs sind, und in den noch wichtigeren Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstande haben. Er lebt und ist nur in diesem Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens. [ . . . J Es ist dieser Kern Vorgang staatlichen Lebens [ . . . J, für den ich schon an anderer Stelle die Bezeichnung als Integration vorgeschlagen habe". 1 7 In diesem Verständnis des Staates als integrativem Lebensvorgang erblickt Smend den „Angelpunkt", von dem die Staats- und Staatsrechtslehre auszugehen haben. 18 „Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert, in und aus den Einzelnen aufbaut - dieser dauernde Vorgang ist sein Wesen als geistig-soziale Wirklichk e i t " 1 9 . Der Begriff der Integration bedeutet daher bei Smend, wie Bartlsperger treffend formuliert hat, „die dauernde dialektische Seinswerdung der Gemeinschaft in und aus den Individuen". 2 0 Vom Recht ist bis hierhin kein Rede gewesen, und das ist kein Zufall. Die Eigenart der Smendschen Integrationslehre, die ja, wie gesagt, als Gegenentwurf zur rein rechtlichen Staatslehre Kelsens entwickelt worden ist, besteht gerade darin, Staat
13 Smend (Anm. 4), S. 13. '4 Smend (Anm. 4), S. 8 ff. is Smend (Anm. 4), S. 16. 16 Smend (Anm. 4), S. 16 f. 17 Smend (Anm. 4), S. 18. ι» Smend (Anm. 4), S. 19. 19 Smend (Anm. 4), S. 20. 20
Richard Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, Diss. Erlangen-Nürnberg 1964, S. 16. 5 FS Bartlsperger
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und Recht (wieder) voneinander abzukoppeln. „Die Staatslehre wird zunächst in der Integrationslehre von der normativen Staatsrechtslehre in dem Sinne emanzipiert, daß die ,Wirklichkeit 4 , das ,Leben' des Staates ganz unabhängig beschrieben werden müsse; der Staat existiere unabhängig von der normativen Ordnung als eine Integrationsordnung. Erst danach werden beide Sachbereiche miteinander verklammert. Diese Form der dualistischen Auffassung von Staat und Recht schließt [ . . . ] für die Staatstheorie [ . . . ] den Rechtsbegriff aus 4 '. 21 Gerade dadurch soll die Staatstheorie „aus der formalistischen Isolation der reinen Rechtsbegriffe herausgeführt und den Kräften des geistigen und politischen Lebens verbunden werden".22 Das Recht hat in der Integrationslehre vom Staat nur insofern einen Platz, als es selbst integrierend wirkt, Integrationsfaktor ist. 2 3 Diesem an sich naheliegenden Aspekt widmet Smend allerdings nur periphere Aufmerksamkeit; die einheitsstiftende, integrierende Kraft des Rechts wird von Smend ganz offensichtlich unterschätzt. Smend, der drei Integrationstypen, die persönliche, die funktionelle und die sachliche unterscheidet, 24 benennt lediglich „als zweite Form integrierender Funktionen" abstrakt die „Herrschaft in allen ihren Auswirkungen" und versteht darunter „Regierung und Verwaltung, Rechtsbildung und Rechtsprechung". Herrschaft bedeute „neben der dadurch bewirkten Wertgemeinschaft vor allem auch die Erlebnisgemeinschaft dieser formalen Gemeinschaftsfunktionen". 25 A u f Rechtswerte und -inhalte kommt es für diese Integrationsfunktion des Rechts als Bestandteil der staatlichen Gestaltungsmacht jedoch nicht an: „Die Integrationstheorie liefert eine Staatstheorie, die in erster Linie wenigstens von der Wesensbestimmung und Legitimierung des Staats durch andere Werte, insbesondere durch den Rechtswert, absehen und für alle Kultursysteme mit beliebigen ,Grundvariablen' oder ,Primatfaktoren' vermöge der Elastizität des Systems der Integrationsfaktoren, insbesondere der sachlichen, Geltung beanspruchen k a n n " . 2 6 Auch als Element sachlicher Integration fällt das Recht bei Smend zwar nicht gänzlich aus, aber steht doch hinter anderen Formen der „Repräsentation eines Wertgehalts" in seiner Integrationskraft deutlich zurück. So betont Smend, daß ein Sachgehalt in symbolisierter Form eine gesteigerte, höhere Integrationskraft aufweise, was auch darin begründet liege, „daß er in dieser Gestalt elastischer ist, als in der der extensiven, rationalen gesetzlichen Formulierung. Als formulierter, als Satzung niedergeschlagener Gehalt ist er heteronom und starr und bringt ebenso sehr die Spannung zwischen Einzelnem und Gemeinschaft zum Bewußtsein, wie die Einbezogenheit in das Gan21 Zutreffend Korioth (Anm. 3), S. 97. 22 Korioth (Anm. 3), S. 111. 23
Siehe dazu Bartlsperger
(Anm. 20), S. 126 ff.
24 Smend (Anm. 4), S. 25 ff., 32 ff., 45 ff. 25 Smend (Anm. 4), S. 42 f. 26 Smend (Anm. 4), S. 74.
Staat, Recht und Verfassung i m Prozeß der Integration
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z e " . 2 7 Das Recht ist zwar zunächst (Zwischen-)Ergebnis des nie abgeschlossenen staatlichen Integrationsprozesses, wird aber sodann durch diesen überholt, und stellt sich als historisches Relikt und „Fremdkörper" dem fortwährenden Prozeß politischer Einheitsbildung in den Weg. Die „Faktoren des Rechtslebens", Rechtsetzung und Rechtsprechung sind zwar „ i n staatlicher Hand geordnet", für Smend „aber doch Momente eines dem Staat gegenüber selbständigen, anderen geistigen Systems". 2 8 Smend versteht Staat und Recht als „zwei zwar untrennbar verbundene, aber doch je in sich geschlossene, der Verwirklichung je einer besonderen Wertidee dienende Provinzen des geistigen Lebens". Die Wirklichkeit des Staates besteht dabei „ i n seinem Leben als Integration und ordnende und gestaltende Machtentfaltung, die Wirklichkeit des Rechts andererseits in seiner Positivierung, Sicherung, Anwendung durch Gesetzgebung, Gericht und Leben". 2 9 In der Trennung von Staat und Recht sowie in der Vernachlässigung und Unterschätzung der durchaus erkannten, „unzweifelhaften Integrationswirkung jeder Rechtsgemeinschaft" 30 bei Smend liegt aus juristischer Sicht die entscheidende, immanente Schwäche der Integrationslehre als Staatstheorie. 31 Man kann daher insoweit nur der Kritik Korioths zustimmen: „Vom juristischen Standpunkt aus erscheint sie deshalb problematisch, weil der Staatsbegriff Smends zwar soziale Eigenschaften des Menschen berücksichtigt und die Notwendigkeit des Staates für die menschliche Existenz bekräftigt, jedoch keinen spezifischen juristischen Aussagewert hat. Für den Juristen kann das Wort Staat nur als Begriff sinnvoll sein, der mit rechtlich relevanten Merkmalen definiert ist. Indem Smend bewußt darauf verzichtet, fällt er im Grunde hinter die Erkenntnisse der konstitutionellen Staatslehre zurück". 3 2 Weil Integration als das Wesensmerkmal des Staates nach Smend ein „grundlegender Lebensvorgang", aber keine rechtliche Kategorie ist, vermag auch seine Staatstheorie keine (neuen) (staats-)rechtlichen Erkenntnisse zu vermitteln. Recht ist eben etwas anderes als Integration.
27 Smend (Anm. 4), S. 49. 28 Smend (Anm. 4), S. 98. 29 Ebd. 30 Smend (Anm. 4), S. 81. 31 Während sich Smend vorhalten lassen muß, die integrative Leistungsfähigkeit des Rechts für den Bereich des Staates unterschätzt zu haben (Korioth [Anm. 3J, S. 218), so ist für die Staats(-rechts-)lehre unter dem Grundgesetz im Gegenteil deren zum Teil maßlose Überschätzung zu konstatieren, die im Verfassungspatriotismus als vermeintlichem Surrogat für wirkliches nationales Zusammengehörigkeitsgefühl eine besondere Übersteigerung erfahren hat. 32 Korioth (Anm. 3), S. 163. 5'
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III. Smends Verfassungsbegriff: Verfassungswirklichkeit statt Verfassungsgesetzlichkeit Smends Verfassungsbegriff wird durch sein Staatsverständnis notwendig vorgeprägt. Als Rechtsordnung eines Staates, dessen Wirklichkeit fortdauernde geistige (Re-)Generierung in einem permanenten Integrationsprozeß ist, partizipiert die Verfassung an dieser vitalen Eigenart des Staatlichen und steht mit der Lebenswirklichkeit des Staates in einer Wechselwirkung. Die Verfassung erscheint als „die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses, wobei der Staat „natürlich nicht nur von den in seiner Verfassung geregelten Lebensmomenten [lebt]: die Verfassung selbst muß zu ihrer Ergänzung, um überhaupt in politisches Leben umgesetzt zu werden, auf die Triebgrundlage dieses Lebens und die ganze sonstige Fülle sozialer Motivierungen rechnen. Aber auch die von ihr selbst geregelten Lebensfunktionen des Staates kann sie nicht vollständig erfassen: auch diese kommen, wie alles politische Leben, aus der Totalität der Einzelpersönlichkeit und wirken in jedem Augenblick zu der überpersönlichen Totalität des Staates zusammen. Eine solche Lebensfülle kann von wenigen, noch dazu meist recht schematischen, auf immer neue Rezeptionen aus dritter und vierter Hand beruhenden Verfassungsartikeln nicht voll erfaßt und normiert, sondern nur angedeutet, und was ihre integrierende Kraft angeht, angeregt werden. Ob und wie aus ihnen der aufgegebene Erfolg befriedigender Integration hervorgeht, hängt von der Auswirkung aller politischen Lebenskräfte des Volksganzen überhaupt a b " . 3 3 Die Verfassung ist, wie Bartlsperger erkannt hat, nach Smend „zugleich überindividuell sinnhafter und konkret lebendiger Gegenstand, für dessen Erkenntnis die Einbeziehung der lebendigen soziologischen Kräfte erforderlich i s t " . 3 4 Sie läßt sich daher ebensowenig wie ihr Regelungsobjekt, das staatliche Leben, in einen festen Aggregatzustand überführen; die Verfassung „ist nicht die Regel eines an sich gegebenen, dauernden Bestandes und seiner Auswirkungen nach außen, sondern sie ist die Form der Begründung und der steten Erneuerung und Herstellung dieses Bestandes". 35 Das geschriebene Verfassungsrecht ist gewissermaßen nur eine fotographische Momentaufnahme des Verfassungslebens, des gerade erreichten, normativen Integrationsstandes, die bereits im nächsten Moment ungültig, weil unwirklich geworden ist. Die Verfassungswirklichkeit, „die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates" 36 , läßt sich nicht exakt verfassungsrechtlich abbilden, ja nicht einmal vollständig einhegen. „Die Struktur der Verfassung verliert dadurch aber an Festigkeit, die Dynamik der Integration überträgt sich auf sie". 3 7 Smend selbst erblickt darin aber keine Deformation des Verfassungsrechts, sondern 33 Smend (Anm. 4), S. 78. 34 Bartlsperger
(Anm. 20), S. 20.
35 Smend (Anm. 4), S. 82. 36 Smend (Anm. 4), S. 78. 37 Korioth (Anm. 3), S. 212.
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seine Sinnerfüllung. „Dieser aufgegebene [Integrations-JErfolg mag dabei vom politischen Lebensstrom vielfach in nicht genau verfassungsmäßigen Bahnen erreicht werden: dann wird die durch die Wertgesetzlichkeit des Geistes wie durch die Artikel der Verfassung aufgegebene Erfüllung der Integrationsaufgabe trotz dieser einzelnen Abweichungen dem Sinn auch der Verfassung eher entsprechen, als ein paragraphengetreueres, aber im Erfolge mangelhafteres Verfassungsleben". 38 Der Integrationswert der Verfassung überwiegt seinen Rechtswert. Der einzelne verfassungsgesetzliche Rechtssatz muss hinter der regulativen Idee der Integration zurücktreten, weil diese der Verfassung als ungeschriebenes und übergeordnetes normatives Prinzip politischer Einheitsbildung selbst immanent i s t 3 9 : Die Verfassungen lassen nach Smend „der allgemeinen, durch die Einzelbestimmungen nur hier und da positiv festgelegten Integrationstendenz des Verfassungslebens und seiner Neigung zur Selbstgestaltung freien Lauf - abgesehen von den Fällen, in denen sie dies Leben strikt festlegen, ihm gegenüber als streng heteronome Norm gelten woll e n " 4 0 . Es sei daher „der Sinn der Verfassung selbst, ihre Intention nicht auf Einzelheiten, sondern auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses, die jene elastische, ergänzende, von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung nicht nur erlaubt, sondern sogar erfordert" 4 1 , ohne daß es dafür einer besonderen verfassungsgesetzlichen Ermächtigung bedürfte. Über Geltung und Reichweite eines der Verfassung selbst zugrundeliegenden Integrationsprinzips kann jedoch nur das Verfassungsrecht selbst Auskunft geben; daher kann es rechtlich betrachtet auch nicht gegen dieses Verfassungsrecht selbst ausgespielt werden, kommt eine Berufung auf den Integrationswert als überpositives Rechtsprinzip nicht in Betracht. Bartlsperger hat insoweit mit Recht gegen Smend eingewandt: „Eine Staatsverfassung kann immer nur eine staatsbejahende Verfassung sein. Damit ist aber noch nicht gesagt, mit welchen Mitteln und mit welcher Intensität eine Verfassung die Integration des Staates bewirkt haben will. Aus dem integrierenden Sinn der Verfassung allein kann daher für den Inhalt der Verfassungsnormen im Einzelfall noch nichts entnommen werden. [ . . . ] Die Annahme eines überpositiven Rechtssatzes, wonach die Normen der Verfassung in integrierendem Sinne auszulegen sind, stellt sich als nichts anderes dar als ein Schluß vom Sein auf das Sollen" 4 2 Für Smend dagegen stellt nicht die Abweichung vom Wortlaut der Verfassung das Problem dar, sondern ein desintegrierend wirkendes, und damit den Sinn der gesamten Verfassung verfehlendes Auslegungsergebnis das verfassungsrechtliche Integrationsgebot und damit die Verfassung als geistiges Sinngefüge in Frage. Smend (Anm. 4), S. 78. 39 Siehe dazu auch Bartlsperger
(Anm. 20), S. 21 f.
40 Smend (Anm. 4), S. 80. 41 Smend (Anm. 4), S. 78 f. 42 Bartlsperger
(Anm. 20), S. 47, 49, nochmals S. 52.
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Smend funktionalisiert die Verfassung, stellt sie in den Dienst des staatlichen Integrationsprozesses. Sie verliert damit ihren Selbststand gegenüber den im Integrationsprozeß wirksamen politischen Kräften, wird zur Resultante des Wirkungszusammenhangs der verschiedenen Integrationsfaktoren. Die Verfassung ist nicht mehr normativer Fels in der Brandung, sondern wird zum Treibholz im Fluß des politischen Lebens. „ I m Ergebnis wird die Verfassung von einer heteronomen, Kontinuität gewährleistenden Rechtsordnung zu einer Instanz innerhalb des Integrationsprozesses mit diesem immanenten Aufgabe, staatliche Einheit herzustellen. Die Verfassung ist Ordnung und zugleich Teil des Integrationsprozesses' 443 Smend betrachtet ebenso wie den Staat auch die Verfassung soziologisch; ihn interessiert nicht die Positivität des Verfassungsrechts, sondern nur die Verfassung als „integrierende W i r k l i c h k e i t 4 ' 4 4 Diese Wirklichkeit werde nicht durch die Verfassung als „das ruhende Moment im staatlichen Leben 44 , sondern durch das sich immerfort erneuernde Verfassungsleben immer neu hergestellt 45 , und deshalb ist nur die geisteswissenschaftliche Methode, die auf der Erfassung des integrativen Sinns der Verfassung zielt, ihrem Erkenntnisgegenstand, der Verfassung in ihrer Eigenart als auf den Integrationswert orientierten Integrationsordnung, adäquat, während Normlogik und herkömmliche Auslegungskanones sich als unzulänglich erweisen. Ungeachtet „einer gewissen Starrheit des . . . Verfassungsschemas 44 dürfe „verräumlichend-statische[s] Denken 44 „auch der juristischen Betrachtung nicht zugrundegelegt werden, wenn sie nicht an ihrem Gegenstande vorbeigehen will 4 4 4 6 M i t anderen Worten: Auch die ausformulierte Verfassung folgt der „Integrationsgesetzlichkeit des politischen Geistes44, baut sich „vermöge der Dialektik des Geistes mit Notwendigkeit in geschichtlicher Konkretheit 44 auf und fort, ergänzt und wandelt sich von s e l b s t 4 7 Der Integrationsprozeß erfährt durch die selbst vom Integrationswert beherrschte Verfassung insofern mehr wertmäßige Anregung denn eine wirksame rechtstechnische Beschränkung. So betont Smend in seinen äußerst knapp gehaltenen Ausführungen zum „integrierendefn] Sachgehalt moderner Verfassungen 4 ' 48 zwar einerseits den „legitimierendefn] Sinn der Menschenrechte, den späteres liberales Missverständnis zugunsten ihrer sekundären, staatsbeschränkenden Funktion völlig übersehen 44 habe 4 9 , um sodann aber gleich wieder zu betonen, daß „die intendierte legitimierende und integrierende Wirkung [ . . . ] nicht ohne weiteres mit Verfassungsparagraphen schon gegeben [sei] 4 4 . 5 0 Doch wer soll die integrierende Wirkung auf welchem Wege herstellen? Wer entscheidet, welche konkurrierende Interpretation der Verfassung tatsächlich zur «
Korioth (Anm. 3), S. 215.
44 Smend (Anm. 4), S. 80. 45 Smend (Anm. 4), S. 81. 46 Smend (Anm. 4), S. 86. 47 Smend (Anm. 4), S. 97. 48 Smend (Anm. 4), S. 107-110. 49 Smend (Anm. 4), S. 108. so Smend (Anm. 4), S. 109 f.
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Erfüllung der Integrationsaufgabe beiträgt und welche nicht? Wie läßt sich diese Wirkung im vorhinein verläßlich abschätzen? Die Verselbständigung des Verfassungsrechts, seine Zuordnung zu dem auf den Integrationswert verpflichteten „System der staatlichen Wirklichkeit" und seine Abkapselung vom anders gearteten, dem Rechtswert dienenden „System des Rechtslebens" 51 führt nicht nur zu einem befremdlich anmutenden Auseinanderfallen von Staats- und Rechtsgemeinschaft 52 , sondern hat bei Smend bemerkenswerte praktische Konsequenzen, etwa in der Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit. In der als Integrationsordnung verstandenen Verfassung hat die mit der Aufgabe der Rechtsanwendung und -durchsetzung betraute Justiz nur einen randständigen Platz 5 3 ; denn auch die Justiz mag praktisch „zugleich der staatlichen Integration dienen; aber die Verfassung befreit sie ausdrücklich von dieser Aufgabe, indem sie sie von der Staatsleitung unabhängig stellt". 5 4 Für die Staatsgerichtsbarkeit, die Anteil am eigentlichen Staatsleben hat, aber muss anderes gelten; sie darf nicht analog der Zivil- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit verstanden werden. 5 5 Sie kann vielmehr ihrer Integrationsfunktion gemäß „nur ein Mittel und Stadium der Verständigung solcher als gutwillig vorauszusetzender Parteien sein, die ihrerseits zu diesem Mittel auch nur in diesem Sinne greifen sollen". In föderalen Streitigkeiten nach Art. 19 WRV soll nicht „um den rechtlichen Sieg", „sondern um Verständigung" gekämpft werden. 5 6 Der Staatsgerichtshof hat also nicht die gleiche, streitentscheidende Aufgabe wie die ordentliche Gerichtsbarkeit, sondern die Funktion einer ausgleichenden politischen Instanz. Smend hätte daraus sicherlich auch auf die - umstrittene - Zulässigkeit des Abschlusses eines besonders integrationsförderlichen Vergleichs in solchen Streitigkeiten geschlossen. Weniger das - keineswegs zwingende, unter der W R V gleichwohl vertretbare Ergebnis, als die methodische Vorgehensweise Smends stößt auf durchgreifende Bedenken. Statt das geschriebene Verfassungsrecht - hier: Art. 19 WRV - zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu machen, wird mit der vermeintlich anderen, integrativen Natur des Verfassungsrechts und diesbezüglicher Gerichtsbarkeit argumentiert 57 und das so mit Hilfe der Integrationslehre postulierte Ergebnis im Sinne einer self-fulfilling prophecy Art. 19 WRV als „positivrechtliche Folgerung" unterlegt. 58 51 M i t Recht kritisch zur angeblichen strukturellen Eigenart der Verfassung gegenüber sonstigem, „einfachem" Recht Bartlsperger (Anm. 20), S. 5 2 - 5 7 .
52 Smend (Anm. 4), S. 99. 53 Smend (Anm. 4), S. 101. 54 Smend (Anm. 4), S. 99 f. 55 Smend (Anm. 4), S. 135. 56 Smend (Anm. 4), S. 136. 57 Smend (Anm. 4), S. 135. 58 Dazu kritisch auch Bartlsperger
(Anm. 20), S. 22 f.
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Gleiches gilt für das Bundesstaatsrecht: Hier hat Smend mit dem von ihm „entdeckten" ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Bundestreue zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Bundesstaates geleistet. Aber er hat das integrative Prinzip der Bundestreue nicht in die vorgefundene bundesstaatliche Kompetenzordnung integriert, sondern dazu eingesetzt, diese zu überspielen. Weil die Bundesstaatsverfassung nicht nur den Einzelstaat als ein in sich geschlossenes Integrationssystem anerkennt, sondern vor allem den Gesamtstaat als ein solches konstituiert, soll die den Partnern des bundesstaatlichen Verhältnisses aufgegebene Verständigung inhaltlich gebunden sein: „bei allem gebotenen Ausgleich geht das Reichsinteresse vor, hat das Einzelrecht sich dem gesamtstaatlichen Rechtsgedanken unterzuordnen". 59 Ein solcher Rechtssatz ist in dieser Allgemeinheit dem bundesstaatsrechtlichen System der Verfassung, das das „integrierende Zusammenspiel" von Reich (Bund) und Ländern normiert, jedoch fremd. Smend entnimmt ihn in freier Rechtsschöpfung seinem Integrationsverständnis. Einmal mehr zeigt sich hier die Problematik der Smendschen Trennung der Verfassung des Staates von seinem Rechtssystem. Über einzelne (als „rechtstechnisch" abqualifizierte) Verfassungsbestimmungen geht Smend in souveränem Rekurs auf den größeren staatlichen Integrationszusammenhang, in dem die Verfassung steht, großzügig hinweg: Minima non curat integrator. Integration findet ohne oder gar gegen das (geschriebene) Recht statt.
IV. Die Smend-Rezeption nach 1945: Integration durch Verfassungsrecht Die eigentliche Pointe der Rezeption der Smendschen Integrationslehre nach 1945 unter der Geltung des Grundgesetzes in der Deutungshoheit des BVerfG liegt in der Umkehrung dieses Satzes: Die staatliche Integration erfolgt nunmehr gerade durch die normative Kraft der Verfassung, der staatliche Integrationsprozeß verlagert sich schwerpunktmäßig in das Verfassungsrecht, seine Aktualisierung und Konkretisierung. Das Verfassungsrecht wird zum Integrationsfaktor ersten Ranges, und gerade das BVerfG läßt durch konsequente Annahme der ihm zugedachten echten, d. h. streitentscheidenden Rechtsprechungsfunktion das Verfassungsrecht „ w i r k l i c h " werden. Kraft seiner Positivität und Normativität vermag das Verfassungsrecht die tatsächlichen, geistigen wie sozialen Realitäten zu gestalten, umzugestalten. Indem das Verfassungsrecht voll gültiges Recht wird, entfaltet es erst wirklich seinen Vorrang und damit verbunden eine ungeahnte Integrationswirkung. Die Ausstrahlungswirkung auf die gesamte Rechtsordnung wandelt das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft grundlegend. Die Status-Denkschrift des BVerfG bringt diesen Wandel bereits prägnant zum Ausdruck: „Der Rechtsstaat des Bonner Grundgesetzes unterscheidet sich von der 59 Smend (Anm. 4), S. 170 f.
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Weimarer Verfassung und der Bismarckschen Verfassung entscheidend dadurch, daß hier zum erstenmal in der deutschen Geschichte der Prozeß der staatlichen Integration selbst sich auch mit Hilfe der Rechtsprechung eines Gerichts vollzieht". 6 0 Das BVerfG wirkt gerade in seiner auf die Verfassung bezogenen Funktion, d. h. durch seine Jurisdiktion integrierend auf den Staat. Dadurch wird es selbst zu einem gestaltenden Faktor des staatlichen Lebens, und diesem Selbstverständnis trägt es Rechnung, indem es bei der Auslegung der Verfassungsbegriffe „dem objektiven politischen Sinngehalt der Verfassung" gerecht zu werden versucht. 61 A u f diese Weise wird die Smendsche Integrationslehre normativ aufgeladen und verwandelt, zugleich erfüllt und - der veränderten Verfassungslage - sinngemäß angepasst. Daß und in welchem Ausmaß unter dem Grundgesetz Integration durch Verfassungsrecht betrieben werden sollte, hat Smend nicht vorausgesehen und ist in seiner weitgehend „rechtsblinden" Integrationslehre auch allenfalls rudimentär angelegt. Immerhin hatte Smend bereits erkannt, daß auch Verfassungen einen sachlichen Gehalt aufweisen können, „der dem Staat aufgegeben ist und Inhalt und Würde gibt, der eben dadurch das Staatsvolk immer von neuem zur Einheit integriert". 6 2 Als „Zeichen", „ i n dem das deutsche Volk einig sein soll und nach Meinung der Verfassung am leichtesten einig sein kann", erscheinen Smend v.a. die Grundrechte, die deshalb aber gerade „selbst nicht in erster Linie technisch zu verstehen" sein sollen 6 3 ; „sie wollen zunächst nicht so sehr selbst positives Recht normieren, sondern anderweitig geltendes qualifizieren und legitimieren" 6 4 Der Grundrechtskatalog wolle vielmehr - „ganz abgesehen von aller positiven Rechtsgeltung" - „ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem normieren", „das der Sinn der von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein s o l l " 6 5 . Die Grundrechte beanspruchten als Auslegungsregel für das spezielle Recht aus diesem Kultursystem heraus zu gelten; in diesem Sinne fungierten sie als Richtschnur für Gesetzgebung und Verwaltung. 6 6 Indem er die Sinnhaftigkeit der Grundrechte als ein Wertsystem von ihrer rechtspraktischen Bedeutung trennte, übersah Smend jedoch, daß sie nur aufgrund ihrer Teilhabe an der normativen Kraft des Verfassungsrechts als „Auslegungsregeln für das positive Recht" fungieren können. Dessen ungeachtet liegt in dieser Erkenntnis Smends vom Wertsystem der Grundrechte eine wesentliche Grundlage für die Wertordnungsrechtsprechung des BVerfG, die den Grundrechten über ihre klassische Abwehrfunktion hinaus neue Geltungsdimensionen erschlossen hat 6 7 : Danach hat das Grundgesetz „ i n seinem ω JöR n.F. 6 (1957), S. 144 f. JöR n.F. 6 (1957), S. 122. 62 Smend (Anm. 4), S. 158. 63 Smend (Anm. 4), S. 160 f. 64 Smend (Anm. 4), S. 160 Fn. 1. 65 Smend (Anm. 4), S. 163 f. 66 Ebd.
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Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet" und soll „gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck" kommen. Dieses - so wörtlich - „Wertsystem" müsse „als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse". Das Wertsystem wird so zum Orientierungspunkt der Verfassungsauslegung; von ihm her fließt allem einfachen Recht ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt z u . 6 8 Smendsches Gedankengut ist hier erkennbar bis in einzelne Formulierungen hinein rezipiert. Auch darüber hinausgehend finden sich in der Verfassungsinterpretation durch das BVerfG bisweilen mehr oder weniger deutliche Anleihen bei Smend, so etwa bei der von ihm geforderten „Auslegung der Verfassung als Ganzes", 6 9 die auf der Erkenntnis basiert, „dass alle staatsrechtlichen Einzelheiten nicht an sich und isoliert zu verstehen sind, sondern nur als Momente des durch sie zu verwirklichenden Sinnzusammenhangs, der funktionalen Totalität der Integration". 7 0 Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung in gleichem Sinne stets betont, daß eine einzelne Verfassungsbestimmung nicht isoliert betrachtet, sondern unter Beachtung der Einheit der Verfassung als „vornehmstem Interpretationsprinzip" ausgelegt werden müsse, um das objektive Sinngefüge der Gesamtverfassung und von da aus die Bedeutung einzelner Verfassungsaussagen erschließen zu können. 7 1 Ob diese Interpretationsmaxime „von der verfassungsmäßigen Ordnung als einem Sinnganzen" 7 2 ihre Anerkennung tatsächlich der „Totalität der Integration" verdankt oder aber der Prämisse innerer Widerspruchsfreiheit des Verfassungsrechts geschuldet ist, muß allerdings offen bleiben. Wenn das BVerfG darüber hinaus betont hat, dass „die Einordnung eines staatsrechtlich relevanten Sachverhalts unter einen Rechtsbegriff [ . . . ] nur aufgrund einer unmittelbaren und umfassenden Anschauung der tatsächlichen Verhältnisse und des politischen Zusammenhangs, in dem sie stehen, vollzogen werden" könne 7 3 , so wird mit dieser (Rück-)Beziehung des Verfassungsrechts auf die Wirklichkeit des politischen Lebens die Zugehörigkeit der Verfassung zum und ihre Teilnahme am staatlichen Integrationsprozeß im Smendschen Sinne reflektiert. Erst recht gilt dies für die im Zusammenhang mit der Legitimation richterlicher Rechtsfortbildung aufgestellte These, die Norm stehe „ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und 67 Siehe auch Bartlsperger (Anm. 20), S. 55: „ A u f diese Integrations- und Legitimationsfunktion der materiellen Verfassungsnormen aufmerksam gemacht zu haben, bleibt ein großes Verdienst der Integrationslehre".
68 BVerfGE 7, 198 (205). 69 Smend (Anm. 4), S. 128. 70 Smend (Anm. 4), S. 134. Vgl. BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); 30, 1 (19); 33, 23 (27); 34, 165 (183); 60, 253 (267). 72 BVerfGE 34, 269 (287). 73 BVerfGE 3, 58 (85).
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der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln". Es sei zu berücksichtigen, „welche vernünftige Funktion sie i m Zeitpunkt der Anwendung haben kann". 7 4 In gleicher Weise begründete Smend die Veränderlichkeit der Verfassung, die Möglichkeit der ,VerfassungsWandlung' „aus dem Charakter der Verfassung, die ein dauernd seinen Sinn erfüllendes Integrationssystem normiert", was „die fließende Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts" einschließen soll. 7 5 Die Integrationslehre steht schließlich auch Pate für die demokratisch-funktionale Ausdeutung politisch relevanter Grundrechte wie der Meinungsfreiheit. Das BVerfG hat das Grundrecht der Meinungsfreiheit bekanntlich als für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend" qualifiziert und die Gewährleistung der Freiheit der öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen als unerlässlich bezeichnet. 76 Es hat daraus gefolgert, dass die Meinungsfreiheit vor allem dann in die Waagschale fallen müsse, „ w o von dem Grundrecht nicht zum Zweck privater Auseinandersetzungen Gebrauch gemacht wird, der Redende vielmehr in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen will. Es ist offensichtlich die Bedeutung einer solchen Meinungsäußerung für den staatlichen Integrationsprozeß als „Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten", die ihr größeres Gewicht in der Abwägung mit gegenläufigen privaten Belangen und Interessen geben soll, indem für sie die Vermutung freier Rede streiten soll. 7 7 Hier klingt Smends integrationspolitische Unterscheidung zwischen dem seine privaten Interessen verfolgenden „bourgeois" und dem sich als Teil des zu integrierenden Staats- und Volksganzen begreifenden „citoyen" an, 7 8 eine nicht unproblematische Unterscheidung, soweit daraus verfassungsrechtlich erhebliche Konsequenzen für die Reichweite individuellen Grundrechtsschutzes gezogen werden sollen. 7 9 Eine noch weitergehende Folgerung, die Smend „aus der Einordnung der einzelnen staatsrechtlichen Normen in das „Sinnsystem des staatlichen Integrationszusammenhangs" ableiten wollte, nämlich eine „Rangverschiedenheit" von Verfassungsbestimmungen je nach ihrem Wert für dieses System, 8 0 hat sich das BVerfG dagegen - mit Recht - nicht zu eigen gemacht. Eine (Integrations-)Wertrangordnung gibt das Grundgesetz nicht her.
74 BVerfGE 34, 269 (288). Smend (Anm. 4), S. 137 f. 76 BVerfGE 7, 198 (208,211). 77 BVerfGE 7, 198(212). 78 R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 309 (311 f., 314 ff.). 79
M i t Recht kritisch etwa H. H. Klein , Grundrechte i m demokratischen Staat, Stuttgart
1974. «ο Smend (Anm. 4), S. 136 f.
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V. Fazit Wie steht es nun insgesamt betrachtet mit der staats- und verfassungsrechtlichen Ergiebigkeit der Integrationslehre? Die geisteswissenschaftlich-soziologische Staatstheorie erweist sich als originell, aber juristisch unergiebig. 81 Auch die Verfassung dient primär der Verwirklichung des Integrations-, nicht des Rechtswerts. Als Subsystem, das im staatlichen Integrationszusammenhang steht, gewinnt sie keine normative Eigenständigkeit gegenüber dem Integrationsprozeß, dessen Eigengesetzlichkeiten sie vielmehr vollständig unterliegt. So wird die Verfassung selbst integriert, wandelt und ergänzt sich im „politischen Lebensstrom". 8 2 Erst auf der Grundlage ihrer von Smend für nicht möglich und notwendig erachteten vollen Verrechtlichung unter dem Grundgesetz hat die Verfassung selbst, und zwar umfassend, integrierend wirken können. Doch diese Wende zur Integration durch Verfassungsrecht ist schon nicht mehr die eigentliche Smendsche Konzeption, sondern deren grundgesetzkonforme Fortentwicklung. Zugleich hat durch die normative Kraft, die das Grundgesetz unter und mit Hilfe der Rechtsprechung des BVerfG entfaltet, der von Smend propagierte und seit 1945 von der Staatsrechtslehre begierig aufgegriffene Abschied vom „technischen" Rechtsdenken im Verfassungsrecht und die Hinwendung zu einer „elastischefn], ergänzende[n], von aller sonstige[n] Rechtsauslegung weit abweichende[n] Verfassungsauslegung" 83 erst ihre volle Sprengkraft entwickelt: Die Einordnung von Verfassungsinhalten wie den Grundrechten in ein vorgegebenes Wertsystem, bei Smend noch ohne praktische Bedeutung, wird juristisch erheblich. Das Verfassungsrecht importiert damit jedoch auch die ganze Unschärfe eines „Systems staatlicher Wirklichkeit", das vom geschriebenen Recht nur „angeregt", aber nicht determiniert wird. Deutlich wird dies etwa in der diffusen „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte ins Privatrecht, die erst auf die Abwehrfunktion der Grundrechte einerseits, ihre Schutzpflichtendimension andererseits zurückgeführt werden muß, um sie dogmatisch zu domestizieren. A u f die problematischen Konsequenzen eines Verständnisses der Verfassung als „ l i v i n g instrument" hat namentlich Forsthoff 8 5 früh scharfsichtig aufmerksam gemacht. Die auf die Integrationslehre zurückgehende, geisteswissenschaftliche Methode führt zur Beliebigkeit der Auslegung und damit zur Auflösung des Geset81 Positiver die Bewertung durch Bartlsperger (Anm. 20), S. 128, „daß die Integrationsbetrachtung des Staates der Verfassungstheorie wertvolle inhaltliche Anregungen zu geben vermag".
82 Smend (Anm. 4), S. 78 f. Smend (Anm. 4), S. 79. 84 So die Kennzeichnung der E M R K durch den E G M R , vgl. die Nachweise bei C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., München 2005, § 5 I V Rn. 13, S. 39 Anm. 30. 85 Vgl. E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: H. Barion/ders. (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag, Berlin 1959, S. 35 (36, 38, 39, 41, 55).
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zes, zur „Preisgabe der Normativität des Rechts überhaupt": „Die Sinnerfassung ist dann keine Rechtskunst mehr, sondern philosophisch". Was als Verfassungsrecht zu gelten hat, ergibt sich erst jeweils im und mit Rücksicht auf den konkreten Anwendungsfall. Forsthoff sieht eine kasuistische Verunsicherung des Verfassungsrechts, einen erheblichen Verlust an Rationalität im Umgang mit der Verfassung und dadurch einen ungeheuren Machtzuwachs bei der Justiz. In der Tat erscheint das BVerfG als „Hauptbegünstigter der ,Öffnung' der Verfassungsauslegung" 8 6 in Anwendung der Smendschen Integrationsmethode. Bartlsperger ist es in seiner Dissertation gelungen, mit Hilfe der Theorie Nicolai Hartmanns vom objektiven Geist die in der Integrationslehre angelegte Dialektik von Existentialität und Normativität des Rechts angemessen zu beschreiben: „Das geschriebene Recht ist nicht mehr als die Objektivation des Rechts in einem geschichtlichen Moment; der so objektivierte Geist bleibt nicht stehen, sondern bewegt sich im Realzusammenhang fort. Es ist die Aufgabe von Auslegung und Anwendung des Gesetzes, dessen Wortlaut mit dem Recht des geschichtlichen Augenblicks zu erfüllen. Die Angleichung von Recht und Rechtswirklichkeit wird aber zum zweiten auch dadurch bewirkt, dass das Recht vermöge der Dialektik des objektiven Geistes wiederum gestaltend auf die Lebenswirklichkeit zurückwirkt. In der Seinswerdung des Rechts erfolgt so zugleich eine fortwährende Umgestaltung des Rechts". 8 7 Angesichts der bei Smend zu konstatierenden dialektischen Einheit von „Normvollzug und Rechtsfortbildung in geschichtlicher Situationsbezogenheit" drängt sich jedoch die von Bartlsperger gestellte, ungelöste Frage auf, wie vom Standpunkt einer Realitätsbetrachtung des Rechts aus allgemeines, verbindliches Verfassungsrecht möglich ist. 8 8 Von der Antwort auf diese, über die Normativität der Verfassung entscheidende Frage hängt es ab, ob das Verfassungsrecht den Staat „ i n seinem Sein und Werden grundlegend bestimmen" kann, 8 9 auch kontrafaktisch das politische Leben nach seinem normativen Vorgaben zu gestalten vermag, d. h. selbst die politische Wirklichkeit prägen kann oder umgekehrt selbst vom „politischen Lebensstrom" mitgerissen wird und sich im Prozeß der staatlichen und gesellschaftlichen Integration deren wechselnden Bedürfnissen inhaltlich anzupassen genötigt ist.
86 B.-O. Brycle, Verfassungsentwicklung, Baden-Baden 1982, S. 110. «7 Bartlsperger
(Anm. 20), S. 139.
88 Bartlsperger
(Anm. 20), S. 132, 134.
89 H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, Königstein/Taunus 1981, S. 21 (66).
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz Die Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften als Probierstein Von Matthias Jestaedt , Erlangen
I. Von früheren Selbstverständlichkeiten und heutigen Verunsicherungen Parentes semper certi sunt. Darüber zu streiten, wer Eltern sind und wem infolgedessen das Elternrecht zusteht, ist überflüssig. So oder ähnlich könnte man, mit gehöriger Vereinfachung, die ebenso einhellige wie unausgesprochene Einschätzung zum Zeitpunkt der Schaffung des Grundgesetzes umschreiben. Das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte Grundrecht galt, zumindest hinsichtlich seiner Träger, als unkompliziert und unstreitig. Wie schon zu der Weimarer Vorgängernorm 1 des Art. 120 finden sich auch in den Beratungen zu Art. 6 Abs. 2 GG keinerlei Einlassungen dazu, wer als Eltern im Sinne der Verbürgung in Frage komme und unter welchen Bedingungen diesem Personenkreis die Elternrechtsstellung zustehe. 2 Das damals noch Selbstverständliche zeitigte keinen Selbstvergewisserungsbedarf. Tempora mutantur. Wo früher unthematisierter Konsens herrschte, tun sich nun, da sich Fragen im Blick auf die Träger des Elterngrundrechts erheben, Zweifel 1 Art. 120 WRV: „Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht." Vgl. den Vergleich von Art. 120 W R V und Art. 6 Abs. 2 GG bei M. Jestaedt, in: R. D o l z e r / K . V o g e l / K . Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 1950 ff., Stand: 119. Lieferung, Heidelberg, September 2005, Art. 6 Abs. 2 und 3 (Bearbeitungsstand: 74. Lieferung Dezember 1995) Rn. 1 f. 2 Lediglich in den Beratungen zu dem die Gleichstellung nichtehelicher Kinder regelnden Art. 6 Abs. 5 GG wurde - auf dem tatsächlichen Hintergrund, dass die Väter nichtehelicher Kinder in aller Regel nicht an deren Entwicklung Anteil nahmen - vereinzelt die Auffassung vertreten, dem Vater eines nichtehelichen Kindes sollten keine Mitwirkungsrechte bei dessen Erziehung eingeräumt werden, dieses solle vielmehr ungestört bei seiner Mutter aufwachsen können (vgl. dazu die Abg. Helene Wessel [Zentrum], 43. Sitzung des Hauptausschusses vom 18. 1. 1949, Stenographischer Bericht, S. 549, die Abg. Elisabeth Seibert [SPD], ebd., S. 552, sowie die Abg. Helene Weber [CDU], 10. Sitzung des Plenums vom 8. 5. 1949, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv [Hrsg.], Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Bd. 9, 1996, S. 579). Dazu, dass diese Erwägungen aber nicht in Art. 6 Abs. 2 GG Eingang gefunden haben: BVerfGE 92, 158 (177 f.).
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und Verunsicherungen auf. Namentlich durch zwei Entwicklungen, von denen freilich nur eine elternrechtsspezifisch ist, wandelt sich das Bild allmählich: A u f der einen Seite ist es die - erst mit der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland einsetzende - juridische Operationalisierung der Grundrechte. 3 Indem diese in ihrer Rechtlichkeit ernstgenommen, in ihren Wirkungen auf die Rechtsordnung im Übrigen entfaltet und zur kleinen juristischen Münze werden, wird auch das Elternrecht als komplexes und in vielerlei Hinsicht irreguläres Grundrecht wahrnehmbar. 4 Der praktische Alltagstest, dem die so verstandenen Grundrechte fortan ausgesetzt sind, richtet auch in puncto Grundrechtsträgerschaft einige Auslegungsfragen an Art. 6 Abs. 2 GG: So steht etwa die Elternrechtsstellung von Adoptiv- 5 , Pflege- 6 und Großeltern 7 , aber auch von Eltern nichtehelicher Kinder 8 zur Debatte. Weithin parallel zum Wandel des Grundrechtsverständnisses ist eine Veränderung (der Bedeutung) bestehender sowie das Aufkommen neuer Eltern-Kind-Konstellationen zu verzeichnen, die beide das Grundrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG genauer: dessen Interpretation - herausfordern. Die gewandelten Anschauungen über die Adoption, die im Jahre 1977 mit der Einführung der Volladoption ihren derzeitigen gesetzesrechtlichen Ausdruck finden, 9 sowie über die Stellung des 3 Dazu stellvertretend E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, München 1989; Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte, Hannover 1993; vgl. ergänzend: E. Klein, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, Heidelberg 2004, § 5 bes. Rn. 14 ff.; H. H. Klein, ebd., § 6 bes. Rn. 45 ff. 4 Die grundrechtsdogmatische Singularität des Elterngrundrechts kann mit folgenden Schlagworten - selbstredend nur vergröbernd - bezeichnet werden: - Kindeswohl als Grund und Grenze der Eltern Verantwortung; - Konnex von Recht und Pflicht = Elternverantwortung; - fremdnütziges Grundrecht („dienende Freiheit" im Interesse und zum Wohle des Kindes): Lebens- und Freiheitshilfe für das Kind; - Bestimmungsrecht („Herrschaftsrecht") über einen anderen Grundrechtsträger - das Kind; - staatliches Wächteramt als atypische grundrechtliche Schutzpflicht zugunsten des Kindes; - wachsendes Kindesrecht - weichendes Elternrecht (Komplementärcharakter des Elternrechts); - atypisches Schrankenregime; dazu eingehend Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 24 ff., 32 ff., 132 ff., 155 ff., 162 ff., 171 ff. m. w. N.
5 Dazu BVerfGE 24, 119(142, 150). 6 Vgl. BVerfGE 79, 51 (60); s. a. BVerfGE 68, 176 (187 f.). 7 Dazu BVerfGE 19, 323 (329); s. aber auch BVerfGE 34, 165 (200). « Für die Mutter eines nichtehelichen Kindes: BVerfGE 24, 119 (135); 56, 363 (382); 84, 168 (179); 92, 158 (177); 107, 150 (160); für den Vater eines nichtehelichen Kindes: BVerfGE 56, 363 (382, 383 f.); 79, 203 (210); 84, 168 (179); 92, 158 (158 [Leitsatz 1J, 1 7 6 - 178); 107, 150(169); 108, 82 (99 f.). 9 Die (Voll-)Adoption wurde zum 1.1. 1977 durch das Gesetz über die Annahme als Kind und zur Änderung anderer Vorschriften (Adoptionsgesetz) vom 2. 7. 1976, BGBl. I S. 1749, eingeführt. Eingehend zur „rechtshistorischen Entwicklung der Adoption" nunmehr die gleichnamige Schrift von C. Neukirchen (Frankfurt a. M . 2005).
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n i c h t e h e l i c h e n K i n d e s , die auch u n d gerade die Frage der E l t e r n s c h a f t i n n e u e m L i c h t e erscheinen lassen, n ö t i g e n zur V e r g e w i s s e r u n g über das bis d a h i n fraglos Tradierte. V o l l e n d s verändert sich die L a g e d u r c h z w e i j ü n g e r e E n t w i c k l u n g s s t r ä n ge, deren ersterer d u r c h d i e sich neu auftuenden M ö g l i c h k e i t e n der R e p r o d u k t i o n s m e d i z i n - unter den S t i c h w o r t e n : E i - u n d Samenspende, Ersatz- u n d L e i h m u t t e r schaft - b e s t i m m t w i r d u n d n o c h der d o g m a t i s c h e n E i n h e g u n g h a r r t . 1 0 D i e a k t u ellste H e r a u s f o r d e r u n g m a r k i e r t j e d o c h die z u m 1. Januar 2 0 0 5 e i n g e f ü h r t e M ö g lichkeit,
dass e i n
Partner
in
vollständig gleichgestellten11
einer -
von
Gesetzes
gleichgeschlechtlichen
wegen
der
Ehe
nahezu
Lebenspartnerschaft
das
K i n d seines Partners a d o p t i e r t . 1 2 D i e S t i e f k i n d a d o p t i o n bei g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e n L e b e n s p a r t n e r n stellt d i e E l t e r n r e c h t s d o g m a t i k , w e n n auch b i s l a n g u n b e m e r k t , 1 3 a u f ihre größte Probe.
10 Dazu stellvertretend Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 7 6 - 8 1 m. w. N. 11 Nämlich durch das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16. 2. 2001, BGBl. I S. 266 (zur Verfassungskonformität desselben: BVerfGE 104, 51 ff.; 105, 313 ff.), sowie das Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts vom 15. 12. 2004, BGBl. I S. 3396 (im Folgenden: LPartÜbarbG).
12 Eingeführt durch Art. 1 Nr. 4 Buchst, b LPartÜbarbG (§ 9 Abs. 7 LPartG n.F.) zum 1. 1. 2005 (Art. 7 Abs. 1 LPartÜbarbG). 13 Zwar wurde in den Beratungen der gesetzgebenden Körperschaften mehrfach das Kindeswohl in Bezug genommen; vom Recht der Eltern, gar von der Frage, ob der annehmende Lebenspartner Elternteil und darüber hinaus auch Träger des Elternrechts im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG werden könne, war, soweit ersichtlich, indes allenfalls schemenhaft die Rede. Offenbar setzten alle Beteiligten - Parlamentarier und Bundesratsmitglieder, aber auch die zu Rate gezogenen Sachverständigen (beispielhaft: N. Dethloff, ZRP 2004, 195 ff.) - voraus, dass mit der Adoption auch im verfassungsrechtlichen Sinne Elternschaft und Elternverantwortung des/r Adoptierenden begründet werde. So lautet die Gesetzes(entwurfs)begründung für § 9 Abs. 7 LPartG n.F.: „Absatz 7 ermöglicht die Stiefkindadoption. Wenn der Elternteil eines Kindes, bei dem es lebt, eine Lebenspartnerschaft begründet hat, besteht in der Regel eine gemeinsame Familie. Auch der Lebenspartner, der nicht Elternteil ist, übernimmt Verantwortung für das Kind. Bei Auflösung der Lebenspartnerschaft durch Aufhebung oder Tod eines Partners kann eine unsichere Situation für das K i n d entstehen. Zwar kann durch entsprechende Verträge geholfen werden, dies reicht jedoch nicht immer aus. Durch die Stiefkindadoption wird die Rechtsstellung des Kindes gegenüber dem Nichteltemteil erheblich verbessert: Die von einem Lebenspartner wahrgenommene Verantwortung für das Kind seines Lebenspartners kann durch die Adoption als gemeinsame elterliche Verantwortung weitergeführt werden. M i t der vorgeschlagenen Regelung werden die für die Stiefkindadoption ansonsten erforderlichen Sonderregelungen u. a. in Bezug auf das Bestehenbleiben von Verwandtschaftsverhältnissen (§ 1756 BGB) für anwendbar erklärt. Die übrigen, nicht die Stiefkindadoption betreffenden Vorschriften des Adoptionsrechts wie das Kindeswohlerfordernis des § 1741 Abs. 1 BGB und die Notwendigkeit eines Beschlusses über die Adoption (§ 1752 BGB) bleiben ohne gesonderte gesetzliche Anordnung anwendbar" (BT-Drs. 15/3445 vom 29. 6. 2004, S. 15 - Hervorhebungen nicht im Original).
6 FS Bartlsperger
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II. Das elternrechtsdogmatische Koordinatenkreuz Dass das d o g m a t i s c h e A r s e n a l f ü r d i e n e u a u f g e k o m m e n e n Fragen nach T r ä g e r n u n d B e r e c h t i g t e n der E l t e r n v e r a n t w o r t u n g 1 4 so u n z u r e i c h e n d gerüstet erscheint, m a g n i c h t z u l e t z t d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n , dass die R e c h t s p r e c h u n g des B u n d e s verfassungsgerichts bis i n d i e j ü n g s t e Vergangenheit h i n e i n 1 5 einen kasuistischen A n s a t z p f l e g t e - u n d d i e L e h r e sich w e i t h i n a u f deren A u f b e r e i t u n g b e s c h r ä n k t e . 1 6 Jeder w e i t e r g e h e n d e , n ä m l i c h a u f die B e g r ü n d u n g r e s p e k t i v e B e g r ü n d b a r k e i t d o g m a t i s c h e r Ergebnisse z i e l e n d e Versuch w i r d das e l t e r n r e c h t s d o g m a t i s c h e
Koor-
d i n a t e n k r e u z 1 7 i m A u g e b e h a l t e n müssen, w e l c h e s sich aus z w e i f o l g e n r e i c h e n U n terscheidungen zusammensetzt:
der U n t e r s c h e i d u n g
von
verfassungsrechtlicher
u n d e i n f a c h r e c h t l i c h e r E l t e r n r e c h t s s t e l l u n g a u f der e i n e n Seite ( s o g l e i c h 1.) u n d der U n t e r s c h e i d u n g v o n p e r s o n e l l e m u n d m a t e r i e l l e m S c h u t z b e r e i c h der E l t e r n r e c h t s g e w ä h r l e i s t u n g g e m ä ß A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G a u f der anderen Seite (nachf o l g e n d 2.). Just die neuartigen E l t e r n r e c h t s - K o n s t e l l a t i o n e n bieten d e m aus den v o r g e n a n n t e n U n t e r s c h e i d u n g e n resultierenden Raster eine w i l l k o m m e n e G e l e g e n heit der B e w ä h r u n g .
14 Zu Begriff und Sache grundlegend BVerfGE 24, 119 (143) - seitdem std. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 107, 150 (169 und passim); 108, 82 (102 und öfter); stellvertretend aus dem Schrifttum: Λ. Schmitt-Kammler, in: M . Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., München 2003, Art. 6 Rn. 47. 15 Eine Wende markiert insoweit der Beschluss des Ersten Senats vom 7. 3. 1995 zur Stellung des Vaters eines nichtehelichen Kindes bei dessen Adoption durch Dritte (BVerfGE 92, 158 [ 1 7 6 - 1 8 3 ] ) ; besonders prononciert nunmehr der Beschluss des Ersten Senats vom 9. 4. 2003 zur Rechtsstellung des mutmaßlichen leiblichen Vaters (BVerfGE 108, 82 [ 9 9 - 1 0 4 ] ) . Dazu näher nachfolgend 2. 16 Beispielhaft: I. Richter, in: R. Wassermann (Gesamthrsg.), A K - G G , 3. Aufl., Neuwied 2001, Art. 6 Rn. 26; D. C. Limbach, in: ders./Th. Clemens (Hrsg.), MitarbeiterkommentarGG, Bd. I, Heidelberg 2002, Art. 6 Rn. 73; Schmitt-Kammler, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz (Anm. 14), Art. 6 Rn. 48 f.; B. Pieroth, in: H. D. Jarass/B. Pieroth, GG, 7. Aufl., München 2004, Art. 6 Rn. 34; G. Robbers, in: H. v. Mangoldt/F. K l e i n / C h . Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., München 2005, Art. 6 Abs. 2 Rn. 1 6 3 - 1 8 1 . Ansätze um eine kasuistik-transzendierende Dogmatik aber etwa bei R. Gröschner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 2004, Art. 6 Rn. 1 0 3 - 1 0 7 . Zum älteren Schrifttum eingehend Jestaedt (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 5 3 - 6 1 , der eigene Ansatz Rn. 61 - 6 8 sowie 6 9 - 9 1 m. w. N.
17 Wenn im Nachfolgenden vom elternrechtsdogmatischen Koordinatenkreuz die Rede ist, so soll damit keineswegs zum Ausdruck gebracht werden, als habe dieses dogmatische Identifikations- und Lokalisationsraster nur in Bezug auf das Elternrecht Bedeutung. Es beansprucht Erklärungswert durchaus für sämtliche Grundrechte. Nur dürfte es für den grundrechtsdogmatischen Solitär der Elternverantwortung gemäß Art. 6 Abs. 2 GG die, aufs Ganze gesehen, bedeutendste Rolle spielen.
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz
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1. Die Ordinate: Verfassungsrechtliche und einfachrechtliche Elternrechtsstellung Obgleich nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Pflege und Erziehung primär den Eltern als Recht wie Pflicht zugewiesen ist, enthält der Verfassungstext sich doch jeglicher Definition und jedes Hinweises, wer „Eltern" im Sinne des Grundrechts sind, und umschreibt nur in einer recht abstrakten Weise, wie die Elternrechtsstellung sich im Konzert der übrigen Rechtsstellungen bezüglich der Kindespflege und -erziehung darstellt. So naheliegend der Rückgriff auf das Gesetzesrecht, namentlich auf die Regelungen der Abstammung (§§ 1591 ff. BGB) und der elterlichen Sorge (§§ 1626 ff. BGB), erscheinen mag, sosehr sind gegen einen unreflektierten Rekurs zum mindesten zwei Vorbehalte anzubringen: Zum einen - um mit dem weniger gravierenden Einwand zu beginnen - enthält auch das Bürgerliche Recht keine Legaldefinition der Elternschaft. Und zum anderen ist das Elternrecht respektive die Elternverantwortung als die von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrangig verbürgte Rechten- und Pflichtenstellung von der Elternsorge (der elterlichen Sorge) als einer bloß gesetzesrechtlich begründeten Rechten- und Pflichtenstellung strikt zu unterscheiden. 18 Diese Form scheinbarer Gewährleistungsverdoppelung ist kennzeichnend für normgeprägte Grundrechtspositionen, 19 die - wie etwa Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 oder Eigentum und Erbrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 GG - in Gestalt einer Institutsgarantie gesichert sind. 2 0 Freilich bedeutet Unterscheidungsnotwendigkeit nicht Bezugslosigkeit. 21 Unter axiologischen Aspekten begründet der Vorrang der Verfassung (namentlich gemäß Art. 1 Abs. 3 GG) das Verbot, die Verfassung - hier: das Elterngrundrecht - vorbehaltlos nach Maßgabe des Gesetzes - hier der Elternsorge - auszulegen. Ungeachtet dessen sind unter genealogischen Auspizien durchaus auch Wirkungen in umgekehrter Richtung - nämlich vom Gesetz zur Verfassung - zu verzeichnen: Soweit das Gesetzesrecht bereits zum Zeitpunkt der Schaffung der betreffenden Ver18 Zur Unterscheidung vgl. D. Coester-Waltjen, in: I. v. M ü n c h / P h . Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 6 Rn. 70 i m Blick auf die Eltern(eigen)schaft; E.J.Lohse, Jura 2005, 815 ff. 19
Zur Unterscheidung von sach- und normgeprägten Grundrechten richtungweisend: P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, Köln 1961, S. 98 ff.; s. a. W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, Berlin 1989, S. 93 ff. Kritisch zur grundrechtsdogmatischen Konzeption der Normprägung jüngst M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, Tübingen 2005, S. 5 1 8 - 5 4 4 m. w. N. 20 Dazu, dass die Elternverantwortung den Charakter einer - die Grundstrukturen eines durch Unterverfassungsrecht ausgestaltungsbedürftigen Rechtsinstituts sichernden - Institutsgarantie besitzt: H. F. Zacher, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 6, 1. Aufl. Heidelberg 1989, § 134 Rn. 44; Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 11 m. weit. Nachw.; Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz (Anm. 15), Art. 6 Rn. 95 u.ö.; M. Sachs, Verfassungsrecht II. Grundrechte, 2. Aufl., Berlin 2003, S. 335; V. Epping, Grundrechte, 2. Aufl., Berlin 2005, Rn. All. 21
Näher ausgeführt bei Matthias 1999, S. 22 ff., 301 f. u.ö. 6'
Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen
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Matthias Jestaedt
fassungsbestimmung in Geltung stand, spricht eine - widerlegliche - (Tatsachen-)Vermutung dafür, dass der Verfassung(sgesetz)geber sich mit der Übernahme bestehender Rechtsbegriffe auch die einfachgesetzlichen Wertungen und Begriffsverständnisse zu Eigen gemacht, d. h. konkret: an den einfachrechtlich ausgeformten Elternbegriff angeknüpft hat. 2 2 Darüber hinaus bestehen Interdependenzen zwischen Grundrecht und Gesetz auch unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistungsoperationalisierung: Die ausgestaltungsbedürftige, auf Konkretisierung angewiesene Institutsgarantie entfaltet ihr volles Schutzpotenzial erst im Zusammenwirken von Grundrechtsverbürgung und grundrechtskonkretisierendem Gesetzesrecht. A m Beispiel der Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft: Die wegen des Vorrangs der Verfassung strikt zu beachtende Unterscheidung von verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Elternstellung versperrt den Weg, die Verfassungskonformität der Stiefkindadoption - allein - darauf zu stützen, dass der adoptierende Lebenspartner just deswegen eine Elternrechtsstellung innehabe, weil ihm das Gesetzesrecht 23 die gleiche einfachrechtliche Rechtsposition zuweist wie dem Lebenspartner, der leiblicher Elternteil i s t . 2 4 Vielmehr bedarf es umgekehrt des Nachweises, dass der grundrechtsausgestaltende Gesetzgeber seinerseits die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die zu ändern er nicht befugt ist und deren Nichtbefolgung ihm den Vorwurf verfassungswidrigen Handelns eintrüge, beachtet hat. Pointiert: Die durch die Stiefkindadoption ausgelöste Gleichberechtigung beider Lebenspartner im Blick auf das leibliche Kind eines der beiden Partner führt dem Institut der Stiefkindadoption keine verfassungsrechtliche Legitimation zu, sondern löst, gerade im Gegenteil, den verfassungsrechtlichen Legitimationsbedarf erst aus, bedarf also ihrerseits der Rechtfertigung vor der Verfassung. Und diese Rechtfertigung kann nach Lage der Dinge allein durch den Nachweis gelingen, dass der annehmende Lebenspartner mit der Adoption selbst in die Elternrechtsstellung nach Art. 6 Abs. 2 GG einrückt. 2 5 22 Entsprechend gilt umgekehrt: Für gesetzesrechtliche Festsetzungen, die jüngeren Datums sind als die entsprechende Verfassungsgewähr, streitet die praesumtio facti nicht. Ganz im Gegenteil entfalten in diesem Falle die verfassungsrechtlichen Vorgaben Vermutungswirkung im Blick auf die Auslegung des Gesetzesrechts (nebenbei: hierin - nämlich in einer widerleglichen Tatsachen Vermutung zugunsten der Übernahme der Wertsetzungen und des Begriffsverständnisses der einschlägigen Verfassungsnorm durch den späteren Gesetzgeber ist der methodologisch vertretbare [Rest-JGehalt der im Übrigen kritisch zu betrachtenden „verfassungskonformen Auslegung" zu sehen). 23
Gemäß § 9 Abs. 7 Satz 2 LPartG n.F. i.V.m. § 1754 Abs. 1 und 3 BGB.
24
U m Missverständnisse zu vermeiden: Wenn hier von der Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften die Rede ist, so ist damit, wie im Verlaufe der Ausführungen darzulegen sein wird, nicht jede nur denkbare einfachgesetzliche Ausgestaltung gemeint, sondern nur die derzeitige positivrechtliche Gestalt gemäß § 9 Abs. 7 Satz 2 LPartG n.F. i.V.m. § 1754 Abs. 1 und 3 BGB in Bezug genommen, die sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass nach erfolgter Adoption beiden Lebenspartnern struktur- und inhaltsgleiche Sorgerechtsbefugnisse zukommen. 25
Für die i m Falle der Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften durch § 9 Abs. 7 Satz 2 LPartG n.F. in Verbindung mit § 1754 Abs. 1 und 3 B G B verfügte
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz
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2. Die Abszisse: Personeller und materieller Schutzbereich des Elternrechts D i e z w e i t e k a r d i n a l e W e i c h e n s t e l l u n g ist i n der - b i s l a n g nur w e n i g beachteten Unterscheidung von personellem und materiellem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 G G z u e r b l i c k e n : W ä h r e n d die B e s t i m m u n g d e n m a t e r i e l l e n S c h u t z b e r e i c h m i t d e m R e c h t ( u n d der P f l i c h t ) z u Pflege u n d E r z i e h u n g der (eigenen) K i n d e r u m s c h r e i b t , schränkt sie d i e G r u n d r e c h t s s t e l l u n g ratione personae v o n v o r n h e r e i n a u f j e n e n Personenkreis ein, der m i t „ E l t e r n " u m s c h r i e b e n w i r d . D i e Z u w e i s u n g der E l t e r n v e r a n t w o r t u n g - also der Elternrechtsträgerschaft oder auch Elternrechtss t e l l u n g - setzt f o l g l i c h d i e E l t e r n ( e i g e n ) s c h a f t der Z u w e i s u n g s p r ä t e n d e n t e n v o raus. D i e s e U n t e r s c h e i d u n g u n d Z u o r d n u n g v o n E l t e r n v e r a n t w o r t u n g u n d E l t e r n schaft hat F o l g e n nach b e i d e n Seiten h i n :
a) Elternschaft
ohne (volle)
Elternverantwortung
N i c h t j e d e m , der unter E l t e r n ( t e i l ) i m Sinne v o n A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G zu s u b s u m i e r e n - zu dessen G u n s t e n also der personelle S c h u t z b e r e i c h eröffnet - ist, k o m m t die m a t e r i e l l e V e r b ü r g u n g der E l t e r n v e r a n t w o r t u n g i m S i n n e v o n A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G u n v e r k ü r z t zu. S o w e i t sich aus der i m m a n e n t e n T e l e o l o g i e der Elternverantwortung,
aus G r ü n d e n des staatlichen W ä c h t e r a m t e s gemäß A r t . 6
A b s . 2 Satz 2 G G oder aus g e g e n l ä u f i g e n W e r t e n i m Verfassungsrang E i n s c h r ä n k u n g e n der E l t e r n r e c h t s p o s i t i o n rechtfertigen l a s s e n , 2 6 k a n n die m a t e r i e l l e Verfas-
Gleich-Berechtigung der beiden Lebenspartner in Bezug auf das gemeinsam erzogene Kind kann eine Rechtfertigung nur auf dem Wege gelingen, dass der adoptierende Lebenspartner als Elternteil im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 G G ausgewiesen wird. Denn sind beide Sorgerechtsprätendenten elternrechtsbegabt, so ist es Aufgabe des Staates, die beiden potentiell in (Ausübungs-)Konflikt geratenden Grundrechtspositionen einander im Sinne praktischer Konkordanz zuzuordnen. In Ausübung dieses Schlichteramtes in Bezug auf Eltern, die sich gemeinsam um ihr Kind kümmern, hält der Gesetzgeber sich innerhalb des grundrechtlich abgesteckten Rahmens, wenn er den Eltern die elterliche Sorge grundsätzlich gemeinsam zuweist (vgl. § 1626 Abs. 1, § 1626a Abs. 1, § 1754 Abs. 1 und 3 BGB) und sie verpflichtet, die elterliche Sorge in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohl des Kindes auszuüben (vgl. § 1627, besonders Satz 1 BGB). Eine an sich mögliche Rechtfertigung der Elternrechtseinschränkung über das sogenannte Wächteramt gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG setzte eine Kindeswohlgefährdung voraus, der mit dem generellen (!) Mittel zu begegnen wäre, dem leiblichen Elternteil das alleinige Sorgerecht zugunsten eines gemeinschaftlichen Sorgerechts (gemeinsam mit seinem Lebenspartner) zu entziehen; worin eine derartige, generell im Falle der Stiefkindadoption bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften auftauchende Kindeswohlgefährdung erblickt werden könnte, ist indes nicht ersichtlich. Auch ein Grundrechtsverzicht seitens des Lebenspartners, der leiblicher Elternteil ist, oder aber gar die Aufgabe der Elternrechtsstellung durch denselben aus Anlass der Adoption seines Kindes durch seinen Lebenspartner scheiden hier aus. 26 Näher zu den möglichen Rechtfertigungstiteln von Elternrechtsverkürzungen: Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 156 ff., bes. 166 ff. m. w. N.; ders., DVB1. 1997, 693 ff.
Matthias Jestaedt
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s u n g s v e r b ü r g u n g v e r k ü r z t u n d d a m i t d i e B e r u f u n g a u f das E l t e r n r e c h t versagt w e r den. So bedeutet der U m s t a n d , dass der Erzeuger eines u n e h e l i c h e n K i n d e s ohne weiteres - l e i b l i c h e r oder auch b i o l o g i s c h e r - Vater des v o n i h m a b s t a m m e n d e n K i n d e s i m Sinne v o n A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G ist, k e i n e s w e g s pari passu, dass i h m auch i m B l i c k a u f das e l t e r l i c h e Sorgerecht d i e V o l l p o s i t i o n des § 1626 B G B zuerk a n n t w e r d e n müsste. N a m e n t l i c h s o w e i t der Vater eines n i c h t e h e l i c h e n K i n d e s n i c h t die Bereitschaft a u f b r i n g t , E l t e r n v e r a n t w o r t u n g für seinen A b k ö m m l i n g zu ü b e r n e h m e n , steht der gesetzgeberischen E n t s c h e i d u n g , d e m B e t r e f f e n d e n d i e B e r u f u n g a u f d i e G e w ä h r l e i s t u n g des A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G ratione materiae ganz oder t e i l w e i s e zu versagen, k e i n verfassungsrechtliches H i n d e r n i s i m W e g e 2 7 . A u f dieser L i n i e b e w e g t sich n u n m e h r 2 8 auch das Bundesverfassungsgericht, w e n n es i n seinem Beschluss v o m 9. A p r i l 2 0 0 3 differenziert z w i s c h e n d e m „ S c h u t z v o n A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G " u n d der „ T r ä g e r [ s c h a f t ] des Elternrechts aus A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G " . 2 9 27 Dargetan am Beispiel der Rechtsstellung des Vaters eines nichtehelichen Kindes: Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 73 f. Vgl. auch BVerfGE 92, 158 (176 ff.); 107, 150 (169 ff.). 28
Die frühere Judikatur namentlich zur Rechtsstellung des Vaters eines nichtehelichen Kindes (besonders BVerfGE 56, 363 [383J; s. a. BVerfGE 79, 203 [210]) war just durch die Vermengung oder doch zumindest mangelnde Trennung von personellem und materiellem Schutzbereich gekennzeichnet: so wurde die Vaterschaft, also die Grundrechtsträgerschaft ratione personae, mit Gründen verneint, die allenfalls eine Verkürzung oder Entziehung der materiellen Verbürgung, der Grundrechtsträgerschaft ratione materiae, hätte rechtfertigen können (näher Jestaedt, in: Bonner Kommentar [Anm. 1], Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 73 f.). 29 BVerfGE 108, 82 (99, entsprechend 101): „ A u c h der leibliche, aber nicht rechtliche Vater eines Kindes steht unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Leiblicher Vater eines Kindes zu sein, macht diesen allein allerdings noch nicht zum Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG." Dass damit die Trennung von personellem und materiellem Schutzbereich im vorstehenden Sinne gemeint ist, erhellt besonders aus folgendem Hinweis des Senats: „Der Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG setzt die rechtliche Elternschaft nicht voraus. Der Mann, von dem ein Kind abstammt, ist Vater des Kindes, auch wenn er von der Rechtsordnung nicht als solcher anerkannt ist. Mehr als diese auf Abstammung beruhende Elternschaft setzt Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG für die Einbeziehung von Eltern in seinen Schutzbereich nicht voraus. Allerdings macht dies allein noch nicht den biologischen Vater neben dem rechtlichen Vater zum Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 G G " (BVerfGE 108, 82 [101]); vgl. ergänzend BVerfGE 108, 82 (105 f.): „Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist nicht zu entnehmen, dass sich die leibliche stets gegenüber der rechtlichen Elternschaft durchsetzen muss. Die Grundrechtsnorm gewährt kein Recht des leiblichen Vaters, in jedem Fall vorrangig vor dem rechtlichen Vater die Vaterstellung eingeräumt zu erhalten und diesen damit aus seiner Vaterposition zu verdrängen. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geht zwar von einer auf Zeugung begründeten leiblichen Elternschaft aus, nimmt aber über diese Zuordnung hinausgehend die Eltern-Kind-Beziehung als umfassendes Verantwortungsverhältnis von Eltern gegenüber ihren der Pflege und Erziehung bedürftigen Kindern unter seinen Schutz. Voraussetzung dafür, entsprechend dem Elternrecht Verantwortung für das Kind tragen zu können, ist insofern auch die soziale und personale Verbundenheit zwischen Eltern und Kind (vgl. BVerfGE 56, 363 [382]; 61, 358 [372]; 103, 89 [107]). Die Abstammung wie die sozial-familiäre Verantwortungsgemeinschaft machen gleichermaßen den Gehalt von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aus. Beides in Deckung zu bringen, ist vom Gesetzgeber anzustreben. Fallen sie aber in der Wirklichkeit auseinander, gibt die Grundrechtsnorm keine starre Gewichtung dafür vor, wel-
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz
b) Keine Elternverantwortung
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ohne Elternschaft
Und umgekehrt erfüllt nicht jeder, dem unterverfassungsrechtliche Vorschriften Rechte und Pflichten in Bezug auf Pflege und Erziehung von Kindern zuweisen, schon allein dieser Einräumung wegen die Voraussetzung, Elternteil im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu sein. Anders gewendet: Wer - aus welchen Gründen auch immer - nicht Elternteil im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sein kann, genießt nicht die Elternrechtsstellung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, namentlich nicht den sogenannten Elternprimat, 3 0 mag ihm das Gesetzes- und das sonstige Unterverfassungsrecht auch noch so viele Berechtigungen in Bezug auf ein Kind einräumen. So genösse etwa eine juristische Person - sogar unbeschadet Art. 19 Abs. 3 GG - auch dann nicht den Schutz des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn ihr gesetzesrechtlich (etwa im Falle, dass das betreffende Kind Vollwaise ist) das Recht und die Pflicht zu Pflege und Erziehung von Kindern anvertraut würden; Eltern können eben nur natürliche Personen sein. Das heißt aber, dass die Feststellung, ob jemand Elternteil im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist (oder sein kann), ohne Rücksicht auf die - insoweit nachgelagerte - Feststellung zu treffen ist, ob dem Betreffenden auch die Elternverantwortung unverkürzt zugewiesen ist. Notwendige, wenn auch - wie gezeigt - nicht hinreichende Bedingung dafür, Träger der Elternverantwortung sein zu können, ist demnach, dass der ins Auge gefasste Träger Elternteil i m Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist. 3 1
chem der beiden Merkmale, die die Elternschaft ausmachen sollen, der Vorrang einzuräumen ist und bestimmt insoweit kein Rangverhältnis zwischen der biologischen und der sozialen Elternschaft. Vielmehr hat der Gesetzgeber bei der Entscheidung, wem das Kind in einem solchen Falle zuzuordnen ist, beide Interessen zu berücksichtigen und miteinander abzuwägen. Er kann dabei neben der Abstammung auch rechtlichen und sozialen Tatbeständen Bedeutung zumessen (vgl. BVerfGE 92, 158 [178])." - Entsprechende Differenzierungen bereits bei Coester-Waltjen, in: von M ü n c h / K u n i g (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Anm. 18), Art. 6 Rn. 75. - U m Missverständnisse zu vermeiden, wird hier die begriffliche Unterscheidung zwischen „Schutz" und „Trägerschaft" nicht aufgenommen (zumal häufig unter Trägerschaft just das personelle Moment verstanden wird); stattdessen wird vorliegend mit der Entgegensetzung von „Elternschaft" (personeller Schutzbereich respektive personelle Gewährleistung) und „Elternverantwortung" (materieller Schutzbereich respektive materielle Gewährleistung) operiert (terminologische Eindeutigkeit könnte auch mit den Zusätzen „Schutz von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ratione personae" und „Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ratione materiae" hergestellt werden). 30
Zum Elternvorrang oder auch Elternprimat vgl. stellvertretend Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 95 ff. m. w. N., s. ergänzend Rn. 42 ff. 31 Das bedeutet zugleich: Soweit Personen, die nicht Eltern i m Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind, also nicht in den personellen Schutzbereich des Elternrechts fallen, durch unterverfassungsrechtliche, insbesondere gesetzliche Bestimmungen Verantwortung für die Pflege und Erziehung von Kindern zugewiesen wird, hat sich diese Zuweisung vor der verfassungsverbürgten Rechtsposition der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG - dem Elternprimat - zu rechtfertigen.
Matthias Jestaedt
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III. „Träger des Elternrechts können nur eine Mutter und ein Vater sein"32 1. Elternschaft im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Der Verfassungstext spricht zur Umschreibung des personellen Schutzbereiches von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schlicht von „Eltern", ohne ausdrücklich zu definieren, welche und wie viele Personen Eltern(teil) eines Kindes sein können. Ohne dass die damit zusammenhängenden Fragen im vorgegebenen Rahmen auch nur annähernd erschöpfend geklärt werden könnten, seien im Folgenden einige dogmatische Strebepfeiler der Schutzbereichs-Konstruktion ratione personae benannt.
a) Biologisches, nicht soziales Geschlecht Das Grundgesetz setzt als „natürlich" voraus, dass Eltern eines Kindes dessen Mutter und dessen Vater sind 3 3 - und zwar allein dessen Mutter und dessen Vater. 3 4 Die Kennzeichnung als „Mutter" und als „Vater" bezieht sich, ungeachtet der weitergehenden Möglichkeit sogenannter rechtlicher Elternschaft, 35 auf die biologische Abstammung, also auf das - vom Sonderfall einer operativen Geschlechtsumwandlung abgesehen 36 - nicht fungible oder disponible biologische Geschlecht („sex") und nicht etwa auf das soziale, d. h. auf sozialer Zuschreibung beruhende und daher fungible und änderbare Geschlecht („gender") 3 7 . Anzeichen dafür, dass 32 Das unverkürzte Zitat lautet: „Träger des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG können für ein Kind nur eine Mutter und ein Vater sein" (BVerfGE 108, 82 [1011). So bereits zuvor Coester-Waltjen, in: von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Anm. 18), Art. 6 Rn. 75 unter Berufung auf den „Verfassungsgeber und den (zumindest heute noch herrschenden) allgemeinen Konsens".
33 Statt aller: BVerfGE 108, 82 (101 und öfter). 34 Bereits an dieser Stelle darf darauf hingewiesen werden, dass der geschlechtsneutrale Ausdruck „Elternteil" nicht eine gleichsam geschlechtslose Funktion bezeichnet; „Eltern" ist eben nur die zusammenfassende Bezeichnung von Mutter und Vater. Wenngleich das heutige Recht - anders als früher - nur mehr sehr wenige Regelungen kennt, in denen an das Geschlecht des Elternteils unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft (die prominenteste dürfte Art. 6 Abs. 4 GG sein), d. h. Mutter und Vater generell in gleicher Weise berechtigt und verpflichtet werden, darf daraus nicht vorschnell der Schluss gezogen werden, dass es bei der Elternschaft respektive bei der Elternverantwortung nicht auf das Geschlecht ankomme. 35 Dazu sogleich unter b). 36 Dazu nachfolgend 2.b)bb). 37 Vgl. zur verfassungsgerichtlichen Begriffsprägung des „so genannten biologischen" gegenüber dem sogenannten „rechtlichen Vater": BVerfGE 108,82 (82 [Leitsätze 1 und 2J, 99 ff.). - Zu den weiterreichenden, hier nicht relevanten Problemen, die aus einer Differenzierung des biologischen Geschlechts in das „personenstandsrechtlich bestimmte Geschlecht" (im Sinne des LPartG) und die „sexuelle Orientierung" (im Sinne des TranssexuellenG: dazu unten 2.b)bb)) resultieren: BVerfG, Beschluss vom 6. 12. 2005, 1 B v L 3 / Abs.-Nr. 46 ff., bes. 53.
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz
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der Parlamentarische Rat v o m v o r f i n d l i c h e n , bei der b i o l o g i s c h e n
Abstammung
seinen A u s g a n g n e h m e n d e n b ü r g e r l i c h r e c h t l i c h e n Verständnis v o n M u t t e r (§ 1591 B G B ) s o w i e Vater (§ 1592 B G B ) 3 8 hat a b w e i c h e n w o l l e n , lassen sich n i c h t finden. D i e s belegt auch das l e g i t i m a t i o n s s t i f t e n d e R e g e l u n g s i d e a l - der „ R e g e l f a l l " 3 9
-
der E l t e r n s c h a f t , w e l c h e s b z w . w e l c h e r d e m Verfassunggeber v o r s c h w e b t e : die Gem e i n s c h a f t v o n l e i b l i c h e r M u t t e r u n d l e i b l i c h e m Vater, die beide z u s a m m e n m i t i h r e m K i n d z u einer F a m i l i e v e r b u n d e n s i n d . 4 0 ' Mit
Blick
auf Adoptionen
in Beziehungen
41
(unter
biologischen
Auspizien)
g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e r L e b e n s p a r t n e r 4 2 ist d a m i t der W e g verschlossen, d e m e i n e n Partner einer g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e n L e b e n s - u n d E i n s t a n d s g e m e i n s c h a f t die Vateru n d pari passu d e m anderen Partner d i e M u t t e r r o l l e i m Sinne v o n A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G zuzuschreiben. A l s F o l g e p r o b l e m erhebt sich d i e Frage, o b beide Partner w e n i g s t e n s g l e i c h z e i t i g g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e E l t e r n t e i l e - d. h. beide M ü t t e r respektive beide Väter desselben K i n d e s - sein k ö n n e n .
b) Biologische
und rechtliche
Elternschaft
N e b e n den „ b i o l o g i s c h e n " 4 3 E l t e r n w e r d e n auch die ( n u r - ) „ r e c h t l i c h e n " E l t e r n v o m personellen S c h u t z b e r e i c h v o n A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G erfasst. D a r u n t e r s i n d 38
Dazu stellvertretend G. Brudermüller, 2005, Rn. 1 vor § 1591.
in: Palandt (Begr.), BGB, 54. Aufl., München
39 Begriff: BVerfGE 56, 363 (382); 61, 358 (372); 84, 168 (179). 40 Vgl. nur BVerfGE 31, 194 (205); 56, 363 (382); 61, 358 (372); 84, 168 (179); 92, 158 (176 f.); jüngst BVerfGE 108, 82 (100): „Der Elternbegriff umfasst nach dem Sprachgebrauch auch die leiblichen Eltern eines Kindes, unabhängig vom Familienstand der Eltern und der Enge der Beziehung zwischen ihnen und dem Kind (vgl. BVerfGE 92, 158 1177 f.]). Wenn Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vom natürlichen Recht der Eltern spricht, kommt hiermit einerseits zum Ausdruck, dass dieses Recht nicht vom Staat verliehen, sondern als vorgegebenes von ihm anerkannt ist (vgl. BVerfGE 59, 360 [376]). Andererseits verdeutlicht dies, dass diejenigen, die einem Kind das Leben geben, von Natur aus grundsätzlich bereit und berufen sind, die Verantwortung für seine Pflege und Erziehung zu übernehmen (vgl. BVerfGE 24, 119 1150])." - Das biologische Geschlecht ist also maßgebliche Bezugsgröße nicht nur für die Ehe als verschicdengeschlechtliche Lebens- und Einstandsgemeinschaft gemäß Art. 6 Abs. 1 GG (dazu zuletzt BVerfGE 105, 313 [342, 344]), sondern auch für die Elternschaft gemäß Art. 6 Abs. 2 GG. 41 Das BVerfG folgert daraus mit Recht, dass der Gesetzgeber gehalten ist, „die Zuweisung der elterlichen Rechtsposition an der Abstammung des Kindes auszurichten" (BVerfGE 108, 82 [100] unter Bezugnahme auf BVerfGE 79, 256 [267]). 42
Und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine gemeinsame oder um eine Stiefkindadoption handelt. 43 Die Begrifflichkeit, deren sich auch das BVerfG bedient (vgl. nur BVerfGE 108, 82 [Leitsatz 1, Satz 1] u.ö.), ist freilich ungenau und lädt zu Missverständnissen ein: Denn auch die „biologische" oder „leibliche" Elternschaft gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist eine rechtliche Elternschaft, ist es doch das Recht - nämlich Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG - , welches zur Bestimmung der Elternschaft den Rekurs auf die biologische Abstammung anordnet. Der Rechtscharakter, genauer: der Selbstand des Rechtsbegriffs, wird besonders deutlich bei der
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jene natürlichen Personen zu verstehen, die zu einem - biologisch nicht von ihnen abstammenden - Kind kraft individuellen rechtlichen Zuordnungsaktes eine exklusive und auf Dauer angelegte personenrechtliche Verbindung haben, die auf dessen (Kindes-)Wohl ausgerichtet ist und die die betreffenden Personen in den Stand setzt, die Belange des Kindes grundsätzlich umfassend, mit Ausschlusswirkung gegen Dritte und wie eigene wahrzunehmen. 44 Die nur-rechtliche Elternschaft ist der leiblichen Elternschaft nicht nur nachgeordnet - ihrer bedarf es erst, wenn „natürliche", sprich: leibliche Eltern(teile) durch Tod, Sorgerechtsentzug o.ä. ausfallen - , sondern auch nachgebildet: die (Leer-)Stelle der biologischen Abstammung nimmt hier ein rechtlicher Artefakt in Gestalt einer familienrechtlichen Zuordnungsentscheidung ein. De lege lata erfüllen ausschließlich Adoptiveltern die Voraussetzungen der nur-rechtlichen Elternschaft, die i m Adoptionsdekret nach § 1752 BGB ausgesprochen w i r d . 4 5 Von Verfassungs wegen existieren, wie der Fall der Stiefkindadoption bei bestehender Ehe belegt, keine Bedenken dagegen, dass der Vater „biologischer" Vater und die Mutter nur-rechtliche Mutter ist oder umgekehrt; unterschiedlich fundierte Elternschaften können also nebeneinander bestehen. Ein genereller Vorrang des leiblichen Elternteils vor dem annehmenden Elternteil ist verfassungsrechtlich nicht gefordert.
2. Elternverantwortung bei Eltern-Mehrzahl Allein unter Rekurs auf den personellen Gewährleistungsbereich von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG lässt sich die Frage nach der Verfassungskonformität einer Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft 46 nicht zureichend beantworten. Dazu bedarf es weitergehend einer Betrachtung der Gewährleistungsstrukturen ratione materiae.
a) Eltern in verschiedengeschlechtlicher
Zweierbeziehung
Bereits dem Wortlaut nach ordnet das Grundgesetz die Elternverantwortung ungeachtet des Umstandes, dass die Grundrechtsgewährleistung ein Individualrecht ist und jedem Elternteil einzeln zusteht 47 - „den Eltern [ . . . ] , also zwei PerElternschaft in Konstellationen moderner Fortpflanzungsmedizin; hier ist es allein am Recht, zu entscheiden, ob etwa die Ei- oder Samenspende oder auch die Funktion sogenannter Leihmutterschaft die Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmales „biologische Abstammung" oder auch „Leiblichkeit" erfüllt. 44 Vgl. zuvor bereits Jestaedt , in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 68, s. a. Rn. 83 f. 45 46
Im Ergebnis ganz herrschende Meinung; statt vieler BVerfGE 24, 119 (142 und 150).
Nota bene: mit der Rechtsfolge gleichberechtigter chem und adoptierendem Elternteil (vgl. oben Anm. 24).
Sorgerechtspositionen von leibli-
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz sonen gemeinsam"
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z u . 4 8 „ D a b e i lässt schon der U m s t a n d , dass e i n K i n d n u r v o n
e i n e m E l t e r n p a a r a b s t a m m e n k a n n , d a r a u f schließen, dass der Verfassungsgeber auch n u r e i n e m E l t e r n p a a r das E l t e r n r e c h t f ü r e i n K i n d hat z u w e i s e n w o l l e n . Das E l t e r n r e c h t basiert a u f dieser Z u o r d n u n g , d u r c h d i e es z u g l e i c h seine A u s r i c h t u n g erfährt: Es ist e i n R e c h t , das j e d e m E l t e r n t e i l zusteht, aber m i t d e m g l e i c h w e r t i g e n R e c h t des anderen E l t e r n t e i l s k o r r e s p o n d i e r t , u n d das sich a u f das K i n d bezieht, z u dessen W o h l es auszuüben i s t . " 4 9 Dass T r ä g e r des Elternrechts nach A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G f ü r e i n K i n d „ n u r eine M u t t e r u n d e i n V a t e r " sein k ö n n e n , 5 0 schließt w e d e r aus, dass M u t t e r u n d Vater j e f ü r sich - also e t w a i m F a l l e des Todes des anderen E l t e r n t e i l s - T r ä g e r der E l t e r n v e r a n t w o r t u n g sein k ö n n e n , n o c h , dass d i e E i g e n s c h a f t eines E l t e r n t e i l s m e h r als z w e i Personen z u k o m m e n k a n n ; so v e r h ä l t es sich n a m e n t l i c h bei der g e m e i n s a m e n oder auch der S t i e f k i n d a d o p t i o n bei E h e p a a r e n . 5 1 Stets ist aber v o 47 So BVerfGE 46, 47 (76); s. a. BVerfGE 99, 145 (164); 108, 82 (101); dazu eingehend Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 114 f. m. Nachw. aus der Judikatur des BVerfG. 48
Zitat: BVerfGE 92, 158 (177 - Hervorhebungen nicht im Original); entsprechend bereits BVerfGE 31, 194 (205); vgl. auch H. F. Zacher (Anm. 20), § 134 Rn. 62; P. Radura, in: Th. M a u n z / G . Dürig (Begr.), Grundgesetz, Stand: 45. Lieferung, München August 2005, Art. 6 Abs. 2, 3 (Bearbeitungsstand: 41. Lieferung Oktober 2002/44. Lieferung Februar 2005) Rn. 126 f. 49 Zitat: BVerfGE 108, 82 (101) unter Bezugnahme auf BVerfGE 75, 201 (218 f.); 99, 145 (164). 50 Vgl. das oben in Anm. 32 wiedergegebene Zitat aus BVerfGE 108, 82 (101). Das BVerfG hat diesen Satz zwar im Blick auf die Rechtsstellung des „leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters (so genannter biologischer Vater)" entwickelt (so BVerfGE 108, 82 [82 (Leitsatz 1, Satz 1)J). Aber der dort entwickelte Gedanke kann auch für die Stiefkindadoption im Rahmen einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft Geltung beanspruchen; die vom Senat angestellten Zusatzerwägungen sind ersichtlich der Sonderkonstellation geschuldet, in der „rechtliche" und „biologische" Vaterschaft infolge einer Vaterschaftsvermutung gemäß § 1592 Nrn. 1 und 2 BGB auseinanderfallen (dazu BVerfGE 108, 82 [102 f., 104 f.]); auch das vom Senat aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 G G abgeleitete „Gebot, möglichst eine Übereinstimmung von leiblicher und rechtlicher Elternschaft zu erreichen" (BVerfGE 108, 82 [104]), bezieht sich erkennbar auf das Dreipersonen-Verhältnis von ,Mutter - (biologischer) Vater (rechtlicher) Vater'. Die bei der Stiefkindadoption im Rahmen einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft gegebene Dreipersonen-Konstellation von leiblicher Mutter - Adoptivm u t t e r " - leiblicher Vater' (respektive ,leiblicher Vater - Adoptiv-„Vater" - leibliche Mutter') unterscheidet sich davon bereits insofern, als der jeweils gegengeschlechtliche Elternteil in die Adoption und damit den Rechtsstellungserwerb durch den annehmenden Lebenspartner eingewilligt hat (insofern unterscheidet sich diese Konstellation nicht von der Stiefkindadoption i m Rahmen einer Ehe). 51
Dazu näher unten b)aa). Vgl. vorerst nur Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 84 m. w. N.: Kein Verlust der Elterneigenschaft der leiblichen Eltern als Folge einer Adoption; damit numerische „Verdoppelung" der Eltern(teile) auf vier i m Falle der gemeinsamen Adoption eines Kindes, dessen leibliche Eltern noch leben. - I m Blick auf die Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin ist es auch vorstellbar, dass es zu mehreren leiblichen Müttern und /oder Vätern kommt (dazu näher Jestaedt, a. a. O., Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 7 6 - 8 1 ; im Anschluss daran Coester-Waltjen, in: von Münch [Hrsg.],
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rausgesetzt, dass mit Elternverantwortung begabte' " Eltern nur höchstens zwei und zwar verschiedengeschlechtliche Personen, nämlich Mutter und Vater, sein können. Können aber Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Mutter und Vater des Kindes nur in einer verschiedengeschlechtlichen Zweierverbindung sein, so erstreckt sich der mit dem Begriff der Eltern umschriebene Ensemble-Schutz des Grundgesetzes in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG weder auf eine Vater-Vater-Kind-Beziehung noch auf eine Mutter-Mutter-Kind-Beziehung, noch gar auf eine Beziehung des Kindes zu einer über zwei hinausgehenden Mehrzahl von „Eltern 4 '. 5 3 Grundrechtsdogmatisch dürfte der Rekurs auf den „Gehalt des Elternrechts" 5 4 der Argumentation mit „Wesen und Gestalt" der Ehe vergleichbar sein, die das Verfassungsgericht bemüht, um die durch Ehehindernisse verfügten Einschränkungen der Eheschließungsfreiheit zu rechtfertigen. 55 Denn in beiden Fällen sind es kraft der Institutsgarantie - der Ehe einerseits, der Elternverantwortung andererseits - gewährleistete Grundstrukturen, die die jeweiligen Individualrechtsverbürgungen einschränken: dort die Eheschließungsfreiheit, hier das Elternrecht, genauer: den Anspruch, die verfassungsrechtlich (zunächst) zugewiesene Elternverantwortung auch ausüben zu können.
b) Echte und scheinbare Sonderfalle Die Rechtsordnung kennt eine Reihe von Konstellationen, in denen die - auf ein bestimmtes Kind bezogene - Elterneigenschaft mehr als bloß einer Mutter und/ oder mehr als bloß einem Vater zukommt. Damit scheint die vorstehend entwickelte einschränkende Auslegung für die Zuweisung der Elternverantwortung im Widerstreit zu stehen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass - bis auf eine nicht analogiefähige Sonderkonstellation - in sämtlichen Mehr-Eltern-Konstellationen dem Gebot, dass Träger der Elternverantwortung für ein Kind jeweils nur eine Mutter und ein Vater sein kann, Rechnung getragen wird.
Grundgesetz-Kommentar [Anm. 18J, Art. 6 Rn. 72; Gröschner, in: Dreier [Hrsg.J, Grundgesetz [Anm. 15], Art. 6 Rn. 106; Robbers, in: von M a n g o l d t / K l e i n / S t a r c k [Hrsg.J, Kommentar zum Grundgesetz [Anm. 15], Art. 6 Abs. 2 Rn. 1 7 3 - 1 7 5 ; vgl. auch Badura, in: M a u n z / D ü r i g [Begr.], Grundgesetz [Anm. 48], Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 102). Da aber das (Verfassungs-)Recht mit der Abstammung oder auch Leiblichkeit auf ein biologisches, durch Rechtsnormen nicht (kausal) beeinflussbares Faktum rekurriert, beziehen sich nachfolgende Überlegungen nicht auf leibliche Elternteile. 52 Also unter Ausschluss jener Elternteile, denen die Elternverantwortung nicht mehr (oder nur noch nachrangig) zusteht wie etwa den leiblichen Eltern nach Einwilligung und Vollzug der Adoption ihres Kindes. 53
So bereits Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 67.
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BVerfGE 108, 82 (103); an anderer Stelle spricht der Senat von der „Vorstellung von elterlicher Verantwortung, die Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zugrunde liegt" (BVerfGE 108, 82 [102]). 55 Dazu BVerfGE 36, 146 (163); 105, 313 (344).
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aa) Mütter oder Väter im Plural Außer im Fall des Auseinanderfallens von „rechtlicher" und „biologischer" Vaterschaft 56 taucht eine „Mehrlingsvaterschaft" respektive eine „Mehrlingsmutterschaft" namentlich als Folge von (gemeinschaftlichen und Stiefkind-)Adoptionen auf: 5 7 Die Adoptiveltern werden Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und rücken auch einfachgesetzlich in die Stellung der leiblichen Eltern ein (vgl. besonders § 1754 sowie §§ 1755 ff. BGB). Die leiblichen Eltern verlieren durch das Wirksamwerden der Adoption mit dem Ausspruch des Vormundschaftsgerichts (§ 1752 Abs. 2 BGB) zwar ihre bisherige einfachgesetzliche Stellung (vgl. § 1755 BGB); sie büßen aber nicht die - durch die biologische Abstammung begründete Eigenschaft als Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein. 5 8 Darüber hinaus bewahrt ihnen das Gesetzesrecht eine Art Reservestellung in Bezug auf das Kind, die bei Aufhebung der Adoption wieder zur Vollrechtsposition erstarken kann (vgl. § 1764 Abs. 3 und bes. 4 BGB, s. a. § 1763 Abs. 3 Buchst, a BGB). Diejenigen, von denen das Kind abstammt, bleiben also auch nach Adoption ihres Kindes durch andere Personen Eltern, so dass das betreffende Kind nach der gemeinschaftlichen Adoption, soweit die leiblichen Eltern des Kindes noch beide leben, tatsächlich zwei Mütter und zwei Väter hat; bei der Stiefkindadoption hat das Kind entweder neben einer Mutter zwei Väter oder aber zwei Mütter und einen Vater. Die „Doppelung" der Mutter- respektive der Vaterstellung ist ausschließlich Folge des Umstandes, dass Elternschaft nach dem Grundgesetz auf zwei Wegen begründet werden kann: durch Abstammung und durch Adoption. A u f diese „Doppelung" der Mutterrolle und/oder der Vaterrolle reagiert die Rechtsordnung - entsprechend dem Satz, dass die Elternverantwortung für ein Kind nur (maximal) einer Mutter und (maximal) einem Vater zustehen könne - dergestalt, dass sie kongruente Elternrechtsstellungen nur zwischen Mutter und Vater, aber niemals zwischen den Müttern oder zwischen den Vätern eines Kindes zulässt; zwischen letzteren findet stets eine Teilung der Elternverantwortung statt, bei der der einen Mutter (dem einen Vater) 5 9 (nahezu) sämtliche Rechtspositionen zugewiesen und der anderen Mutter (dem anderen Vater) 6 0 (nahezu) sämtliche RechtsZur Konstellation von „Vaterschaftsvermutung" und „Scheinvaterschaft" eingehend BVerfGE 108, 82 (99 ff.). 57 Eine - einfachrechtlich unerwünschte - Häufung von Vätern respektive Müttern kann auch als Folge des Einsatzes fortpflanzungsmedizinischer Techniken (Ei- und Samenspende sowie sogenannte Leihmutterschaft) auftreten; dazu vorstehend Anm. 51. 58 Näher dazu Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 83 f., bes. 84 m. w. N. Coester-Waltjen, in: von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Anm. 18), Art. 6 Rn. Rn. 75, spricht insoweit unter Bezugnahme auf BVerfGE 24, 119 (150) von einer Überlagerung der Rechtsstellung der leiblichen Eltern infolge der Adoption ihres Kindes durch andere. Anderer Ansicht aber wohl Sachs, Verfassungsrecht I I (Anm. 20), S. 333 f., dem zufolge die bisherigen Eltern ihr verfassungsrechtliches Elternrecht verlieren.
59 Typischerweise handelt es sich dabei um den adoptierenden Elternteil. 60
Typischerweise handelt es sich dabei um den in die Adoption einwilligenden leiblichen Elternteil.
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Positionen aberkannt werden 6 1 . Man könnte auch formulieren: Inhalt und Maß der Elternverantwortung sind bezogen auf die Eltern, d. h. Mutter und Vater eines Kindes, kongruent (oder auch parallel) 6 2 ausgestaltet, 63 bezogen auf gleichgeschlechtliche Elternteile hingegen komplementär; zwei gleichgeschlechtliche Elternteile bilden eben gemeinsam nicht „die Eltern" im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Um diese rechtliche Struktur auch sprachlich angemessen zum Ausdruck zu bringen, bietet sich folgende Terminologie an: Elternverantwortung als die kindbezogene Verantwortung der Eltern setzt sich zusammen aus der Mutter- und aus der Vaterverantwortung. Beide beinhalten zwar sachlich-gegenständlich grundsätzlich identische Gewährleistungen (ratione materiae), sie unterscheiden sich aber in Bezug auf die möglichen Rechtssubjekte (ratione personae). Das Grundgesetz hält eben in Art. 6 Abs. 2 GG nicht zwei in jeder Hinsicht identische Rechtspositionen namens Elternrechtsstellung bereit, sondern jeweils eine Mutterrechtsstellung und eine Vaterrechtsstellung. In die Mutterrechtsstellung kann nur eine Mutter, also ein weiblicher Elternteil, ein- und folglich auch nachrücken und in die Vaterrechtsstellung nur ein Vater, also ein männlicher Elternteil. Pointiert: Während es verfassungsrechtlich keinen Bedenken begegnet, dass sich zwischen gleichgeschlechtlichen Elternteilen ein Wechsel in der Elternrechtsstellung - der Elternverantwortung - vollzieht 6 4 , stellt sich die Verfassung einem „crossover"-Wechsel, also dem Wechsel der Elternrechtsstellung zwischen verschiedengt schlechtlichen Elternteilen in den Weg. Eine „Substitution" in der Person des Vaters oder in der Person der Mutter ist vorgesehen; eine „Substitution" darüber hinaus auch im Geschlecht des betreffenden Elternteils kennt das Elternrecht hingegen nicht, denn die Elternrechtsposition ist - was namentlich im Zusammenspiel der Eltern deutlich hervortritt - geschlechtsgebunden.
bb) Elternschaft bei Geschlechtswechsel Den, soweit ersichtlich, einzigen echten Ausnahmefall, in dem zwei gleichgeschlechtliche Elternteile als Elternpaar mit grundsätzlich kongruenter Elternverantwortung fungieren, bildet - allenfalls - die Konstellation, in der sich ein leiblicher Elternteil einer Geschlechtswandlung unterzieht. Doch selbst wenn und so61 Zum Verhältnis von „rechtlichem" und „biologischem" Vater vgl. eingehend BVerfGE 108, 82 (105 ff., bes. 107 ff.). 62
Diese Kongruenz gilt selbstredend vorbehaltlich inkongruenter Einschränkungen aus Gründen des Kindeswohls (Wächteramtskonstellation) oder aus Gründen der konfligierenden Elternrechtsstellung des anderen Elternteils (Schlichteramtskonstellation); vgl. auch BVerfGE 107, 150(169). « Vgl. nochmals Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.). HStR V I (Anm. 20), § 134 Rn. 62; Badura, in: M a u n z / D ü r i g (Begr.), Grundgesetz (Anm. 48), Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 126 f. zur elternrechtlichen Gleich-Berechtigung. 64
Also beispielsweise der nicht-leibliche (Adoptiv-)Vater den leiblichen Vater in der Elternrechtsstellung „ersetzt".
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz
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weit man der Auffassung folgen wollte, dass zwei gleichgeschlechtliche Personen die - dann j a gleichgeschlechtlichen - „Eltern" des gemeinsamen Kindes gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG bilde(te)n, könnte daraus nichts Verwertbares für die Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften geschlossen werden. Dafür ist zunächst erforderlich, dass - wofür gute verfassungsrechtliche Gründe streiten - Folge einer Geschlechtsumwandlung weder der Verlust der Elternschaft noch die Einbuße der Elternverantwortung ist; des Weiteren ist vorausgesetzt, dass sich mit dem persönlichen Geschlecht auch das „elterliche" Geschlecht ändert. 65 Denn nur in dem Falle, dass mit der Feststellung der geänderten Geschlechtszugehörigkeit sich auch das „elterliche" Geschlecht änderte, hätte man es tatsächlich ausnahmsweise mit zwei gleichgeschlechtlichen Elternteilen zu tun, die, erstens, gemeinsam „die Eltern" im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG bildeten und, zweitens, sachlich-inhaltlich kongruente Elternrechtsstellungen innehätten. Selbst wenn man dieser Deutung der Verfassungsrechtslage für den Fall der Geschlechtsumwandlung den Vorzug geben wollte, ließe sich darauf nicht der Schluss stützen, dass kongruente „Mehrlingsvater-" respektive „Mehrlingsmutterrechtsstellungen" bei Stiefkindadoptionen sich in gleicher Weise vor oder sogar mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG rechtfertigen ließen. 6 6 Denn die Konstellation der Geschlechtsumwandlung bei einem Elternteil ist gegenüber sonstigen Eltern-Konstellationen durch - mindestens - drei Besonderheiten gekennzeichnet, die die Übertragung von Begründungen und Ergebnissen auf andere Fallgruppen ausschließt und sie als einen Solitär erscheinen lässt: - Zunächst fällt ins Auge, dass bei der Geschlechtsumwandlung - anders als bei allen anderen Fallgestaltungen - kein neuer Elternteil hinzutritt; der Wechsel, der eintritt, ist nicht ein solcher in der Person des Elternteils, sondern ein solcher im Geschlecht des Elternteils. Es handelt sich folglich gar nicht um eine Konstellation, in der mehr als zwei Elternteile existieren. - Ein weiterer Unterschied ist darin zu erblicken, dass es hier - anders als bei allen anderen Fallgestaltungen - nicht um die Frage geht, ob das „falsche" Geschlecht einen Hinderungsgrund für den Erwerb (der Elterneigenschaft bzw.) der Elternrechtsstellung darstellt oder nicht. Hier geht es vielmehr um die 65 Denn behielte, um ein Beispiel zu nennen, der Vater eines Kindes trotz (Feststellung der) Umwandlung in eine Frau im Sinne des Transsexuellengesetzes seine Vaterrolle, so mangelte es ebenfalls an zwei Elternteilen, deren „elterliches" Geschlecht identisch wäre; für diese Deutung spricht immerhin § 11 Satz 1 des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz), wonach die Entscheidung, dass ein Elternteil als dem anderen - persönlichen - Geschlecht zugehörig anzusehen ist, das Rechtsverhältnis zwischen ihm und seinen Eltern sowie zwischen ihm und seinen Kindern unberührt lässt. 66 Bezeichnenderweise enthält § 11 Satz 1 Transsexuellengesetz denn auch den Vorbehalt, dass die Unberührtheit des Eltern-Kind-Verhältnisses im Blick auf Adoptivkinder nur gilt, „soweit diese vor Rechtskraft der Entscheidung als Kind angenommen worden sind".
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g l e i c h s a m u m g e k e h r t e Frage, o b n ä m l i c h der G e s c h l e c h t s w e c h s e l e i n e n G r u n d f ü r das Erlöschen
der E l t e r n e i g e n s c h a f t b z w . der E l t e r n r e c h t s s t e l l u n g abzugeben
v e r m a g ; aus d e m E r w e r b s h i n d e r u n g s g r u n d w i r d m a n k a u m ipso iure a u f einen E r l ö s c h e n s g r u n d schließen dürfen. -
S c h l i e ß l i c h beruht die E l t e r n e i g e n s c h a f t hier ( z u m i n d e s t u r s p r ü n g l i c h ) a u f der A b s t a m m u n g . Dieses F a k t u m geht auch d u r c h die U m w a n d l u n g der E l t e r n rechtsstellung n i c h t verloren: der transsexuell veranlagte Vater m a g z w a r zur Frau u n d z u r M u t t e r m u t i e r e n , er b l e i b t ungeachtet dessen leiblicher
Elternteil.
IV. Elternprimat und Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften D a i m Falle einer S t i e f k i n d a d o p t i o n i n g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e n
Lebenspartner-
schaften e i n ( l e i b l i c h e r ) E l t e r n t e i l des Geschlechts, d e m auch der adoptierende L e benspartner z u g e h ö r t , v o r h a n d e n ist, k a n n dieser n i c h t die - d u r c h j e n e n g l e i c h s a m „ b l o c k i e r t e " - E l t e r n r e c h t s s t e l l u n g e i n n e h m e n . 6 7 G a n z i m G e g e n t e i l hat der Gesetzgeber
sicherzustellen,
dass
der
elternprimatbegabte
Erziehungsberechtigte
f r e i 6 8 u n d ungestört d u r c h D r i t t e über die Pflege u n d E r z i e h u n g seiner K i n d e r entscheiden k a n n . 6 9 V o n Verfassungs w e g e n ist also das V e r h ä l t n i s der E l t e r n zu K i n d u n d D r i t t e n so auszugestalten, dass D r i t t e n u r m i t d e m W i l l e n des Elternrechtsbegabten a u f deren K i n d e r e i n w i r k e n d ü r f e n . 7 0 67
Die Situation stellt sich in Bezug auf eine - derzeit einfachgesetzlich noch nicht vorgesehene, von manchen aber angestrebte - gemeinsame Adoption eines Kindes durch gleichgeschlechtliche Lebenspartner etwas anders dar: Nehmen diese das Kind gleichzeitig an, so tritt die im Text genannte Sperrwirkung zwar nicht dadurch ein, dass ein elternrechtsbegabter Partner bereits vorhanden wäre; im Ergebnis können aber auch hier wegen der der Elternverantwortung immanenten Teleologie nicht beide Annehmenden Elternteile gleichen Geschlechts werden. Das bedeutet indes auch hier nicht, dass eine gemeinsame Adoption durch gleichgeschlechtliche Partner per se von Verfassungs wegen ausgeschlossen wäre. W i l l der Gesetzgeber, da er schon nicht beiden Adoptionswilligen die Elternverantwortung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zuordnen darf, wenigstens einem der beiden Partner die Elternrechtsstellung zuweisen, so hat er gesetzesrechtliche Mechanismen bereitzustellen, die die Entscheidung, wer von beiden Lebenspartnern diese Stellung einnehmen soll, kindeswohlund elternrechtsgerecht strukturieren. Vorrangig hat er dabei den Willen der beiden Lebenspartner zu berücksichtigen; nur für den Fall, dass sich die Lebenspartner nicht einigen können oder dass das Kindeswohl es erheischt, darf (und muss) der Gesetzgeber dem Vormundschaftsgericht die Entscheidung zuweisen. 68
Genauer: frei bis zur vom sogenannten Wächteramt nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gezogenen Grenze des Kindeswohlbeeinträchtigung Dazu BVerfGE 84, 168 (180); 105, 313 (354); eingehend Jestaedt, in: Bonner Kommentar (Anm. 1), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 12 ff. und 97 m. w. N.; Coester-Waltjen, in: von Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (Anm. 18), Art. 6 Rn. 59 und 78; vgl. überdies Badura, in: M a u n z / D ü r i g (Begr.), Grundgesetz (Anm. 48), Art. 6 Abs. 2, 3 Rn. 97 f. u.ö.; Robbers, in: von M a n g o l d t / K l e i n / S t a r c k (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz (Anm. 15), Art. 6 Abs. 2 Rn. 190.
Elternschaft und Elternverantwortung unter dem Grundgesetz
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D e m hat der Gesetzgeber des L P a r t Ü b a r b G indes, i n d e m er d e m ( S t i e f - ) A d o p t i v - „ E l t e r n t e i r nach I n h a l t , A r t u n d A u s m a ß g r u n d s ä t z l i c h dieselbe R e c h t s s t e l l u n g d e m K i n d u n d D r i t t e n gegenüber e i n r ä u m t w i e d e m anderen Lebenspartner, der l e i b l i c h e r E l t e r n t e i l des K i n d e s ist, n i c h t R e c h u n g getragen: W e i l j e n e r - auch nach der A d o p t i o n - i m Sinne des E l t e r n v o r r a n g s D r i t t e r b l e i b t , hätte i h m l e d i g l i c h eine v o m E l t e r n r e c h t des sorgeberechtigten l e i b l i c h e n E l t e r n t e i l s abgeleitete, also a u f dessen W i l l e n beruhende R e c h t s s t e l l u n g i n B e z u g a u f Pflege u n d E r z i e h u n g des g e m e i n s a m betreuten K i n d e s z u g e w i e s e n w e r d e n d ü r f e n . 7 1 , 7 2 D a r a n ändert sich auch nichts d a d u r c h , dass nach §§ 1747, 1751 A b s . 1 u n d 2 B G B f ü r eine S t i e f k i n d a d o p t i o n - unter anderem - d i e E i n w i l l i g u n g des i n Lebenspartnerschaft lebenden l e i b l i c h e n E l t e r n t e i l s e r f o r d e r l i c h ist. D e n n diese bezieht sich l e d i g l i c h darauf, dass eine w e i t e r e Person als M i t e r z i e h e r i n d e n K r e i s der Sorgeberechtigten a u f g e n o m m e n w i r d , n i c h t aber a u f den Verlust der eigenen E l ternrechtsstellung oder auch n u r a u f d i e A u f g a b e des zugunsten der e i g e n e n E l t e r n s t e l l u n g streitenden Pflege- u n d E r z i e h u n g s v o r r a n g s v o r allen M i t e r z i e h e r n ; d e m M i t e r z i e h e r gegenüber, der n i c h t d e n Schutz des E l t e r n g r u n d r e c h t s genießt, muss sich der l e i b l i c h e E l t e r n t e i l selbstredend ( w e i t e r h i n ) a u f d e n i n A r t . 6 A b s . 2 Satz 1 G G g r ü n d e n d e n E l t e r n p r i m a t berufen k ö n n e n . 7 3
70 Statt aller BVerfGE 107, 150(169). 71 Ein Beispiel dafür bildet das durch § 9 Abs. 1 (bis 4) LPartG (vgl. auch den zeitgleich zugunsten des Ehegatten eines alleinsorgeberechtigen Elternteils eingeführten § 1687b BGB) eingeführte sogenannte „kleine Sorgerecht" (dazu BVerfGE 105, 313 [ 3 5 3 - 3 5 5 ] im Blick auf das Elternrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils; auch und gerade unter verfassungsrechtlichen Auspizien äußert Bedenken gegen die derzeitige Ausgestaltung des „kleinen Sorgerechts": 77z. Rauscher, Familienrecht, Tübingen 2001, Rn. 1135). 72 Ausschließlich wegen eines Verstoßes gegen den Elternprimat ist die derzeitige Ausgestaltung der Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften verfassungswidrig, nicht hingegen wegen eines bisweilen angenommen - generellen - Verstoßes gegen das Kindeswohl. Eine Stiefkindadoption i m Rahmen einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft ist - wie jede andere Adoption auch - im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. I Abs. 1 GG (s. a. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) nur unter der Voraussetzung zulässig, dass sie dem Wohl des Kindes dient und zu erwarten steht, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein faktisches oder auch „soziales" Eltern-Kind-Verhältnis entsteht (vgl. § 1741 Abs. 1 Satz 1 BGB). Das heißt, dass angesichts dieser in jedem einzelnen Adoptionsfall vom Vormundschaftsgericht gesondert zu prüfenden Voraussetzungen eine Annahme als Kind ausnahmslos ausscheidet, bei der es nicht um die Sicherung des Kindeswohls, sondern etwa um die Anerkennung einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft als (mit der Ehe) gleichberechtigt oder aber den Wunsch der Lebenspartner nach Festigung ihrer Erwachsenenbeziehung geht. Häufiger als bei angestrebten gemeinsamen Adoptionen dürfte bei angestrebten Stiefkindadoptionen - und zwar nicht nur, aber auch und gerade bei solchen in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften - der Wunsch nach einer Adoption stärker in der (neuen) Verbindung denn im Kindeswohl wurzeln (gleichsinnig etwa K. Muscheler, Das Recht der Eingetragenen Lebenspartnerschaft, 2. Aufl. Berlin 2004, Rn. 658, der zudem mit Recht darauf hinweist, dass die Adoption auch bei späterem Scheitern der Erwachsenenbeziehung nicht auflösbar ist). Daraufhaben die Vormundschaftsgerichte bei ihrer an § 1741 BGB ausgerichteten Entscheidung streng zu achten. 7 FS Bartlsperger
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V. Schluss N e u auftretende „ m u l t i p l e E l t e r n s c h a f t e n " 7 4 stellen d i e D o g m a t i k des E l t e r n rechts v o r b i s l a n g u n g e k a n n t e Herausforderungen. Z u deren B e w ä l t i g u n g w e r d e n (Verfassungs-)Rechtsprechung u n d W i s s e n s c h a f t m e h r d e n n bisher s o w o h l d i e U n t e r s c h e i d u n g u n d das Z u s a m m e n s p i e l v o n verfassungsrechtlicher u n d e i n f a c h r e c h t l i c h e r E l t e r n r e c h t s s t e l l u n g als auch d i e U n t e r s c h e i d u n g u n d das Z u s a m m e n s p i e l v o n Elternschaft u n d E l t e r n v e r a n t w o r t u n g i m Sinne v o n A r t . 6 A b s . 2 G G i n den M i t t e l p u n k t i h r e r R e f l e x i o n e n zu r ü c k e n haben.
73 Zur Klarstellung sei hinzugefügt, dass die Elternrechtsposition des anderen leiblichen Elternteils - am Beispiel einer Lebenspartnerschaft zwischen zwei Frauen: des leiblichen Vaters des Kindes - schon deswegen nicht verletzt ist, weil er in die Adoption seines Kindes durch Dritte und damit in den Verlust der eigenen Elternrechtsstellung eingewilligt hat (vgl. § 1747 und § 1751 Abs. 1 B G B ; war er überdies auch nicht sorgeberechtigt, so scheidet bereits aus diesem Grunde eine Elternrechtsverletzung aus; dazu BVerfGE 105, 313 [354J: „Fehlt ihm das Sorgerecht, kann ein Elternteil in seinen Rechten nicht mehr berührt werden, wenn Dritte, die mit dem Kind zusammenleben, im Einverständnis mit dem allein Sorgeberechtigten teilweise gemeinsam Elternverantwortung wahrnehmen."). Die verfassungsrechtliche Lage ist in Bezug auf diesen Elternteil keine andere als bei jeder anderen Adoptionskonstellation auch: Derjenige, der darin einwilligt, seine Elternrechtsstellung zugunsten der Adoptiveltern aufzugeben, kann sich mit Wirksamwerden der Adoption nicht mehr auf seine Elternrechtsposition aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 G G berufen (s. aber oben bei und in Anm. 58). Dadurch unterscheidet sich dessen Rechtsstellung von der Rechtsstellung jenes Elternteils, dessen Partner (Ehegatte oder Lebenspartner) i m Falle der Stiefkindadoption dessen Kind annimmt. 74 Wendung: Dethlojf (Anm. 13), 196 unter Bezugnahme auf J. Baer/H. Paulitz, in: H. Paulitz (Gesamtred.), Adoption: Positionen, Impulse, Perspektiven, München 2000, S. 109 (112 ff.).
Die Verschärfung des Versammlungsrechts Von Jürgen Kohl, Karlsruhe
Einleitung Durch die Zunahme rechtsextremistischer Aufmärsche und der hemmungslosen Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts, nicht zuletzt nach dem Scheitern des von der Bundesregierung gestellten Verbotsantrags 1 , sehen sich die politisch Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen zunehmend der Notwendigkeit ausgesetzt, wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der so genannten „braunen Flut" zu ergreifen. Dabei hat nicht zuletzt die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 2 , die insbesondere bei jüdischen Organisationen immer wieder Anlass zu heftiger Kritik gegeben hat, 3 den Gesetzgeber veranlasst, das Versammlungsrecht durch das Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches vom 24. 03. 2005 4 zu verschärfen. Ob dies gelungen ist und die neuen Regelungen verfassungsrechtlich Bestand haben werden, soll deshalb nachfolgend einer kritischen Würdigungen unterzogen werden. Hierfür ist zunächst auf die bisherige Rechtslage in ihrer Anwendung durch die Verwaltungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht einzugehen.
I. Die Rechtslage vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes Nach § 1 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes hat jedermann das Recht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Dieses Recht hat nicht, 1. wer das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 18 des Grundgesetzes verwirkt hat,
• BVerfG, Beschl. v. 18. 03. 2003, N V w Z 2003, 1248. 2 BVerfG, Kammerbeschi. v. 24. 03. 2001, NJW 2001, 2069; Beschl. v. 04. 07. 2001, NJW 2001, 2072 u. Kammerbeschi. v. 12. 04. 2001, NJW 2001, 2075. 3
Z. B. bei der Gedenkfeier in Ausschwitz zum 60. Jahrestag der Befreiung.
4 BGBl. I S. 969. 7*
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2. wer mit der Durchführung oder Teilnahme an einer solchen Veranstaltung die Ziele einer nach Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei oder Teil- oder Ersatzorganisation einer Partei fördern will, 3. eine Partei, die nach Art. 21 Abs. 3 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist, oder 4. eine Vereinigung, die nach Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes verboten ist. Diese Regelung trägt der in Art. 8 Abs. 1 des GG verfassungsrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit Rechnung und versagt sie solchen Personen, Parteien und Vereinigungen, die das Grundrecht verwirkt haben oder die verboten worden sind. Entsprechend den Grundgedanken unserer wehrhaften bzw. streitbaren Demokratie, wie sie in den oben genannten Bestimmungen des Grundgesetzes ihren Niederschlag gefunden haben, ist ein Verlust der Versammlungsfreiheit jedoch nur möglich, wenn der Einzelne, die Partei oder die Vereinigung die Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbrauchen. Die verfassungsrechtlichen Hürden für eine Verwirkung der Grundrechte nach Art. 18 GG bzw. ein Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG sind bekanntermaßen hoch und konnten bisher extremistische Aufmärsche und die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts nicht wirksam verhindern. Zwar sieht § 15 Abs. 1 VersG vor, dass die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen kann, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist, die Auslegung und Anwendung gerade des Begriffs der öffentlichen Ordnung hat aber in der verwaltungsgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Praxis zu kontroversen Meinungen und Auffassungen geführt. 5 Während bei der Anwendung des Tatbestandsmerkmals der unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit weitgehend Übereinstimmung in Rechtsprechung und Literatur besteht, gehen die Auffassungen bei der unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung i m Hinblick auf die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts stark auseinander. 6
5 Siehe U. Battis/K. J. Grigoleit, NJW 2001, 2051; ders. NJW 2004, 3459; Ο. Dörr, Verwaltungsarchiv 93 (2002), 485; A. Roth, VB1BW 2003, 41; U. Rühl, N V w Z 2003, 531; M. Kniesel/R. Poscher, NJW 2004, 422. 6 Siehe D. Wiefelspütz, KritV 2002,19; Rühl (Anm. 5), N V w Z 2003, 531; Roth (Anm. 5), VB1BW 2003, 41 f.; Battis/Grigoleit (Anm. 5), NJW 2004, 3459; D. Wege, N V w Z 2005, 900.
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1. Die Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen In mehreren Entscheidungen 7 hat das O V G Nordrhein-Westfalen die Auffassung vertreten, dass der in § 15 VersG verwandte Begriff der öffentlichen Ordnung, der in Art. 13 Abs. 7 GG und Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG eine verfassungsrechtliche Verankerung erfahren hat, die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit umfasst, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten Zusammenlebens betrachtet wird. Dabei würden die jeweils herrschenden Anschauungen vor allem geprägt durch die Wertmaßstäbe des Grundgesetzes, zu denen insbesondere der Gedanke der Völkerverständigung und die Menschwürde gehöre, die als höchster Wert und oberstes Verfassungsprinzip im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Ordnung stehe und in dieser Eigenschaft nicht nur Bedeutung für die Auslegung der übrigen Verfassungsbestimmungen habe, sondern auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahle. Zu den prägenden Wertmaßstäben würden ferner die in Art. 20 niedergelegten verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien der Demokratie, des Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit zählen. Sie gehörten nach Art. 97 Abs. 3 GG zum unabänderlichen Kernbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. In ihnen manifestiere sich zugleich die nachdrückliche Absage an jegliche Form von Totalitarismus, Rassenideologie und Willkür, wie sie für das auf Führer und Gefolgschaft gründende, von Rechtlosigkeit und Missachtung der Menschenwürde geprägte nationalsozialistische Unrechtsregime kennzeichnend gewesen sei. M i t dieser grundgesetzlichen Konzeption seien nazistische Grundgedanken von vorneherein unvereinbar. Eine Ideologie, die auf Rassismus, Kollektivismus und dem Prinzip von Führung und unbedingtem Gehorsam aufbaue, lasse sich unter dem Grundgesetz nicht - auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts - legitimieren. Diesen verfassungsimmanenten Beschränkungen demonstrativer Äußerungen nazistischer Inhalte im obigen Sinne müsse daher bei der Auslegung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 GG und der dortigen Grundrechtsschranken - auch unterhalb der Schwelle verfassungsgerichtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG und Art. 18 Satz 2 GG - von Verfassungs wegen Rechung getragen werden. Dies lege den Schluss nahe, dass Versammlungen, die den oben dargelegten Maßstäben zuwider liefen, schon Kraft verfassungsimmanenter Schranken vom Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 GG ausgenommen seien. Jedenfalls müsse der auf Abwehr nationalsozialistischer Bestrebungen gerichteten grundgesetzlichen Wertordnung zumindest bei der Auslegung und der Definition des Anwendungsbereichs der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 15 VersG die verfassungsrechtlich gebotene Geltung verschafft werden. Die solchermaßen konkretisierte öffentliche Ordnung werde durch Bestrebungen unmittelbar gefährdet, die die nationalsozialisti7 O V G Münster, Beschl. v. 23. 03. 2001, 2111, Beschl. v. 12. 04. 2001, NJW 2001, 2113 u. Beschl. v. 30. 04. 2001, NJW 2001, 2114.
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sehe Diktatur und ihre führenden Vertreter und Symbolfiguren verherrlichen oder verharmlosen, auch wenn damit die Schwelle der Strafbarkeit im Einzelnen noch nicht erreicht sein möge. Diese Voraussetzungen seien erfüllt, wenn eine Versammlung erkennbar ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus beinhalte und damit all jenen grundgesetzlichen Wertvorstellungen zuwider laufe, die Ausdruck einer Abkehr vom Nationalsozialismus seien. Diese Rechtsprechung ist nicht nur auf die bislang ungeschmälerte Ablehnung durch das Bundesverfassungsgericht 8 gestoßen, sondern hat auch in der Literatur 9 überwiegende Ablehnung erfahren. Zu Recht weist R ü h l 1 0 daraufhin, dass sich den geltenden Rechtsvorschriften kein „Sonderrecht gegen Rechts" entnehmen lässt. Nicht zuletzt aus diesem Grunde waren die Rechtsschutzanträge rechter Organisationen und Parteien häufig erfolgreich, 11 was wiederum zu Unmut aller aufrechten Demokraten, insbesondere in Form von zahlenmäßig weit überlegenen Gegendemonstrationen 12 geführt hat, mit der Folge, dass die meist kleine Gruppe von Rechtsextremisten häufig faktisch am „Weitermarsch" gehindert war und unverrichteter Dinge wieder nach Hause fuhr. 1 3 Vereinzelten Schadensersatzklagen hat die Rechsprechung, soweit ersichtlich, bislang eine Abfuhr erteilt. 1 4
2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht ist der o.g. Rechtsprechung des O V G Münster bisher in mehreren Entscheidungen 15 vehement entgegengetreten. In den genannten Entscheidungen hat das Verfassungsgericht (allerdings nur in Kammerentscheidungen) 1 6 zwar angenommen, dass § 15 Abs. 1 VersG auch die öffentliche Ordnung als Schranke der Versammlungsfreiheit anerkenne, eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung rechtfertige aber im Allgemeinen ein Versammlungsverbot nicht. Eine verfassungskonforme Gesetzanwendung müsse sicherstellen, dass Verbote von Versammlungen im Wesentlichen nur zur Abwehr von Gefahren für elementare Rechtsgüter in Betracht kämen. Dieser Schutz würde regelmäßig in der positiven Rechtsordnung und damit im Rahmen des Schutzes der Öffentlichen Sicherheit verwirklicht. Der Maßstab zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Maß8
Dazu unten.
9 Siehe Dörr (Anm. 5), 498; Wiefelspütz. (Anm. 6); F. Fechner, JuS 2003, 734, Kniesel/ Poscher (Anm. 5), 428; Rühl (Anm. 5), 531 ff. 10 Rühl (Anm. 5), 537. ι· Siehe W. Hoffmann-Riem, 12
NJW 2004, 2777.
Hierzu aufschlussreich Roth (Anm. 5), 47 ff.
13 Siehe Mannheimer Morgen v.3.5. 2001 S. 17. 14 Siehe L G Leipzig, N V w Z 2001,469. 15 BVerfG, Kammerbeschi. v. 24. 03. 2001, NJW 2001, 2069; Beschl. v. 04. 07. 2001, NJW 2001, 2072 u. Kammerbeschi. v. 12. 04. 2001, NJW 2001, 2075. 16 Kritisch hierzu E. Benda, NJW 2001, 2947; Battis/Grigoleit
(Anm. 5), 2051 (2054).
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nahmen, die darauf zielen, den Inhalt von Meinungsäußerungen zu beschränken, ergebe sich aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit, nicht aus dem der Versammlungsfreiheit. Zur Abwehr entsprechender Rechtsverletzungen seien besondere Straftatbestände geschaffen worden. Darüber hinaus quasi jenseits der Straftatbestände seien Meinungsäußerungen, auch wenn sie von der Mehrheit nicht geteilt würden, nicht zu verhindern. Eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit komme allenfalls in Betracht, wenn von der Art des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens der Versammlungsteilnehmer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgehe, etwa wenn aufgrund provokativer oder sonstiger aggressiver Verhaltensweisen ein Einschüchterungseffekt sowie ein Klima der Gewaltdemonstration und potentiellen Gewaltbereitschaft erzeugt werde. Diesen Verhaltensweisen könne aber in der Regel durch entsprechende Auflagen begegnet werden. A n dieser Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht auch in späteren Entscheidungen 17 festgehalten und damit in der Literatur vielfältige Kritik erfahren. 18 Die Rechtsprechung der ersten Kammer des Bundesverfassungsgerichts wurde als in sich widersprüchlich angesehen und leide an einem eklatanten Mangel verfassungsrechtlicher Begründung. 1 9 Der Verweis auf bestimmte Gedenktage oder problematische Orte erscheine ebenso unzureichend wie der Verweis auf das Strafrecht, das ebenfalls den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen müsse. Es wird deshalb als weiter bestehender Mangel angesehen, dass das Verfassungsgericht bislang zu den vom O V G Nordrhein-Westfalen angenommenen verfassungsimmanenten Grenzen nationalsozialistischer Meinungsäußerung keine Stellung bezogen hat. 2 0 Ob angesichts dieses Dilemmas die Änderung des Versammlungsrechts den entscheidenden verfassungsrechtlich gesicherten Durchbruch zu erzeugen vermag, erscheint zumindest fraglich.
II. Die Rechtslage nach Inkrafttreten des Änderungsgesetzes Durch das Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches vom 24. 03. 2005 (BGBl. 1. S. 969) wurde § 15 VersG wie folgt geändert: Nach Abs. 1 wird folgender Abs. 2 eingefügt: Eine Versammlung oder ein Aufzug kann insbesondere verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn
17 BVerfG, Beschl. v. 05. 09. 2003, N V w Z 2004, 90. ή Siehe Battis/Grigoleit (Anm. 5), 2051 (2053); H.-W. Laubinger/U. Repkewitz, VerwArch 92 (2001), 149 (165); H. Sander, N V w Z 2002, 831 (833); Fechner (Anm. 9), 734 (737). 19 Battis/Grigoleit
(Anm. 5), 2053.
20 Siehe Roth (Anm. 5), 43 und Benda (Anm. 16), 2947 f.
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1. die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort stattfindet, der als Gedenkstätte von historisch herausragender überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung oder der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert und 2. nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist ein Ort nach Satz 1 Nr. 1. Seine Abgrenzung ergibt sich aus der Anlage zu diesem Gesetz. Andere Orte nach Satz 1 Nr. 1 und deren Abgrenzung werden durch Landgesetz bestimmt. Durch Art. 2 des genannten Gesetzes wurde § 130 des Strafgesetzbuches wie folgt geändert: Nach Abs. 3 wird folgender Absatz 4 eingefügt: M i t Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt. A u f den ersten Blick erscheint diese neue Regelung Rechtssicherheit und Klarheit zu vermitteln, bei näherer Betrachtung könnte sie sich jedoch als „Eigentor" 2 1 und ungewollte Begrenzung von Eingriffmöglichkeiten erweisen. Die Neuregelung in § 15 Abs. 2 VersG beschränkt sich nämlich nur auf Orte, die als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnern und erfasst damit gerade nicht sonstige von historisch oder staatlich besonderer Bedeutung. Nach der oben skizzierten bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könnte damit auf den Begriff der öffentlichen Ordnung als Auffangtatbestand nicht mehr zurückgegriffen werden, wenn schon eine Norm den Gegenstand regelt. 2 2 Orte wie das Brandenburger Tor wären damit nicht erfasst. Eine weitere problematische Eingrenzung ergibt sich aus der Beschränkung auf die Opfer des Nationalsozialismus. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, Opfer aller Gewalttäterschaften gleichermaßen vor Entwürdigung zu schützen. 23 Auch die Beschränkung auf Gedenkstätten von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung kann sich im Ergebnis als fatale gesetzgeberische Einschränkung erweisen, da auch hierdurch ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung versagt wäre. Überhaupt nicht erfasst sind auch Orte, die keine Gedenkstätten darstellen, aber eng mit dem Nationalsozialismus verbunden sind, wie das Parteitagsgelände in Nürnberg oder die Feldherrnhalle in München. Ähnliches gilt auch für Soldatenfriedhöfe. 21 W. Leist, N V w Z 2005, 500. 22 Siehe Dörr (Anm. 5), 498; T. Hebeler, JA 2002, 521 (522). 23 Leist (Anm. 21), 502.
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Auch der neue § 130 Abs. 4 StGB könnte sich im Ergebnis in zweifacher Hinsicht als fatal erweisen. So betrifft die Regelung nur Handlungsweisen, die die Würde der Opfer zu verletzen drohen, sonstige, die nationalsozialistische Gewalt und Willkürherrschaft billigende, verherrlichende oder rechtfertigende Kundgebungen bleiben jedoch außer Betracht. Des Weiteren erscheint fraglich, ob das Verfassungsgericht die darin vorgesehene Beschränkung der Meinungsfreiheit überhaupt akzeptieren wird. In jedem Fall trägt die gesetzliche Neuregelung nicht zur Lösung des oben dargestellten Problems einer verfassungsimmanenten Grenze für nationalsozialistisches Gedankengut, wie sie vom O V G Nordrhein-Westfalen aufgezeigt wurde und nach wie vor vertreten wird, bei. Hinzu kommt außerdem, dass sich der Sprachgebrauch der rechtsextremen Szene durchaus gewandelt hat und man von einer direkten Bezugnahme auf den Nationalsozialismus im Sinne einer Glorifizierung mehr und mehr absieht. Versammlungsthemen wie Deutschland den Deutschen, Ausländer raus oder Arbeitsplätze nur für Deutsche oder Aufmärsche zum Gedenken an Hitlerstellvertreter Rudolph Hess lassen sich damit nicht verhindern. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht neuerdings durch Beschluss vom 27.7. 2 0 0 5 2 4 die Gewährung von Eilrechtsschutz gegen ein Versammlungsverbot in Wunsiedel zum „Gedenken an Rudolf Heß 4 ' abgelehnt mit der Begründung, der Ausgangskonflikt und die dem versammlungsbehördlichen Verbot zugrunde liegende Strafrechtsnorm würfen eine Reihe schwieriger Rechtsfragen auf, die letztlich nur in einem Hauptsacheverfahren geklärt werden könnten, insbesondere sei die umstrittene Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB zu prüfen. Damit signalisiert das Gericht die verfassungsrechtliche Bedeutung und Problematik der Neuregelungen, die sich im Ergebnis eher als Hemmnis, denn als Verschärfung erweisen könnten, da sich durch die einengenden Formulierungen ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung umso mehr verbietet. 25 Dabei ist darauf hinzuweisen, dass auch schon bisher eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung von der Rechtsprechung angenommen worden ist, wenn durch provokante oder aggressive Begleitumstände ein Klima der Gewalt oder Einschüchterung erzeugt worden ist oder der Aufmarsch an symbolträchtigen Daten bzw. Orten stattfinden sollte. 2 6 Allerdings musste und konnte diesen besonderen „Umständen" unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit regelmäßig durch entsprechende Auflagen begegnet werden. 2 7
24 1 BvR 2501 / 0 5 ; zum Eilrechtsschutz des BVerfG siehe J. Kohl, in: M A K GG, Bd. 1 Art. 8 Rd. 56 f. 25 Leist (Anm. 21), 503; grundsätzlich positiver wird die Rechtsänderung von A. Scheidler, BayVBl. 2005, 453 eingeschätzt, er vermisst jedoch den Begriff des Verharmlosens. 26
Siehe hierzu die umfangreiche Übersicht bei Roth (Anm. 5), 43 f.
27
Kritisch hierzu Hoffmann-Riem
(Anm. 11), 2777 ff.
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III. Verfassungsrechtliche Würdigung Nach einer vorläufigen Bewertung der Neuregelung, die im Hinblick auf den 60. Jahrestag des Kriegsendes im Schnellgang verabschiedet wurde, werden die damit verbundenen Hoffnungen auf eine wirksame Verhinderung der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts voraussichtlich nicht erfüllt. Auch wenn durch die Neuregelungen in gewisser Weise bestimmte Formen menschenverachtender Aufmärsche an bestimmten Orten wirksam verboten werden können, so bleibt die Kernproblematik eines verfassungsimmanenten Ausschlusses nationalsozialistischen Gedankenguts auch weiterhin offen. Nach der Wertordnung unseres Grundgesetzes können und dürfen politische Meinungen allein wegen ihres geistigen Inhalts nicht verboten werden. Vielmehr setzt das Grundgesetz darauf, dass sich extremistische Meinungen im öffentlichen Diskussionsprozess abschleifen und dieser Prozess, soweit er allein auf die geistige Wirkung der Argumente setzt, einen die Meinungsbildung insgesamt fördernden und stärkenden Charakter hat. 2 8 Versammlungen rechtsextremer Verbände können nicht präventiv allein aufgrund der zu erwartenden Meinungsäußerungen verboten werden. Die demokratische Ordnung, die das Grundgesetz aufstellt, vertraut auf die Fähigkeit der Bürger, sich mit der Kritik an ihren Grundwerten auseinanderzusetzen, um dadurch Gefahren für den Rechtstaat abzuwehren. Diese Auffassung hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 29 dem der Jubilar während seiner Zeit an der Universität Mannheim als Richter im Nebenamt mehrere Jahre lang angehört hat, in ständiger Rechtsprechung vertreten. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat es der Gerichtshof bislang abgelehnt, ein Versammlungsverbot, das allein auf eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung gestützt ist, zu billigen. Das Grundgesetz hat im Hinblick auf die Abwehr von Gegnern der Verfassung besondere Vorkehrungen zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung getroffen, die im Übrigen auch dem Ziel dienen, ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus zu verhindern. So hat es für Verbote von Parteien und Vereinigungen sowie die Verwirkung von Grundrechten in Art. 21 Abs. 2, 9 Abs. 2 und 18 GG formelle und materielle Hürden aufgestellt. Diese erzeugen eine Sperrwirkung dahingehend, dass die für verfassungsfeindlich gehaltene Partei, Vereinigung oder Person zwar politisch bekämpft, ihre Grundrechtsausübung aber grundsätzlich - soweit sie mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitet - nicht unterbunden werden darf. Wegen der inhaltlichen Ausrichtung einer Versammlung unterhalb der Strafbarkeitsschwelle kann eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG deshalb grundsätzlich nicht angenommen werden. Die den Inhalt von Meinungsäußerungen beschränkenden Straftatbestände sind grundsätzlich abschließend und verwehren den Rückgriff auf die in § 15 Abs. 1 VersG enthaltene Ermächtigung zum Schutze der öffentlichen Ordnung, soweit nicht die Verwirklichung eines Straftatbestandes droht. Der Gesetzgeber hat durch 2« Kniesel/Poscher
(Anm. 5), 427.
29 V G H Bad.-Württ., Beschl. v. 30. 04. 2002, VB1BW 2002, 383 (386).
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die enge Fassung der Straftatbestände zum Ausdruck gebracht, im Übrigen keinen Vorrang des Rechtsgüterschutzes gegenüber Meinungsäußerungen anzuerkennen. Daneben kommen zusätzliche, das heißt nicht durch den unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber, sondern lediglich durch die Versammlungsbehörde oder die Verwaltungsgerichte i m Einzelfall konkretisierte „verfassungsimmanente Grenzen" der Inhalte von Meinungsäußerungen nicht zum Tragen. Damit hat sich der Verwaltungsgerichtshof auch ausdrücklich gegen die dargestellte Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen ausgesprochen. Der immer wieder von den politisch Verantwortlichen in den Kommunen gegenüber dieser verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geäußerten K r i t i k 3 0 hat der Gerichtshof in der genannten Entscheidung eine klare Absage erteilt. In der Beachtung richterlicher Sicherungen - auch beim Umgang mit Gegnern des Rechtsstaates - sieht das Grundgesetz eine wichtige Garantie gegen das Wiedererstehen eines Unrechtstaates. Zu den rechtsstaatlichen Garantien gehören die Kommunikationsfreiheiten auch und gerade für Minderheiten. Diese Garantien dürfen nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Exekutive bestimmten Parteien oder Personen den Schutz der Grundrechte aus Art. 5 und Art. 8 GG generell vorenthält und diese immer erst durch die Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichte gesichert werden können. In der Folgezeit ist es auch nicht mehr zu entsprechenden Verboten von NPD-Demonstrationen in der betroffenen baden-württembergischen Großstadt gekommen. In seinem Beschluss vom 22. 02. 2005 hat der Verwaltungsgerichtshof BadenWürttemberg die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom gleichen Tage zurückgewiesen, in welchem die Zulässigkeit der Mahnwache einer rechtsgerichteten Vereinigung anlässlich des 60. Jahrestages der Bombardierung dieser Stadt festgestellt worden ist. Der Jahrestag des Bombardements habe keinen derart unmittelbaren Bezug zu den NS-Verbrechen, dass sie als eine Provokation für Menschen gelten könne, die der Opfer des Nazi-Regimes gedächten. Die Mahnwache sei weder geeignet noch an den konkreten Umständen dazu bestimmt, die menschenunwürdige Behandlung von Opfern zu billigen, zu leugnen oder zu verharmlosen. A n dieser Einschätzung wird voraussichtlich auch die Neuregelung des Versammlungsrechts nichts ändern. Die von vielen Demokraten erwünschte und mit einer Neuregelung des Versammlungsrechts erhoffte vollständige oder weitgehende Zurückdrängung rechtsextremer Versammlungen wird sich so nicht erfüllen, sie ist aber unter Beachtung der aufgezeigten grundrechtlichen und grundgesetzlichen Vorgaben wohl auch nicht zu erzielen. Im politischen Meinungskampf konnten sich die extremen Gruppierungen bislang glücklicherweise kaum Gehör verschaffen, bleibt zu hoffen, dass ihnen das auch in Zukunft nicht gelingt. Dafür ist die demokratische Grundgesinnung der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ein besserer Garant als zweifelhafte Einschränkungen der grundgesetzlich garantierten Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
30 Mannheimer Morgen v. 02. 05. 2001, S. 19
„Biblischer Geschichtsunterricht" - muslimische Lehrkräfte Islamunterricht in Bremen Aktuelle Anmerkungen zu einem alten Problem Von Christoph Link, Erlangen
Für Richard Bartlsperger, aufgewachsen im stabilen katholischen Milieu Münchens und - mit nur kurzer Unterbrechung - zeitlebens im bayerischen akademischen Lehramt tätig, mag ein christlicher Religionsunterricht, der durch eine Muslimin mit Kopftuch erteilt wird, zu Recht eine befremdliche Vorstellung sein. Dass darüber ernsthaft debattiert wird und sogar ein Verwaltungsgericht das Land zur Einstellung einer solchen Lehramtsbewerberin verpflichtet, macht (scheinbar) die „Bremer Klausel" des Art. 141 GG möglich. Sie legitimiert von Verfassungs wegen die Fortführung einer bremischen Sondertradition, nach der an den öffentlichen Schulen statt des konfessionellen Religionsunterrichts ein „bekenntnismäßig nicht gebundener Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage" (Biblischer Geschichtsunterricht, i. folg. BGU) vorgesehen ist. Über dessen Rechtsnatur und Inhalte wird seit langem gestritten. Neu ist, dass besagte Lehramtsbewerberin (mit der Lehrfakultas Deutsch und Religionskunde) sich vor dem V G Bremen durch einstweilige Anordnung die vorläufige Aufnahme in den Vorbereitungsdienst erstritt, nachdem diese (allein) wegen ihrer Weigerung, das Kopftuch im Unterricht abzulegen, von der Schulbehörde abgelehnt worden war. Dabei ging es entscheidend auch um ihre Eignung zum Unterricht im Fach BGU. Unter Berufung auf das bekannte Kopftuchurteil des BVerfG 1 vermochte das V G 2 im Verhalten der Bewerberin einen solchen Einstellungsmangel nicht zu erkennen, da zu diesem Zeitpunkt in Bremen eine landesgesetzliche Rechtsgrundlage für ein Kopftuchverbot nicht bestand. Die vom BVerfG an ein solches Verbot im Allgemeinunterricht gestellten Anforderungen müssten wegen dessen „Bekenntnisneutralität" auch für den B G U gelten. A u f Beschwerde des Landes wurde die Entscheidung zwar aufgehoben; das O V G 3 konnte sich dabei aber auf eine zwischenzeitlich erfolgte Ergänzung des Bremischen Schulgesetzes stützen, durch die Lehrkräften eine derart plakative Kundgabe ihres Glaubens untersagt wurde. 4 A u f ' BVerfGE 108, 282 ff. 2 Beschl. v. 19. 5. 2005 (6 V 760/05). 3 Beschl. v. 26. 8. 2005 (2 Β 158/05). 4
§ 59 b Abs. 4 u. 5 BremSchulG, eingefügt durch G vom 9. 7. 2005.
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die vorgelagerte Frage, ob überhaupt eine Muslimin die Unterrichtseignung für den B G U besitzt, ging das O V G nicht ein - und musste es angesichts der allein mit dem Kopftuch begründeten Ablehnung auch nicht eingehen. 5 Damit bleibt jedoch das entscheidende Problem der Rechtsnatur des B G U ungelöst (unten I). Es stellt sich zudem in gewisser Weise neu durch den in Bremen im Schuljahr 2003 angelaufenen Modellversuch eines Wahlfachs Islamkunde. Die hier den islamischen Verbänden eingeräumte Mitgestaltungsbefugnis ist den christlichen Kirchen im Hinblick auf den B G U versagt. Damit zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass in Bremen zwar islamischer, nicht aber christlich-konfessioneller Religionsunterricht erteilt wird (unten II).
I. Der Bremer Biblische Geschichtsunterricht - Rechtsnatur, inhaltliche und personelle Gestaltung 1. Der verfassungsrechtliche Rahmen Art. 32 Brem Verf. lautet in den hier interessierenden Abs. 1 und 2: „ D i e allgemeinbildenden öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage. Unterricht in Biblischer Geschichte wird nur von Lehrern erteilt, die sich dazu bereit erklärt haben. Über die Teilnahme der Kinder an diesem Unterricht entscheiden die Erziehungsberechtigten."
Diese Regelung stellt in Deutschland ein bremisches Sondergut dar. 6 Sie begründet eine Ausnahme von der grundgesetzlichen Garantie des vom Staat als „Unternehmer" getragenen konfessionellen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach, dessen Inhalte indes die Religionsgemeinschaften nach ihren jeweiligen Grundsätzen bestimmen (Art. 7 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG). Ihre Verfassungsgrundlage findet sie in Art. 141 GG, der sogenannten „Bremer Klausel". Danach findet Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG „keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand." 5 Die Kopftuchproblematik bleibt daher im folgenden ebenso ausgeklammert wie die Besonderheiten eines Zulassungsanspruchs zum Referendariat als Teil der Lehramtsausbildung. - Den nachstehenden Ausführungen liegen - in veränderter und ergänzter Form - rechtsgutachtliche Stellungnahmen zugrunde, die d. Verf. der Bremischen Evangelischen Kirche (vor und nach Ergehen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung) erstattet hat. 6 Eine gewisse Parallele findet der B G U im englischen Religionsunterricht; dazu C. Starck, Religionsunterricht und Verfassung: eine rechtsvergleichende Bertrachtung in: H. de Wall, M . Germann (Hrsg.) Bürgerliche Freiheit und christliche Verantwortung, Festschrift für Christoph Link, Tübingen 2003, S. 483 ff. (492 f.), der auch ausdrücklich auf die Nähe zur Bremischen Regelung hinweist.
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Ungeachtet der im Streit um das brandenburgische Unterrichtsfach „Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde' 4 (i. folg.: LER) aufgeflammten Diskussion um die territoriale Reichweite dieser Ausnahmeklausel ist unbestritten, dass jedenfalls der durch die Bremische Verfassung von 1947 (wieder-)eingeführte Biblische Geschichtsunterricht (i. folg.: BGU) vom Geltungsbereich umfasst ist. Gelegentlich geäußerte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Art. 141 GG („Verfassungswidriges Verfassungsrecht") hat das BVerfG offensichtlich nicht geteilt; sowohl i m Konkordatsurteil 7 wie im Beschluß über die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs (i. folg. Brem. StGH) vom 23. Oktober 1965 8 ist es in obiter dicta jedenfalls von der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieser Norm ausgegangen. Art. 141 GG ist daher als vollgültiges Verfassungsrecht anzusehen, durch das die landesverfassungsrechtliche Bestimmung des Art. 32 BremVerf. - abweichend von den Grundsätzen des Art. 123 Abs. 1, 142 GG - auch unter der Herrschaft des GG wirksam bleibt. 9
2. Die Rechtsnatur des BGU a) Die Entstehensbedingungen aa) Art. 32 BremVerf. Seit seiner Einführung i m Jahre 1823 durch Bürgermeister Smidt beruht der BGU in Bremen auf einer im wesentlichen ungebrochenen Tradition. Sein ursprüngliches Ziel war es, die innerevangelischen Gegensätze zwischen der lutherischen Domgemeinde und der überwiegend reformierten Hansestadt innerhalb der öffentlichen Schulen religionspädagogisch zu überbrücken. Es handelte sich also um eine spezifische Form des evangelischen Religionsunterrichts. Im Gegenzug wurden die katholischen Privatschulen zunächst anerkannt, nach dem 1. Weltkrieg erhielten sie auch Finanzzuschüsse. Abgesehen von einer kurzfristigen Abschaffung 1919 durch den Arbeiter- und Soldatenrat führte Bremen den B G U fort, auch wenn es damit der Verpflichtung zur Einführung des vollen Religionsunterrichts gemäß Art. 149 WRV durch das Reichsgericht nur unvollkommen entsprach. 10 7 BVerfGE 6, 309 (354 ff.). « BVerfGE 30, 112 ff. 9
T. Maunz, in: ders./G. Dürig u. a. (Hrsg.), GG, Art. 141 Rdnr. 6; A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. München 1996, S. 238 f.; ders., in: H. v. Mangoldt/F. K l e i n / C.Starck, GG-Kommentar, 4. Aufl., Bd. 3, München 2001 (i. folg.: v. M . / K . / S t . ) , Art. 141 Rdnr. 4 - 6 (m. weiteren Nachw.). 10 Reichsgericht, in: H.H. Lammers, W. Simons (Hrsg.), Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich u. des Reichsgerichts auf Grund Art. 13 Abs. 2 d. Reichsverfassung, Bd. 1, 1929, S. 528 ff. - Allg. dazu und zum folgenden: T. Spitta, Kommentar zur Bremischen Verfassung von 1947, Bremen 1960, Anm. zu Art. 32; H. G. Bergemann, ZevKR 9 (1962/63), S. 228 ff. (240 ff.); ders., ZevKR 12 (1966/67), S. 138 ff.; U. Scheuner, Auseinandersetzungen und Tendenzen im deutschen Staatskirchenrecht, jetzt in:
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Das überkommene Verständnis des B G U wirkte nach dem Kriege in den Verfassungsberatungen fort und beeinflusste die Unterrichtspraxis dergestalt, dass der B G U im Hinblick auf Lehrstoff und Lehrmittel de facto als Unterweisung auf allgemein evangelischer Grundlage erteilt wurde. Die infolge der kriegsbedingten Migrationen angewachsene katholische Schülerminderheit besuchte weiterhin fast ausschließlich katholische Privatschulen. Die daraus folgerichtig hergeleiteten Ansprüche katholischer Kirchengemeinden auf Vollsubventionierung dieser Privatschulen sowie der Bremischen Evangelischen Kirche auf Einräumung stärkerer Mitgestaltungsbefugnisse scheiterten indes an der Feststellung des BremStGH, 1 1 dass der in Art. 32 BremVerf. genannte Unterricht nicht als christlicher Gesinnungsunterricht auf evangelischer Grundlage zu verstehen sei. Vielmehr weise er auf etwas hin, das „aller christlichen Welt gemeinsam ist". Die bremischen Schulen seien daher als Gemeinschaftsschulen anzusprechen, deren Besuch katholischen Schülern ebenso zugemutet werden könne, wie die Teilnahme am biblischen Geschichtsunterricht. Durch diese Entscheidung erhielt der B G U seine bis heute maßgebliche rechtliche Inhaltsbestimmung. Sie ist auch dem brem. Schulgesetz zugrundezulegen. 12
bb) Art. 141 GG U m die Einfügung einer Ausnahme von der Regel des konfessionellen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach wurde im Parlamentarischen Rat eine lebhafte Debatte geführt. Sie betraf vor allem die Geltungserstreckung auf einzelne Schultypen außerhalb Bremens und insbes. auf Berlin und stand im Kontext der Auseinandersetzungen um die sogenannten Lebensordnungen (u. a. Gemeinschafts-/Bekenntnisschule, Trägerschaft und Gestalt des Religionsunterrichts). Sie soll hier nur insofern nachgezeichnet werden, als sie für die mit dem B G U verfolgten Zielsetzungen von Belang ist. Die Einfügung des (späteren) Art. 141 geht auf einen Einspruch der Vertreter Bremens und Hamburgs im Hauptausschuss gegen die geplante bundesweite Einführung des konfessionellen Religionsunterricht zurück, der die zuvor erzielte Einigung erneut in Frage stellte. 1 3
Ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, hrsg. v. J. Listi, Berlin 1973, S. 193 ff. (205 f.); C. Link, ZevKR 24 (1979), S. 54 ff. (58 f.); A. v. Campenhausen, in: v. M . / K . / S t . (Anm. 9) Art. 141 Anm. 3; H-P. Fiissel, Erziehung und Unterricht, in: V. Kröning u. a., (Hg.), Handbuch der Bremischen Verfassung, Baden-Baden 1991, S. 185 ff. (192 ff.); C. Tangermann, ZevKR 50 (2005), S. 184 ff. (195 ff.). - alle m.w. Nachw. •ι U. v. 23. 10. 1965, ES Bd. 1 S. 125 ff. = D Ö V 1965, S. 812 ff. = ZevKR 12 (1967/68), S. 186 ff. = KirchE 7, S. 260 ff. 12 Brem.SchulG v. 20. 12. 1994, § 7. 13
Dabei beruhte der hamburgische Einspruch auf einen Irrtum, da dort besatzungsrechtlich der konfessionelle Religionsunterricht wiederhergestellt worden war.
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Für die Anerkennung der bremischen Besonderheit setzte sich insbes. der Abg. Heuss (FDP) ein, da es sich um die Sicherung einer „ - geistesgeschichtlich sehr interessant - . . . für sich geschaffene(n) Tradition" handele, 14 und damit um eine eigenständige Form christlicher Erziehung in der Schule. 1 5 Streitpunkt war (abgesehen von den Berufsschulen einiger Länder und der besonderen Situation des damals noch nicht geteilten Berlin) nicht die Einführung bzw. Wiedereinrichtung des Religionsunterrichts - darin waren sich mit Ausnahme der KPD alle im parlamentarischen Rat vertretenen Fraktionen einig; vielmehr ging es allein um seine konkrete, dh. konfessionelle Ausgestaltung und um das Für und Wider einer kirchlichen Beaufsichtigung. So verwahrte sich auch der Abg. Ehlers nicht etwa gegen den Religionsunterricht sondern gegen eine Wiederherstellung der „geistlichen Schulaufsicht" für dieses Fach. Auch sonst stand - soweit ersichtlich - außer Zweifel, dass der B G U als eine in der bremischen Tradition begründete Sonderform des christlichen Religionsunterrichts anzusehen sei. 1 6
b) Die Wesensbestimmung des BGU durch den BremStGH aa) Vorbemerkung Die bereits mehrfach genannte Entscheidung des BremStGH vom 23. Oktober 1965 ist im Verfahren gemäß Art. 140 BremVerf., § 1 Ziff. 1 Brem.Gesetz über den Staatsgerichtshof (StGHG) ergangen, sie ist daher gem. § 8 Abs. 1 StGHG allgemeinverbindlich, hat also normative Wirkung. Nach allgemeinem Verständnis erstreckt sich diese nicht nur auf den Entscheidungstenor, sondern auch auf die tragenden Gründe. Ungeachtet der Kritik, auf die das Urteil des StGH gestoßen ist, 1 7 ist deshalb von der hier getroffenen authentischen Interpretation des Art. 32 Abs. 1 BremVerf. auszugehen. >4 Hauptausschuß ( H A ) 51. Sitzung, Sten. Prot. S. 683. 15 S. a. die Verteidigung des B G U durch den bremischen Abg. Ehlers (SPD): „Das ist die Fa£on, nach der unsere Urgroßväter selig geworden sind und nach der wir auch selig werden wollen" ( H A 43. Sitzung, Sten. Prot. S. 557). 16 Dazu C. Link , „ L E R " , Religionsunterricht und das deutsche Staatskirchenrecht, in: J. Bohnert u.a. (Hrsg.) Verfassung - Philosophie - Kirche: Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2001, S. 747 ff. (752 f.); M. Germann, ZevKR 45 (2000), S. 631 ff. (636 ff.) und insoweit auch B. Schlink/R. Poscher, Der Verfassungskompromiss zum Religionsunterricht, Baden-Baden 2000, bes. die Nachweise auf S. 37, 40, 49, 80 ff., 84 (ansonsten zu Recht kritisch Germann a. a. O. gegen den Versuch der Autoren, aus dem historischen Befund die Geltung des Art. 141 für die neuen Bundesländer herzuleiten); Tangermann (Anm. 10), S. 184 ff. (194 ff.) m. eing. Nachw. 17
Dazu die Nachw. bei v. Campenhausen, Staatskirchenrecht (Anm. 9), S. 238 f. Fn. 2; ders., in: v. M . / K . / S t . (Anm. 9), Art. 141 Rdnr. 4 Fn. 1 ; Link (Anm. 10), S. 58 Fn. 4. 8 FS Bartlsperger
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Soweit diese ihrerseits als mehrdeutig erscheint, bedarf es einer Auslegung, die im Einklang mit übergeordneten Verfassungsnormen steht. Maßstab einer solchen verfassungskonformen Interpretation ist dabei nicht allein die BremVerf., sondern es sind auch die zentralen Wertentscheidungen des GG, wie sie insbesondere in den Grundrechten, aber auch im staatskirchenrechtlichen (religionsrechtlichen) System (Art. 140 GG) Gestalt gewonnen haben.
bb) Die negative Inhaltsbestimmung Eindeutig ist die Aussage, was danach der B G U nicht ist, nämlich nicht „christlicher Gesinnungsunterricht auf evangelischer Grundlage", nicht „konfessioneller Gesinnungsunterricht (Religionsunterricht) auf konfessioneller Grundlage". 1 8 Diese Aussage entspricht auch dem Wortlaut des Art. 32 Abs. 1 BremVerf. ungeachtet der Frage (s. o. a.), ob angesichts der bremischen Tradition und der Unterrichtspraxis bis 1965 auch eine andere Interpretation möglich oder geboten gewesen wäre sowie ungeachtet der Einwendungen die sich gegen die weiteren Argumente erheben ließen, dass nämlich andernfalls die bremischen Schulen als evangelische Bekenntnisschulen zu gelten hätten und dass einer anderen Ausdeutung auch Glaubensfreiheit (Art. 4 BremVerf.) und Toleranzgebot (Art. 33 BremVerf.) entgegenstünden. 19 Unter dem - schulrechtlich unüblichen - Begriff „Gesinnungsunterricht" versteht der StGH offensichtlich eine Lehrveranstaltung, die sich nicht in Wissensvermittlung erschöpft, sondern in der darüber hinaus Unterrichtsziel die Herausbildung einer konkret wertbestimmten inneren Haltung der Schüler ist. Ein solches Konzept liegt freilich auch anderen Schulfächern zugrunde und ist nicht ein Spezifikum des Religionsunterrichts. Für diesen wird herkömmlich anstelle des Terminus „Gesinnungsunterricht" die Bezeichnung „dogmatisch gebundener Unterricht" gebraucht. 20 Ein solcher evangelischer Religionsunterricht im Sinne von Art. 7 Abs. 3 GG ist der B G U nicht - und kann es auch nicht sein; dies einmal deshalb, weil er (insbesondere) auch dem „katholischen Bevölkerungsteil offen stehen" sollte (S. 270), zum anderen aber auch darum, weil die religiös-weltanschauliche Neutralität des
18 KirchE 7 (danach auch die folg. Zitate), S. 266, 267, 268. 19 S. 270 f. - Dazu Bergemann, ZevKR 12 (1966/67), S. 142 ff. 20
So schon W. Landé, Die Schule in der Reichsverfassung, Berlin 1929, S. 200; - vgl. auch BVerfGE 74, 244 (252): Das Übereinstimmungsgebot mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften (Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG) sei so zu verstehen, dass der Religionsunterricht „ i n konfessioneller Positivität und Gebundenheit zu erteilen ist. Er ist keine überkonfessionelle, vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloß Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln, ist seine Aufgabe".
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freiheitlichen Verfassungsstaates diesem verbietet, selbst die konfessionellen Inhalte, dh. Bekenntnisse und Glaubenssätze einer Religionsgemeinschaft zu bestimmen, hier also das „Evangelische" am evangelischen Religionsunterricht. Die Bindung eines solchen Religionsunterrichts an die „Grundsätze" der jeweiligen Religionsgemeinschaft (Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG) folgt deshalb aus Strukturprinzipien des GG, die nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers stehen. Nicht ohne Grund stellt daher die „Bremer Klausel" das Land nur von der Regelung des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG frei. Dh., wenn Bremen einen dogmatischen Religionsunterricht in diesem Sinne einführte - woran es nach einhelliger Auffassung durch Art. 141 GG nicht gehindert ist - , dann wäre dies nur unter den Kautelen des Satzes 2 dieser Vorschrift möglich. Da beim B G U traditionell eine solche Mitwirkung der Religionsgemeinschaften - hier der Bremischen Evangelischen Kirche - im Bremischen Schulrecht nicht vorgesehen ist, schließt das (verfassungskonform) eine Bestimmung als „evangelischen Gesinnungsunterricht" a limine aus.
cc) Positive Inhaltsbestimmung Schwerer lässt sich die Frage beantworten, welche Rechtsnatur dem B G U in der Sicht des StGH stattdessen zukommt - m. a. W., welche inhaltlichen Kriterien für dessen Gestaltung Art. 32 Abs. 1 und 2 BremVerf. zu entnehmen sind. Hier erscheinen die Urteilsgründe (soweit sie als tragende Gründe an der Allgemeinverbindlichkeit teilhaben) auf den ersten Blick als widersprüchlich. (1) Einerseits hebt der StGH den überkonfessionellen Charakter des B G U hervor, der auch katholischen Schülern den Besuch ohne Verletzung ihrer Glaubensund Gewissensfreiheit - Art. 4 BremVerf. - (S. 270), „ohne konfessionelle Hemmungen" (S. 271) ermöglichen soll. Die Verfassung verweise mit den Worten „auf allgemein christlicher Grundlage" auf etwas, das „aller christlichen Welt gemeinsam ist". 2 1 Wegen der auch in diesem Fach gebotenen Rücksichtnahme auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen der Schüler liege dem B G U auch keine staatlich geformte (S. 273) „Phantasiekonfession" (S. 272) zugrunde; vielmehr habe sich die dem Bremischen Schulrecht traditionell eigene „Tendenz zur Überkonfessionalität" (S. 271), die ursprünglich auf die Überwindung der innerevangelischen Bekenntnisdifferenzen zielte, nunmehr „auch den katholischen Neubürgern gegenüber zu bewähren" (S. 272), da man „unserer Tradition nach nicht nach Konfessionen trennen" könne (ebda.). Damit fixiere die Verfassung etwas, „was im Wort ,biblisch' ohnedies schon enthalten war" (ebda.). Das Trennende einer speziellen Konfession oder Weltanschauung könne „außerhalb der Schule in der Unterweisung gem. Art. 32 Abs. 3 BremVerf. zur Sprache kommen", es könne „sich aber auf die Gemeinschaft der öffentlichen Schule nicht auswirken" (S. 270). Die 21
S. 16. :
S. 269 - unter Berufung auf Wulff,
Religionsunterricht in den Bremer Schulen, 1964,
Christoph Link
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von Bergemann zitierte Erklärung des StGH-Präsidenten i m Anschluss an die mündliche Urteilsbegründung 22 lässt immerhin die Intention des StGH erkennen, durch die Entscheidung einen Beitrag zur Öffnung des B G U im Sinne einer (christlichen) Ökumene zu leisten. (2) Diese Argumentationslinie legt eine Interpretation dergestalt nahe, dass der StGH den B G U als einen zwar überkonfessionellen, aber doch gemeinchristlichen Religionsunterricht bestimmt. Demgegenüber scheinen andere Passagen der Entscheidung auf ein Verständnis als neutrale Informationsveranstaltung über religiöse und weltanschauliche Phänomene der Gesellschaft hinzudeuten, wenn es heißt, mit dem B G U sei „keine religiöse oder weltanschauliche Unterweisung der Kinder bezweckt" (S. 270), er sei weder religiöse noch antireligiöse Unterweisung (S. 273), und müsse „auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht" nehmen (S. 271), er sei daher „auch der katholischen Konfession gegenüber indifferent" (S. 272). 2 3 (3) Der Widerspruch lässt sich dann (jedenfalls teilweise) auflösen, wenn man dem Begriff „Unterweisung" einen präzisen schulrechtlichen Sinn unterlegt. Namentlich in der Religionspädagogik verband sich damit das ältere Konzept des Religionsunterrichts als „evangelische Unterweisung". Nach den geistigen Verwüstungen der NS-Zeit sollte der Religionsunterricht primär Halt im Glauben geben und zur christlichen Gemeinde hinführen. Religionsunterricht wurde als „Kirche in der Schule" verstanden. 24 Evangelische, christliche (bzw. weltanschauliche) „Unterweisung" ist dann gleichbedeutend mit „Gesinnungsunterricht", im oben (I 2 b) beschriebenen Sinne, nämlich dogmatisch gebundene und für die jeweilige christliche Konfession (oder für eine Weltanschauung) werbende Lehrveranstaltung, ist „Verkündigung und Glaubensunterweisung", wie sie das BVerfG als „Verfassungsbegriff des Religionsunterrichts" i.S. v. Art. 7 Abs. 3 GG umschreibt. 25 Ungeachtet dessen, dass dies auch nicht mehr das Leitbild des konfessionellen Religionsunterrichts darstellt 2 6 und dass das BVerfG diese starren Fesseln gleichfalls lockert, wenn es anerkennt, dass der „ i n die Zeit offene" Verfassungsbegriff auch ein „auf Wissensvermittlung gerichtetes, an den höheren Schulen sogar wissenschaftliches Fach" zulasse, „das in die Lehre eines Bekenntnisses einführt", 2 7 ungeachtet dessen also kann es nicht zweifelhaft sein, dass der B G U - jedenfalls 22 Bergemann (Anm. 19) S. 151. - Sie ist natürlich nicht Bestandteil der tragenden Gründe und hat damit nicht an der Allgemeinverbindlichkeit teil. 23 So die - vom StGH zustimmend aufgenommene - Protokollnotiz Dr. Feines aus den Verfassungsberatungen. 24
Dazu näher Link (Anm. 10), S. 75 f. m. Nachw.
25 BVerfGE 74, 244 (252). 26
Dazu C. Link, Religionsunterricht, in: J.Listl/D.Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 1995, S. 439 ff. (447 ff.). 27
BVerfGE 74, 244 (252 f.).
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nach der Entscheidung des StGH - keine „Unterweisung" in diesem Sinne bezweckt. Sie führte „auf allgemein christlicher Grundlage" auch in verfassungsrechtliche Aporien, denn sie liefe zwangsläufig auf eine „staatlich geformte Phantasiekonfession" als Unterrichtsgrundlage hinaus, in der sich keine der christlichen Kirchen wiedererkennen könnte und geriete damit in unlösbaren Konflikt mit dem (bundes-)verfassungsrechtlichen Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität des freiheitlichen Verfassungsstaats.
3. Der BGU als Religionsunterricht Das schließt es aber nicht aus, den B G U als eine Sonderform des Religionsunterrichts anzusehen. Der Begriff Religionsunterricht ist - wie gezeigt - nach heutigem Verständnis nicht mehr mit dem der Glaubensunterweisung identisch. Vielmehr bedarf er der Begründung vom Bildungsauftrag der öffentlichen Schule her, der auch die religiöse Dimension des Soziallebens in Geschichte und Gegenwart einschließt. Wissensvermittlung und - in der Oberstufe - Wissenschaftlichkeit sollen (neben der Erörterung grundsätzlicher Lebensfragen) das Curriculum prägen, nicht etwa hat er die „Bekehrung" des Schülers zum lehrplanmäßigen Unterrichtsziel. Vom Religionsunterricht i.S. d. Art. 7 Abs. 3 GG unterscheidet den B G U indes, dass er nicht an verbindlich von der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu formulierende „Grundsätze" gebunden ist und damit nicht vom jeweiligen Sonderbekenntnis seinen Ausgang nimmt und in ihm zentriert ist. 2 8
4. Der BGU als christlicher Religionsunterricht Seiner verfassungsrechtlichen Bestimmung nach ist der B G U in diesem Sinne christlicher Religionsunterricht. Das folgt schon daraus, dass Art. 32 Abs. 1 BremVerf. seinen Gegenstand als „Biblische Geschichte auf allgemein christlicher Grundlage" bestimmt. Beide Determinanten (Biblische Geschichte, allgemein christliche Grundlage) lassen keinen Zweifel am objektivierten Willen des Verfassungsgebers, dass es sich hier um eine spezifische Form christlicher Erziehung handelt - und als solche ist der B G U auch im Parlamentarischen Rat ebenso verstanden worden (s. ο. I 2 a (bb)) wie vom BremStGH, ungeachtet der Differenzen über die Beschränkung auf einen „evangelischen Gesinnungsunterricht". Vom Regelfall des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG unterscheidet er sich nur durch seine mangelnde Konfessionalität, und dies begründete auch die Notwendigkeit einer Ausnahmebestimmung in Art. 141 GG.
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Dazu näher Link (Anm. 10), 80 ff. m. Nachw.; i. Erg. ebenso Fiissel (Anm. 10), S. 197; Tangermann (Anm. 10), S. 199 f. („interkonfessioneller" Religionsunterricht).
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Das heißt aber nicht, dass dem B G U ein über- oder vorkonfessionelles Bekenntnis zugrundgelegt werden kann, das die konfessionelle Ausdifferenzierung des Christlichen ignoriert. Ein solcher Versuch würde - wie dargelegt - die dem religiös und weltanschaulich neutralen Staat gezogenen Grenzen durch Schaffung einer „Phantasiekonfession" überschreiten. Die „Gemeinchristlichkeit" des B G U kann also weder darin bestehen, staatlicherseits einen ökumenischen Konsens der christlichen Konfession i m Wege der Ersatzvornahme zu substituieren, noch darin, das „Christliche" auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren - und damit auf eine religiöse Position, mit der sich keine der christlichen Kirchen mehr zu identifizieren vermag. Jenseits derartiger verfassungsrechtlicher Aporien kann deshalb das Curriculum des B G U nur als besondere nicht-konfessionelle Form des Religionsunterrichts bestimmt werden, dessen Gegenstand die dogmatischen und individual- wie sozialethischen Lehren des Christentums in ihrer biblischen Grundlegung ebenso wie in ihrer Wirkungsgeschichte, in ihren Gemeinsamkeiten wie in ihrer konfessionellen Ausdifferenzierung sind. Entsprechend seiner Zielsetzung werden hier die informativen Elemente im Vordergrund stehen. Das bedeutet aber nicht, dass „Biblische Geschichte" und „allgemein Christliches" ihres Transzendenzbezugs als einer nur i m Glauben erfahrbaren Wirklichkeit und ihres religiösen Imperativs entkleidet werden. Das schließt es aus, diesem Unterricht als bloße vergleichende Religionskunde zu betreiben, ihn allein in einer allgemeinen Religionsphänomenologie und -Soziologie, erst recht, ihn in Kirchen- und Religionskritik zu zentrieren. 29 Allein eine solche Deutung rechtfertigt auch die Freiwilligkeitsklausel für Lehrer und Schüler gem. Art. 32 Abs. 2 Satz 1 und 2 BremVerf. 3 0
5. BGU-Ethikunterricht-LER Damit unterscheidet sich der B G U zum einen grundlegend von dem in den anderen Bundesländern als Ersatzunterricht (bzw. in den neuen Ländern: als Alternative) zum Religionsunterricht in unterschiedlicher Benennung eingerichteten Schulfach Ethik. Dies nicht nur deswegen, weil dort die Behandlung ethischer Probleme im Zentrum steht, die im curricularen Spektrum des B G U nur einen Teilbereich abdecken können, vor allem vielmehr darin, dass ein solcher Ethikunterricht als gewissensschonende Alternative begrifflich religiös-weltanschaulich neu-
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Link (Anm. 26), S. 486. - Diese Formulierung nimmt ausdrücklich zustimmend auf H. B. Kaufmann, Der Religionsunterricht in Bremen - ein zukunftsfähiges Modell?, publiziert: http://www.die-bruecke.uni-bremen.de/artikel/artikel 13.htm, S. 8; s. a. Tangermann (Anm. 10), S. 198; Grundsätzlich dazu M. Meckel, Zeitschr. f. Theol. u. Kirche, 2005, S. 248 ff. 30 Insofern unverständlich Füssel (Anm. 10), S. 198 f., nach dem es der Erörterung bedürfe, inwieweit von nichtchristlichen Schülern „die Teilnahme an einem - verpflichtenden - Unterricht verlangt werden" könne, der auf allgemein christlicher Grundlage stattfinden muss.
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trai zu gestalten ist und damit (noch dazu ohne Abmeldungsmöglichkeit) nicht auf christlicher Grundlage erteilt werden kann. Der B G U unterscheidet sich aber auch in Verfassungsgrundlage und Lehrzielen prinzipiell vom Brandenburgischen Unterricht in „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" ( L E R ) . 3 1 Sieht man von den Besonderheiten des Faches in Brandenburg ab, das zu wesentlichen Teilen von einer in der Religionsfeindlichkeit des Marxismus-Leninismus sozialisierten Lehrerschaft erteilt wird und dessen deutlich religionskritisch eingefärbte Lehrpläne die behauptete Bekenntnisneutralität in einem fahlen Licht erscheinen lassen 32 - gemäß dem Papier des brandenburgischen Gesetzblatts wird es „bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet..." (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Brandenbg.SchulG). Nimmt man diesen Text gleichwohl beim Wort, dann ist im Hinblick auf den „Religionskunde"-Anteil eine religiös-weltanschaulich neutrale Information über Religionen und Weltanschauungen intendiert, d. h. eine distanzierte Aussensicht nach Art einer bloßen Religions- und Weltanschauungskunde. LER ist damit weder Religionsunterricht noch w i l l er das sein. Zwar soll solche Information den Schülern auch zur eigenen Standortfindung verhelfen, aber nur durch Wahlmöglichkeit zwischen den im Wege kognitiven Lernens seitens der Lehrer prinzipiell als gleichwertig vorgestellten Orientierungsangeboten. Ausgeblendet bleibt hier die vertikale Dimension des Religiösen, Bekenntnis und Transzendenz. Religion findet sich auf Information über ihre sozialen Funktionen reduziert; schon ein Eingehen auf die theologische Begründung für Antworten auf indivial- oder sozialethische Fragen gilt als unzulässige Verletzung der Bekenntnisneutralität. 33 Demgemäß werden - die Unterrichtsvorgaben zeigen es - Christentum und Judentum in einem Atem nicht nur mit „Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus" genannt, sondern auch mit Natur- und Stammesreligionen. In dieser Perspektive des umgekehrten Fernglases sind Unterschiede der abendländischen (und auch bremischen!) Kulturrelevanz nicht mehr wahrnehmbar und das erstrebte „Sinnstiftungsangebot" verliert sich in Beliebigkeit. 3 4 Bedeutet Neutralität in der Schule, dass „Lerninhalte nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert", sondern dass Bildungsgüter „auf der Grundlage des 31
§ 11 Abs. 2 und 3 Brandbg.SchulG - Dazu M. Heckel, Religionsunterricht in Brandenburg, Berlin 1997, S. 40 ff., 74 ff.; ders., ZevKR 44 (1999), S. 147 ff. (177 ff.); Link (Anm. 16), S. 747 ff. (764 ff.) - jeweils m. Nachw. zur kaum noch überschaubaren Lit. 32 Vgl. den im Auftrag des brandenburgischen Bildungsministeriums erstellten Begleitbericht zu LER von Prof. A. Leschinsky (1995), als Buch 1996 Frankfurt am Main unter dem Titel „Vorleben oder Nachdenken", bes. S. 190 ff. und Link (Anm. 16), S. 765 ff. 33 Die angesichts dessen an sich systemwidrige Einräumung einer Abmeldungsmöglichkeit vom LER-Unterricht für Schüler ( § 1 4 1 Brandenbg.SchulG) war Teil der Konfliktstrategie des Landes im Vorfeld des verfassungsgerichtlichen Verfahrens. 34
Vgl. dazu K. E. Nipkow, Zeitschr. f. Theol. u. Kirche, 1996, S. 124 ff. (bes. S. 145).
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vorhandenen geistig-kulturellen Erbes vermittelt" werden, 3 5 so widerspricht es schon der Kulturbedeutung von Kirchen und christlich-jüdischer Religion ebenso wie ihrem Beitrag zur Bildung eines gemeineuropäischen Ethos, dieses Erbe durch eine derartige Nivellierung und Minimierung zu verleugnen. Die Jüdische Gemeinde hat in ihrer Stellungnahme zu LER mit Recht von einer „Verwandlung der Inhalte der Religion in eine Methode" gesprochen und als Ergebnis eines solchen Unterrichts eine „zynische, überhebliche, distanzierte Einstellung zu Religion und anderen Menschen" prognostiziert. 36 Wo alles gleich gilt, ist alles auch gleichgültig. Und wo kein eigener Standpunkt vermittelt wird, fehlt es auch an Verständnis des Andersgearteten, am Respekt für fremde Überzeugungen. Aus diesem „Niemandsland der Gleich-Gültigkeit" 3 7 vermag das Konzept des LER keinen Weg zu weisen. Hier geht es natürlich nicht um die (verfassungsrechtliche) Bewertung von L E R , 3 8 der vorstehenden Darlegung bedurfte es aber, um die unterschiedlichen Intentionen der brandenburgischen und bremischen Regelung zu verdeutlichen. Der in Art. 32 Abs. 1 objektivierte Wille des bremischen Verfassungsgebers stellt im Gegensatz zu § 11 Brandenbg.SchulG unzweideutig klar, dass es sich um einen christlich zentrierten Unterricht handeln muß und dass er seine Mitte in der Bibel als demjenigen Zeugnis hat, das „aller christlichen Welt gemeinsam" ist. „Bekenntnismäßig nicht gebunden" kann daher im Zusammenhang des Verfassungstextes allein dahin verstanden werden, dass er keinem christlichen Sonderbekenntnis verpflichtet, kein „dogmatischer" sondern ein im „allgemein christlichen" Sinne überkonfessioneller Unterricht ist. Damit trägt er auch den kulturellen Traditionen Bremens Rechnung, ohne die „katholischen Neubürger" auszuschließen. Wie immer man die historische Argumentation des StGH bewertet, die insofern eindeutigen Gründe der - bindenden - Entscheidung verdienen volle Zustimmung. Damit ist es auch ausgeschlossen - das sei in diesem Zusammenhang wiederholt - , den B G U als bloße distanzierte, vergleichende Religionskunde nach Art des LER zu erteilen. Sicherlich ist die Feststellung Füssels zutreffend, dass „innerhalb des bremischen Religionsunterrichts Raum für unterschiedliche Ansätze besteht". 3 9 E-W. Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, Berlin 1978, S. 33 Anm. 47; ähnlich D. Grimm, V V D S t R L 54 (1995), S. 121 - Disk.beitrag; J. Isensee, ebda. S. 115 f.; ders., Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, Essener Gespräche z. Thema Staat und Kirche 11 (1977), S. 92 ff. (109). 36 Materialien aus der Diskussion um LER, hg. v. Erzbischöflichen Ordinariat Berlin, 1995, S. 47 f. 37 Denkschrift der E K D : Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, 1994, S. 65. 38 Über die der 1. Senat des BVerfG (bei einer 4:4 Konstellation) bekanntlich keine Einigung erzielen konnte - mit der überraschenden Folge eines Vergleichsvorschlags (BVerfGE 104, 305).
39 Fiissel (Anm. 10), S. 199.
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Deren Spektrum ist aber durch Bibelbezug und „allgemeinchristliche Grundlage" insoweit von Verfassungs wegen verengt. Eine Umfunktionierung im Sinne eines LER hätte daher zwingend eine Änderung des Art. 32 BremVerf. zur Voraussetzung, über deren bundesverfassungsrechtliche Zulässigkeit hier nicht zu befinden ist.
6. Die Offenheit des BGU Allerdings wäre es ein fundamentales Missverständnis, folgerte man aus der verfassungsrechtlich gebotenen christlichen Zentrierung des B G U eine dahingehende curriculare Beschränkung, dh. die Exklusivität des „allgemein Christlichen" als Lehrstoff. Eine solche Engführung ist selbst dem konfessionellen Religionsunterricht fremd. Wenn jemals dessen Karikierung als „unkritisches Einüben von Dogmen" eine Entsprechung in der Realität des Religionsunterrichts gehabt haben sollte, seine moderne Wirklichkeit trifft sie ebensowenig wie den wissenschaftlichen Stand der Religionspädagogik und die Vorstellungen der Kirchen. Vielmehr hat das gemeinsame Bemühen um eine vom Bildungsauftrag der öffentlichen Schule her entwickelte Konzeption des Religionsunterrichts dazu geführt, zwar die christlich-konfessionelle Traditionsvermittlung zum Ausgangspunkt zu nehmen, dies jedoch auch darum, um die Schüler dialogfähig im religiös-weltanschaulichen Pluralismus zu machen und sie deshalb auch in altersgemäßer Weise mit den Antworten des Christentums, aber auch anderer Religionen und Weltanschauungen auf die zentralen individuellen und sozialen Existenzfragen, mit deren Selbst- und Weltdeutungen zu konfrontieren - und sie so, dh. in der Auseinandersetzung mit diesen zu eigener Standortfindung und Urteilsbildung anzuregen. Dies gerade nicht in der Verpflichtung auf undiskutierbare „dogmatische" Wahrheiten, sondern als intellektuell zu verantwortender Versuch, die „Auslegung heutiger Wirklichkeit im Lichte christlicher Überlieferung und anderer religiöser Tradition" in den Erkenntnishorizont des Schülers einzubringen40 Demgemäß gehört heute nach - soweit ersichtlich - allen Lehrplänen die Behandlung nichtchristlicher Religionen und Weltanschauungen zum Standardprogramm des Religionsunterrichts. Die Gefahren, die dem Religionsunterricht drohen, liegen deshalb auch nicht in konfessioneller Selbstgenügsamkeit, sondern eher in einer - den Verfassungsbegriff des Religionsunterrichts überstrapazierenden „interreligiösen" Verwässerung seines christlichen Propriums. 41 40 K. Wegenast, Der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen . . . , in: Essener Gespräche z. Thema Staat und Kirche 5 (1971), S. 9 ff. (24 f.); ebenso dezidiert von katholischer Seite P. Schladoth, ebda. S. 31 ff. (53 f.). vgl. auch die Denkschrift der E K D (Anm. 37) S. 55 f. (Religionsunterricht im „Spannungsgefüge, fremde Überzeugungen zu verstehen und zugleich eine eigene Auffassung zu entwickeln"); zuletzt R. Lachmann, Art. „Religionsunterricht I I " , in: Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. 7, 4. Aufl. 2004, Sp. 391 ff. (393).
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Gilt diese Offenheit gegenüber der religiös-weltanschaulichen Pluralität schon für den konfessionellen Religionsunterricht i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG, so erst recht für den „bekenntnismäßig nicht gebundenen" BGU. Mehr als jener ist er - ungeachtet der Abmeldungsmöglichkeit - darauf angelegt, nicht nur von Angehörigen christlicher Bekenntnisse besucht zu werden. Die vor allem in der Oberstufe gebotene Wissenschaftlichkeit, aber auch der die Bremischen Schulen verpflichtende Grundsatz der Duldsamkeit und der religiösweltanschaulichen Rücksichtnahme (Art. 33 BremVerf.) wie auch die für den B G U verpflichtenden Erziehungsziele (vgl. BremStGH a. a. O. S. 261, 271) erfordern hier von der Sache her gebieterischer als im konfessionellen Religionsunterricht die Einbeziehung der religiös-weltanschaulichen Vielfalt einer weithin säkularisierten Großstadt. Auch dies ist Teil der Umwelt, in die einzuführen wesentliche Bildungsaufgabe der öffentlichen Schule - und damit des B G U - ist. Das ändert aber nichts an der eindeutigen Verfassungsvorgabe der christlichen Fundierung dieses Unterrichts und seiner biblischen Grundlegung. Er hat hier sein Zentrum und wehrt damit „einer Verkümmerung des Pluralismus zu wohliger Indifferenz". 4 2 M i t einer solchen - verfassungsgeforderten - Ausrichtung vergewaltigt der B G U auch nicht die Gewissen nichtchristlicher Schüler und Eltern - , auch dort nicht, wo sie von ihrem Abmeldungsrecht keinen Gebrauch machen. Schon für den Allgemeinunterricht hat das BVerfG die Freiheit des Landesgesetzgebers bestätigt, christlich geprägte Schulformen einzurichten. Eine solche Schule dürfe sich zwar nicht als missionierend verstehen, wohl aber sei ihr christlicher Charakter - außerhalb des Religionsunterrichts - in erster Linie durch die Anerkennung des Christentums als prägender Kultur- und Bildungsfaktor bestimmt. Insofern sei dieser Charakter auch gegenüber Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. 4 3 41
Dazu eindringlich K.-H. Kästner, Die Konfessionalität des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen zwischen Religionspädagogik und Jurisprudenz in: Festschrift für Link (Anm. 6), S. 301 ff.; Meckel (Anm. 29), S. 288 ff. 42 C. Starck, Religionsunterricht in Brandenburg. Art. 141 GG als Ausnahme von der Regel des Art. 7 Abs. 3 GG in: J. Isensee u. a. (Hrsg.) Dem Staate, was des Staates ist - der Kirche, was der Kirche ist: Festschrift für Joseph Listi, Berlin 1999, S. 391 ff. (409).
« BVerfGE 41, 29 ( 4 5 - 5 2 ) ; 41, 65 ( 7 7 - 7 9 ) ; 41, 88 (107 f.); vgl auch E 93, 1 (22 f.) Das Christliche sei als Teil der abendländischen Tradition zu verstehen; die Grundsätze der christlichen Bekenntnisse umfassten diejenigen Werte und Normen, die weitgehend Gemeingut des christlichen Kulturkreises geworden sind (E 41, 6 3 / 8 4 f.). Toleranz ist keine Einbahnstraße: Die Konfrontation mit einem Weltbild, das die prägende Kraft christlichen Denkens bejaht, diskriminiere nicht dissentierende Minderheiten, führe sie jedenfalls solange nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt, als das Ziel der autonomen Persönlichkeitsbildung im weltanschaulich-religiösen Bereich gewahrt ist. Dem elterlichen Erziehungswillen bleibe dann genügend Raum, um dem Kind die eigenen Vorstellungen über den richtigen Weg zu Glaubens- und Gewissensbindung oder deren Verneinung zu vermitteln. Wegen dieser verfassungsrechtlichen Besonderheiten gehe es je-
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Gilt also schon für den Allgemeinunterricht, dem sich die Schüler nicht entziehen können, dass weder Pluralismus noch religiös-weltanschauliche Neutralität oder grundrechtliche Glaubens- und Gewissensfreiheit den Staat dazu zwingen, sich von seinem kulturellen Wurzelgrund zu lösen, so gilt dies erst recht für den in Freiwilligkeit auf Schüler- und Lehrerseite zu erteilenden B G U als überkonfessionellen, aber christlichen Religionsunterricht. Schon in den Verfassungsberatungen von Weimar wurde hervorgehoben, ein Schulabgänger ohne christliche Minimalbildung bleibe ein „Tauber im Konzertsaal" der Kultur. 4 4 Diese prägnante Formulierung hat nichts von ihrer Aktualität verloren.
7. Die Folgerungen für den Einsatz von Lehrkräften Wie dargelegt ist der B G U bei aller Überkonfessionalität und Offenheit seinem Wesen nach christlicher Religionsunterricht, nicht religiös-weltanschaulich neutrale, distanzierte Religionskunde. Nur dies erklärt die Freiwilligkeitsklausel des Art. 33 Abs. 2 auch für Lehrkräfte. Diese christliche Grundlegung schließt es aus, mit einem solchen Unterricht hauptamtlich Lehrkräfte zu betrauen, die einer anderen Religion angehören, also auch Muslime. Eine derartige Beschränkung ergibt sich in Bremen nicht schon daraus, dass - wie im Geltungsbereich von Art. 7 Abs. 3 GG - Lehrkräfte im konfessionellen Religionsunterricht der Bevollmächtigung auch durch ihre Religionsgemeinschaft bedürfen, um die Übereinstimmung mit deren jeweiligen Grundsätzen auch personell zu sichern (dazu näher s. u. I I 4). Hier folgt dieser Grundsatz zwingend aus dem Wesen des BGU: Dessen Adressaten sind seiner verfassungsrechtlichen Zielsetzung nach christliche Schüler oder solche (auch muslimische), denen die Grundlagen des Christentums nahegebracht und die in dessen Kulturbedeutung eingeführt werden sollen. Dass dies nicht ohne Gewissensbeschwer durch sich zu einer anderen Religion oder Weltanschauung bekennende Lehrkräfte geschehen kann, ist eine bleibende Lehre des Kulturkampfs im ausgehenden 19. Jh. und des Kirchenkampfs im „Dritten Reich" 4 5
denfalls nicht an, ein solches Neutralitätsverständnis an den institutionellen staatskirchenrechtlichen Entscheidungen des Art. 140 G G auszurichten. Vielmehr seien hier auch spezifische Traditionen eines Landes von Bedeutung (E 41, 2 9 / 5 2 f.). 44 Abg. Weiß (DDP), abgedr. in: E. Heilfron (Hrsg.), Die Deutsche Nationalversammlung i m Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen Deutschen Volksstaates, Bd. 3, o. J . , S. 1682 (in der 25. Sitzung der Nat.vers. v. 11. 3. 1919). 45
Dazu Μ. Heckel, Der Rechtsstatus des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, Tübingen 2002, S. 59. - Im Kulturkampf wurden vielfach altkatholische Lehrer im katholischen, während des „Dritten Reiches" betont nationalsozialistische Lehrkräfte im evangelischen und katholischen Religionsunterricht eingesetzt, was beides zu erheblichen Konflikten führte. - Allg. u. grundlegend auch ders. (Anm. 29), S. 262 u. ö.
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Damit ist nicht gesagt, dass nicht Muslime zur Mitwirkung an der Unterrichtsgestaltung herangezogen werden könnten. Ebenso wie etwa Vertreter der israelitischen Kultusgemeinde können sie von der verantwortlichen Lehrkraft im Rahmen und unter deren pädagogischer und lehrplangebundener Gesamtverantwortung durchaus eingeladen werden, um als authentische Vertreter einerseits den im Klassenverband vorhandenen Angehörigen ihrer Religion sachkundig und aus erster Hand deren Lehren nahezubringen und andererseits andersgläubige Schüler kompetent über diese Lehren zu informieren. Eine derartige Zuziehung vermag einzelne Unterrichtsstunden zu bereichern, kann aber ohne Verfassungsverstoß nicht größere, von BGU-Lehrkräften zu erteilende Unterrichtseinheiten ersetzen, geschweige denn einen dauerhaften Einsatz andersgläubiger Lehrkräfte legitimieren. Dass eine solche Lehrveranstaltung in deutscher Sprache abzuhalten ist, folgt aus der nur so real wahrzunehmenden staatlichen Schulaufsicht (Art. 28 BremVerf., Art. 7 Abs. 1 GG).
II. Islamunterricht an den bremischen öffentlichen Schulen 1. Islamunterricht im Rahmen des BGU Teil der geschilderten Offenheit des B G U ist es sicherlich, die Schüler auch mit zentralen theologischen Lehren und sozialen Anschauungen des Islam ebenso vertraut zu machen, wie mit denjenigen anderer Weltregionen. Dass hierbei dem Islam ein besonderes Gewicht beigemessen werden kann, folgt einmal aus dessen stärkerer gesellschaftlicher und damit umweltprägenden Präsenz, zum anderen aber auch aus der hier notwendigen Einhegung eines Konfliktpotentials aus Vorurteilen (freilich auch als Folge islamistischer Realitäten). Dies bedeutet indes nicht, dass die verfassungsrechtlich geforderte (Allgemein-)Christlichkeit und biblische Grundlegung des B G U preisgegeben oder relativiert werden können. In ihnen hat der BGU seine curriculare Mitte - ebenso wie der konfessionelle Religionsunterricht im jeweiligen Bekenntnis. Wie dieser hat der B G U deshalb zwar eine über sein eigentliches Thema hinausgehende Informationsaufgabe, aber nicht dergestalt, dass beide Religionen nach religionskundlicher Manier gleichrangig Unterrichtsgegenstand sind. Vielmehr sind zwar Konvergenzen (Monotheismus, Buchreligion u. a.) aufzuzeigen, aber auch die grundlegenden theologischen Unterschiede (etwa Christus-Mohammed, Gemeinschafts-/Kirchenverständnis) deutlich zu machen und dabei auch die christliche Gegenposition beim Namen zu nennen. Dass dies taktvoll und in fairer Darstellung unter Wahrung des Toleranzgebots zu geschehen hat und keine Gräben aufreißen darf, versteht sich - schon im Hinblick auf Art. 33 BremVerf. und § 4 Abs. 3 BremSchulG - von selbst.
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Damit sind die personellen und curricularen Möglichkeiten relativ beschränkt. Informationen über den Islam verfassungskonform im B G U zu vermitteln. Dass im Rahmen des B G U kein islamischer „Gesinnungsunterricht' 4 erteilt werden darf, ergibt sich zweifelsfrei aus der verfassungsrechtlichen Umschreibung der Unterrichtsgegenstände.
2. Islamkunde als selbständiges Lehrfach Der in Bremen seit Beginn des Schuljahres 2003/2004 angelaufene Modellversuch eines Wahlfachs „Islamkunde" 4 6 versucht, diese Defizite auszugleichen, die sich aus Genese und verfassungsrechtlicher Inhaltsbestimmung des B G U im Hinblick auf den inzwischen erheblichen und bleibenden muslimischen Bevölkerungsanteil ergeben. Dass dafür ein dringendes Bedürfnis besteht, folgt einmal daraus, dass Religion als prägender Faktor in Geschichte und Gegenwart nicht aus den Bildungszielen der öffentlichen Schule ausgeklammert werden kann (und wie der B G U zeigt: auch nicht ausgeklammert werden soll); diese Prägekraft ist in weiten Teilen der islamischen Zuwanderer besonders hoch und vielfach identitätsbestimmend. Das von allen politischen Parteien getragene Programm einer Integration der Zuwanderer in die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat eine Realisierungschance nur bei Respektierung dieser Identität - auch in der schulischen Fächergestaltung. Zum anderen besteht ein vitales staatliches Interesse daran, den Islamunterricht nicht (in ihrer Verfassungstreue nicht immer unproblematischen) Moscheen zu überlassen und damit seine Kompatibilität mit den zentralen Verfassungswerten des GG und der BremVerf. sicherzustellen. Das verlangt freilich aus den (oben unter 1) genannten Gründen zwingend die Erteilung in deutscher Sprache. Dieser Unterricht ist bewusst als Islamkunde, dh. als Informationsveranstaltung konzipiert. Seine Erteilung setzt deshalb an sich nicht die islamische Religionszugehörigkeit der Lehrkräfte voraus, entsprechende Kenntnisse können auch von Nichtmuslimen in einem religionskundlichen oder Orientalistikstudium erworben werden. Indes gefährdete dies die Akzeptanz des Faches gerade bei jenen (Eltern und) Schülern, die durch einen solchen Unterricht in besonderer Weise erreicht werden sollen. Da es sich bei der Islamkunde nicht - wie beim B G U - um eine Sonderform des (christlichen) Religionsunterrichts handelt, gilt hier auch nicht der erwähnte Grundsatz, dass der Unterricht nicht von einer Lehrkraft erteilt werden kann, die sich zu einer anderen Religion (oder Weltanschauung) bekennt. Gleichwohl ist aus rechtspolitischen Gründen eine Beschränkung auf muslimische Lehrer i m Regelfall vorzuziehen. Der Islamunterricht ist (noch) kein Alternativfach i. S. d. § 7 Abs. 2 BremSchulG dergestalt, dass bei Nichtteilnahme am B G U eine Pflicht zum Besuch die46
S. Pressemitteilung des Senators für Bildung und Wissenschaft vom 6. 10. 2003.
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ses Faches gegeben wäre. Das gilt auch für muslimische Schüler. Anders als eine allgemeine religionskundliche Unterrichtung wird man die Teilnahme am Unterricht in einer speziellen Religion - auch wenn er lediglich in informierender Form erfolgt - noch dem geschützten Gewissensbereich zuzuordnen haben. Dies gilt nicht nur für Schüler, die davon generell verschont bleiben wollen, sondern auch für solche (oder ihre Eltern), die eine derart neutrale Einführung in ihren Glauben als religiöse Zumutung empfinden. Eine echte Wahlpflichtalternative setzt deshalb die Einrichtung eines gewissensneutralen Ersatzfaches voraus, wie es der in Bremen projektierte Philosophieunterricht wäre. Erst damit könnte eine Pflicht der Schüler zur Wahl zwischen BGU, Islamkunde und Philosophieunterricht gesetzlich begründet werden. Wie der B G U muß auch das Fach Islamkunde allen Schülern ungeachtet ihres religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses offen stehen. Ebensowenig wie der BGU eine Exklusivveranstaltung für Christen ist, ist es die Islamkunde für Muslime. Beide werden nicht von einer Religionsgemeinschaft (mit)verantwortet. Darum gilt hier schon deshalb nicht die Forderung des BVerfG, dass es zur geordneten Teilnahme von (konfessionsgebundenen) Schülern am fremdkonfessionellen Religionsunterricht einer dahingehenden Einigung der beteiligten Religionsgemeinschaften bedarf. 47 Gegen einen Islamkundeunterricht im genannten Verständnis bestehen also keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Allerdings ist zu beachten, dass er nur im Versuchsstadium durch § 13 Brem.SchulG gedeckt ist. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 i. V. m. 28 Abs. 1 GG; Art. 66 Abs. 2 lit. b BremVerf.) erfordert indes für die dauerhafte Einrichtung des Fachs eine entsprechende gesetzliche Grundlage im Brem.SchulG. Fragen wirft nur das Verfahren einer konsentierten Bestimmung der Unterrichtsgrundsätze am „Runden Tisch" unter wesentlicher Einbeziehung islamischer Verbände auf. Nicht dass dagegen selbst von Verfassungen wegen etwas einzuwenden wäre, es ist im Gegenteil in hohem Maße sachgerecht. Zu bedenken ist allein, dass den christlichen Kirchen eine vergleichbare Einwirkung auf den B G U nicht eingeräumt ist. Die darin liegende Paritätsverletzung (dazu näher unten I I 3 b) wird man aber angesichts der Schwierigkeiten, anders hierzulande eine islamische Lehrgrundlage unter Akzeptanz des muslimischen Bevölkerungsteils zu formulieren, jedenfalls im ungefestigten Versuchsstadium als noch verfassungskonform hinnehmen können.
3. Islamischer Religionsunterricht Trotz des mit den islamischen Vereinen und Verbänden erzielten Konsenses über ein inhaltliches Grundkonzept des Faches Islamkunde 4 8 erscheint es fraglich, ob 47 BVerfGE 74, 244 (253).
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die Beschränkung auf eine Informationsveranstaltung auf Dauer von den muslimischen Eltern und Schülern akzeptiert, aber auch, ob sie in der Praxis respektiert wird und damit durchzuhalten ist. Ein solcher Unterricht scheint mir seinem Wesen nach eher zum „konfessionellen Gesinnungsunterricht" zu tendieren, als dies beim stärker traditionell bestimmten und durch die StGH-Entscheidung rechtlich determinierten B G U der Fall ist (und sein kann). Dafür spricht schon - wie bereits erwähnt - , dass das „Grundkonzept" hier von den Vertretern der betroffenen Religionsgemeinschaft erarbeitet wurde, die damit in der Sache ihre „Grundsätze" i. S. d. Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG formuliert hat. So begrüssenswert und sachangemessen ein solches Verfahren auch ist - nur die legitimierten Vertreter des Islam können authentisch (d. h. ohne säkularisierende Veräußerlichung und Verfremdung und damit über eine distanzierte Religionskunde hinausgehend) dessen Lehren interpretieren, ebenso wie es nur die christlichen Kirchen im Hinblick auf ihre Religion können, 4 9 - im bremischen Schul(verfassungs)recht stellt es eine Besonderheit dar und wirft delikate verfassungsrechtliche Probleme auf. Die Gravitation der „Islamkunde" hin zu einem „echten" konfessionellen Religionsunterricht stellt daher die Frage nach dessen Zulässigkeit.
a) Die allgemeine Problematik
eines islamischen Religionsunterrichts
Unbestritten ist, dass die institutionelle Garantie des Art. 7 Abs. 3 GG nicht nur dem christlichen Religionsunterricht gilt, sondern alle Religions- (und Weltanschauungs-)Gemeinschaften einschließt. Darin bewährt sich die Offenheit des deutschen Staatskirchen-(bzw.: Religionsverfassungs-)rechts. Vorausgesetzt ist auch nicht die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 140 G G / A r t . 137 Abs. 5 W R V ) . 5 0 Gefordert ist lediglich eine (in den Bundesländern unterschiedlich bestimmte) Mindestschülerzahl, die von den Muslimen jedenfalls in den Ballungszentren in aller Regel erheblich überschritten wird.
48 S. die zitierte Pressemitteilung des Senators für Bildung und Wissenschaft 6. 10. 2003.
vom
4t
; Meckel, Rechtsstatus (Anm. 45), S. 52 ff.; Link, Religionsunterricht (Anm. 26), S. 489 ff.; ders., Die Situation des Religionsunterrichts in Deutschland - rechtliche Regelungen und aktuelle Probleme, in: A. Rinnerthaler (Hg.), Historische und rechtliche Aspekte des Religionsunterrichts, Frankfurt am Main 2004, S. 395 ff. (398). Zu Bremen C. Link (Anm. 10), S. 87 ff., 109. ™ BVerfG, U. v. 19. 12. 2000, NJW 2001, S. 429 ff. (433). - Zu dieser Kontroverse C. Link, ZevKR 46 (2001), S. 257 ff. (280 f. m. Nachw. in Fn. 42). - Die umstrittene Frage, ob der Einrichtung eines Religionsunterrichts zugleich ein grundrechtlicher Anspruch auf Seiten der Religionsgemeinschaften korrespondiert, kann hier dahingestellt bleiben; vgl. dazu U. Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000, und neuerdings (bejahend) BVerwG, U. v. 23. 2. 2005 (6 C 2 / 0 4 ) , NJW 2005, S. 2101 ff. = DVB1. 2005, S. 1128 ff.
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Das Problem eines islamischen Religionsunterrichts lag und liegt nicht etwa in staatlicher oder gar kirchlicher Obstruktion, sondern darin, dass sich die Muslime nicht auf einen wenigstens von einer der islamischen Glaubensrichtung anerkannten Ansprechpartner zur Bestimmung der „Grundsätze" gegenüber der staatlichen Schulverwaltung einigen konnten. Dies hatte nicht zuletzt seinen Grund darin, dass die Konfliktlinien innerhalb der Muslime nicht primär entlang der innerislamischen „Konfession„grenzen verlaufen, sondern überwiegend ethnisch, politisch oder ideologisch bedingt sind. Zudem kennt der Islam keine etwa den christlichen Kirchen vergleichbare Organisationsstruktur, die ihn oder Teile von ihm zur rechtlich fassbaren „Religionsgemeinschaft" macht. Daran sind auch islamische Dachverbände mit einem entsprechendenden Anliegen vor den Gerichten gescheitert. Die grundgesetzliche Garantie erfordert in diesem Fall aber zu ihrer Realisierung eine gewisse verfassungsrechtliche Phantasie, die namentlich auf kommunaler Ebene zu erfolgreichen Versuchen mit örtlichen muslimischen Ansprechpartnern geführt hat. Auch der bremische Schulversuch reiht sich hier ein, ungeachtet der Frage, inwieweit die „islamischen Verbände und Vereine" dem grundgesetzlich vorgesehenen Bild einer „Religionsgemeinschaft" auch wirklich entsprechen. 51 Insofern begegnete ein islamischer Religionsunterricht in der (tendenziellen) bremischen Gestaltungsform deshalb keinen durchgreifenden grundgesetzlichen Bedenken.
b) Art. 141 GG und Art. 32 BremVerf. Größere Schwierigkeiten bereitet indes das Problem der spezifischen landesrechtlichen Ausgestaltung der Religionsunterrichtsgewährleistung in Bremen. Wiederum ist - soweit ersichtlich - unbestritten, dass Art. 141 ein von dessen Geltungsbereich erfasstes Land nicht hindert, von der Ausnahmeklausel keinen Gebrauch mehr zu machen und kraft seines verfassungsrechtlichen Ermessens einen Art. 7 Abs. 3 entsprechenden Religionsunterricht einzuführen. 52 Dies setzte eine Änderung der „anderen landesrechtlichen Regelung" i. S. d. Art. 141 GG voraus, in Bremen demgemäß eine solche des Art. 32 BremVerf. Eine derartige Änderung könnte aber nicht auf die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts beschränkt bleiben. Dem stünde bundesverfassungsrechtlich bereits der Grundsatz der religionsrechtlichen Parität entgegen, also das (zwingende) Gebot der Gleichbehandlung aller Religions- (und Weltanschauungs-)gemeinschaften durch die staatliche Gewalt. Nach heute ganz herrschender Auffassung findet es seine Rechtsgrundlage im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 si Dazu Hildebrandt (Anm. 50), S. 221 ff., 225 ff. m. Nachw. - und neuestens jetzt S. Muckel, Religionsfreiheit für Muslime in Deutschland in: Festschrift für Listi (Anm. 42), S. 715 ff. (bes. S. 736 ff.). 32 Statt vieler: v. Campenhausen, v. M . / K . / S t . (Anm. 9), Art. 141 Rdnr. 2 m. w. Nachw.
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GG. Von den speziellen Paritätsnormen der Verfassung ist zudem hier einschlägig Art. 7 Abs. 3 G G . 5 3 Gleichheit im Rechtssinne bedeutet freilich nicht schematische Egalisierung und Nivellierung. Lebenssachverhalte gleichen sich nicht völlig, sondern weisen nur gewisse, aus einem Oberbegriff abgeleitete gemeinsame rechtliche Merkmale auf. Aber auch dies kann nur heißen, dass wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches ungleich behandelt wird. Diese Grundregel hat das BVerfG in seiner sog. „neuen Formel" dahingehend präzisiert, dass die Verfassungsnorm gebiete „alle Menschen vor dem Gesetz gleichzubehandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten". 5 4 Im staatlichen Religionsverfassungsrecht bedeutet dies, dass zwischen Religionsgemeinschaften 55 dort differenziert werden kann und muß, wo es ihre jeweilige - auf die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 GG /137 Abs. 3 WRV) gegründete Eigenart von Lehre und Verfassung gebietet. Der grundrechtssichernde Verfassungsstaat ist nicht gehalten, sie über einen Leisten zu schlagen, sondern er gewährt ihnen gleiche Entfaltungsfreiheit gemäß ihrer jeweiligen Lehrgrundlage und schützt sie darin auch in ihrer Ungleichheit. 5 6 Dies bedarf hier indes keiner Vertiefung, da jedenfalls die in betracht kommenden christlichen Kirchen ebenso wie die muslimischen Gemeinschaft die religiöse Erziehung in der Schule als Teil ihres Auftrags ansehen und deshalb prinzipiell die Einrichtung von Religionsunterricht ihres Bekenntnisses fordern. 57 Insoweit bestehen daher keine Unterschiede, die eine Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich rechtfertigen könnten. Zwingende Voraussetzung für die Einführung (oder Zulassung) eines islamischen Religionsunterrichts wäre deshalb eine Änderung des Art. 32 BremVerf. und in dessen Folge von § 7 Brem.SchulG - durch die auch in Bremen die allgemeine Religionsunterrichtsgarantie des Art. 7 Abs. 3 GG geltendes Recht wird.58 Dazu allg. grundlegend Meckel, Die religionsrechtliche Parität, in: Handbuch des Staatskirchenrechts (Anm. 26), Bd. 1,2. Aufl. 1994, S. 589 ff. (hier 589 f.). 54 BVerfGE 55, 72 (88); seither st. Rspr., vgl. ζ. Β. E 95, 141 (153). 55 Die auch als Juristische Personen gem. Art. 19 Abs. 3 GG Träger dieses Grundrechts sind 56 Dazu Meckel (Anm. 53), S. 601 ff. 57 Nachw. bei Link (Anm. 26), S. 455 ff. - Für zahlreiche Weltanschauungsgemeinschaften gilt - mutatis mutandis - das gleiche.
58 Die dann gegebene Rechtslage änderte sich auch nicht durch eine ersatzlose Streichung des Art. 32 BremVerf. (mit Ausnahme des 1. Halbsatzes von Abs. 1). Abs. 3 gewährt eine 9 FS Bartlsperger
Christoph Link
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Dies bedeutete nicht zwangsläufig das Ende des BGU. Die Religionsunterrichtsgarantie begründet ein Angebot an die dazu bereiten und fähigen Religionsgemeinschaften, nimmt sie aber nicht in die Pflicht. Wenn also die christlichen Kirchen, insbesondere die Bremische Evangelische Kirche und das katholische Bistum übereinstimmend erklären, dass ein Unterricht nach Art des B G U ihren Grundsätzen entspricht, hätte die Hansestadt das zu respektieren. In diesem Fall könnten auch keine grundrechtlichen Ansprüche von Eltern / Schülern auf Einrichtung eines konfessionellen Religionsunterrichts geltend gemacht werden. Ob insoweit überhaupt eine Grundrechtsträgerschaft besteht, ist streitig, aber wohl zu bejahen. Jedenfalls aber wäre grundrechtsverpflichtet nur der Staat, nicht sind es die Religionsgemeinschaften. Machen diese vom Angebot des konfessionellen Religionsunterrichts keinen Gebrauch oder erklären sie einen christlich-überkonfessionellen Religionsunterricht mit ihren „Grundsätzen" i. S. v. Art. 7 Abs. 3 Satz 2 GG für vereinbar, so liefe jeder Angriff dagegen von Schüler-/Elternseite ins Leere, da sein Erfolg immer das Einverständnis der betroffenen Religionsgemeinschaften ςα
voraussetzt.'
4. Die Lehrkräfte für Islamkunde und islamischen Religionsunterricht a) Ausbildung Ungeachtet der bereits behandelten Frage der Religionszugehörigkeit erfordert jedenfalls die dauerhafte Einrichtung in beiden Varianten, dass sie nur von Lehrkräften erteilt werden, die - entsprechend den jeweiligen schulstufenabhängigen Anforderungen - über eine den übrigen Lehrkräften gleiche oder doch zumindest qualitativ vergleichbare Ausbildung verfügen. Das bedeutet, dass den Staat die Vorsorgepflicht für geeignete Ausbildungsstätten, dh. für die Bereitstellung eines entsprechenden islamkundlichen bzw. religionspädagogischen Lehrangebots an den einschlägigen Hochschulen trifft. 6 0
Befugnis, die ohnehin Teil der bundesverfassungsrechtlichen Gewährleistungen von Religionsfreiheit und kirchlichem Selbstbestimmungsrecht ist. Einer derartigen Garantie bedarf es deshalb nicht (so zutr. auch H. Neumann, Die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Stuttgart 1996, Art. 32 Rdnr. 11; vgl. auch Füssel (Anm. 10), S. 194). - Unabhängig davon ist die aus den genannten Gründen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gebotene Änderung des Schulgesetzes. Dazu Hildebrandt (Anm. 50), S. 232 f.; Link (Anm. 26), S. 496 f.; M. Hechel, Religionsunterricht in Brandenburg, Berlin 1998, S. 33 f. - jeweils m. Nachw. 60
Dazu näher Link (Anm. 26), S. 473 f. m. Nachw. - selbstverständlich könnte dies auch i m Wege der Kooperation mit ausserbremischen Hochschulen geschehen.
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b) Religionsgemeinschaftliche Beauftragung bei „konfessionellem " Religionsunterricht Käme es zur Einrichtung eines Islamunterrichts i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG, so wäre es weiterhin geboten, dass die Übereinstimmung mit den „Grundsätzen" der jeweiligen (hier: muslimischen) Religionsgemeinschaft auch personell durch eine kumulativ zum staatlichen Unterrichtsauftrag hinzutretende Beauftragung seitens der vertretungsberechtigten Organe der Gemeinschaft zu sichern ist - analog der katholischen Missio canonica gem. c. 805 C I C / 1 9 8 3 bzw. der von der zuständigen evangelischen Landeskirche zu erteilenden Vocatio. Dies mit der Rechtsfolge, dass eine Entziehung (die in den Schutzbereich des religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrechts gem. Art. 140/137 Abs. 3 WRV fällt) der Niederlegung des Unterrichts durch die Lehrkraft selbst gleichsteht. 61 Der bereits angesprochene Paritätsgrundsatz verpflichtete dann aber das Land Bremen auch zu einer Parallelregelung für andere religionsunterrichtsberechtigte Gemeinschaften, insbesondere für die christlichen Kirchen.
61
9:
Dazu und zu den dienstrechtlichen Folgen Link (Anm. 26), S. 470 ff., 491 ff.
Das Vertrauensschutzprinzip im Verfassungsund Verwaltungsrecht Von Karl Albrecht Schachtschneiden
Erlangen-Nürnberg
I. Freiheitliche Verläßlichkeit der Gesetze Den Frieden unter den Menschen sichern die Gesetze. Diese Gesetze schaffen Recht, wenn sie die Freiheit und damit die Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklichen. Der Staat des Rechts, der Rechtsstaat also, als Verwirklichung der Freiheit durch Gesetzlichkeit, muß die Verwirklichung des Rechts sicherstellen. 1 Dem dient vor allem der gerichtliche Rechtsschutz. 2 Die Menschen müssen sich auf die Gesetze des gemeinsamen Lebens einrichten können. Die Verläßlichkeit der Gesetze ist Bedingung des guten Lebens. Sie ist vor allem notwendig, wenn der Mensch Zwecke verwirklichen will, weil er dafür planen muß. Der Mensch ist um Sicherheit in seiner Lebenswelt bemüht. Gesetze und Verträge sind erforderlich, um ein gesichertes gemeinsames Leben zu ermöglichen, nicht nur weil sie die Menschen voreinander schützen, sondern auch, weil sie zu erwarten erlauben, daß die Gegebenheiten, auf die sich der Mensch eingestellt hat, nicht ständig verändert werden. Frei ist der Mensch, der sich, um sein Glück zu suchen, Zwecke so setzen kann und darf, wie er w i l l . 3 Freilich dürfen seine Handlungen andere nicht schädigen. Freiheit ist darum Autonomie des Willens, d. h. die allgemeine Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens. 4 Die Freiheit der Zwecksetzung hängt aber davon ab, daß der Mensch die selbst gesetzten Zwecke verwirklichen kann. Wenn die Zwecksetzungen ohne Stabilität sind, sind die Vorkehrungen des Menschen, mittels derer er seine Zwecke erreichen will, vergebens und damit seine Zweckfreiheit ausgehöhlt. Die Gesetze müssen darum derart stabil sein, daß die Menschen ihr Leben darauf nach eigenen Zwecken aufbauen können. Das verlangt nach hinreichender Dauerhaftigkeit der Gesetze. Die Menschen müssen somit auf den Bestand der Gesetze 1
Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 6. Aufl., Erlangen-Nürnberg 2005, S. 4 ff., 36 ff., 41 ff. 2
Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 122 ff.
3
K. A. Schacht Schneider, Res publica res populi - Grundlegung einer allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheitslehre, Rechtslehre und Staatslehre, Berlin 1994, S. 297 ff.; ders., Freiheit in der Republik, Manuskript 2005, 2. Kap., V, 5. Kap., III, 1. 4
Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 18 ff., 36 ff., 41 ff.; ders., Res publica (Anm. 3), S. 35 ff., 279 ff., 410 ff., 519 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 2. Kap., III, IV, 5. Kap. II, 3, 7. Kap., III.
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Karl Albrecht Schachtschneider
vertrauen dürfen. Das Vertrauensschutzprinzip ist ein fester Bestandteil der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ohne daß dieses Prinzip explizit im Grundgesetz angesprochen wäre. 5 Das Gericht sieht in der „Verläßlichkeit der Rechtsordnung' 4 „eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände ohne weiteres im nachhinein stärker belastende Rechtsfolgen knüpfen, als sie zur Zeit des Ablaufs dieses Verhaltens oder des Eintritts dieser Umstände von dem damals geltenden Recht angeordnet waren". 6 Zu beachten ist das Rechtsstaatsprinzip, „hinter dem letztlich der Gedanke der Freiheitsgewähr steht; denn Verläßlichkeit der Rechtsordnung ist wesentliche Voraussetzung für Freiheit, d. h. die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug". 7 Das Vertrauensschutzprinzip ist ein Grundprinzip des Rechts, das in allen Rechtsgebieten zum Tragen kommt. 8 Es folgt aus dem Freiheitsprinzip, das sein Gesetz im kategorischen Imperativ hat. 9 Wer das Vertrauen eines Anderen enttäuscht, das er begründet hat, muß den Vertrauensschaden ausgleichen (vgl. § 122 BGB). Ohne eine hinreichende Stabilität der Erwartungen, ohne den Schutz des Vertrauens in die Verläßlichkeit der gegenseitigen oder allseitigen Versprechen, zu denen im weiteren Sinne auch die Ordnungen des gemeinsamen Lebens gehören, also vor allem die Gesetze, können die Menschen nicht miteinander leben. Verträge beruhen auf Gegenseitigkeit (Prinzip des do ut des), Gesetze auf Allseitigkeit (Prinzip des Konsenses). Versprechen sind Fakten, auf welche die Menschen ihr Handeln einrichten. Wenn die Versprechen nicht gehalten werden, ist das eine Schädigung derer, die auf das Versprechen vertraut haben, also deren Verletzung. Das aber verbietet das Prinzip der allgemeinen Freiheit; denn Freiheit ist die „Un5
Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 403 ff.
6 BVerfGE 72, 200 (257). ι BVerfGE 76, 256 (347 f.). 8 Zum Vertrauensschutzprinzip C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, München 1971; K.-H. Lenz, (unter Mitarbeit von Schachtschneider), Das Vertrauensschutzprinzip, Berlin 1968; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., München 1984, S. 283 ff.; W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers - Zur Theorie der Rechtsstaatlichkeit und der Rückwirkung der Gesetze, in: D. B l u m e n w i t z / A . Randelzhofer (Hrsg.), Festschrift für F. Berber zum 75. Geburtstag, München 1973, S. 273 ff.; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Tübingen 1986, S. 208 ff., 273 ff.; auch Β. Pie roth, JZ 1990, 279 ff.; V. Götz, Bundesverfassungsgericht und Vertrauensschutz, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festschrift für das BVerfG, Tübingen 1976, Bd. II, S. 421 f.; H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. III, Heidelberg 1988, § 60, S. 211 ff.; G. Kisker/G. Püttner, V V D S t R L 32 (1974), S. 149 ff., 200 ff. 9 Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 18 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht. Kritik der Fiskustheorie, exemplifiziert an § 1 U W G , Berlin 1986, S. 97 ff.; ders., Res publica (Anm. 3), S. 259 ff., 279 ff., 325 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 2. Kap., IV, V I I , 4. Kap., 5. Kap., II, 7. Kap., I, II, III.
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abhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" (Kant). 1 0 Letztlich ist das Vertrauensschutzprinzip das Rechtsprinzip; denn zur Gesetzlichkeit des Rechts gehört die Beständigkeit der Rechtsakte oder eben der Willensakte. Unbeständigkeit der Gesetze stellt deren Notwendigkeit und Allgemeinheit in Frage. Gesetze, die jederzeit zur Disposition stehen, sind keine Gesetze, sondern Maßnahmen, 11 die, um dem Rechtsprinzip der Freiheit zu genügen, der gesetzlichen Grundlage bedürfen. 1 2 Auch die Verbindlichkeit der Verträge gründet im Rechtsprinzip selbst. 13 Das Vertrauensschutzprinzip ist somit ein Lebensprinzip der Menschen. Es gehört zur Menschheit des Menschen. Es ist wie das Rechtsprinzip die Logik der allgemeinen und gegenseitigen Freiheit.
II. Prinzip der Allgemeinheit der Gesetze und der Wechsel der Lagen Recht hat Allgemeinheit, auch in der zeitlichen Dimension. Freiheitsrechtlich geht der Vertrauensschutzgedanke im Prinzip der Allgemeinheit der Gesetze auf. Weil die Gesetze verbindlich machen sollen, was für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit richtig ist, 1 4 und der republikanische Parlamentarismus als das bestmögliche Verfahren zur Erkenntnis von Wahrheit und Richtigkeit konzipiert ist, 1 5 sichert der Idee nach die Allgemeinheit der Gesetze die Rechtlichkeit. Nur wenn die Sachlage sich ändert, müssen, ja dürfen auch die Gesetze geändert werden, falls sie von der richtig erkannten Lage ausgegangen sind und das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit erkannt haben. Wenn die Lage sich ändert, kann sich niemand billigerweise auf Gesetze berufen, welche der Lage nicht mehr gerecht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat „die unabdingbare Notwendigkeit" betont, „die Rechtsordnung zu ändern, etwa Konjunktur-, Sozial-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik betreiben zu können, um den Staat handlungsfähig und die Rechtsordnung anpassungsfähig zu erhalten". 1 6 Das Vertrauen in die unrichtig gewordenen Gesetze ist nicht schutzwürdig. i« Metaphysik der Sitten, W. Weischedel (Hrsg.), Bd. 7, Frankfurt a. M . 1968, S. 345. 11 Zum Maßnahmegesetz als Problem BVerfGE 24, 33 (52); 25, 371 (396 f.); K. Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, Berlin 1963; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., S t u t t g a r t / B e r l i n / K ö l n / M a i n z 1966, S. 740 ff.; C.-F. Menger/H. Werhahn, V V D S t R L 15 (1957), S. 3 ff., 35 ff.; wegweisend C. Schmitt, V V D S t R L 1 (1924), S. 63 ff., 95 ff. 12 13
Z u m Gesetzesvorbehalt Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 133 ff.
Schachtschneider, V I I I , 2.
Res publica (Anm. 3), S. 404 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 8. Kap.,
14 Schachtschneider, Res publica (Anm. 3), S. 350 ff., 573 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 2. Kap., V I , 3, 3. Kap., III, 3, V I I I , 3, 7. Kap., I, 2, u.ö. is Schachtschneider, Res publica (Anm. 3), S. 536 ff., 637 ff., 707 ff., 810 ff. 16 BVerfGE 76, 256 (347 f.).
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Das Prinzip der Allgemeinheit der Gesetze wäre mißachtet, wenn Änderungen der Gesetze für Lagen zugelassen würden, welche sich nicht verändert haben. Das Gericht hat zwar den „vollen Schutz zugunsten des Fortbestands der bisherigen Gesetzeslage4' zurückgewiesen, weil das „den dem Gesamtwohl verpflichteten demokratischen Gesetzgeber in wichtigen Bereichen gegenüber den Einzelinteressen lähmen, das Gesamtwohl schwerwiegend gefährden und die Versteinerung der Gesetzgebung bedeuten" würde, „was den eines Ausgleichs bedürftigen Widerstreit zwischen der Verläßlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Blick auf den Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen würde", aber dem Gesetzgeber zugestanden, „Normen, die in erheblichem Umfang an in der Vergangenheit liegende Tatbestände anknüpfen, zu erlassen und unter Änderung der künftigen Rechtsfolgen dieser Tatbestände auf veränderte Gegebenheiten mit einer Änderung seines Normenwerks zu reagieren oder durch eine solche Änderung erst bestimmte soziale Gegebenheiten in einem gewissen Sinn zu beeinflussen". 17 Die Erkenntnis des Wahren und Richtigen des früheren Gesetzgebers wird durch eine Gesetzesänderung, die auf „veränderte Gegebenheiten" reagiert, nicht in Frage gestellt, sofern diese Gegebenheiten nicht lediglich veränderte Politik sind. Die Entwicklung zur deutschen Einheit gab und gibt ein gutes Beispiel für eine derartige Änderung der Lage. Gesetze, welche lange Zeit für die Bundesrepublik Deutschland richtig waren, waren und sind es angesichts der Notlage des Teiles Deutschlands, der nicht unter der grundgesetzlichen Verfassung leben konnte, nicht mehr. Das gilt vor allem für die Sozial- und die Steuergesetze. Eine beliebige Machbarkeit wäre mit dem Prinzip des Rechts unvereinbar. In § 14 der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 heißt es: „Neue Gesetze können auf vorhin vorgefallene Handlungen und Begebenheiten nicht angewendet werden."
III. Vertrauensschutzprinzip als Kompensation parteienstaatlicher Instabilität In der Praxis des entwickelten Parteienstaates 18 werden Gesetze vielfach aus anderen Gründen als dem der Veränderung der Lage geändert, nämlich weil ein Wechsel der parteilichen Mehrheiten eine andere Politik ermöglicht. Das beweist nur, daß entweder die alte oder die neue Gesetzgebung oder sowohl die alte als auch die neue Gesetzgebung es nicht vermocht haben, das Richtige zu erkennen und verbindlich zu machen. Die veränderten parteilichen Mehrheiten rechtfertigen
>7 BVerfGE 76, 256 (348). 18
Dazu Schachtschneider, (Anm. 3), S. 1045 ff.
Prinzipien (Anm. 1), S. 36 ff., 191 ff.; ders., Res publica
Das Vertrauensschutzprinzip i m Verfassungs- und Verwaltungsrecht
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eine Änderung der Gesetze nicht, weil republikanisch nicht die Mehrheit des Volkes oder gar die der Partei Vertreter im Parlament das Gesetz tragen, sondern das Volk und dessen Vertreter, also das gesamte Parlament (argumentum e Art. 20 Abs. 2 S. 1 und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Das Gesetz ist der Wille des Volkes, als richtig erkannt von den Vertretern des Volkes, nicht ein Machtakt einer Mehrheit, die realiter regelmäßig eine Minderheit ist. 1 9 Die häufige Novellierung der Gesetze ist ein Beweis der Unfähigkeit des Parteienstaates zur freiheitlichen Gesetzgebung. Darin offenbart sich, daß der Parteienstaat den Parlamentarismus ruiniert hat. 2 0 Gesetze der Parteien verfolgen parteiliche Zwecke. Folglich stehen sie ständig zur parteilichen Disposition. Das Vertrauensschutzprinzip hat angesichts der Mißstände parteienstaatlicher Gesetzgebung kompensatorische Wirkung. Eine bürgerliche Gesetzgebung, welche vom Sittengesetz bestimmt ist, bedarf keines vom Verfassungsgericht praktizierten Vertrauensschutzprinzips; denn der Gesetzgeber hätte das Vertrauen des Volkes. Das Gesetz wäre Recht. Die Sittlichkeit des Rechts hängt von der Moralität des Gesetzgebers ab, des Volkes und seiner Vertreter. 21 Ein Vertrauensschutzprinzip ist das Surrogat für das im Parteienstaat verfallene Vertrauen des Volkes zum Gesetzgeber. Wesentliche Verfassungsinstitute, welche das Bundesverfassungsgericht mit dem Rechtsstaatsprinzip verbindet, transformieren die Verantwortung für die praktische Vernunft des gemeinsamen Lebens von dem insoweit mangels Sittlichkeit notwendig versagenden parteienstaatlichen Gesetzgeber auf das Bundesverfassungsgericht, den Notgesetzgeber im Parteienstaat. 22 Ein Indiz für derartige kompensatorische Verfassungsentwicklung ist es, wenn Verfassungsinstitute im Verfassungstext nicht zu finden sind. In einer vollendeten Republik bedürfte es im Bereich der Gesetzgebung keines Vertrauensschutzgrundsatzes. Die Übergangsregelungen bei Änderung der Sachlage würden dieser gerecht werden. Der Republik genügt die Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens, weil republikanische Gesetze Recht schaffen.
>9 Schachtschneider, Res publica (Anm. 3), S. 106 ff., 637 ff., 707 ff. 20
Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 191 ff., auch S. 212 ff.; ders., Res publica (Anm. 3), S. 772 ff., 943 ff., 963 ff., 1060 ff., 1086 ff., 1113 ff., 1147 ff.; ders., Der republikwidrige Parteienstaat, in: D. M u r s w i e k / U . Storost/H. A. Wolff (Hrsg.), Staat - Souveränität - Verfassung, Festschrift für H. Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 141 ff. 21
Schachtschneider, Res publica (Anm. 3), S. 564 ff., 584 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 2. Kap., V I I ; ders., Sittlichkeit und Moralität, in: ders., hrsg. v. D. I. S i e b o l d / A . EmmerichFritsche, Freiheit - Recht - Staat. Eine Aufsatzsammlung zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, S. 41 ff. 22 Vgl. Schachtschneider, Res publica (Anm. 3), S. 536 ff., 858 ff., 909 ff., 937 ff., 943 ff., 963 ff.
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IV. Unmöglichkeit der Rückwirkung von Gesetzen und Fiktion von Vergangenheit 1. Unmöglichkeit der Rückwirkung von Gesetzen a) Handeln kann aus der Logik des Rechts nicht nachträglich rechtswidrig werden, weil das Recht das Handeln des Menschen bestimmen will, nicht aber Handlungen als Gegebenheiten in der Welt, losgelöst vom handelnden Menschen, bewertet. Wenn und weil der Mensch aber schon gehandelt hat, läßt sich sein Handeln nicht mehr steuern. Eine rückwirkende rechtliche Regelung menschlichen Handelns widerspricht somit der Lebenswirklichkeit und darum dem Begriff des Rechts. Sie kann dem Rechtsstaat nicht genügen. Richtigerweise gibt es darum keine rückwirkenden Gesetze. Die Vergangenheit ist Geschichte und kann durch keinen Menschen mehr beeinflußt werden. Auch die sogenannten rückwirkenden Gesetze schaffen immer nur Rechte und Pflichten für die Zukunft. Steuergesetze etwa, welche an vergangene Ereignisse anknüpfen, begründen Steuerzahlungspflichten schlechterdings nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Auch das Bundesverfassungsgericht anerkennt, daß Handeln nicht durch rückwirkende Regelungen, etwa disziplinar- oder schadensersatzrechtlich, ins Unrecht gesetzt werden darf. 2 3 b) Im strafrechtlichen Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG (nulla poena sine lege) 2 4 kommt nicht spezifisch der Vertrauensschutzgedanke zum Ausdruck, 2 5 etwa in dem Sinne, daß man sich darauf verlassen können müsse, Handlungen seien nicht strafbar, wenn sie nicht mit Strafe bedroht waren, als sie ausgeführt wurden. Vielmehr ist die republikanische Logik dieser Regelung, daß Rechte und Pflichten unabweisbar einer gesetzlichen oder vertraglichen Grundlage bedürfen. Solange solche Grundlagen nicht bestehen, hat der Mensch das Recht zur freien W i l l k ü r . 2 6 Ist er nicht zu einem Handeln verbunden, gibt es für sein Handeln keine verbindlichen Maximen außer dem Sittengesetz. Das Handeln ist somit rechtmäßig.
2. Fiktion von Vergangenheit und deren Neuregelung Allenfalls kann die Vergangenheit so definiert werden, als wäre sie eine andere gewesen, als sie es tatsächlich war. Das sind Fiktionen, mit denen die Rechtsordnung häufig arbeitet. Im Falle von BVerfGE 72, 302 (318 ff.) sollten formnichtige Grundstückskaufverträge durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung beurkundungsrechtlicher Vorschriften vom 20. Februar 1980 von Inkrafttreten des Gesetzes 23 Vgl. BVerfGE 63, 343 (357 ff.); 97, 67 (78 ff.). 24
Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 341 ff. So aber BVerfGE 25, 269 (289 ff.).
26 Schachtschneider, Res publica (Anm. 3), S. 374 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 2. Kap., V, V I , 8. Kap., II.
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an als gültig behandelt werden, nachdem der Bundesgerichtshof diese Verträge 1979 wegen Verstoßes gegen § 313 BGB in Änderung langjähriger Rechtsprechung als nichtig erkannt hatte. Das ist eine Fiktion von Verträgen, welche die Vertragsfreiheit in bestimmter, mehr als fragwürdiger Weise regelt. Das Prinzip der Allgemeinheit der Gesetze war nicht beachtet; denn ein Rechtssatz mit dem allgemeinen Inhalt, alle Verträge sollen vom Gesetzgeber für gültig erklärt werden, wenn sie aufgrund einer Änderung der Rechtsprechung von den Gerichten als nichtig erkannt wurden, hebt die Verbindlichkeit von Gesetzen der Vergangenheit für die Zukunft auf, wenn eine langdauernde Rechtsprechung geändert wird. Sie desavouiert eine Änderung der Rechtsprechung und mißachtet damit die gewaltenteilige Funktionenordnung. 27 Allgemeine Maxime des Gesetzgebers könnte es sein, Abwicklungsschwierigkeiten zu erleichtern. Das entspräche der Praxis fehlerhafter Arbeits- oder Gesellschaftsverträge, deren Fehlerhaftigkeit nur zur Vernichtbarkeit der Verträge ex nunc, nicht ex tunc führt (fehlerhafte oder faktische Rechtsverhältnisse). 28 Ein wirksamer Vertragsschluß aber sollte nicht fingiert werden. Die A l l gemeinheit und Richtigkeit eines Gesetzes verantwortet der Gesetzgeber. Er ist freilich auf die praktische Vernünftigkeit seiner Erkenntnisse von den Gerichten überprüfbar. 29
V. Rückwirkungsverbot des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht praktiziert auf der Grundlage eines verfassungsrangigen 3 0 Vertrauensschutzprinzips ein differenziertes Verbot der Rückwirkung von Gesetzen, dessen Wirkung von der Abwägung zwischen einem schutzwürdigen Vertrauen auf das Fortgelten der bestehenden Lage und einem Interesse der Allgemeinheit an dessen Änderung abhängt. 31 Das Gericht hat sein Vertrauensschutzprinzip in umfangreicher Rechtsprechung aus dem der Freiheit dienenden Rechtsstaatsprinzip 32 abgeleitet, genauer aus dem Prinzip materieller Rechtssicherheit, 33 aber zunehmend auch aus speziellen Grundrechten, wie Art. 2 Abs. 2, 27 Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 180 ff., auch S. 288 ff. 28
Dazu G. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch. Systematische Darstellung und Nachschlagewerk für die Praxis, 7. Aufl., München 1992, S. 174 ff.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., Hamburg 1997, S. 143 ff.; P. Ulmer, MünchKomm-BGB, Schuldrecht, Besonderer Teil III, 3. Aufl., München 1997, § 705, Rn. 243 ff. (263 f.). 29 Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 379 ff., 385 ff., 392 ff.; ders., Res publica (Anm. 3), S. 978 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 7. Kap., II, 2. ™ BVerfGE 99, 128 (164 ff.). BVerfGE 14, 288 (300); 25, 142 (154); 43, 242 (286); 53, 224 (253 f.); 63, 152 (175); 72, 175 (196); 105, 17(40); 105,48 (58); 109, 133 (181 f., 186). 32 Seit BVerfGE 13, 261 (271); 25, 269 (290 ff.); 72, 200 (257 f.); 75, 246 (280); 76, 256 (347 f.); 102, 68 (96 ff.); 108, 370 (396 f.) 109, 133 (180 f.). 33 BVerfGE 25, 269 (290); 45, 142 (167); 63, 152 (175); 72, 175 (196); 88, 384 (403); 105, 48 (57); vgl. dazu Pieroth (Fn. 8), 279 ff.
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Art. 12 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 GG, aber auch Art. 14 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 5 GG.34
1. Grundsatz des RückwirkungsVerbots Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet die echte, die retroaktive, von der unechten, der retrospektiven, Rückwirkung der Gesetze. Aus dem Vertrauensschutzprinzip als einem materiellen Kern des Prinzips der Rechtssicherheit leitet das Gericht ein grundsätzliches Verbot der echten Rückwirkung belastender Gesetze her. 3 5 „Grundsätzlich soll sich der Bürger darauf verlassen können, daß der Gesetzgeber an abgeschlossene Tatbestände nicht ungünstigere Folgen knüpft, als im Zeitpunkt der Vollendung dieser Tatbestände voraussehbar waren". 3 6 Das Gericht definiert: „Echte (retroaktive) Rückwirkung eines Gesetzes liegt nur vor, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift". 3 7 Das ist jedoch nicht möglich, weil sich die Vergangenheit nicht ändern läßt. Das Gericht scheint eine Differenzierung zur retrospektiven Rückwirkung ausdrücken zu wollen, welche es darin sieht, daß ein Gesetz „nur auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft e i n w i r k t " . 3 8 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts nennt die vom ersten Senat genannte echte Rückwirkung schlicht „ R ü c k w i r k u n g " 3 9 und spricht bei der sogenannten unechten Rückwirkung nur von „tatbestandlicher Rückanknüpfung". 4 0 Von der Rückwirkung als Rückbewirkung von Rechtsfolgen geht der Zweite Senat aus, „wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, d. h. gültig geworden ist" 4 1 Obwohl das Gericht die echte Rückwirkung 34 Vgl. BVerfGE 72, 200 (242); 92, 277 (344); 95, 64 (86); 97, 67 (79); 101, 239 (262); 103, 332 (349); 109, 133 (180 f.) vgl. Maurer, HStR (Anm. 8), § 60, Rn. 23 ff., 44 ff.; ders., Staatsrecht, 4. Aufl., München 2005, § 17, Rn. 111 ff., S. 604 ff. 35 BVerfGE 7, 129 (152); 13, 261 (270 f.); 25, 269 (290); 30, 392 (401); 31, 111 (122); 39, 128 (243); 45, 142 (167 f.); 63, 343 (353); 72, 200 (242, 253 f.); 83, 89 (109 f.); 87, 48 (61); 97, 67 (79); 101, 239 (262); 109, 133 (180 f.); st. Rspr.; vgl. auch BVerfGE 102, 68 (96 ff.). 36 BVerfGE 13, 261 (272); 15, 313 (324); 18, 429 (439); 25, 269 (290); 25, 371 (404); i.d.S. auch BVerfGE 72, 200 (257 ff.); 72, 302 (321 ff.); 76, 256 (347 ff.); 87, 48 (61); 88, 384 (404); 95, 64 (86 f.); 97, 67 (78 ff.). 37 BVerfGE 11, 139 (145 f.); 25, 371 (404); 63, 152 (175); 72, 175 (196); 95, 64 (86); 101, 239 (263). 38 BVerfGE 11, 139 (146); 25, 269 (290); 63, 152 (175); 72, 175 (196); 95, 64 (86); 101, 239 (263). 39 Etwa BVerfGE 63, 343 (353); 72, 200 (242 ff., 258 ff.); 72, 302 (311, 328); 97, 67 (78 f.); 109, 133 (180 f.). 40 BVerfGE 72, 200 (243 f.); 95, 64 (86 f.); 96, 330 (340); 97, 67 (78 f.); 109, 133 (181). 41 BVerfGE 63, 343 (353); 72, 200 (241); 87, 48 (61); 97, 67 (78 f.); 109, 133 (181).
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für grundsätzlich unzulässig erklärt, 4 2 hält es diese für tragfähig, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls sie rechtfertigen. 43
2. Erlaubte Rückwirkung oder Rückanknüpfung Das Gericht hält die echte Rückwirkung für erlaubt, wenn der Bürger in dem Zeitpunkt, auf den die Rechtsfolge zurückbezogen wird, mit der Regelung rechnen mußte, wenn eine verfassungswidrige Lücke geschlossen werden mußte, wenn das korrigierte geltende Recht „unklar und verworren ist" oder wenn der Bürger sich auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein nicht verlassen durfte 4 4 oder eben, wenn sie sonst aus „zwingenden" (oder „überragenden") „Gründen des gemeinen Wohls" geboten i s t 4 5 M i t Gesetzen sei namentlich zu rechnen, wenn sie bereits im Bundestag beschlossen seien, grundsätzlich aber nicht schon dann, wenn sie erst im Ausschuß beraten würden oder erst ein Regierungsentwurf vorliege 4 6 Die unechte Rückwirkung hält das Gericht für zulässig, wenn der Vertrauensschaden des Bürgers, der auf den Bestand der geänderten Regelung vertraut hat, geringer zu veranschlagen ist als die Bedeutung des gesetzgeberischen Vorhabens für das Wohl der Allgemeinheit. 4 7 Das Ausmaß des Vertrauensschadens und das Wohl der Allgemeinheit seien gegeneinander abzuwägen 4 8 Dem einzelnen müsse nicht jede Enttäuschung erspart werden 4 9 „Der Staatsbürger kann sich auf Vertrauensschutz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nicht berufen, wenn sein Vertrauen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen k a n n " , 5 0 „ w o das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt wäre", 5 1 so wenn eine Frage in der Vergangenheit noch nicht geregelt gewesen sei, dann 42 BVerfGE 25, 371 (403 f.); 109, 133 (181); weitere Hinweise in Anm. 35. 43 BVerfGE 13, 261 (270 ff.); 72, 200 (257 ff.); 72, 302 (321 ff.); 88, 384 (404); 97, 67 (79 ff.); 102, 68 (97 f.); 109, 133 (181). 44 BVerfGE 13, 161 (172); 18, 429 (439); 63, 152 (175); 68, 287 (307); 72, 200 (257 ff.); 72, 302 (321 ff.); 87, 48 (61); 88, 384 (404); 95, 64 (86 f.); 97, 67 (78 ff.); 105, 17 (44 f.); 109, 133 (186). 45 BVerfGE 13, 261 (272); 72, 200 (258 ff.); 88, 384 (404); 97, 67 (79 ff.); 101, 239 (263 f.); 102, 68 (97 f.); 109, 133 (181); vgl. Maurer, Staatsrecht (Anm. 34), § 17, Rn. 119 f., S. 607 f. 46 BVerfGE 13,261 (273), u. ö. 4v Etwa BVerfGE 14, 288 (300); 25, 142 (154); 43, 242 (286); 43, 291 (391); 75, 246 (280); 95, 61 (86); 101,239 (263); 105, 17 (40); 105,48 (58); 109, 133 (181 f., 186). 4K BVerfGE 14, 288 (300); 30, 392 (402); 43, 242 (286); 70, 69 (84 f.); 87, 48 (60 f.); 88, 384 (404); 95, 64 (86 ff.); 97, 67 (78 ff.); 101, 239 (262); 105, 17 (40); 105, 48 (58); 109, 133 (181 f., 186). 49 BVerfGE 22, 241 (252), u. ö. so BVerfGE 14, 288 (300); 25, 269 (291); 63, 152 (172); 68, 287 (307); 109, 133 (186). 5i BVerfGE 13,261 (271); 25, 269(291).
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aber geregelt werde. 5 2 Das gilt insbesondere, „ . . . wenn durch die Rückwirkung nur ein ganz unerheblicher Schaden verursacht würde". 5 3 Die unechte Rückwirkung werde unzulässig, wenn das Verhältnismäßigkeitsprinzip mißachtet werde. 5 4 Die Kriterien sind gesetzgeberisch, wie sich schon darin zeigt, daß das Bundesverfassungsgericht zwischen Interessen des einzelnen Bürgers und dem Wohl der Allgemeinheit abwägen muß. Das Wohl der Allgemeinheit ist das Interesse aller Bürger, also auch das jedes einzelnen. Wenn Richter meinen, Bürger vor Enttäuschungen bewahren oder nicht bewahren zu müssen, ist jede mögliche rechtliche Begrifflichkeit verlassen. I m übrigen liegt nicht schon darin eine Rückwirkung, daß die Gesetze Erwartungen der Bürger enttäuschen. Gesetze enttäuschen immer Erwartungen irgendwelcher Bürger, auch wenn sie erst nach Jahren in Kraft treten sollen. Manche Bürger planen eben langfristig. Die Kriterien des Gerichts zeigen, daß die Bürger besser beraten sind, dafür Sorge zu tragen, daß sie ihren Gesetzgebenden Organen vertrauen können, als sich auf ein Vertrauensschutzprinzip in den Händen von Verfassungsrichtern zu verlassen.
V I . Kritik der Rückwirkungsrechtsprechung 1. Sittliche Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft „Gesetze, die dem Bürger rückwirkend eine öffentlich-rechtliche Leistungspflicht gegenüber dem Staat auferlegen oder erhöhen, sind grundsätzlich unzulässig. Sie zerstören das Vertrauen in die bestehende Rechtsordnung". 55 Pflichten können nur für die Zukunft geregelt werden. Wenn Ereignisse der Vergangenheit Anknüpfungspunkt für gesetzliche Regelungen sind, dann nur, weil sie noch in die Gegenwart hineinwirken, wie das Gesetz selbst beweist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eine politische Einheit, die der Gesetzgeber berücksichtigen muß, wenn er richtige, d. h. gerechte Gesetze geben will. Man denke nur an Handlungen in Deutschland aus der Zeit von 1933 bis 1945 oder in der SBZ von 1945 bis 1949 oder der D D R von 1949 bis 1989. Es ist eine Frage der Politik, ob an Handlungen aus den genannten Zeiten Rechtsfolgen geknüpft werden, obwohl nicht wenige Menschen während der Herrschaft der NSDAP damit gerechnet haben, daß deren „Drittes Reich" tausend Jahre währen würde, und bis zum Herbst 1989 auch kaum jemand damit gerechnet hat, daß die Herrschaft der SED und ihrer Blockparteien so bald ihr Ende finden werde. Richtig ist, daß der Einzelne sich möglichst für längere Zeit einrichten können muß. Das freilich haben die gesetzgebenden Organe als Ver52 BVerfGE 103, 271 (287); 109, 96 (121 f.). 53 BVerfGE 95, 64 (87). 54 BVerfGE 101,239(263). 55 BVerfGE 19, 187 (195) u . ö .
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treter des ganzen Volkes zu beachten. In welchem Maße der Gesetzgeber dieses Interesse schützt, ist jedoch eine Frage der Politik und damit der Sittlichkeit.
2. Sachlichkeit als maßstablose Maxime des Rückwirkungsverbots Steuergesetze, meint das Bundesverfassungsgericht, würden nur Tatbestände erfassen dürfen, die nach der Verkündung des Gesetzes eintreten oder sich vollenden würden. 5 6 Seien die Handlungen, die dann besteuert werden sollten, jedoch bereits begonnen, so müsse sich die Besteuerung in maßvollen Grenzen halten. 5 7 Die Erhöhung der Körperschaftsteuer von 50% auf 60% in der Mitte des Jahres mit Wirkung vom 1. Januar 1951 beispielsweise hat das Bundesverfassungsgericht akzeptiert. 5 8 Das Vertrauen in den dauernden Bestand steuerlicher oder sozialer Vergünstigungen (etwa zinslicher im Wohnungsbau) war nicht geschützt. 59 Maßgeblich war jeweils, ob das Vertrauen auf den Bestand rechtlicher Regelungen „sachlich" gerechtfertigt war. 6 0 Sachlichkeit ist das Gebot aller Gesetzgebung, aber erst die Gesetze stellen fest, was sachlich ist. Die Sachlichkeit des Gesetzes ist nichts anderes als die praktische Vernunft des Gesetzgebers. Sie ist eine Frage der Sittlichkeit und damit der Moralität. 6 1 Einen juridischen Maßstab der Sachlichkeit gibt das Gesetz, das aber von den Gerichten auf seine Sachlichkeit hin (in gewissen Grenzen) überprüft werden kann. 6 2
3. Änderung der Rechtsprechung Das vermeintlich rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot für den Gesetzgeber hindert die Rechtsprechung nicht, für Fälle, die notwendigerweise in der Vergangenheit liegen, Rechtserkenntnisse anzuwenden, mit denen die Parteien nicht gerechnet haben, weil Fälle vergleichbarer Art bis dahin nach anderen richterlichen Erkenntnissen entschieden wurden. Ein Rückwirkungsverbot für richterliche Erkenntnisse hat vom Bundesverfassungsgericht Unterstützung erfahren. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürfe nicht überraschend von verschärften Kriterien abhängig gemacht werden. 6 3 Das widerspricht dem Prinzip, daß der 56 BVerfGE 13,261 (271) u.ö. 57 BVerfGE 13, 274 (278) u. ö. ss BVerfGE 13, 274 ff. 59 BVerfGE 18, 135 (144); 72, 175 (196) u. ö. «> BVerfGE 13, 261 (271 ff.) u. ö. 61 Dazu Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 18 ff., 44 f., auch S. 379 ff., 385 ff., 392 ff.; ders., Freiheit (Anm. 3), 2. Kap., V, V I I , 7. Kap., I, II. 62 Schachtschneider, Freiheit (Anm. 3), 7. Kap., II. 63 BVerfGE 79, 372 (376 f.).
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Richter in jedem Fall eigenständig in Bindung an die Gesetze das Recht zu erkennen hat. Die Änderung der Rechtsprechung kommt mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht in Konflikt, weil die Erkenntnis des Rechts prinzipiell gesetzesgebunden ist. Obwohl Rechtsprechung funktional rechtsetzend sein kann, so daß sich Richterrecht bildet, 6 4 bleibt ein Richterspruch eine einmalige, zeitbedingte Fallentscheidung, welche nicht an die Rechtserkenntnisse früherer Gerichtsentscheidungen in anderer Sache gebunden ist, 6 5 soweit nicht die Rechtskraft oder besondere Bindungen, wie nach § 31 Abs. 1 BVerfGG eingreifen.
V I I . Vertrauensschutzprinzip im Verwaltungsrecht 1. Schutz des Vertrauens in den Bestand fehlerhafter Verwaltungsakte Das Vertrauensschutzprinzip ist auch ein Prinzip des Verwaltungsrechts und hat dort eine grundsätzliche Regelung in §§ 48, 49 V w V f G gefunden. 66 Nach § 48 V w V f G wird unter bestimmten Umständen das Vertrauen in den Bestand eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes geschützt. Die prinzipielle Rechtsfolge schützenswerten, aber gestörten Vertrauens ist ein Anspruch auf Ausgleich des Vermögensnachteils. 67 Der Sache nach handelt es sich um einen Schadensersatzanspruch für Fehlverhalten der Verwaltung, welche den Schein eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes zu verantworten hat. § 48 V w V f G ist somit eine Parallele zum zivilrechtlichen Vertrauensschutzprinzip. 68 Beide Prinzipien haben keine Gemeinsamkeit mit dem gesetzgeberischen Vertrauensschutzprinzip, welches nicht auf Fehlverhalten des Gesetzgebers reagiert, sondern diesem eine gerechte Rechtsetzung aufgibt.
2. Schutz vor Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte § 49 Abs. 6 V w V f G gibt auch einen Anspruch auf Entschädigung des Vermögensnachteils, wenn ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt gemäß § 49 64
Schachtschneider, Prinzipien (Anm. 1), S. 222 ff.
65 Dazu K. A. Schachtschneider, VerwArch 63 (1972), S. 322 ff. 66 Dazu H.-U. Erichsen, Das Verwaltungshandeln, in: ders. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., Berlin 2002, §§ 1 7 - 2 0 , S. 332 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl., München 2004, § 11, Rdn. 10 ff., S. 282 ff.; H. J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht 1, 10. Aufl., München 1994, § 51, Rdn. 5 ff., 66 ff., u.ö., S. 727 ff., 744 ff.; K. A. Schachtschneider, Grundbegriffe des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Skripten des Lehrstuhls, Erlangen-Nürnberg 1999, § 2, II, 1, S. 34 ff. 67 Lenz, Vertrauensschutzprinzip (Anm. 8), S. 12 ff. 68 Dazu umfassend Canaris, Vertrauensschutzprinzip (Anm. 8), S. 9 ff.; Lenz, Vertrauensschutzprinzip (Anm. 8), S. 12 ff. (32).
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Abs. 2 Nr. 3 bis 5 V w V f G widerrufen wurde, vorausgesetzt, daß der Betroffene auf den Bestand dieses Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen schutzwürdig ist. 6 9 Nur unter engen Voraussetzungen dürfen derartige Verwaltungsakte widerrufen werden. Dieses Vertrauensschutzprinzip ist mit dem gesetzgeberischen verwandt. Es ist in dem Falle des § 49 Abs. 2 Nr. 4 V w V f G als Moderierung einer Gesetzesänderung gerechtfertigt. Im Falle der Nr. 3 dieser Vorschrift, in dem nachträglich eingetretene Tatsachen die Verwaltung berechtigen würden, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, liegt kein Fall getäuschten Vertrauens vor, weil niemand darauf vertrauen darf, daß die Tatsachen sich nicht verändern.
3. Widerruf von Verwaltungsakten wegen „schwerer Nachteile für das Gemeinwohl" Nr. 5 des § 49 Abs. 2 V w V f G erlaubt es, daß die Verwaltung einen „rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerruft", um „schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen". 7 0 Diese Vorschrift entbehrt der Logik. Freiheitliche Gesetze, die Verwaltungsakten, welche schwere Nachteile für das Gemeinwohl mit sich bringen, eine Grundlage geben, kann es in der Republik rechtens nicht geben, weil die Gesetze der Freiheit das Allgemeinwohl definieren. Die kritisierte Klausel ist ein Angstvorbehalt, welcher auch in seiner Unbestimmtheit die Unsicherheit der Verwaltungsrechtsdogmatik offenbart. Das Gemeinwohl, von dem schwerer Nachteil abgewendet werden soll, muß hinreichend durch Gesetze bestimmt werden, das Gemeinwohl hat aber seine Materialisierung bereits in dem Gesetz gefunden, das dem rechtmäßigen Verwaltungsakt zugrunde liegt. Ein offener materialer Gemeinwohlbegriff öffnet dem Unrecht Tür und Tor. Rechtsstaatlichkeit verlangt größtmöglich bestimmte Tatbestände in Gesetzen. 71 Wenn das Gemeinwohl es wegen der Änderung der Lage erfordert, kann und muß durch Gesetz die Änderung der Verwaltungsmaßnahmen im Rahmen der Grundrechte, insbesondere des Eigentumsschutzes, ermöglicht werden (dazu II).
69 Vgl. Maurer, Verwaltungsrecht (Anm. 66), § 11, Rn. 45, S. 311 f.; Erichsen, tungsrecht (Anm. 66), § 18, Rdn. 35, S. 372 f.
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70 Dazu Maurer, Verwaltungsrecht (Anm. 66), § 11, Rn. 44 a, S. 310 („ultima ratio für Extremfälle"); Erichsen, Verwaltungsrecht (Anm. 66), § 18, Rdn. 25, S. 368 („das frühere ius eminens").
71 BVerfGE 3, 225 (243); 20, 150 (157 ff.); 89, 137 (161); 87, 234 (263); 93, 213 (238); 102, 254 (337); st. Rspr.; Schachtschneider, Res publica (Anm. 3), S. 850 ff., 866 ff., 882 ff., 887 ff., 1138; ders., Prinzipien (Anm. 1), S. 304 ff. 10 FS Bartlsperger
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4. Vertrauensschutz im Gemeinschaftsverwaltungsrecht Auch der Europäische Gerichtshof praktiziert ein Vertrauensschutzprinzip, 72 sowohl gegenüber den gesetzlichen Rechtsakten 73 als auch gegenüber verwaltungsmäßigen Entscheidungen. 74 Individuelle Entscheidungen geben nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine gesicherte Rechtsposition, wenn diese Entscheidungen rechtmäßig und vorbehaltlos ergangen und nicht nur vorübergehender Natur sind. 7 5 Rechtswidrig begünstigende Entscheidungen können keine gesicherten Rechtspositionen begründen, wenn das öffentliche Interesse an der Rechtmäßigkeit überwiegt. 7 6 Das gilt auch für Entscheidungen, die unter einer Auflage oder Bedingung ergehen. Das Gemeinschaftsrecht nimmt auf den deutschen Verwaltungsvollzug durch die sogenannten „Grundsätze des europäischen Verwaltungsrechts" Einfluß. Der nationale Vollzug des Gemeinschaftsrechts darf Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht widersprechen. 77 Vertrauensrechtlich begründeter Bestandsschutz von Verwaltungsakten nach dem Verwaltungsverfahrensrecht vermag sich darum gegen das gemeinschaftsrechtliche Interesse an der gleichmäßigen Anwendung des Wirtschaftsrechts der Gemeinschaft nicht zu behaupten. In der Alcan-Sache wurde Deutschland (Rheinland-Pfalz) durch den Europäischen Gerichtshof verpflichtet, Beihilfen zurückzufordern, obwohl der Verwaltungsakt der Beihilfegewährung, die mit dem wettbewerblichen Beihilferecht der Gemeinschaft (Art. 87 EGV) unvereinbar und darum wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts 78 rechtswidrig war, nach § 48 Abs. 4 S. 1 V w V f G wegen Fristablaufs (ein Jahr) nicht mehr zurückgenommen werden durfte. 7 9 Das deutsche Vertrauensschutzrecht mußte hinter das vorrangige Gemeinschaftsrecht (Art. 88 Abs. 3 EGV) zurücktreten, zumal Alcan, der Beihilfeempfän72 E u G H Rs. 1 / 7 3 (Westzucker), Slg. 1973, 723 (729); Rs. 1 7 0 / 8 6 (von Deetzen), Slg. 1988, 2355 (2372 f.), ausführlich K.-D. Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes i m Europäischen Gemeinschaftsrecht, Kehl 1988, S. 6 ff. 73 E u G H Rs. 7 4 / 7 4 ( C N T A ) , Slg. 1975, 533 (549); Rs. 1 4 8 / 7 8 (Ratti), Slg. 1979, 1629 (1645, Rn. 39 f.); Rs. 1 7 0 / 8 6 (von Deetzen), Slg. 1988, 2355 (2372 f.). 74 E u G H verb. Rs. 7 / 5 6 und 3 - 7 / 5 7 (Algera), Slg. 1957, 83 (117 ff.); verb. Rs. 42 und 59 (SNUPAT), Slg. 1961, 109 ff. (142 ff.). 7^ E u G H verb. Rs. 7 / 5 6 und 3 - 7 (Algera), Slg. 1957, 83 ff. (118). 76 EUGH verb. Rs. 42 und 4 9 / 5 9 (SNUPAT), Slg. 1961, 109 (Leitsatz 10 a, b); Rs. 1 4 / 8 1 (Alpha Steel), Slg. 1982, 749 (2. Leitsatz). 77 Grundlegend: E u G H verb. Rs. 2 0 5 - 2 1 5 / 8 2 (Milchkontor), Slg. 1983, 2633 (Rn. 17). 78 BVerfGE 31, 145 (173 ff.); 37, 271 (279 ff.); 58, 1 (28); 73, 339 (366 ff., 377); 75, 223 (244); 89, 155 (182 ff., 190 f., 197 ff.); dazu Schachtschneider, Prinzipien ( A n m . 1), S. 80 ff.; ders./A. Emme rich- Fritsche, D S W R , 1999, S. 17 ff., 81 ff., 116 ff.; dies., Das Gemeinschaftsrecht in Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, Skripten des Lehrstuhls, Erlangen-Nürnberg 2005, § 5. 79 E u G H Rs. C - 2 4 / 9 5 (Land Rheinland-Pfalz/Alcan Deutschland G m b H ) , Slg. 1997, I 1951 ( 1 - 1 6 1 7 ff.); Rs. 9 4 / 8 7 (Kommission/Deutschland, Alcan), Slg. 1989, 175 ff. (190 ff.).
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ger, hätte erkennen müssen, daß die Beihilfe ohne die erforderliche abschließende Äußerung der Kommission gewährt worden war. 8 0 Das Gemeinschaftsinteresse am unverfälschten Wettbewerb schränkt somit das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip e i n 8 1 und vermöchte selbst der Rechtsklarheit dienende Fristvorschriften zu überwinden. 8 2 Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht haben sich der Relativierung des Vertrauensschutzprinzips durch den Europäischen Gerichtshof gefügt. 8 3
80 EuGH a. a. O. 81 Hingenommen von BVerfG, Beschluß vom 17. 02. 2000, E u Z W 2000, 445 ff. 82 BVerwGE 92, 81 (85 f.). 83 BVerwGE 106, 328 ff.; BVerfG E u Z W 2000, 445 ff.; vgl. auch BVerfGE 59, 128 (166). 10'
Ehe, Erbe und Verfassungsrecht ein Märchen Von Dieter C. Umbach, Karlsruhe/Potsdam
I. Das Märchen „Wenn unsere märkischen Leute sich verheiraten, so reden sie nicht von Leidenschaft und Liebe, sie sagen nur: ,Ich muss doch meine Ordnung haben'". (Th. Fontane; Irrungen, Wirrungen)
Es war einmal ein Prinz, der - weil sein Vater ein Fürst war-, sogar ein Erbprinz war. Der liebte und heiratete seinem Stand gemäß eine Prinzessin, hatte mit ihr eine Tochter und lebte glücklich, bis ein schlimmer Unfall ihm seine Frau nahm. Erbprinz wurde er deshalb genannt, weil er einmal alles erben sollte, was sein Vater, der Fürst hinterlassen würde und das deswegen, weil er der Erstgeborene war. Darüber war der zweite Sohn nicht recht glücklich und sann ohn Unterlaß darüber, wie er an die Stelle des Erstgeborenen sich setzen könne und fragte vergeblich seine Ratgeber um hohes Honorar. Doch der Erstgeborene war tüchtig und lernte vor allem, das zukünftige Erbe später zu verwalten, das war sozusagen seine Ausbildung. Der Zweitprinz, von dem manche heimlich munkelten, er sehe dem Forstmeister durchaus etwas ähnlicher als dem alten Fürsten, was aber auch an der Verwechslung der Wörter Forst und Fürst gelegen haben mag, heiratete selbst standesgemäß und grämte sich. Da kam ihm das Schicksal zu Hilfe. Der Erbprinz verliebte sich erneut, doch diesmal nicht recht standesgemäß in eine der zur Auswahl stehenden 33 jungfräulichen und evangelischen Fräuleins entsprechender Standeshäuser, sondern - Ogottogott rief die Mutter des Erbprinzen - in ein schönes bürgerliches Mädchen, das noch dazu über ein ebenso schönes strafrechtliches Thema promoviert hatte. Der Zweitprinz lief zum Vater, dem alten Fürsten und konnte ihn für seine Sorge gewinnen, mit dieser Einheirat einer Bürgerlichen würden Splendor und Glorie des Fürstlichen Hauses gefährdet. Obwohl der alte Fürst sie eigentlich nicht weniger lieblich fand als die übrigen 33 evangelischen Jungfrauen aus standesgemäßem Hause, allenfalls ein wenig frischer, wollte er sich doch dem Drängen des Zweitprinzen und seiner Frau nicht versagen, die Berater schlugen in den Gesetz-Büchern nach und fanden nichts, wie man den Erbprinzen bedrängen und ihm aus der bürgerlichen Verbindung einen schönen Strick drehen könnte. Ach, sagte die Mutter und Frau des Fürsten, zu Kaisers Zeiten hät-
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ten wir das alles ganz anders regeln können, da hat unsereins seine eigenen Gesetze machen können. Da kam der Berater des Zweitprinzen mit dem schönen kleinbürgerlichen Namen Schmidt zu einer netten Idee: Vielleicht können wir j a ein solch altes Gesetz aus Kaisers Zeiten anwenden, ein altes Hausgesetz nämlich. Flugs drohte man dem alten Fürsten seinen Rollstuhl, seinen Bordeaux und seine Havanna wegzunehmen, wenn er nicht den Erbprinz enterbe und den Zweiten zum Ersten mache. Denn dass die Zweiten von der Geburt an bis zum Grabe es nicht verwinden, immer nur die Zweiten zu sein, ist bekanntlich ein mächtiger Ansporn für viele gute und ebensoviel, wenn nicht noch mehr, schlechte Taten. Und in der Tat, der besagten, das Hausgesetz, das so recht noch von schönem monarchischem Geist bestaubt war, strafte den, der eine noch so schöne und blitzgescheite Bürgertochter heiraten würde damit, dass aus dem Erbprinz ein Prinz wurde, durch fürstlich-väterliches Machtwort und aus dem Zweitprinzen ein Erst-, also ein Erbprinz. Genauso als ob der Bauernsohn keine Bauerntochter heiratete und der Vater ihm erzürnt den Hof verweigert, selbst wenn es eine noch so schöne und reiche Anwaltstochter wäre. Der erste Erbprinz war voller Hoffnung und sagte sich nicht etwas wie der Müller von Sanssouci, es gibt noch Richter in Aschaffenburg, Bamberg, München, Karlsruhe und Straßburg und die werden wieder Ordnung schaffen und mir mein Erbe retten, sondern wir haben j a eine republikanische Verfassung mit dem Grundrecht, zu heiraten wen man will. Und wenn er das noch immer glaubt, dann irrt er sich.
II. Die grundgesetzliche Verfassung von Ehe und Familie „Ringlein sehn heut lieblich aus, morgen werden Fesseln draus" (Clemens Brentano, Brautgesang)
Das Grundgesetz kennt den Begriff Ehe, nicht aber den der Heirat. Ehe und Familie im Sinn von Art. 6 Abs. 1 GG stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der Ehebegriff des Grundgesetzes geht, wie allgemein anerkannt, vom „ B i l d der verweltlichten bürgerlich-rechtlichen Ehe" aus, der Familienbegriff wird vom Verfassungsgeber als die „bürgerliche Kleinfamilie", d. h. als umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern 1 aufgefasst. Einerseits knöpft Art. 6 Abs. 1 GG mit den Begriffen Ehe und Familie eindeutig an vorstaatliche, naturgegebene Ordnungen an, wie schon Th. Maunz zutreffend feststellt, 2 die Begriffe werden aber dem positiven Recht entnommen. Damit soll
' Vgl. BVerfGE 31, 58 (82 f.); 53, 224 (225); 80, 81 (90); 105, 313 (345 f.); B. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Kommentar, 6. Aufl., München 2004, Art. 6 Rn. 2. 2 Th. Maunz, in: M a u n z / D ü r i g / H e r z o g / S c h o l z , GG, Kommentar, München, Stand 1964, Art. 6 R n . 14.
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verständlicherweise vermieden werden, dass etwa Verfassungsrechtler und Zivilrechtler unterschiedliche Begriffe verwenden. Dass dies gleichwohl nicht immer unproblematisch ist, zeigt der gelegentliche Widerstreit von Testierfreiheitsgläubigen und Verteidigern der Eheschließungsfreiheit, 3 ein Streit der unten unter III. näher beleuchtet wird, allerdings wie schon hier gesagt werden kann, noch nicht abschließend gelöst werden wird. Verfassungsrechtlicher Vor-Grundsatz des Ehe-Schutzes ist logischerweise die Eheschließung und die Eheschließungsfreiheit. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es indes weniger die Eheschließungsfreiheit als vielmehr der Schutz vor allem von in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens vor Zwangsheiraten, der wohl mittelfristig eine gesetzliche Regelung finden wird. 4 Ob dadurch die vor allem betroffenen Gruppen - z. B. die junger Türkinnen in deutschen Großstädten - wirksam davor geschützt werden, die von ihren Eltern im ländlichen Anatolien ausgesuchten Bräutigame zu nehmen, erscheint zwar fraglich, bedeutet aber doch einen Gewinn an inländischer Rechtssicherheit. Bekanntlich lassen sich allerdings lange tradierte Rituale und Konventionen schwerlich und zumeist nicht kurzfristig durch Rechtsregelungen beeinflussen oder gar ändern. Das dieses umgekehrt auf höheren nämlich hochadligem Niveau ebenfalls schwierig ist, wird noch zu erläutern sein. Während die - plakativ gesprochen - „Türkentöchter-Problematik" die negative Eheschließungsfreiheit betrifft, die jene Freiheit gewährleistet, keine Ehe eingehen zu müssen, hat die positive Eheschließungsfreiheit die individuelle Eheschließungsfreiheit, d. h. die freie Wahl des Partners und die Freiheit der Entscheidung zur Eheschließung einschließlich ihres Zeitpunktes zum Inhalt. Nur die positive Eheschließungsfreiheit findet ihre Grundlage eindeutig in Art 6 Abs. 1 GG, die negative wird nach wohl noch herrschender Ansicht nicht durch Art 6 Abs. 1 GG geschützt, sie sei vielmehr eine Konsequenz aus Art. 2 Abs. 1 GG - so sieht es jedenfalls das Bundesverfassungsgericht. 5 Das erscheint nicht recht überzeugend, denn ein irgendwie gearteter zulässiger rechtlicher oder hinzunehmender faktischer Zwang würde das Institut der Ehe in seiner westlichen-modernen Profilierung 3
Vgl. dazu bereits grundsätzlich D. C. Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, Kommentar, Heidelberg 2002, Art. 6 Rn. 27 ff. 4 Den Anstoß zur Einführung eines neuen Straftatbestandes „Zwangsheirat" gab im Oktober 2004 die Landesregierung Baden-Württemberg, als sie dem deutschen Bundesrat eine Gesetzesinitiative unterbreitete. Initiator des „Zwangsheirat-Bekämpfungsgesetzes" ist der baden-württembergische Justizminister und Ausländerbeauftragte Prof. Dr. Ulrich Göll (FDP). Aktuelle Informationen dazu finden sich im Bericht des Staatsministeriums für den Ministerrat vom 15. März 2005 zum Thema „Muslime in Baden-Württemberg" unter 4.2. (S. 3 7 - 4 2 ) , veröffentlicht unter www.den-wuerttemberg.net/sixcms/media.php/1899/ Muslime_in_BW.pdf. Die Bundesregierung prüft, ob sie dem Kampf gegen Zwangsheirat mit der Einführung eines eigenen Straftatbestandes besser Rechnung tragen kann als mit der Qualifizierung der Zwangsverheiratung als „besonders schwerer Fall der Nötigung".
5 BVerfGE 56, 363 (384); ebenso R. Gröschner, in: H. Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. Kommentar, Tübingen 2004, Art. 6 Rn. 34.
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ebenso verfassungswidrig gefährden oder gar aushöhlen, so dass letztlich auch die negative Eheschließungsfreiheit durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt werden muss. 6 A m anderen Ende - oder besser: Beginn - der Ehe hat sich viel geändert, aber wie zu noch zeigen sein wird - noch längst nicht überall alles, was die Eheschließungsfreiheit betrifft. Die moderne, technisch - industrialisierte westliche bürgerliche Gesellschaft hat - zumindest als Anspruch - die Überzeugung, dass heute jeder Mensch völlige Freiheit hat, den anderen Menschen zu heiraten, den er sich erwählt hat, vorausgesetzt natürlich, der stimmt dem glücklicherweise zu. Insofern ist Art. 6 Abs. 1 GG ein subjektives Recht zu entnehmen, das als Menschenrecht für jedermann gilt und gegen den Staat gerichtet ist und sich ferner auf einen ungehinderten Zugang zur Eheschließung bezieht - natürlich nur soweit die übrigen Voraussetzungen zur Eheschließung wie Mindestalter etc. vorliegen. 7 Die Eheschließungsfreiheit hat primär einen tatbestandlichen Bereich, nämlich den ungehinderten Zugang zur Ehe, d. h. die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung. Konkret bedeutet dies in der sozialen Wirklichkeit, mit dem selbst gewählten Partner die Ehe einzugehen und damit um „ein elementaren Bestandteil der durch die Grundrechte gewährleisteten freien persönlichen Existenzen des Menschen". 8 Nun gibt es heute jenseits konfessionsbezogener Ämter faktisch keine Regelung mehr, die ein „Eheverbot" zur Folge haben. Allerdings ist es heute auch in der sozialen Wirklichkeit nicht außergewöhnlich, dass gezielte Bestrebungen von Seiten der eigenen oder Partnerfamilie realisiert werden, um eine Eheschließung zu fördern oder zu verhindern. Die Professoreneltern, die den ungelernten Arbeiter ihrer Tochter als Partner ausreden wollen, der selbstbewusste Handwerksmeister, dem die schlichte Serviertochter für ihren Sohn und Erben nicht gut genug ist sind solche Beispiele. Dass ein solcher Druck ausgeübt werden wird und im Rahmen der nach Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit auch darf ist unbestritten. Indes darf kein übermäßiger gezielter Druck ausgeübt werden und zwar in dreifacher Hinsicht: Weder als Hinderung der Eheschließung, noch als Festhalten an einer Ehe oder als Hinlenkung zu einer bestimmten personellen Entscheidung bei der Eheschließung. Nun ist nicht jeder Druck verfassungswidrig, es ist eine bestimmte starke Intensität erforderlich, eine gezielte Einwirkung, die geeignet und bestimmt ist, „die freiheitliche Substanz der Willensentscheidung des Einzelnen zu verformen". 9 Im vergleichbaren Gebiet der Unzulässigkeit - meist als Sittenwidrigkeit qualifiziert -
6
In Abkehr von der vom Verf. noch in: Umbach/Clemens (Anm. 3), Art. 6 Rn. 20 vertretenen Ansicht. Dafür auch B. Pieroth (Anm. 1), Art. 6 Rn. 3; G. Robbers , in v. Mangoldt/ Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., Berlin /Frankfurt 1999, Art. 6 Rn. 57. 7 BVerfGE 29, 166 ff.; 31, 58 ff.; 36, 146 ff.; D. C Umbach (Anm. 3), Art. 6 Rn. 24. 8 BVerfGE 36, 146(162). 9
Dazu die Rezension zum Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichtes vom 3. September 1996 - 1 Ζ BR 41 / 95 (Heiratsklausel) von P. Lerche, FamRZ 1997, 705 ff.; ders. unveröffentlichtes Gutachten, Oktober 1997, S. 55.
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von letztwilligen Verfügungen, die auf höchstpersönliche Entscheidungen einwirken sollen, hat J. Goebel 10 eine Reihe von Beispielen genannt und zutreffende Kriterien genannt, die deutlich machen, dass es auf den „ungerechtfertigten Druck auf die Eheschließungsfreiheit" des Betroffenen ankommt. Wesentlich ist hier, dass es dabei nicht allein oder sogar ausschließlich im Rahmen der Eheschließungsfreiheit auf erfolgten und gezielten übermäßigen Druck des Staates auf die Eheschließungsfreiheit ankommt - i m Gegenteil, dies ist heute kaum mehr vorstellbar. Worauf es also entscheidend ankommt, ist das Verhältnis der Bürger untereinander. Die staatlichen Gewalten haben im Ergebnis einen Schutzauftrag für die wertentscheidende Grundsatznorm des Art 6 Abs. 1 GG. Dies bedeutet, wie das Bundesverfassungsgericht schon ebenso früh wie zutreffend erkannt hat, 1 1 die Aufgabe und Verpflichtung des Staates, die Ehe auch vor Beeinträchtigung durch andere Kräfte zu bewahren. Zu dieser „Eheschließungsfreiheit" gehört es auch, aus einer einmal geschlossenen Ehe wieder entkommen zu können, um die alte Eheschließungsfreiheit wieder zu erlangen und, um möglicherweise ein zweites Glück zu versuchen. 12 Man kann das Grundrecht „Eheschließungsfreiheit" sozusagen nicht verbrauchen, obwohl Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Frau und Kindern aus der ersten Familie faktisch durchaus so wirken können. Das Recht auf Eheschließung und die Eheschließungsfreiheit sind keineswegs selbstverständlich, gibt es doch regelmäßig Situationen - allerdings muss man wohl heute eher sagen gab es - indem sich die deutschen Gerichte z. B. mit dienstlichen Vorschriften zu befassen hatten, die eine Heirat erschwerten oder gar untersagten. Gemeint sind hier u. a. die Zölibatsklauseln jenseits der Besetzung konfessionsbezogener Ämter, 1 3 deren Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 GG zu prüfen war. So hat das Bundesverwaltungsgericht im Beamtenrecht sehr frühzeitig festgestellt, 14 dass sich Art 6 Abs. 1 GG nicht mit dem Schutz der Ehe als Institut erschöpfe, sondern, dass hier vielmehr subjektive Rechte begründet werden, also nicht etwa nur solche des objektiven Verfassungsrechts. M i t anderen Worten: Nicht nur eine bestehende Ehe erfährt den Schutz der staatlichen Ordnung, sondern auf gleicher Ebene ist das Recht enthalten, überhaupt eine Ehe einzugehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat es zwar - damals noch - für zulässig geachtet, wenn dienstliche Beschränkungen von Eheschließungen bei kasernierten Polizeibeamten freiwillig ertragen wurden, aber diese Beschränkung schon dann zurücktreten lassen, wenn die Ehelichkeit eines Neugeborenen gefähr10
In seiner Aufsatzrezension des in Anm. 9.genannten Beschlusses des BayObLG: J. Goebel, FamRZ 1997, S. 656 (659 f.). 11 BVerfGE 6, 55 (72 f.) und 6, 126 f. '2 BVerfGE 10, 59; 31, 83; 36, 163; vgl. dazu auchD. C. Umbach (Anm. 3) Art. 6 Rn. 21. 13 Etwa für katholische Priester oder die Leiter katholischer Einrichtungen, für die sich die Zulässigkeit von Zölibaten aus der Art. 6 Abs. 1 GG insoweit gegenläufigen verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zugunsten des Staatskirchenrechts ergibt (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV). '4 BVerwGE 14, 21 (27); B. Pieroth (Anm. 1), Art. 6 Rn. 18 m. w. N.
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det worden wäre. 1 5 Wie Th. Maunz. zutreffend konstatiert, haben die Grundrechte einen grundsätzlich unverzichtbaren Charakter, was bedeutet, dass „allein in der Freiwilligkeit einer Grundrechtsbeschränkung noch nicht ihre Rechtfertigung" liegen kann. Dies muss - worauf unten zurückzukommen sein wird - auch für die gerichtliche Geltendmachung Gültigkeit haben. Ganz herrschende Meinung ist es heute, dass ein Heiratsverbot in einem allgemeinen Arbeitsvertrag wegen Verstoß gegen Art 6 Abs. 1 GG nichtig ist. Kurzum: Zum Grundrecht des Art 6 Abs. 1 GG gehört wesentlich die Eheschließungsfreiheit, also das Recht auf ungehinderten Zugang zur Ehe. 1 6 Insofern werden Heiratsklauseln heute grundsätzlich als verfassungswidrig angesehen. Zwar finden sie eher in der Sozialversicherung Beachtung, wenn z. B. der Anspruch auf Waisenrente für in der Ausbildung stehende Waisen auch dann ausgeschlossen wird, wenn der Ehegatte zur Unterhaltsleistung außerstande ist. 1 7
III. Verfassungswirklichkeit „märchenhafter" Heiratsklauseln im Hochadel „ D i e Könige sind nur Sklaven ihres Standes, dem eignen Herzen dürfen sie nicht folgen" (F. v. Schiller, Maria Stuart, II, 2)
Betreffen die Heiratsklauseln im Sozialrecht eher den sozial weniger starken Teil der Bevölkerung, so gibt es am entgegen gesetzten Ende der sozialen Skala ebenfalls - noch - Heiratsklauseln, nämlich in den deutschen Hausgesetzen oder vergleichbaren Regelungen hochadliger, genauer standesherrlicher Familien. Die königlichen und fürstlichen - kurz: die standesherrlichen Familien - haben für ihre innere Organisation insbesondere die Erbfolge und die Versorgung der Angehörigen in der Regel sog. „Hausgesetze", deren Wurzeln natürlich aus vorrepublikanischer Zeit stammen, aber größtenteils die identischen Regelungen in das nachmonarchische Zeitalter überliefert - oder kritischer: - hinüber gerettet haben. Ein Beispiel einer solchen Heiratsklausel lautet z. B. in § 25 des Fürstlich Leiningischen Hausgesetzes vom 23. Oktober 1897: § 25 II: Die Prinzen und Prinzessinnen des Fürstlichen Hauses können sich nur mit vorgängiger schriftlicher Einigung des Fürsten vermählen. § 25 III: Familienmitglieder, welche vorstehenden Bedingungen zuwider eine eheliche Verbindung eingehen, sind für sich, ihre Ehegatten und Nachkommen von den Rechten und Bezügen ausgeschlossen, welche ihnen dieses Hausgesetz gewährt. 15
Dazu immer noch aktuell: Th. Maunz (Anm. 2), Art. 6 Rn. 18.
"6 BVerfGE 29, 166 (175); 76,1 (42). "7 BVerfGE 28, 324 (347 ff.); vgl. auch BVerfGE 87, 1 (39); 48, 346 (366 ff.); 87, 237 (259).
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A u f diese aus monarchischer Zeit stammende Klausel wird in einem späteren Erbvertrag aus nun schon republikanischer Zeit von 1925 Bezug genommen. Nach dieser Heiratsklausel wird die „Hausgesetzmäßigkeit" der Ehe gefordert, denn § 4 dieses Erbvertrages bestimmt „Zur Succession in dieses Stammgut wird Geburt aus einer hausgesetzmäßigen Ehe (§ 25 Hausgesetz) und Bekenntnis zum evangelischen Glauben erfordert".
Die Folge einer nicht hausgesetzmäßigen Heirat ist klar und einfach: Ausschluss von der Erbfolge in den Nachlass. M i t anderen Worten: Ist eine Einwilligung des „regierenden" Fürsten nicht erteilt worden, sind die Folgen insbesondere für den vorgesehenen Nachfolger, dem Erbprinzen gravierend: Er geht seines gesamten Erbes verlustig, da Pflichtteilsansprüche mit dem grundsätzlich bei Eintritt der Volljährigkeit in den hochadligen Familien üblichen Pflichtteilsverzicht - der ja durch die Nachfolge in das gesamte Erbe gerechtfertigt zu sein scheint - grundsätzlich beseitigt sind. Also wird die Frage der Rechtmäßigkeit, genauer der Verfassungsmäßigkeit der Heiratsklausel relevant.
1. Der Fall Leiningen „Es muss ein Mensch, der seine Arbeit mit Weisheit, Vernunft und Geschick getan hat, einem anderen zum Erbteil lassen, der nicht daran gearbeitet hat. Das ist ein . . . großes Unglück" (Prediger Salomon - Kohelet - 2, 21 )
Der Fürst stimmte der Eheschließung des Erbprinzen nicht zu - Folge: Da sich die Familienmitglieder nur mit der Einwilligung des jeweiligen Fürsten vermählen können und die Eingehung einer nicht konsentierten - d. h. von ihm gebilligten Ehe den Verlust des Successionsrechtes (Erbrechtes) zur Folge hat, war der Erbprinz enterbt. Die Sache ging im Erbscheinsverfahren zum - inzwischen aufgelösten - Bayerischen Obersten Landesgericht, 18 das argumentierte, der Erbprinz habe seine ursprüngliche Stellung als Nacherbe aufgrund der vom 7. Fürsten nicht konsentierten Eheschließung verloren. Die Heiratsklausel sei wirksam und die Nichterteilung zur Zustimmung zur Eheschließung mit einer Bürgerlichen verstoße weder gegen Treu und Glauben noch gegen die guten Sitten. Die Grenzen der Wertordnung des GG seien nicht überschritten. M i t anderen Worten: Die Testierfreiheit des „regierenden" Fürsten sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und stoße nicht auf rechtlich relevante republikanisch-demokratische Bedenken. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat aber immerhin anerkannt, dass durch die Anwendung des alten Fürstlich Leiningschen Hausgesetzes in die Schutzbereiche der Grundrechte aus Art 6 Abs. 1 und Art 14 Abs. 1 GG eingegriffen wird, hält diese 18 BayObLG, Beschluss vom 3. September 1996, 1 Ζ BR 4 1 / 9 5 , FamRZ 1997, 705 ff. = Z E V 1997, 119 ff.
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Eingriffe unter Abwägung mit dem grundrechtlich ebenso geschützten Testierrecht des jeweiligen Fürsten des Hauses Leiningen - und des daraus abgeleiteten „Rechts zur Erteilung des Ehekonsenses" - aber fehlerhaft für verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die Sachfrage der erbrechtlichen Relevanz fürstlicher Heiratsklauseln ging in einem anderen Fall - dem des Hauses Preußen - ihren erfolglosen zivilrechtlichen Weg weiter zum Bundesgerichtshof und es ist nicht sonderlich verwunderlich, dass der Bundesgerichtshof nicht zum ersten Mal eine gewisse verfassungsrechtliche Sensibilität vermissen lässt. 19 Bei der Abwägung Eheschließungsfreiheit versus Testierfreiheit trug offensichtlich eindeutig die letztere den Sieg davon - von einer Abwägung zu sprechen, wäre übertrieben. Auch die Hoffnung auf den Erfolg der Verfassungsbeschwerde im Fall Leiningen wurde nicht erfüllt: M i t seiner Entscheidung vom 21. Februar 2000 hat das Bundesverfassungsgericht 2 0 die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und letztlich die fragwürdige Interpretation des - freilich nicht infolge des vorliegend besprochenen Streits inzwischen abgeschafften - Bayerischen Obersten Landesgerichtes und des Bundesgerichtshofs weitgehend abgesegnet. Zum Ausgangspunkt hat es in der Frage die Testierfreiheit gemacht und die durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Erbrechtsgarantie in den Vordergrund gestellt. Merkwürdig wirkt der Hinweis, dass die Testierfreiheit auch die Freiheit umfasse, eine Vermögensnachfolge nicht an den allgemeinen gesellschaftlichen Überlieferungen oder den Überzeugungen der Mehrheit auszurichten. Immerhin wird konstatiert: „Der durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Testierfreiheit des Erblassers steht das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 1 GG gegenüber. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet die Freiheit, die Ehe mit einem selbst gewählten Partner einzugehen (vgl. BVerfGE 31, 58 |67J). Die in dem Erbvertrag von 1925 enthaltene Heiratsklausel ist geeignet, die Eheschließungsfreiheit des als Nacherben eingesetzten Abkömmlings des Erblassers mittelbar zu beeinflussen. Zwar unterliegt die Verheiratung selbst ausdrücklich nicht der Zustimmung. Aber dadurch, dass an die Eingehung einer nicht konsentierten Ehe der vollständige Ausschluss von der Erbfolge geknüpft wird, sieht der Abkömmling sich dem erheblichen Druck ausgesetzt, eine solche Ehe nicht zu schließen. Zu beachten ist allerdings, dass nach der einschlägigen Heiratsklausel der Verlust der Nacherbenstellung nicht an die Eheschließung mit einer nicht „ebenbürtigen" Partnerin oder sonst wie an Kriterien ständisch-sozialer Herkunft geknüpft ist, die Folge jedoch dann eintritt, wenn der Fürst als Oberhaupt des Hauses bzw. das nach dem Erbvertrag vorgesehene Schiedsgericht die Zustimmung zu einer konkreten Ehe versagen. Die maßgebliche Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit liegt somit nicht bereits unmittelbar in dem Erbvertrag aus dem Jahre 1925, sondern realisiert sich erst in der konkreten Verweigerung der Zustimmung durch das Familienoberhaupt (bzw. das Schiedsgericht) zu einer be>9 BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1998, I V Z B 19/97, B G H Z 140, 118 ff. = NJW 1999, 118 ff. = FamRZ 1999, 580 ff. = JZ, 1999 514 ff. 20 BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 21. Februar 2000, 1 BvR 1937/97, NJW 2000, 2495 = FamRZ 2000, 945.
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stimmten Ehe in Ausübung der durch den Erbvertrag in Verbindung mit dem Hausgesetz eingeräumten Befugnis."
Das Bundesverfassungsgericht knüpft damit in nicht recht nachvollziehbarer Weise daran an, das Bayerische Oberste Landesgericht habe zu Recht berücksichtigt, dass eine Entscheidung des „regierenden" 7. Fürsten im Sinne der Familientradition (nämlich keine Zustimmung zu der Ehe mit einer Bürgerlichen) der Verwirklichung des in dem Erbvertrag von 1925 niedergelegten Willen des damaligen Erblassers - des 5.Fürsten - und damit Ausfluss seiner Testierfreiheit gewesen sei. Es, das Bayerische Oberste Landesgericht, habe - folgt nun erstaunlicherweise die unter dem Schutz des Art 6 Abs. 1 GG stehende Eheschließungsfreiheit und die sich daraus ergebende mögliche (!) Begrenzung der Testierfreiheit nicht verkannt, sondern die kollidierenden Grundrechtspositionen i m Wege einer umfassenden Würdigung gegeneinander abgewogen. Also: Wenn unter dem demokratischen Wertesystem des Grundgesetzes heute ein durchaus unrepublikanischer Testierwille aus früherer Zeit noch verwirklich werden kann, dann hat die Eheschließungsfreiheit zurückzutreten und bei der Kollision erleidet offenbar ein Grundrecht Schaden - weit entfernt von Konrad Hesses praktischer Konkordanz. 2 1 Dies bedeutet eine klare Präferenz pro Testierfreiheit: Mag die Heiratsklausel „möglicherweise" die Eheschließungsfreiheit beeinflussen, so dient sie doch der Verwirklichung des - eindeutig vorrepublikanischen - früheren Fürstenwillens. Ob gerade dieser Wille aber in ein nach-monarchisches Wertesystem des nach Staatsform und Staatszielen - Art. 20 Abs. 1 GG - eindeutig demokratisch republikanischen geprägten Grundgesetzes passt und auch schützenswert ist, oder genauer gesagt überhaupt noch erträglich ist, diese Frage wird übergangen. Noch schwächer und nachgerade einfach-rechtlich zweifelhaft ist die weitere Überlegung des Bundesverfassungsgerichts i m Hinblick auf die entscheidende Bedeutung, die das Bayerische Oberste Landesgericht dem Umstand beigemessen hat, der Erbprinz hätte j a durch die Einwilligung in die vom Erblasser vorgeschlagene Vereinbarung „die Beeinträchtigung seiner rechtlich geschützten Position erheblich vermindert und andererseits zum einen der Wahrung der Familientradition und damit den Willen des Erblassers gerecht werdenden Ergebnis" führen können. Ob dieser Willen aber gerade verfassungsrechtlich in zulässiger Weise realisiert werden darf - aus monarchischer Zeit stammend und im republikanischen Wertesystem umgesetzt - das erscheint fragwürdig. Die des Weiteren vom 7. Fürsten vorgeschlagenen Bedingungen zur Erteilung des Ehekonsens - nämlich Ausschluss der Nachkommen von der Erbfolge und Einwilligung in die ja durchaus diskriminierende Feststellung, die Ehe sei nicht hausgesetzmäßig - macht die Sache kaum besser. Denn danach müsse er erst in die Feststellung einwilligen, keinerlei Anspruch zu haben, um dann gnadenhalber doch noch ein minderes Teilrecht zu erwirken. Und für künftige eheliche Kinder auf ein Erbrecht zu verzichten - warum? 21
Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rn. 3 1 7 - 3 2 0 .
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Weil sie nicht hausgesetzmäßig abstammen! In monarchischer Zeit durfte ein Fürst so denken und dieses Denken auch rechtlich durchsetzen. Heute aber sollte solches im Rahmen der Meinungsfreiheit freilich zulässige Denken und Handeln nicht mehr gerichtlich bestätigt und durchgesetzt werden, auch nicht unter dem Schutz der Testierfreiheit. Verdientermaßen hat denn diese Argumentation in der breiten öffentlichen Meinung auch wenig Anerkennung gefunden und die Entscheidung viel Kritik. Nun ist mit der Verfassungsbeschwerde zunehmend bekanntermaßen noch nicht das Ende der gerichtlichen Überprüfung der Verletzung von Grund- und Menschenrechten erreicht. Der enterbte Nicht-Erbprinz legte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ein, der j a gelegentlich Karlsruher Entscheidungen korrigiert. Nachdem die Menschenrechtsbeschwerde 22 eine längere Zeit schwelte, wurde sie nach der Sitzung der Dritten Sektion des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Beschluss vom 17. November 2005 2 3 mit sechs Seiten Sachbericht und einer knappen Seite Gründe aus dem Register gestrichen, also nicht entschieden. Grund: Der Erbprinz stand nach den verlorenen Schlachten ohne Erbe da und musste vor dem Landgericht Aschaffenburg in einen Vergleich einwilligen, um finanziell zu überleben. Teil dieser Vereinbarung war die Beendigung aller anhängigen Verfahren durch Rücknahmeerklärungen. Hierzu zählte nach Ansicht der Gegenseite auch die eingelegte Menschenrechtsbeschwerde. Unstreitig sein dürfte, dass - wie oben ausgeführt - der freiwillig mögliche und zulässige Verzicht auf Grund- und Menschenrechte gerade nicht deren zwangsweise Einschränkung legitimiert. Aber: Kann unter möglichen sichtbaren und auch nicht sichtbaren zivilrechtlichen Pressionen - vor allem bei drohender Zahlungsunfähigkeit bei Ablehnung eines „Vergleichs" - Angebots - wirksam auf das Recht zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde verzichtet werden oder die Verpflichtung zu deren Rücknahme vereinbart werden, kann wirksam auf die Einlegung einer Menschenrechtsbeschwerde verzichtet oder deren Rücknahme vereinbart werden?: Wohl nein. Wenn das Grund- oder Menschenrecht unverzichtbar ist, muss auch die Geltendmachung der Verletzung unverzichtbar sein. Doch dies wäre das Thema eines anderen Beitrags, denn diese Problematik hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nur oberflächlich gestreift, wobei die Hauptargumente, man sei j a anwaltlich vertreten gewesen und habe durch den Vergleichsschluss eine ansehnliche finanzielle Kompensation, wenig überzeugend ist: Wer in schwieriger ökonomischer Lage kämpft und Vergleiche abschließen muss, wird durch das Vorhandensein von Anwälten auch nicht stärker und wird gleichwohl zu Vereinbarungen gezwungen, die auch der Anwalt nicht verhindern kann. Die angesprochene finanzielle Kompensation - eine befristet vereinbarte monatliche Zahlleistung - ist, gemessen an den umstrittenen Verfassungs- und Vermögenswerten, ausgesprochen 22 EGMR, Application No. 5 9 6 2 4 / 0 0 vom 5. März 2000. 23 EGMR, Application No. 59624/00, Beschluss vom 17. November 2005.
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bescheiden ausgefallen. Auch die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zitierte Rechtsprechung passt nicht, da die Rücknahmeerklärung gegenüber dem Staat als Gegner einen gänzlich anderen Charakter hat als gegenüber einem privaten Gegner. Ein kleines Detail hat sicher keine Rolle gespielt, dass nämlich eine verdiente Richterin des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, die freilich an der die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnenden Kammerentscheidung vom 21. Februar 2 0 0 0 2 4 nicht mitgewirkt hat, inzwischen Richterin des in Strassburg entscheidenden Gremiums geworden ist. Auffälliger und zweifelhafter ist etwas anderes: Bekanntlich ist in Strassburg nicht die frühere Gegenpartei z. B. im Zivilprozess verklagt worden, sondern der Heimatstaat des Erbprinzen, die Bundesrepublik Deutschland. Dass diese mit der früheren Gegenpartei in gemeinsamer und von außen betrachtet teilweise recht inniger Kooperation zur Abwehr der Menschenrechtsbeschwerde zu finden ist, erscheint zumindest, um es diplomatisch zu sagen, ungewöhnlich und verletzt die Waffen- und Chancengleichheit erheblich. Hier wäre mehr - um das Höflichste zu sagen - ein Mehr an Stil von Seiten des Bundesministeriums der Justiz, das die Stellungnahmen für den Heimatstaat abgibt, zu wünschen. Vor allem dann, wenn die frühere Gegenpartei nach der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte - mit nahezu unbegrenztem Akteneinsichtsrecht und Schriftsatzrecht eine gewichtige Rolle spielen darf. Hier sollte ein Nachdenken erfolgen und das insofern stringentere und fairere und den Beschwerdeführer besser schützende Verfahren der Verfassungsbeschwerde Vorbild sein. Also alles in allem: Der - nunmehr ehemalige - Erbprinz bleibt enterbt, sein Vertrauen auf die Verfassung ist bitter enttäuscht worden - das Märchen geht böse aus, die gute Fee ist nicht tätig und die Hexen - längst obsolet geglaubte standesherrliche Hausgesetze aus der Kaiserzeit - sind leider nicht verbrannt worden. Die „Bösewichte" können sich einstweilen freuen.
2. Der Fall Preußen „ M a n soll seinen Kindern eine tüchtige Portion von Zucht und Sitte hinterlassen, nicht aber Gold" (Piaton, Die Gesetze, III, 5)
Etwas Licht im dunklen Wald der großen Testierbäume gibt indes ein vergleichbares Verfahren aus dem Hause Preußen: Hier hatte eine Regelung in dem für die Erbfolge maßgebenden Erbvertrag Nacherbfolge bestimmt: „Erbe kann nicht sein (erbunfähig ist) wer . . . nicht aus einer den Grundsätzen der alten Hausverfassung des Brandenburg-Preußischen Hauses entsprechenden Ehe stammt oder in einer anderen nicht hausverfassungsmäßigen Ehe lebt". 24 BVerfG, I. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 21. Februar 2000, 1 BvR 1937/97, NJW 2000, 2495 = FamRZ 2000, 945.
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D u r c h a u s e i n s i c h t i g i m H i n b l i c k a u f das A u s w a h l s p e k t r u m der m ö g l i c h e n w e i b lichen Ehepartner
verfasste der preußische Erblasser i m Jahre
1943
folgende
R i c h t l i n i e z u r k ü n f t i g e n B e h a n d l u n g der E b e n b ü r t i g k e i t s k l a u s e l : „ M i t Rücksicht darauf, dass die Auswahl unter den nach der Hausverfassung des königlichen Hauses ebenbürtigen Damen protestantischen Glaubens außerordentlich gering und ständig im Abnehmen ist, kann in Ausnahmefällen das Oberhaupt des Königlichen Hauses auf Vorschlag des Ausschusses eine Ehe für ebenbürtig erklären, auch wenn die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen". A u c h i m H a u s e Preußen f o l g t e n d i e z i v i l g e r i c h t l i c h e n
Auseinandersetzungen
u m das E r b r e c h t des erstgeborenen P r i n z e n , bis d i e Sache erstmals z u m O b e r l a n desgericht Stuttgart k a m . Das O b e r l a n d e s g e r i c h t Stuttgart hat i n e i n e m b e m e r k e n s w e r t e n , v o n der A u f f a s s u n g des B a y e r i s c h e n Obersten L a n d e s g e r i c h t s a b w e i c h e n den Vorlagebeschluss an d e n B u n d e s g e r i c h t s h o f v o m 19. A u g u s t 1 9 9 7 2 5 als L e i t satz f o r m u l i e r t : „Einer erbvertraglichen Bestimmung, welche die Berufung eines Abkömmlings zum Nacherben davon abhängig macht, dass er nach dem Hausgesetz eines Adelsgeschlechts aus einer ebenbürtigen Ehe abstammt und in einer solchen lebt, ist heute die rechtliche Durchsetzbarkeit zu versagen". D i e s e A n s i c h t lässt a u f m e r k e n : E n d l i c h ist aufgefallen, dass der K a i s e r n i c h t m e h r da ist u n d dass d i e T e s t i e r f r e i h e i t s - S e e l i g k e i t des B u n d e s g e r i c h t s h o f s k r i t i s c h z u sehen ist. D a m i t d i e überzeugenden A r g u m e n t e n i c h t v e r l o r e n gehen, sei h i e r n o c h e i n m a l a u s f ü h r l i c h aus d e n bis heute b e a c h t l i c h e n G r ü n d e n der Stuttgarter Richter zitiert: „(3) Einer privatrechtlichen Regelung, welche die der Wertordnung des Grundgesetzes verpflichteten Gerichte dazu nötigen würde, bei der Entscheidung über die Erbfolge zu prüfen, ob jemand nach den Hausgesetzen eines Adelsgeschlechts aus einer ebenbürtigen Ehe abstammt und in einer solchen lebt, ist heute die rechtliche Durchsetzbarkeit zu versagen. Eine derartige Klausel steht zum einen . . . im Widerspruch zur verfassungsrechtlich geschützten Eheschließungsfreiheit (Art. 6 Abs. I GG; vgl. BverfGE 29, 166, 175; 31, 58,67; 36, 146,16 ff; 76, 1, 42), die ihrerseits in innerem Zusammenhang mit dem durch Art. 2 Abs 1 G G garantiertem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit steht. Durch die Bedingung einer hausverfassungsmäßigen Ehe als Voraussetzung der Rechtsnachfolge in das umfangreiche Hausvermögen wird ein Druck auf die höchstpersönliche Entscheidung der Partnerwahl ausgeübt, der unter Geltung des Grundgesetzes nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Die hohen Anforderungen, die die . . . Hausverfassung an die Ebenbürtigkeit stellt, . . . führen zu einer massiven Beschränkung des für eine Partnerwahl überhaupt in Betracht kommenden Personenkreises. Zur Situation, dass die Eltern die Partnerwahl ihres Kindes verbindlich vorbestimmen und damit den Grundsatz der Höchstpersönlichkeit des Eheschlusses unterlaufen, besteht nur ein gradueller Unterschied. Für die rechtliche Abwägung kommt hinzu, dass die Einschränkung der Eheschließungsfreiheit, die sich früher
25 O L G Stuttgart, Beschluss vom 19. August 1997, 8 W 124/97, FamRZ 1998, 260 ff. = Z E V 1998, 1885 ff.
Ehe, Erbe und Verfassungsrecht - ein Märchen
161
unter dem Gesichtspunkt der Thronfolge i m Zusammenhang mit einer ständestaatlichen Rechtsordnung möglicherweise rechtfertigen ließ, heute ihre Funktion verloren hat. Den Konflikt zwischen der verfassungsrechtlich geschützten Testierfreiheit einerseits und der Eheschließungsfreiheit andererseits hat das Landgericht somit rechtlich zutreffend dahin entschieden, dass erstere in der hier gegebenen Sachverhaltskonstellation zurücktreten muss. Zum anderen steht der Gültigkeit dieser Klausel die in Art. 1 und 3 GG enthaltene Wertung entgegen, die jedem Menschen in gleicher Weise Würde zuerkennt und eine Benachteiligung wegen seiner Abstammung untersagt. Es bestehen durchgreifende Bedenken dagegen, dass angesichts der verfassungsrechtlichen Prämisse von der Gleichheit aller Menschen die Zugehörigkeit einer Mutter oder einer Ehefrau zu einem - hier eng begrenzten Stand zur maßgeblichen Voraussetzung für die Erbenstellung erhoben wird. Der Senat verkennt nicht, dass der Beachtlichkeit des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebots bei der Inhaltskontrolle von letztwilligen Verfügungen sehr enge Grenzen gesetzt sind und dass der verfassungsrechtlich geschützten Testierfreiheit im Regelfall das größere Gewicht beizumessen ist (vgl. B G H Z 70, 313, 324; I I I , 36, 39; 123, 368, 371 f.; Staudinger/Otte, Rn. 82 ff. vor §§ 1922, Rn 154 ff. vor §§ 2064; Soergel/Stein, Rn. 37 ff. zu § 1937; M ü n c h K o m m / B u r k a r t , 2. Aufl. 1989, Rn. 65 ff. zu § 2247; sowie Leisner, Monarchisches Hausrecht in demokratischer Gleichordnung , 1968, S. 94 ff.; vgl. aber auch BVerfGE 15, 337, 342 ff.). Das Kriterium der Ebenbürtigkeit jedoch, das durch die geschichtliche Entwicklung jegliche inhaltliche Begründung verloren hat und für das sich nichts als eine überholte Tradition ins Feld führen lässt, verdient - bei aller Zurückhaltung der Erstreckung des Gleichheitsstaates auf das Erbrecht - keine Schutz durch die Rechtsordnung mehr. Die fehlende Standesmäßigkeit gehört zu den Kriterien, die nach Ansicht des Senats in so elementaren Widerspruch zu den Grundlagen einer auf demokratischer Gleichordnung beruhenden Rechtsordnung steht, dass sich auch das Privatrecht nicht mehr dazu hergeben darf, ihr rechtliche Beachtlichkeit zu verschaffen. Jedenfalls dann, wenn beide grundgesetzlichen Erwägungen, die der Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit und die der Verletzung des Differenzierungsverbots nach dem Maßstab der Abstammung, im Zusammenhang gesehen werden, muss die Testierfreiheit zurücktreten mit der Folge, dass die auf Ebenbürtigkeit abstellende Erbunfähigkeitsklausel der rechtlichen Unbeachtlichkeit verfällt." D i e s ist ein- fast märchenhaftes - B e i s p i e l für eine w i r k l i c h e A b w ä g u n g i m F a l le einer G r u n d r e c h t s k o l l i s i o n u n d hätte e i n A n l a s s f ü r d i e nächste Instanz sein k ö n nen, d i e F r a g e n differenzierter
u n d verfassungspolitischer -
und damit
verfas-
sungsrechtlicher - z u sehen. A b e r d i e G e s c h i c h t e geht anders: N a t ü r l i c h landet auch dieses M ä r c h e n w i e d e r b e i m a u f die Testierfreiheit f i x i e r ten 4. Senat des B u n d e s g e r i c h t s h o f s m i t der bereits o b e n e r w ä h n t e n E n t s c h e i d u n g v o m 2. D e z e m b e r 1 9 9 8 , 2 6 m i t der er d i e E b e n b ü r t i g k e i t s k l a u s e l f ü r w i r k s a m ansah. Es l i e g e - so der B u n d e s g e r i c h t s h o f durchaus e i n l e u c h t e n d - j e d e n f a l l s n i c h t a u f der H a n d , dass einer der A b k ö m m l i n g e bei der W a h l seiner E h e f r a u g e w i s s e r m a ßen m i t H i l f e der E b e n b ü r t i g k e i t s k l a u s e l z u „ k a u f e n " sei, später z i t i e r t er d a n n e i n
26 BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1998, I V Z B 19/97, B G H Z 140, 118 ff. = NJW 1999, 118 ff. = FamRZ 1999, 580 ff. = JZ, 1999 514 ff. 11 FS Bartlsperger
Dieter C. Umbach
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rechtshistorisches G u t a c h t e n z u r Frage der ( m a n g e l n d e n ) E b e n b ü r t i g k e i t der Ehefrau. D i e G r ü n d e g r ü n d l i c h aber absehbar: Testierfreiheit über (fast) alles! W i e der P r i n z i m M ä r c h e n sich d u r c h d o r n i g e s G e s t r ü p p v o r a r b e i t e n muss, g i n g es auch h i e r w e i t e r : Das Verfahren gelangte s c h l i e ß l i c h z u m Bundesverfassungsg e r i c h t , dass - durchaus überraschend - anders als i m F a l l L e i n i n g e n d i e ebenfalls v o m A u t o r vertretene Verfassungsbeschwerde a n n a h m u n d , die v o r a n g e g a n g e n e n E n t s c h e i d u n g e n darunter d i e j e n i g e des B u n d e s g e r i c h t s h o f s a u f h o b , u m d i e D u r c h setzung des G r u n d r e c h t e des B e s c h w e r d e f ü h r e r s aus A r t . 6 A b s . 1 G G z u g e w ä h r leisten:27
Seine
Eheschließungsfreiheit
ist
verletzt.
Recht
deutlich
wird
aus-
g e d r ü c k t , dass der B u n d e s g e r i c h t s h o f i n seiner E n t s c h e i d u n g bei der E b e n b ü r t i g k e i t s k l a u s e l d e n B e d e u t u n g s g e h a l t des G r u n d r e c h t s
auf
Eheschließungsfreiheit
( A r t . 6 A b s . 1 G G ) v e r k a n n t hat. D e r B u n d e s g e r i c h t s h o f hat n i c h t a l l e i n Betracht k o m m e n d e n U m s t ä n d e g e w ü r d i g t , die a u f d i e E h e s c h l i e ß u n g s f r e i h e i t
des
Be-
schwerdeführers e i n w i r k e n k ö n n t e n . A u c h diese A r g u m e n t a t i o n ist es verdienterm a ß e n w e r t , z i t i e r t z u w e r d e n , s o w o h l was d i e d o g m a t i s c h e S t r u k t u r als auch was den W e r t e r a h m e n b e i der G r u n d r e c h t s a b w ä g u n g b e t r i f f t : ,,b) Der durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Testierfreiheit des Erblassers steht das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 1 GG gegenüber. Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet die Freiheit die Ehe mit einem selbst gewählten Partner einzugehen (vgl. BVerfGE 31, 58 [67]). Die in dem Erbvertrag vom 23. November 1938 enthaltene Ebenbürtigkeitsklausel ist geeignet, die Eheschließungsfreiheit des als Nacherben eingesetzten Abkömmlings des Erblassers mittelbar zu beeinflussen. Dadurch, dass an die Eingehung einer nicht im Sinne der Hausverfassung ebenbürtigen Ehe der vollständige Ausschluss von der Erbfolge geknüpft wird, sieht sich der Abkömmling vor die Alternative gestellt, eine solche Ehe nicht zu schließen oder seine Position als Nacherbe zu verlieren. Der Eingriff dauert auch der Schließung einer nicht im Sinne der Hausverfassung ebenbürtigen Ehe fort. Dies liegt darin, dass der Abkömmling möglicherweise noch zum Nacherben berufen wird, wenn er zumindest im Zeitpunkt des Eintritts des Nacherbfalls in einer hausverfassungsmäßigen Ehe lebt. A u f den Beschwerdeführer wurde damit mittelbar auch nach Eingehung einer in Sinne der Hausverfassung nicht ebenbürtigen Ehe dahin gehend Druck ausgeübt, diese Ehe wieder zu lösen. Da die Ehe durch Art 6 Abs. 1 GG als grundsätzlich unauflösliche Lebensgemeinschaft geschützt ist (vgl. BVerfGE 62, 323 1330]), liegt in der Ebenbürtigkeitsklausel ein mittelbar wirkender und fortdauernder Eingriff. c) Der Bundesgerichtshof hat sich zwar mit der Frage, ob die Ebenbürtigkeitsklausel die von der Wertordnung des Grundgesetztes im Rahmen der §§ 138, 242 BGB gezogenen Grenzen überschreitet, auseinander gesetzt. Die von ihm vorgenommene Abwägung genügt aber nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine umfassende Abwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls. aa) Der Bundesgerichtshof ging zwar in seiner Entscheidung davon aus, dass einem schweren Eingriff in den grundrechtlich durch Art. 6 Abs. 1 GG gesicherten Bereich höchstpersönlicher Entscheidung durch eine letztwillige Verfügung, die darauf abziele, die freie Wahl des Ehepartners des Bedachten zu beeinträchtigen, für die nach bürgerlichem
27 BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 22. März 2004, 1 BvR 2248/01, www.bverfg.de .
Ehe, Erbe und Verfassungsrecht - ein Märchen
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Recht zu beurteilende Wirksamkeit der letztwilligen Verfügung grundsätzlich rechtliche Bedeutung zukomme. Er hat jedoch dann in verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbarer Weise eine Würdigung derjenigen verfassungsrechtlich relevanten Umstände außer Betracht gelassen, die darauf hinweisen konnten, dass eine Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit des Beschwerdeführers vorlag, die als sitten- oder treuwidrig angesehen werden muss. Es wurde nicht hinreichend geprüft, ob die Ebenbürtigkeitsklausel geeignet war, auf den Beschwerdeführer einen für diesen unzumutbaren Druck bei der Eingehung einer Ehe zu erzeugen. Der Bundesgerichtshof hat im Rahmen seiner Abwägung nicht berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer bereits durch die Abgabe der so genannten Verzichtserklärungen in den Jahren 1961, 1967 und 1978 - ungeachtet ihrer einfachrechtlichen Wirksamkeit - von Louis Ferdinand darauf hingewiesen wurde, dass ihm im Falle der Eingehung einer nicht hausverfassungsmäßigen Ehe der Verlust seiner Nacherbenstellung drohe. Durch die Abgabe dieser Erklärungen wurde auf den Beschwerdeführer möglicherweise ein erheblicher Druck dahin gehend ausgeübt, die beabsichtigten Eheschließungen zu unterlassen. Auch hat der Bundesgerichtshof nicht in Erwägung gezogen, ob der Wert des Nachlasses geeignet war, unter Berücksichtigung der Lebensführung und der sonstigen Vermögensverhältnisse des Beschwerdeführers dessen Entschließungsfreiheit bei Eingehung der Ehe nachhaltig zu beeinflussen . . . bb) Schließlich wurde im Rahmen der Abwägung nicht hinreichend die Frage in Erwägung gezogen, ob der Ebenbürtigkeitsbegriff i m Sinne des Hausgesetzes auch nach der Abschaffung der Monarchie noch geeignet war ,Eingriffe in die Eheschließungsfreiheit des Erbprätendenten zu rechtfertigen' . . . D i e E n t s c h e i d u n g schließt m i t e i n e m t r ö s t l i c h e n H i n w e i s : „Seit dem In-Kraft-Treten des Grundgesetzes steht der Wiedereinführung der Monarchie Art. 20 Abs. 1 GG und Art 28 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen." D a m i t ist l e i d e r der F a l l B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n n o c h n i c h t zu E n d e , d i e g e r i c h t l i c h e n S t r e i t i g k e i t e n a u f der b i s l a n g n o c h unteren Ebene dauern an u n d f ü h r e n v i e l l e i c h t eines Tages w i e d e r z u m Bundesverfassungsgericht oder gar z u m E u r o p ä i schen G e r i c h t s h o f für M e n s c h e n r e c h t e .
IV. Der Schluss: Das Ende? „Hoffnung bleibt mit dem Leben vermählt" (J. W. v. Goethe, Achilleis 236) U n d das M ä r c h e n ? 2 8 Sie müssen erzählt u n d überliefert w e r d e n , d e s w e g e n w u r den d i e schönsten Stellen auch a u s f ü h r l i c h w i e d e r g e g e b e n . I m F a l l L e i n i n g e n w a r es w i r k l i c h e i n M ä r c h e n , dass die v o r r e p u b l i k a n i s c h e n oder n a c h m o n a r c h i s c h e n
28
Nachwort: Der Verfasser hat als Wissenschaftlicher Assistent am ersten Lehrstuhl des mit dieser Festschrift Geehrten in Mannheim gearbeitet und musste das strikt dogmatische Argumentieren in klassisch-juristischem Stil üben und verfeinern. A u f keinen Fall sollte er „Märchen erzählen", allenfalls, wenn er selbst Professor geworden sei . . . 11*
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Dieter C. Umbach
Heiratsklauseln einem Gericht als überholt und unzulässig erscheinen würden, im Falle Preußen muss es sich noch endgültig zeigen, wie das Märchen ausgeht. Also gar nichts märchenhaftes? Doch, aber leider nur im europäischen Ausland. In Schweden hat der König eine bürgerliche Frau, in Dänemark, in den Niederlanden, in Norwegen und Spanien haben (Kron-)Prinzen bürgerliche Frauen geheiratet, wodurch die Monarchie unstreitig gestärkt wurde. Vielleicht doch schade, dass sie bei uns zur Stärkung eigentlich republikanischer Tugenden nicht wieder eingeführt werden kann?
Informationsfreiheit und Verfassungsrecht Von Bernhard W. Wegener, Erlangen
Unmittelbar vor den vorgezogenen Neuwahlen, die zur Bildung der großen Koalition führten, hat der Bundestag mit der rot-grünen Mehrheit das lang geplante Informationsfreiheitsgesetz verabschiedet. 1 Dank der Enthaltung der von der FDP mitregierten Bundesländer konnte es den Bundesrat passieren. Gegenüber den Behörden des Bundes steht dem Einzelnen damit seit dem 1.1. 2006 ein einfachgesetzlich begründeter allgemeiner Anspruch auf Zugang zu den i m Besitz der Verwaltung befindlichen Informationen zu. Ein neues Prinzip der Öffentlichkeit des Verwaltungshandelns hat die traditionelle Geheimhaltungsregel abgelöst. Deutschland gewinnt damit Anschluß an eine internationale Entwicklung, vor deren Folie der vormalige deutsche Rechtszustand als überlebt und eines modernen demokratischen Gemeinwesens unwürdig erscheinen mußte. 2 Nach ganz herrschender Meinung ist die Öffentlichkeit von Verwaltungsinformationen auch nach diesem „Systemwechsel" 3 immer noch eine Sache allein des einfachen Rechts. Eine verfassungsrechtliche „Unterfütterung" des neuen Informationsanspruchs soll sich dem Grundgesetz nicht entnehmen lassen. Der einfachgesetzlich geforderte Wandel der Verwaltungskultur soll sich allein aus sich heraus ergeben. Gegen eine Relativierung oder Entwertung der Informationsfreiheit, etwa durch einen exzessiven Gebrauch der weit gefaßten Ausnahmetatbestände, soll grundgesetzlich nichts zu erinnern sein. 4 1 Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz - 1FG) v. 5. 9. 2005, BGBl. I S. 2722. Die Vorgeschichte des Gesetzes geht bis in die 80er Jahre zurück; vgl. dazu insbes. die Gesetzentwürfe der Grünen Akteneinsichtsrechtsgesetz, BT-Drs. 10/5884 v. 24. 7. 86 und Allgemeines Informationsfreiheits-Gesetz, BT-Drs. 12/5694 v. 20. 9. 93; vgl. auch die entsprechende Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 9 0 / D i e Grünen v. 20. 10. 1998, Punkt I X . 13. Zu Vorarbeiten auch F Schoch/ M. Kloepfer, Informationsfreiheitsgesetz (IFG-ProfE), 2002. 2 In der Einschätzung ebenso: Schoch/Kloepfer (o. Anm. 1 ) S. 26 - „erheblicher Entwicklungsrückstand"; Τ Bräutigam, D Ö V 2005, 376 (382: „Atavismus").
3 Vgl. dazu bereits H.-ü. Erichsen, N V w Z 1992, 409 (418 f.): „sektorale Systemänderung durch Europarecht"; vgl. auch C. Gusy, Anm. zu BVerwG, Urt. v. 25. 3. 1999, JZ 1999, 1169: „fundamentale Neuerung"; beide zur Schaffung allgemeiner Informationszugangsansprüche i m Umweltrecht. 4
Auch gegenüber den Behörden der Bundesländer, die keine dem IFG des Bundes vergleichbaren Regelungen kennen, sollen sich entsprechende Zugangsansprüche verfassungsrechtlich nicht begründen lassen. Informationsfreiheitsgesetze kennen derzeit nur Brandenburg, vgl. Akteneinsichts- u. Informationszugangsgesetz v. 10. 3. 1998, i. Kr. getr. am 20. 3.
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Bernhard W. Wegener
D i e s v e r m a g n i c h t z u überzeugen. Das Grundgesetz enthält v i e l m e h r e i n e n unm i t t e l b a r e n I n d i v i d u a l a n s p r u c h a u f g r u n d s ä t z l i c h freien u n d n u r ausnahmsweise z u m Schutz k o n k u r r i e r e n d e r Verfassungsgüter beschränkbaren Z u g a n g z u d e n der V e r w a l t u n g v o r l i e g e n d e n I n f o r m a t i o n e n . D i e n a c h f o l g e n d e D a r s t e l l u n g verdeutl i c h t diese These, i n d e m sie zunächst d i e t r a d i t i o n e l l e V e r n e i n u n g des verfassungsunmittelbaren Informationsanspruchs
erläutert (I.) u n d diesen anschließend aus
A r t . 5 I 1 2. Hs. G G ableitet ( I I . ) .
I. Das traditionelle Nein zu einem verfassungsunmittelbaren Informationsanspruch N a c h herrschender A n s i c h t läßt sich e i n I n f o r m a t i o n s a n s p r u c h des E i n z e l n e n gegenüber der V e r w a l t u n g aus k e i n e r N o r m des Grundgesetzes u n m i t t e l b a r ableiten.
1. Kein Anspruch aus Art. 5 11 GG Insbesondere A r t . 5 1 1 2 . Hs. G G , w o n a c h j e d e r m a n n das R e c h t hat, „ s i c h aus a l l g e m e i n z u g ä n g l i c h e n Q u e l l e n u n g e h i n d e r t zu u n t e r r i c h t e n " , k a n n nach dieser Ü b e r z e u g u n g n i c h t als R e c h t a u f freien Z u g a n g zu den i m B e s i t z der V e r w a l t u n g b e f i n d l i c h e n I n f o r m a t i o n e n verstanden w e r d e n . 5 Z w a r w i r d anerkannt, daß I n f o r 1998, Brandenburgisches GVB1 1/1998, 46; eingehender dazu: C. J. Partsch, Brandenburgs Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetz, NJW 1998, 2559 ff. und NJ 1998, 346 ff.; R. Breidenbach/B. Palenda, Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetz des Landes Brandenburg, L K V 1998, 252 ff.; in Schleswig-Holstein, vgl. dazu IFG-SH, v. 9. 2. 2000, GVB1 2000, 166 ff.; dazu: Η. Bäumler, NJW 2000, 1982 ff.; in Berlin, vgl. dazu Berliner-IFG v. 15. 10. 1999, GVB1 1999, S. 561 ff. und in Nordrhein-Westfalen, vgl. dazu IFG-NRW v. 27. 11. 2001, i. Kr. getr. am 1. 1. 2002, GVB1 NRW 2001, 806; vgl. dazu F. Stollmann, NWVB1. 2002, 216 ff.; T. R. Wolf-Hegerbekermeier/B. Pelizäus, DVB1. 2002, 955 ff. 5 Vgl. aus der Rechtsprechung: BVerfGE 27, 71 (83) - Einfuhrverbot/Leipziger Volkszeitung; BVerwGE 30, 154 (156); 47, 247 (252); DVB1. 1966, 575 (576); vgl. auch die hinsichtlich der Verpflichtung zur Veröffentlichung von Verwaltungsvorschriften ablehnende Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte: BVerwGE 19, 48 (58); 61, 15 ff.; 69, 278 ff.; BVerwG, NJW 1985, 1234;. Vgl. auch O V G Hamburg, NJW 1979, 1219 f. - keine Einsicht des Vormunds in die Jugendamtsakten; O V G Münster, GewArch 1973, 73 (74) - keine Einsicht in die Sitzungsniederschriften kommunaler Vertretungsorgane; O V G Lüneburg, N V w Z 1986, 496 - keine Zugänglichkeit der Protokolle öffentlicher Sitzungen von Kommunalvertretungen. Aus der Literatur neben den im folgenden Genannten: W. Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, Berlin 1966, S. 121, allerdings spricht W. Leisner, Der unsichtbare Staat, Berlin 1994, S. 59 insoweit inzwischen kritisch von „dem als Bürgerrecht einigermaßen unterentwickelten Bereich der Informationsfreiheit"; W. Geiger, Die Grundrechte der Informationsfreiheit, in: B. Kraske (Hrsg.) Pflicht und Verantwortung Festschrift für Claus Arndt, Baden-Baden 1969, S. 119 (123, 125); H.-U. Jerschke, Öffentlichkeitspflicht der Exekutive und Informationsrecht der Presse, Berlin 1971, S. 166; W. Martens, Öffentlich als
Informationsfreiheit und Verfassungsrecht
mation die Voraussetzung von Meinungsbildung sei. 6 Das Individualrecht, sein Wissen zu erweitern und damit seine Persönlichkeit zu entfalten, sei zugleich eine „zentrale Voraussetzung für eine freie und möglichst gut informierte demokratische Öffentlichkeit 4 '. 7 Auch soll sich die „Allgemeinzugänglichkeit" einer Information allein nach der tatsächlichen Lage, also nach „der Art der Abgabe der jeweiligen Information" bestimmen und staatlicher Verfügung nicht unterliegen. 8 Dennoch soll „alles, was die staatlichen Behörden zu Recht oder zu Unrecht [sie!] geheim oder vertraulich behandeln", nicht allgemein zugänglich sein. 9 Verwaltungsinformationen seien „ihrer Natur nach" nicht allgemein zugänglich und unterlägen deshalb nicht dem Informationsanspruch des Art. 5 1 1 2 . Hs. G G . 1 0 Die Bestimmung wolle - wie sich insbesondere aus ihrer Entstehungsgeschichte 11 ergebe - keine neuen Informationsquellen schaffen, sondern lediglich bereits bestehende sichern und der Staatsgewalt Behinderungen des Informationsflusses verbieten. Regelungen über die Nichtzugänglichkeit von Behördenakten stellten Grundrechtsgestaltungen und nicht Eingriffe in die Informationsfreiheit dar. 1 2 Als negatives Statusgrundrecht, als Abwehrrecht im klassischen Sinn, gewährleiste Art. 5 I GG schließlich kein Recht auf Einrichtung von Informationsquellen. 13
Rechtsbegriff, Bad Homburg 1969, S. 64 f.; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2 2004, Art. 5 Rn. 8 1 ; / / . Bethge, in: Sachs, GG, 2 2003, Art. 5, Rn. 60; R. Engel, Akteneinsicht, Freiburg 1993, S. 105 ff.; M. Kaufmann, Akteneinsicht, in: M . Bertschi u. a. (Hrsg), Demokratie und Freiheit, Stuttgart 1999, S. 41, 48. 6 C. Starck, in: v. M a n g o l d t / K l e i n / S t a r c k , GG, 4 2005, Art. 5 Rn. 39. 7 Schulze-Fielitz (o. Anm. 5), Art. 5 Rn. 76; unter Berufung auf BVerfGE 27, 71 (81 f.) Einfuhrverbot / Leipziger Volkszeitung. « BVerfGE 27, 71 (84); 90, 27 (32); R Lerche, Informationsfreiheit, in: H. Kunst (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1966, Sp. 786; Geiger (o. Anm. 5) S. 119 (126): „selbstverständlich unvereinbar mit der Verfassungsgarantie der Informationsfreiheit"; Bethge (o. Anm. 5) Art. 5, Rn. 56. 9 Starck (o. Anm. 6) Art. 5, Rn. 50; für die Anerkennung auch der unrechtmäßigen und darüber hinausgehend sogar der verfassungswidrigen Geheimhaltungsentscheidungen der Exekutive auch H. Windsheimer, Die ,Information' als Interpretationsgrundlage für die subjektiven öffentlichen Rechte des Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz, Berlin 1968, S. 139.
·« BVerfG, Beschl. v. 30. 1. 1986, NJW 1986, 1243; Bethge (o. Anm. 5) Art. 5, Rn. 60; R. Wendt, in: v. M ü n c h / K u n i g , GG I, 5 2000, Art. 5, Rn. 25; H.-D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 7 2004, Art. 5, Rn. 16 a, 20. 11
Eine Aufarbeitung der entstehungsgeschichtlichen Interpretation gegen ein allgemeines Zugangsrecht findet sich bei A. Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, Baden-Baden 2000, S. 339 f. 12 Kritisch dazu E. Gurlit, Verwaltungsöffentlichkeit im Umweltrecht, Düsseldorf 1989, S. 100, die darauf hinweist, daß auf diese Weise Informationen aus der Sphäre des Staates „verfassungsrechtlich schlechter gestellt" würden, als gesellschaftlich produzierte Informationen, in deren Verbreitung der Staat nicht eingreifen dürfe. 13
R. Herzog, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 5, Rn. 101; M. Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, Berlin 2004, S. 88.
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2. Kein Anspruch aus Art. 20 I GG Auch aus dem in Art. 20 I GG verankerten Demokratieprinzip soll sich kein Gesetzgebungsauftrag zur Schaffung eines solchen Rechts und erst recht kein unmittelbares Recht auf freien Informationszugang gegenüber der Exekutive ergeben. Bei aller grundsätzlichen Anerkennung der untrennbaren Verknüpfung von Demokratie- und Transparenzprinzip: ein individueller Anspruch auf freien Zugang zu Verwaltungsinformationen lasse sich aus ersterem nicht ableiten. Dagegen spreche bereits der Charakter des Art. 20 I GG als einer „zu u n b e s t i m m t e n ] " 1 4 Staatsfundamentalnorm, die als Bestimmung des bloß objektiven Verfassungsrechts einer Versubjektivierung nicht zugänglich sei. 1 5 Zudem schließe die Entscheidung für die repräsentative Demokratie in Art. 20 I I GG „die Möglichkeit [aus], aus der Identität bzw. Allzuständigkeit des Volkes einen allgemeinen staatsbürgerlichen Informationsanspruch zu begründen." 1 6
3. Kein Anspruch aus sonstigem Verfassungsrecht Zu Recht verneint die herrschende Lehre schließlich die Ableitung eines allgemeinen Informationszugangsanspruchs aus sonstigen Bestimmungen des Verfassungsrechts. Zwar verbürgen etwa die übrigen Freiheitsgrundrechte akzessorisch Rechte auf Organisation und Verfahren, zu denen auch das Recht gehören kann, über behördliche Maßnahmen, die sich als Beschränkung der jeweiligen Grundrechtspositionen erweisen (können), informiert zu werden. 1 7 Auch erfassen diese Informationsansprüche einen nicht unbeträchtlichen Teil des Verwaltungshandelns. Als rechtsstaatliche Ansprüche sind sie jedoch selbst in ihrer Zusammenschau nicht geeignet, ein allgemeines - gerade nicht an der Verteidigung individueller Rechte orientiertes - Zugangsrecht zu Informationen der öffentlichen Verwaltung zu begründen. 18 Auch das Rechtsstaatsprinzip als solches verbürgt zwar allgemei>4 Vgl. statt vieler: Rossi, (ο. Anm. 13), S. 84. 15 Herzog (o. Anm. 13) Art. 5, Rn. 101; D. Kugelmann, Die informatorische Rechtsstellung des Bürgers, Tübingen 2001, S. 61 hält insoweit allerdings einen von Art. 20 I G G angeleiteten Wandel in der Interpretation von Art. 5 GG wenn auch nicht für angezeigt, so doch für möglich; i.d.S. auch Jarass, AfP 1979, 228 (231).
S. W. H. Lodde, Informationsrechte, Köln 1996, S. 109; ähnlich auch P. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, Tübingen 1986, S. 366 f.: die Grenzen des aus dem Demokratieprinzip Ableitbaren seien schon deshalb als eng zu begreifen, weil sich das Grundgesetz für eine repräsentative und gegen eine unmittelbare Demokratie entschieden habe. 17
Näher dazu Kugelmann (o. Anm. 15) S. 56 ff.; zur Ableitung eines unmittelbar auf Art. 12 gestützten Anspruchs auf Information vgl. BVerwG, Urt. v. 2. 7. 2 0 0 3 - 3 C 4 6 / 0 2 , N V w Z 2003, 1114 ff. 18 Insoweit zu Recht Kaufmann (o. Anm. 5) S. 41 ff.; sowie ausführlich Kugelmann (o. Anm. 15) S. 40 ff., 56 ff., der allerdings angesichts der von ihm konstatierten informationsrechtlichen Ableitungsschwäche des Demokratieprinzips in den sich aus den Grundrechten ableitenden Schutzpflichten den „Kern der verfassungsrechtlichen Begründung von Informationsrechten" erblicken muß.
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Informationsfreiheit und Verfassungsrecht
ne P u b l i z i t ä t e t w a der N o r m e n ; 1 9 e i n e n v o m Schutz i n d i v i d u e l l e r R e c h t e g ä n z l i c h losgelösten I n f o r m a t i o n s a n s p r u c h v e r m a g es aber n i c h t zu b e g r ü n d e n . 2 0
I I . Der verfassungsunmittelbare Zugangsanspruch A u c h w e n n d i e eben skizzierte t r a d i t i o n e l l e A u f f a s s u n g dies ( n o c h ) 2 1 v e r n e i n t : E i n A n s p r u c h a u f g r u n d s ä t z l i c h freien Z u g a n g zu d e n i m B e s i t z der V e r w a l t u n g b e f i n d l i c h e n I n f o r m a t i o n e n ergibt sich u n m i t t e l b a r aus d e m Grundgesetz. E r f o l g t aus einer d u r c h das D e m o k r a t i e p r i n z i p des A r t . 2 0 G G angeleiteten (dazu unter A . ) N e u i n t e r p r e t a t i o n des A r t . 5 1 1 2 . H s . G G (dazu unter B . ) .
1. Informationsfreiheit als „demokratisches Verteilungsprinzip" a) Wesen und Funktion der
des demokratischen
Prinzips
Informationsfreiheit
A n a l o g z u m vertrauten „ r e c h t s s t a a t l i c h e n V e r t e i l u n g s p r i n z i p " 2 2 m u ß die freie Z u g ä n g l i c h k e i t der I n f o r m a t i o n e n der auch i n d i e s e m S i n n e „ ö f f e n t l i c h e n "
Hand
als „ d e m o k r a t i s c h e s V e r t e i l u n g s p r i n z i p " b e g r i f f e n w e r d e n . Das P r i n z i p begründet zunächst eine R e g e l v e r m u t u n g für d i e Ö f f e n t l i c h k e i t der i m staatlichen B e s i t z bef i n d l i c h e n I n f o r m a t i o n e n . R e c h t f e r t i g u n g s b e d ü r f t i g u n d n a c h w e i s p f l i c h t i g ist da-
19 Zur dennoch und zu Unrecht ablehnenden Haltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Publizität von Verwaltungsvorschriften vgl. o. Anm. 5.
20 Ganz ähnlich Kugelmann (o. Anm. 15) S. 35 ff.; Scherzberg (o. Anm. 11 ) S. 320 ff. Dort auch zu den entsprechenden Grenzen informatorischer Einzelgewährleistungen wie sie sich etwa aus dem Sozialstaatsprinzip oder aus der Forschungsfreiheit ergeben können. 21 Vor allem in Habilitationsschriften jüngeren Datums zeigt sich ein Trend hin zu einer allerdings nicht immer entschiedenen und deutlichen - Abkehr von der bislang h.M., vgl. dazu die Arbeiten von J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, Tübingen 2004, S. 241 f. - der einen leistungsrechtlich begriffenen Informationszugangsanspruch des Einzelnen für die Fälle anerkennt, in denen „dies ohne nennenswerten ressourcenverzehrenden Aufwand möglich ist"; Kugelmann (o. Anm. 15) - der eine Neuinterpretation des Art. 5 1 1 2 . Hs. GG zwar für „wünschenswert" erklärt, auf eine solche aber weithin verzichtet; Rossi (ο. Anm. 13) - der einen verfassungsunmittelbaren Zugangsanspruch ablehnt, aber für eine von ihm sog. „Grundrechtsaktivierung durch den Gesetzgeber" für denkbar und angezeigt hält, und Scherzberg (o. Anm. 11) und ders., T h ü r V B l 2003, 193 (200 f.) - zu dessen Ergebnissen u. insbes. Anm. 75. 22 Demzufolge grundrechtliche Freiheit prinzipiell rechtfertigungsfrei, staatliches Handeln hingegen begrenzt und rechtfertigungsbedürftig ist; oder in den Worten seines „Erfinders" Carl Schmitt: „die Freiheitssphäre des einzelnen wird als etwas dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist", ders. (o. Anm. 33) S. 126. Vgl. auch Β. Schlink, Rechtshistorisches Journal 10 (1991) S. 160 (163).
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mit nicht das Interesse des Bürgers an der Information. Vielmehr stellt sich bei zutreffender demokratischer Betrachtung umgekehrt die Geheimhaltung staatlicherseits verwalteter Informationen als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die jedermann zustehende Informationsfreiheit dar. Beschränkungen der Informationsfreiheit sind danach auf das zur Verwirklichung sonstiger Gemeinwohlzwecke unerläßliche und in Abwägung mit der Informationsfreiheit verhältnismäßige Maß zu beschränken. I m Umgang mit staatlich verwalteten Informationen wechselt die Begründungslast. Nicht mehr der informationsbegehrende Bürger, sondern die informationsverweigernde Verwaltung bedarf der Legitimation. Zugleich verlangt das demokratische Verteilungsprinzip der Informationsfreiheit nach einer auf seine bestmögliche Verwirklichung ausgerichteten verfahrensrechtlichen und praktischen Ausgestaltung. Es wirkt auch insoweit im Sinne eines „Optimierungsgebots' 4 . 23 Ihrer Funktion nach zielt die Informationsfreiheit als demokratisches Verteilungsprinzip damit auf die Effektivität und Alltäglichkeit eines von Beschränkungen nach Möglichkeit freien Zugangs zu Verwaltungsinformationen. Als Prinzip und Abkehr von dem bislang geltenden Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten der Geheimhaltung ist die Informationsfreiheit dabei keineswegs entbehrlich. 2 4 Zwar kommt vieles auf die Ausgestaltung und Anwendung der auch unter seiner Geltung zulässigen Ausnahmetatbestände an. 2 5 Die Anerkennung des Grundprinzips der Informationsfreiheit begründet aber schon dafür einen restriktiven Maßstab. 2 6 Wo Transparenz die verfassungsrechtlich abgeleitete Regel und zu optimierender An23 Zur Beschreibung von Grundrechten des Grundgesetzes als Optimierungsgeboten und damit als Normen, die gebieten, „daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird.", R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 1985, S. 75 f.; vgl. auch M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, Baden-Baden 1998, S. 76 f. Während ein Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote strittig ist, gilt dies für Verfassungsprinzipien zumindest nicht in gleichem Maße; ebenso B.-O. Bryde, in: KJ-Sonderheft: Demokratie und Grundgesetz, 2000, 59 (62); kritisch aber K.-E. Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, Baden-Baden 1999, S. 114 ff. 24 Ähnlich: R. Marcie, Die Öffentlichkeit als Prinzip der Demokratie, FS Arndt (Anm. 5), S. 267 (287): „Gewiß, wie jede rechtliche Grundnorm, so gilt die Öffentlichkeit als Norm limite implicito. Die Notwendigkeit mag auftauchen, das arcanum zu pflegen. Allein, den Ausschlag geben die Fragen: Was ist die Regel? - Was ist die Ausnahme?". 2
5 Nur insoweit gleicher Meinung: C. Lübbe-Wolff,
26
D Ö V 1980, 594 (595).
Geheimhaltungstatbestände sind in einem System regelmäßiger Verwaltungstransparenz nach gängiger Praxis der Gerichte eng auszulegen, vgl. dazu hinsichtlich des Anspruchs auf freien Zugang zu den von den Gemeinschaftsorganen verwalteten Informationen: EuG, Rs. T-124/96, 6. 2. 1998, Slg. 1998,11-231, Rn. 49 (Interporc 1/Kommission); Rs. T - 9 2 / 9 8 , 7. 12. 1999, Slg. 1999, 11-3521, Rn. 38 ff. (Interporc II / Kommission); Rs. T-105/95, 5. 3. 1997, Slg. 1997,11-313, Rn. 56 ( W W F U K / Kommission), vgl. dazu auch die Anm. von E. Chiù, C M L R e v 1998, 189 ff. und A. Furrer, Z U R 1997, 148 ff.; Rs. T-174/95, 17. 6. 1998, Slg. 1998, 11-2289, Rn. 110 (Svenska Journalistförbundet/Rat). Hinsichtlich der Ausnahmetatbestände des US-amerikanischen Freedom of Information Act ebenso: US Supreme Court, John Doe Agency v. John Doe Corp., 107 L Ed. 2d (1989) S. 462 (463), dazu auch G. Ο. Robinson, 14 Federal Law Review ( 1983), 35 (43).
Informationsfreiheit und Verfassungsrecht
spruch ist, ist der Gesetzgeber aufgerufen, die ausnahmsweise begrenzenden Geheimhaltungstatbestände zu benennen und hinreichend konkret zu formulieren. Geheimhaltung läßt sich dabei - anders als unter der Herrschaft eines Prinzips oder auch nur einer Regel administrativer Geheimhaltung - nicht mehr als Wert an sich begreifen. Auch dürfen die benannten Geheimhaltungstatbestände in ihrer Gesamtheit den Grundsatz der Verwaltungstransparenz nicht in sein Gegenteil verkehren und so entwerten. Unmöglich gemacht wird so die Praxis begründungsarmer und gerichtlich kaum kontrollierter Pauschalverweise auf das Vorliegen weitgefaßter Ausnahmetatbestände, wie dies bislang etwa für den Umgang mit dem presserechtlichen Informationszugangsanspruch kennzeichnend war. 2 7 Ziel der unter der Geltung des demokratischen Informationsverteilungsprinzips im Einzelfall zu treffenden Abwägung, die von den Gerichten entsprechend der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vollumfänglich zu überprüfen ist, 2 8 sind die größtmögliche Verwirklichung von Informationsfreiheit einerseits und Rechtsgüterschutz andererseits im Sinne praktischer Konkordanz. 2 9 In diesem Zusammenhang hat schon Carl Theodor Welcker zu Recht bemerkt, daß die prinzipielle Öffentlichkeit wie die regelmäßige Geheimhaltung in der Verwaltung eine Systementscheidung darstellt. 3 0 Nur wo die Transparenz der Verwaltung Prinzip ist, kann das Recht auf Zugang zu Verwaltungsinformationen zum regelmäßigen Individualanspruch erstarken. Umgekehrt wird so Geheimhaltung begründungspflichtig und damit aufwendiger. Auch für die Verwaltung selbst bringt deshalb die Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses die argumentative und psychologische Entlastung, die eine „offene Verwaltung" erst möglich macht. 3 1 Die Entscheidung für das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Transparenz
27
Skeptisch etwa M. Rehbinder, Presserecht, Herne 1967, Rn. 16; ders. S. 9 - „bloßer Programmsatz". Vgl. auch die beißende Kritik von H. Ridder, Recht auf Information, 1967, S. 19 (24), der die Regelung als „Blindgänger" bezeichnet, der als juristischer Anker eines Informationsrechts der Presse ungeeignet sei. Die Dialektik des „Wägens des Überwiegens" in § 4 der Pressegesetze lasse sich auf die Formel „Abs. 1 = + 4 Abs. 2 = - 4 Abs. 1 - Abs. 2 = ± 0 " bringen. 28 Zur verfassungsrechtlich zwingenden Prüfung von Geheimhaltungsverlangen der Verwaltung im sog. „in-camera-Verfahren", vgl. BVerfGE 101, 106 ff., Rn. 62 ff. 29 Zum Ausgleich der im Demokratieprinzip enthaltenen Optimierungsgebote mit gegenläufigen Prinzipien am Maßstab praktischer Konkordanz, Brvde (o. Anm. 23) S. 62.
30 C. T. Welcker, Öffentlichkeit, in: C. v. Rotteck/C. T. Welcker, Staatslexikon, Bd. X , Hammerich 3 1864, S. 743 (747). Zur Bedeutung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in der historischen Auseinandersetzung um die Pressefreiheit, vgl. die entsprechenden Bemerkungen von G. Η. v. Berg, Preßfreiheit, 1818, S. 330. 31
Für die umgekehrte Situation bemerkt F. E. Rourke, Secrecy and publicity, Baltimore 1961, S. 22: sei erst einmal das Prinzip der Geheimhaltung etabliert, werde es für den Verwaltungsbeamten zum Weg des geringsten Widerstandes, wenn er sich mit der Regel entscheide und gegenläufige Interessen nicht berücksichtige. Vgl. dazu auch die Beobachtung von J. H. Wigmore, The Anglo-American system of evidence in trials, Boston 1940, Vol. 8, S. 793. „The subordinate at lowest point, obsessed by the general dogma against disclosure, prepares a reply denying the application [auf Informationszugang]; he w i l l usually not have
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und Geheimhaltung hat damit und darüber hinaus eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungs(selbst)verständnisses. Nur sie kann die Grundlage einer „ K u l t u r " transparenter Verwaltung entstehen lassen.
b) Demokratietheoretische
Begründung des Prinzips
Die Ableitung der Informationsfreiheit als des demokratischen Prinzips der Verteilung von Informationen kann sich vor allem auf zwei im Demokratieprinzip des Art. 20 GG angelegte Grundgedanken stützen. aa) Informationsfreiheit, Volkssouveränität und demokratische Legitimation Zunächst muß sie als Ausdruck der Volkssouveränität und als Modus der Legitimation von Verwaltungsherrschaft begriffen werden. Wenn nach Art. 20 I I 1 GG alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wenn also die in der Demokratie des Grundgesetzes einzig originär legitimierte Herrschaft die des Volkes ist, 3 2 dann bedarf diese Herrschaft wie jede andere um ihrer Selbstbehauptung willen eines Maximums an Information. 3 3 Wissen ist Macht und folglich bedarf das nach der grundgesetzlichen Ordnung erst- und vorrangig mächtige und Macht delegierende Volk der Information. Bereits die absolutistische Staatstheorie war sich dieser machtpolitischen Bedeutung der Information für die Frage nach dem Träger staatlicher Herrschaft bewußt. 3 4 Ihre kritische Erkenntnis von der Funktion der Publizität und Öffentlichkeit für die konkurrierende demokratische Ordnung hat nichts von ihrer Wahrheit verloren. 3 5 Wenn Wissen Souveränität begründet, dann muß das Wissen the initiative or the courage to propose an exceptional use of discretion in favor of granting the application". 32 BVerfGE 20, 56 (99). 33 Zur über diesen machtpolitischen Aspekt noch hinausgehenden gewissermaßen „konstitutionellen" Abhängigkeit des Volkes von Öffentlichkeit vgl. Scherzberg (o. Anm. 11) S. 293, wonach das Volk als politische Einheit mit historischer Kontinuität, als Verbund von Bürgern mit gemeinsamer politischer Identität durch Öffentlichkeit überhaupt erst „entsteht". Ähnlich auch A. Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, Berlin 1971, S. 249 ff., 256: „Das Volk ist nur verfaßte Öffentlichkeit". Vom Standpunkt eines allerdings problematischen Demokratie- und Öffentlichkeitsverständnis aus auch C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 243 f.: „Volk und Öffentlichkeit bestehen zusammen; kein Volk ohne Öffentlichkeit und keine Öffentlichkeit ohne Volk". 34 Vgl. etwa W. G. Roscher, Monarchie, Aristokratie, Demokratie, Meersburg 1892, S. 149: „ W i e der Demokratie die Öffentlichkeit natürlich ist, so der Aristokratie die Heimlichkeit. Dort verlangt man besondere Gründe, um eine Staatssache verschwiegen zu halten, hier um sie zu publizieren. Es sind dies ganz einfache, sich von selbst verstehende Folgen der verschiedenen Staatsprinzipien, dort der Gleichheit, hier der Ausschließung." 35 Beispielhaft sei hier nur auf skeptische Äußerungen C. G. Jouffroys hingewiesen, der schon 1843 wußte: „ N u n aber leuchtet wohl ein, daß dieser Frage der Öffentlichkeit ein Prin-
Informationsfreiheit und Verfassungsrecht über A n g e l e g e n h e i t e n des staatlichen G e m e i n w e s e n s i n der D e m o k r a t i e e i n nach M ö g l i c h k e i t a l l g e m e i n e s sein. So w i e die v o n „ b e s o n d e r e n Staatsorganen" ausgeübte M a c h t eine b l o ß abgeleitete ist, so ist auch das v o n diesen O r g a n e n generierte u n d v e r w a l t e t e Herrschaftswissen eines, das p r i n z i p i e l l d e m V o l k u n d d a m i t der Ö f f e n t l i c h k e i t 3 6 zusteht. So w i e es unter d e m Grundgesetz k e i n e „ d e m V o l k e n t r ü c k t e " Staatsgewalt geben d a r f , 3 7 so d a r f auch das W i s s e n der Staatsorgane dem V o l k nur in einem möglichst geringen Maße entzogen w e r d e n . 3 8 Informationen, d i e sich i m B e s i t z der V e r w a l t u n g b e f i n d e n , sind deshalb unter der G e l t u n g des Grundsatzes der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t p r i n z i p i e l l der Ö f f e n t l i c h k e i t g e w i d m e t . W e n n alle Staatsgewalt v o m V o l k ausgeht, ist dieses „ A u s g e h e n " n i c h t als historisch e i n m a l i g e s idealistisches K o n s t r u k t , sondern als f o r t l a u f e n d e r u n d p r a k t i s c h erfahrbarer Prozeß d e m o k r a t i s c h e r L e g i t i m a t i o n k o n z i p i e r t . 3 9 D i e d e n Staatsorganen n u r anvertraute p o l i t i s c h e M a c h t m u ß deshalb organisatorisch so e i n g e f a n g e n u n d u m h e g t w e r d e n , „ d a ß sie sich i n ihrer E i n r i c h t u n g u n d A u s ü b u n g stets v o m W i l len des V o l k e s herleitet b z w . a u f i h n z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n k a n n . " 4 0 Das V o l k m u ß
zip zu Grunde liegt, das vorzugsweise dem Volkselemente zu gute kommen, daß heißt dessen Präpotenz um ein Bedeutendes erhöhen wird. [ . . . J Das demokratische Element hätte mithin, [ . . . J freies Spiel, keine Schranke in der Gesellschaft, keine vom Staate ausgehende Einrichtung würde stark genug sein, dem monarchischen Principe zu Hülfe zu kommen.", vgl. C. G. Jouffroy, Öffentliches Rechtsverfahren, 1843, S. 32 f. (anonym veröffentlicht). 36 Allerdings unterscheidet die herrschende Lehre zwischen dem „ V o l k " des Art. 20 I I 1 GG und der Bevölkerung, vgl. dazu BVerfGE 83, 37 (51 f.) - Ausländerwahlrecht; R. Grawert, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrecht, Band I, 3. Auflage, Heidelberg 2003, § 14, Rn. 7; W Merten, V V D S t R L 55 (1996), 7 (25); M. Jestaedt, Demokratieprinzip, Bonn 1993, S. 207 ff.; kritisch: Ery de, StWStP 1994, 305 ff.; H. Meyer, V V D S t R L 55 (1996), 142. Soweit die Informationsfreiheit und der auf ihr autbauende allgemeine Informationsanspruch deshalb mit dem Gedanken der Volkssouveränität begründet werden, ließen sie sich auf deutsche Staatsbürger begrenzen. Zur Traditionsfeindlichkeit und Problematik einer solchen Beschränkung, aber u. Anm. 74. 37
So Scherzberg (o. Anm. 11) S. 291; in der Formulierung noch weitergehend: H. Dreier, Hierarchische Verwaltung, Tübingen 1991, S. 26: keine „der Gesellschaft entrückte Staatsgewalt". 38 Vgl. dazu auch schon die auf die Gerichtsöffentlichkeit bezogene Bemerkung Paul Johann Anselm von Feuerbachs, wonach unter einer Verfassung, die das Volk zu staatsrechtlicher Bedeutung erhebe, eine staatliche Tätigkeit, die „ganz eigentlich für das Volk und für die Gesamtheit des gemeinen Wesens" bestehe, dessen Augen nicht „entrückt" werden dürfe, vgl. ders., Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Bd. I, 1821, S. 9 f. Wenn diese Logik schon für den Staat der konstitutionellen Monarchie Geltung beanspruchen konnte, dann erst recht für den des Grundgesetzes. So wie sie dort die Öffentlichkeit der „bürgerlichen" Institution der Gerichtsbarkeit begründete, so spricht sie heute für die Öffentlichkeit der demokratischen Verwaltung. 39 Herzog (o. Anm. 13) Art. 20 II, Rn. 35 f.; Jestaedt (o. Anm. 36) S. 265 f.; Scherzberg (o. Anm. 11) S. 291. 40 E.-W. Böckenförde, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrecht, Band I, 3. Autlage, Heidelberg 2003, § 22, Rn. 1; vgl. auch BVerfGE 83, 60 (72) Ausländerwahlrecht; E. Schmidt-,Aßmann, AöR 116 (1991), 329 (355); Scherzberg (o. Anm. 11) S. 295.
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„effektiven Einfluß [ . . . J auf die Ausübung der Staatsgewalt" haben. 41 Die Volkssouveränität als der Anspruch, die eigenen Angelegenheiten selbst zu verhandeln, manifestiert sich in der politischen Informations- und Einflußnahme durch öffentliche Kommunikation 4 2 Gerade in der repräsentativen Demokratie sind Öffentlichkeit und Informationsfreiheit deshalb, wie dies im Grundsatz spätestens seit dem Vormärz zum Gemeingut demokratischen Denkens in Deutschland gehört, Voraussetzung gelingender Legitimation. Wenn das Volk die einzige aus eigenem Recht legitimierte politische Instanz ist, dann ist jede Herrschaft durch besondere Organe von seiner Legitimation abhängig. Legitimation aber setzt Wissen über die zu legitimierende Herrschaft, über ihren Gebrauch und ihren möglichen Mißbrauch voraus. Im Kontext der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsund Informationsfreiheit nach Art. 5 GG ist dieser Zusammenhang denn auch gänzlich unbestritten. Die durch fortlaufend begleitende öffentliche Kontrolle und Meinungsbildung 4 3 wie die durch periodische Wahlen vermittelte Legitimation der Staatsorgane verlangt danach nach einem möglichst umfassenden und von Einschränkungen durch die Staatsorgane selbst nach Möglichkeit freien Zugang zu Informationen. Diese für die allgemein anerkannten Elemente der Informationsfreiheit aber auch für die prinzipielle Öffentlichkeit des Parlaments und der Justiz anerkannte Idee wird unter Mißachtung der gegenteiligen demokratischen Denktradition zu Unrecht nicht auf das Verwaltungshandeln übertragen. M i t der Verneinung des Prinzips der Transparenz des Verwaltungshandelns wird die Rolle der über die Regelgeheimhaltung erzeugten und gesicherten Informationsmacht der Exekutive beständig unterbewertet. Dabei kann und darf die Information des Volkes nach den vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelten Grundsätzen nur zum geringstmöglichen Maße von der Entscheidung der zu legitimierenden Staatsorgane selbst abhängen. Ihr Einfluß auf die Informationslage der Bürger birgt stets die Gefahr einer manipulierten Willensbildung oder, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt hat, einer verfassungswidrigen Willensbildung von den Staatsorganen zum Volk hin in sich 4 4
Böckenförde (o. Anm. 40) Rn. 14; vgl. auch BVerfGE 83, 60 (72); Scherzberg (o. Anm. 11)S. 295. 42 Scherzberg (o. Anm. 11) S. 294 mit der Bemerkung, Öffentlichkeit sei in diesem Sinne „ρroz.edu ral isierte Volkssouveränität 43 Vgl. dazu BVerfGE 69, 92 (107); 69, 315 (346 f.); 73, 40 (71), wonach das „Recht der Bürger auf Teilhabe an der politischen Willensbildung" sich nicht auf die „Stimmabgabe" bei Wahlen und Abstimmungen beschränke, sondern auch die „Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der Willensbildung" umfasse. Vgl. dazu im hier interessierenden Zusammenhang der fortlaufenden Legitimation der Exekutive durch informationelle Kontrolle Jerschke (o. Anm. 5 ) S . 120 ff. 44 BVerfGE 20, 56 (100); 44, 125 (140) - Öffentlichkeitsarbeit; zuvor schon BVerfGE 8, 104(113); 12, 113(125); 12, 205 (265). Zu der damit nicht ausgeschlossenen Öffentlichkeitsund Informationsarbeit der Regierung und ihren rechtlichen Rahmenbedingungen C. Gusy , NJW 2000, 977 (978 m. w. N. zur Rspr. des BVerfG): keine „Einbahnstraße" der Kommunikation.
Informationsfreiheit und Verfassungsrecht
Der Exekutive als einer Hauptquelle der für die politische Willensbildung tatsächlich oder potentiell relevanten Informationen darf eine regelmäßige Verfügungsgewalt über die informatorische Grundlage der Willensbildung des demokratischen Souveräns der Sache nach aber am wenigsten zukommen. Wenn unter der Geltung des Grundgesetzes auch die Verwaltung der demokratischen Legitimation bedarf, dann gilt nunmehr auch für sie die ehemals allein auf die gewählten Volksvertreter bezogene Aussage Friedrich Julius Stahls nach der es nicht hinreicht, bloß die „Resultate" der anvertrauten Tätigkeit zu erfahren. Das Volk hat vielmehr auch gegenüber der Verwaltung einen Anspruch darauf, zu „wissen, auf welche Weise, mit welchen Mitteln, in welcher Absicht es vertreten worden i s t " . 4 5 In Abwandlung und Übertragung von Stahls Bemerkung läßt sich sagen, daß als die Verwaltung „Sondergut" der Monarchie war, ihr die heimliche Tätigkeit entsprach und daß „nun sie Volksgut ist", sie prinzipiell öffentlich sein muß. Hier gilt in Analogie zu den auf die Gerichtsöffentlichkeit gemünzten Bemerkungen Hegels, daß gerade weil der Zweck der demokratischen Verwaltung das Gemeinwohl ist, ihre Tätigkeit „als eine Allgemeinheit auch vor die Allgemeinheit gehört" 4 6 Das demokratische Recht auf freie Teilhabe an der politischen Willensbildung verlangt deshalb auch hinsichtlich der Verwaltungstätigkeit nach einer nicht nur gelegentlichen und von institutionellen Selbstdarstellungsinteressen geprägten Information des Bürgers. 47 Dieser ist grundsätzlich frei, selbst darüber zu entscheiden, welche Informationen er für seine Willensbildung für wichtig hält und im Diskurs mit anderen zum Thema öffentlicher Auseinandersetzung zu machen w ü n s c h t 4 8 Der daraus resultierenden Anerkennung eines Prinzips möglichst freien und umfassenden Zugangs zu den Informationen der Verwaltung kann nicht mit dem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in anderem Zusammenhang entwickelten Gedanken entgegengetreten werden, für die demokratische Legitimation staatlichen Handelns käme es nicht auf deren „Form", sondern allein auf deren «
R J. Stahl, Philosophie des Rechts, Heidelberg 1837, S. 204.
46 G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts, Berlin 1821, § 224. Gleichgerichtet auch die Bemerkung Lorenz von Steins, wonach sich die Verpflichtung der (kommunalen) Verwaltung zur Öffentlichkeit ihres Verfahrens gerade aus der Tatsache ergebe, daß sie ein allgemeines Interesse zu vertreten habe; näher dazu L. u Stein, Verwaltungslehre, 1. Theil, 2. Abth., 2. Theil, 2 1869, S. 89 ff. 47 Daran ändert sich im übrigen selbst dann nichts, wenn man das demokratische Teilhaberecht des Volkes fälschlich auf die Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen i.S.v. Art. 20 I I 2 GG beschränken w i l l ; vgl. dazu Jestaedt (o. Anm. 36) S. 267 ff.; J. Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, Opladen 1995, S. 77 f.; dagegen: Scherzberg (o. Anm. 11) S. 296 ff. Auch eine solche Beteiligung setzt die nach Möglichkeit freie Information über die Tätigkeit der mittelbar zu bestätigenden oder abzuwählenden Exekutive voraus. Schon der Monarchist Friedrich Julius Stahl wußte, daß „es wenig hilft, die Wahl zu gestatten, wenn man die Kenntniß entzieht, nach der die Wahl sich richtet", Stahl (o. Anm. 45) S. 204. 48 J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 211 spricht insoweit davon, daß das „Prinzip der Gewährleistung autonomer Öffentlichkeiten " und der Grundsatz der Konkurrenz der politischen Parteien zusammen mit dem parlamentarischen Prinzip den Gehalt der Volkssouveränität ausmachten.
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„Effektivität" an. 4 9 Zum einen dürfte sich hinsichtlich der notwendigen Information über das zu legitimierende Handeln der Exekutive ein effektiverer Ansatz als der eines die verwaltungsseitige Selbstdarstellung ergänzenden allgemeinen Informationszugangs kaum denken lassen. Zum anderen kann - anders als es die Äußerungen des Verfassungsgerichts nahelegen - aus dem bloßen Hinweis auf ein aus dem Zusammentreffen verschiedener Legitimationsmittel resultierenden „Legitimationsniveau" 5 0 kein Einwand gegen die grundsätzliche Anerkennung des Prinzips der Verwaltungstransparenz gewonnen werden. Seines Prinzipiencharakters wegen verlangt das Demokratieprinzip nämlich nicht allein die Erreichung eines für die Legitimation staatlichen Handelns gerade ausreichenden Niveaus. Vielmehr verlangt es nach dessen „Optimierung" und damit hinsichtlich der durch Information zu erreichenden Legitimation staatlichen Handelns nach einer möglichst transparenten öffentlichen Verwaltung. Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit zu Recht von einem „allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie", das nur ausnahmsweise Beschränkungen vertrage. 51 Die Geheimhaltung von Verwaltungsinformationen kann deshalb zwar mit dem Hinweis auf entsprechende Notwendigkeiten, nicht aber unter Verweis auf die mit anderen Mitteln bereits erzielten oder zu erzielenden Erfolge demokratischer Legitimation gerechtfertigt werden.
bb) Demokratie, Verwaltungstransparenz und Kontrolle Spätestens seit Kant 52 und Welcher 53 gilt die Publizität staatlichen Handelns schließlich als wenn auch nicht hinreichende so doch notwendige Bedingung effektiver Kontrolle. Aufklärung und Liberalismus haben die läuternde, Rechtmäßigkeit verbürgende Funktion der Transparenz auch und gerade für das Verwaltungshandeln stets betont. Die Budgetöffentlichkeit, die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, die Parlamentsöffentlichkeit und die „Öffentlichkeit" der Presse, sie alle dienten und dienen auf ihre Weise dem Anspruch, das staatliche Handeln unter bürgerschaftliche Aufsicht zu stellen. Den so formulierten Anspruch der Kontrolle
49 BVerfGE 83, 60 (72) - Ausländerwahlrecht; 89, 155 (183) - Maastricht. 50 Zu allgemeinen Zweifeln an der Legitimationskraft der durch das Grundgesetz konstituierten repräsentativen Demokratie vgl. Scherzberg (o. Anm. 11) S. 295; unter Verweis auf H.-H. v. Arnim, ZRP 1995, 340 ff.
si BVerfGE 70, 324 (358) - Haushaltstitel geheimer Dienste. 52 Vgl. I. Kant, Der Streit der Fakultäten, Königsberg 1789, S. 261 (363 f.); ders., Z u m ewigen Frieden, Königsberg 1795, Anh. II. Zur heute wohl allgemeinen grundsätzlichen Anerkennung dieses Gedankens, vgl. etwa G. Püttner, Verwaltungslehre, 3 2000, S. 372: „eine wichtige und in manchen Bereichen die einzig wirksame Verwaltungskontrolle". 53 C. T. Welcher, Öffentlichkeit, in: C. v. Rotteck/C. T. Welcker, Staatslexikon, Hammerich 2 1848, S. 273 f.: „ D i e vollkommene Öffentlichkeit giebt [ . . . J endlich Das, was man ohne sie in allen möglichen politischen Einrichtungen und Formen vergeblich suchte, die allein durchgreifende und sichernde Controle und Garantie gegen den Mißbrauch, gegen nachlässige, untreue, verfassungswidrige Anwendung der politischen Gewalt der Regenten, Stände, Beamten und Bürger."
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auch und gerade der Exekutive durch das Publikum vermochte die bürgerliche Revolution nur ihrer Schwäche wegen nicht unmittelbar auf die Verwaltung zu erstrecken. Im Gegenteil konnte die Monarchie im konstitutionellen Kompromiß ihren Anspruch auf ein allein von ihr beherrschtes, prinzipiell geheimes und kontrollfreies Verwaltungsverfahren behaupten und sich gerade darin gegenüber radikaleren demokratischen Konzepten behaupten. Später entwickelte dann zwar Max Weber ein Konzept einer intensivierten parlamentarischen Verwaltungskontrolle und einer so zu erreichenden mittelbaren Verwaltungsöffentlichkeit. 54 Auch fand dieses parlamentarische Enqueterecht weithin ungeschmälerten Eingang in die Weimarer Reichsverfassung und über sie in das Grundgesetz. Es blieb aber bis heute wegen der Kapazitätsgrenzen des parlamentarischen Verfahrens 55 und wegen der weithin ungebrochenen Kultur der Regelgeheimhaltung ein sehr beschränktes Instrument zentraler repräsentativ demokratischer Verwaltungskontrolle. Eine weitergehende Modifikation der überkommenen Geheimhaltungsregel fand allein insoweit statt, als Informationsansprüche der in ihren Rechten betroffenen Verfahrensbeteiligten Anerkennung fanden. Wenn seit den neunziger Jahren der Gedanke einer intensivierten demokratischen Kontrolle der Verwaltung mittels des Instruments eines allgemeinen Informationszugangsrechts eine Renaissance erlebt, dann ist hierfür vor allem die erneuerte Überzeugung 56 von der Dringlichkeit einer intensivierten öffentlichen Kontrolle der Verwaltung ursächlich. Der allen Deregulierungsbemühungen trotzende beständige Aufgabenzuwachs, die Komplexität der Verwaltungstätigkeit und die dramatischen Informations- und Machtgewinne der Exekutive im Prozeß der Europäisierung und Internationalisierung ehemals nationalstaatlichen Handelns 5 7 verlangen, auch weil 54 Vgl. M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders., Gesammelte politische Schriften, 3 Tübingen 1971, S. 359; ders., Wirtschaft und Gesellschaft, II. Theil, Kap. I X , § 5, 1922/ 1972, S. 855; vgl. dazu auch die Bemerkung von I. Staff, Lehren vom Staat, Baden-Baden 1981, S. 215, wonach Max Webers Bürokratietheorie erst heute, in einer Zeit, in der die Bürokratie Legislative wie Exekutive gleichermaßen zu überschwemmen drohe, ihre volle Aktualität erhalten habe. 55 Die Beobachtung entsprechender Grenzen hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. M i t Recht betont Püttner (o. Anm. 52) S. 372 ff. deshalb die Notwendigkeit einer gewissermaßen kleinteiligen Kontrolle, die nicht durch die „große" Öffentlichkeit des Parlamentarismus und der Massenmedien geleistet werden könne. Erst die Möglichkeit der Kontrolle auch einzelner Verwaltungsvorgänge durch individuelle Informationsrechte bringe Defizite ans Tageslicht, auf die dann einzeln oder in der Gesamtschau auch ein größeres Publikum aufmerksam werden könne. 56
Vgl. dazu in kantischer Tradition und eigener Terminologie, Habermas (o. Anm. 48) S. 432: wonach „bindende Entscheidungen, um legitim zu sein, von Kommunikationsflüssen gesteuert sein [müssen], die von der Perepherie ausgehen und die Schleusen demokratischer und rechtsstaatlicher Verlähren am Eingang des parlamentarischen Komplexes oder der Gerichte (gegebenenfalls auch am Ausgang der implementierenden Verwaltung) passieren. Nur dann kann ausgeschlossen werden, daß sich auf der einen Seite die Macht des administrativen Komplexes oder auf der anderen Seite die soziale Macht der auf den Kernbereich einwirkenden intermediären Strukturen gegenüber einer kommunikativen Macht, die sich i m parlamentarischen Komplex bildet, verselbständigen". 12 FS Bartlsperger
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und soweit die für das repräsentative System idealtypische legislative Gestaltung und Steuerung durch Gesetze hier an ihre Grenzen stößt, 5 8 nach einem kompensatorischen Kontrollinstrumentarium.
III. Zur Ableitung des verfassungsunmittelbaren Informationsanspruchs Der verfassungsunmittelbare Informationsanspruch leitet sich aus Art. 5 1 1 2 . Hs. GG in seiner überfälligen demokratietheoretischen Neuinterpretation ab. Diese Neuinterpretation rechtfertigt sich schon aus der Schwäche des herrschenden Verständnisses der grundgesetzlichen Informationsfreiheit. Nach überwiegender Meinung sollen Verwaltungsinformationen „ihrer Natur nach" keiner allgemein zugänglichen Quelle entstammen. Die tautologische Argumentation mit der angeblich geheimen „ N a t u r " 5 9 geheimer Informationen legt deren zirkuläres Muster aber bereits nahe: Die Informationen der Verwaltung sind nicht allgemein zugänglich, weil sie nicht allgemein zugänglich sind. Die herrschende Meinung überantwortet damit zugleich dem Staat eben die Definitionsmacht über die Zugänglichkeit von Informationsquellen, die sie ihm nach eigenem Bekunden 6 0 gerade nicht zugestehen will. Erst mit dem staatlichen Gebot der Regelgeheimhaltung nämlich werden die Verwaltungsinformationen ihres Charakters als einer allgemein zugänglichen Informationsquelle entkleidet. Der Sache nach argumentiert die herrschende Meinung mit dem Verweis auf die Natur der Verwaltungsinformationen als der Öffentlichkeit nicht zugängliche Quelle mit dem bloßen Verweis auf eine aus vordemokratischen Zeiten stammende Übung. Einer Neuinterpretation des Art. 5 1 1 2 . Hs. GG im Lichte des Art. 20 I GG steht diese Übung auch mit Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Norm letztlich nicht entgegen. Zwar ist einzuräumen, daß der Verfassungsgeber von der Nichtbegründung eines allgemeinen Informationsanspruchs gegenüber der Verwaltung durch Art. 5 GG ausging: 61 Ziel der Verfassungsgebung war es allein, die aus der Praxis des nationalsozialistischen Staates bekannten Beschränkungen der Informationsfreiheit, wie etwa das Verbot des Abhörens ausländischer Rundfunksender Vgl. statt vieler: C. Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVB1 2000, 1 (8); ders., ZaöRV 59 (1999), 961 (968 ff. m. w. N.). 58 Vgl. etwa Dreier (o. Anm. 37) S. 159 ff. 59 Dagegen auch Scherzberg (o. Anm. 11) S. 338, der allenfalls eine Widmung der Verwaltungsinformationen als nicht allgemein zugänglich anerkennen will. Eine solche Widmung ließe sich aber mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbaren. Kritisch auch H. Rossen-Stadtfeld, Kontrollfunktion der Öffentlichkeit, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle, 2001, S. 117 (122): „eigenartige Verkehrung der res publica in eine res arcana". 60
Vgl. die Nachweise o. in Anm. 8.
61
Zur Entstehungsgeschichte eingehend auch Jerschke (o. Anm. 5) S. 107 ff.
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und des Bezugs ausländischer Druckerzeugnisse, zu unterbinden. 62 Eine zwingende Schranke für ein gewandeltes Verständnis des Begriffs der „allgemein zugänglichen Quellen" bildet diese Entstehungsgeschichte angesichts des offenen Wortlauts der Verfassung aber nicht. Wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, sind die Motive und Zielsetzungen des Verfassungsgebers zwar ein Indiz für die Auslegung des Verfassungstextes. Das Ergebnis dieser Auslegung kann aber bei hinreichend offenem Wortlaut der zu interpretierenden Bestimmungen auch ein vom Willen des historischen Verfassungsgebers abweichendes sein. Der Entstehungsgeschichte, den Vorstellungen und den Motivationen des Verfassungsgebers kommt nach Auffassung des Gerichts für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes nicht unbedingt eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Vielmehr habe das Verständnis von Inhalt, Funktion und Wirkung der Grundrechte seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes eine Vertiefung erfahren. Eine verfassungsrechtliche Beurteilung könne deshalb „ i n nicht unerheblichem Maße zeitbedingt" sein und durch „neue Einsichten" beeinflußt und gewandelt werden. 6 3 Das restriktive Verständnis der Informationsfreiheit des Art. 5 GG ist einer in besonderer Weise zeittypischen und zeitgebundenen Konzeption des Verhältnisses von Staat und Öffentlichkeit geschuldet. Die Perpetuierung des in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorherrschenden Verständnisses von den aus Weimar und NS-Staat zu ziehenden Lehren, aber auch der aus den Bedingungen des Systemgegensatzes und des Kalten Krieges entstandenen Restriktionen, kann nicht Aufgabe der Verfassungsinterpretation des 21. Jahrhunderts sein. 6 4 Insoweit muß übergreifenden Tra62 Zwar war der Begriff der „allgemein zugänglichen Quellen" nach Aussage des Berichterstatters T. Heaß, JÖR 1 (1956), 80 „umfassend gemeint". In der Diskussion namentlich benannt wurden aber lediglich „Bücher und Zeitungen", der „Rundfunkempfang" und der „Bezug von Druckerzeugnissen", JÖR 1 (1956), 79 ff. Zudem zeigt die Diskussion um ein allgemeines Auskunftsrecht der Presse die ablehnende Haltung der Mehrheit im Parlamentarischen Rat hinsichtlich einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Garantie, vgl. JÖR 1 (1956), 84.
« BVerfGE 45, 187 (227) - lebenslange Freiheitsstrafe. Ähnlich BVerfGE 6, 389 (431) bzgl. Art. 3 I I und I I I GG; BVerfGE 51, 97 (110) bzgl. Art. 13 I I GG; BVerfGE 6, 55 (75) bzgl. Art. 6 I GG, unter Verweis auf BVerfGE 1, 299 (312). Für eine stark relativierte Bedeutung der historischen Auslegung bei der Interpretation des einfachen Gesetzesrechts auch BVerfGE 1, 299 (312); bestätigt in BVerfGE 10, 234 (244); vgl. auch BVerfGE 11, 126 (129 f.); 13, 261 (268); 20, 283 (293); 47, 109 (127); 48, 246 (256); 53, 207 (212); 71, 81 (106); 79, 106 (121); sowie hinsichtlich der Auslegung von Verordnungsbestimmungen: BVerfGE 53, 135 (147). 64 Der interpretatorischen Abweichung von den Vorstellungen des historischen Verfassungsgebers steht auch nicht etwa die Tatsache entgegen, daß eine ausdrückliche Neuformulierung des Art. 5 G G im Zuge der Diskussion um die Neufassung des Grundgesetzes aus Anlaß der deutschen Einheit (vgl. dazu sogleich Anm. 76) keine verfassungsändernde Mehrheit fand. Das bloß negative Festhalten an der traditionellen Auslegung von Art. 5 I 1 GG durch eine Sperrminorität kann nicht zu einer positiven Bekräftigung der vermeintlichen verfassungsrechtlichen Billigung der Regelgeheimhaltung im Verwaltungsrecht umgedeutet werden.
12*
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ditionen wie der Publizitätskonzeption der Aufklärung und dem internationalen Demokratieverständnis, an die das Grundgesetz nicht weniger anknüpft, 6 5 ein ausschlaggebendes Übergewicht zugestanden werden. Eine allein aus dem unmittelbaren entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang angeleitete Interpretation des Art. 5 1 1 2 . Hs. GG kann deshalb den Weg zu einer von Art. 20 I GG angeleiteten gleichermaßen modernen wie traditionsgeleiteten demokratischen Neuinterpretation des Begriffs der allgemein zugänglichen Quellen nicht verstellen. Schließlich kann auch der Verweis auf den bloß abwehrrechtlichen Gehalt des Art. 5 1 1 2 . Hs. G G 6 6 nicht überzeugen. Dazu muß die grundsätzliche Richtigkeit dieser These überhaupt nicht in Abrede gestellt werden. Wie gegenüber sonstigen staatlichen Maßnahmen auch, aktiviert der Informationssuchende gegenüber dem Gebot administrativer Regelgeheimhaltung nämlich nicht, wie dies die herrschende Meinung fälschlicherweise behauptet, einen leistungsrechtlichen Informationsverschaffungsanspruch. Auch ein allgemeines Informationszugangsrecht bezieht sich nach dem hier zugrunde gelegten restriktiven Verständnis nur auf die bei den Behörden vorhandenen Informationen. Es begründet keine behördliche Informationsbeschaffungspflicht. 67 Geltend gemacht wird insoweit nicht etwa ein Leistungsrecht im Sinne einer staatlichen Informationsvorsorge, 68 sondern allein ein (Abwehr)Recht auf freien Zugang zu vorhandenen, im Besitz der Verwaltung befindlichen Informationen und damit zu einer allgemein zugänglichen Informationsquelle, die durch das inkriminierte staatliche Geheimhaltungsgebot erst verschlossen w i r d . 6 9 Daß in der bloßen Zugänglichkeit der behördlichen Information als solcher keine „Leistung" im Sinne der Diskussion um grundrechtsgestützte Leistungsrechte zu erblicken ist, wird mit einem Blick auf den materiellen Inhalt dieser vermeintlichen „Leistung" deutlich. Dem Informationssuchenden wird zwar der Zugang zu behördlicherseits verwalteten Daten eröffnet. Die Information als solche wird dadurch aber nicht verbraucht. Anders als bei der Beurteilung echter staatlicher Leistungen geht es hinsichtlich der Information nicht um eine durch den Zugang zu verschleißende Ressource. Im Gegenteil kann der Zugang zu Verwaltungs65 Zur besonderen Offenheit gerade des Demokratieprinzips für ein gewandeltes Verfassungsverständnis A. Fisahn , in: KJ-Sonderheft: Demokratie und Grundgesetz, 2000, 71 (80 f.).
Vgl. die N. o. in Anm. 13. 67
So auch die ganz h. M . hinsichtlich der bestehenden Informationszugangsrechte nach deutschem und europäischem Recht, vgl. zu Art. 255 EGV: B. W. Wegener, in: C. Calliess/ M . Ruffert, E U V / E G V , 2 2002, Art. 255, Rn. 11; zum Informationsanspruch nach § 4 UIG: ders., in: T. Schomerus/C. Schrader/B. W. Wegener, H K - U I G , 2 2002, § 4, Rn. 15 ff. 68 69
Zur Problematik eines solchen Ansatzes sogleich Anm. 75.
Ebenso sieht dies auch das BVerfG hinsichtlich des von ihm aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG abgeleiteten Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Auch hier richtet sich der Anspruch nach Aussage des Gerichts nicht auf die leistungsrechtliche „Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung", sondern abwehrrechtlich gegen die „Vorenthaltung erlangbarer Informationen", vgl. BVerfGE 79, 256 (269).
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Informationen grundsätzlich jedermann eröffnet werden, ohne daß daraus eine Knappheit zu entstehen drohte. Weil und soweit der Sinn und Zweck der restriktiven Dogmatik zu den grundrechtsgestützten Leistungsrechten in der Wahrung gesetzgeberischer oder exekutiver rechtlicher Freiräume bei der Verteilung knapper Güter liegt, 7 0 läßt sich diese Teleologie auf den freien Zugang zu Verwaltungsinformationen eben nicht übertragen. 71 Grundsätzlich gestützt wird die hier gefundene Neu interpretation des Art. 5 1 1 2 . Hs. GG als eines subjektiven Rechts auf grundsätzlich freien Zugang zu Informationen der Verwaltung schließlich auch durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren. In der Entscheidung „n-tv" betont das Gericht zwar nochmals die grundsätzliche Befugnis des Gesetzgebers zur Entscheidung über die Allgemeinzugänglichkeit einer Informationsquelle. Diese gesetzgeberische Entscheidungsbefugnis sei aber keine freie, sondern ihrerseits durch die grundrechtlich garantierte Informationsfreiheit sowie das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip beschränkt. Das Grundrecht der Informationsfreiheit umfasse in seiner demokratieprinzipiell angeleiteten Auslegung „ein gegen den Staat gerichtetes Recht auf Zugang in Fällen, in denen eine im staatlichen Verantwortungsbereich liegende Informationsquelle auf Grund rechtlicher Vorgaben zur öffentlichen Zugänglichkeit bestimmt [ . . . sei], der Staat den Zugang aber verweiger[e... ] . " 7 2 Folge „aus Verfassungsrecht" - und dabei insbesondere aus dem vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich zur Argumentation herangezogenen Demokratieprinzip - daß „der Zugang" zur Information „als solcher weiter oder gar unbeschränkt hätte eröffnet werden müssen", so könne „dies vom Träger des Grundrechts der Informationsfreiheit [ . . . ] geltend gemacht werden". 7 3
70
Vgl. dazu eingehend: M. Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: J. Isensee /P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrecht, Band V, 2. Auflage, Heidelberg 2000, S. 101 ff., insbesondere Rn. 65 ff.; D. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), ebd., S. 243 ff., insbesondere Rn. 57 ff. 71 Dem kann nicht entgegengehalten werden, die notwendigen administrativen Vorkehrungen zur Eröffnung des Zugangs bänden Verwaltungsressourcen in einem Maße, daß es erforderlich mache, den Informationszugang als solchen als leistungsrechtlichen zu qualifizieren (so aber Bröhmer (o. Anm. 21) S. 241 und öfter, der diesen Leistungsanspruch allerdings in Grenzen bejahen w i l l und insoweit der hier vertretenen Sicht jedenfalls i m Ergebnis nicht sehr fern steht). Z u m einen sind die entsprechenden bürokratischen Aufwendungen deutlich geringer als vielfach angenommen wird. Z u m anderen treten sie in Relation zum eigentlichen Gegenstand des Zugangsanspruchs, im Verhältnis zur Information, sowohl in rechtsdogmatischer wie in verwaltungspraktischer Hinsicht als für die Kennzeichnung des Wesens des Anspruchs unbedeutend zurück. 72 BVerfGE 103, 44 (60). Kritisch zur grundrechtsdogmatischen Argumentation des Bundesverfassungsgerichts: K. E. Hain, D Ö V 2001, 589 (592); Bröhmer (o. Anm. 21) S. 224 ff.; sowie mit anderer Tendenz: R. Stürner, JZ 2001, 699 (700 ff.). Vgl. im übrigen: J. Gündisch, N V w Z 2001, 1004 ff. 73
BVerfGE 103,44(61).
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D e r E i n z e l n e 7 4 hat d e m n a c h einen u n m i t t e l b a r aus A r t . 5 1 1 2 . Hs. G G resultierenden g r u n d r e c h t l i c h e n u n d voraussetzungslosen A n s p r u c h a u f g r u n d s ä t z l i c h freien Z u g a n g zu den i m B e s i t z der deutschen ö f f e n t l i c h e n V e r w a l t u n g b e f i n d l i c h e n I n f o r m a t i o n e n . 7 5 A n g e s i c h t s der d i e s e m E r g e b n i s n o c h entgegenstehenden herrschenden M e i n u n g i n R e c h t s p r e c h u n g u n d L i t e r a t u r b l e i b t der Verfassungsgeber zu einer k l a r s t e l l e n d e n N e u f o r m u l i e r u n g des A r t . 5 I G G aufgerufen. D i e s e r k ö n n t e z u k ü n f t i g e t w a lauten: „Jeder hat das R e c h t , seine M e i n u n g i n W o r t , S c h r i f t u n d B i l d frei zu äußern u n d zu verbreiten u n d sich aus a l l g e m e i n z u g ä n g l i c h e n Q u e l l e n zu unterrichten. A l l g e m e i n z u g ä n g l i c h s i n d auch d i e i m B e s i t z der ö f f e n t l i c h e n V e r w a l t u n g b e f i n d l i c h e n I n f o r m a t i o n e n . [ . . . ] 7 6 " D i e w ü n s c h e n s w e r t e gesetzliche R e g e l u n g der Z u g a n g s m o d a l i t ä t e n u n d der A u s n a h m e t a t b e s t ä n d e b l i e b e d a m i t ein e m „ a l l g e m e i n e n Gesetz' 4 nach A r t . 5 I I G G , k o n k r e t d e m I n f o r m a t i o n s f r e i h e i t s gesetz des B u n d e s u n d d e n w e i t h i n n o c h z u verabschiedenden entsprechenden Ge74
Träger des Informationszugangsanspruchs sind nach dieser Formulierung nicht allein Deutsche. Nur dies entspricht der Tradition der grundgesetzlichen Informations- und Handlungsfreiheit. Nach Art. 5 I und Art. 2 I GG wird die Freiheit der Unterrichtung und der Meinungsäußerung sowie der politischen Betätigung und damit der Zugang zur politischen Öffentlichkeit jedermann gewährleistet. Der allgemeine politische Kommunikationsprozeß in Deutschland steht danach auch Nichtdeutschen offen. Die „Konstituierung des ,Volkes' als einer durch Kommunikation gebildeten Gemeinschaft von Individuen" (Scherzberg (o. Anm. 11) S. 294) vollzieht sich unter ihrer Mitwirkung. Davon für die Freiheit des Informationszugangs eine Ausnahme zu machen, besteht um so weniger Anlaß, als auch andere Rechtsordnungen die entsprechenden Ansprüche regelmäßig nicht auf ihre Angehörigen beschränken, vgl. dazu für die Europäische Union: Art. 255 I EGV; sowie eingehender Wegener (ο. Anm. 67) Art. 255, Rn. 8. π I. E. ebenso: Scherzberg (o. Anm. 11) S. 383 und ders., (o. Anm. 21), T h ü r V B l 2003, 193 (200 f.), der allerdings die hier bevorzugte abwehrrechtliche Konstruktion dieses Anspruchs ausdrücklich ablehnt und statt dessen im Anschluß an ältere Überlegungen von Jerschke (o. Anm. 5) S. 109 f., das Ergebnis m. E. ohne Not in einem dogmatisch überkonstruierten, aus einer objektivrechtlichen staatlichen Pflicht zur „Informationsvorsorge" resultierenden individuellen Leistungsanspruch sucht. M i r ist nicht verständlich, wie es möglich sein soll, leistungsrechtlich eben den Anspruch zu gewähren, den abwehrrechtlich zu konstruieren man nach Wortlaut, Systematik und Genese derselben Norm für ausgeschlossen hält. Die Konstruktion als solche vermag doch den Gehalt einer grundgesetzlichen Norm nicht zu mehren. Die hier gewählte abwehrrechtliche Konstruktion hat gegenüber dem leistungsrechtlichen Ansatz u. a. den Vorzug, das verfassungsrechtlich gebotene Maß an Informationsfreiheit eindeutiger zu bestimmen. Sie verlangt zum einen nach einer Umkehr des herrschenden Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Geheimhaltung und Informationsfreiheit und erschöpft sich nicht in dem Verlangen eines unbestimmten Mindestmaßes staatlicher Informationsvorsorge (zu den entsprechenden Schwierigkeiten des leistungsrechtlichen Begründungsansatzes vgl. Scherzberg (o. Anm. 11) S. 349 ff.). Zum anderen stellt sie schon auf verfassungsrechtlicher Ebene klar, daß es im Rahmen der Informationsfreiheit i.e.S. nicht um eine staatliche Pflicht zur aktiven Informationsbeschaffung, sondern allein um einen Anspruch auf Zugang zu vorhandenen Informationen geht. 76 Einen ähnlichen Vorschlag hatte schon die Kommission Verfassungsreform des Bundesrates im Zuge der Verhandlungen über die Neufassung des Grundgesetzes aus Anlaß der deutschen Einheit gemacht, vgl. BR-Drs. 3 6 0 / 9 2 , Rz. 162 ff. Die Anträge fanden wohl die einfache, nicht aber die erforderliche Zweidrittelmehrheit; vgl. für die Ablehnung, Schlußbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission v. 5. 11. 1993, BT-Drs. 12/6000, S. 60 ff.
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setzen der Länder, überlassen. Ihren „allgemeinen" Charakter bezögen diese Gesetze daraus, daß sich die in ihnen normierten Beschränkungen der Informationsfreiheit entsprechend der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Formel 7 7 nicht gegen den Informationszugang als solchen richteten, sondern vielmehr dem Schutz schlechthin zu schützender Rechtsgüter dienten. Ihre Ausnahmebestimmungen werden im Lichte des verfassungsunmittelbar garantierten Informationszugangsanspruchs restriktiv auszulegen sein.
77 BVerfGE 7, 198 (209); 62, 230 (244); 71, 162 (175); 86, 188 (194). A u f die Problematik vor allem des ersten Teils dieser Formel muß hier schon deshalb nicht eingegangen werden, weil auch das Bundesverfassungsgericht seine Prüfung entsprechender gesetzlicher Beschränkung ganz auf die Prüfung des die Beschränkung rechtfertigenden Rechtsgüterschutzes legt; vgl. dazu Jarass (o. Anm. 10) Art. 5, Rn. 56.
Politik und Sachverstand* Von Reinhold Zippelius , Erlangen
I. Die Utopie vom Regime der Sachverständigen Den Traum von einem Regime sachkundiger Eliten hat schon Francis Bacon im siebzehnten Jahrhundert, zu Beginn des „empirischen" Zeitalters geträumt. In der von ihm entworfenen Utopie - seinem Idealstaat Nova Atlantis - wies er die führende Rolle einer Elite von Forschern und Wissenschaftlern zu: Sie sollten die Kräfte und Mittel der Natur erschließen und in den Dienst der Gesellschaft stellen. 1 Zweihundert Jahre später meinte Saint-Simon, die allgemeinen Interessen der Gesellschaft würden am besten von Menschen verwaltet, die dank Ihrer Sachkunde den allgemeinsten und positivsten Nutzen stiften könnten. Deshalb solle die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten - soweit es sich um die Finanzen handle in die Hände der bedeutendsten „Industriellen" gelegt werden, andere als finanziell-administrative Angelegenheiten aber in die Hände der fähigsten Sachverständigen. 2 Die Souveränität beschränke sich dann darauf, jeweils so zu handeln, wie es sich „aus der Natur der Dinge selbst" ergebe. 3 Kurz, das politische Handeln solle eine sachverständig zu verwaltende Technik der Wohlstandsoptimierung sein. Auguste Comte, der einige Zeit Privatsekretär Saint-Simons war, wollte nicht nur die naturgegebenen Hilfsmittel der Wohlstandsmehrung, sondern das Zusammenleben der Menschen überhaupt mit wissenschaftlichen Methoden beschreiben und beherrschen. Dieses Zusammenleben werde, so glaubte er, von Erfahrungsgesetzen bestimmt. Habe man diese erforscht, so könne man auch im sozialen Geschehen künftige Ereignisse voraussehen 4 und könne diese günstig beeinflussen oder wenigstens das Verhalten auf künftige Entwicklungen einstellen: 5 Savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir. So entstand das Programm einer Erfahrungswissen* Teilweise neugefaßter Text aus dem Band „Der Experte bei der Beurteilung von Gefahren und Risiken", 2001. 1 R Bacon, Nova Atlantis, 1627, I V 3, in: K. J. Heinisch, Der utopische Staat, Reinbek 1960. 2
C. H. de Saint-Simon, Catéchisme des industriels, Paris 1823/24, IV.
3
C. H. de Saint-Simon, L'organisateur, Paris 1819/20, 11. Brief.
4
A. Comte, Discours sur l'esprit positif, Paris 1844, Nr. 15.
5 Comte (Anm. 4), Nr. 22.
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schaft vom menschlichen Zusammenleben, oder, wie Comte sagte, das Programm einer „sozialen Physik". 6 Er gab ihr den Namen „Soziologie". 7 Für diesen Positivismus sollte es nicht nur eine mechanische und chemische Technik, sondern auch eine Technik der Politik und der Moral geben. 8 Kurz, auf Grund der Vorstellung, daß das gesellschaftliche Handeln insgesamt festen Erfahrungsregeln folge, bildete sich die Idee einer wissenschaftlich begründbaren Politik. 9 Der Marxismus hat eine etwas andere Vorstellung von einer wissenschaftlich zu betreibenden Politik. 1 0 Aus marxistischer Sicht sollte diese den Gesetzen des Historischen Materialismus folgen. Als „Sachverständiger" erschien hier der Kenner der politökonomischen Entwicklungsgesetze, zumal der Klassenkampfexperte. M i t sehr viel bescheidenerem Anspruch nahm Eugen Ehrlich das Programm einer Sozialtechnik auf. Bei ihm findet sich das Bild vom Juristen als „Sozialingenieur": Diesem sei „ein Stück der Leitung der Gesellschaft anvertraut". Hier rückt der Jurist gleichsam in die Rolle des Sachverständigen: Einerseits hält er die normativen Steuerungsinstrumente in der Hand, andererseits obliegt ihm „die Kenntnis der in der Gesellschaft wirkenden Kräfte, die geleitet werden sollen", „grade so, wie der Maschineningenieur die natürlichen Kräfte kennen muß, die die Maschine bewegen." 11 Populärer wurde die Vorstellung, Jurisprudenz sei Sozialtechnik, in der amerikanischen Version Roscoe Pounds. Er prägte das Wort vom „social engineering". 1 2 Aufgabe dieser Sozialtechnik sei es schon bisher gewesen, möglichst viele Bedürfnisse unter den geringstmöglichen Opfern zu befriedigen. So berichte die Rechtsgeschichte davon, daß Interessen, Ansprüche oder Wünsche fortschreitend durch soziale Kontrolle anerkannt und befriedigt wurden: Wenn es darum ging, daß Menschen die Güter genießen, die das Leben bietet, seien ungenützte Möglichkeiten immer umfassender und wirksamer eliminiert und Hemmnisse beseitigt worden. Kurz, die Geschichte berichte von einem stetig wirksameren social engineering. 13 Eine Vorstellung, die sich in den amerikanischen Fortschritts- und Sozialoptimismus fügt.
6
A. Comte, Cours de philosophie positive, Paris 1 8 3 0 - 1842, Lekt. 46.
7
Comte (Anm. 6), Lekt. 47.
» Comte (Anm. 4), Nr. 22. 9
Comte (Anm. 4), Nr. 53.
10
H. Dahm/W. Goerdt, Art. Materialismus, historischer (insbes. Ziff. 4), Historisches Wörterbuch der Philosophie V, Basel 1980. ί
E. Ehrlich,
Die juristische Logik, 2. Aufl., Tübingen 1925 (Neudruck 1966), S. 310.
12 R. Pound, Interpretations of Legal History, Cambridge 1923, S. 141 ff., 152 f., 156 f. '3 R. Pound, A n Introduction to the Philosophy of Law, New Haven 1954, S. 47.
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II. Die Unterscheidung von Zielwahl und Sachverstand Die Frage lautet: In welchem Umfang kann Sachverstand zur Lösung politischer und insbesondere rechtspolitischer Probleme beitragen? U m diese Frage zu beantworten, ist zunächst zu bestimmen, welche Bereiche der Politik überhaupt einer sachverständigen Beurteilung zugänglich sind. Könnte man Politik auf der Basis einer „sozialen Physik" betreiben, wie August Comte annahm, so hätte der Sachverstand ein weites Feld. Grundlage für diese Annahme Comtes war die Philosophie des Positivismus. Diese nahm sich vor, ein einheitliches, „monistisches" System der Wissenschaften zu entwerfen. In diesem wollte man von den einfacheren, wahrnehmbaren Gegebenheiten und ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen 14 zu immer komplexeren übergehen: Ausgehend von den vergleichsweise einfachen Gesetzen der Astronomie schreite man in diesem System zu Physik, Chemie und Biologie und schließlich, in der Soziologie, zu den Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens fort. 1 5 Den entscheidenden Einwand gegen dieses Gesellschaftsmodell hat neben Emile Durkheim vor allem Max Weber geliefert: Menschliches Zusammenleben funktioniert nicht nach den Gesetzmäßigkeiten eines komplexen Naturgeschehens. Denn im Gegensatz zu natürlichen Abläufen wird menschliches Handeln auch von Wertungen und Normen geleitet. Darum ist menschliches Zusammenleben nicht zuletzt aus den Motiven des Handelns zu erklären. Man muß also die Kausalität, das heißt die handlungsleitende Kraft sinnhafter Beweggründe mit in Rechnung stellen, wenn man soziales Geschehen erklären w i l l . 1 6 Kurz, Soziologie muß „verstehende Soziologie" sein. Die Frage nach der Kompetenz des Sachverstandes war nun auf der Grundlage dieses differenzierenden Gesellschaftsverständnisses stellen. Es war also zu untersuchen, welche Bereiche des komplexen sozialen Geschehens wissenschaftlicher Erforschung und damit sachverständiger Beurteilung zugänglich sind und welche nicht. Die berühmt gewordene Antwort Max Webers lautete: Wissenschaft kann nur untersuchen, welche Ursachen zu welchen Wirkungen führen. Aber sie kann nichts darüber verkünden, ob bestimmte, von ihr voraussagbare Wirkungen auch erstrebenswert sind. Sie hat keine Kompetenz, selber Bewertungen vorzunehmen. Die Wahl der Ziele, die das Handeln motivieren können, und ihre Gewichtung ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, sondern Aufgabe politischer Entscheidung. Gleiches gilt für die Lösung von Zielkonflikten. Kurz: Wissenschaft kann nur angeben, welche Mittel geeignet sind, einen vorausgesetzten Zweck zu erreichen. Die Wahl der Zwecke selbst liegt aber außerhalb des Feldes der Wissenschaft. Damit war 14 Comte (Anm. 4), Nrn 12 und 18. 15 Comte (Anm. 4), Nr. 73. 'fr M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 1, 7.
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eine Unterscheidung getroffen, die für die weitere Diskussion wichtig wurde: die Unterscheidung zwischen der Zielwahl und der sachverständigen Ermittlung der Kausalitäten, die zum Ziel führen. Gegen die Erwartung, der Sachverstand könne insgesamt die Stelle der politischen Gewalten einnehmen, wurde so die These von der „Beschränktheit des Sachverstandes" gestellt: Dessen Aufgabe sei es, geeignete Mittel für vorausgesetzte politische, wirtschaftliche oder sonstige gesellschaftliche Zwecke zu finden. Aber die Wahl dieser Zwecke selbst sei keine Frage bloßen Sachverstandes, insbesondere keine Frage eines technischen Spezialistenwissens. Die Wissenschaft gibt keine Antwort auf die Frage: „Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?" 1 7 Sobald es um die Zwecke, Ziele, Werte geht, in deren Dienst das technische Wissen zu stellen ist, streiten Gewissen und persönliche Weltanschauungen miteinander. Stets fordern uns verschiedene, oft miteinander unvereinbare Zwecke und Werte in ihren Dienst, und „wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute." Der alte Zwist der Götter ist nicht begraben. Als letzte, miteinander um Gefolgschaft streitende Werte entsteigen sie, „entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte . . . ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen K a m p f 4 . 1 8 Diesen Kampf zwischen den letzten, überhaupt möglichen Standpunkten kann man nicht rational auflösen. Hier bleibt die Not und die Notwendigkeit, sich zu entscheiden. 19 So tritt neben die wissenschaftliche Aufgabe, die tatsächlichen Zusammenhänge zu erkennen, eine jenseits der theoretischen Erkenntnis stehende praktische Pflicht, für die eigenen Ideale 20
einzutreten. A n diesem Punkt haben spätere Diskussionen angesetzt. So haben Horkheimer und andere versucht, doch wieder ein Stück Rationalität auch in die Frage der Zielwahl einzubringen: Der Mensch dürfe nicht bloß Benutzer und zugleich Gefangener seiner instrumentellen Vernunft bleiben. So scharfsinnig die Kalkulationen des Menschen geworden seien, was seine Mittel angeht, so einfältig sei seine Wahl der Zwecke geworden 2 1 - hier ist das Schlagwort vom „Fachidioten" vorbereitet: vom Fachmann, der sich zielblind vor jeden Karren spannen läßt. Damit war die Frage gestellt, ob Max Weber bei seiner Trennung von Zielwahl und Sachverstand die Grenzen der Rationalität nicht zu eng und streng gezogen hatte, ob wir nicht auch über die Ziele, die in der Gemeinschaft zu verfolgen sind, 17 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 598 f.
18 Weber (Anm. 17), S. 604 f. 19 Weber (Anm. 17), S. 608. 20 Weber (Anm. 17), S. 155,601. 21 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (engl. 1947), dt. Frankfurt a. M . 1967/1974, S. 15 ff., 93 ff., 97.
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und über die angemessenen Normen des Zusammenlebens mit Vernunftgründen einig werden können. Habermas möchte das bejahen und vertraut auf die Kraft des herrschaftsfreien Dialogs. 2 2 Aber die Hoffnung, daß sich alle über die Ziele und Normen ihrer politischen Gemeinschaft zwanglos einigen würden oder doch einigen könnten, wenn sie in vernünftige Verhandlungen einträten, 23 die Hoffnung, daß sich hierauf eine herrschaftsfreie Gemeinschaft gründen lasse, in der nurmehr „der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments" 2 4 gälte, bleibt eine Utopie. Das zeigt schon ein kurzer Blick auf den politischen Alltag, in dem viele Meinungsverschiedenheiten rational eben nicht restlos ausdiskutierbar sind: wie etwa der Streit um den Einsatz von Atomenergie oder um die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs oder um die Grenzen zulässiger Euthanasie oder um Steuergerechtigkeit oder um den gerechten Lohn. Gleichwohl ist zuzugeben, daß wir in Grenzen auch über unsere Handlungsziele vernünftig miteinander reden und uns in begrenztem Umfang einig werden können. Aber das ist kein Feld, das streng wissenschaftlich erforschbar ist. Grenzen der Einigungsmöglichkeit ergeben sich nicht zuletzt aus unseren weltanschaulichen Voreingenommenheiten und unseren - auch hierdurch bestimmten - Präferenzen für die unterschiedlichen Handlungsziele (s. u. IV). Voreingenommenheiten und Präferenzen sind aber jedenfalls durch bloßen Sachverstand nicht auszuräumen.
III. Zusammenhänge zwischen Zielwahl und Sachverstand Erfolgversprechender läßt sich die Trennung von Zielwahl und Sachverstand von einer anderen Seite her attackieren: Politisches und sachverständiges Räsonnement sind enger miteinander verflochten als es ihre idealtypische Gegenüberstellung zunächst nahelegt: Ziele rechtlichen und politischen Handelns müssen immer auch mit Rücksicht auf die geeigneten Mittel und auf die abzuschätzenden Nebenwirkungen gewählt werden. Besonders in komplexen Entscheidungssituationen muß die Zielfindung selbst in hohem Maße vom Sachverstand geleitet sein: insbesondere von einer Situationskenntnis und von einer Kenntnis der Mittel und der möglichen Folgen einer Entscheidung. Zur Beantwortung der Frage, welche Mittel zu welchem Zweck geeignet und welche Nebenwirkungen zu erwarten sind, ist freilich nicht immer wissenschaft22
Vgl. J. Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie", 8. Aufl., Frankfurt a. M . 1976, S. 164. 23 J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M . 1973, S. 125; vgl. S. 148 f., 153. 24 J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders./N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, Frankfurt a. M . 1971, S. 137.
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lieh geschärfter Sachverstand, sondern oft nur gesunder Menschenverstand gefordert. Der Unterschied liegt in folgendem: Im ersten Fall - bei fachkundigen Prognosen - greift man auf Erfahrungssätze einer Wissenschaft zurück, mit deren Hilfe man mögliche Geschehensabläufe als mehr oder minder gewiß vorhersagen will. I m zweiten Fall bedient sich die vorausschauende Phantasie allgemein zugänglicher Erfahrungssätze über typische Geschehensabläufe und der allgemeinen Menschenkenntnis. Und gerade hier ist der Jurist gefordert, dem nicht nur Rechtskenntnis, sondern auch Welterfahrung und Menschenkenntnis abverlangt wird: „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scient i a l stand schon im Corpus Iuris Iustinians. 25 In diesem Sinne erwartete auch Eugen Ehrlich vom Juristen „die Kenntnis der in der Gesellschaft wirkenden Kräfte' 4 . Auch dies ist also Sachverstand, und mitunter ist der unverbildete Normalverstand dem Urteil des Fachmannes überlegen. Denn: Studieren bildet und verbildet. Der Fachmann sieht die von ihm studierten Gegenstände schärfer, aber er verliert oft den frei umherschweifenden Blick für die Vielfalt möglicher Wirkungszusammenhänge. Zum Mindesten pflegt er Zusammenhänge zu überschätzen, mit denen er sich ständig beschäftigt. Spezialisierung wirkt also ähnlich wie ein Fernglas: Es schärft den Blick in einer bestimmten Richtung, aber es engt das Blickfeld ein. So kommt es, daß unsere Epoche zunehmender Spezialisierung zugleich eine Zeit abnehmenden gesunden Menschenverstandes ist. Nehmen wir das Beispiel des Geldwäschegesetzes: Hier hätte man schon mit geringem Einsatz gesunden Hausverstandes voraussehen können, daß sich das organisierte Verbrechertum, das über Phantasie und Ausweichmöglichkeiten verfügt, nicht in den Maschen dieses Gesetzes verfangen würde - falls das die wahre Absicht des Gesetzgebers gewesen sein sollte. Alltägliche oder auch fachspezifische Erfahrungssätze sind nicht nur gefragt, um die Effizienz von Normen oder konkreten Maßnahmen abzuschätzen, sondern auch, um deren unerwünschte Nebenwirkungen vorherzusehen. Für Risikoabschätzungen in technischen Bereichen sind vor allem naturwissenschaftlicher und technischer Sachverstand gefragt. Oft würde aber schon normaler Menschenverstand ausreichen, auch um die überwiegende Nachteiligkeit mancher Vorschriften vorherzusehen. Daß es dem Gesetzgeber hieran fehlen kann, dafür bot in den zwanziger Jahren das Mißlingen der nordamerikanischen Prohibitionsgesetzgebung ein klassisches Beispiel: Sie bezweckte eine Verminderung des Alkoholmißbrauchs und erreichte diesen Zweck auch in gewissem Umfang. Aber sie hatte Nebenwirkungen, die den Nutzen der Regelung weit überwogen; denn sie schuf Kristallisationspunkte für ausgedehnte illegale Tätigkeiten und förderte auf diese Weise nachdrücklich das organisierte Gangstertum. Ein vergleichsweise harmloses Beispiel einer Fehlsteuerung war die Pauschalierung der Hörgelder an den deutschen Hochschulen. Sie beruhte auf einer unzureichenden Kenntnis der menschlichen Natur und ihrer Motivationsmechanismen; nahm sie doch einen finanziellen Anreiz, at25 Ulpian, D. 1, 1, 10, 2.
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traktive Vorlesungen anzubieten: So war es wohl kein Zufall, daß bald nach dieser Pauschalierung sogenannte „Engpässe" im Vorlesungsbetrieb auftraten. Manche Kausalzusammenhänge sind, so scheint es, noch gar nicht recht entdeckt. Ich nenne hier als verlockendes Neuland die Umweltschädlichkeit mancher Umweltschutzvorschriften. Ein Beispiel sind Baumschutzverordnungen, die Gartenbesitzern das Fällen von Bäumen einer bestimmten Normgröße von einer behördlichen Erlaubnis abhängig machen. Dies hat nicht nur den kostspieligen Apparat der Bürokratie vergrößert, sondern auch zu einem kleineren „Baumsterben" geführt, weil viele Gartenbesitzer nun Bäume, die einmal lästig werden könnten, vorsorglich schon fällen, bevor sie jene Normgröße erreichen, Bäume, die ohne jene Schutzvorschrift noch lange gegrünt hätten. Entdeckerfreuden verspricht auch die Sozialschädlichkeit mancher sozialstaatlichen Bestimmungen. So kann ein allzu weit gehendes Mieterschutzrecht davor abschrecken, Mietwohnungen zu bauen, und kann dadurch in einer Zeit des Wohnungsmangels dazu führen, die Gesamtsituation von Wohnungsuchenden zu verschlechtern statt zu verbessern. Ein Scheidungsfolgenrecht mit weit getriebenem sozialen Schutzcharakter kann eine beträchtliche Zahl junger Menschen dazu bewegen, in einer „Ehe ohne Trauschein" zusammenzuleben, mit der Folge, daß nach einer Trennung der sozial schwächere Partner schutzloser dasteht als unter einem etwas „unsozialeren" Scheidungsfolgenrecht. Bei der Überprüfung unseres sozialen Arbeitsrechts mußten wir eine weitere Lektion lernen: daß die unzureichende Beachtung der ehernen Marktgesetze, die den internationalen Wettbewerb beherrschen, zu einer bedrohlichen Vernichtung inländischer Arbeitsplätze führte. Ich fasse diesen Punkt zusammen: Rechtspolitische Ziele und die Instrumente zu ihrer Verwirklichung sind nicht in idealtypischer Isoliertheit, sondern in einem Zusammenspiel von politischer Zielwahl und Erwägungen über Kausalitäten zu ermitteln. Juristischer, wirtschaftlicher und technischer Sachverstand und nicht zuletzt Alltagserfahrung und gesunder Hausverstand sind gefragt, um die wirtschaftlichsten und wirksamsten juristischen und verwaltungstechnischen Instrumente zur Erreichung der Ziele zu erarbeiten, aber auch um die positiven und negativen Neben- und Fernwirkungen offenzulegen, die der Einsatz dieser Mittel mit sich bringen kann. Hierbei ist die Wahl eines Zieles selbst oft mit Rücksicht auf die erforderlichen Mittel und auf deren schädliche Nebenwirkungen zu verändern. Je komplexer die Situation ist, desto abhängiger wird die Zielwahl vom Sachverstand, insbesondere von einer Situationskenntnis und von einer Kenntnis der Mittel und Folgen der Zielverwirklichung. Je verwickelter die Umstände der Entscheidung sind, desto größeren Anteil hat der Sachverstand an der Erarbeitung und am Vergleich der Entscheidungsalternativen. A u f solche Weise hat sich die Aufgabe der politischen Führung zunehmend von der einfachen „Zielwahl" zu einer Lenkung der Zielfindungsprozesse gewandelt.
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IV. Grenzen rechtspolitischer Rationalität Grenzen der Rationalisierbarkeit sind in allen Komponenten rechtspolitischer Entscheidungen angelegt: in der Wahl der anzustrebenden Ziele, in der Komplexität der Kausalitäten, die zu diesen Zielen führen, und in den oft schwer abzuschätzenden, mitunter gar nicht ins Blickfeld tretenden schädlichen Nebenwirkungen. Rationalitätsgrenzen für die Zielwahl wurden bereits genannt. Sie ergeben sich schon daraus, daß die verschiedenen möglichen Zwecke, die in die Erwägungen einzubeziehen sind, einer Gewichtung bedürfen. Über diese werden oft Meinungsverschiedenheiten entstehen, die sich nicht rational ausräumen lassen, vor allem deshalb nicht, weil die Menschen unterschiedliche Wertungsdispositionen haben. Diese gründen sich auf ihre weltanschaulichen Voreingenommenheiten, auf ihren persönlichen Erfahrungskontext und auf ihre individuelle Veranlagung. 26 Die Relativität dieser individuellen Wertungen spiegelt sich dann auch in den Präferenzen wider, die sich in einer Gemeinschaft häufen und dort vorherrschen; auch sie sind zeit- und situationsgebunden. 27 Der politische Tagesstreit ist oft aber nicht nur ein Streit über die Zielwahl, also über die Wünschbarkeit oder Nichtwünschbarkeit von Ergebnissen, sondern auch ein Streit über die Wahrscheinlichkeit ihres Eintrittes. Bei den Prognosen eröffnet sich ein weites Feld für sachverständige Beurteilung - und für den Streit der Sachverständigen. Auch hier bleiben Unsicherheiten: Exakte Prognosen lassen sich oft schon wegen der Komplexität der mitwirkenden Kausalitäten nicht stellen. Wo menschliches Handeln in die Geschehensabläufe eingreift, liegt auch darin ein Unsicherheitsfaktor, weil Handeln nicht streng determiniert und insbesondere menschliches Versagen nicht vorausberechenbar ist. Meist sind auch nicht alle Fern- und Nebenwirkungen einer Maßnahme voll zu überblicken und können daher oft nur selektiv in Rechnung gestellt werden. Kurz, Prognosen über komplexe Geschehensabläufe sind oft unsicher. 28 A u f dem Gebiet der Gefahrenabschätzung zeigt sich diese Unsicherheit mittlerweile auch darin, daß man nun schon drei Stufen der Ungewißheit unterscheidet: Gefahr, Risiko und Restrisiko. 2 9 A u f diese Weise scheint es immerhin gelungen zu sein, die Unzulänglichkeit menschlichen Erkenntnisbemühens unzulänglich zu systematisieren. Zu der Unsicherheit der Prognosen kommt die Zeitnot, die allem Analysieren Grenzen setzt. Diese Bedrängtheit des politisch Handelnden hat schon Tocqueville beschrieben: 30 „Der handelnde Mensch muß sich oft mit einem Ungefähr begnügen, weil er, wollte er in jeder Einzelheit das Vollkommene anstreben, mit seinem 26 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., München 2003, § 20 II. 27 Zippelius (Anm. 26), § 21 III. Nachweise in R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl., München 2003, § 36 III. 29
U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, Tübingen 1994, S. 105, vgl. auch S. 77 ff., 450 ff. und passim. 30
A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, II, 1840,1. Teil, Kap. 10.
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Vorhaben nie fertig würde... Die Lenkung der Welt erfolgt nicht durch weitläufige und gelehrte Beweisführungen. Da werden alle Angelegenheiten durch das rasche Erfassen einer einzelnen Tatsache entschieden, durch das tägliche Studium der wechselnden Leidenschaften der Menge, durch den Zufall des Augenblickes und durch die Geschicklichkeit in dessen Ergreifen." In unseren Tagen hat Luhmann darauf hingewiesen, daß unsere beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit und die Knappheit der Zeit auch die Fähigkeit zu rationalem Planen und Entscheiden begrenzen; auch dies wirkt selektiv „auf Sachziele, die man verfolgen, und Informationen, die man verwerten kann". 3 1 Alle diese Rationalitätsgrenzen schließen es aber nicht aus, die verschiedenen, in Betracht zu ziehenden Faktoren, einschließlich der einfließenden Wertungen, in ein „rationales", etwa auf einen Mehrheitsentscheid hinauslaufendes Entscheidungsverfahren einzubeziehen.
V. Kein „Regime der Besserwissenden" Die Folgerung lautet: Es kann kein „Regime der Besserwissenden", keine Politik aus der Autorität des Sachverstandes, geben. Denn dieser ist prinzipiell begrenzt: schon hinsichtlich der anzustrebenden Ziele und ihrer Gewichtung, aber auch hinsichtlich der jeweils am besten geeigneten Mittel und der oft unübersehbaren Fern- und Nebenfolgen, zumal der Risiken, die mit einer Entscheidung verbunden sind. Im Gegensatz zu diesen Einsichten gab es gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Bewegungen, die unter Berufung auf bessere, oft sachverständig ausstaffierte Einsichten den Widerstand gegen demokratisch getroffene Entscheidungen probten. Nun gab es auch schon früher Ansprüche, aus privilegierter Einsicht politische und rechtliche Entscheidungen zu lenken. Bis in die frühe Neuzeit gründeten sich solche Ansprüche vor allem auf weltanschaulich-religiöse Anschauungen, die man für die allein richtigen hielt. Doch als in verheerenden Religionskriegen die Ansprüche auf die besseren Einsichten unhaltbar wurden, erhob sich der demokratischen Anspruch auf gleichberechtigte Mitbestimmung und Mitentscheidung aller in Fragen der politischen Gemeinschaft. 32 Die größtmögliche Annäherung an den Konsens aller suchte man in freier Auseinandersetzung der Meinungen und Argumente, die in einem rechtsstaatlich strukturierten und kultivierten Verfahren zu Entscheidungen führen sollte, die vom mehrheitlichen Konsens getragen sein sollten. Zwar sah man ein, daß in komplizierten Staatswesen die rechtsverbindlichen Entscheidungen auf repräsentativem Wege getroffen werden müssen; doch sollte das Handeln der Repräsentanten von einem breiten mehrheitlichen Grundkonsens 31 N. Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl., Opladen 1983, S. 350. 32 R. Zippelius, Kap. 4 II, 5. 13 FS Bartlsperger
Verhaltenssteuerung durch Recht und kulturelle Leitideen, Berlin 2004,
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getragen sein, 3 3 der periodisch in Wahlen abzufragen ist. Natürlich wußte man, daß „die Mehrheit nicht immer recht hat". Doch gewährleistet dieses politische System zwei wichtige Dinge: daß Korrekturmöglichkeiten - auf dem Wege verständiger Argumentation und neuer Konsenssuche - offen gehalten werden, und daß hierbei die Mitwirkungsmöglichkeit eines jeden erhalten bleibt. Wer mit Entscheidungen nicht einverstanden ist, die auf dieser Grundlage - in rechtsstaatlichen Verfahren einer gewaltenteilig strukturierten, repräsentativen Demokratie - getroffen werden, kann und soll also seine Gegenmeinung zur Geltung bringen, und zwar mit den Mitteln demokratischer Freiheiten, insbesondere unter dem Schutz der Meinungs-, der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit und mit der Chance, die Mehrheitsmeinung für die eigenen Anschauungen zu gewinnen. Die Erfolge der „Grünen" in den vergangenen Jahren haben gezeigt, daß man auf diesem Wege erfolgreich um öffentliche Zustimmung werben und einen Zugang zu staatlichen Entscheidungskompetenzen, insbesondere in Volksvertretungen, suchen kann. A u f solche Weise darf jeder auch für seine weltanschaulichen Voreingenommenheiten werben, auch für seine Zielvorstellungen und Zukunftsängste - etwa in den Bereichen der Atomtechnik oder der Gentechnik - und er darf seine Hoffnungen und Befürchtungen mit Hilfe sachverständiger Wahrscheinlichkeitsurteile artikulieren. Weil aber der politische Tagesstreit nicht selten ein Streit über die oft problematische Wünschbarkeit oder Nichtwünschbarkeit von Ergebnissen und oft auch ein Streit über die Wahrscheinlichkeit ihres Eintrittes ist, weil also die Unsicherheiten das gesamte Feld beherrschen: Darum hält die rechtsstaatliche Demokratie daran fest, daß ein solcher Streit mit Argumenten und auch sonst nach den Spielregeln der Demokratie auszutragen ist. Im Gegensatz dazu also wollte man (und w i l l man sporadisch noch) unter Berufung auf bessere, oft sachverständig ausstaffierte Einsichten es rechtfertigen, Widerstand und zivilen Ungehorsam gegenüber rechtsstaatlich-demokratisch getroffenen Entscheidungen zu üben, auch unter Verletzung der rechtsstaatlich-demokratischen Spielregeln. Zur Begründung hieß es, das politische System der Demokratie, einschließlich des Mehrheitsprinzips, beruhe auf einem Basiskonsens. Dieser habe jedoch Grenzen. Sie lägen dort, wo durch Mehrheitsentscheide eine Minderheit „sich in fundamentalen Interessen wie denen an Überleben, Sicherheit, Freiheit, Glück, Menschenwürde, lebenswerte Umweltbedingungen usw. betroffen wähnt". 3 4 Der Basiskonsens billige Mehrheitsentscheidungen als Methode der Konfliktschlichtung nur für die Normallage; für Existenzfragen hingegen sei das Mehrheitsprinzip nicht akzeptabel. 35 33 R. Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, Stuttgart 1987, Abschn. I I I 3. 34
B. Guggenberger/C.
Offe, A n den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984,
S. 13. 35
Guggenberger/ Offe (Anm. 34), S. 16 f.; krit.: Zippelius (Anm. 33), Abschn. V I I .
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Ungeklärt ist aber schon, wer darüber befinden sollte, was eine „Existenzfrage" ist. 3 6 Man hat gemeint, auch Minderheiten - und folgerichtig doch wohl auch Einzelne - müßten entscheiden dürfen, wann jeweils nach ihrer Wahrnehmung in die „Normalität" eingegriffen werde. 3 7 Das würde bedeuten: Ihnen stünde die Letztentscheidung zu, nach ihrer subjektiven Überzeugung über die Bedingungen zu befinden, unter denen sie sich durch die demokratischen Entscheidungen gebunden fühlen oder nicht. Durch den damit in Anspruch genommenen Rechtsungehorsam lassen sich aber wirkliche oder vorgebliche „Existenzfragen" nicht lösen, mag man es nun zu „Existenzfragen" erklären, welches die schlimmste unter den folgenden Alternativen sei: Deutschland in ein Morgenthauland zu verwandeln oder doch den C02-Gehalt der Luft weiter mit fossilen Brennstoffen anzureichern oder statt dessen Atomreaktoren zu betreiben und zu entsorgen; ob es ferner verwerflicher sei, gewisse Risiken der gentechnischen Forschung hinzunehmen oder in diesem Bereich den Anschluß an die internationale Forschung und Biotechnik zu versäumen und hochrangige Forschungslaboratorien ins Ausland abwandern zu lassen: Irgendwer muß den Streit maßgeblich entscheiden, der über solche Fragen entsteht. Natürlich finden sich Minderheiten, die gern aus ihrer vermeintlich besseren Einsicht über solche und noch schwerer wiegende Konflikte zu entscheiden würden. Doch bliebe anderen die Möglichkeit, für ihre abweichenden Vorstellungen gleichfalls die bessere Einsicht in Anspruch zu nehmen. In Fragen, die von mehreren Gruppen für „existenzwichtig" gehalten werden, führt dieser Weg also leicht in einen mehr oder minder massiven „Glaubenskrieg". So steht man wieder vor der alten Einsicht des Thomas Hobbes: Der bürgerliche Friede kann nur gesichert und das „bellum omnium contra omnes" nur verhindert werden, wenn gerade auch in „Existenzfragen" verbindliche Entscheidungen getroffen werden. Ja gerade in Existenzfragen oder solchen, die dafür gehalten werden, ist es besonders dringend, das Verfahren einer geregelten Konfliktschlichtung einzuhalten, dringender als in den „Normallagen", für deren untergeordnete Konflikte man nicht so leicht Kreuzzüge unternehmen oder mit Pflastersteinen werfen wird. Die Überlegung endet also wieder bei der schon bekannten Alternative: Die Entscheidung über die Interessen- und Meinungskonflikte ist entweder in den Verfahren einer rechtsstaatlichen Demokratie zu treffen oder sie kann Einzelnen oder Minderheiten überlassen werden, die von sich behaupten dürften, einsichtiger zu sein als die anderen. Die zweite dieser Alternativen - ein autoritäres Regime von „Besserwissenden" - bedeutet den Rückfall in eine „Glaubensherrschaft" derer, denen es gelingt, der übrigen Gemeinschaft ihre Vorstellungen aufzuzwingen eine Form der Befriedung, welche die Freiheitsgewährleistungen einer aufgeklärten Verfassungskultur mißachtet und den Boden der „offenen Gesellschaft" verläßt. 36
Über die Vielzahl der Probleme, die man in jüngster Zeit zu „Existenzfragen" erklärt hat, vgl. S. Eisel, Minimalkonsens und freiheitliche Demokratie, Paderborn 1986, S. 164 ff. 37 Guggenberger /Offe 13*
(Anm. 34), S. 17.
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In dieser wird prinzipiell mit der Möglichkeit gerechnet, daß nicht nur der politische Gegner, sondern auch man selber irren kann, und es wird jedem mißtraut, der glaubt, er habe die Wahrheit gepachtet: Denn es gibt kein verläßliches Kriterium dafür, ob und wann jemand in komplizierten Fragen der Rechtspolitik über die Wahrheit verfügt.
I I . Verfahren und Kontrolle
Verfassungsrechtsprechung ohne Grenzen? Bemerkungen zum Versuch, dem Bundesverfassungsgericht „funktionell-rechtlich" Schranken zu setzen Von Hans Boldt, Düsseldorf
„Videant judices" rief im Jahr 1978 der damalige Bundesminister für Justiz, Hans-Jochen Vogel, den Richtern des Bundesverfassungsgerichts zu: Sie sollten bei der Rechtsprechung Zurückhaltung üben, sich davor hüten, eine politische Führungsaufgabe übernehmen zu wollen, die ihnen nicht zukäme, und ihre Wertvorstellungen nicht mit der Behauptung, es seien die des Grundgesetzes, an die Stelle der Wertungen des Gesetzgebers setzen.1 Anlaß zu dieser Schelte waren einige Urteile des Gerichts in den siebziger Jahren unter anderem zum Grundlagenvertrag, zum niedersächsischen Hochschulgesetz, zum Schwangerschaftsabbruch und zu den Diäten der Abgeordneten. Sie alle und andere mehr hatten den Unmut der Politik hervorgerufen, stießen aber auch in der Fachwissenschaft auf K r i t i k . 2 Wieder einmal - und nicht zum letzten Mal - war von einer „Krise" der Verfassungsgerichtsbarkeit die Rede und wurde über die Möglichkeit, „Übergriffe" des Gerichts in den Bereich der Gesetzgebung zu verhindern, debattiert; Grenzziehung als ein „ewiges Thema" 3 und Dauerproblem einer gerichtlichen Normenkontrolle, bei dessen Lösung es sich, wie ein prominenter Autor sagte, um eine „Lebensfrage" für die Verfassungsgerichtsbarkeit handele. 4 Die Diskussion kreiste zunächst um den sog. judicial self-restraint', eine Überlegung, die im Streit zwischen dem Supreme Court und der amerikanischen Bundesregierung zur Zeit der New Deal-Gesetzgebung eine gewisse Rolle gespielt hat. 5 A u f ihn hatte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil über den ι H.-J. Vogel, D Ö V 1978, 665. 2
S. J. Esser, JZ 1975, 555. Allgemein zu den Vorgängen vgl. R. Häussler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, Berlin 1994. 3
So F. Ossenbiihl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: P. Badura/R. Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Symposion aus Anlass des 70. Geburtstages von P. Lerche, München 1998, 75. Grundlegend dazu Ch. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, Berlin 1985. 4
K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), Recht als Prozess und Gefüge, Festschrift für H. Huber zum 80. Geburtstag, Bern 1981, 272. 5 S. dazu Ch. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, Mannheim 1996, 125 ff. Zur deutschen
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Grundlagenvertrag selbst berufen, allerdings ohne daraus weitere Konsequenzen zu ziehen. 6 Auch blieb es unklar, was eigentlich damit gemeint war, zumal vom self-restraint oft in einem sehr weiten, die political question-Doktrin der amerikanischen Rechtsprechung mitumfassend, gesprochen wurde. So erhoben sich von Anfang an Einwände gegen seine Rezeption: Der Verweis auf die richterliche Selbstbescheidung sei unbefriedigend, weil es dem Belieben der Richter überlassen bleibe, wie weit die Prüfungstätigkeit des Gerichts im gegebenen Fall erstreckt werde, er sei unzureichend, weil oft vom Gericht ja gerade entschlossenes Eingeifen erwartet werde, und er sei überhaupt unzulässig, da nach deutschem Recht ein Gericht die Abgabe eines verlangten Urteils nicht verweigern dürfe. 7 Diese Einwände hatten zur Folge, daß man sich der Überlegung zuwandte, ob man dem Verfassungsgericht angesichts seiner als zu weitgehend empfundenen Eingriffsmöglichkeiten nicht „funktionell-rechtliche" Schranken setzen könnte, die „objektiv" und fest genug seien, um eine verbindliche Abgrenzung von verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung und Gesetzgebung zu ermöglichen. 8 Die Debatte über diesen „letzte(n) Rettungsanker vor dem Abgleiten in eine verfassungsgerichtliche Allmacht", 9 setzte mit Beginn der achtziger Jahre ein, führte allerdings bald zu einer skeptischen Beurteilung der Möglichkeit, auf diese Weise klare und verbindliche Grenzen ziehen zu können und machte so die grundsätzliche Problematik einer Normenkontrolle übenden Verfassungsgerichtsbarkeit deutlich. Dem sei im folgenden verfassungshistorischen Rückblick nachgegangen.
Diskussion der siebziger Jahre vgl. u. a. F. A. Freiherr von der Heydte, Judicial self-restraint eines Verfassungsgerichts im freiheitlichen Rechtsstaat? in: G. Leibholz (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für W i l l i Geiger, Tübingen 1974, 909; R. Zuck, JZ 1974. 361; F. Ch. Zeitler, JöR NF 25, 1976, 621; J. Seifert, Verfassungsgerichtliche Selbstbeschränkung, in: Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, Frankfurt a. M . 1976, 116; M. Kriele, NJW 1976, 777; N. Achterberg, D Ö V 1977, 649; E. Benda, ZRP 1977, 1; W Rupp-von Brünneck, AöR 102 (1977), 1; W.-R.. Schenke, NJW 1979, 1321; Κ Zweigert/H. Dietrich, Bundesverfassungericht - Institution mit Zukunft? In: W. Däubler/G. Küsel (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Politik, 1979, 11; L. Raiser, Krise der Demokratie?, in: ders., Vom rechten Gebrauch der Freiheit, Stuttgart 1982, S. 91 sowie bereits 1972 vor Beginn der eigentlichen Debatte R. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1972. 6 BVerfGE 36,1 (14) und vorher bereits E 35, 257 (261 f.). 7
Vgl. Hesse (Anm. 4), 264 sowie insbesondere D. Murswiek, D Ö V 1982, 529; ihm folgend J. Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht", in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. V I I , 1992, Rn. 85, 88. Weitere Nachweise bei J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, Berlin 2003, 433 ff. 8 Vgl. neben der prägnanten Abhandlung von Konrad Hesse (Anm. 4) grundlegend G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, Königstein/Ts. 1980 sowie H.-R Schneider, NJW 1980, 2103. 9 W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, Baden-Baden 1992, 12.
Verfassungsrechtsprechung ohne Grenzen?
201
I. Wenn man fragt, worauf „funktionell-rechtlich" argumentierende Autoren abheben, so erhält man folgende Antworten: „Ausgangspunkt" der Überlegungen ist die Feststellung, daß es sich beim Bundesverfassungsgericht um ein Gericht handelt. 1 0 Aus dieser selbstverständlich klingenden, eine Spitze gegen die weitergehenden Prätentionen des Gerichts als eines „Verfassungsorgans" enthaltenden Aussage folgt indessen zunächst nur, daß das Verfassungsgericht wie jedes andere Gericht lediglich auf Antrag tätig werden kann, keine Eigeninitiative zu entwickeln hat und nur bereits erlassene Gesetze seiner Kognition, gebunden an bestimmte gerichtsförmige Verfahrensweisen, unterliegen. In welcher Weise und wie weit es auf seine Anrufung hin in eine gerügte Gesetzgebung eingreifen darf, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Dazu dient die daran anknüpfende Feststellung, daß das Bundesverfassungsgericht nach Art. 92 GG Teil der rechtsprechenden Gewalt ist. Doch genügt auch sie offensichtlich noch nicht, sondern es bedarf dazu des zusätzlichen Hinweises auf den Gewaltenteilungsgrundsatz. Denn erst dadurch gewinnt das, was wir unter Rechtsprechung verstehen, eine klare Kontur, erst dadurch wird sie deutlich von der Gesetzgebung unterscheidbar. Rechtsprechung als gerichtliche Tätigkeit in einem älteren bzw. - wie das Beispiel des Supreme Court der USA zeigt - in einem dem Common Law verpflichteten Sinne, 11 kann j a auch Setzung (oder „Findung") von Rechtsregeln bedeuten. Anders, wenn man das Gewaltenteilungsprinzip zugrunde legt. Gesetzgebung heißt dann: Setzung von Regeln, nach denen die Betroffenen sich zu richten haben, heißt Staats- und Gesellschaftsgestaltung, und Rechtsprechung wird zur bloßen Rechtsanwendung, zur Entscheidung von Streitfällen und Ahndung von Regelverletzungen aufgrund gegebener Gesetze. So lassen sich in der Tat Gesetzgebung und Rechtsprechung wenigstens dem Prinzip nach als zwei unterschiedliche Funktionen staatlichen Handelns auffassen. Funktion der Gesetzgebung ist die politische Gestaltung, insbesondere in Form der Regelsetzung, Funktion der Rechtsprechung die fallbezogene, nach Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht" gebundene Rechtskontrolle. Die Eigenart einer mit der Befugnis zur Normkontrolle ausgestatteten Verfassungsgerichtsbarkeit besteht dann darin, daß ihr die gerichtliche Rechtskontrolle der Gesetze bzw. der Gesetzgebung selbst obliegt, auch sie bleibt dabei jedoch gesetzesgebunden - an das höherrangige Verfassungsgesetz. Es hatte daher seinen guten Sinn, wenn in der Literatur auf das Gewaltenteilungsprinzip als das entscheidende kompetenzbegrenzende Kriterium abgehoben wurde. 1 2 10 Vgl. hierzu und zum Folgenden K. Schiaich/St. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Aufl., München 2004, Rn. 506 ff. (510) sowie die grundlegende Analyse von Heun 1992 (Anm. 9) und ders., Normenkontrolle, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, 615 (639). 11 Zu der damit zusammenhängenden andersartigen Problematik der Rechtsprechung des Supreme Court vgl. jetzt Shu-Perng Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat?, Berlin 2004, bes. 46 ff.
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Hans Boldt II.
Zum zentralen Begriff des funktionell-rechtlichen Ansatzes avanciert somit der der Kontrolle. Ein Gericht „gestaltet" nicht sondern „kontrolliert", und zwar im nachhinein und nach rechtlichen Gesichtspunkten. Damit ist freilich noch immer nicht gesagt, wie weit diese Kontrolle gehen darf und mit welcher Intensität sie zu erfolgen hat. Und in der Tat ging es in der folgenden Debatte genau um diese Frage der „Kontrolldichte". 1 3 Ausgelöst wurde sie durch das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1979, das den gesetzlichen Regelungsmöglichkeiten der betrieblichen Mitbestimmung weiten Raum gab und damit auf die Politik beruhigend wirkte. In der Begründung seines Urteils entwickelte das Gericht, ausgehend von der Unterscheidung dreier „Stufen" der Kontrolle, einer Evidenz-, Vertretbarkeits- und Intensivkontrolle, einige viel diskutierte Kriterien zur Kontrollintensität umd zwar im Zusammenhang mit einer Prüfung der Prognosen, die der Bundestag seinem Gesetz zugrunde gelegt hatte. 1 4 A u f diese Weise geriet zunächst ein Randthema - so erscheint es jedenfalls dem heutigen Betrachter - nämlich die Frage der Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognosen in den Mittelpunkt funktionell-rechtlicher Erörterungen. 15 Das verblüfft insofern, als es hierbei dem ersten Anschein nach gar nicht um Rechtsfragen geht. Tatsachenfragen können zwar in Gerichtsverfahren eine Rolle spielen, auch beim Verfassungsgericht, so z. B. im Parteiverbotsprozeß, aber im Fall der Normenkontrolle? Schuldet der Gesetzgeber, so fragt man sich und so wurde auch gefragt, eine sorgfältige Untersuchung der Tatsachen und eine hohe Wahrscheinlichkeit der Prognosen, auf die er sein Urteil stützt, und ist dies gerichtlich nachprüfbar, oder schuldet er „nichts als das Gesetz"? 1 6 Wäre denn z. B. ein Subventionsgesetz, das auf fehlerhaften statistischen Daten und Prognosen beruht, deshalb schon verfassungswidrig? Das wird man wohl ebensowenig wie eine Pflicht des Gesetzgebers zu einer „optimalen Gesetzgebung" annehmen dürfen. 1 7 Indessen gibt es augenscheinlich
12 Vgl. Schiaich/Korioth (Anm. 10), Rn. 513 mit a.A.: Das Prinzip füge der Aussage über die Gerichtsförmigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit nichts hinzu. 13
Vgl. Schneider (Anm. 8); Heun (Anm. 9), 37 spricht in dem Zusammenhang von einem „Paradebeispiel" für die Zuordnung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Schiaich/Korioth (Anm. 10), Rn. 532 vom „Kronzeuge(n) für funktionell-rechtliches Denken". 14 BVerfGE 50,290 (333). Zur (Anm. 11), 31 f., 89 ff.
vergleichbaren
amerikanischen
Praxis
vgl.
Hwang
15 S. bes. Schneider (Anm. 8); allgemein dazu F. Ossenbiihl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Ch. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I, Tübingen 1976, 458. 16 So dezidiert der ehemalige Verfassungsrichter Willi Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Th. Berberich (Hrsg.): Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, Stuttgart 1979, 131 (141). 17
So aber, orientiert am Vorbild des kommunalen Bebauungsplans, G. Schwerdtfeger, Optimale Methodik des Gesetzgebers als Verfassungspflicht, in: R. Stödter/W. Thieme, Ham-
Verfassungsrechtsprechung ohne Grenzen?
203
Fälle, bei denen Fragen der rechtlichen Beurteilung der Vorgehensweise des Gesetzgebers sich in der Tat ohne Rekurs auf Faktenfeststellungen nicht beantworten lassen. So bei Streitigkeiten, welche Grundrechte tangieren, und um solche handelte es sich in den hier behandelten Fällen offensichtlich. 18 Veranlaßt wurde das durch die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Grundrechts] udikatur ganz selbstverständlich angewandte Verhältnismäßigkeitsprüfung, einer aus rechtsstaatlichen Erwägungen an sich plausiblen Übernahme einer bewährten verwaltungsgerichtlichen, im Polizeirecht entwickelten Kontrollmaßnahme ins Verfassungsrecht - mit allerdings weitgehenden und problematischen Konsequenzen. 19 Hält man es nämlich demzufolge für von der Verfassung geboten nachzuprüfen, ob ein gesetzlicher Eingriff in die Grundrechtssphäre der Bürger „erforderlich" war, kommt man nicht umhin zu fragen, ob es nicht andere, die Rechtssphäre der Bürger schonendere Alternativen gegeben hätte und der Eingriff wirklich so intensiv ausfallen mußte, wie vom Gesetzgeber angeordnet. Das sind zunächst einmal Tatsachenfragen, deren Beantwortung unter Umständen aber weitgehende, intensive Untersuchungen erfordert. Es war daher durchaus einsichtig, wenn das Verfassungsgericht und die Staatsrechtswissenschaft das Maß der Kontrolle in diesen Fällen von der Bedeutung der tangierten Rechtsgüter und der Intensität des Eingriffs abhängig machten. 2 0 An dieser Stelle kommen offenbar Bewertungen ins Spiel wie auch dann, wenn das Gericht am Ende die Schutzwürdigkeit der betroffenen Rechtsgüter im Verhältnis zur (rechtlichen? politischen?) Bedeutung der vom Gesetzgeber mit seinem Eingriff verfolgten Ziele „abzuwägen" hat. Für solche Bewertungen gibt es indessen keine „objektiven" Kriterien. Sie sind von den Wertvorstellungen der sie vornehmenden Richter abhängig. Mithin mag es, wenn man eine solche verfassungsgerichtliche Vorgehensweise akzeptiert bzw. gar für verfassungsrechtlich geboten hält, aus „funktionell-rechtlicher" Sicht zwar durchaus mit der Funktion des Gerichts vereinbar erscheinen, Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzgebers mit unterschiedlicher Intensität zu überprüfen und Bewertungen vorzunehmen. Das Ziel des funktionell-rechtlichen Ansatzes jedoch, dem verfassungsgerichtlichen Vorgehen gegenüber dem Gesetzgeber „objektive" Grenzen zu ziehen, läßt sich auf diese Weise nicht erreichen. Denn wie intensiv eine Kontrolle auszufallen hat, bleibt notwendigerweise der „subjektiven" Beurteilung der Richter überlassen, auch wo in plausibler Weise nach dem im Streit befangenen Sachbereich (Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, Privatsphäre usw.) differenziert wird.
bürg, Deutschland, Europa, Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, Tübingen 1977, 173 sowie A. Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, Hamburg 1996. "8 Aufgelistet bei Rau (Anm. 5), 194 ff. 19 S. E. Forsthoff,
Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971, 137 ff.
20 Vgl. dazu G. F. Schuppen, DVB1. 1988, 1191 (1193) sowie Heun (Anm. 9), 36 f.
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III. Ein weiteres Problemfeld neben der Frage, wie weit das Verfassungsgericht die Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzgebers einer Prüfung unterziehen darf und wo hier Grenzen zu ziehen sind, öffnete sich für die funktionell-rechtliche Betrachtung mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Entscheidungsvarianten. Sehr früh ist das Gericht j a in seiner Entscheidungstätigkeit über die im Gesetz allein vorgesehene Nichtigkeitserklärung der für verfassungswidrig erachteten Gesetze hinausgegangen. Es stellte sich mithin die Frage, ob und inwieweit die Einführung von Entscheidungsvarianten aus funktionell-rechtlicher Sicht als zulässig erachtet werden konnten. 2 1 I m Grunde läßt sich diese Frage schon bei der Nichtigkeitserklärung aufwerfen. Sie ist zwar positivrechtlich in § 78 BVerfGG geregelt, liegt demnach unstreitig in der Kompetenz des Verfassungsgerichts, stellt aber als eine Art contrarius actus einen radikalen Eingriff in die Gesetzgebung dar. Somit läßt sich darüber streiten, ob eine solche Maßnahme noch in den Funktionsbereich der Rechtsprechung gehört. Wäre es, von dorther gesehen, nicht korrekter, es bei einer bloßen Verfassungswidrigkeitserklärung zu belassen oder lediglich die Anwendung des Gesetzes im betreffenden Fall zu untersagen (was allerdings gegen die Beibehaltung der abstraken, d. h. nicht fallbezogenen Normenkontrolle sprechen würde)? Daß die Nichtigkeitserklärung eine Fülle politischer und rechtlicher Schwierigkeiten heraufbeschwören kann, und dies nicht nur bei ihrer Wirkung ex tunc, ist bald gesehen und einer kritischen Analyse unterworfen worden. 2 2 Das Verfassungsgericht hat sich in vielen Fällen denn auch mit bloßen Unvereinbarkeitserklärungen begnügt. I m Licht der hier vertretenen Auffassung war das „funktionell" richtig, gleichzeitig aber positivrechtlich gesehen zunächst unzulässig; denn bekanntlich hat die Möglichkeit, so zu entscheiden, erst 1970 ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden. Das zeigt, daß es auch Fälle geben kann, in denen etwas funktionsgerecht erscheint, aber gesetzlich untersagt ist. Von Funktionen ausgehende Überlegungen haben dann offenbar die Tendenz, eher kompetenzbegründend als, wie beabsichtigt, kompetenzbegrenzend zu wirken. Im allgemeinen ist die Reduktion des Entscheidungsausspruchs vom gestaltenden zum bloß feststellenden Urteil als ein zulässiges „ M i n u s " hingenommen worden. Dies gilt auch für die sog. verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, mit der das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber ebenfalls schonen und einen übermäßigen Eingriff in die Gesetzgebung vermeiden will. Aus funktionell-rechlicher Sicht wurde es als durchaus akzeptabel angesehen, wenn ein verfassungswidriges Gesetz auf diese Weise einen verfassungsmäßigen, den Intentionen des Gesetzgebers nicht widersprechenden Inhalt erhielt. Dagegen wurde es als eine unerträgliche „Bevormundung" des Gesetzgebers gerügt 2 3 - und dies gerade im Hin21 Vgl. Hesse (Anm. 4), 268 f.; Heun (Anm. 9), 30 ff. 22 J. Ipsen, JZ 1983, 41 sowie ders., Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, Baden-Baden 1980. 23 Schuppert (Anm. 8), 6.
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blick auf einige Urteile der siebziger Jahre - , wenn das Gericht mit seiner Auslegung die Intentionen des Gesetzgebers verkehrte und dem Gesetz einen von ihm nicht gewollten Sinn unterschob. Daß man das für einen von der Funktion des Gerichts nicht mehr gedeckten Eingriff in die Gesetzgebung hielt, ist einsichtig. A l lerdings blieb auch hierbei offen, wie sich im gegebenen Fall eine klare, dem Verfassungsrichter vorgegebene Grenze zwischen einer noch zulässigen Deutung und einer unzulässigen Umdeutung des Gesetzes ziehen ließ. Als ähnlich schwierig erwies sich die Beurteilung der sog. Appellentscheidungen, bei denen das Gericht den Gesetzgeber zum Handeln aufruft, weil ein verfassungswidriger Zustand einzutreten droht oder bereits eingetreten ist. Was ist Aufgabe des Verfassungsgerichts in diesen Fällen, was entspricht hier seiner „Funktion"? Ein bloßer Appell an den Gesetzgeber, tätig zu werden? Setzung einer Frist, in der der verfassungswidrige Zustand zu beheben ist? Androhung einer Ersatzvornahme? Tatsächlich hat sich das Verfassungsgericht in einigen Fällen, sogar in solchen, in denen es um die Verfassungswidrigkeit eines bereits erlassenen Gesetzes ging, nicht mit einer einfachen Nichtigkeitserklärung begnügt, sondern dem Gesetzgeber vorgeschrieben, was er zu tun hat, um einen verfassungsmäßigen Zustand herzustellen. 24 Eine solche Vorgehensweise ist zwar plausibel, um einem erneuten Scheitern des Gesetzgebers vor Gericht vorzubauen, aber - so konnte mit Recht gefragt werden - wird das Verfassungsgericht damit nicht zum „Ersatzgesetzgeber", werden die Schranken zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung dabei nicht völlig eingerissen? 25 Das als nicht mehr von der Funktion des Verfassungsgerichts gedeckt zu sehen, fiel nicht schwer. Indessen ging und geht es weniger um derartige spektakuläre Fälle als um die Frage, wie weit das Verfassungsgericht überhaupt mit Appellen, Unvereinbarkeitserklärungen und verfassungskonformen Umdeutungen arbeiten darf. Darauf ließ sich bis heute keine funktionellrechtlich eindeutige Antwort finden. Es ist denn wohl auch nicht mehr als der Ausdruck einer sich hier einstellenden Verlegenheit, wenn es am Ende eines diesbezüglichen dogmatischen Klärungsversuchs heißt, daß das Bundesverfassungsgericht halt „darauf sehen muß, daß es dem politischen Prozeß möglichst wenig Stoff entzieht". 2 6
24
Vgl BverfGE 88, 203 - Schwangerschaftsabbruch und E 93, 121 - Einheitswerte.
25
s. aus politologischer Sicht Ch. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1984. Das Bild der Vorgehenweise des Bundesverfassungsgerichts vervollständigt F. Ossenbühl (Anm. 3), 33 mit der Unterscheidung von fünf Spannungsfeldern im Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber, in denen das Bundesverfassungsgericht als unterschiedlicher Akteur: als Anreger, praeceptor legis, Ersatzgesetzgeber, Kontrolleur (sie!) und authentischer Interpret auftritt. Positiv zur gesetzgeberischen Funktion des Gerichts äußerte sich A. von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, Berlin 1992, bes. 168 ff. 26 Schiaich/Korioth
(Anm. 10), Rn. 520.
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IV. Daß die Probleme der Prüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzgebers sowie der Gestaltung verfasssungsgerichtlicher Entscheidungen im Mittelpunkt der Versuche standen, die Tätigkeit des Bundesverfassungsgrichts funktionell-rechtlich zu begenzen, läßt sich historisch erklären; denn es waren diese Aktivitäten des Gerichts, die zunächst und in erster Linie Kritik hervorriefen. Demgegenüber traten die klassischen Bereiche der Normenkontrolle, nämlich die Frage nach dem verfassungsmäßigen Zustandekommen eines Gesetzes und der Verfassungsmäßigkeit seines Inhalts in den Hintergrund. Das trifft insbesondere für die Kontrolle der Einhaltung des vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahrens zu. Stand früher, als es um die Durchsetzung des parlamentarischen Zustimmungsrechts zu monarchischen Gesetzen ging, die Frage eines „formellen Prüfungsrechts" der Gerichte i m Zentrum des Interesses, so spielen heute entsprechende Probleme wie die Beachtung des Zustimmungserfordernisses des Bundesrats bei sog. Zustimmungsgesetzen oder die Prüfung des Vorliegens der erforderlichen Mehrheit bei verfassungsändernden Gesetzen keine vergleichbare Rolle. Sie werfen funktionsrechtlich auch keine besonderen Fragen auf. Anderes gilt hingegen für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Inhalts eines Gesetzes. Sie ist und bleibt der zentrale Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Zugleich scheint es besonders schwierig, wenn nicht hoffnungslos zu sein, der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts hierbei Grenzen zu ziehen. Die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit von Gesetzen geschieht durch Verfassungsinterpretation. Folgerichtig hat man in der Begrenzung des Interpretationsspielraums für das Bundesverfassungsgericht eine zentrale Aufgabe funktionell-rechtlicher Bemühungen gesehen. 27 Nun liegt aber in der besonderen Problematik der Verfassungsinterpretation die eigentliche Crux verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle. Verfassungsnormen sind - was man immer wieder gegen die Einführung einer Normenkontrolle ins Feld geführt hat häufig vage, sind oft nur Prinzipien, die einer Konkretisierung bedürfen, um überhaupt als Kontrollmaßstab dienen zu können. 2 8 Und wenn man dagegen einwendet, daß vor ähnlichen Schwierigkeiten jedes Gericht steht, welches unklare Gesetze als Prüfmaßstab anwenden muß, so ergibt sich doch für das Verfassungsgericht eine weitere Besonderheit: Seine Interpretationen unterliegen nicht der Revision durch eine höhere Instanz. Wie es die Verfassung auslegt, so gilt sie, mag man das 27 Hesse (Anm. 4), 270. 2« S. bereits C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931), Neudruck Berlin 1985, 36 ff. Auch sein die Verfassungsgerichtsbarkeit bejahender Gegenspieler Hans Kelsen hat die sich hier ergebenden Schwierigkeiten gesehen und insoweit Begrenzungen gefordert; vgl. ders., Wer soll Hüter der Verfassung sein?, Berlin 1931, jetzt in: Hans Klecatsky u. a. (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd. 2, Wien 1968, 1873 (1892). Heute versucht man vermehrt mit auf das Prozedurale beschränkten Theorien der Problematik auszuweichen, vgl. z. B. M. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung - Grundlegung zu einer prozeduralen Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1995.
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auch nicht, wie oft (und bezeichnender Weise!), „authentische" Interpretation nennen, weil sie nicht vom Verfassungsgeber selbst stammt. „Souverän ist", so hat man ganz treffend in Abwandlung eines berühmten Bonmots gesagt, „wer über die Verfassungsinterpretation gebietet." 2 9 Läßt sich da irgendetwas eingrenzen? Man hat das unter Zuhilfenahme des für den funktionalen Ansatz zentralen Kontrollbegriffs versucht und in Ansehung ein und derselben Verfassungsbestimmung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm unterschieden, je nachdem ob sie als Richtschnur für den politischen Akteur, den Gesetzgeber, oder das kontrollierende Gericht dient. Das führt indessen nicht weiter. Denn die unterschiedliche Inanspruchnahme einer Verfassungsnorm - das ist j a damit gemeint - beruht darauf, daß man den Kontrollmöglichkeiten des sich auf sie stützenden Gerichts von vornherein eine geringere Reichweite zuspricht als den Möglichkeiten des durch die Norm zum Handeln ermächtigten und verpflichteten Gesetzgebers. Man geht also schon immer davon aus, daß dem Gesetzgeber ein „Gestaltungspielraum" beim Verfassungsvollzug eingeräumt ist, den das Verfassungsgericht zu beachten hat. Wie weit aber dieser die Kontrollfunktion des Gerichts begrenzende Spielraum reicht, unterliegt seinerseits wieder der Beurteilung durch das Gericht; der Verweis auf seine Kontrollfunktion zieht ihm also auch hier keine klaren Grenzen. Das Paradebeispiel, an dem die Unterscheidung exemplifiziert wird, der Gleichheitssatz und die Begrenzung der in ihm liegenden Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht, das auf diese Weise seine Kontrollspanne selbst bestimmt und verändert, beweist dies zu Genüge. 3 0 Weder die Kompetenz - denn sie geht bei der Verfassungsinterpretation so weit, daß man von einer „faktischen Kompetenz-Kompetenz" des Verfassungsgerichts gesprochen hat 3 1 - noch seine Rechtsprechungsfunktion erweisen sich mithin als das Handeln des Gerichts bestimmend und begrenzend, sondern einzig und allein sein Verfassungsverständnis, und das ist recht ausgreifend. M i t ihm hat es, nicht immer vom Beifall der Wissenschaft begleitet, z. B. dem Art. 2 Abs. 1 GG eine weite Auslegung gegeben, hat es den Grundrechten eine „objektive Dimension" zuerkannt, die ihm weitere recht umfangreiche Möglichkeiten zu Eingriffen in die Gesetzgebung eröffnete, hat es der Verfassung eine Wertordnung zugrunde gelegt, auf die zurückgreifend es ambivalent beurteilbare Fälle löste, und hat es Organisationsprinzipien für das Rundfunk- und das Hochschulrecht entwickelt. Man wird 29 G. Piittner, Der schwierige Weg zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: D. Wilke, Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Berlin 1984, 573.
30 Vgl. Schiaich/Korioth (Anm. 10), Rn. 515 ff. (517). Die Unterscheidung von „Funktionsnorm" und „Kontrollnorm" stammt von Enst Forsthoff, s. ders., Rechtsstaat i m Wandel, 2. Aull., München 1976, 117 ff. Forsthoff weist in der dort aufgenommenen, ursprünglich 1964 in der Gedächtnisschrift für Walter Jellinek erschienenen Abhandlung ,Über Maßnahmegesetze' nicht nur auf den oft größeren Handlungsspielraum des Gesetzgebers hin sondern auch darauf, daß bei den modernen, verwaltungsaktartigen (Maßnahme-)Gesetzen sich Handlungsspielraum des Gesetzgebers und Kontrollspanne des Verfassungsgerichts annähern, praktisch also deckungsgleich werden. Schiaich/Korioth
(Anm. 10), Rn. 14.
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dem Gericht nun nicht in jedem Fall absprechen können, daß seine Konkretisierungen des Grundgesetzes notwendig und sinnvoll waren, aber es stellt sich doch der Eindruck ein, daß es dabei einem Verfassungsverständnis huldigt, mit dem sich Regelungslücken durch „Interpretation" der Verfassung füllen und vor allem Probleme der Abwägung zwischen Grundrechtsschutz und Gesetzeseingriff nach durch Auslegung ermittelbaren Verfassungsvorgaben lösen lassen. Dieses Verfassungsverständnis, das weit über die konkurrierende Auffassung von der Verfassung als bloßer „Rahmenordnung" hinausgeht, ist schon in den siebziger Jahren anläßlich der damals weit ausgreifenden Verfassungsrechtsprechung auf Kritik gestoßen. 32 Verlangt wurde eine verbindliche Verfassungstheorie. 33 Es gibt aber keine Verfassungstheorie, die für die Verfassungsrichter verbindlich sein könnte.
V. Interessanterweise mehren sich inzwischen die Stimmen, die für ein modernes, die ausgreifende Tätigkeit des Verfassungsgerichts rechtfertigendes Rechts- und Verfassungsverständnis eintreten. Da gibt es zum einen den Hinweis darauf, daß Richterrecht und Gesetzesrecht sich im Grunde gar nicht voneinander unterschieden, auch Rechtsprechung sei „rechtserzeugend". 34 Das wird man nicht leugnen wollen. Es führt aber, wo die Rechtsprechung nicht wie normaler Weise im Rahmen gesetzlicher Vorgaben rechtsschöpferisch tätig ist sondern wie beim Verfassungsgericht die Verfassung „fortbildend" interpretiert und konkretisiert, zu einer Rechtsetzung auf gleicher Ebene mit der Gesetzgebung und wird von dieser ununterscheidbar. Die der Trennung von Rechtsprechung und Gesetzgebung zugrunde liegende Unterscheidung von Rechtsgestaltung und Rechtskontrolle verwischt sich, gerade in funktioneller Hinsicht. Aus Verfassungsrechtsprechung wird „funktionell" Gesetzgebung, so sehr man auch darauf beharren mag, daß sie es in einem phänomenalen Sinne nicht ist, weil ihr die Eigeninitiative mangelt und sie nur Gesetze aufhebend, korrigierend und anregend in Erscheinung tritt. 3 5 Aber auch darin liegt eine gesetzesgestaltende Funktion; konsequenter Weise genießen diesbezügliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft. Verfassungsrechtsprechung sei „mitgestaltend" und Richtung weisend, „da hilft kein Leugnen", so formulierte nicht gerade eine Außenseitermeinung der ehemalige Verfas32 Zweigert (Anm. 5), 12 f. (die Verfassung werde vom Verfassungsgericht als ein „geschlossenes Normenprogramm" verstanden); Schuppen (Anm. 8), 52 f. (das Verfassungsgericht interpretiere in die Verfassung zuviel hinein, was zu einer folgenschweren Verkürzung der offenen pluralistischen Gesellschaft führe). Zum Verständnis der Verfassung als einer „Rahmenordnung" s. E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2099) sowie allgemein N. Manterf'eld, Grenzen der Verfassung, 1999.
33 Böckenförde, ebd. 2098. 34 Schiaich/Korioth 35 Heun{Anm.
(Anm. 10), Rn. 521 m. w. Nachw.
10), 616.
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sungsrichter W i l l i Geiger. 3 6 Die gesetzgeberische Praxis hat sich darauf längst eingestellt, indem sie die Weisungen des Verfassungsgerichts schon von vornherein berücksichtigt - von der beobachtbaren Tendenz, legislatorische Entscheidungen auf das Gericht abzuwälzen, ganz zu schweigen. 37 Was ursprünglich als ein Argument gegen die Einführung des Instituts einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle ins Feld geführt wurde, nämlich daß auf diese Weise Rechtsprechung zur Gesetzgebung, gar Verfassungsgesetzgebung werde, was ihr nicht zukomme, erscheint heute ins Positive gewandt, unterstützt es doch Auffassungen wie die, daß es sich bei der verfassungsgerichtlichen Tätigkeit um einen notwendig gewordenen „Reparaturbetrieb" der Gesetzgebung handele, 38 und wer wollte leugnen, daß die Gesetzgebung im Zeitalter von Arbeitsmarktgesetzen wie „Hartz I V " dergleichen nötig hat. Hier deutet sich ein ganz neues Verständnis des Verhältnisses von Gesetzgebung und nachbessernder Verfassungsjustiz an. Dies unterstützend wirkt die Charakterisierung des Bundesverfassungsgerichts als „Verfassungsorgan". M i t der Prätention darauf befreite sich das Gericht bekanntlich in den fünfziger Jahren aus der geschäftsordnungsmäßigen Unterordnung unter das Bundesjustizministerium. Doch ging es schon damals um mehr, um die Anerkennung der „Ebenbürtigkeit" mit den anderen Organen der Verfassung, mit Regierung und Gesetzgeber. 39 Daß das Gericht einen „Anteil an der obersten Staatsleitung" habe, 4 0 ließ sich auf diese Weise nicht nur als Faktum konstatieren sondern zugleich als gerechtfertigt hinstellen. M i t seinem Vorrang bei der Verfassungsinterpretation, seinem „Letztentscheidungsrecht", steht es in der Tat sogar (als „vierte Gewalt"?) 4 1 über den anderen Verfassungsorganen. Dem kommt - drittens - auch die moderne Deutung des Gewaltenteilungsprinzips entgegen, die nicht mehr von einer klaren Unterscheidung der drei Staatsgewalten ausgeht, sondern unter dem Eindruck der das klassische Gewaltenteilungsschema sprengenden Verfassungsgerichtsbarkeit von der Vorstellung einer „gemischten Verfassung" - was den ehemaligen Bundesjustizminister Hans-Jochen 36
Willi Geiger, Recht und Politik im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, 1980, 6 f.
37
Zur „kompensatorischen" (Anm. 10), Rn. 544 f. m. w. Lit.
Funktion
des Verfassungsgerichts
s.
Schiaich/Korioth
38 So der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof zu seiner Tätigkeit in der FAZ Nr. 214 vom 14. 9. 2005. Vgl. dazu die eindringliche Kritik von H.-P Schneider, NJW 1999, 1303. 39
Vgl. G. Leihholz, JöR N F 6, 1957, 109 (111 f.); allgemein dazu Κ Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, Frankfurt a. M . 1988. Jetzt auch K. J. Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, 118 ff. 40 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rn. 566. 41 G. Roellecke, Aufgeklärter Positivismus, Heidelberg 1995, 91 (urspr. 1980 in einem Cappenberger Gespräch geäußert). Ähnlich W. Schmitt Glaeser, Das Bundesverfassungsgericht als „Gegengewalt" zum verfassungsändernden Gesetzgeber? in: J. Burmeister, Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, 1183.
14 FS Bartlsperger
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Vogel zu einer erneuten Warnung vor den Konsequenzen einer solchen Sichtweise veranlaßt hat. 4 2 Der Gedanke der Gewaltentrennung spielt für diese Auffassung nur noch insofern eine Rolle, als jeder der Gewalten ein eigenständiger „Kernbereich" zu wahren ist. Im übrigen wird, anders als es der Art. 20 Abs. 2 GG vorsieht, nicht von den dort unterschiedenen Funktionen der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgegangen, sondern von den mit ihrer Ausübung betrauten „Organen". Deren „Organstruktur" soll für das, was sie tun können und dürfen, maßgeblich sein 4 3 Das führt dann dazu, daß es als Verpflichtung für ein Organ erscheint, „ergänzend oder stützend tätig zu werden, wo ein anderes Organ zur vollen Erfüllung seiner Aufgaben nicht bereit oder in der Lage ist", wie bezeichnender Weise explizit auf das Verhältnis von Verfassungsgericht und Parlament bezogen behauptet w i r d 4 4 Oder noch schärfer formuliert: „ I m Zweifel ist das Organ zur Entscheidung legitimiert, das der Entscheidung strukturell am nächsten steht." 4 5 Ob dieser Rückschluß von der Organstruktur auf die Kompetenz, also ein struktureller Ansatz, noch dem funktionell-rechtlichen Anliegen entspricht, wie behauptet, dürfte zweifelhaft sein. Rechtfertigt er doch Korrekturen der Tatsachenfeststellung und Prognosen des Gesetzgebers dort, wo das Verfassungsgericht derartige Feststellungen zuverlässiger trifft, 4 6 wie auch jedwede, dem Gesetzgeber „Fehler" nachweisende Verfassungsinterpretation, da die juristisch gebildeten Richter das Geschäft der Auslegung j a zweifellos besser beherrschen als die Politiker im Parlament. Im Grunde genommen zieht die Eliminierung des klassischen Gewaltenteilungsprinzips dem funktionell-rechtlichen Ansatz den Boden unter den Füßen weg; denn der Ansatz lebt davon, daß Rechtsprechung und Gesetzgebung als zwei verschiedene Funktionen unterscheidbar bleiben. Das ist und insofern mag die neue Betrachtungsweise ihr Recht haben - heute freilich immer weniger der Fall.
42 H.-J. Vogel, NJW 1996, 1505. Zum modernen Gewaltenteilungsveständnis instruktiv Hesse (Anm. 40), Rn. 475 ff. Daß die klassische Gewaltenteilung grundlegend für eine klare Unterscheidung der Staatsfunktionen ist, die von einer normenkontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit in eklatanter Weise durchbrochen werde, betonte dagegen Forsthoff (Anm. 19), 132, 134. 43
Vgl. F. Ossenhühl, D Ö V 1980, 545 (548 f.). Diese Sichtweise findet sich zuerst bei S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, um das im Grundgesetz nicht genannte Phänomen der „Staatsleitung" einordnen zu können. Später wurde sie auch auf das Verhältnis Verfassungsgerichtsbarkeit - Gesetzgebung übertragen, um den Anteil des Bundesverfassungsgerichts an der „Staatsleitung" funktionell-rechtlich zu legitimieren. 44 4
Hesse (Anm. 4), 265.
5 A. Rinken, in: E. Denninger (Hrsg.), A K - G G , Neuwied, vor Art. 93, Rn. 99.
46
1971.
S. dazu K. J. Philippi,
Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, Köln
Verfassungsrechtsprechung ohne Grenzen?
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VI. Es verwundert bei alldem kaum, daß neuere Beurteilungen des funktionell-rechtlichen Ansatzes überaus skeptisch ausfallen. Sie reichen von der Feststellung, daß er „nicht vollständig überzeugend" sei, 4 7 über die Konstatierung, seine Ergebnisse seien „eher bescheiden" 4 8 bis hin zum Resümee, daß der Ansatz zur Kompetenzbeschränkung des Bundesverfassungsgerichts „ i n der Tat wertlos" sei. 4 9 Handelt es sich bei ihm also vielleicht um ein „magisches M i t t e l " 5 0 zur Beschwörung von Grenzen der Verfassungsrechtsprechung, die es nicht gibt? 1994 konstatierte jedenfalls der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon noch immer eine gewisse „Hilflosigkeit" beim Versuch, Grenzen der Verfassungsrechtsprechung zu finden. 5 1 Zur gleichen Zeit stellte Konrad Hesse fest, daß man in der Frage einer Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung „über Ansätze zu einer Lösung noch nicht hinaus gelangt" sei. 5 2 So sei der Gesetzgeber oft zu mehr verpflichtet als das Gericht kontrollieren könne. Aber das sei j a letztlich kein Manko; denn so heißt es etwas überraschend am Ende der erneuten Reflexion über die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in Umkehrung des bekannten Lenin-Zitates: „Kontrolle ist gut, Vertrauen auf den demokratischen Prozeß ist besser"! 5 3 Hesse schließt mit der Aufforderung, doch den Gesetzgeber gewähren zu lassen, weil der Schutz der Bürgerrechte bei ihm ja nicht in schlechteren oder gar unberufenen Händen liege - liegt darin eine Aufforderung zum richterlichen self-restraint zurückzukehren als letztem Mittel, dem drohenden „Jurisdiktionsstaat" zu entgehen? An Überlegungen, wie man die verfassungsgerichtliche Tätigkeit begrenzen könne, hat es gerade in letzter Zeit, in der dieses Problem zu einer Art Modethema juristischer Dissertationsliteratur geworden ist, nicht gefehlt. Sei es, daß man die Konzentrierung des Gerichts vornehmlich auf kassatorische Urteile empfiehlt 5 4 4
? Riecken (Anm. 7), 452.
4K Rau (Anm. 5), 245. 49 Hwang (Anm. 11), 184. so Heun (Anm. 9), 83. 51 H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. M a i h o f e r / H . J. Vogel (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., Berlin 1994, Rn. 46. 52 K. Hesse, Die verfassungsgerichtliche Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: H. Däubler-Gmelin u. a. (Hrsg.), Gegenrede: Aufklärung, Kritik, Öffentlichkeit, Festschrift für Ernst Gottfried Mahrenholz, Baden-Baden 1994, 541. Dort wird auch S. 554 wiederholt die mangelnde Trennschärfe zwischen gerichtlicher Kontrolle und Gesetzgebung beklagt, wie sie gerade durch die auf eine „objektive Dimension" der Grundrechte abhebenden Rechtsprechung verursacht wurde. Schärfer noch urteilt über die Normenkontrolle als theoretisch nicht fundiert und methodisch nicht abgesichert K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Berlin 1987, 214.
« Hesse, ebd. 559. 54 Heun, Normenkontrolle (Anm. 10), 617. So auch D. O. Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, Berlin 2004, 316 (mit Vorschlag einer „prozedualen Kontrolltheorie", vgl. S. 312).
14*
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oder sich von der Beachtung des Demokratieprinzips eine Schranken setzende Wirkung verspricht 55 oder aber in einer Kombination von strikter Bindung der Verfassungsrechtsprechung an die Verfassungsnormen mit einer Konzentrierung auf den zu entscheidenden Fall das Heil zu finden glaubt 5 6 - immer wieder geht es darum, zu juristisch akzeptablen Lösungen zu kommen, ohne indessen eine überzeugende anbieten zu können. Denn ganz offensichtlich sind die Grenzen zwischen Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung fließend, können es bei einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle auch nicht anders sein, und es liegt am Verfassungsverständnis des Richters und an seiner Auffassung von den Aufgaben einer Verfassungsgerichtsbarkeit, wie weit er in die Tätigkeit des Gesetzgebers eingreifen zu dürfen glaubt. Korrigiert wird hier möglicherweise ein „zuviel" durch die Beurteilung der Richterkollegen, wie sie sich zuweilen recht drastisch in abweichenden Voten äußert, in denen nahegelegt wird, richterlichen self-restraint zu üben: 5 7 Die Aufforderung zur Selbstbescheidung - ein nicht eliminierbares „evergreen"? 5 8 In der Tat scheint es sich hierbei um den einzig gangbaren Weg zu handeln. Die Einwände, die dagegen geltend gemacht werden, sind nicht stichhaltig. Selbstbescheidung in Fällen, in denen die Entscheidung des Gesetzgebers respektiert werden kann (und von einer Minderheit der Verfassungsrichter respektiert wird), bedeutet ja nicht Verzicht auf „entschlossenes Eingreifen" dort, wo dies notwendig erscheint; das hängt von der Gegebenheit des Falles ab. Selbstbescheidung bedeutet auch nicht „Justizverweigerung"; denn es geht ja nicht darum, keine Entscheidung zu fällen, sondern die des Gesetzgebers zu akzeptieren und das im eigenen Urteil zum Ausdruck zu bringen. Natürlich liegt in der Selbstbescheidung etwas Subjektives, weil sich keine rechtlich verbindlichen Grenzen für die richterliche Tätigkeit festlegen lassen, doch scheinen es immer wieder gerade Praktiker zu sein, die aus ihrer Erfahrung heraus für ein derartiges Verhalten plädieren. 59 Selbstbescheidung als das „ A und 0 tiefer richterlicher und politischer Weisheit", 6 0 als das „Lebenselixier" der Verfassungsrechtsprechung: 61 Auch die das als unzureichend ablehnende Theorie nimmt am Ende dann doch immer wieder Rücksicht auf das dogmatisch nicht Fixierbare, so wenn vorsichtig davon die Rede ist, daß das Gebot richterlicher Zurückhaltung (nur) „ i n seiner Allgemeinheit" falsch sei, 6 2 oder wenn vom „dezisionistischen Element" gesprochen wird, das jeder EntscheiZ. B. Klecken (Anm. 7), 503 f. 56 Hwang (Anm. 11), 231. 57 Vgl. das abw. Votum Böckenfördes, in: BVerfGE 93, 121 (149, 151) und früher schon Rupp-von Brünneck/Simon in: BVerfGE 39, 1 (69, 73). ss So Schuppert (Anm. 20), 1191. 59 Vgl. für viele M. Bertrams, Stern (Anm. 41), 1027.
Verfassungsgerichtliche Grenzüberschreitungen, in: FS
60 H. Ehmke, V V D S t R L . 20, 1963, 97 f. 61 G. Leibholz, ebd. 119. 62 Hesse (Anm. 4), 264.
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dung innewohne, oder wenn darauf aufmerksam gemacht wird, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit „eine Grenze ihrer Funktion in dem Gebot der Respektierung der Aufgaben der anderen Gewalten" finde. 6 4 Es handele sich hierbei um eine Frage des „juristischen Taktes", meinte schon einer der Altmeister der Staatsrechtswissenschaft, Richard Thoma, 6 5 heute wird „Fingerspitzengefühl" empfohlen, 6 6 oft ist auch von der Selbstbescheidung als einer „Tugend" die Rede. Gewiß, das sind keine Argumente in einem strikten rechtlichen Sinne; sie deswegen aber etwas abschätzig als bloße „moralische Gebote" abzutun, führt zu w e i t . 6 7 Wir tun uns zwar schwer, solche Überlegungen und Aufforderungen als rechtlich relevante zu begreifen und rechnen ihnen entsprechende Haltungen, weil juristisch nicht sanktionierbar, eher der „Verfassungskultur" zu. Darin liegt fraglos ein Rest positivistischen Rechtsverständnisses; 68 denn vielleicht ist der Unterschied zwischen Verfassungskultur und Verfassungsrecht nicht so scharf, als daß man gewisse bei der Rechtsausübung zu erwartende Verhaltensweisen nicht auch als dieser inhärent bezeichnen und daher aus Rechtsgründen einfordern könnte.
63 Murswiek (Anm. 7), 532; Zeitler (Anm. 5), 632. 64 Hesse (Anm. 4), 266. 65 R. Thoma, AöR 43 (1922), 267 (275). 66 Heun, Normenkontrolle (Anm. 10), 639. 6v So aber z. B. Hwang (Anm. 11 ), 229. 68 Was man nach dem Vorbild der Smendschen „Bundestreue" mit der Figur der „Verfassungsorgantreue" als Pflicht der Verfassungsorgane zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Rücksichtnahme zu überwinden sucht, vgl. grundsätzlich W. R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue, Berlin 1977, sowie jetzt R. A. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001 und - gegen die Kritik am Bundesverfassungsgericht gewandt - A. Voßkuhle, NJW 1997,
2216.
Der Punkt als Norm - Rechtsschutz gegen Flugrouten und Warteschleifen Von Max-Emanuel
Geis, Erlangen
I. Einführung 1. Der Fall Unique Zurich Airport A m 31. Mai 2001 war es zu einem Paukenschlag im sonst ruhigen deutschschweizerischen Nachbarschaftsverhältnis gekommen: Die Bundesregierung hatte den bestehenden „Staatsvertrag" von 1984 gekündigt, in dem die Verkehrslenkung im Luftraum bis zu 20 km nördlich der deutsch-schweizer Grenze an die Schweizer Flugsicherung Swisscontrol (seit Nov. 2000: SkyGuide) abgetreten worden war. Der zielstrebig verfolgte Ausbau des Unique Zurich Airport zu einer internationalen Luftverkehrsdrehscheibe hatte in wenigen Jahren zu einem massiven Anstieg der Flugbewegungen geführt - allein von 1998 bis 2000 von 240000 auf 300000. A u f Betreiben der Swisscontrol war im Mai 2000 das Anflugholding Schaffhausen durch das Luftfahrtbundesamt ( L B A ) nach Donaueschingen verlegt und dort eine neue Warteschleife namens R I L A X geschaffen worden, zusätzlich zu den bestehenden Anflugpunkten SAFFA über Singen und EKR1T über Waldshut. Der Schweizer Bundesrat hatte überdies die Lärmgrenzwerte für den Flughafen um 5 Dezibel erhöht, um eine noch bessere Auslastung des Airports zu ermöglichen. Zum Konfliktfall mit den deutschen Nachbarn wurde dies, weil bis Mitte 2001 Anflug und Warteflug - tagsüber zu 90% und nachts zu 100% - unter weitgehender Ausklammerung Schweizer Luftraums (insbesondere der sog. „Goldküste" am Zürchersee) stattfanden. Stillschweigend war zudem die Zuständigkeit der SkyGuide bis 30 km nach Norden verschoben worden. Dagegen hatten Anwohner und Gemeinden der z. T. nur 15 km Luftlinie entfernten betroffenen deutschen Gebiete massive, unzumutbare Belastungen durch Fluglärm und Rückstände unterschiedlicher Art geltend gemacht. Damit stellte sich die Frage nach Rechtsschutz gegen die Anflugrouten und Warteschleifen auf Schweizer wie deutscher Seite. Entsprechende Klagen von deutscher Seite gegen den Flughafenausbau wurden vom Schweizer Bundesgericht in Lausanne jedoch sämtlich abgewiesen. Der am 18. 10. 2001 unterzeichnete neue Staatsvertrag sah eine Reduktion der Nachtflugbewegungen und eine Kontingentierung der Flugbewegungen vor, die allerdings von beiden Seiten als unzureichend angesehen wurde und vom Schweizer Bundesrat nicht angenommen wurde. Auch das BVerwG hat entsprechende Klagen als
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unbegründet abgewiesen. 1 Immerhin ist seit April 2005 der Konflikt - nach erheblichen Protesten aus der Bevölkerung beiderseits der Grenzen - durch eine gänzlich neue Luftraumstruktur für den Raum Zürich politisch entschärft worden. 2
2. Der Fall Frankfurt Airport Durch die 5. Ä n d V O zur LuftVO vom 18. 5. 2004 war - nach vorausgehenden Proberegelungen - der Abflugverkehr des Frankfurter Flughafens maßgeblich geändert worden: Flugzeuge mit hoher Steigrate, die an einem Punkt „ R " eine Höhe von 3500 Fuß erreicht hatten, mussten unmittelbar von dort auf einen nördlichen Kurs parallel zur A 3 abdrehen (F-Routen), während der Rest wie bisher eine weite Schleife über den Raum Mainz/Wiesbaden drehen konnte. Dadurch wurde der bislang breit gestreute Hauptverkehrsstrom im Bereich der neuen F-Routen stark gebündelt; dies führte im Bereich der betroffenen Ortschaften bzw. Grundstückseigentümer zu einem mittleren Dauerschallpegel von 4 4 - 4 9 dB(A) am Tag und von 3 6 - 4 1 dB(A) bei Nacht. 3 Gemeinden und Grundeigentümer wendeten sich gegen die Festsetzung der neuen Flugrouten, weil in der Abwägungsentscheidung ihre Lärmschutzinteressen nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Der V G H Kassel hatte den Klagen teilweise stattgegeben, 4 das BVerwG hat die Klagen im Revisionsverfahren wiederum als unbegründet abgewiesen. 5 Die genannten Problemkreise sind nur auf den ersten Blick solche eines eher entlegenen Bereichs des Besonderen Verwaltungsrechts. Tatsächlich berühren sie nicht nur verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundfragen des Rechtsschutzes, sondern veranlassen auch zu einer Reflexion über das Wesen von Abwägungsentscheidungen. Sie sind damit in einem Gebiet angesiedelt, in dem der Jubilar einen markanten Schwerpunkt seines Schaffens in Forschung, Lehre und Politikberatung gesetzt hat. Aus Raumgründen sind die folgenden Anmerkungen vorwiegend auf die prozessualen Implikationen fokussiert.
II. Die Regelung von Flugrouten und Warteschleifen 1. Rechtsgrundlagen Flugrouten (Anflug- und Abflugrouten) 6 werden als Rechtsverordnung 7 des Bundes nach § 32 Abs. 1 Nr. 1 LuftVG und § 27a Abs. 2 S. 1 LuftVO erlassen. Die ι BVerwG, U. v. 26. 11. 2003 - 9 C 6.102 = DVB1. 2004, 382. 2
Dazu aktuell http://www.skyguide.ch/de/Dossiers/Dossier_DV03 .
3
BVerwG, U. v. 24. 6. 2 0 0 4 - 4 C 15/03 = N V w Z 2004, 1229.
4
HessVGH, U. v.l 1. 2. 2 0 0 3 - 2 A 1062/01 = N V w Z 2003, 875 ff.
5 BVerwG, N V w Z 2004, 1229.
Der Punkt als Norm
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Verordnungszuständigkeit ist nach § 32 Abs. 3 S. 3 LuftVG auf das Luftfahrtbundesamt ( L B A ) delegiert. In der Praxis bestimmt allerdings die Deutsche Flugsicherung GmbH (DFS) die konkreten Schneisen und Lufträume, 8 das Luftfahrtbundesamt übernimmt diese Routenfestlegung lediglich als Norm. Durch die Verordnung werden die Routen für die Piloten als Sonderfall rechtssatzmäßiger Verkehrsregelungen für Luftfahrzeuge verbindlich. Im grenzüberschreitenden Bereich an Bodensee und Hochrhein sind die Aufgaben der DFS der Schweizer Flugsicherung SkyGuide übertragen; auch insoweit fungiert das L B A nur als „Vollzugsorgan". Zu unterscheiden sind die An- und Abflugrouten von den Zonen der unmittelbaren Start- und Landebahnen einschließlich der dazu gehörenden Schutzstreifen und Sicherheitsflächen nach § 12 Abs. 1 LuftVG; diese werden im Planfeststellungsbeschluß nach § 8 L u f t V G festgestellt. Weiter sind von den Flugrouten zu unterscheiden die Anflugsektoren nach § 12 LuftVG, die sich beiderseits der Außenkanten der Sicherheitsflächen mit einem Öffnungswinkel von 15° anschließen und bei Hauptstart- und -landeflächen in einer Entfernung von 15 km enden. Ihre Festlegung ist Voraussetzung einer Planfeststellung; sie regeln aber nicht den Luftverkehr, sondern begründen lediglich eine Zustimmungspflicht des L B A bei Bauvorhaben. 9 Diese Unterscheidung ist schon deshalb von Bedeutung, weil für die Planfeststellungsverfahren als Gegenstand der Bundesauftragsverwaltung (Art. 87d Abs. 2 GG) gemäß § 10 L u f t V G die nach Landesrecht zuständigen Behörden 1 0 zuständig sind, während die Verordnungen nach § 32 Abs. 1 Zf. 1 L u f t V G - wie erwähnt - vom L B A als Delegatar erlassen werden. Dies führt zu einem typischen Juristenproblem: Während in der Realität Start und Abflug bzw. Anflug und Landung jeweils einen einheitlichen Vorgang darstellen, schaffen die Juristen „zwei Welten, die sich nicht begegnen" 11 , ungeachtet der Tatsache, dass die Flugroutenfestlegung von der Ausrichtung der planfestgestellten Start- und Landebahnen und dem Radius großer Verkehrsmaschinen abhängig sind.
6 Der Begriff der Flugroute ist kein rechtlicher, sondern bezeichnet letztlich ein Bündel unterschiedlicher Vorgaben für den Piloten; vgl. dazu P. Wysk, Z L W 1998, 285 (286). 7
Str.; nach D. Czybulka, Festlegung von Flugrouten und Flughafenplanung, in: J. Ziekow (Hrsg.) Flughafenplanung, Planfeststellungsverfahren, Anforderungen an die Planungsentscheidung, Berlin 2002, S. 9 (20), und A. Kukk, N V w Z 2001, 407 (409), soll eine Allgemeinverfügung vorliegen. Überzeugend hiergegen U. Repkewitz, VB1BW 2005, 1 (9), unter Hinweis auf H. W. Laubinger, Das „Endiviensalat-Urteil" - eine Fehlentscheidung?, in: H.-W. Arndt et alii (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht, Festschrift für Walter Rudolf zum 70. Geburtstag, München 2001, 305/321 m. w. Nw. « Wysk (Anm. 6), 289; Repkewitz (Anm. 7), 10. 9
M. Hofmann/E. Rn. 13.
Grabherr,
Luftverkehrsgesetz, München, Loseblatt, Stand 2002, § 12
10 In der Regel die höhere Verwaltungsbehörde (vgl. etwa § § 1 , 3 ZustVOLVG BW; § 27 Abs. 1 Zf. 20 BayZustVVerk), also meist die (Bezirks-)Regierung.
" Repkewitz (Anm. 7), 8. vgl. auch schon D. Czybulka/T. (1039).
Wandres,
D Ö V 1990, 1033
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Auch Warteschleifen werden durch Rechtsverordnung nach § 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 L u f t V G und § 27a LuftVO eingerichtet, und zwar in Form eines sog. „Navigationspunktes", um den die Flugzeuge in verschieden hohen Etagen kreisen, bis sie von der Flugsicherung ihre Landeerlaubnis bekommen: Der Punkt als Norm.
2. Flugroutenfestsetzungen als Abwägungsentscheidungen Nach Wortlaut und Genese handelt es sich bei den Regelungen über die Luftaufsicht im Luftverkehrsgesetz und den darauf fußenden Verordnungen um Sicherheitsrecht (§ 29 Abs. 1, § 27c Abs. 1 L u f t V G ) . 1 2 Dies intendiert prinzipiell eine konditionale Entscheidungsstruktur. Dies ist insofern inkonsequent, als Entscheidungen über Planung und Bau von terrestrischen Verkehrswegen (Straßen, Eisenbahnen, Wasserstraßen) wegen der multipolaren Interessenlage regelmäßig eine konfliktbewältigende planerische Abwägung und damit ein Planfeststellungsverfahren erfordern. Im Luftverkehrsbereich wird dagegen scharf zwischen Flughafenplanung und -bau einerseits, der Flugroutenfestsetzung andererseits unterschieden. Doch ist die Situation der anderer Verkehrswege durchaus vergleichbar, kommt es doch auf den so festgelegten An- und Abflugrouten und Warteschleifen naturgemäß zu erheblichen Lärm- und Immissionsbelastungen für die Anwohner, die zudem von der Oberflächenbeschaffenheit und den Wetterverhältnissen beeinflusst werden. Bei den ersteren wird die Belastung durch das Ansteigen bei erhöhtem Kraftstoffverbrauch bzw. das Absinken der Flughöhe und die „Bündelung" der im Minutentakt erfolgenden Flugbewegungen erzeugt. Im zweiten Fall erzeugt die zeitlich andauernde Präsenz von meist mehreren Flugzeugen in verschiedenen „Etagen" eine deutliche Schadstoffkonzentration im betroffenen Bodenbereich. Nach langer Zurückhaltung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung daher schließlich anerkannt, dass bei der Flugroutenfestlegung ebenfalls eine Abwägungsentscheidung zu treffen sei. 1 3 Dies habe der Gesetzgeber in § 29 b Abs. 2 LuftVG zum Ausdruck gebracht, nach dem Luftfahrtbehörden und Flugsicherungsstellen verpflichtet seien, auf den Schutz der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm hinzuwirken. Mangels ausdrücklicher Normierung im LuftVG folge dies unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip.
12 E. Giemulla/U. Rn. 3.
Lau/W.
Mölls/R.
Schmid, Luftverkehrsgesetz, Frankfurt a. M., § 29
ι* BVerwGE 111, 276 (280) (11. Senat) - Flughafen K ö l n / B o n n ; BVerwG, DVB1. 2004, 382 (386) (4. Senat) - Zürich; BVerwG N V w Z 2004, 1229 (9. Senat) - Frankfurt; HessVGH, N V w Z 2003, 875 ff. Zur Entwicklung der Judikatur T. Heilshorn/R. Pfaff, N V w Z 2004, 412 ff.
Der Punkt als Norm
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III. Entwicklungsstufen des Rechtsschutzes gegen Flugrouten und Warteschleifen Angesichts der offensichtlichen Betroffenheit der Anwohner ist die Frage nach Rechtschutzmöglichkeiten gegen Flugroutenfestlegungen nur natürlich. Dabei sind es drei Problembereiche, mit denen sich die Judikatur auseinanderzusetzen hatte: Einmal die Frage nach der Statthaftigkeit der richtigen Klageart, zum zweiten die Frage, welche subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt sein und so eine Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 V w G O begründen können, schließlich drittens die Frage nach dem materiellen Maßstab der Überprüfung.
1. Das Problem der Statthaftigkeit Bis vor einigen Jahren war das Problem statthaften Rechtsschutzes keines: Es gab praktisch keinen. Da Entscheidungen über Flugrouten und Warteschleifen nach § 32 LuftVG, § 27a LuftVO als Bundesverordnungen ergehen und „self-executing" sind, also keiner Vollzugsakte bedürfen, kommt eine Inzidentprüfung nicht in Betracht. Das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren nach § 47 V w G O sieht eine Überprüfung von Bundesrechtsverordnungen nicht vor (arg e Abs. 1 Z f . l ) und ist auch nicht analogiefähig. 14 So hatte es jedenfalls der B a y V G H gesehen: 15 Drei Gemeinden und zwei Einwohner hatten dagegen geklagt, dass Abflüge vom neuen Flughafen München über ihre Gemeindegebiete führten, ohne dass dies zuvor i m Planfeststellungsbeschluss zur Errichtung des Flughafens festgelegt worden sei. Der V G H bejahte zwar seine erstinstanzliche Zuständigkeit nach § 48 Abs. 1 S. Nr. 6 VwGO, wies aber die Anfechtungsklagen als unstatthaft ab, weil eben eine Bundesnorm vorläge. Die in der Literatur vertretene Ansicht, 1 6 daß die Rechtsverordnung materiell gesehen eine verkappte Allgemeinverfügung sei, und daher entweder aus dem Gesichtspunkt des Formenmißbrauchs oder nach dem Günstigkeitsprinzip mit der Anfechtungsklage anfechtbar sei, ließ der B a y V G H nicht gelten. Komme in bestimmten Konstellationen sowohl eine Rechtsverordnung als auch eine Allgemeinverfügung in Betracht, so habe der Gesetzgeber zwischen beiden eine Wahlmöglichkeit. Entscheide sich das Gesetz dann für den Normcharakter, richte sich auch der Rechtsschutz hiernach. Ein Rechtsschutzdefizit im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG sah der B a y V G H auch bei unmittelbarer Verbindlichkeit der Verordnung nicht; schließlich bleibe den Klägern der Weg der Verfassungsbeschwerde offen.
14
M. Gerhardt, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/ R. Pietzner, V w G O , München, Loseblatt, Stand 2003, § 47 Rn. 11. 15 BayVGH, N V w Z - R R 1995, 114 - Gerichtsbescheid vom 30. 11. 1993. 16 Czybulka/Wandres Anm. 43.
(Anm. 11), 1037 ff.; J. Bohl, N V w Z 2001, 764, 765; vgl. auch
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Unter Bezugnahme auf den B a y V G H hatte auch das O V G Lüneburg den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen eine Abflugstrecke des Flughafens Hannover abgelehnt und den Antragsteller auf eine Verfassungsbeschwerde verwiesen. Der unterlegene Antragsteller trat nach dieser Aufforderung zum Tanz umgehend den Gang nach Karlsruhe an. In seinem Kammerbeschluss vom 2. 4. 1997 zog das Bundesverfassungsgericht indes die Notbremse - ersichtlich in Sorge, zum erstinstanzlichen Luftverkehrsverordnungsüberprüfungsgericht zu mutieren 1 7 und lehnte die Annahme wegen Subsidiarität (!) der Verfassungsbeschwerde ab. Dieser Grundsatz verlange über die Rechtswegerschöpfung hinaus, dass der Beschwerdeführer alle Möglichkeiten des Rechtsschutzes ausgeschöpft haben müsse, bevor er Verfassungsbeschwerde erhebe. Das gelte namentlich für den Rechtsschutz gegen unmittelbar wirkende Normen. 1 8 Gleichwohl garantiere Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG Rechtsschutz gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt, die in Individualrechte eingreifen könnten. Seine Gewährleistung sei nach § 40 V w G O primär Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit. 19 Ausführungen zur in diesem Fall statthaften Klageart hat sich das BVerfG als Ausdruck prozessrechtlichen self-restraints versagt. Das Bundesverwaltungsgericht musste in seinem Urteil vom 28. 6. 2 0 0 0 2 0 wohl oder übel den Ball aufnehmen. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des O V G / V G H nach § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 V w G O wurde bestätigt. Zum „Betrieb des Flughafens' 4 zählte das Gericht in extensiver Auslegung nicht allein die Rechte und Pflichten des Flughafenbetreibers, sondern darüber hinaus alle mit dem Betrieb eines Flughafens untrennbar verbundenen Entscheidungen und Neben verfahren, also auch die Anflugroutenfestlegungen. Als statthaft sah das Gericht die Feststellungsklage nach § 43 V w G O an. Weil auch der exekutive Verordnungsgeber Teil der öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG sei, und insofern der Rechtsschutzgarantie unterliege, entfalte § 47 V w G O keine systematische Sperrwirkung für die Überprüfung anderer, unmittelbar geltender Normen. Allerdings sei eine Leistungsklage auf Aufhebung der Norm unstatthaft, weil sie die Rechtswidrigkeit der Norm voraussetze. Liege diese aber vor, habe sie zwingend die Nichtigkeit zur Folge. Eine nichtige Norm könne schließlich nicht aufgehoben werden. Auch § 47 V w G O folge dieser Ratio. Konsequent hat der HessVGH § 123 V w G O als statthafte Form einstweiligen Rechtsschutzes im Verfahren Frankfurt angesehen. 21
•7 BVerfG N V w Z 1998, 169; dazu Bohl (Anm. 16), 764. ι» BVerfGE 71, 305 (334 f.); 74, 69 (74). 19 So hat auch das BVerwGE 80, 355 (358 f.) betont, dass der Verwaltungsrechtsweg auch dann nicht verschlossen ist, wenn es für eine Entscheidung auf die Gültigkeit oder gar Verfassungsmäßigkeit einer untergesetzlichen Norm ankommt. Die mögliche Verfassungswidrigkeit einer solchen Norm könnten die Gerichte in ihren Entscheidungsgründen selbst feststellen, ohne mit dem Verwerfungsmonopol des BVerfG in Konflikt zu geraten.
20 BVerwGE 111, 276 (278 f.) - Flugroutenfestlegungen am Flughafen K ö l n / B o n n . 21 Der Antrag wurde allerdings als unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache abgelehnt; HessVGH (B.v.18. 4. 2001), N V w Z 2001, 826 f.
Der Punkt als Norm
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Im Urteil „Zürich-Airport" vom 26. 11. 2003 hat der Senat seine Linie bekräft i g t 2 2 ; der 4. Senat hat sie im „Frankfurt-Airport-Urteil" vom 24. 6. 2004 2 3 sogar noch ausgedehnt: Zum einen durfte die Klage auf die erst während des Revisionsverfahrens ergangene 5. Ä n d V O erstreckt werden. Zum anderen stehe die Subsidiaritätsklausel des § 43 Abs. 2 V w G O dann nicht entgegen, wenn sich durch die Feststellungsklage ein noch weitergehender Rechtschutz erreichen lasse als durch eine Anfechtungsklage - nämlich dann, wenn dadurch eine Vielzahl potentieller Einzelprozesse vermieden wird, für die die Rechtswidrigkeit der Verordnung allenfalls eine Vorfrage sei. Damit vertieft das Gericht die (alte) Doktrin, dass ein grundsätzlich j a nur inter partes geltendes Urteil wegen der Gesetzestreue der Verwaltung 2 4 realiter inter omnes wirken wird - , es führt also eine faktisch allgemeine Bindungswirkung ein.
2. Das Problem der Klagebefugnis Zweite Hürde ist die Klagebefugnis, die nach der Rechtsprechung auch bei Feststellungsklagen gegeben sein muss (§ 42 Abs. 2 V w G O analog). 2 5 Dies erfordert die Suche nach einem verletzten subjektiven Recht, genauer: einer drittschützenden Norm. Der Diskussionsstand hierüber ist weit gefächert. Der BayVGH und das O V G Berlin lehnen einen Drittschutz ab; sie sehen als Begünstigten der Norm nur die Allgemeinheit, was sich aus dem weiten Begriff der „Bevölkerung" ergebe. 2 6 Dafür spricht immerhin der Vergleich mit ähnlichen Normen wie § 4 BImSchG. Entgegengesetzt wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass bereits die gesetzlichen Planungsermächtigungsnormen drittschützend sein könnten. 2 7 Allerdings lässt sich der Planungscharakter weder im Wortlaut des § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 L u f t V G noch in § 27a LuftVO festmachen. Damit erfüllt keine der Normen das klassische Schutznormkriterium, nämlich den Interessen klar abgrenzbarer Dritter zu dienen. Überdies bezieht sich speziell 22 BVerwG DVB1. 2004, 382 (jetzt als 9. Senat firmierend). 23 BVerwG N V w Z 2004, 1229. 24 Vgl. schon BVerwGE 51, 69 (75); B G H NJW 1984, 1118 f.; unentschieden dagegen BVerwG, N V w Z - R R 1998, 302. Krit. zu so euphemistischem Vertrauen F. Kopp/W.-R. Schenke, V w G O , 13. Aufl., München 2003, § 43 Rn. 28, und M. Happ, in: Eyermann, V w G O , 11. Aufl., München 2000, § 43 Rn. 43. 25 Etwa BVerwG, NJW 1982, 2205; N V w Z 1989, 470; N V w Z 1991, 470 f. Die Literatur ist sehr zerstritten, zum Streitstand H. Sodan, in: ders./J. Ziekow (Hrsg.), N O M O S - K o m mentar zur V w G O , Baden-Baden, Loseblatt, Stand Januar 2003, § 42 Rn. 363 ff., § 43 Rn. 72. 26 BayVGH, BayVBl. 1994, 661 (664) - Flughafen München; O V G Berlin, DVB1. 1997, 73 - Flughafen Tegel, ebenso Hofmann /Grabherr (Anm. 9), § 29b Rn. 3; R. Wolf rum, N V w Z 1990, 237 ff. Unentschieden bei Giemulla et alii (Anm. 12), § 29b Rn. 2. 27 M. Schmidt-Preuß, Fachplanung und subjektiv-rechtliche Konfliktschlichtung, in: W. Erbguth et alii (Hrsg.), Planung, Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, München 2000, S. 1071 (1080 ff.).
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§ 32 Abs. 3 eindeutig auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung, also auf ein klassisch objektives Rechtsgut. Czybulka und das V G Münster sehen den Drittschutz schließlich im Wortlaut des § 29b Abs. 2 LuftVG angelegt: 28 „ D i e Luftfahrtbehörden und die für Flugsicherung zuständige Stelle haben auf den Schutz der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm hinzuwirken".
Das Bundesverwaltungsgericht geht indes auf diese Kontroverse so nicht ein, sondern beschreitet einen anderen Weg: Das „Entscheidungsprogramm" der Rechtsverordnung nach § 32 L u f t V G weise die Merkmale einer staatlichen Planungsaufgabe auf, bei der die in der räumlichen Umgebung des Flughafens auftretenden Probleme und Interessenkonflikte bewältigt werden müssen. 29 Damit knüpft das Gericht an seine Leitentscheidung im 56. Band an: Aus dem Wesen dieser Planungstätigkeit folge ein rechtsstaatliches allgemeines Abwägungsgebot, das weder fachgesetzlich geregelt sein müsse noch von einer bestimmten Handlungsform abhänge. 30 § 29b ist also nicht Voraussetzung, sondern Konkretisierung dieses allgemeinen Abwägungsgebots. Wie aber hält es das Gericht mit der drittschützenden Wirkung dieses allgemeinen planerischen Abwägungsgebots? Diese Frage ist im Rahmen dieser Festschrift umso einschlägiger, als der Jubilar in seinen Schriften 31 einen unkonturierten Drittschutz stets abgelehnt hat. Das Bundesverwaltungsgericht hatte bis dahin eine drittschützende Wirkung des Abwägungsgebots in der Fachplanung nur anerkannt, wenn es sich auf rechtliche geschützte Belange der Betroffenen bezog. 3 2 Die Entscheidung des 4. Senats vom 24. 9. 1998 hatte jedoch im Bauplanungsrecht eine Wende eingeleitet: dem Abwägungsgebot des § 1 Abs. 7 BauGB wurde drittschützender Charakter hinsichtlich aller abwägungserheblicher privater Belange eingeräumt, ohne dass diese selbst rechtlich geschützt sein müssten. 33 Gemessen an dieser Entscheidung müsse dem rechtsstaatlichen Abwägungsgebot erst recht drittschützender Charakter zukommen, weil es nach dem Vortrag des Klägers auf der Hand liege, dass „nach Lage der Dinge" der Schutz seiner Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und seines Eigentums (Art. 14 GG) in die Abwägung eingestellt werden müssten. 34 Diese Passage ist allerdings recht unklar gehalten; gemeint ist wohl eine Herleitung des Drittschutzes über ein argumentum a minore ad maius. 2« D. Czybulka, D Ö V 1991, 410 f.; ebenso schon V G Münster, N V w Z 1990, 290. 29 BVerwG NJW 2000, 3584, 3585. 30 BVerwGE 56, 110(122). 31 Vgl. insb. R. Bartlsperger, Die Straße im Recht des Umweltschutzes, in: Dokumentation zur wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht 1979, Hamburg 1980, S. 54, 60 ff.; ders., Das Abwägungsgebot in der Verwaltung als objektives individualrechtliches Erfordernis konkreter Verhältnismäßigkeit, in: W. Erbguth et alii (Hrsg.), Abwägung i m Recht, Symposium und Verabschiedung von Werner Hoppe, Köln 1996, S. 79 (86 ff.).
32 BVerwGE 48, 56 (66) - Β 42-Entscheidung; vertieft in E 67, 74 -Wittenberg. 33 BVerwGE 107, 215 ff. Dies war freilich auch die Reaktion der Rechtsprechung auf die Verschärfung der Antragsbefugnis in § 47 Abs. 2 V w G O .
34 BVerwG, NJW 2000, 3584 (3585).
Der Punkt als Norm
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Die durchaus pragmatische Begründung des BVerwG ist ebenso plausibel wie zeitgemäß, zieht sie doch die Konsequenz aus dem Wandel der Funktion der Rechtsverordnung nach § 32 LuftVG: Ursprünglich als rein technisch-sicherheitsrechtliche Norm konzipiert, machte die technische und infrastrukturelle Entwicklung des Flugverkehrs es unumgänglich, auch die Auswirkungen auf Natur, Landschaft und Betroffene in die Entscheidung mit einzubeziehen. Zugleich beseitigt das Gericht damit die Inkonsequenz, dass bei allen anderen infrastrukurellen Planungen (Autobahnen, Schienenwege, Wasserstraßen) der gesamte Trassenverlauf eine planerische Entscheidung erfordert, während das Luftverkehrsrecht dies bislang auf Anfangs- und Endpunkt (also die Flughäfen) beschränkte und den Weg von A nach Ζ sicherheitsrechtlich regelte. Die Ansiedelung des Drittschutzes im allgemeinen Abwägungsgebot geht allerdings zu Lasten des § 29b Abs. 2 LuftVG. Ihm billigt das Gericht keinen Drittschutz zu; die Vorschrift konkretisiere lediglich das Abwägungsgebot im Sinne eines abwägungserheblichen privaten Belanges, vergleichbar einem Gegenstand des § 1 Abs. 6 BauGB. Daher löst eine Rechtsverordnung, die eine unzumutbare Lärmbeeinträchtigung zur Folge hat, noch nicht automatisch den Drittschutz aus; es ist ja nicht ausgeschlossen, dass dies Ergebnis einer korrekten Abwägung ist. Die Möglichkeit eines Abwägungsfehlers muss daher substantiiert werden. Beruhe freilich die unzumutbare Lärmbeeinträchtigung auf unzureichender Sachaufklärung und infolgedessen fehlerhafter Abwägung, sei eine Rechtsverletzung ausreichend substantiiert dargelegt, die Klagebefugnis also gegeben. Dies sei auch verfassungsrechtlich unbedenklich, da ja insofern Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber der Flughafengenehmigung bzw. -planfeststellung bestünden, so etwa die Möglichkeit, auf den Erlass (auch nachträglicher) Schutzanordnungen nach § 75 Abs. 2 S. 2 V w V f G zu klagen; 3 5 dabei sei namentlich an flugverkehrsbeschränkende Auflagen zu denken. Stellte das BVerwG also 2001 noch erhebliche Anforderungen an den Drittschutz, so werden diese durch das Zürich- und das FrankfurtUrteil von 2003 und 2004 deutlich reduziert. Dort heißt es lapidar: Die Klagebefugnis sei nur dann nicht gegeben, wenn subjektive Rechte offensichtlich und eindeutig nicht verletzt sein könnten; das Interesse, vor Fluglärm ohne Rücksicht auf den Grad der Beeinträchtigung bewahrt zu bleiben, habe insofern ausreichende rechtliche Relevanz. 3 6 Eine vertieftere Normauslegung erfolgt nicht mehr. A u f die Frage des besonderen Feststellungsinteresses, das bis dato meist das Hauptproblem der Zulässigkeitsprüfung darstellte, 37 gehen die Urteile überhaupt nicht mehr ein.
Hofmann/Grabherr
(Anm. 9), § 9 Rn. 80 ff.
36 BVerwG DVB1. 2004, 382/383 f.; N V w Z 2004, 1229. 37 Zur Abgrenzung von Klagebefugnis und Feststellungsinteresse J. Pietzcker, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner, V w G O , Loseblatt, München, Stand 2003, § 43 Rn. 28 f., 32 ff. m. w. Nw.
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3. Der Maßstab der Begründetheit Die Zulässigkeit der Feststellungsklage ist jedoch nur ein Etappensieg. Bei der Begründetheit legt das BVerwG nämlich die Hürde sehr hoch. Es ist zunächst konsequent, wenn das Gericht angesichts des planerischen Charakters von Flugroutenfestsetzungen die Begründetheit der Abwägungsdogmatik unterwirft. Allerdings sollen Lärmschutzbelange keinesfalls eine vergleichbare Rolle wie bei der Fachplanung spielen. Zum einen sei nach der Wertung des § 29b Abs. 2 L u f t V G nicht jeder Lärm oberhalb der Geringfügigkeits- bzw. Vermeidbarkeitsgrenze relevant, sondern nur der, der bereits die Schädlichkeitsgrenze überschreite. Zum anderen könne das L B A keine optimierende Lärmkonfliktbewältigung vornehmen, da es für die zu Grunde liegende Planfeststellung des Flughafen nicht zuständig sei und so auf die Quelle des Lärms keinen Einfluss habe; es könne den durch die Planfeststellung als zulässig bekräftigten Lärm lediglich „bewirtschaften", also im Rahmen der Routenfestlegung anders verteilen. Ungleichgewichte in der Betroffenheit seien daher systemimmanent und unvermeidbar. Überdies ermögliche die Flugroutenfestlegung keine „parzellenscharfe" Beurteilung der Beeinträchtigung Dritter (wie bei Verkehrswegeplanungen am Boden), sondern umschreibe ein flächiges „Flugerwartungsgebiet". Daher komme dem L B A ein sehr weiter planerischer Gestaltungsspielraum zu. Dabei sei sogar eine generalisierende Betrachtungsweise anhand von Karten, Unterlagen oder auch Computersimulationen zulässig, ohne dass es konkreter Ermittlungen vor Ort bedürfe. Insbesondere sei ein Recht der Gemeinden auf Anhörung verfassungsrechtlich nicht geboten. 38 Gerichtlich überprüfbar sei nur, ob das L B A von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei, der gesetzliche Rahmen namentlich des § 29b L u f t V G erkannt worden sei und die Lärmschutzinteressen der Betroffenen in die Abwägung überhaupt eingestellt und nicht ohne sachlichen Grund zurückgesetzt worden seien. Anders ausgedrückt reduziert sich der Schutz vor unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen damit auf ein Willkürverbot. Willkür liege aber nicht schon in der faktischen Übertragung der Abwägungsentscheidung auf die rein technisch agierende Deutsche Flugsicherung GmbH, jedenfalls dann nicht, wenn das L B A , das für die Entscheidung verantwortlich bleibe, für die Einhaltung der dargelegten Maßstäbe Sorge trage und die Nachprüfbarkeit der Entscheidung sicherstelle. Die Maßstäbe des Fachplanungsrechts seien hierauf so nicht anwendbar. Der so formulierte Kontrollmaßstab ist freilich denkbar vage. I m Gegensatz zu terrestrischen Emissionsquellen gibt es nämlich für die Definition der Unzumutbarkeit von „himmlischem Lärm" i.S. § 29b LuftVG bislang keine normativen Werte. 3 9 Sie lassen sich weder generell aus den Festsetzungen über Lärmschutz-
38 BVerwGE 111, 276 (284); DVB1. 2004, 382 (385). 39 BVerwG, N V w Z 2004, 1229 (1232); H.Wende/J. Ortscheid, Fluglärm: Schutzziele aus der Sicht des Umweltbundesamtes, in: J. Ziekow (Hrsg.), Bewertung von Fluglärm - Regionalplanung - Planfeststellungsverfahren, Berlin 2003, S. 9 ff.; Repkewitz (Anm. 7), 5.
Der Punkt als Norm
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bereiche nach dem Fluglärmgesetz 40 noch aus der Rechtsprechung des B G H zur enteignungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze herleiten. 41 Immerhin hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 24. 6. 2 0 0 4 4 2 die Auffassung vertreten, dass die Zumutbarkeit von Fluglärm im LuftVG einheitlich bestimmt werde und lediglich die Rechtsfolgen für die Genehmigung nach § 6, die Planfeststellung nach § 9 Abs. 2 und die Luftaufsicht nach § 29b unterschiedlich seien. Doch erschafft das Gericht für den letzteren Fall damit die Kategorie der „hinzunehmenden Unzumutbarkeit", also eine sowohl begriffliche wie inhaltliche 4 3 Paradoxie.
IV. Analyse 1. Allgemeine Kritik Durch die genannten Urteile ist erfreulicherweise die langjährige Unsicherheit über den richtigen Rechtschutz beseitigt worden, die für die Betroffenen den Gang zum Gericht lange zum Hasardstück machte. Positiv ist weiter hervorzuheben, dass die Rechtsprechung die Flugroutenfestlegung überhaupt als planerischen A k t qualifiziert hat, der grundsätzlich dem Abwägungsgebot unterliegt. Damit ist erstmals eine Einheitlichkeit mit anderen Verkehrsinfrastrukturvorhaben hergestellt, die allesamt auch die Distanz zwischen zwei Endpunkten in die Planung einbeziehen. Dem gegenüber sind aber auch gravierende Bedenken anzumelden. Die Reduktion der Kontrolle der Abwägungsentscheidung auf ein bloßes Willkürverbot widerspricht dem System der Abwägungslehre mit ihrer ausdifferenzierten Fehlerlehre. Man darf nicht vergessen, dass die Abwägungs(fehler)lehre 44 das unverzichtbare Korrelat zur Zurücknahme des materiellen Rechtsschutzes ist; die „Feinstrukturen" der Abwägung sind ja keine materiellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen im Sinne konditionaler Normen, sondern strukturieren die Rationalität der prozeduralen Entscheidungsfindung auf ein Ziel hin. Als solche sind sie letztlich eine Ausprägung der Vorstellung von der „Legitimation durch Verfahren" (Luhmann). Wird dieses Feinraster durch das Grobraster des Willkürverbots ersetzt, geht die
40 Hierzu ausf. Ρ Wysk, Z L W 1998, 456 (483); Repkewitz. (Anm. 7), 5; H. Schulze-Fielitz, Lärmschutz bei der Planung von Verkehrsvorhaben, in: J. Ziekow (Hrsg.), Planung 2000 Herausforderungen für das Fachplanungsrecht, Berlin 2001, S. 105 (114). 41 B G H Z 129, 124(127). 42 BVerwG, N V w Z 2004, 1229 ( 1231 ). 43 Für die eingangs erwähnte Warteschleife E K R I T haben Lärmschutzgutachten immerhin ein deutliches Überschreiten der Grenze für Gesundheitsgefährdungen von 70 dB (A) festgestellt. 44
Grundlegend BVerwGE 34, 301 (309); seitdem st. Rspr. Zusammenfassend P. Radura, in: H.-U. Erichsen/D. Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., Berlin 2002, § 39, Rn. 25 f. Grdl. Kritik zur Aufweichung individuellen Rechtsschutzes i m Abwägungsprozess Bartlsperger, Abwägungsgebot (Anm. 31), 79 (99 ff.). 15 FS Bartlsperger
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prozedurale Rationalität des Abwägungsprozesses weitgehend verloren. Dazu kommt: M i t dem Willkürverbot wird ein Element aus der Grundrechtsdogmatik, nämlich dem Gleichheitsrecht des Art. 3 Abs. 1 G G , 4 5 sachwidrig in das Planungsrecht verpflanzt. Zweifellos führt das Willkürverbot stets zu einem Abwägungsfehler. Umgekehrt können jedoch Abwägungsfehler auf jeder Stufe vorliegen, ohne dass Willkür vorliegen muss. Auch das Willkürverbot ist im übrigen strukturell als Konditionalnorm zu qualifizieren; für die Bewertung multipolarer Interessenlagen taugt es schon deswegen in der Praxis kaum, weil mit Ausnahme eines völligen Übersehens des betroffenen Belangs kaum je nachweisbar sein wird, ob er ohne sachlichen Grund unberücksichtigt geblieben ist. Da der betroffene Anwohner für das Vorliegen von Willkür die materielle Beweislast trägt, grenzt das Willkürkriterium in diesem Zusammenhang an verkappte Rechtsverweigerung. Abzulehnen ist auch die Annahme, eine „generalisierende Betrachtungsweise" reiche aus, d. h. eine Abwägung könne allein auf Grund aktuellen und aussagekräftigen Kartenmaterials sowie gestützt auf Unterlagen über die Einwohnerzahl der betroffenen Orte erfolgen. Die Versagung einer Anhörung von Beteiligten und Gemeinden ist mit grundlegenden Prinzipien des Planungsrechts nicht vereinbar. Für die Legitimation einer planerischen Entscheidung ist es - gerade wegen des prozeduralen Charakters - unerläßlich, das Verfahren so auszugestalten, dass alle durch das Vorhaben betroffenen Rechte und private wie öffentliche Interessen erfaßt werden, den Betroffenen umfassendes rechtliches Gehör gewährt und den Trägern öffentlicher Belange Gelegenheit gegeben wird, diese fachkundig einzubringen. 4 6 Ein Blick auf die gesetzlich geregelten Planungsverfahren zeigt, dass eine Beteiligung der Öffentlichkeit unverzichtbares Verfahrenselement ist, um diese Ziele zu erreichen. Auch wenn diese unterschiedlich intensiv geregelt werden kann, kann sie doch eine Entscheidung nach Aktenlage, nach Statistischem Jahrbuch und nach der Landkarte unmöglich ersetzen. Selbst computersimulierte Optimierungsverfahren bieten keine adäquate Alternative. 4 7 Die „generalisierende Betrachtungsweise" unterschreitet daher das erforderliche prozedurale Minimum einer Planungsentscheidung und ist daher abzulehnen; sie indiziert ein rechtsstaatliches Abwägungsdefizit. Die Option von Rechtsschutz gegen die Flughafenplanfeststellung bietet keine adäquate Alternative. Wegen der regelmäßig eingetretenen Bestandskraft reduziert sich der Rechtsschutz auf die Möglichkeit nachträglicher Schutzauflagen nach § 75 Abs. 2 S. 4 V w V f G , die unter dem Damoklesschwert der Untunlichkeit bzw. der grundsätzlichen Vereinbarkeit mit dem Vorhaben stehen. Auch können Schutzauflagen Rechtsverordnungen nach § 32 LuftVG zudem nur faktisch beeinflussen, immerhin durch die Reduktion der Flugbewegungen bis hin zu Nachtflugverboten. 45
Statt vieler P. Kirchhof, in: J. Isensee/ders.. Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl., Heidelberg, 2000, § 124 Rn. 236 ff. 46 Badura (Anm. 44), Rn. 36. 47 Dazu ausführlich und vertiefter als hier möglich PfäffVHeilshorn
(Anm. 13), 416 ff.
Der Punkt als Norm
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Realistisch stößt dies aber bald auf die Grenzen eines ökonomisch sinnvollen Flughafenbetriebs. Überdies können Restriktionen im Flughafenbetrieb allenfalls quantitative und tageszeitliche Entlastungen zeitigen; die Höhe der Anflugrouten ist mit der Ausrichtung der Start- und Landebahnen weitgehend festgelegt, da Steigwinkel und Kurvenradien nicht beliebig veränderbar sind. Weitgehend wertlos sind nachträgliche Schutzauflagen für denjenigen, der unter einer per Verordnung eingerichteten Warteschleife in 50 k m Entfernung vom Flughafen wohnt. Hier stellt sich schon die Frage, ob dies noch in einem ausreichenden Kausalzusammenhang mit „nicht voraussehbaren Wirkungen" steht. Jedenfalls ist aber kaum ersichtlich, wie Auflagen gegenüber den Flughafenbetreibern die Flughöhe oder die Frage des „turns" (Drehsinn) in der Warteschleife beeinflussen sollen - von einer Verringerung der Flugdichte einmal abgesehen.
2. Insbesondere: Rechtsschutzdefizit bei grenzüberschreitenden Flugbewegungen Besonders krass zeigt sich das Rechtsschutzdefizit bei grenzüberschreitenden Flugbewegungen wie im Ausgangsfall Zürich. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot war j a deswegen verneint worden, weil das L B A für die Einhaltung der Maßstäbe Sorge trage und die Nachprüfbarkeit der Entscheidung sicherstelle. Dies setzt aber Einwirkungsmöglichkeiten des L B A in Form eines Kontroll- und Weisungsrechts voraus, weil ansonsten die demokratische Verantwortlichkeit an einer wesentlichen Stelle unterbrochen ist. Die Übertragung der Flugsicherung an SkyGuide weist aber gerade keine Einflußmöglichkeit des L B A auf. Auch sind allfällige Verstöße nicht sanktionsbewehrt. In der Praxis vollzieht das L B A mehr oder weniger die Vorstellungen der Schweizer Flugsicherung; es hat auch de facto keine größeren Gestaltungsmöglichkeiten, ist doch auch die Flugsicherung für den EuregioAirport Basel / Mulhouse und damit das Gesamtkonzept durchgehend von Breisach bis zum Bodensee der SkyGuide durch Staatsvertrag anvertraut. Festlegungen von Routen und Warte schleifen wurden rein aus (flug-technischer Perspektive getroffen, allerdings unter weitgehender Schonung von Schweizer Hoheitsgebiet. Vorstellungen der Swisscontrol/SkyGuide wurden ohne Einwände übernommen; A l ternativen - etwa die Änderung des „turns" - wurden nicht thematisiert. Nach den Kriterien der herkömmlichen Abwägungsfehlerlehre läge damit ein Paradefall eines Abwägungsdefizits vor. Für das Bundesverwaltungsgericht reichte hingegen flugtechnische Praktikabilität aus, um Willkür auszuschließen. Ist schließlich die Abwägung bei der Flugroutenbestimmung durch die Flughafenplanung determiniert, die aber im Züricher Fall dem deutschen Hoheitsbereich entzogen ist, kann Anwohnern und Gemeinden nur durch Änderung des Staatsvertrags geholfen werden. Dass dies letztlich auch geschehen ist, war eine politisch glückliche Wendung für die Betroffenen; ein Anspruch hierauf bestand - und besteht - freilich nicht.
15*
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3. Fazit Festzuhalten ist: Die von der Rechtsprechung via trial and error verfolgte Linie zum Rechtsschutz ist dogmatisch unzureichend. Dies gilt unabhängig vom letztlich zugrunde liegenden Planungsverständnis. Man kann mit Richard Bartlsperger monieren, dass Planungsakte letztlich nur durch den Grundrechtsschutz, aber dann auch konsequent, limitiert werden. 4 8 Man kann mit dem planungsrechtlichen mainstream eine „Verplanung" subjektiver Rechte befürworten, sofern die einzelnen prozeduralen Stufen der Abwägung abgelaufen und dabei eine wertende Berücksichtigung der einzelnen Belange lege artis erfolgt ist. Man kann jedoch nicht wie das Bundesverwaltungsgericht es praktiziert - die materiellen Rechtspositionen paralysieren und gleichzeitig die prozedurale Rationalität der Abwägung bis zur Unkenntlichkeit beseitigen.
V. Lösungsansätze Die Lösung kann nur in einer Stärkung der Beteiligungsrechte der Betroffenen liegen. Klar dürfte sein, dass informelle Lösungen, also z. B. ad-hoc-Anhörungen von Betroffenen kein adäquater Ersatz sind. Ein effektiver Rechtsschutz macht echte Beteiligungsrechte notwendig. Das geltende Recht bietet allerdings keine Hilfen, da die gesetzlich geregelten Beteiligungsverfahren nicht einschlägig sind: -
§ 73 V w V f G ist nicht anwendbar, da die Entscheidung - trotz Abwägungscharakters - gerade nicht im Rahmen einer Planfeststellung ergeht, und das V w V f G nach § 9 für den Erlass von Rechtsverordnungen nicht anwendbar ist.
- Die §§ 3, 4 und 137 BauGB regeln zwar eine Beteiligung im Rahmen einer Normgebung, sind aber als sachlich nicht einschlägige Sonderregelungen nicht generalisierbar. - Eine Anhörung beteiligter Kreise nach § 51 BImSchG bringt nicht viel. Zwar ist das BImSchG seit 2005 im Rahmen des sechsten Abschnitts (Lärmminderungspläne) auch auf Flughäfen als emittierende Anlagen anwendbar (§ 2 Abs. 2 BImSchG). Dies gilt jedoch nicht für die Flugrouten und Warteschleifen, die schon mangels Materie keine „Anlagen" sind. Außerdem sind die „beteiligten Kreise" mit dem „Kreis der Betroffenen" gerade nicht identisch. - Auch die Anwendung des § 9 UVPG i m Rahmen des Erlasses einer Rechtsverordnung nach § 32 L u f t V G ist de lege lata nicht möglich, da diese nicht unter den Katalog der Entscheidungen nach § 2 Abs. 3 UVPG fällt. Teilweise wurde der Gedanke vertreten, die Regelungsform der Rechtsverordnung stelle einen unzulässigen Formenmißbrauch dar, jedenfalls dann, wenn die
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Bartlsperger, Abwägungsgebot (Anm. 31), S. 91 ff.
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Rechtsform nur deshalb so gewählt worden sei, um den Individualrechtsschutz auszuschalten. 49 Dann wären nach dem Günstigkeitsprinzip auch gegen den missbräuchlichen Akt die „eigentlich einschlägigen" Rechtsbehelfe statthaft, konkret also die gegen einen Planfeststellungsbeschluss gegebene Anfechtungsklage, in deren Kontext auch die unterlassene Bürgerbeteiligung nach § 73 V w V f G als Verfahrensfehler gerügt werden könnte. Die Ausweitung der Feststellungsklage gegen Normen lässt allerdings diesen Ansatz entbehrlich werden. Überdies ist Voraussetzung eines Mißbrauchs ein voluntativ-finales Element. Ein Blick in die Gesetzgebungsgeschichte zeigt aber, dass bereits das Luftverkehrsgesetz vom 1. 8. 1922 5 0 in § 17 Zf. 3 eine entsprechende Verordnungsermächtigung enthielt, die einfach die Zeiten in modernisierter Form überdauert hat. Von einem bewussten Formenmißbrauch kann daher nicht die Rede sein. Lediglich der Charakter des Verordnungsgegenstandes hat sich von einem ursprünglich rein sicherheitsrechtlichen zu einem planerischen entwickelt. Eine „Umdeutung" kommt also nicht in Frage. Damit bleiben nur Lösungen de lege ferenda: - Eine Einbeziehung in bestehende Planungsverfahren, etwa in die Flughafenplanfeststellung ist nicht sinnvoll, da es sich um verschiedene Verwaltungsträger des Bundes und des Landes handelt und die Flugsicherung auf neue Entwicklungen rasch reagieren können muß. - Denkbar wäre die Einfügung eines neuen § 2 Abs. 3 Zf 4 in das UVPG, der auch „Rechtsverordnungen nach § 32 L u f t V G " als „Entscheidung" i.S. § 2 Abs. 1 S. 1 anerkennt. Das wäre dogmatisch nicht inkonsequent: Zum einen ist für die Durchführung eines UVP-Verfahrens nicht notwendig eine „Anlage" notwendig; die Anflugroute bzw. Warteschleife kann unter § 2 Abs. 2 Zf. 3 UVPG „sonstiger Eingriff in Natur und Landschaft" subsumiert werden. Auch wäre die Routenfestlegung mit der Linienbestimmung nach § 16 FStrG und nach § 13 BWasserStrG vergleichbar, die in § 15 Abs. 1 UVPG ausdrücklich erfasst werden. Weiter zeigt § 2 Abs. 3 Zf. 3 UVPG, dass auch Beschlüsse über Bebauungspläne in speziellen Fällen Anknüpfungspunkt einer UVP sein können. Sachgerecht wäre dann auch die Pflicht zur grenzüberschreitende Behördenbeteiligung nach § 8 UVGP und die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Öffentlichkeitsbeteiligung (§ 9a UVPG). Freilich hat diese Lösung einen Nachteil: Der Vorteil einer „schnellen" Änderung von Flugrouten und Warteschleifen, der aus Sicherheitsgründen notwendig sein kann, kann durch ein u.U. langwierige UVP konterkariert werden. Indes ist der Beweggrund für „schnelle" Änderungen praktisch immer die möglichst effiziente Ausnützung der Lande- und Abflugkapazitäten des Flughafens, also ein 49 W.-R. Schenke, Rechtsschutz bei Divergenz von Form und Inhalt staatlichen Verwaltungshandelns, VerwArch 72 (1981), 185 (201, 211 f.); Czybulka/Wandres (Anm. 11), 1037; vgl. auch H. Goer lieh, D Ö V 1985, 945 (948). ™ RGBl. 1,681.
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ökonomisches Argument. Der ökonomische Aspekt hat aber - auch in Zeiten, in denen im Luftverkehrsgeschäft rauhere Winde wehen - nicht notwendig den Vorrang gegenüber den Rechten der Betroffenen. - Alternativ wäre schließlich eine Einfügung von Verfahrensvorschriften in die Luftverkehrsverordnung denkbar, die ein Beteiligungsverfahren im Rahmen des Erlasses der Rechtsverordnung in § 32 anordnet. Da es sich um bundeseigene Verwaltung handelt, steht Art. 84 Abs. 1 GG nicht im Wege. Auch das BauGB enthält j a für den Erlass von Satzungen nach § 10 und § 137 S. 1 BauGB eigene Beteiligungsregelungen. Dabei wäre den §§ 3 ff. wohl der „abgespecktere" § 137 BauGB als Vorbild vorzuziehen, der eine flexiblere Beteiligung ermöglicht, aber auch garantiert.
VI. Prozessuale Weiterungen Die Rechtsprechung zur Kontrolle von Flugrouten und Warteschleifen greift über ihren konkreten luftverkehrsrechtlichen Ansatz weit in das Verwaltungsprozessrecht hinaus: Die Anerkennung der Feststellungsklage gegen luftverkehrsrechtliche Verordnungen schließt nicht nur eine sektorale Rechtsschutzlücke; vielmehr beschwört sie generell die gerichtliche Überprüfung von Bundesverordnungen nach Art. 80 Abs. 1 GG herauf. Dies führt freilich zu ebenso unvermeidlichen wie dogmatisch unschönen Konsequenzen: Während für den Rechtsschutz gegen Landesverordnungen (und Satzungen) die Normenkontrolle nach § 47 V w G O zum O V G / V G H statthaft ist, führt der Rechtsweg gegen Bundesverordnungen nach § 45 V w G O grundsätzlich zum V G (die erstinstanzliche Zuständigkeit des O V G / V G H nach § 48 V w G O beruht auf der extensiven Auslegung der Zf. 6 und ist nicht verallgemeinerbar). Weitere Diskrepanzen ergeben sich bei der Antragsbefugnis (Behörden sind nur nach § 47 Abs. 2 S. 1,2. Alt. V w G O antragsbefugt), der Antragsfrist (nur i. F. des § 47 Abs. 2 VwGO), des berechtigten Feststellungsinteresses (nur bei § 43 VwGO) und den Rechtsmitteln (Berufung nur gegen Feststellungsurteile des VGs). Dogmatisch weicht die Rechtsprechung überdies den Begriff des Rechtsverhältnisses auf, der herkömmlicherweise die Rechtsbeziehungen zwischen Personen und/oder einer Sache aufgrund einer N o r m , 5 1 nicht aber die Gültigkeit der Norm selbst umschreibt. 52 Die Feststellungsklage mutiert damit zu einer Art subsidiärer Auffangklage für Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt in beliebiger Rechtsform. Als nächster „Dominostein" könnte dies zu einer möglichen Statthaftigkeit der Feststellungsklage gegen Normen derjenigen Länder führen, die von der Ermächtigung des § 47 Abs. 1 Nr. 2 V w G O keinen Gebrauch gemacht haben (Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen). Es stellt sich die Frage, ob sich dann das argumentum e contrario 53 oder die verfassungskonforme Aus51
Vgl. etwa Pietzcker (Anm. 37), § 43 Rn. 25 m. w. Nw.
52 Zur Begrifflichkeit statt vieler H. Sodati (Anm. 25), § 43 Rn. 5, § 42 Rn. 381 m. w. Nw.
Der Punkt als Norm
231
legung am Maßstab des Art. 19 Abs. 4 GG durchsetzt. Da die gerichtliche Kontrolle von Bundesverordnungen wegen Art. 19 Abs. 4 GG allerdings wohl unabdingbar ist, bleibt der Gesetzgeber aufgerufen, die dogmatisch nachhaltig aus den Fugen geratene Systemgerechtigkeit des Normenkontrollrechts wieder in ein schlüssiges Konzept einzubetten.
53 So noch BVerwG D Ö V 1965, 169; D Ö V 1974, 427; H.-J. Papier, Normenkontrolle (§ 47 V w G O ) , in: H.-U. Erichsen et alii (Hrsg.), System des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christan-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, Köln 1985, 517 (533); J. Schmidt, in: Eyermann (Anm. 24), § 47 Rn. 11. Dagegen schon Gerhardt (Anm. 14), § 4 7 Rn. 12.
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen als verfahrensrechtliches Prinzip in der Europäischen Union Von Thomas Würtenberger*,
Freiburg i. Br.
Die Akzeptanz des Rechts ist eine wesentliche Bedingung für die Rechtsgeltung und für den Rechtsfrieden. Dies gilt auf allen Stufen der Rechtsordnung. Nicht allein das lokale, regionale und nationale Recht, sondern auch das Recht der Europäischen Union muß sich der Akzeptanzfrage stellen. 1 Hat es doch in vielen Bereichen nationale Regelungskompetenzen abgelöst und ist es zudem zu einem bestimmenden Faktor der nationalen Rechtsordnungen geworden. Die Akzeptanzfrage ist zudem an die Konkretisierung und Anwendung des Rechts durch Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu stellen. Hier geht es um die seit den siebziger Jahren viel diskutierte partizipatorische Demokratie, nämlich um Legitimierung und Akzeptanz staatlicher Entscheidungen durch unterschiedliche Verfahren der Einbeziehung Betroffener in den Prozeß behördlicher Willensbildung sowie der Öffentlichkeitsund Bürgerbeteiligung.^ In den damaligen heftigen Kontroversen um eine rechtliche Bewältigung der von einer breiten Öffentlichkeit geforderten partizipatorischen Demokratie hat Richard Bartlsperger Lösungswege entwickelt, die sich anders als die damalige Ablehnung neuer Beteiligungsformen als tragfähig erweisen sollten. Wegweisend war vor allem sein an Rudolf Smend orientierter integrationstheoretischer Ansatz, wonach bei Raum für eine Gestaltung politischer Integration, nämlich bei Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen rechtlich zulässigen Problemlösungen, eine Öffentlichkeitsbeteiligung an der Entscheidungsfindung legitim sei. 3 Die Akzeptanz des Staates und seiner Rechtsordnung gehört zweifellos zu den Zielen geglückter Integration. Eine solche politische Integration der Bürger und der Öffentlichkeit in die Rechtsordnung der Europäischen Union ist nach dem * Herrn Privatdozenten Dr. Gernot Sydow, M . A . danke ich für wertvolle Hinweise bei der Abfassung des Manuskripts. 1
Allgemein zur Akzeptanz von Gesetzen: Th. Würtenberger, S. 380 ff.
Soziale Integration, 1999,
2 Zum Streit um die Verankerung der partizipatorischen Demokratie im Demokratieprinzip: E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 2. Aufl., Heidelberg 2004, 2 / 1 0 2 ff., 106; R. Zippelius/Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl., München 2005, S. 76 m. Nw. 3 R. Bartlsperger, Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung. Zur Lage der zweiten Gewalt, V V D S t R L 33 ( 1975), S. 221, 250 f.
Thomas Wiirtenberger
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vorläufigen Scheitern der Verfassung der Europäischen Union eine vorrangige Aufgabe. Dies gibt Veranlassung, der Akzeptanz von Recht und Rechtskonkretisierung in der Europäischen Union nachzugehen.
I. Akzeptanzprobleme des Rechts der Europäischen Union M i t der Frage nach der Akzeptanz des Unionsrechts wird, soweit ersichtlich, Neuland beschritten. Bislang gibt es weder Forschungsprojekte noch Institutionen, die sich mit der Frage der Akzeptanz des Unionsrechts befassen. 4 Die Eurobarometer-Umfragen messen regelmäßig die Akzeptanz der Europäischen Union an sich bzw. der Mitgliedschaft in ihr, weniger aber die Akzeptanz des Unionsrechts. 5 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften evaluiert allerdings regelmäßig in Abständen von jeweils einigen Jahren einzelne Politikbereiche und Sekundärrechtsakte. Teilweise beruhen die von ihr gefertigten Berichte auf breiter und unabhängiger empirischer Grundlage und geben so bereichsspezifische Hinweise auf Akzeptanzfragen. 6 Davon abgesehen hat das Unionsrecht zunehmend mit Akzeptanzproblemen in den Mitgliedstaaten und bei den Unionsbürgern zu kämpfen. Das wohl gewichtigste Akzeptanzproblem besteht darin, dass das Unionsrecht in seinen Leitideen in den Mitgliedsstaaten weder den Bürgern noch der Verwaltung immer hinreichend bekannt ist. 7 Im Unionsrecht fehlt nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages nach wie vor ein Verfassungstext, der die Politikziele, Grundfreiheiten, Kompetenzen der Institutionen etc. für den Bürger klar verständlich regelt. Recht kann nur auf Konsensbereitschaft stoßen, wenn die großen Rechtsprinzipien bekannt und akzeptiert sind. Es fehlt damit an Klarheit über die dem Unionsrecht zugrunde liegende Rechts- und Verfassungsethik. 8 Darüber hinaus führen Normenflut und übertriebene Bürokratisierung zu erheblichen Akzeptanzdefiziten, was die Kommission mittlerweile erkannt hat und unter dem Schlagwort „Bessere Rechtsetzung" zu meistern versucht. 9 Akzeptanzmängel 4 J. W. Pichler, Die Rechtsakzeptanz des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: ders. (Hrsg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, Wien 1998, S. 312. 5 N. Passadelis, Das Prinzip der Volkssouveränität als Legitimitätsdeterminante der Europäischen Gemeinschaft, Basel 2001, S. 398 ff. 6 Vgl. den Arzneimittelbericht 2001: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Bericht über die Erfahrungen mit den Verfahren zur Erteilung von Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, K O M (2001) 606 endgültig, S. 6 f. 7
Vgl. die Beispiele aus Österreich bei Pichler (Anm. 4), S. 312 f.
8 Pichler (Anm. 4), S. 315 ff. 9 Vgl. Pressemitteilung vom 27. 9. 2005; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Bessere Rechtsetzung für Wachstum und Arbeitsplätze in der Europäischen Union, K O M (2005) 97 endgültig; dies., Aktualisierung und Vereinfachung des Acquis communautaire, K O M (2003)71 endgültig.
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen
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sind zudem in den Bereichen des Verwaltungsverfahrens augenfällig: A u f Akzeptanzprobleme stoßen neue unionsrechtliche Verfahren, die mit der Kultur der Verwaltungsverfahren eines Großteils der Mitgliedsstaaten nicht vereinbar sind. Dies betrifft etwa Verfahren im Bereich des Umweltschutzes. Hier überlagert die finale Normstruktur des supranationalen Umweltrechts in Deutschland die konditionale Normstruktur bei umweltrechtlichen Genehmigungen. 10 Dabei wird das alte Modell der staatlichen Überprüfung der Einhaltung von Genehmigungsvoraussetzungen zumindest teilweise dadurch abgebaut, dass auf eine Optimierung des Umweltschutzes durch betriebsinterne Kontrollen und durch eine starke Öffentlichkeitsbeteiligung gesetzt wird. Verwiesen sei nur auf die neuen Verfahren eines UmweltAudits, auf neue Informationsrechte der Öffentlichkeit und auf die vorgezogene Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Umweltverträglichkeitsprüfung. 11 Die Geltung dieses neuen Verfahrensrechts und damit dessen Effektivität in den Mitgliedstaaten sind in erheblichem Umfang von der Akzeptanz der neuen gemeinschaftsrechtlich geprägten Vorschriften abhängig. Denn diese Verfahren greifen nur, wenn sie von den Beteiligten akzeptiert und damit praktiziert werden. Das Unionsrecht zwingt nicht zuletzt zur Modifikation von nationalen Verfahrensprinzipien, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt und Akzeptanz gefunden haben. Dies gilt für die deutsche Rechtsordnung z. B. für den Vertrauensschutzgrundsatz oder für den einstweiligen Rechtsschutz. Hier müssen bei Verfahren mit unionsrechtlichem Bezug die Grundsätze des Vertrauensschutzes und des effektiven Rechtsschutzes weitaus geringer gewichtet werden, als wenn es sich um Verfahren lediglich nach nationalem Recht handelt. 1 2 In diesen und in anderen Bereichen stellt sich das grundsätzliche Problem: Wenn durch das Unionsrecht eine neue Verfahrenskultur geschaffen und neue allgemeine Rechtsprinzipien eingefordert werden, so mag dies in jenen Mitgliedsstaaten durchaus Akzeptanz finden, deren Verfahrenskultur und deren Rechtsprinzipien Eingang in die europäische Rechtsordnung gefunden haben. Für die anderen Mitgliedsstaaten jedoch, die unter Anpassungsdruck geraten, entstehen erhebliche Umsetzungs- und Akzeptanzprobleme.
10 Hierzu J. Masing, DVB1. 1998, 549, 552 f.; Th. Würtenberger, V V D S t R L 58 (1999), S. 139, 161 ff.; W. Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 317, 348 f. 11 Zur Entwicklung eines europäischen Verwaltungsrechts, das auf das nationale Verwaltungsrecht Rücksicht nimmt: Schmidt-Aßmann (Anm. 2), 7 / 2 3 ff.
•2 C. D. Classen, Die Verwaltung 31 (1998), 307 ff.; U. Fastenrath„ (1988), 277 ff.
Die Verwaltung 31
Thomas Wrtenberger
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II. Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen als Ziel der Politik der Europäischen Union Akzeptanz von Verwaltungsunterscheidungen kann man folgendermaßen umschreiben: Der Bürger hält eine Verwaltungsentscheidung für rechtlich, ökonomisch, ökologisch richtig, zumindest aber für vertretbar und für eine anerkennungswürdige Problemlösung. Akzeptanz umfaßt damit Bereiche des Konsenses, aber auch des Dissenses. 13 Diese weite Fassung des Akzeptanzprinzips ist wichtig, weil ein voller Konsens aller Betroffenen für Verwaltungsentscheidungen weder möglich noch nötig ist. Akzeptanz ist eben über den Konsens hinausgehend die Bereitschaft, eine Problemlösung als vertretbar anzuerkennen und hiergegen nicht zu klagen. Damit wird deutlich, dass Akzeptanz durch die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens „erzeugt" werden muß. Die Legitimierung und die Akzeptanz ihrer Entscheidungen gehören zu den nachdrücklich hervorgehobenen politischen Zielen der Europäischen Union. Im Juli 2001 hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften das Weißbuch „Europäisches Regieren" 1 4 vorgelegt. Es beginnt mit der Schilderung der paradoxen Situation, dass die Bürger von der Europäischen Union zum einen die Lösung grundlegender Probleme erwarten, zum anderen der Politik der Europäischen Union mit tiefem Mißtrauen begegnen. Hier möchte das Weißbuch Abhilfe schaffen: U m die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern zu verbessern, soll auf allen politischen Ebenen die Kluft zwischen der Union und ihren Bürgern überbrückt werden. Nach dem Modell der gestuften Staatlichkeit 1 5 fordert dies eine bürgernahe P o l i t i k 1 6 auf lokaler Ebene, auf regionaler Ebene, auf der Ebene der Mitgliedstaaten und letztlich auch auf der Ebene der Europäischen Union. Zu diesem Zweck schlägt das Weißbuch vor, die politische Entscheidungsfindung auf allen Ebenen in der Europäischen Union für Partizipationsverfahren zu öffnen. Ziel ist dabei, mehr Menschen und Organisationen in die Gestaltung und Durchführung der Politik der Europäischen Union einzubinden. 17 Die Einbeziehung der Bürger und gesellschaftlichen Organisationen in den Prozeß der Formulierung von Politik und der Umsetzung des Rechts der Europäischen Union soll die Legitimität und Akzeptanz ihres Rechtssystems verbessern. Diese Zielsetzung hat Auswirkungen auf die künftige Politik der Europäischen Union. So soll in einer frühen Phase der Politikgestaltung ein systematischer Dia13 Würtenberger
(Anm. 1), S. 380, 381; Schmidt--Aßmann (Anm. 2), 2 / 1 0 3 .
14
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europäisches Regieren. Ein Weissbuch, K O M (2001) 428 endgültig; dies., Hin zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs, K O M (2002) 704 endgültig. R. Wahl, Internationalisierung des Staates, in: FS für Hollerbach, 2001, S. 193; J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, Baden-Baden 2000. 16
Zur Bürgernähe als wichtigem Element der Verwirklichung einer engen Union der Völker Europas: Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 11. Aufl., München 1999, S. 183. 17
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Anm. 14), S. 4.
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen
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log mit den nationalen und europäischen Verbänden der Regionen und Kommunen stattfinden. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sollen so die lokale und regionale Ebene in die Politikgestaltung einbezogen werden. Weiterhin soll die Durchführung des Unionsrechts so flexibel gestaltet werden, dass den regionalen und lokalen Verhältnissen Rechnung getragen werden kann. Bei der Umsetzung von Rechtsvorschriften und Programmen mit starken regionalen und lokalen Auswirkungen muß nach Ansicht der Kommission mehr Flexibilität zur Berücksichtigung der lokalen und regionalen Verhältnisse ermöglicht werden. 1 8 Die Kommission gibt nur wenige Hinweise darauf, wie die Entscheidungen öffentlicher Behörden, die europäische Politik und Unionsrecht umsetzen, besser legitimiert werden können. Hervorgehoben wird, dass der verbesserte Zugang von Bürgern zu behördlichen Informationen die Beteiligung von Bürgern an Behördenentscheidungen stärken würde 1 9 . Weiterhin wird ein neues Instrument vorgeschlagen: Die Kommission soll durch Verwaltungsvereinbarungen mit regionalen oder lokalen Behörden in den Mitgliedsstaaten etwa zur Verfolgung umweltpolitischer Ziele aktiv werden dürfen. 2 0 Das Weißbuch spricht zwar von Partizipation und Flexibilität als neuen Leitprinzipien des Unionsrechts und von Good Governance in der Europäischen Union. Die Verwirklichung dieser Prinzipien wird aber der weiteren Diskussion überlassen. Zu dieser Diskussion sollen die folgenden Ausführungen beitragen. 21
III. Legitimierung und Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen durch Bürgernähe und Partizipation 1. Bürgernähe und Subsidiarität als Grundlagen des Verwaltungsverfahrensrechts Art. 1 Abs. 2 Vertrag über die Europäische Union fordert für eine immer enger werdende Union der Völker Europas: Alle politischen Entscheidungen und alle Verwaltungsentscheidungen sollen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden. Die hier genannte Bürgernähe verlangt „ein bestimmtes Maß an 18
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Anm. 14), S. 17.
19
Vgl. in diesem Zusammenhang die sog. Transparenzverordnung, V O (EG) Nr. 1049/ 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, A B l . Nr. L 145, S. 43 ff. (hierzu C. Heitsch, EuR 2001, 809 ff.) sowie das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes, BGBl. I, 2005, S. 2711 (hierzu M. Kloepfer/K v. Lewinski, DVB1. 2005, 1277 ff.). 20 21
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Anm. 14), S. 17 f.
Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Legitimations- und Akzeptanzproblematik und blenden das Verhältnis von europäischem und nationalem Verwaltungsrecht weitgehend aus. Hierzu vgl. M. Zuleeg, H.-W. Rengeling„ V V D S t R L 53 (1994), S. 154 ff.; Schmidt-Aßmann (Anm. 2), 7 / 1 ff.
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demokratischer Partizipation' 4 . 22 Das Prinzip der Bürgernähe gilt in der Europäischen Union und damit auch in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere für alle Verwaltungsverfahren, die Politikbereiche der Europäischen Gemeinschaften berühren. 23 Der Vertrag über die Europäische Union regelt aber weder, was unter Bürgernähe zu verstehen noch wie diese zu erreichen ist. In der Präambel wird lediglich darauf verwiesen, dass „Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden". Hieraus läßt sich ableiten: Die Prinzipien von Subsidiarität und Bürgernähe fordern ein System lokaler und regionaler Autonomie, in dem Verwaltungsentscheidungen dezentral 2 4 getroffen werden können. 2 5 Neben diese staatsorganisationsrechtliche Stoßrichtung der Prinzipien Subsidiarität und Bürgernähe tritt eine verwaltungsverfahrensrechtliche: Soweit die Verwaltung dezentral entscheidet, ist im Verwaltungsverfahren eine umfassende Partizipation der Bürger vorzusehen. Eine Partizipation von Bürgern an Verwaltungsverfahren gehört mittlerweile in den Staaten der Europäischen Union in aller Regel zum Standard von Verwaltungsverfahren.
2. Zur Neuorientierung des Verwaltungsverfahrensrechts an der Idee der deliberativen und responsiven Demokratie Welche Bedeutung Bürgerbeteiligung haben soll, ist allerdings fraglich und in Deutschland heftig diskutiert: 2 6 Dient Bürgerbeteiligung lediglich der umfassenden Information der Verwaltung über den zu entscheidenden Sachverhalt und über die Wünsche der Bürger? Oder zielt Bürgerbeteiligung auch auf Legitimierung und Akzeptanz der Verwaltungsentscheidung und damit auf Verwirklichung von lokaler und regionaler Autonomie? Eine nahe liegende Bejahung dieser zweiten Frag e 2 7 führt zu einer Neuorientierung des Verwaltungsverfahrensrechts. Akzeptanz gehört zu den Bestimmungsfaktoren eines demokratischen Verwaltungsrechts. 28 Leitbild des kooperativen demokratischen Rechtsstaates und einer 22 C. Stumpf, Ι in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 1 E U V Rn. 30. 23 Zur Geltung Stumpf (Anm. 22), Art. 1 E U V Rn. 32. 24 Kritisch M. Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, Baden-Baden 1999, S. 307. 25 Zu lokaler und regionaler Autonomie als Prinzip eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts: Th. Würtenberger, in: M.-E. G e i s / D . Lorenz (Hrsg.), Staat, Kirche, Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, München 2001, S. 1053 ff.; P. Morgos/ Th. Würtenberger (Hrsg.), Regionalisation and decentralisation, Ukrainian-European International and Comparative Law Journal, Special Issue, 2001.
26 Zum folgenden Würtenberger
(Anm. 10), S. 166 ff.
27
Zur Begründung: Th. Würtenberger, Akzeptanzmanagement von Verwaltungsentscheidungen mittels Mediation, in: Ferz/Pichler (Hrsg.), Mediation im öffentlichen Bereich, 2003, S. 31 ff. 2« Schmidt-Aßmann
(Anm. 2), 2 / 1 0 2 ff.
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen
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an Bürgernähe und am Subsidiaritätsprinzip" orientierten Rechtsordnung ist eine Kompromißfindung durch Prozesse des Aushandelns und der Konsensbildung. 30 In Art. 5 Abs. 2 EGV wird diese Verknüpfung von Subsidiaritätsprinzip und Bürgernähe zum Ausdruck gebracht. 31 Überträgt man die Idee der am Subsidiaritätsprinzip orientierten deliberativen und responsiven Demokratie 3 2 auf das Verwaltungsverfahren, so gilt: Verwaltungsentscheidungen sind stets möglichst bürgernah zu treffen und immer von neuem an die Wünsche, Forderungen und Bedürfnisse der betroffenen Öffentlichkeit zurückzukoppeln. Zu diesem Zweck werden die betroffenen und interessierten Bürger in die Entscheidungsfindung der Verwaltung einbezogen. Dass dies kein unreflektiertes oder gar populistisches Übernehmen öffentlich favorisierter Alternativen bedeuten darf, steht außer Diskussion. Im Rahmen der rechtlichen Vorgaben wird vielmehr nach Entscheidungen gesucht, die von den Bürgern als Grundlage eines geordneten Zusammenlebens akzeptiert werden. Akzeptanz als Ziel des Verwaltungsverfahrens fordert eine Kompromißfindung zwischen vielfältigen öffentlichen und privaten Belangen. Zu den öffentlichen Belangen zählen unionsrechtliche ebenso sowie nationale, regionale und lokale rechtlich geschützte Interessen. Es geht um Entscheidungen, die sich innerhalb der Marge des rechtlich Zulässigen um eine angemessene und Akzeptanz findende Konfliktschlichtung bemühen. Das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der demokratischen Dezentralisation 33 fordern, nach Möglichkeit dezentrale Entscheidungen zu treffen, um dem Bürger Freiräume zur eigenverantwortlichen Gestaltung zu eröffnen. Überall, wo der Staat handelt, fordern diese Prinzipien, die Art und Weise staatlicher Aufgabenerfüllung gesellschaftlichen Einflußmöglichkeiten zu öffnen. Eine örtlich ausgehandelte Gemeinwohlkonkretisierung lässt sich grundsätzlich nur dann in Frage stellen, wenn zwingende Rechtsvorschriften entgegenstehen oder Belange von nationalem oder europäischem Interesse nicht ausreichend berücksichtigt worden sind.
29
Die Subsidiarität ist nicht nur Leitprinzip der Europäischen Gemeinschaften {Th. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., München 2005, § 6 Rn. 64), sondern bestimmt auch die Dezentralisierung von Verwaltungsverfahren und Kooperation zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Verwaltung (G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, Tübingen 2004, S. 44 ff.). 30 Zum folgenden Th. Würtenberger, den-Baden 1996.
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, Ba-
Zur Begründung Sydow (Anm. 29), S. 49 ff. 32
Vgl. H. Uppendahl, ZParl 1981, 123 ff.; Zippelius/Würtenberger (Anm. 2), § 10 I I 1; Th. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl., Tübingen 1991, S. 205 ff.; D. Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, Berlin 1999, S. 196 ff.; kritisch A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, S. 660 ff., die die partizipative Variante des Demokratiebegriffs nicht voll erfaßt. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl., München 2003, § 23 III.
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Thomas Wrtenberger
Eine solche Legitimation und Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen stärkt die demokratische Bilanz der Europäischen Union. Hier ist bekannt, dass die Europäische Union den überkommenen Anforderungen an eine repräsentative Demokratie nicht voll entspricht. Dies liegt unter anderem an der schwachen Stellung des Europäischen Parlamentes und an der schwachen demokratischen Legitimation der Vertreter der Mitgliedsstaaten im Rat, 3 4 zudem an der Dominanz der Exekutiven in den Entscheidungsprozessen. 35 Derartige Defizite in der repräsentativen Demokratie können durch Partizipation von Bürgern in Verwaltungsverfahren ausgeglichen werden, wenn politische und rechtliche Spielräume offen gehalten und durch Bürgerbeteiligung ausgefüllt werden. 3 6 Gerade im supranationalen Bereich, der vielfach lediglich mit Zielvorgaben arbeitet, läßt sich die repräsentative durch eine deliberative Demokratie ergänzen. 37 Dies gilt vor allem dann, wenn das Recht der Europäischen Union in flexibler Weise die Berücksichtigung lokaler und regionaler Interessen erlaubt.
3. Akzeptanzsichernde Bestimmungen im Recht der Europäischen Union Im Europäischen Verwaltungsrecht finden sich bislang eine Reihe von Regelungen, die auf Akzeptanz von Entscheidungen zielen: a) Das Recht auf rechtliches Gehör der Adressaten von Verwaltungsentscheidungen, wenn ihre Interessen durch die Entscheidung berührt werden (Art. 230 Abs. 2 EGV);38 b) das Recht auf Information und Akteneinsicht, das jedermann unabhängig von einem materiellen Anspruch zusteht; 39 34 G. Lübbe-Wolff, V V D S t R L 60 (2001), S. 246 ff.; Oppermcmn (Anm. 29), § 5 Rn. 50 f.; BVerfGE 89, 155 ff. (Maastricht). 35 Zu den verschiedenen Gründen des Legitimationsdefizits P. Craig, in: ders./de Burca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, Oxford 1999, S. 23 ff.
Stumpf (Anm. 22), Art. 1 E U V Rn. 30; Lübbe-Wo Iff ( Anm. 34), S. 273 ff.; HoffmannRiem (Anm. 10), S. 377 f.; eher skeptisch gegenüber außerparlamentarischen Legitimationswegen C Lord/D. Beetham, JCMS 39 (2001), S. 348 f., 443 ff. 37 Vgl. zur diskursethischen Begründung der „Richtigkeit" von Entscheidungen: D. Dürr, Diskursives Recht, Zürich 1994; P. P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, München 1985. 3« EuGH Slg. 1974, 1063, 1080 f.; 1986, 2263, 2289; 1990, 1-959, 1016; 1991, 1-5469 ff.; EuGEI Slg. 1997, 11-997 ff.; zum Anspruch auf rechtliches Gehör in mehrstufigen Kooperationsverfahren: Sydow (Anm. 29), S. 271; vgl. weiter F. Schach, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozeßrechts, in: Schmidt-Aßmann/ HoffmannRiem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, Baden-Baden 1999, S. 279, 297 f. 39 Hierzu U. Gassner, DVB1. 1995, 16, 20 ff.; J.-R Hix, Das Recht auf Akteneinsicht im europäischen Wirtschaftsverwaltungsrecht, Baden-Baden 1992, S. 36 f.; S. Hegels, EG-
241
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen
c) die Begründung, primärrechtlich geregelt in Art. 253 EGV und in vielen Sekundärrechtsakten näher ausgeformt, muß die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle ermöglichen und Angaben enthalten, die es dem Betroffenen ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen. 40 Diese Regelungen gelten im Prinzip sowohl im Verwaltungsrecht der Europäischen Union als auch im Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten. Sie sind wichtige Elemente für die Legitimierung und Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen. Eine wichtige Bedeutung haben zudem die von den verschiedenen europäischen Behörden erlassenen Kodices für gute Verwaltungspraxis, die durch eine Entschließung des Europäischen Parlamentes von 1998 und den Tätigkeitsbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten 1997 initiiert wurden. 4 1 Sie normieren zum Teil rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten (Rechtmäßigkeit, Gleichbehandlung, Verhältnismäßigkeit, rechtliches Gehör), stellen sie aber in einen Kontext mit akzeptanzsichernden Verfahrensweisen. Der Kodex für gute Verwaltungspraxis der Europäischen Umweltagentur schreibt beispielsweise unter anderem folgende akzeptanzsichernde Verhaltensweisen vor: Höflichkeit, Fairness, Angabe des bearbeitenden Beamten mit Name und Telefonnummer, angemessene Frist für die Beschlußfassung, Vertraulichkeit des Schriftverkehrs, Antwort in der Sprache des jeweiligen Bürgers 4 2 Im Sekundärrecht sind über diese Prinzipien hinaus häufig vielfältige akzeptanzsichernde Verfahrensrechte normiert (ständige Information über den Verfahrensstand, jederzeitiges Recht zu Stellungnahme, intensive Beratung durch die Behörde, verfahrensinterne Widerspruchsrechte, Pflicht zu behördlichen Hinweisen etc.). Konsequenz der intensiven Kooperation zwischen Behörde und Bürger bzw. Industrie ist es beispielsweise im Bereich der Arzneimittelzulassung, dass nahezu alle Zulassungsentscheidungen im Konsens ergehen, nicht genehmigungsfähige Anträge durch die pharmazeutische Industrie von sich aus zurückgenommen bzw. modifiziert werden und so gut wie keine gerichtlichen Klagen gegen die Genehmigungsversagung anhängig werden. 4 3 Eine wichtige Bedeutung für die Akzeptanz hat nicht zuletzt die Dauer der Verwaltungsverfahren. Es ist eine legitime Erwartung an behördliche Verfahren, dass über Anträge in angemessener Frist entschieden wird. Der europäische Gesetz-
Eigenverwaltungs- und Gemeinschaftsverwaltungsrecht, Baden-Baden 2001, S. 82 f. mit Hinweis auf Art. 255 EGV; zur Transparenz-VO oben Anm. 19. 40 Vgl. J. Schwarza, S. L X X I I , 1349.
Europäisches
Verwaltungsrecht,
Baden-Baden
2. Aufl.
2005,
41 Zur Entstehung und Inhalten J. M. Soria, Die Kodizes für gute Verwaltungspraxis, EuR 2001, 682 ff. 42 Beschluß 2 0 0 0 / 5 2 9 / E G der Europäischen Umweltagentur zur Aufstellung eines Kodex für gute Verwaltungspraxis der Agentur, A B l . 2000 Nr. L 216, S. 15 ff. 43 Zu empirischen Daten am Beispiel der zentralen Arzneimittelzulassung vgl. Kommission (Anm. 6), Anhang, S. 30, Tabelle 5.
16 FS Bartlsperger
242
Thomas Würtenberger
geber normiert inzwischen für Genehmigungsverfahren ein striktes Zeitmanagement, das auf Tage genau vorgibt, wie lange bestimmte Verfahrensschritte dauern dürfen. Für den Antragsteller ist damit im voraus abschätzbar, wann spätestens mit einer Entscheidung zu rechnen ist. Die Dauer der Genehmigungsverfahren ist dadurch zum Teil erheblich gesenkt worden. 4 4 Diese die Akzeptanz sichernden Regelungen lassen sich weiter ergänzen. Soll Akzeptanz aus einem Diskurs aller Verfahrensbeteiligten hervorgehen, so ist dieser rechtlich zu regeln. Hier lassen sich u. a. die Festsetzung eines öffentlichen Erörterungstermins, um die gegensätzlichen Standpunkte zu diskutieren, das Recht von Verfahrensbeteiligten zur Vorlage von Sachverständigengutachten und die Pflicht der Behörde, sich mit Einwendungen auseinander zu setzen, 45 als Verfahrensschritte in einem Akzeptanzmanagement vorsehen. Ansätze für ein solches Akzeptanz-Management finden sich im Umweltverwaltungsrecht Deutschlands ebenso wie der Europäischen Union. So wird die Umweltverträglichkeitsprüfung in einem frühen Scoping-Termin von der Behörde, dem Antragsteller unter Beteiligung von Sachverständigen und Dritten abgesprochen 4 6 Hier stellt sich die Frage, warum solche Scoping-Termine nicht öffentlich durchgeführt werden, um frühzeitig einen Akzeptanz stiftenden Dialog mit allen Betroffenen der Entscheidung und der Öffentlichkeit einzuleiten. Die mittlerweile umgesetzte Richtlinie vom 27. 6. 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme 4 7 bestimmt, dass von einzelnen Personen abgegebene Stellungnahmen bei der Abwägung anläßlich der Behördenentscheidung berücksichtigt werden müssen (Art. 9 Abs. 1). Es bleibt den Regelungen im nationalen Recht überlassen, ob und in welchem Umfang sich das Anhörungsverfahren auch an einer Akzeptanz der Behördenentscheidung auszurichten hat.
4. Problemfelder Allerdings hat das supranationale Verwaltungsverfahrensrecht auch Verfahrensstrukturen hervorgebracht, die die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen erheblich erschweren. Dies gilt, wie Sydow eingehend entwickelt hat, für die trans44 Vgl. beispielsweise zum Zeitmanagement des zentralisierten und des dezentralen Arzneimittelzulassungsverfahrens den Arzneimittelbericht (Anm. 6), Anhang, S. 26 f., wonach auch komplexe Genehmigungsverfahren mit etlichen Verfahrensschritten und der Beteiligung verschiedenster Behörden maximal 300 Tage in Anspruch nehmen dürfen. 45 Zu den rechtlichen Anforderungen (Anm. 30), S. 104 ff. 4
6 Zu § 5 UVPG: Würtenberger
47
an ein Akzeptanz-Management: Würtenberger
(Anm. 30), S. 115 ff.
Richtlinie 2001 / 4 2 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 6. 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, A B l . Nr. L 197, S. 30, umgesetzt durch Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien vom 24. 6. 2004, BGBl. I S. 1359 sowie Gesetz zur Einführung einer Strategischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der Richtlinie 2001 / 4 2 / E G vom 25. 6. 2005, BGBl. I S. 1746.
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen
243
nationalen Wirkungen eines mitgliedstaatlichen Verwaltungsaktes und abgeschwächt auch für die sog. Referenzentscheidungen durch einen Mitgliedstaat. 4 8 Denn die Legitimation der das Recht der Europäischen Union vollziehenden Exekutive ist i m wesentlichen innerstaatlich begründet, so dass der Drittstaat und dessen Bürger als Adressaten von Verwaltungsakten fremder Hoheitsgewalt erhebliche Legitimations- und Akzeptanzprobleme haben. Denn wie kann ein Verwaltungsakt im eigenen Hoheitsbereich Akzeptanz finden, der, auch wenn er das Recht der Europäischen Union vollzieht, nicht den nationalen Verfahrensstandards entspricht oder an dessen Zustandekommen nationale Behörden und Betroffene nur in begrenztem Umfang gestaltend mitwirken konnten? Dieser Problematik läßt sich durch verschiedene Akzeptanzstrategien begegnen: 4 9 So kann vorgesehen werden, dass die transnationalen Wirkungen eines Verwaltungsaktes erst auf Grund eines nationalen Anerkennungsverfahrens eintreten. Außerdem kann die Legitimation des Verwaltungsaktes durch ein Akzeptanz stiftendes Verfahren zurücktreten, wenn die unionsrechtlichen Vorgaben recht detailliert sind, so dass die demokratische Legitimation durch den Vollzug demokratisch legitimierten Rechts gestiftet wird; eine solche gesetzliche Detailsteuerung läßt sich allerdings in den unionsrechtlich geprägten Zulassungsverfahren in der Regel nicht erreichen? 0 Es bedarf eines hohen Maßes an institutionellem Vertrauen, sollen Verwaltungsentscheidungen von Drittstaaten im nationalen Bereich akzeptiert werden können. 5 1 Dieses institutionelle Vertrauen orientiert sich daran, dass sich die Verwaltungen von Drittstaaten ebenfalls von einer verantwortungsvollen Konkretisierung des Gemeinwohls leiten lassen. Zudem müssen vertrauensbildende Mechanismen geschaffen werden, die u. a. auf Transparenz zielen, informelle Konsultationen ermöglichen, Netzwerke zwischen den jeweiligen Verwaltungsbereichen organisieren oder auf gemeinsamer Fortbildung 5 2 beruhen. A u f längere Sicht dürfte freilich eine Vergemeinschaftung in der Verfahrenskultur zur sichersten Akzeptanzbasis für transnationale Verwaltungsakte im Bereich der Europäischen Union werden. Bis dorthin ist freilich auch mit Blick auf die Osterweiterung noch ein langer Weg. Ob und in welchem Ausmaß das Europäische Verwaltungsrecht einem Akzeptanzmanagement in Verwaltungsverfahren entgegensteht, bleibt abzuwarten. Wenn 48 Sydow (Anm. 29), S. 242 ff. 49 Ausführlich Sydow (Anm. 29), S. 244 ff. 50
Sydow (Anm. 29), S. 246 f. mit Hinweis auf national unterschiedliche Risikoeinschätzungen. 51 H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, Berlin 2000, S. 46 ff.; Sydow (Anm. 29), S. 249 f. 52 U m ein praktisches Beispiel zu nennen: Seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jh. absolvieren deutsche Verwaltungsjuristen die Ecole Nationale d'Administration in Paris und nunmehr in Straßburg. Der dort geprägte „esprit de corps" ermöglicht informelle und ebenso vertrauensvolle wie effektive Kontakte zwischen den hohen französischen und deutschen Verwaltungsbeamten.
16*
244
Thomas Würtenberger
der Europäische Gerichtshof judiziert, das Gemeinschaftsinteresse sei immer voll zu berücksichtigen und könne nicht gegen nationale, regionale oder lokale Interessen abgewogen werden, 5 3 so verträgt sich dies nicht mit dem hier vorgeschlagenen Abwägungsdiskurs. Gerade die sachlich nicht gebotene Dominanz von Gemeinschaftsbelangen und Gemeinschaftsinteressen kann der Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen abträglich sein. Allerdings ist auch das Gegenteil zu vermeiden: Es gibt oftmals eine unheilige Allianz nationaler und lokaler Interessen, die sich ohne Rücksicht auf Gemeinschaftsinteressen durchzusetzen versuchen. Hier hat die entscheidende Verwaltungsbehörde darauf zu achten, dass die Gemeinschaftsinteressen mit dem ihnen gebührenden Gewicht in die Verwaltungsentscheidung eingehen. Bei dieser Gewichtung spielen u. a. die Einheitlichkeit und Effektivität der Umsetzung und des Vollzugs von Unionsrecht 5 4 sowie die Gewichtung u. a. ökonomischer, ökologischer, datenschutzrechtlicher oder gesundheitspolitischer Belange gemäß der Unionsrechtsordnung oder der europäischen Politik eine Rolle.
5. Verfahrensrechtliche Konsequenzen Akzeptanz als Zielsetzung des Verwaltungsverfahrens und der Verwaltungsentscheidung macht das Verwaltungsverfahren zur Arena der Artikulation von privaten und von lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Interessen. Die Verwaltung ist nicht mehr jene Instanz, die die Einwendungen der partizipierenden Bürger und der interessierten Öffentlichkeit lediglich entgegennimmt, sondern die einen sachlichen Diskurs der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsvoraussetzungen und des möglichen Entscheidungsinhalts organisiert. Ein derartiger Diskurs baut die inadäquate Distanz zwischen Bürger und Verwaltung ab und führt zur Akzeptanz von Entscheidungen auch bei jenen, die weitgehende Zugeständnisse machen mußten. Die wichtigste Folgewirkung der Akzeptanz als Leitlinie des Verwaltungsermessens ist die demokratische Integration des Bürgers in seinen Staat und in die Europäische Union. Eine Verwaltung, die auf die Akzeptanz ihrer Entscheidungen hinwirkt, trägt wesentlich zur politischen Integration und zur Legitimation auf allen Ebenen des politischen Systems bei. Dies ist ein Plädoyer für eine gemeineuropäische Kultur des Verwaltungsverfahrens, die in einzelnen Mitgliedstaaten bereits stärker, in andern erst in Ansätzen praktiziert wird. Diese wird auf längere Sicht nicht allein „von unten" von den Bürgern erstritten. Auch die Verwaltung muß sich auf eine deliberative Verfahrenskultur einstellen. 55 Eine gemeineuropäische Entwicklung kann dadurch beschleu53 Rengeling (Anm. 21), S. 229 m. Nw. 54
Hierzu S. Kcidelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, Tübingen 1999, S. 115 ff. zu den autonomiebegrenzenden Prinzipien. 55 Zu diesem Paradigmenwechsel und den Schwierigkeiten seiner Umsetzung: Würtenberger (Anm. 30), S. 24 ff.
Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen
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nigt werden, dass die nationalen Verwaltungen ihre Erfahrungen austauschen. Dies hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften mit Recht als neue Maßnahme ihrer Integrationspolitik formuliert. 5 6
IV. Schlußbemerkung zu Subsidiarität und politischem Bewußtsein als Akzeptanzfaktoren Erkennt man, dass Recht immer auch den lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Grundwertungen und Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen muss, und weiterhin, dass Recht in flexibler Weise Problemlösungen auf der möglichst untersten politischen Ebene zu gewährleisten hat, so sind damit zugleich auch ein wichtiger Akzeptanzfaktor und dessen Konkretisierung definiert. Unionsrecht, das ohne Not Problemlösungsmöglichkeiten auf lokaler oder regionaler Ebene unmöglich macht und das vom Verfahren oder Inhalt her tief verwurzelten nationalen Gerechtigkeits- und Richtigkeitsvorstellungen widerspricht, wird geltungsschwach bleiben und zur Delegitimation der Europäischen Union führen. Auch für das Unionsrecht gilt, dass es sich nur dann durchsetzt, wenn es konkrete Rechtsfragen dergestalt regelt, dass man die rechtliche Lösung intuitiv als richtige, zumindest aber akzeptable Problemlösung akzeptieren kann. Die Legitimierung und Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, die (auch) das Recht der Europäischen Union umsetzen, kann durch ein Europa-Bewusstsein wesentlich gefördert werden. Im Hinblick auf die Europäische Union muß sich eine Art europäischer Mentalität herausbilden, die ein wichtiger sozialpsychologischer Legitimationsfaktor ist. Eine solche Mentalität entsteht teils aufgrund politischer Erziehung, teils aufgrund des Funktionierens einer lebendigen politischen Ordnung. Vor allem aber entsteht es (auch) aus Erfahrungen mit einer gut arbeitenden und auf Akzeptanz achtenden Verwaltung. Eine an der Europäischen Union orientierte politische Mentalität identifiziert sich mit der europäischen Kultur und Zivilisation, bewertet die europäische Geschichte mit all ihren Konflikten aus der Warte eines neu erreichten Standes europäischer Einigung, überholt die nationalstaatliche Mentalität durch das einigende Band einer europäischen Identität und findet ihren Bezugsrahmen in der Kulturgemeinschaft Europa. Ein solches europäisches Bewußtsein ist der Nährboden, auf dem Legitimität und Akzeptanz von Entscheidungen öffentlicher Behörden gedeihen.
56
Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Anm. 14), S. 4 ff.
Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht Von Jan Ziekow, Speyer
Die Strukturierung von Rechtsmaterien in einen allgemeinen und einen besonderen Teil gehört zu den Spezifika des deutschen Rechts. Für das Verwaltungsrecht gilt insoweit nichts anderes; allerdings gibt es insoweit nur Teilkodifikationen einzelner Bereiche des allgemeinen Verwaltungsrechts, von denen die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder die wichtigsten sind. Die in der Wissenschaft immer stärker akzentuierte Rolle des allgemeinen Verwaltungsrechts wird in der Gesetzgebungspraxis nicht in gleicher Weise aufgenommen. Walter Klappstein hat das Dilemma schön zusammengefaßt: „Hinweise der Wissenschaft . . . finden bei der Entwurfsarbeit in den Fachressorts kaum Beachtung, wenn sie aus dem allgemeinen Recht abgeleitet werden. Schon im Entwurfsstadium wird also der mit Sachargumenten begründete ,Ressortegoismus 4 spürbar . . . Für Einwände aus allgemeinen oder systematischen Gründen wird im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens für - in der Regel eilige - Entwürfe der Fachressorts keine Zeit erübrigt. Die Kurzatmigkeit der heutigen Gesetzgebung wirkt sich zum Nachteil des allgemeinen Rechts aus". 1 Das Problem der Aufgabenzuordnung ist mehrschichtig und bedarf deshalb einer entsprechenden Abschichtung. Die Verwaltungsrechtswissenschaft kann sich mit der - durchaus resignativen - Diagnose Klappsteins nicht zufrieden geben. Die politische Beliebigkeit der Zuordnung zu akzeptieren hieße, den Anspruch verwaltungsrechtlicher Systembildung weitgehend preiszugeben. SchmidtAßmann hat die mit diesem Anspruch verbundenen Leistungen wie folgt zusammengefaßt: Nur „ein systematisch ausgerichtetes Verwaltungsrecht (ist) in der Lage . . . , Wertungswidersprüche bewußt zu machen und den auseinanderlaufenden Rechtsentwicklungen der Fachgebiete entgegenzuwirken. Es trägt so dazu bei, administratives Handeln transparent zu gestalten und der öffentlichen Verwaltung die notwendige Akzeptanz zu sichern." 2
Der Verzicht auf die Rationalität der Systembildung würde diese Möglichkeiten verschütten. Chancen für Rationalitätsgewinn und Richtigkeitsgewähr werden viel1 W. Klappstein, S. 153 f.
Rechtseinheit und Rechtsvielfalt im Verwaltungsrecht, Heidelberg 1994,
2 E. Schmidt-Aßmann, 2004, S. 1 f.
Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin
Jan Ziekow
248
mehr gerade durch die Akzeptierung der „strukturellen Ordnungsfunktion des A l l gemeinen Verwaltungsrechts" eröffnet. 3 Für das Verhältnis zwischen allgemeinem und bereichsspezifischem Verwaltungsverfahrensrecht stellt sich die Aufgabe der Rationalitätsschaffung in doppelter Weise: A u f einer allgemeineren Ebene geht es zunächst um die Rollenverteilung zwischen allgemeinem und besonderem Verwaltungsrecht. Hier ist über die Funktion unterschiedlicher Steuerungsebenen zu handeln. Spezifischer stellt sich das Problem zwischen Allgemeinem und Besonderem dann für das Verfahrensrecht. Hier ist zusätzlich zu beachten, daß das deutsche Verwaltungsrecht für das gerichtliche und das Verwaltungsverfahrensrecht grundsätzlich über Kodifikationen verfügt.
I. Allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht Begreift man das allgemeine Verwaltungsrecht - zumindest auch - als Auftrag, 4 so wird deutlich, daß das hier zugrunde gelegte Verständnis dem Ansatz Schmidt-Aßmanns vom allgemeinen Verwaltungsrecht als offenem System verpflichtet ist: „Das allgemeine Verwaltungsrecht ist (in den Worten Schmidt-Aßmanns) . . . kein Gebiet der Statik, sondern der Flexibilität." „Neue Theorieansätze werden in seinem Rahmen diskutiert und erprobt." 5 Das damit gezeichnete Bild des allgemeinen Verwaltungsrechts zeigt Experimentierfreudigkeit und Innovationsoffenheit. Allerdings darf sich dieser Zugang nicht ungeteilter Zustimmung gewiss sein. Die Bewertungsdiskrepanzen entstehen daraus, daß das allgemeine Verwaltungsrecht eben nicht das Verwaltungsrecht ist, sondern hierzu erst in der Ergänzung durch das besondere Verwaltungsrecht wird. Die Verteilung der Rollen zwischen Allgemeinem und Besonderem ist leitend für die Bestimmung der Funktionen des allgemeinen Verwaltungsrechts. Dessen dynamisches Potential wird durchaus unterschiedlich wahrgenommen. Für HoffmannRiem ist der „Innovationspool", das „Regulierungslaboratorium der Rechtsordnung", das besondere Verwaltungsrecht. 6 Das allgemeine Verwaltungsrecht spielt in diesem Bild den Part des tagespolitischer Aufgeregtheit entrückten ruhenden Gegenpols, des Dauerhaften. 7 Zwar wird eingeräumt, daß das allgemeine Ver3 M. Schmidt- Ρ re uß, Das Allgemeine des Verwaltungsrechts, in: W. A r n d t / Μ . E. G e i s / D . Lorenz (Hrsg.), Staat - Kirche - Verwaltung, Festschrift für H. Maurer zum 70. Geburtstag, München 2001, S. 777 (778). 4 E. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht vor den Herausforderungen neuer europäischer Verwaltungsstrukturen, in: H. H a l l e r / C . K o p e t z k i / R . N o v a k / S . L. Pauls o n / B . Raschauer/G. Ress/E. Wiederin (Hrsg.), Staat und Recht. Festschrift für G. Winkler, W i e n / N e w York 1997, S. 995 (1000); ders., Verw 1994, 137 (141).
5 E. Schmidt-Aßmann, 6
Verw 1994, 137.
W. Hqffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht - Einleitende Problemskizze, in: ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, Baden-Baden 1994, S. 9(16).
Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht
249
waltungsrecht als System anpassungs- und aufnahmefähig bleiben muß. Jedoch wird die Rückkopplung an bereichsübergreifende Trends des besonderen Verwaltungsrechts eingefordert. 8 Die referierten unterschiedlichen Gewichtungen des Innovationspotentials von allgemeinem und besonderem Verwaltungsrecht können allerdings nicht als in dem Sinne exklusiv verstanden werden, daß sie sich gegenseitig ausschließen. Sie dürften vielmehr unterschiedliche Modelle der Bewältigung von Transformationsphänomenen widerspiegeln, welche komplementär eingesetzt werden können. Die überkommene und nach wie vor berechtigte Bestimmung des Verhältnisses zwischen allgemeinem und besonderem Verwaltungsrecht könnte als vertikales Modell bezeichnet werden. In ihm stehen allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht in einer gestuften Korrelation von Induktion und Deduktion. Das besondere Verwaltungsrecht ist das an Sachgesetzlichkeiten orientierte Sonderrecht. Es soll sektoral spezifische Problemlagen unterschiedlicher Aufgabenbereiche bewältigen. 9 Wegen der Differenziertheit der Sachmaterien entsteht ein Speicher von vielartigen Lösungsmustern, die auf ihre Generalisierbarkeit durchgemustert werden. Durch Reduktion bereichsspezifischer Erscheinungsformen entstehen verallgemeinerungsfähige Grundmuster. Deren Abstraktion ermöglicht die Entwicklung bereichsübergreifender Regelungsmodelle, die in allen oder doch mehreren Gebieten des besonderen Verwaltungsrechts Anwendung finden. 1 0
Allgemeines Verwaltungsrecht
Besonderes Verwaltungsrecht
Das Innovationspotential des allgemeinen Verwaltungsrechts ergibt sich danach primär aus seiner Rezeptionsoffenheit. Neue Entwicklungen auf den Feldern des 7 W. Brohm, V V D S t R L 30 (1972), 245 (255); T. Groß, Die Beziehungen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen Verwaltungsrecht, in: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Werkstattgespräch aus Anlass des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Eberhard SchmidtAßmann, Die Verwaltung, Beiheft 2, S. 57 (72). 8 Groß (Anm. 7), S. 73 f. 9
Vgl. R. Wahl, Vereinheitlichung oder bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht?, in: W. Blümel (Hrsg.), Die Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Berlin 1984, S. 19 (45). •o Groß (Anm. 7), S. 70 ff.; Hoffmann-Riem 97.
(Anm. 6), S. 16; F. Ossenbühl, Verw 1999,
250
Jan Ziekow
besonderen Verwaltungsrechts signalisieren einen Anpassungsbedarf, den das allgemeine Verwaltungsrecht durch Bereitstellung breit einsetzbarer Regelungsmuster befriedigt. 11 Diese in Permanenz zu erbringende Rezeptionsleistung rechtfertigt es, das allgemeine Verwaltungsrecht als Prozeß zu begreifen. Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Zusammenstellung des auf seine Transferierbarkeit durchzumusternden sektoralen Materials zu. Die Auswahl der Referenzgebiete des besonderen Verwaltungsrechts prägt die Themen des allgemeinen Verwaltungsrechts nachhaltig. Starrheit oder Flexibilität des allgemeinen Verwaltungsrechts hängen davon ab, ob keinen durchgreifenden Wandlungen unterworfene oder unter hohem Innovationsdruck stehende Bereiche auf ihren Entwicklungshorizont untersucht werden. Zur Verarbeitung auf die Verwaltung zukommender neuer Herausforderungen ist das allgemeine Verwaltungsrecht nur dann fähig, wenn ein M i x entsprechend repräsentativer Referenzgebiete gelingt. 1 2 Als eines der wesentlichen Referenzgebiete in der neueren Entwicklung des allgemeinen Verwaltungsrechts ist unzweifelhaft das Umweltrecht wahrgenommen worden. 1 3 Zahlreiche Rechtsfiguren, die mittlerweile Eingang in die Dogmatik des allgemeinen Verwaltungsrechts gefunden haben, haben ihren Ursprung im Umweltrecht. Beispiele sind die Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften oder informale Steuerungsinstrumente wie Selbstverpflichtungserklärungen. Das Umweltrecht hat sich daher in der Vergangenheit als besonders transferträchtig erwiesen. Insoweit besteht durchaus eine thematische Vorprägung des allgemeinen Verwaltungsrechts durch dem Umweltrecht entstammende Fragestellungen. Neueren Rechtsgebieten ist eine vergleichbare Funktion noch nicht zugewachsen. Zu denken ist hier beispielsweise an die Bereiche des Regulierungsverwaltungsrechts 14 oder des Vergaberechts. Zwar handelt es sich beim Vergabe verfahren bis zum Zuschlag um kein Verwaltungsverfahren i. S. v. § 9 V w V f G . Doch ändert dies nichts daran, daß die Vergabe öffentlicher Aufträge durch Regelungen gesteuert wird, „die dem Verwaltungsverfahren nachgebildet sind". 1 5 Das Vergabeverfahren ist ein „reguliertes Verfahren der Vertragsanbahnung", eben eine 11 Groß (Anm. 7), S. 73; Hoffmann-Riem
(Anm. 6), S. 16.
12
Dazu E. Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts - Reformansatz und Reformbedarf, in: W. Hoffmann-Riem/ders./G.-F. Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts - Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 11 (14 f.); ders. (Anm. 2), S. 8 ff. 13 Dazu W. Hoffmann-Riem, Verwaltungsreform - Ansätze am Beispiel des Umweltschutzes, in: ders./E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 115 ff. 14
Dazu M. Burgi, Die Funktion des Verfahrensrechts in privatisierten Bereichen - Verfahren als Gegenstand der Regulierung nach Verantwortungsteilung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, BadenBaden 2002, S. 155 ff.; T. von Danwitz, D Ö V 2004, 977 ff.; J. Masing, Verw 36 (2003), 1 ff.; M. Bullinger, DVB1. 2003, 1355 ff.; M. Ruffert, AöR 124 (1999), 237 ff. is VergK Düsseldorf, Beschl. v. 21.9. 1999 - V K 12/99 - L - .
Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht
251
Regelung von Verwaltungshandeln. 16 Man kann dies als „neues Verwaltungsverfahren" 1 7 oder privatrechtlich verfasstes Verwaltungsverfahren" 18 bezeichnen. Wie sich i m Bereich der Ausschreibungspflichten außerhalb des eigentlichen Vergaberechts zeigt, 1 9 beginnt sich hier ein Verfahrensrecht neuen Typs mit wachsender Bedeutung zu formieren. Dies spricht dafür, es künftig verstärkt als Referenzgebiet heranzuziehen und wesentliche Elemente auf seine Transformierbarkeit in das V w V f G hin zu überprüfen. 20 Die Funktion des allgemeinen Verwaltungsrechts im vertikalen Modell besteht in der durch Abbreviatur bewirkten Speicherleistung. Die Transformation von Regelungsmustern von der Ebene des Besonderen auf die des Allgemeinen reduziert Komplexität. Das allgemeine Verwaltungsrecht hält Bausteine vor, die eine vertypte Bewältigung vergleichbar strukturierter Problemkonstellationen ermöglichen. Die Speicherkapazität dieser Bausteine ist groß genug, um auch bisher nicht aufgetretene Fragen zu erfassen. 21 Beispiel ist die Ausdifferenzierung der Handlungsformenlehre: Die vertypten Handlungsformen bilden einen Speicher, der bei gelungener klassifikatorischer Zuordnung ein bestimmtes Normenregime anwendbar macht. So führt die Qualifizierung einer Verwaltungsmaßnahme als Verwaltungsakt zu den gesetzlichen Regeln über die Bestandskraft, die Aufhebung, Anfechtung etc. Für nicht einer bestimmten Handlungsform zuordenbare Maßnahmen können strukturelle Ähnlichkeiten ermittelt und vergleichend Lösungswege entwickelt werden. 2 2 Das Interdependenzverhältnis des allgemeinen Verwaltungsrechts zum besonderen Verwaltungsrecht, d. h. seine Abstraktionsleistung einerseits und seine Ausstrahlungswirkung auf die Materien des besonderen Verwaltungsrechts andererseits, prädestiniert das allgemeine Verwaltungsrecht dazu, Brücke zwischen verschiedenen Abstraktionsebenen zu sein. Zwischen Verfassung und bereichsspezifischen Sonderregelungen ist das allgemeine Verwaltungsrecht der „Transit VergK Düsseldorf, Beschl. v. 26. 9. 2001 - V K 2 2 / 2 0 0 1 - 1. 17 A. Voßkuhle, Strukturen und Bauformen neuer Verwaltungsverfahren, in: W. HoffmannR i e m / E . Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, Baden-Baden 2002, S. 277 ff. 18
E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz: Perspektiven der Systembildung, in: W. Hoffmann-Riem/ders. (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, Baden-Baden 2002, S. 429 (435). 19 Vgl. M. Burgi, DVB1. 2003, 949 ff.; C. Jennert, NZBau 2005, 131 ff.; C. Klahn/C. Koch, SGb 2005, 197 ff.
Koenig/D.
20 W. Kahl, Das Verwaltungsverfahrensgesetz zwischen Kodifikationsidee und Sonderrechtsentwicklungen, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfähren und Verwaltungsverfahrensgesetz, Baden-Baden 2002, S. 67 (74 f.); J. Ziekow/T. Siegel, ZfBR 2004, 30 (35). 21 22
E. Schmidt-Aßmann,
Ordnungsidee (Anm. 2), S. 4 f.
W. Pauly, DVB1. 1991, 521 (522); R. Pitschas, Entwicklung der Handlungsformen i m Verwaltungsrecht - Vom Formendualismus des Verwaltungsverfahrens zur Ausdifferenzierung der Handlungsformen, in: W. Blümel/ders. (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1994, S. 229 (238 f.); E. Schmidt-Aßmann, DVB1. 1989, 533.
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missionsriemen", der die Vorgaben des Verfassungsrechts bis in die sektorale administrative Handlungspraxis hinein befördert. 23 A n seine Grenzen stößt das vertikale Modell, wenn die Bereitstellungsfunktion des Rechts in die Betrachtung einbezogen wird. Sie weist auf die Funktion des Verwaltungsrechts hin, ein als legitim empfundenes, rechtsstaatlich geordnetes, sachadäquate Entscheidungen produzierendes, bürgernahes und effektives Verwaltungshandeln zu ermöglichen. Das Recht muß die hierfür erforderlichen Rechtsformen, Institute, Verfahren und Organisationstypen bereitstellen. Methodisch ergibt sich daraus die Forderung nach einer aufgaben- und funktionenorientierten Betrachtungsweise: Das Verwaltungsrecht hat danach zu fragen, welche Funktionen und Aufgaben die Verwaltung zu erfüllen hat, und dasjenige bereitzustellen, das die Verwaltung benötigt, um zur Bewältigung jener Aufgaben ausreichend gerüstet zu sein. 2 4 Diesen Aufgaben- und Wirklichkeitsbezug vermag das vertikale Modell nicht zu interpretieren. Dem vertikalen muß daher ein horizontales Modell an die Seite gestellt werden, in dem allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht nebeneinander stehen. Die Implementation von Innovationen vollzieht sich dabei nicht zwangsläufig durch Abstraktion. Allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht übernehmen komplementäre Steuerungsfunktionen: Direkte Steuerungsleistungen sind regelmäßig durch das besondere Verwaltungsrecht zu erbringen, während beim allgemeinen Verwaltungsrecht die indirekte Steuerungsleistung in den Vordergrund
23
E. Schmidt-Aßmann, Verw 1994, 137 (140); R. Wahl, Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/G.-F. Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts - Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 177 (212). 24 G. F. Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft. Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in: W. Hoffmann-Riem / E. SchmidtAßmann/ders. (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts - Grundfragen, BadenBaden 1993, S. 65 (96 f.).
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rückt. 2 5 Für die Erfüllung der Bereitstellungsaufgabe ist diejenige Steuerungsebene zu wählen, die die größte Aufgabengerechtigkeit bietet. Für das horizontale Modell der Komplementarität von allgemeinem und besonderem Verwaltungsrecht kommt es weniger auf die Abstrahierbarkeit von Bewährtem, sondern auf die Unterscheidung direkte/indirekte Steuerung an. Liegt der Schwerpunkt bei der indirekten Steuerung und ist dies gerade der programmatische Ansatz des Steuerungsinstruments, sein innovativer Gehalt, so kann dies für eine Zuordnung zum allgemeinen Verwaltungsrecht sprechen. Geht es dagegen um die Inhalte der Entscheidung, so liegt eine Verortung im besonderen Verwaltungsrecht näher. Beispiele dafür, daß Innovationen mit indirekter Steuerung deshalb von vornherein dem allgemeinen Verwaltungsrecht zugewiesen worden sind, sind - bundesrechtlich - die §§ 71a ff. V w V f G und - landesrechtlich - die Art. 78a ff. Bay V w V f G , die für Bayern die landesrechtlichen Vorschriften über die UVP enthalten.
II. Allgemeines und bereichsspezifisches Verfahrensrecht 1. Verfahren als strukturelle Steuerung Entwickelt man die ο. I. getroffene Unterscheidung zwischen indirekter und direkter Steuerung für die Frage der Rollenverteilung zwischen allgemeinem und bereichsspezifischem Verfahrensrecht fort, so ist zunächst zu beachten, daß Verfahren als strukturelle Steuerung, 26 also indirekt wirkt. Wie das organisatorische wirkt das Verfahrensarrangement nicht auf den Inhalt, sondern den Entstehungskontext der Verwaltungsentscheidung ein. Von seiner Grundstruktur her läßt sich das Verfahren als soziales System zur Reduzierung von Komplexität begreifen. Typologisch ist es durch die Ungewißheit seines Ausgangs charakterisiert, die in Form von abzuarbeitenden Verhaltensalternativen den Handlungszusammenhang prägt. 2 7 Die Beendigung der Ungewißheit ist Ziel des Verfahrens. Das Verfahren ist zwar konzeptionell ergebnis-, nicht jedoch zieloffen. Verfahren sind nicht zweckfrei, sondern dienen der Erstellung einer Entscheidung. 28 Insoweit ist das Verfahren ein Prozeß der Selektion unter vorhandenen Alternativen, ein Prozeß permanenter Informationsgewinnung und -Verarbeitung. 29 Verfahren kann daher verstanden werden als Strukturierung eines Kommunikationsprozesses zwischen mehreren Beteiligten zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels, nämlich der Findung einer Entscheidung. 30 25 Schuppert (Anm. 24), S. 97 f. 26
G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2000, S. 560.
27
N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, S. 38 ff.
28 Vgl. H. Hill, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, Heidelberg 1986, S. 210. 29
F. Schoch, Verw 1992, 21 (23).
30 V g l . / / / / / ( A n m . 28), S. 211.
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Allerdings ist das Verfahren der öffentlichen Verwaltung nicht lediglich Entscheidungsfindungsmodus, sondern zuvörderst Formung staatlicher Herrschaftsausübung, 31 ist Vermittler zwischen Verfassungsvorgaben und Verwaltungsrealität und notwendige Schaltstelle für die soziale Realität des materiellen Verwaltungsrechts. Das Verwaltungsverfahren ist deshalb Verwirklichungsmodus des Verwaltungsrechts, 32 Handlungsgefüge zwischen Verwaltung und Bürger oder zwischen einzelnen Verwaltungseinheiten. Die in diesem Handlungsgefüge von der Verwaltung zu erbringende Bewältigungsleistung hat Rainer Wahl plastisch in das Bild des magischen Vielecks gefaßt. 33 Entsprechend der Multifunktionalität des Verfahrens sieht sich die Verwaltung bei ihrem Handeln einer Vielzahl von Anforderungen gegenüber. Wenngleich nicht zu verkennen ist, daß das Verständnis des Verfahrens der öffentlichen Verwaltung - selbst wenn es aus der Enge des § 9 V w V f G befreit wird im Kern auf einen die Grenzen der Organisation überschreitenden Kommunikationszusammenhang hinweist, so ist unter der Steuerungsperspektive an den Gedanken des Verfahrens als soziales System anzuknüpfen. Wenn die Einwirkung auf dieses System, die Steuerung durch Verfahren, als strukturelle Steuerung zu begreifen ist, so korrespondiert damit die Erfassung des gesamten Sets von Verhaltensarrangements als Verfahren. A u f die Nähe zum schließlich zu erstellenden Verfahrensprodukt kann es für die Frage der Einwirkung auf den Entstehungskontext nicht ankommen. Der Steuerungsgehalt des Verfahrens erschließt sich nur bei einem weiten Verfahrensbegriff, der im wesentlichen dem des Leistungsprozesses entspricht. 3 4 Anders als die oben für die Zuordnung zu allgemeinem oder besonderem Verwaltungsrecht getroffene Unterscheidung (ο. I.) ist das Verständnis der Steuerung durch Verfahren als struktureller Steuerung nicht auf das Recht als Steuerungsmedium beschränkt. I m folgenden wird es darum gehen, diese beiden Ausgangspunkte für das Verhältnis von allgemeinem und bereichsspezifischem Verfahrensrecht zusammenzuführen.
31 E. Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke in der Dogmatik des öffentlichen Rechts, in: Ρ Lerche/W. Schmitt Glaeser/ders. (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberg 1984, S. 1 (8 f.).
32 R. Wahl, V V D S t R L 41 (1983), S. 151 (153 f.). 33 R. Wahl, V V D S t R L 41 (1983), S. 151 (157). 34 Zu diesem Begriff vgl. nur T. Gross/R. Traunmüller, Office Automation, Workflow Management und Groupware: Bürounterstützung im Wandel, in: T. Traunmüller (Hrsg.), Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen: Neugestaltung mit Informationstechnik, Heidelberg 1995, S. 1 (2); F. Schiedner, Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse, Düsseldorf 1998, S. 72 ff.
Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht
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2. Die Zuordnung von Regelungsbedarfen zum allgemeinen oder zum bereichsspezifischen Verfahrensrecht Die Frage „allgemeines oder bereichsspezifisches Verfahrensrecht" ist so alt wie die Diskussion über die jeweiligen Kodifikationen oder Kodifikationsversuche des Verwaltungsrechts. Beispiele sind die V w G O mit der immer wieder aufflackernden Diskussion um eine einheitliche VwPO für das gerichtliche Verfahren 35 und das V w V f G für das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht in Abgrenzung zu den zahlreichen Sonderverfahrensrechten, 36 von denen das gescheiterte UGB eine eigenständige Kodifikation für das Umweltrecht bringen sollte. 3 7 Aus dem dabei erreichten Diskussionsstand läßt sich Folgendes herausarbeiten: Zunächst muß an dieser Stelle einem Mißverständnis begegnet werden: Bei der Alternative allgemeines oder bereichsspezifisches Verwaltungs verfahrensrecht geht es so gut wie nie um ein Entweder-Oder. Die Komplementarität der beiden Regelungsschichten ist gleichsam von vornherein in das V w V f G eingebaut worden, nämlich mit der Subsidiaritätsklausel des § 1 Abs. 1 V w V f G . Sie baut in kluger Selbstbeschränkung eine flexible Rückzugslinie für spezifische Regelungsbedürfnisse des Fachrechts auf. Dem allgemeinen Verfahrensrecht fällt von vornherein nur die Rolle zu, Modelle zu entwickeln, um den Fachressorts für die jeweiligen Fachverfahren Bausteine zur Verfügung zu stellen. Zu einer vollständigen Verdrängung des Fachverfahrensrechts kann und soll es nicht kommen, da die Eigenständigkeiten der betreffenden Sachmaterie bereichsspezifisch abgearbeitet werden müssen. Der Charakter des allgemeinen Verfahrensrechts ist also der einer Angebotsordnung. 3 8 Für das Verfahrensrecht trifft die Bereitstellungsfunktion des Verwaltungsrechts in besonderem Maße zu. Es stellt einen Grundtypus bereit, auf den zurückzugreifen oder nicht oder in abgewandelter Form dem jeweiligen Regelungsansatz vorbehalten bleibt. Die Institute des allgemeinen Verfahrensrechts zwingen nicht, sondern bieten nur an. Gleichwohl haben sie eine enorme Integrations- und Systematisierungsfunktion. Sie besteht zunächst einmal - durchaus vordergründig - darin, daß auf die „Faulheit" der Fachressorts gesetzt wird: Das Rad braucht nicht bei jeder Fachgesetzgebung neu erfunden, sondern allenfalls modifiziert zu werden. In Anbetracht dessen wird sich ein Fachressort wohl nur selten die Mühe einer vollständig abweichenden Konzeption machen. Insofern führt dann die vielbeschworene Eile des Gesetzgebungsverfahrens, die regelmäßig zu einer Zurückdrängung der zugunsten des Allgemeinen sprechenden Systematisierungsgesichtspunkte führt, 35
Siehe nur C. D. Hermanns, Einheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Osnabrück 2002.
36
Zur Kodifikationsgeschichte C. H. Ule, Die Kodifizierung des Verwaltungsverfahrensrechts, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1987, S. 1162 ff. 37 Dazu u. a. M. Kloepfer, JZ 1995, 745 ff.; A. Voßkuhle, Kodifikation als Prozeß, in: H. Schlosser (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch 1896- 1996, Heidelberg 1997, S. 77 ff. 38 R. Wahl, N V w Z 2002, 1192 (1194); ebenso Schmidt-Preuß (Anm. 3), S. 781.
Jan Ziekow
256
zu einer Stabilisierung der allgemeinen Institute. Überdies führt eine Verankerung im allgemeinen Verfahrensrecht zu einer Verlagerung der Rechtfertigungslast: Jede fachgesetzliche Regelung, die von einem wohlüberlegten Regelungssystem abweicht, bedarf besonderer Rechtfertigung hinsichtlich Notwendigkeit, Art und Folgen der Abweichung. 3 9 Insoweit entfaltet die Angebotsordnung des allgemeinen Verfahrensrechts faktisch doch eine Disziplinierungswirkung. Wenn man diesen Ausgangspunkt akzeptiert, so wird andererseits schnell deutlich, welches die Funktion des bereichsspezifischen Verwaltungsverfahrensrechts ist, nämlich eine Brückenfunktion: Das bereichsspezifische Verfahrensrecht steht
Bereichsspezifisches Verfahrensrecht
Allgemeines Verfahrensrecht
Materielles Verwaltungsrecht
zwischen allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht und dem materiellen Verwaltungsrecht des jeweiligen Referenzfeldes. 40 Es macht das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht als Verwirklichungsmodus des materiellen Rechts operabel. Die praktische Rollenverteilung hängt in erster Linie von der Regelungsdichte des allgemeinen Verfahrensrechts ab: Je größer dessen Angebot, desto weiter kann das Sonderverfahrensrecht zurückgenommen werden. Je größer umgekehrt die Lücken des allgemeinen Verfahrensrechts, um so intensiver muß in den einzelnen Regelungsbereichen geregelt werden. Bildlich gesprochen handelt es sich also beim Verfahrensrecht um einen Verwirklichungsverbund: Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht sind Modus der Verwirklichung des materiellen Verwaltungsrechts durch die Verwaltung, während das Verwaltungsprozeßrecht der Realisierung von bestrittenem Verwaltungsrecht d i e n t 4 1 Versubjektiviert steht dahinter ein Verständnis des funktionalen Zusammenhangs von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozeß als differenziertes Gesamtrechtsschutzsystem. 42 Verwaltungsverfahren und gerichtlicher Rechtsschutz entfalten wechselseitig entlastende und stabilisierende WirkunVgl. Kahl (Anm. 20), S. 130. 40
R. Wahl, Neues Verfahrensrecht für Planfeststellung und Anlagengenehmigung - Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens oder bereichsspezifischc Sonderordnung?, in: W. Blüm e l / R . Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1994, S. 83 (86 f.). 41 R. Wahl (Anm. 9) S. 41 f.; H. Jochum, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozeßrecht, Tübingen 2004, S. 491 ff., spricht insoweit vom Prinzip der normativen Konnexität. 42 R Hübe rie, V V D S t R L 30 (1972), 43 (122); J. Schwane, Der funktionale Zusammenhang von Verwaltungsverfahrensrecht und verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz, Berlin 1974, S. 44.
Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht
257
gen. Insoweit ist Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit die Rechtskonkretisierung zwar in funktioneller Trennung, der Sache nach aber gesamthänderisch aufgegeben. 43 Von daher ist es vollauf berechtigt, wenn Schmidt-Aßmann darauf hinweist, daß eine weitere Segmentarisierung des Verwaltungsverfahrensrechts Wirkungen für die Funktionswahrnehmung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu zeitigen droht. 4 4 Was aber heißt das konkret für die Zuordnung von Regelungsbedarfen zum allgemeinen oder zum bereichsspezifischen Verfahrensrecht? Zunächst einmal kann es in einer Systembetrachtung natürlich nicht darauf ankommen, durch welche historische Zufälligkeit wie Eilbedürftigkeit o. a. in welchem Bereich welche Lücken aufgetreten sind oder nicht, so daß jetzt die jeweils andere Ebene angestrebt werden muß. Jedenfalls kann hierdurch eine ggf. sinnvolle Rückholung von durch (häufig selbstverschuldeten) Zeitdruck entstandenen Sonderrechts nicht für die Zukunft ausgeschlossen sein. Für die konkrete Zuordnung von Regelungsbedarfen wird man weiterhin einzubeziehen haben, welcher Art die jeweiligen Regelungsanlässe waren. Man wird nicht außer acht lassen können, ob es sich um bewußte politische Gestaltungsakte des deutschen Gesetzgebers oder um die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht handelt. Es ist immer wieder - und völlig zu Recht - darauf hingewiesen worden, daß eine nationale Rechtsordnung, die sich gegenüber den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts rein reaktiv verhält, in eine an Selbstaufgabe grenzende Defensive gedrängt w i r d . 4 5 Der Befund der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche allgemeine Verfahrensrecht läßt sich so zusammenfassen, daß wir in vielen Bereichen zu einer Doppelspurigkeit der Rechtsanwendung in Fällen mit und solchen ohne Gemeinschaftsrechtsbezug kommen. 4 6 Dies zeigt, daß immer öfter gemeinschaftsrechtlich aufgeladene Problemkonstellationen nicht mehr in die Bausteine des allgemeinen Verwaltungsrechts eingepaßt werden können, weil das Gemeinschaftsrecht nicht nur andere Paßformen verwendet, sondern das nationale verwaltungsrechtliche Gebäude notfalls einreißt. 4 7 Für gemeinschaftsrechtliche 43 J. Ziekow, Zügige Verwaltungsverfahren, in: ders. (Hrsg.), Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, Berlin 1998, S. 51 (66). 44 E. Schmidt-Aßmann, Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung. Symposium Erichsen - Grundfragen des Verwaltungsrechts und des Kommunalrechts, in: Hoffmann-Riem/ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, BadenBaden 2000, S. 1 (9).
Vgl. etwa Kahl (Anm. 20), S. 105. 46
Dazu P. M. Huber, Das duale Regelungsregime als Sackgasse der Europäisierung, in: W. A r n d t / M . E. G e i s / D . Lorenz (Hrsg.), Staat - Kirche - Verwaltung, Festschrift für H. Maurer zum 70. Geburtstag, München 2001, S. 1165 ff.; S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, Tübingen 1999, S. 290 ff. 47 I m einzelnen J. Ziekow, Die Funktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts bei der M o dernisierung und Internationalisierung des Staates, in: R. Pitschas/S. Kisa (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staatsund Verwaltungsrechts, Berlin 2002, S. 188 (203 ff.).
17 FS Bartlsperger
Jan Ziekow
258
Sachverhalte ist das allgemeine Verwaltungsrecht in immer mehr Bereichen nicht mehr Speicher, sondern nur noch Hülle. Seine Formen und Institute werden aus ihrem Systemzusammenhang gerissen und geben lediglich noch den Rechtsanwendungsbefehl für die gemeinschaftsrechtlichen Inhalte. Fern- und Folgeentwicklungen dieser sektoralen Einbrüche für das verwaltungsrechtliche System werden dabei ausgeblendet. 48 Sie zwingen ggf. zu umfangreichen Systemkorrekturen. U m das zu vermeiden, benötigt der nationale Gesetzgeber eine offensive Strategie, die die eigene Speicherkapazität aktiv wieder auflädt. Rainer Wahl hat das sich aus der „Wahl der Stückwerk-Anpassung . . . (ohne) Vorwärtsstrategie" ergebende Dilemma dahingehend zusammengefaßt: „Das Ergebnis ist die Auflösung des eigenen bisherigen Systems und das Verfehlen der Bildung eines neuen - dies ist ein sehr unattraktives Optimum an Nachteilen." 4 9
Die Konsequenz ist recht eindeutig: Gefordert ist eine Aufnahme von leitenden Prinzipien des EU-Rechts und ihre Übersetzung in die Formensprache und das System des deutschen Rechts. Das deutsche Recht muß diese Prinzipien in Formen typisieren und systematisieren, die offen und anschlußfähig für neue Entwicklungen sind. Dies bedingt von vornherein eine Abstraktion, die die Regelungsaufgabe zunächst auf der Ebene des allgemeinen Verfahrensrechts verortet. Noch einmal Rainer Wahl: „ U m die Einwirkungen des europäischen Rechts für das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht dadurch besser ausgleichen und verarbeiten zu können, dass es selbst geschlossene Regelungen und Verfahrenstypen ausbildet - dazu ist das allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz d a . " 5 0
Sieht man von der überlagernden Frage des Umgangs mit gemeinschaftsrechtlich erzeugtem Adaptionsdruck ab, so läßt sich für die Zuordnung eines Regelungsproblems zum allgemeinen oder bereichsspezifischen Verfahrensrecht vor allem nach der Nähe zum jeweiligen materiellen Recht unterscheiden. Die spezifische Funktion des bereichsspezifischen Verfahrensrechts besteht ja gerade darin, die Besonderheiten des betreffenden materiellen Rechts operabel zu machen. Das sog. Drei-Säulen-Modell des Verfahrensrechts, also die Schaffung besonderer Verfahrensrechte neben dem allgemeinen Verfahrensrecht des V w V f G im SGB X und in der AO, ist von Anfang an damit gerechtfertigt worden, daß der besondere Sachzusammenhang mit der Sachproblematik eine eingeständige Ordnung des Verfahrens rechtfertige. 51 Auch in der Diskussion um das Verfahrensrecht des UGB-Ent48 E. Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: P. Badura/R. Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Ρ Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 513 (521); F. Schoch, JZ 1995, S. 109 (116 f.). 49 R. Wahl, Das deutsche Genehmigungs- und Umweltrecht unter Anpassungsdruck, in: K.-P. Dolde (Hrsg.), Umweltrecht i m Wandel: Bilanz und Perspektiven aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens der Gesellschaft für Umweltrecht (GfU), Berlin 2001, S. 237 (251 ).
50 R. Wahl, N V w Z 2002, 1192(1195). Vgl. nur R. Stober, SGb 1990, 225 (228).
Allgemeines und bereichsspezifisches Verwaltungsverfahrensrecht
259
wurfs ist dieser Gesichtspunkt immer wieder betont und beispielsweise hervorgehoben worden, daß die Trennbarkeit von Verfahrensregelungen und materiellen Anforderungen gegen eine Sonderregelung spricht. 5 2 Alles das, was mehr als einen Spezialbereich berührende Verfahrensfragen betrifft, gehört in das allgemeine Ver-
fahrensrecht, und all das, was an Sonderfragen des materiellen Rechts gekoppelt ist, in das bereichsspezifische Verfahrensrecht. 53 Diese Überlegungen zur Verteilung zwischen allgemeinem und bereichsspezifischem Verfahrensrecht lassen sich wie folgt zusammenfassen: Sowohl die Funktion bereichsspezifischen Verfahrensrechts als auch die Notwendigkeit, gegenüber den Adaptionsforderungen des Gemeinschaftsrechts strukturiert reagieren zu können, sprechen dafür, die Rollenverteilung zwischen allgemeinem und bereichsspezifischem Verfahrensrecht ernst zu nehmen. Soweit nicht die enge Verknüpfung mit dem materiellen Recht des Referenzfeldes sonderverfahrensrechtliche Lösungen fordert, führt eine Vernachlässigung der Integrationsaufgabe des allgemeinen Verfahrensrechts auf die Dauer zu Systembrüchen und Intransparenzen, die sowohl dem rechtsunterworfenen Bürger als auch den mit der Rechtsanwendung befaßten Behörden kaum zu vermitteln sind. 5 4
III. Ausblick Auch wenn die Wahl des Regelungsorts zur Umsetzung eines Regelungsbedarfs - allgemeines oder bereichsspezifisches Verfahrensrecht - noch nichts über den Inhalt der zu treffenden Regelungen aussagt, gilt für die gesetzgeberische Aufgabe zunächst das Gleiche: Sowohl hinsichtlich des Regelungsorts als auch des Regelungsinhalts gilt das Petitum um gründliche Auslotung sämtlicher in Betracht kommender Regelungsalternativen. Es geht nicht darum, einseitig einem abstrakten « M. We ini, UPR 2001, 46 (47). 53 Μ . Weinl, UPR 2001, 46 (48). 54 So zu Recht schon Η. Schmitz/F. 17*
Wessendorf,
N V w Z 1996, 955 (961 f.).
260
Jan Ziekow
Kodifikationsgedanken das Wort zu reden. Wichtig ist vielmehr die Erzielung einer möglichst rationalen Diskussion, die nicht ausblendet, daß beispielsweise die durch internationales Recht erzeugten Implementationsbedarfe kein lästiger Kleinkram sind, der vorübergeht, wenn man sich nur still genug verhält. Die Chancen für einen die Zukunft des deutschen Rechtssystems berücksichtigenden Diskurs stehen besser, wenn die Ebene des allgemeinen Verfahrensrechts - jedenfalls auch - angesteuert wird.
I I I . Planung und Gestaltung
.Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende? Von Willi
Blümel, Speyer
I. Widmung und Einführung Als Richard Bartlsperger und ich zusammen mit dem leider zu früh verstorbenen Hans-Wolfgang Schroeter im Jahre 1980 den Sammelband „Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung" herausgaben, 1 konnten wir nicht ahnen, welche rasante Entwicklung das Straßenrecht und speziell das Straßenplanungsrecht im folgenden Vierteljahrhundert in der alten Bundesrepublik Deutschland und vor allem nach 1990 im wiedervereinigten Deutschland nehmen würde. Den vorläufig letzten Höhepunkt haben die vielfältigen gesetzgeberischen Bemühungen mit dem jetzt (2005) vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben 2 erreicht, auf den - nach einem kurzen Rückblick auf die bisherige Gesetzgebung 3 - sogleich einzugehen sein wird. 4 Die Veränderungen und die Modernisierung des Straßenrechts und damit auch des Straßenplanungsrechts wurden über die vergangenen Jahrzehnte auf den Sitzungen des 1958 in Düsseldorf gegründeten Arbeitsausschusses „Straßenrecht' 45 1 Vgl. R. Bartlsperger/W. Blümel/H. W. Schroeter (Hrsg.), Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, 1980. Vgl. dazu z. B. die Besprechungen von R Weyreuther, D Ö V 1981, 471 f., und von W Rüfner, Die Verwaltung 15 (1982), 255 f.
2 BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 vom 19. 5. 2005 und BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 (Beschluss) vom 17. 6. 2005; jetzt BT-Drucks. 16/54 vom 4. 11. 2005. Die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates wurde von der Bundesregierung am 28. 9. 2005 beschlossen. Vgl. zu dem Gesetzentwurf z. B. P M Nr. 153/2005 des B M V B W vom 11.5. 2005, DVB1. 12/2005, S. A 225; P M Nr. 27/2005 des BVerwG vom 29. 4. 2005, DVB1. 12/2005, S. A 226 f. = N V w Z 2005, 786; P M Nr. 469/2005 des B M V B W vom 29. 11. 2005; ferner ausführlich B. Stiier, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 3. Aufl., München 2005, Rn. 3762, 4294 (S. 1470 ff., 1694 Anm. 409, 411). 3
Vgl. unten unter I I und III.
4
Vgl. unten unter I V - V I .
5
Vgl. dazu die Niederschrift über die konstituierende Sitzung des Arbeitsausschusses „Straßenrecht" am 2. 5. 1958. Leiter des Arbeitsausschusses war zunächst Ministerialdirigent Dr. Beine, Düsseldorf, dann Prof. Dr. Spanner, Erlangen (später München), und seit der 5. Sitzung am 11. 12. 1964 (in München) Prof. Dr. Klaus Ohermayer, Erlangen. Unter seiner Ägide fanden die Sitzungen des Arbeitsausschusses von der 6. Sitzung am 21. 5. 1965 bis zur 17. Sitzung am 25. 6. 1976 am Institut für Kirchenrecht der Universität Erlangen-Nürnberg
264
W i l l i Bliimel
der Forschungsgesellschaft für Straßenwesen e.V. ( K ö l n ) 6 thematisiert. 7 Der Jubilar und ich selbst sind seit der 6. Sitzung des Arbeitsausschusses am 21. 5. 1965 8 in Erlangen dabei 9 und haben z. B. auf der 11. Sitzung des Arbeitsausschusses am 27. 6. 1969 gemeinsam referiert. 10 Die nachfolgenden Betrachtungen sind daher einem Kollegen gewidmet, dem ich über vier Jahrzehnte in besonderer Weise verbunden bin. 1 1
statt. A u f der zuletzt genannten Sitzung ging die Leitung des Arbeitsausschusses auf den Verf. über (vgl. F. Kastner, Straße und Autobahn 11 /1976, 453), der sie bis heute innehat. Seit der 28. Sitzung am 28.2./2. 3. 1977 bis zur 43. Sitzung am 26.121. 10. 1998 tagte der Arbeitsausschuss „Straßenrecht" - jeweils in Verbindung mit vom Verf. geleiteten Sonderseminaren, Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagungen, Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagungen und Forschungsseminaren - an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer bzw. am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung. Die Forschungsseminare 1999 (44. Sitzung am 27./28. 9. 1999) bis 2005 (51. Sitzung am 26./27. 9. 2005) wurden unter der gemeinschaftlichen wissenschaftlichen Leitung des Verf. und von Prof. Dr. Klaus Grupp an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken durchgeführt. Vgl. dazu jetzt K. Grupp, Vorwort, in: ders., Beschleunigung und Verzögerung im Straßenbau, Bremerhaven 2005, S. 7 (m. Anm. 1). 6
Später: Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen.
7
Vgl. dazu die Angaben des Verf. (mit Fundstellen der Veröffentlichungen) in den alle zwei Jahre erscheinenden Tätigkeitsberichten der Forschungsgesellschaft (zuletzt für die Zeit von August 2002 bis Juli 2004); ferner in: W. Blümel (Hrsg.), Umweltgesetzbuch - Klagebefugnis, Speyerer Forschungsberichte 195, Speyer 1999, S. V (Vorwort). Vgl. außerdem die ausführlichen Berichte (mit Auflistung der vorangegangenen Tagungsberichte) von B. Stüer, zuletzt in DVB1. 2004, 1404 ff. (über das Forschungsseminar „Beschleunigung und Verzögerung im Straßenbau" am 27./28. 9. 2004 in Saarbrücken), in DVB1. 2005, 556 ff. (über das Forschungsseminar „Neuordnung der Bundesfernstraßenverwaltung" am 14./15. 2. 2005 in Saarbrücken) und in DVB1. 2005, 1489 ff. (über das Forschungsseminar „Europarechtliche Einflüsse auf die Straßenplanung" am 26.121. 9. 2005 in Saarbrücken); Grupp, Vorwort (Anm. 5), S. 7 (Anm. 1). 8 Vgl. dazu die von Udo Steiner - damals wie der Jubilar und der Verf. wissenschaftlicher Assistent - gefertigte Niederschrift. Auch die Niederschrift der 5. Sitzung des Arbeitsausschusses am 11. 12. 1964 stammte bereits aus der Feder von Steiner. 9
Der Jubilar wurde (zusammen mit Udo Steiner) anlässlich der 11. Sitzung des Arbeitsausschusses „Straßenrecht" (27. 6. 1969) als Mitglied aufgenommen; der Verf. ist seit der 6. Sitzung am 21.5. 1965 Mitglied. 10 R. Bartlsperger, Probleme zu Art. 90 GG; W. Blümel, Das Verhältnis von Raumordnungsrecht und Fachplanungsrecht. Vgl. dazu die Niederschrift über die 11. Sitzung des Arbeitsausschusses. 11 Vgl. dazu auch R. Bartlsperger, Das Ende von Sondererhaltungslasten i m Eisenbahnkreuzungsrecht, in: K. G r u p p / M . Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung - Recht - Rechtsschutz, Festschrift für W i l l i Blümel zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, S. 13 ff.
„Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende?
265
II. Fortentwicklung und Vereinheitlichung des Planfeststellungsrechts I m ersten V i e r t e l j a h r h u n d e r t nach I n k r a f t t r e t e n des d i e P l a n u n g u n d Planfeststell u n g (§ 16, §§ 1 7 - 1 9 ) erstmals m o d e r n u n d a u s f ü h r l i c h regelnden Bundesfernstraßengesetzes v o m 6. 8. 1 9 5 3 1 2 w a r d i e E n t w i c k l u n g des Fachplanungsrechts geprägt d u r c h mehrere N o v e l l i e r u n g e n des Bundesfernstraßengesetzes 1 3 s o w i e das I n k r a f t t r e t e n der Verwaltungsverfahrensgesetze
des B u n d e s ( v o m 25. 6.
u n d der Länder. S c h o n i n das z w e i t e V i e r t e l j a h r h u n d e r t reichte die -
1976)14
allerdings
begrenzte - V e r e i n h e i t l i c h u n g des e i n s c h l ä g i g e n Fachplanungsrechts d u r c h die B e reinigungsgesetze des B u n d e s . 1 5
III. Beschleunigungsgesetze Erstmals d u r c h das D r i t t e Rechtsbereinigungsgesetz v o m 28. 6. 1 9 9 0 1 6 w u r d e n auch neue, der V e r f a h r e n s b e s c h l e u n i g u n g dienende sonderrechtliche V o r s c h r i f t e n g e s c h a f f e n . 1 7 E i n e Phase h e k t i s c h e r A k t i v i t ä t des Bundesgesetzgebers setzte d a n n 12 BGBl. I S. 903. Der eingangs erwähnte Sammelband „ E i n Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung" wurde daher in den zitierten Besprechungen (oben Anm. 1) als eine Art Festschrift bezeichnet; vgl. dazu auch das Vorwort der Herausgeber des Sammelbandes (S. V ff.). 13 Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes vom 10. 7. 1961 (BGBl. I S. 877) mit Bekanntmachung der Neufassung des Bundesfernstraßengesetzes vom 6. 8. 1961 (BGBl. I S. 1741); Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes vom 4. 7. 1974 (BGBl. I S . 1401) mit Bekanntmachung der Neufassung des Bundesfernstraßengesetzes vom 1. 10. 1974 (BGBl. I S. 2413 mit Berichtigung BGBl. I S. 2908). Vgl. dazu vor allem E. A. Marschall, Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 2. Aufl., Köln 1961; E. A. Marschall/W. Schroeter/F. Kastner, Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 4. Aufl., Köln 1977. Die Vorschriften des Bundesfernstraßengesetzes über die Planfeststellung (und über die Enteignung) dienten damals als Vorbild für zahlreiche Neuregelungen in Bundes- und Landesrecht. Vgl. dazu ausführlicher (m. w. N.) W. Blümel, Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Planfeststellung, in: W. Erbguth/J. Oebbecke/H. W. Rengeling/M. Schulte (Hrsg.), Planung, Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, München 2000, S. 3 ff. (11 f.), jetzt auch abgedruckt in: W. Blümel, Beiträge zum Planungsrecht 1959-2000, hrsg. von K. G r u p p / M . Ronellenfitsch, Berlin 2004, S. 441 - 4 6 3 .
• 4 BGBl. I S. 1253. In Kraft getreten am 1. 1. 1977. Vgl. dazu näher (m. w. N.) Blümel, Entwicklung (Anm. 13), S. 13 f. '5 Erstes Gesetz zur Bereinigung des Verwaltungsverfahrensrechts vom 18. 2. 1986 (BGBl. I S. 265); Drittes Rechtsbereinigungsgesetz vom 28. 6. 1990 (BGBl. I S . 1221). Vgl. dazu (m. w. N.) Blümel, Entwicklung (Anm. 13), S. 14 f. 16 Vgl. Anm. 15. 17
Vgl. dazu (m. w. N.) Blümel, Entwicklung (Anm. 13), S. 15; ferner E. A. Marschall/H. W. Schroeter/F. Kastner, Bundesfernstraßengesetz (FStrG), Kommentar, 5. Aufl., Köln 1998, Vor § 1 (S. 30 f.); G. Geyer, Beschleunigung der Verkehrswegeplanung, in: Beschleunigung und Verzögerung (Anm. 5), S. 9 ff. (10 f.). Das Bundesfernstraßengesetz wurde damals in der Fassung vom 8. 8. 1990 (BGBl. I S. 1714) neu bekanntgemacht.
Willi B l m e l
266
a l l e r d i n g s nach der W i e d e r v e r e i n i g u n g i m Jahre 1990 w e g e n des A u s b a u s der desolaten V e r k e h r s i n f r a s t r u k t u r i n den neuen B u n d e s l ä n d e r n e i n . 1 8 I m V o r g r i f f a u f den a m 15. 7. 1992 beschlossenen B u n d e s v e r k e h r s w e g e p l a n 1992 hatte der B u n d e s m i n i s t e r f ü r V e r k e h r bereits a m 9. 4. 1991 d e m B u n d e s k a b i n e t t 17 Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit" ( V D E ) vorgelegt. 19 Z u r V e r w i r k l i c h u n g dieser V e r k e h r s p r o j e k t e w u r d e zunächst das Gesetz z u r B e s c h l e u n i g u n g der P l a n u n g e n f ü r V e r k e h r s w e g e i n d e n neuen L ä n d e r n s o w i e i m Land
Berlin
(Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz
-
VerkPBG)
vom
16. 12. 1 9 9 1 2 0 erlassen, das z u einer e r h e b l i c h e n V e r k ü r z u n g der Planungszeiten b e i t r u g . 2 1 D i e G e l t u n g s d a u e r des u r s p r ü n g l i c h bis 31. 12. 1995 b z w . 31. 12. 1999 ( V e r k e h r s w e g e der Bundeseisenbahnen) befristeten Gesetzes w u r d e i m m e r w i e d e r v e r l ä n g e r t , 2 2 so E n d e 1 9 9 5 , 2 3 E n d e 1 9 9 9 2 4 , E n d e 2 0 0 4 u n d E n d e 2 0 0 5 . 2 5 I n der F o l g e z e i t e r g i n g e n 2 6 - i m ( a n g e b l i c h e n ) Interesse der R e c h t s e i n h e i t - zur b u n d e s w e i t e n U m s e t z u n g der i m V e r k e h r s w e g e p l a n u n g s b e s c h l e u n i g u n g s g e s e t z ge-
Vgl. dazu (m. w. N.) Blümel, Entwicklung (Anm. 13), S. 16 f. 19
Vgl. dazu näher (jeweils m. w. N.) W. Blümel, Verkehrswegeplanung in Deutschland, in: ders./S. M a g i e r a / D . Merten/K.-P. Sommermann, Verfassungsprobleme im vereinten Deutschland, Speyerer Forschungsberichte 117, 3. Aufl., Speyer 1993, S. 1 ff. (2); ders., Neuere Entwicklungen im Verkehrswegeplanungsrecht, in: K.-P. Sommermann (Hrsg.), Aktuelle Fragen zur Verfassung und Verwaltung im europäischen Mehrebenensystem, Speyerer Forschungsberichte 230, 2. Aufl., Speyer 2003, S. 19 ff. (21 ff.); Stüer (Anm. 2), Rn. 3753 ff. (S. 1465 f.); Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, BT-Drucks. 15/2311 vom 2. 1. 2004, S. 6 f. (unter 2.4.2). Vgl. auch unten im Text (m. Anm. 34). 20 BGBl. I S. 2174. Vgl. dazu ausführlich Blümel, Verkehrswegeplanung (Anm. 19), S. 6 ff.; ders., Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 23 f.; J. Kern, Die Beschleunigungsgesetze für den Verkehrsbereich, in: FS für Blümel (Anm. 11), S. 201 ff. (204 ff.); Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 3 f.; Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 11 f.; Stüer (Anm. 22), Rnrn. 3752, 3756 (S. 1464, 1466 f.). 21 Vgl. dazu (m. w. N.) Blümel, Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 23 (m. Anm. 21); Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 13 f.; ferner unten unter I V (m. Anm. 39 f.). 22 Vgl. dazu (m. w. N.) Blümel, Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 23 (m. Anm. 22 ff.); Stüer (Anm. 7), 1404 f. (m. Anm. 9 ff.); Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 4; Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 16 ff.
23 Gesetz vom 15. 12. 1995 (BGBl. I S. 1840). 24 Gesetz vom 22. 12. 1999 (BGBl. I S. 2659). 2 5 Gesetz vom 21.12. 2004 (BGBl. I S. 3644: Verlängerung der Geltungsdauer des Gesetzes bis zum 31. 12. 2005). Inzwischen hat der Bundesrat in seiner Sitzung am 23. 9. 2005 (TOP 8) eine - von der Bundesregierung zunächst abgelehnte - weitere Verlängerung der Geltungsdauer beantragt; vgl. dazu den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes, BR-Drucks. 5 4 8 / 0 5 und 5 4 8 / 0 5 (Beschluss); BTDrucks. 16/45 vom 3. 11. 2005; P M Nr. 391/2005 des B M V B W vom 23. 9. 2005; PM Nr. 469 des B M V B W vom 29. 11. 2005; ferner unten unter I V (m. Anm. 55 ff., 82). Zur vorgeschlagenen Änderung des § 50 Abs. 1 V w G O in Art. 10 des Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben (oben unter I m. Anm. 2) vgl. unten unter V.
„Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende?
267
regelten Beschleunigungsmaßnahmen das Gesetz zur Vereinfachung der Planungsverfahren für Verkehrswege (Planungsvereinfachungsgesetz - PIVereinfG) vom 17. 12. 1993, 2 7 das Gesetz zur Regelung des Planungsverfahrens für Magnetschwebebahnen (Magnetschwebebahnenplanungsgesetz - MBP1G) vom 23. 11. 1994 2 8 , das Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren (Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz - GenBeschlG) vom 12. 9. 1996 2 9 sowie das Sechste Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze (6. VerwGOÄndG) vom 1. 11. 1996 3 0 . Durch das Planungsvereinfachungsgesetz wurden in Form eines Artikelgesetzes die 5 Verkehrswegegesetze des Bundes (Bundesbahngesetz, 31 Bundesfernstraßengesetz, Bundeswasserstraßengesetz, Luftverkehrsgesetz, Personenbeförderungsgesetz) durch im wesentlichen gleichlautende Vorschriften geändert bzw. ergänzt. Als Artikelgesetz soll auch das (2005 geplante) Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben 3 2 ergehen. Nur ein kleiner Anwendungsbereich blieb den nach der Wiedervereinigung viel diskutierten und umstrittenen 3 Investitionsmaßnahmengesetzen 33 , die ebenfalls der Umsetzung einiger der zuvor erwähnten 3 4 Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit" dienen sollten. Obwohl diese atypische Planfeststellung durch Bundesgesetz (Legalplanung) im Falle der „Lex Stendal" 3 5 mit Beschluss des Bundesverfas26 Hierzu und zum Folgenden vgl. (jeweils m. w. N.) Blümel, Entwicklung (Anm. 13), S. 15 ff.; ders., Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 25 ff.; Kern (Anm. 20), S. 208 ff.; Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 4 f. (unter 2.3); Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 12 f.; Stüer (Anm. 2), Rn. 3756 ff. (S. 1466 ff.). 27 2
BGBl. I S . 2123.
« BGBl. I S. 3486.
29 BGBl. I S . 1354. 30 BGBl. I S. 1626. Die durch die 6. VwGO-Novelle in die Verwaltungsgerichtsordnung eingefügten Vorschriften über die erleichterte Nachbesserung (Heilung) gerichtshängiger, an Verfahrens- und Formfehlern leidenden Behördenentscheidungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 7, § 94 Satz 2 V w G O ) wurden durch das am 1. 1. 2002 in Kraft getretene Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RemBereinVPG) vom 20. 12. 2001 wieder gestrichen. Damit sind diese Auswüchse der 6. VwGO-Novelle, durch welche die Verwaltungsgerichte in die Rolle als „Verwaltungshelfer" bzw. als „Rechtsberater" der Verwaltung gedrängt wurden, endlich beseitigt. Vgl. dazu (m. w. N.) Blümel, Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 27 (m. Anm. 50 ff.). 31
A n die Stelle des Bundesbahngesetzes trat das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) vom 27. 12. 1994 als Art. 5 des Eisenbahnneuordnungsgesetzes vom 27. 12. 1993 (BGBl. I S. 2378, 2396). 32
Vgl. oben unter I (m. Anm. 2).
33
Hierzu und zum Folgenden vgl. ausführlicher (jeweils m. w. N.) Blümel, Verkehrswegeplanung (Anm. 19), S. 14 ff.; ders., DVB1. 1997, 205 ff. (210 f.), auch abgedruckt in: Blümel, Beiträge (Anm. 13), S. 3 8 7 - 4 1 7 ; ders., Entwicklung (Anm. 13), S. 17; ders., Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 22 (m. Anm. 16), 24 f.; zuletzt W. Durner, Konflikte räumlicher Planungen, Tübingen 2005, S. 434 ff., 437 ff.; Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 14 f.; Stüer (Anm. 2), Rn. 3759 ff. (S. 1468 ff.). 34
Vgl. oben im Text (mit Anm. 19).
268
Willi B l m e l
sungsgerichts vom 17. 7. 1996 3 6 für verfassungsmäßig erklärt wurde, stellte sich alsbald heraus, dass der vom Gesetzgeber erhoffte Zeitgewinn gar nicht eintrat. 3 7 Der fragliche Streckenabschnitt hätte sich nämlich bei Anwendung der Vorschriften des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes mindestens ebenso schnell realisieren lassen. Damit sind die Investitionsmaßnahmegesetze zu Recht eine Episode geblieben. 38
IV. Neue Herausforderungen und ihre Bewältigung Obwohl durch die Planungsbeschleunigungsgesetze, insbesondere durch das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, die Planungszeiten erheblich verkürzt wurden, 3 9 stand und steht der Gesetzgeber am Ende des Zweiten Vierteljahrhunderts und am Beginn des Dritten Vierteljahrhunderts vor neuen Herausforderungen. Zwar konnten zunächst die Verfahren zur Schaffung des Baurechts bei Straßenbauvorhaben in einem überschaubaren Zeitraum - durchschnittlich 15 Monate - durchgeführt werden. 4 0 Schon seit geraumer Zeit ist jedoch dieser Zeitrahmen vor allem wegen der zahlreichen europarechtlichen Vorgaben und deren Umsetzung nicht mehr einzuhalten 4 1 Hinzu kommt, dass trotz der erreichten Be35
Gesetz über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin-Oebisfelde vom 29. 10. 1993 (BGBl. I S. 1909). 36 BVerfGE 95, 1. Vgl. dazu von den Nachweisen in Anm. 33 vor allem Durner, Konflikte, S. 432 (m. Anm. 207), 436 (m. Anm. 230), 438 ff.; Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 15; Stüer (Anm. 2), Rn. 3761 (S. 1469 f.). 37 Hierzu und zum Folgenden vgl. bereits Blümel, Fachplanung (Anm. 33), DVB1. 1997, 210 f.; ders., Entwicklung (Anm. 13), S. 17; ders., Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 25; ferner Stüer (Anm. 2), Rn. 3761 (S. 1470); auch Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 15. 38 Vgl. dazu auch das vom Länderfachausschuss Straßenbaurecht auf seiner 110. Sitzung am 26.121. 8. 2003 in Augsburg beschlossene und der Leiterkonferenz Straßenbau der Länder zur Billigung vorgelegte Eckpunktepapier „Beschleunigung der Planungsverfahren für Bundesfernstraßen (Bestandsaufnahme, Aktuelle Tendenzen, Vorschläge zum Verwaltungsverfahren, Europarechtlicher Kontext)", S. 3, 8 ff., 16. Das Eckpunktepapier ist jetzt auch abgedruckt in: Beschleunigung und Verzögerung (Anm. 5), S. 69 ff. Vgl. dazu Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 13 (m. Anm. 12), 16; Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 13 (unter 3.4). - Inzwischen hat allerdings der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 11.7. 2005, DVB1. 2005, 1394 (nur LS), unter Berufung auf den Beschluss des BVerfG vom 17. 7. 1996 (oben m. Anm. 36) mit dürftiger Begründung die Ausweisung von FFH- und Vogelschutzgebieten durch Gesetz für verfassungsmäßig erklärt. Vgl. dazu Stüer (Anm. 7), DVB1. 2004, 1494 (m. Anm. 38 ff.). 39 40
Vgl. dazu bereits oben unter I I I (m. Anm. 21).
Vgl. dazu den Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 9 (unter 2.6); Stüer (Anm. 7), 1404; Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 13 (m. Anm. 13). Nach dem Eckpunktepapier (Anm. 38), S. 2 (Vorbemerkung) war es bis Mitte 2003 z. B. möglich, „Anhörungsverfahren in ca. acht bis neun Monaten abzuschließen und danach zeitnah einen Planfeststellungsbeschluss zu erlassen.
,Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende?
269
s c h l e u n i g u n g ζ . B . „ d a s b u n d e s w e i t f ü r die Straßenbau V e r w a l t u n g e n verfügbare B a u r e c h t die i n den H a u s h a l t e n v o n B u n d u n d L ä n d e r n verfügbaren H a u s h a l t s m i t tel u m e i n V i e l f a c h e s ü b e r s t e i g t / ' 4 2 N i c h t z u l e t z t deshalb soll e t w a d i e G e l t u n g s dauer v o n Planfeststellungsbeschlüssen ( ζ . B . § 17 A b s . 7 F S t r G ) verlängert w e r den
4 3
S c h l i e ß l i c h f ü h r e n v e r g a b e r e c h t l i c h e S t r e i t i g k e i t e n o f t m a l s z u neuen Ver-
zögerungen
4 4
E i n e M o m e n t a u f n a h m e der d a m a l s - 2 0 0 4 - a k t u e l l e n S i t u a t i o n brachte das Forschungsseminar
„Beschleunigung
und
Verzögerung
im
Straßenbau"
am
2 7 . / 2 8 . 9. 2 0 0 4 i n S a a r b r ü c k e n . 4 5 A u f d i e i m e i n d r u c k s v o l l e n Referat v o n G e y e r 4 6 gezogene Z w i s c h e n b i l a n z u n d seinen A u s b l i c k a u f m ö g l i c h e
Gesetzgebungsver-
fahren z u r w e i t e r e n V e r f a h r e n s b e s c h l e u n i g u n g sei hier v e r w i e s e n . I n z w i s c h e n hab e n diese Bestrebungen i h r e n N i e d e r s c h l a g i n d e m bereits eingangs e r w ä h n t e n 4 7 R e g i e r u n g s e n t w u r f eines Gesetzes zur B e s c h l e u n i g u n g v o n Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben
gefunden. A l l e r d i n g s vertrat der Bundesrat i n seiner Stel-
l u n g n a h m e v o m 17. 6. 2 0 0 5 4 8 die A u f f a s s u n g , dass trotz des Erfordernisses einer r e c h t z e i t i g e n F o l g e r e g e l u n g für das z u m 31. 12. 2 0 0 5 auslaufende V e r k e h r s w e g e 41 Vgl. dazu ausführlicher (m. w. N.) Blümel, Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 29 ff.; Eckpunktepapier (Anm. 38), S. 2, 3, 24 ff.; ferner Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 38), S. 11 (unter 2.9), 13 (unter 3.4); Stüer (Anm. 7), 1404, 1405; Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 22 f. Vgl. dazu auch die Referate in: Umsetzung und Vollzug von EGRichtlinien im Straßenrecht, Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Unterreihe „Straßenbau", Heft S 36, 2004; B. Stüer, DVB1. 2003, 1437 ff. Zuletzt war das Thema Gegenstand des Forschungsseminars der Universität des Saarlandes und des Arbeitsausschusses „Straßenrecht" der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen am 26. / 27. 9. 2005 in Saarbrücken (mit Referaten von O. Rojahn, U. Repkewitz und W. Durner) über „Europarechtliche Einflüsse auf die Straßenplanung". Vgl. dazu zunächst den Bericht von B. Stüer, DVB1. 2005, 1489 ff. 42 Eckpunktepapier (Anm. 38), S. 7 / 8 = Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 21. Vgl. dazu Kern (Anm. 20), S. 219 ff.; Stüer (Anm. 7), 1405; auch Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 9 (unter 2.6 a.E.). 43 Vgl. dazu ausführlicher Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 21 f. Zu den abweichenden Regelungen im Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für infrastrukturvorhaben vgl. die allgemeine Begründung (unter A I 2) des Gesetzentwurfs, BRDrucks. 3 6 3 / 0 5 , S. 40 f. (zur Geltungsdauer von Plänen), ferner die Einzelbegründungen, ebenda, S. 54 (zu § 18c AEG), 61 f. (zu § 17c FStrG), 67 f. (zu § 14a WaStrG), 78 (zu § 2b Magnetschwebebahnenplanungsgesetz), 79 (zu § l l d Energiewirtschaftsgesetz). Nach dem Koalitionsvertrag zwischen C D U , CSU und SPD vom 11. 11. 2005 (vgl. unten im Text m. Anm. 53), S. 48 (unter Β I 6.2) sollen die Planfeststellungsbeschlüsse 10 Jahre mit einer einmaligen Verlängerungsmöglichkeit um fünf Jahre gelten. 44 Vgl. dazu den Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 9 (unter 2.6). Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 13. - Die vergaberechtliche Problematik wird u. a. Gegenstand des nächsten Forschungsseminars des Arbeitsausschusses „Straßenrecht" am 25./26. 9. 2006 in Tecklenburg sein. 45
Vgl. oben in Anm. 7. Vgl. Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 12 ff., 15 ff.
47 4
Vgl. oben unter I (m. Anm. 2).
« BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 (Beschluss), S. 1 (unter 1 b).
270
W i l l i Blümel
planungsbeschleunigungsgesetz 49 der Gesetzentwurf einer weiteren Überarbeitung unter Orientierung an den im einzelnen formulierten Eckpunkten 5 0 bedürfe. Diese Eckpunkte sind bereits weitestgehend berücksichtigt in dem von der Kommission „Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsinfrastrukturvorhaben" 51 erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsvorhaben für Verkehrsprojekte vom 10. 10. 2005. 5 2 Der Regierungsentwurf selbst konnte wegen der vorzeitigen Auflösung des Deutschen Bundestages (15. Wahlperiode) am 21. 7. 2005 und der Neuwahl des Deutschen Bundestages (16. Wahlperiode) am 18. 9. 2005 erst nach Unterzeichnung (18. 11. 2005) des Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11. 20 0 5 5 3 und nach der Bildung der neuen Bundesregierung (23. 11. 2005) am 16. 12. 2005 in den Deutschen Bundestag eingebracht werden. 5 4 Damit ließ sich das ursprüngliche Ziel nicht mehr erreichen, das Gesetz zum 1.1. 2006 in Kraft treten zu lassen. 55 Dies wiederum hatte - um keine Regelungslücke entstehen zu lassen 56 - zur Folge, dass die Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes erneut bis zum Inkrafttreten des Nachfolgegesetzes verlängert werden musste. 57 Nach der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturmaßnahmen 58 werden „die heute geltenden Vorschriften zur Planung des Baus und der Änderung von Bundesfernstraßen, Betriebsanlagen der Eisenbahn, von Bundeswasserstraßen und Flughäfen den Anfor-
49
Vgl. oben in Anm. 25; ferner unten im Text (m. Anm. 55 ff.).
50 BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 (Beschluss), S. 1 ff. (unten 1 c - 1 m). 51 Der von der Kommission unter Leitung des früheren hessischen Wirtschafts- und Verkehrsministers Posch (FDP) ausgearbeitete Gesetzentwurf wurde am 18. 10. 2005 vom hessischen Ministerpräsidenten Koch der Presse vorgestellt. Vgl. z. B. den Artikel „ K o c h w i l l einfaches Planungsrecht", FAZ vom 19. 10. 2005, S. 6. Der PosxTz-Kommission gehören als Mitglieder an: M d L Dieter Posch, Staatsminister a.D., Melsungen (Vorsitz); M d B Horst Friedrich, Bayreuth; M d B Dr. Jürgen Gebh, Kassel; Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch, Mannheim; Prof. Dr. Rudolf Steinberg, Frankfurt am Main; Dr. Herbert Hirschler, Geisenheim; MinDirig. Klaus-Peter Güttier, Wiesbaden; R D in Jutta Schmidt, Mainz; L M R Gerhard Geyer, München; M R Michael Jupe, Potsdam; M R Jürgen Kern, Wiesbaden; RR Jan Kraner, Wiesbaden. Ronellenfitsch, Schmidt, Geyer, Jupe und Kern sind auch Mitglieder des Arbeitsausschusses „Straßenrecht" der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (vgl. oben unter I m. Anm. 5).
52 Vgl. S. 1 (Vorblatt) und S. 28 a.E. (unter Begründung A I). 53
Vgl. dazu bereits oben in Anm. 43 (a.E.) sowie unten in Anm. 55 f., 59 und unter V (m. Anm. 88). 5 4 BT-Drucks. 1 6 / 5 4 vom 4. 11. 2005. Vgl. im übrigen oben unter I (m. Anm. 2). 55 Vgl. Art. 13 des ursprünglichen Gesetzentwurfs. Nach dem Koalitionsvertrag (oben i m Text m. Anm. 53) soll das Gesetz nunmehr Anfang 2006 in Kraft treten. 56 Vgl. dazu den Koalitionsvertrag (oben im Text m. Anm. 53), S. 81 (unter Β I I I 13). 51
Vgl. oben unter I I I (m. Anm. 25) sowie unten unter IV (m. Anm. 74 ff., 82).
58 BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 , S. 36 (unter A I), Vorblatt (S. 1).
„Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende?
271
derungen, die der am 1. 5. 2004 wesentlich erweiterte Binnenmarkt an Transparenz, Berechenbarkeit und Zügigkeit der Entscheidungsprozesse in den Verwaltungen des Bundes und der Länder stellt, nicht mehr gerecht". „Die Notwendigkeit, weitere Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungsverfahren für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen zu ergreifen", bestehe „ungeachtet der bisherigen Instrumente zur Planungsvereinfachung im Verkehrsbereich". 59 Diese spiegelten den Stand der nationalen Umsetzung des Europäischen Rechts zu Beginn des letzten Jahrzehnts wider und seien „ i n ihrer Beschleunigungswirkung inzwischen in wesentlichen Teilen unvollständig". 6 0 Dieser Gesetzesbegründung kann nur mit Einschränkungen gefolgt werden. Sie rechtfertigt vor allem nicht die vorgesehene Erstreckung der bisher zeitlich befristeten erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts auf die alten Bundesländer. 61 Umgekehrt erscheint es entgegen den Einwendungen des Bundesrates 62 sinnvoll, im vorliegenden Gesetzentwurf nicht nur die Beteiligung von anerkannten Naturschutzvereinen, sondern wegen der bereits unmittelbar geltenden europarechtlichen Vorgaben 63 auch die von anerkannten und sonstigen Umweltschutzvereinigungen zu regeln. 6 4 A u f die Beurteilung der zahlreichen „Detaillösungen zur Vereinfachung, Beschleunigung und Stabilisierung der Planungsprozesse im Verkehrsbereich" 65 kann in diesem Beitrag allerdings nicht eingegangen werden. 6 6
V. Erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts Gegen die erst auf Betreiben des Bundesjustizministeriums in den Regierungsentwurf 0 7 aufgenommene Erstreckung 68 der erstinstanzlichen Zuständigkeit des 59 Ebenda. Vgl. hierzu auch den Koalitionsvertrag (oben im Text m. Anm. 53), S. 47 f. (unter Β I 6.2).
60 Vgl. Anm. 58. 61
Vgl. dazu sogleich unter V.
62 Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates vom 17. 6. 2005, BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 (Beschluss), S. 3 (unter 1 h). 63 Vgl. dazu unten unter V I (m. Anm. 98 ff.). 64
Vgl. dazu näher unten unter VI.
65 BR-Drucks. 363/05, S. 37 (unter A 1), Vorblatt (S. 2). 66 Vgl. dazu den Überblick von Stüer (Anm. 2), Rn. 3762 (S. 1470 f.). 67
Vgl. oben unter I (m. Anm. 2).
68 Zur kritischen Diskussion schon im Vorfeld vgl. etwa Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 18 (ausführlich); ferner Hien, wiedergegeben im Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 12 (unter 2.12). Zur früher abweichenden Auffassung der Bundesregierung vgl. deren Antwort auf eine Kleine Anfrage der C D U / C S U betr. Beschleunigung in der Verkehrswegeplanung, BT-Drucks. 15/3561 vom 5. 7. 2004, S. 3, 4 (zu Fragen 5, 8).
272
W i l l i Blümel
B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t s f ü r b e s t i m m t e V o r h a b e n 6 9 auch a u f die alten B u n d e s l ä n d e r 7 0 bestehen v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e 7 1 u n d sachliche B e d e n k e n . Z u l e t z t w u r d e i n der bereits e r w ä h n t e n P o s c h - K o m m i s s i o n 7 2 eine solche R e g e l u n g „ w e d e r für sachgerecht erachtet n o c h unter d e m G e s i c h t s p u n k t der V e r f a h r e n s b e s c h l e u n i g u n g als z w e c k d i e n l i c h angesehen. Das i n den alten B u n d e s l ä n d e r n bestehende S y s t e m , die Oberverwaltungsgerichte / Verwaltungsgerichtshöfe
als ( e i n z i g e )
Tatsachen-
instanz u n d das B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t als R e v i s i o n s i n s t a n z zu b e s t i m m e n , hat sich b e w ä h r t , so dass daran festgehalten w e r d e n s o l l . " 7 3 S c h o n früher hatte sich der 4. Senat des B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t s m i t d e n verfassungsrechtlichen B e d e n k e n gegen d i e fortdauernde erstinstanzliche Z u s t ä n d i g k e i t des B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t s (§ 5 A b s . 1 V e r k P G ) als solche auseinanderz u s e t z e n . 7 4 I n z w e i U r t e i l e n v o m 22. 1. 2 0 0 4 7 5 w u r d e n diese B e d e n k e n 7 6 eingehender B e g r ü n d u n g z w a r für d i e Vergangenheit z u r ü c k g e w i e s e n .
mit
Zugleich
ließ das G e r i c h t 7 7 j e d o c h offen, „ o b sich über das Jahr 2 0 0 4 hinaus G r ü n d e dafür anführen lassen, § 5 A b s . 1 V e r k P B G a u f s ä m t l i c h e V o r h a b e n i.S. des § 1 A b s . 1
69
Zu den jeweils als Anlage zu den einzelnen Fachgesetzen aufgeführten „Bundesvorrangprojekten" (vgl. unten im Text m. Anm. 88) gehören 22 Schienenvorhaben, 58 Straßenbauvorhaben und 6 Wasserstraßenvorhaben. Hinzu kommt ein nicht näher bezeichnetes Vorhaben nach § 1 Satz 1 Magnetschwebebahnplanungsgesetz. 70
Nach Art. 10 des Regierungsentwurfs soll dem § 50 Abs. 1 V w G O folgende Nr. 5 angefügt werden: „5. über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren und Plangenehmigungsverfahren betreffen, die in dem Allgemeinen Eisenbahngesetz, dem Bundesfernstraßengesetz, dem Bundeswasserstraßengesetz oder dem Magnetschwebebahnplanungsgesetz bezeichnet sind." In den Entwurfs Vorschriften - § 18e Abs. 1 A E G (Rechtsbehelfe), § 17 e Abs. 1 FStrG (Rechtsbehelfe) und § 14 e Abs. 1 WaStrG (Rechtsbehelfe) - heißt es außerdem, dass § 50 Abs. 1 Nr. 5 V w G O für solche Vorhaben gilt, die Vorhaben betreffen, „die wegen 1. der Herstellung der Deutschen Einheit, 2. der Einbindung der neuen Mitgliedstaaten in die Europäische Union, 3. der Verbesserung der Hinterlandanbindung der deutschen Seehäfen, 4. ihres sonstigen internationalen Bezuges oder 5. der besonderen Funktion zur Beseitigung schwerwiegender Verkehrsengpässe in der Anlage aufgeführt sind". Nach § 2 d Abs. 1 Magnetschwebebahnplanungsgesetz (Rechtsbehelfe) gilt § 50 Abs. 1 Nr. 5 V w G O für Vorhaben nach § 1 Satz 1 des Gesetzes. Vgl. hierzu insbesondere die Begründung des Gesetzentwurfs, BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 , S. 45 (unter A 6). 71
Vgl. oben in Anm. 68 sowie unten im Text (m. Anm. 74 ff.).
72
Vgl. oben unter I V (m. Anm. 51 f.).
73
Vorblatt (S. 2) des Gesetzentwurfs der Posch-Kommission.
74
Vgl. dazu auch Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 17; Stüer (Anm. 7), 1403 f. (m. Anm. 12); N. Paffenholz, DVB1. 2005, 1392 ff. (m. Anm. 8). 7 5 DVB1. 2004, 649 (Az. 4 A 32.02) und DVB1. 2004, 655 (Az. 4 A 4.03), insoweit nur Leitsatz. 76 Zu den verfassungsrechtlichen Einwendungen in den beiden Gerichtsverfahren vgl. die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts in den vorgenannten Entscheidungen, z. B. DVB1. 2004, 649 ff. (651 f.). 77
DVB1. 2004, 649 (652; unter 1.1.5 a.E.).
„Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende?
273
Satz 1 VerkPBG anzuwenden, die auch am 31. 12. 2004 noch nicht das Planfeststellungsstadium 78 erreicht haben werden". „Ob die Sondersituation, die einen unterschiedlichen Instanzenzug rechtfertigte, fortbesteht, ,wird sorgfältig zu prüfen sein' .. . " . 7 9 Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts H i e n 8 0 selbst bemerkte auf seinem Jahrespressegespräch am 17. 2. 2004 unumwunden, dass für eine Verlängerung über das Jahr 2004 hinaus rechtlich tragfähige Gründe nicht erkennbar seien. 81 Eine weitere Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes berge die Gefahr in sich, für verfassungswidrig angesehen zu werden. Trotz dieser Warnungen wurde jedoch die Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes Ende 2004 bis zum 31. 12. 2005 und Ende 2005 bis zum 31. 12. 2006 verlängert. 82 Die aufgezeigten Bedenken wurden schließlich Ende April 2005 auch vom Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts sowie von der Präsidentin und den Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe der Länder mit Blick auf den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben 83 wiederholt. 8 4 Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für bestimmte Infrastrukturvorhaben „widerspreche zum einen der im Grundgesetz vorgesehenen Funktion eines Bundesgerichts als Rechtsmittelgericht letzter Instanz für die Klärung von Fragen des Bundesrechts, sie sei zum anderen auch aus Gründen der Praktikabilität abzulehnen. Das allgemeine Bestreben nach Verfahrensbeschleunigung sei zwar verständlich. Das würde aber für nahezu alle Gerichtsverfahren gelten und könne deshalb eine ge78 Zur oft übersehenen Bedeutung der Übergangsregelung des § 11 Abs. 2 VerkPBG vgl. den Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 13 (unter 3.3). 79
Zitat aus dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Anm. 19), S. 13 (unter 3.3).
μ E. Hien, DVB1. 2004, 464 ff. (465). Vgl. dazu auch Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 18; Stüer (Anm. 7), 1404 f. (m. Anm. 13); ders., Handbuch (Anm. 2), Rn. 3762 (S. 1471 f. m. Anm. 1795). In seinem von Stüer zitierten Beitrag „Vom Verwaltungsgericht zum Fachgericht? (Jahrespressegespräch des BVerwG)", DVB1. 2005, 348 ff. geht Hien allerdings nicht auf die verfassungsrechtlichen Bedenken ein. Vgl. im übrigen bereits oben in Anm. 68. 81 Weiter heißt es: „Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern ist voll ausgebaut und steht heute der in den alten Ländern in nichts nach. Der Beschleunigungseffekt ist zwar bei nur einer Gerichtsinstanz im Prinzip größer als bei zwei Instanzen. Das würde aber für fast alle anderen Rechtsgebiete ebenso gelten. Der Beschleunigungsgedanke allein kann daher heute die Verlängerung der Zuständigkeit kaum mehr rechtfertigen, zumal die wirklich wichtigen Projekte entweder bereits verwirklicht oder jedenfalls beantragt sind - so etwa der Flughafen Schönefeld, der damit in unsere erstinstanzliche Zuständigkeit fällt." Zum weitgehenden Baustopp für den Verkehrsflughafen Berlin-Schönefeld vgl. den Beschluss des BVerwG vom 14. 4. 2005, DVB1. 2005, 717; B. Stüer/D. Honig, Gerichtliche Eilentscheidungen bei Großvorhaben (das Beispiel Schönefeld), DVB1. 2005, 953 ff.; D. Schuster, DVB1. 2005, 1488; C. Heitsch, EuRUP 2005, 188 f. 82 Vgl. oben unter I I I (m. Anm. 25), I V (m. Anm. 55 ff., 74 ff.). Dazu auch Paffenholz. (Anm. 74), 1394 (m. Anm. 10), ÄndG vom 22. 12. 2005 (BGBl. I, S. 3691). 83
Oben unter I (m. Anm. 2).
84
Vgl. die bereits oben in Anm. 2 zitierte Pressemitteilung Nr. 37/2005 des BVerwG vom 29. 4. 2005. 18 FS Bartlsperger
W i l l i Blümel
274
genständlich begrenzte Ausnahmeregelung nicht rechtfertigen, zumal dann nicht, wenn das dazu führen würde, dass das Bundesverwaltungsgericht erstinstanzlich und letztverbindlich auch über die Auslegung von Landesrecht zu entscheiden hätte, das bei Planfeststellungen wegen der Konzentrationswirkung des Verfahrens in großem Umfang zur Anwendung komme. Abgesehen von diesem Systembruch wäre die vorgesehene Zuständigkeitsregelung auch deshalb nicht sachgerecht, weil das Bundesverwaltungsgericht dann als Tatsachengericht aufwändige Ortstermine und Tatsachenermittlungen in der ganzen Bundesrepublik durchführen müsste. Die Oberverwaltungsgerichte / Verwaltungsgerichtshöfe verfügten bereits über die notwendige Kenntnis der örtlichen Verhältnisse und Interessen. Es wäre deshalb kontraproduktiv, gerade bei standortbedeutsamen Verfahren auf den örtlichen Sachverstand zu verzichten." Angesichts der massiven Kritik war es nicht verwunderlich, dass auf dem bereits erwähnten 85 Forschungsseminar am 26./27. 9. 2005 in Saarbrücken zwei anwesende Richter des 9. Senats des Bundesverwaltungsgerichts eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 GG in einem geeigneten Fall nicht ausschlossen. 86 Gleichwohl zeichnet sich Ende 2005 ab, dass die Erstreckung der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für bestimmte Verkehrsprojekte auf das gesamte Bundesgebiet vom Gesetzgeber im Eil verfahren beschlossen wird. Zum einen hatte der Bundesrat in seiner Stellungnahme (vom 17. 6. 2005) 8 7 zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben keine Einwendungen gegen die hier kritisierte Zuständigkeitsregelung erhoben. Schwerer wiegt jedoch der Umstand, dass sich jetzt im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. 11. 2 0 0 5 8 8 der Satz findet: „ W i r wollen die Eininstanzlichkeit beim Bundesverwaltungsgericht für Bundes Vorrangprojekte auf der Grundlage des vorliegenden Gesetzentwurfs der Bundesregierung." Unter diesen Umständen bleibt nur zu hoffen, dass die Frage der Verfassungswidrigkeit der geplanten Zuständigkeitsregelung in einem einschlägigen Verwaltungsstreitverfahren vom Bundesverwaltungsgericht selbst geprüft und gegebenenfalls auf dessen Vorlage vom Bundesverfassungsgericht entschieden wird.89
85
Vgl. oben in Anm. 7.
Stüer (Anm. 7), DVB1. 2005, 1494 (m. Anm. 42). Vgl. zu dieser Möglichkeit der Überprüfung bereits Geyer (Anm. 17), S. 18. 87 BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 (Beschluss). 88 Unter Β I 6.2 (S. 4); vgl. auch unter Β I I I 13 (S. 81). Dazu P M Nr. 469/2005 des B M V B W vom 29. 11. 2005 (Tiefensee: Neue Bundesregierung setzt auf Beschleunigung des Planungsrechts). 89 Vgl. oben im Text (m. Anm. 86).
„Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende?
275
VI. Rechtsstellung anerkannter Naturschutzvereine sowie anerkannter und sonstiger Umweltschutzvereinigungen im Anhörungsverfahren zur Planfeststellung Nach geltendem Planfeststellungsrecht (z. B. § 17 Abs. 4 Satz 1 FStrG) 9 0 sind Einwendungen nach Ablauf der Einwendungsfrist ausgeschlossen (materielle Präklusion). Diese Präklusionsvorschrift ist jedoch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. 5. 2002 9 1 auf anerkannte Naturschutzverbände wegen der Sonderregelung in § 61 Abs. 3 BNatSchG nicht anwendbar. Anerkannte Naturschutzverbände können daher ihre Einwendungen noch während des gesamten Verwaltungsverfahrens geltend machen. 9 2 Durch den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben 93 soll nunmehr die Rechtsstellung der anerkannten Naturschutzvereine derjenigen von Privatpersonen angeglichen 94 und diese Regelung auch auf anerkannte und sonstige Umweltschutzvereinigungen erstreckt werden 9 5 (z. B. § 17a FStrG n.F.). 9 6 Demgegenüber wies der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf 97 darauf hin, dass bislang keine Rechtsvorschriften für eine Beteiligung anerkannter und sonstiger Verreinigungen existierten und auch kein sachlicher Grund dafür bestehe, die Beteiligung von noch nicht existierenden Vereinigungen im vorliegenden Gesetzentwurf festzuschreiben. Dem kann allerdings nicht gefolgt werden. Bekanntlich hat es der Bundesgesetzgeber versäumt, bis zum 25. 6. 2005 die Richtlinie 2003 / 35 / EG vom 26. 5. 2 0 0 3 9 8
90 Vgl. auch § 73 Abs. 4 Satz 3 V w V f G . 91 BVerwGE 116, 254 = DVB1. 2002, 1486 = N V w Z 2002, 1243. 92 Vgl. dazu näher Blümel, (Anm. 2), Rn. 4295 (S. 1694). 93
Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 36 ff. (38); Stüer
Oben unter I (m. Anm. 2).
94 BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 , S. 2 (Vorblatt); Gesetzentwurf S. 36 f. (unter Begründung A I), 37 ff. (unter Begründung A l l ) , Einzelbegründungen (unten Anm. 96). 95 Insoweit abweichend der Gesetzentwurf der Posch-Kommission (oben unter I V m. Anm. 51 f.). Vgl. S. 1 (Vorblatt) und S. 28 (unter Begründung A I), 29 f. (unter Begründung All). 96 Vgl. dazu die Einzelbegründungen im Gesetzentwurf, S. 51 f. (zu § 18a Nr. 2 AEG), 58 f. (zu § 17a Nr. 2 FStrG), 65 (zu § 14a Nr. 2 WaStrG), 76 (zu § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 3 und 4 LuftVG). 97 BR-Drucks. 3 6 3 / 0 5 (Beschluss), S. 3 (unter I h). 98 Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 5. 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 8 5 / 3 3 7 / E W G und 9 6 / 6 1 / EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten ( A B l 2004 L 156/ 17), jetzt auch abgedruckt in: W. Durner/C. Walter (Hrsg.), Rechtspolitische Spielräume bei der Umsetzung der Ärhus-Konvention, Berlin 2005, S. 153 ff. 18'
W i l l i Blümel
276
i n das innerstaatliche R e c h t u m z u s e t z e n . " Seither k o m m t eine D i r e k t w i r k u n g der R i c h t l i n i e i n B e t r a c h t z. B . m i t der F o l g e , dass das R ü g e p o t e n t i a l anerkannter N a t u r s c h u t z v e r b ä n d e (§ 61 A b s . 2 Nr. 1 B N a t S c h G ) 1 0 0 n u n m e h r - m i t B e z u g a u f O r g a n i s a t i o n s - , Z u s t ä n d i g k e i t s - u n d V e r f a h r e n s v o r s c h r i f t e n s o w i e d i e Planrechtfert i g u n g - e r w e i t e r t i s t . 1 0 1 A u ß e r d e m muss der Bundesgesetzgeber b e i j e d e r eins c h l ä g i g e n N e u r e g e l u n g d i e Vorgaben der R i c h t l i n i e beachten u n d f ü r eine alsbald i g e U m s e t z u n g s o r g e n . 1 0 2 Das w ü r d e i m v o r l i e g e n d e n F a l l bedeuten, dass der Bundesgesetzgeber i n j e d e s der nach d e m A r t i k e l g e s e t z z u ändernden F a c h p l a nungsgesetze103
n o c h V o r s c h r i f t e n über d i e A n e r k e n n u n g der z u b e t e i l i g e n d e n
U m w e l t v e r e i n i g u n g e n entsprechend d e n §§ 59, 6 0 B N a t S c h G a u f n e h m e n müsst e . 1 0 4 D a b e i k ö n n t e er sich an d e n g e p l a n t e n R e g e l u n g e n (insbesondere § 2 A b s . 2) des w e g e n der v o r z e i t i g e n A u f l ö s u n g des D e u t s c h e n Bundestages (15. L e g i s l a t u r periode) v o m B u n d e s k a b i n e t t n i c h t m e h r beschlossenen E n t w u r f eines U m w e l t R e c h t s b e h e l f s g e s e t z e s 1 0 5 orientieren. Sauberer w ä r e es j e d o c h , diesen Gesetzent99 Hierzu und zum Folgenden vgl. (jeweils m. w. N.) Geyer, Beschleunigung (Anm. 17), S. 23 (m. Anm. 57); Stüer, (Anm. 2), Rn. 771 f., 2688, 2718, 219 (S. 303, 1034 ff., 1053 ff.); ders. (Anm. 7), DVB1. 2005, 1492 ff. (m. Anm. 28 ff.); die Beiträge von Walter, Ziekow, Durner, Zschiesche, Fluck, Geiger, Jannasch, Bronig/Friedrich in Durner /Walter, Spielräume (Anm. 98); J. Ziekow, EurUP 2005, 154 ff. = Beitrag in Durner/Walter, Spielräume (Anm. 98), S. 39 ff.; G.-M. Knopp, Z U R 2005, 281 ff.; W Durner, Z U R 2005, 285 ff.; C. Palme, Anmerkung zu dem Urteil des O V G Lüneburg vom 1. 12. 2004 (Emssperrwerk), Z U R 2005, 482, 487 ff.
i(X) Vgl. dazu Blümel, Neuere Entwicklungen (Anm. 19), S. 36 f. (37). 101 So Palme (Anm. 99), 489 f. (490: Auswirkungen der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie). Zur Direktwirkung der Richtlinie vgl. ferner unten in Anm. 102 (a.E.) sowie im Text (m. Anm. 107 f.). 102 Zur Umsetzung der Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G sind am 22. 2. 2005 zwei Gesetzentwürfe des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit veröffentlicht (und dazu Länder und Verbände angehört) worden, und zwar der Entwurf eines Gesetzes über die Öffentlichkeitsbeteiligung in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G (Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz) - Stand 2 1 . 2 . 2005 - und der Entwurf eines Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EGRichtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz) - Stand: 2 1 . 2 . 2005 - , auch abgedruckt in: Durner/Walter, Spielräume (Anm. 98), S. 171 ff. Eine Beschlussfassung des Bundeskabinetts erfolgte wegen des vorgezogenen Endes der 15. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages (dazu auch oben unter I V m. Anm. 53 f.) nicht mehr. Zur Direktwirkung der Richtlinie vgl. jetzt die Empfehlungen des Bundesumweltministeriums vom 28. 7. 2005 für Vollzugshinweise der Länder zur unmittelbaren Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G zur Öffentlichkeitsbeteiligung; ferner Stüer (Anm. 2), Rn. 2719 (S. 1055 f.); ders. (Anm. 7), D V B l . 2005, 1493; Durner (Anm. 99), 285 (m. Anm. 9). 103
Oder in das Artikelgesetz selbst (soweit nicht landesrechtliche Vorschriften in Betracht kommen). Zur Gesetzgebungskompetenz vgl. Knopp (Anm. 99), Z U R 2005, 282. 104 Vgl. dazu die Anmerkung zu § 2 Abs. 2 des Entwurfs eines Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (Anm. 102), abgedruckt bei Durner/Walter, Spielräume (Anm. 98), S. 175. Gegen ein separates Anerkennungsverfahren G. Geiger, Impulsstatement aus der Sicht der Anwaltschaft, in: Durner /Walter, Spielräume (Anm. 98), S. 109 (unter I I 6).
>05 Vgl. Anm. 102.
„Verkehrswegeplanungsbeschleunigung" ohne Ende?
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wurf eigenständig und unverzüglich zu verabschieden. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass in der Zwischenzeit die Verwaltungsgerichte wegen der Direktwirkung der Richtlinie den bereits als Naturschutzvereinen nach dem Bundesnaturschutzgesetz oder nach landesrechtlichen Vorschriften anerkannten Vereinen 1 0 6 über § 61 Abs. 2 Nr. 1 B N a t S c h G 1 0 7 hinaus die Rüge gestatten, dass die angegriffene Entscheidung Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, widerspricht.108'109
106 Vgl. dazu § 2 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs eines Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (Anm. 102). 107
Vgl. auch oben im Text (m. Anm. 101). io« Vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 1 des Entwurfs eines Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (Anm. 102). ι» 9 Die Abhandlungen von H. Lecheler, DVB1. 2005, 1533 ff. und von M. N V w Z 2006, 7 ff., konnten in diesem Beitrag nicht mehr berücksichtigt werden.
Gellermann,
Zur Zulässigkeit raumordnerischer Gebietskategorien im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB Von Wilfried
Erbguth, Rostock
I. Einleitung 1. Vorbemerkung Der rechtswissenschaftliche Ausweis des Jubiiiars ist in Tiefe wie Breite beeindruckend. Eines seiner wesentlichen fachlichen Standbeine bildete dabei seit jeher das Raumordnungsrecht. Er hat auch insoweit die Rechtsentwicklung nicht nur begleitet, sondern wissenschaftlich ganz wesentlich geprägt - wofür pars pro toto sein Werk „Raumplanung zum Außenbereich" aus dem Jahr 2003 Zeugnis ablegt. Zugleich zeichnet Richard Bartlsperger in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht nur aus, dass er sie vergnügt mit Verve führt, also durchaus und nicht zu knapp auszuteilen imstande war und ist, sondern auch - und vor allem - , dass er (in der Boxersprache ausgedrückt) immer zugleich Nehmerqualitäten hat erkennen lassen, mithin Kritik mühelos verkraften konnte. Vor diesem Hintergrund versteht sich der nachfolgende Beitrag zu einem aktuellen und kontrovers behandelten Fragenkomplex.
2. Problemlage In der Praxis der Landes- und Regionalplanung ist Verunsicherung durch die Rechtsprechung zu den für § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB erforderlichen gebietskategorialen (planerischen) Festlegungen eingetreten. Das gilt mit Blick auf die regionalplanerische Festlegung von Konzentrationsflächen für privilegierte Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 - 6 BauGB, deren Steuerungswirkung sich darauf richtet, dass außerhalb ihres gebietlichen Zuschnitts die fraglichen Nutzungen ausgeschlossen sind. Verwiesen ist damit zunächst auf § 7 Abs. 4 ROG, der in seinem Satz 1 als Festsetzungsmöglichkeiten drei Gebietsarten vorhält (Vorranggebiete, Vorbehaltsgebiete, Eignungsgebiete) und in Satz 2 eine Kombination von Vorranggebiet und Eignungsgebiet eröffnet. Das BVerwG verlangt ferner für § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB ein
Wilfried Erbguth
280
Gesamtkonzept im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Ausschlussund Positivflächen, 1 dies insbesondere, um die Verwirklichung der gesetzlich vorgesehenen Privilegierungen sicherzustellen. In Anbetracht dessen hat das Gericht in einem jüngeren obiter dictum ausgesprochen, die Festlegung von Vorbehaltsgebieten sei nicht geeignet, als innergebietliche Ausweisung die Ausschlusswirkung des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB nach sich zu ziehen. 2 Die Begründung richtet sich darauf, dass Vorbehaltsgebiete als Positivausweisungen gerade nicht gewährleisten, den Privilegierungstatbeständen im Widerstreit mit gegenläufigen Nutzungs- bzw. Schutzansprüchen zur Durchsetzung bzw. Verwirklichung zu verhelfen. 3 Dies beruhe auf dem Grundsatz-Charakter der Vorbehaltsgebiete im Sinne von § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 2, § 3 Nr. 3 ROG. Anders sehe es hingegen bei einer Ausweisung als Vorranggebiet (§ 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ROG) für die Konzentrationsfläche aus. 4 Die Landes-, insbesondere die Regionalplanung in den Bundesländern hat(te) vielfach Eignungsgebiete als Positivflächen für Privilegierungstatbestände nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 - 6 BauGB ausgewiesen. Das war im Vertrauen darauf geschehen, dass die Kategorie der Eignungsgebiete nach § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG dem Willen des (ROG-)Gesetzgebers zufolge die typische Ausweisungsform für den regionalplanerischen Planungsvorbehalt nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB darstellen sollte. 5 Da nun aber die innergebietliche (Positiv-)Wirkung der Eignungsgebiete keineswegs gesichert Zielbindungskraft aufweist, sondern nach verbreiteter Auffassung Grundsatzcharakter hat, 6 gerät diese Praxis der Länder in die Gefahr, besagtem Verdikt des BVerwG gegenüber den Vorbehaltsgebieten zu unterliegen. Angesichts dessen und der damit etwaig zweifelhaften Steuerungswirkung der Ausweisung von Eignungsgebieten im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB soll es um die Frage der zulässigen raumordnerischen Gebietskategorien im Rahmen letzterer Vorschrift gehen. Dabei gilt es, den gesetzgeberischen Willen hinsichtlich des
ι BVerwG v. 17. 12. 2002 - 4 C 1 5 / 0 1 - , N V w Z 2003, 733 (736); dazu etwa näher H. Mayer-Metzner, BayVBl. 2005, 129 (132 ff.); zu weiteren, hier nicht behandelten Fragen im Zusammenhang mit den Gebietskategorien und § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB, insbesondere solchen der Grundrechtswahrung, vgl. W. Hoppe, DVB1. 2003, 1345 (1353); D. R. Anders/K. Jankowski, Z U R 2003, 81 (84); K. Redeker, Flächenkonzentration durch Ziele der Raumordnung, in: W. Erbguth u. a. (Hrsg.), Planung, Festschrift für Werner Hoppe zum 70. Geburtstag, München 2000, S. 334 (335); M. Kment, Rechtsschutz im Hinblick auf Raumordnungspläne, Münster 2002, S. 127; vgl. auch dens., UPR 2002, 428; R. Hendler, UPR 2003, 401 (402 f.); eingehend R. Bartlsperger, Raumplanung zum Außenbereich, Berlin 2003, S. 234 ff.; demgegenüber H. v. Nicolai, N V w Z 2002, 1078; ders., Z U R 2004, 74 mit Fn. 1. 2
BVerwG v. 30. 03. 2003 - 4 C 4.02 - , ZfBR 2003, 464 (468).
3
BVerwG, wie vor.
4
BVerwG, wie vor; allgemein zu den Zielen der Raumordnung H. Schulte, N V w Z 1999,
942. 5
Vgl. nachfolgend vor und nach Fn. 14; zu den Gegebenheiten in Bayern H. Mayer-Metzner (Anm. 1), 130 f. 6
Vgl. dazu noch nachfolgend im Text.
Zulässigkeit raumordnerischer Gebietskategorien
281
Zusammenspiels zwischen § 7 Abs. 4 ROG und § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB gebührend zu berücksichtigen.
3. Vorgehensweise Vor diesem Hintergrund soll zunächst die vorstehend umrissene Rechtsprechung kurz vorgestellt (dazu II. 1.), sodann die Genese der Vorschrift des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB in Verbindung mit derjenigen des § 7 Abs. 4 ROG beschrieben (dazu II. 2.), nach einem Zwischenergebnis (dazu II. 3.) der diesbezügliche Meinungsstand im Schrifttum aufgezeigt (dazu II. 4.) und vor jenem Hintergrund zu der angesprochenen Grundsatzfrage Stellung bezogen werden (dazu II. 5.).
II. Hauptteil 1. Rechtsprechung und Gebietskategorien, § 7 Abs. 4 ROG i.V.m. § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB Maßgeblich gilt es auf die Rechtsprechung des BVerwG abzustellen. 7 Von zentraler Bedeutung ist insofern die Entscheidung des BVerwG vom 13. 03. 2003. 8 Dort hat es das Gericht in den Urteilsgründen ausgeschlossen, in der Bilanz der Positiv- und Negativflächen Vorbehaltsgebiete im Sinne des § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 ROG als Positivausweisung zu werten. 9 Die Begründung richtet sich darauf, § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB setze Erfordernisse der Raumordnung voraus, die Zielcharakter besäßen. Nur so sei sichergestellt, dass sich die privilegierte Nutzung an dem ihr zugewiesenen Standort gegen konkurrierende Nutzungen durchsetzt: 10 „Vorbehaltsgebiete bieten diese Gewähr nicht, sie entfalten typischerweise eine geringere Steuerungskraft. Sie wirken als Gewichtungsvorgaben auf nachfolgende Abwägungs- und /oder Ermessensentscheidungen ein und dürfen durch öffentliche oder private Belange nur von höherem Gewicht überwunden werden. § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 ROG ordnet sie daher den Grundsätzen und nicht den Zielen der Raumordnung zu. Das Raumordnungsgesetz sieht folgerichtig auch nicht vor, dass Vorbehaltsgebiete mit einer Ausschlusswirkung auf anderen Flächen verbunden sein können." Stellten Eignungsgebiete demzufolge in ihrer innergebietlichen (Positiv-)Wirkung Vorbehaltsgebiete in diesem Sinne dar, wären sie nach besagter Rechtspre7
Vgl. zur Rechtsprechung der verwaltungsgerichtlichen Berufungsinstanz H. v. Nicolai,
Z U R 2004 (Anm. 1). « Urt. v. 13. 03. 2003 - 4 C 4.02 - , N V w Z 2003, 738. 9 BVerwG, wie vor, 742; auch O V G Lüneburg, Urt. v. 28. 10. 2004 - 1 K N 155/03 - , Z U R 2005, 156 (160): Vorbehaltsgebiete genügen nicht. 10 BVerwG, wie vor; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 21. 10. 2004 - 4 C 2.04 - , UPR 2005, 111 (111 f.).
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chung nicht in der Lage, die Konzentrationswirkung respektive den Planvorbehalt des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB auszulösen. Erstere Prämisse scheint das BVerwG indes nicht als zwingende Folge anzusehen. Denn unmittelbar nach den zuvor zitierten Passagen fährt es wie folgt fort: „Dieses Privileg" - gemeint ist die Ausschlusswirkung - „genießen nach der Konzeption des Bundesgesetzgebers nur Vorrang- und Eignungsgebiete. Den Landesgesetzgebern steht es allerdings frei, in Ausfüllung des Rahmenrechts Gebietstypen mit Zielcharakter einzuführen oder zuzulassen, die in ihrer gebietsinternen Durchsetzungskraft und Steuerungswirkung Vorrang- oder Eignungsgebieten gleichkommen und deshalb in der Flächenbilanz bei der Anwendung von § 35 I I I 3 BauGB als Positivauswirkung berücksichtigt werden können." 1 1 Zwar beziehen sich die letztgenannten Hinweise nicht darauf, dass dergestalt über Eignungsgebiete sichergestellt wird, dass sich die privilegierte Nutzung an dem ihr zugewiesenen Standort gegen konkurrierende Nutzungen durchsetzt. 12 Unmittelbar betonen sie lediglich, dass Eignungsgebieten wie Vorranggebieten 13 im Gegensatz zu den Vorbehaltsgebieten die zusätzliche Ausschlusswirkung zukommt. Gleichwohl zeigen die Ausführungen des Gerichts, dass die Festsetzung von Eignungsgebieten nach § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG es keineswegs a priori ausschließt, den Planvorbehalt nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB auszufüllen.
2. Gesetzgeber und Gebietskategorien, § 7 Abs. 4 ROG i.V.m. § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB Der Gesetzgeber hatte zunächst mit der BauGB-Novelle 1996 den Planvorbehalt in § 35 Abs. 3 S. 4 BauGB a.F. (= § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB) eingeführt und sodann im Wege des BauROG '98 raumordnerische Gebietskategorien nachgeliefert. 14 Wie die ausdrückliche Bezugnahme in der Definition der Eignungsgebiete nach § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG auf § 35 BauGB erweist, ging es ihm dabei eindeutig darum, die Kategorie der Eignungsgebiete als maßgebliche Ausweisung im Sinne des raumordnerischen Planungsvorbehalts nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB festzuschreiben. So vermerkt auch die Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: „Die Eignungsgebiete nach Nr. 3 sollen raumbedeutsame Maßnahmen (Vorhaben) im bauplanungsrechtlichen Außenbereich nach § 35 BauGB dadurch steuern, dass bestimmte Gebiete in einer Region für die Maßnahmen als geeignet erklärt werden mit der Folge, dass diese raumbedeutsamen Maßnahmen außerhalb ι· BVerwG, wie vor; gegenteilig auch nicht BVerwG, Urt. v. 21. 10. 2004 - 4 C 2.04 - , UPR 2005, 111 (112), wo der Begriff „Eignungsflächen", wie die zur „Manövriermasse" gezogene Parallele zeigt, offensichtlich untechnisch verwendet wird. ι 2 Vgl. vorstehend im Text. 13 Gemeint sind aber wohl solche in Kombination mit Eignungsgebieten nach § 7 Abs. 4 S. 2 ROG.
'4 Dazu auch Η. ν. Nicolai, Z U R 2004 (Anm. 1), 76.
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dieser Gebiete regelmäßig ausgeschlossen sein sollen. Die Bindungswirkung einer solchen Festlegung soll sich nach den §§ 4 und 5 Entwurf - gegebenenfalls i.V.m. der in § 35 Abs. 3 BauGB enthaltenen Raumordnungsklausel - richten; entsprechend § 7 Abs. 1 S. 3 Entwurf haben die Träger der Landes- oder Regionalplanung Vorrang- und Eignungsgebiete als Ziele der Raumordnung zu bezeichnen. Satz 2 eröffnet den Ländern die Möglichkeit, raumbedeutsame Maßnahmen (Vorhaben) im bauplanungsrechtlichen Außenbereich auch durch innergebietlichen Vorrang verbunden mit einem regelmäßigen außergebietlichen Ausschluss zu steuern." 15 Dem kann Folgendes entnommen werden: Maßgeblich für die von § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB vorausgesetzte Steuerungswirkung ist eine Kombination aus Positivausweisung verbunden mit einer Ausschlusswirkung im Übrigen. Das entspricht der Rechtsprechung des BVerwG zu den so genannten Abgrabungskonzentrationszonen, die Auslöser und Hintergrund der Einführung des § 35 Abs. 3 S. 4 BauGB (a.F.) im Jahre 1996 war. 1 6 Über eine derartige Kombination(swirkung) verfügen nach der gesetzgeberischen Definition in § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG per se und allein die Eignungsgebiete. Vorranggebieten kann derartiges nur nach Maßgabe der Ergänzung i m Wege des § 7 Abs. 4 S. 2 ROG zukommen. Die zusätzliche Möglichkeit des § 7 Abs. 4 S. 2 ROG ist lediglich im Interesse solcher Bundesländer aufgenommen worden, bei denen wegen geringerer Windhöffigkeit die Steuerung im Wege einer zusätzlichen Gebietskategorie Eignungsgebiet inadäquat erschien; ihnen sollte es ermöglicht werden, Konzentrationsflächen im Wege der ergänzten Vorranggebiete auszuweisen. 17 Die zentrale Ausweisung zur Steuerung im Sinne des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB bildet hingegen nach dem Willen des Gesetzgebers das Eignungsgebiet, und zwar zum einen aufgrund der legislativ verfolgten Stärkung regenerativer Energieerzeugung, zum anderen, um den windhöffigen norddeutschen Ländern eine entsprechend komplementäre Ausweisungsmöglichkeit zu verschaffen. 1 8 Der Bundesgesetzgeber ging schließlich auch davon aus, dass die Festsetzung von Eignungsgebieten Zielcharakter in sich trägt, 1 9 so dass keine Divergenz mit Blick auf den Wortlaut des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB gesehen wurde. 2 0 15 BT-Drs. 13/6392, S. 84. 16 Vgl. dazu vorstehend i m Text; BVerwG, Beschl. v. 03. 06. 1998 - 4 Β 6.98 - , ZfBR 1998, 262; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 22. 05. 1987 - 4 C 57.84 - , BVerwGE 77, 300 (305 f.); dazu etwa A. Lehners, Raumordnungsgebiete nach dem Raumordnungsgesetz 1998, Münster 1998, S. 68 f.; H. Mayer-Metzner (Anm. 1), 129 (129). 17 Vgl. P. Runkel, Das Konzept des Gesetzgebers für die „Raumordnungsgebiete", in: H. D. Jarass (Hrsg.), Raumordnungsgebiete (Vorbehalts-, Vorrang- und Eignungsgebiete) nach dem neuen Raumordnungsgesetz, Münster 1998, S. 7 (15 f., 24 f.).
ι» Vgl. nur P. Runkel (Anm. 17), S. 16 ff.; A. Lehners (Anm. 16), S. 67; W. Erbguth, DVB1. 1998, 209 (211). 19 Vgl. auch Ausschussbericht BT-Drs. 13/7589, S. 23 f. 20 Zu Letzterem: W Erbguth (Anm. 18), 213 f.
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3. Zwischenergebnis In Anbetracht dessen kann einerseits festgehalten werden, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Kategorie der Eignungsgebiete nach § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG bewusst als raumordnerische Ausweisung zur Erreichung der Konzentrationswirkung gem. § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB eingeführt worden ist. § 7 Abs. 4 S. 2 ROG hatte demgegenüber lediglich ergänzende Funktion aufgrund unterschiedlicher räumlicher Problemlagen im Verhältnis der Bundesländer. 21 Was die Rechtsprechung des BVerwG anbelangt, so wird dort die „Eignung" von Eignungsgebieten nach § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG als Festsetzung zur Erreichung der Steuerungswirkung nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB nicht von vornherein ausgeschlossen.
4. Schrifttum und Gebietskategorien, § 7 Abs. 4 ROG i.V.m. § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB I m Schrifttum besteht zunächst Einigkeit dahingehend, dass die Ausschlusswirkung der Eignungsgebiete mit raumordnerischer Zielbindung ausgestattet ist. 2 2 Äußerst umstritten ist indes die innergebietliche Geltungskraft von Eignungsgebieten, also auf den Positivflächen. Hier reicht die Meinungsvarianz von der Ablehnung einer Zielverbindlichkeit über die Annahme einer Zielwirkung, der aber die erforderliche nutzungssichernde Kraft fehlen soll, bis zur (uneingeschränkten) Einordnung als Ziel der Raumordnung. 23 Die erstgenannte Sichtweise, derzufolge Eignungsflächen innergebietlich lediglich Grundsatzwirkung zeitigen bzw. jene von Vorbehaltsgebieten nach § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 R O G , 2 4 gründet dies zum einen auf den Wortlaut des § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG, zum anderen (und insbesondere) auf die Entstehungsgeschichte der Norm. Tatsächlich verhält es sich so, dass der Gesetzgeber zwar von der Zielwirkung der Eignungsgebiete gesprochen hat, 2 5 er es aber an einer Klarstellung, ob
21 Vgl. vorstehend im Text; P. Runkel (Anm. 17), S. 15. 22 Vgl. nur C. Heitsch, NuR 2004, 20 (21 m. w. N.); die Auffassung von K. Goppel, in: H. D. Jarass (Hrsg.), Raumordnungsgebiete (Anm. 17), S. 26 (33 f.), derzufolge sich die Wirkung von Eignungsgebieten hierin erschöpft, also innergebietlich (dazu sogleich im Text) seitens der Raumordnung nichts festgelegt wird, ist vereinzelt geblieben; kritisch demgegenüber mit guten Gründen R. Bartlsperger (Anm. 1), S. 56; vgl. auch H. A. Wolff', BayVBl. 2001,737. 23 Ähnlich, wenn auch noch weiter differenzierend, R. Bartlsperger (Anm. 1) S. 55; ders., in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Zur Novellierung des Landesplanungsrechts aus Anlaß des Raumordnungsgesetzes 1998, Hannover 2000, S. 119 (130 ff.).
24 Vgl. W. Erbguth (Anm. 18), 211 f.; S. Grotefels, Vorrang-, Vorbehalts- und Eignungsgebiete in der Raumordnung (§ 7 Abs. 4 ROG), in: FS Hoppe, 2000, S. 369 (379 ff.); ähnlich R. Bartlsperger (Anm. 1), S. 56 f.; auch St. Kirste, DVB1. 2005, 993 (1000 f.). 25 Vgl. bei Fn. 19.
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damit die Ausschlusswirkung oder die Binnengeltung gemeint war, hat fehlen lassen: 2 6 So heißt es in der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, 27 wie zuvor wiedergegeben, 28 zunächst allgemein, Eignungsgebiete nach Nr. 3 (des § 7 Abs. 4 ROG-E '98) sollten „raumbedeutsame Maßnahmen (Vorhaben) im bauplanungsrechtlichen Außenbereich des § 35 dadurch steuern, dass bestimmte Gebiete in einer Region für die Maßnahmen als geeignet erklärt werden mit der Folge, dass diese raumbedeutsamen Maßnahmen außerhalb dieser Gebiete regelmäßig ausgeschlossen sein sollen". Wird im Anschluss hieran noch recht unentschlossen vermerkt, die Bindungswirkung einer solchen Festlegung ,,soll"(e) sich nach § § 4 und 5 ROG-E '98, „gegebenenfalls" in Verbindung mit der in § 35 Abs. 3 BauGB enthaltenen Raumordnungsklausel richten, 2 9 so findet sich nachfolgend die Beachtlichkeit der Festlegung von Eignungsgebieten als Ziele der Raumordnung dem Grunde nach deutlich herausgestrichen: „Bauleitpläne sind gemäß § 1 Abs. 4 BauGB an die Eignungsgebiete anzupassen, entsprechend § 7 Abs. 1 S. 3 Entwurf haben die Träger der Landes- oder Regionalplanung Vorrang- und Eignungsgebiete als Ziele der Raumordnung zu bezeichnen". 3 0 Freilich kann der Begründung zu § 7 Abs. 4 ROG '98 nicht mit Eindeutigkeit entnommen werden, welcher Wirkung von Eignungsräumen Zielbindungskraft zukommen soll: der Ausschlusswirkung nach außen, derjenigen innergebietlicher Art oder beiden Festsetzungsgehalten. Soweit auf §§ 4 und 5 des Entwurfs verwiesen wird, bleibt gar die Einordnung als Raumordnungsziel als solche im Unklaren, weil § 4 ROG-E '98 neben der Zielbeachtlichkeit in Abs. 2 auch die bloße Abwägungsrelevanz von Grundsätzen und sonstigen Erfordernissen der Raumordnung erfasst(e). Die im Folgenden betonte Pflicht der Gemeinden, Bauleitpläne nach § 1 Abs. 4 BauGB an die Eignungsgebiete als Ziele der Raumordnung anzupassen, artikuliert dann zwar die verfolgte Zielbindung, nicht aber, ob diese Wirkung auch (eignungs)gebietsintern eintreten soll. Denkbar wäre ohne Weiteres eine auf die Ausschlusswirkung nach außen beschränkte Anpassung in dem Sinne, dass es den nicht im Eignungsgebiet gelegenen Gemeinden im Rahmen ihrer Bauleitplanung verwehrt sein sollte, Flächen für derartige (Windenergie-)Anlagen auszuweisen. Für eine solche Interpretation streitet nach besagter Auffassung auch sinn- und zweckorientiert, dass ein derart verbindlicher Ausschluss allgemein den entscheidenden (regionalplanerischen) „Hebel" für die gesetzgeberische Steuerung zugunsten von Konzentrationsgebieten 31 darstellt - und im Besonderen, dass die Begründung eben dieses als zentralen Aussagegehalt der Ausweisung von Eignungsgebie26
Zum Nachfolgenden vgl. W. Erbguth (Anm. 18), 211.
27 BT-Drs. 13/6392, S. 84; vgl. bereits vorstehend im Text. 2H Vgl. vor Anm. 15 29 BT-Drs. 13/6392, S. 84. 30 Ebenda; auch bei Anm. 19; ähnlich P. Runkel, DVB1. 1997, 275 (277). BT-Drs. 13/6392, S. 84; P. Runkel (Anm. 30), 277, 279.
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ten hervorhebt, wenn sich betont findet, bestimmte Gebiete einer Region könnten insoweit für geeignet erklärt werden „ m i t der Folge" jener Ausschlusswirkung. 32 Schon daraus und aus der abschließenden Passage des einschlägigen Absatzes der Begründung, welche die Möglichkeit einer gesonderten innergebietlichen Vorrangerklärung eröffnet, lässt sieht nicht nur ableiten, dass der Gesetzgeber zwischen inner- und außergebietlicher Wirkung der Eignungsgebiete unterschieden hat, sondern auch, dass die Zielbeachtlichkeit spezifisch für den (außengerichteten) Ausschluss angeordnet worden ist. 3 3 Von anderer Seite wird den Eignungsgebieten (innergebietlich) zwar eine partielle Zielqualität zugebilligt: Diese liege darin, dass im Rahmen der gemeindlichen Abwägung nach § 1 Abs. 6 BauGB a.F. (= § 1 Abs. 7 BauGB) die Eignung des Gebietes nicht mehr in Frage gestellt und etwa die Darstellung oder Festsetzung einer Abgrabungsfläche nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden dürfe, es seien keine Bodenschätze vorhanden oder es stünden naturschutzrechtliche Aspekte entgegen. 34 Was fehle, sei jedoch die nutzungssichernde Funktion der zielförmigen Ausweisung. So hebe die Rechtsprechung des BVerwG in der Entscheidung zu den Abgrabungskonzentrationszonen 35 auf die explizite Darstellung einer Abgrabungsfläche ab, die den so dargestellten Standort für Abgrabungen vorhalten und gegen andere Nutzungszuweisungen sichern soll. Demgegenüber bestünde aufgrund der partiellen Zielbindung von Eignungsgebieten die Gefahr, dass eine nach § 35 Abs. 1 BauGB privilegierte Nutzung außerhalb des Eignungsgebietes wegen der Negativwirkung des § 35 Abs. 3 S. 4 BauGB a.F. (= § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB) ausgeschlossen wäre und sich gleichzeitig innerhalb des Eignungsgebietes „wegen ihres lediglich relativen Vorrangs" nicht zwingend durchzusetzen vermöchte. 3 6 Es fehle mithin an einer konkret standortsichernden Entscheidung im positiven Sinne. 3 7 Demgegenüber wird eben jene (partielle) Zielbindung von Eignungsgebieten als ausreichend i m Sinne des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB erachtet. 38 Verwiesen findet man (vergleichbar) darauf, dass die Festsetzung eines Eignungsgebietes zwar nicht 32 BT-Drs. 13/6392, ebd.; vgl. auch vorstehend; H.-C. Kaune, BBauBl. 1997, 87 (91). 33 Zum Vorstehenden W. Erbguth (Anm. 18), 211; S. Grotefels (Anm. 24), S. 379 ff.; auch A. Schink, Raumordnungsgebiete und kommunale Planungshoheit - Chancen und Schwierigkeiten für die Kommunen - , in: H. D. Jarass (Hrsg.), Raumordnungsgebiete (Anm. 17), S. 46 (59); A. Lehners (Anm. 16), S. 64; M. Spiecker, Raumordnung und Private, Berlin 1999, S. 245; ähnlich K. Goppel (Anm. 22) S. 26 (33 f.). 34
/. Schmidt, Wirkung von Raumordnungszielen auf die Zulässigkeit privilegierter Außenbereichsvorhaben, Münster 1997, S. 78 ff. 35 Vgl. bei und in Anm. 16. 36 /. Schmidt (Anm. 34), S. 81 f. (78 f.). 37 Zum Vorstehenden vgl. ebenfalls /. Schmidt, wie vor. 38 Vgl. P. Runkel (Anm. 17), S. 23; C. Heitsch (Anm. 22), 22; wohl auch R. Hendler, Systematische Aspekte der Raumordnungsgebiete und die Bindungswirkung von Raumordnungszielen, in: Hans D. Jarass (Hrsg.), Raumordnungsgebiete (Anm. 17), S. 88 (115); sogar für Vorbehaltsgebiete als Raumordnungsziele K. Goppel (Anm. 22), S. 26 ff. (30 f.).
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bedeute, dass die raumbedeutsamen Vorhaben, zu deren Konzentration das Eignungsgebiet festgelegt worden ist, an jedem Standort innerhalb des Gebiets Vorrang vor anderen konkurrierenden Nutzungen oder Funktionen haben sollen. 3 9 Es sind hiernach also durchaus noch Standorte bzw. Teilflächen innerhalb der Eignungsgebiete denkbar, auf denen dies, d. h. eine Verdrängung durch die Privilegierung, nicht der Fall ist und hinsichtlich derer der Gemeinde eine Feinsteuerung im Wege der Bauleitplanung verbleibt. Die Grenze sei allerdings dort erreicht, wo es um die Eignung des Gebietes geht: Die gemeindliche Bauleitplanung dürfe nicht dazu führen, dass die raumbedeutsamen Vorhaben, deren Konzentration das Eignungsgebiet bezwecke, innerhalb des Gebiets vollständig ausgeschlossen würden. 4 0 Insofern stehe die Eignung des Gebietes für die fraglichen Vorhaben nicht mehr zur Disposition. In ähnlicher Weise wird betont, dass beim Eignungsgebiet der verbleibende gemeindliche Konkretisierungsspielraum im Rahmen der Bauleitplanung zwar größer sei als mit Blick auf die Ausweisung von Vorranggebieten. 41 So könne im Flächennutzungsplan eine differenzierte Gliederung des Eignungsgebiets vorgenommen werden, dies mit Konzentrationszonen für Windenergieparks, anderen Zonen mit überlagernden und damit aufgelockerten Nutzungen, aber auch mit Zonen, deren Funktionen eine Windenergienutzung ausschlössen (bspw. Naherholung). Der damit implizierte Konkretisierungsvorgang des Eignungsgebietes durch Darstellungen in der gemeindlichen Bauleitplanung brauche nicht für jeden Teilbereich gleichermaßen und mit gleicher Intensität zu erfolgen. Freilich endeten die Feinsteuerungsoptionen der Gemeinde dort, wo die Eignung des Gebietes für die Windenergienutzung durch anders lautende Darstellungen insgesamt oder in einem erheblichen Umfang in Frage gestellt werde. 4 2 Schließlich findet sich unter Rückgriff auf besagte Rechtsprechung zu den Abgrabungskonzentrationszonen 43 darauf hingewiesen, Eignungsgebietsfestlegungen könnten ihren Zweck nur mit einer strikt rechtsverbindlichen gebietsinternen (Ziel-)Wirkung erreichen 4 4
5. Stellungnahme Nimmt man das zunächst gefundene Zwischenergebnis und die beiden eindeutigen Positionen (Zielcharakter - fehlender Zielcharakter) zusammen, so folgt hieraus dem Grunde nach keine Unzulässigkeit der Festsetzung von Eignungsgebieten zwecks Steuerung nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB über die Regionalplanung: 45
39 C. Heiisch (Anm. 22), 22. 40
C. Heitsch, wie vor.
41 P. Runkel (Anm. 17), S. 21. 42
R Runkel, wie vor.
43
Vgl. bei und in Anm. 16.
44
A. Lehners (Anm. 16), S. 68 ff. (70).
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• Wie dargelegt, ist diesbezüglich die Rechtsprechung des BVerwG durchaus offen. • Der Gesetzgeber hat in der Einführung von Eignungsgebietsfestsetzungen geradezu den Transmissionsriemen zu § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB gesehen und verfolgt. • Handelt es sich bei Eignungsgebietsausweisungen um Ziele der Raumordnung, so bestehen insoweit ohnehin keinerlei Bedenken; überdies fehlt es (dann) an Widerläufigkeiten mit der Abfassung des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB. 4 6 • Folgt man der Annahme, bei der außergebietlichen, nicht aber der innergebietlichen Wirkung von Eignungsgebieten handele es sich um ein Ziel der Raumordnung, ergibt sich allerdings ein Problem mit dem Wortlaut des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB, der hinsichtlich der Positivausweisung ein Ziel der Raumordnung verlangt. Die Schwierigkeit erscheint freilich auslegungsmethodisch durchaus behebbar, wie anderweitig dargestellt worden ist: Angesichts der maßgeblichen Ausschlusswirkung schießt § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB mit der soeben angesprochenen Maßgabe über das Ziel hinaus, genauer: verfehlt es nicht nur, sondern konterkariert es auch, wenn die Vorschrift ihrem Wortlaut nach hinsichtlich der Binnenwirkung von Eignungsgebieten Zielcharakter verlangt, nicht hingegen für deren außengerichteten Ausschluss. Ob dies durch bloße (sinn- und zweckorientierte) Auslegung zurechtgerückt werden kann, nämlich dergestalt, dass die Festsetzung von Eignungsgebieten nach außen Zielverbindlichkeit aufweist, also immerhin (auch) ein Ziel ist, erscheint angesichts des auf die Innenwirkung bezogenen Wortlauts ( „ . . . als Ziele der Raumordnung eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt ist.") zweifelhaft. Der rechtsmethodisch richtigere Weg dürfte jener der teleologischen Reduktio n 4 7 sein. Deren allgemeine Rechtfertigung liegt in dem „Gebot der Gerechtigkeit, Ungleiches ungleich zu behandeln, d. h. die von der Wertung her erforderlichen Differenzierungen vorzunehmen" 4 8 Ein derartiges Vorgehen ist insbesondere anerkannt, wenn Sinn und Zweck der einzuschränkenden Norm selbst oder der vorrangige Zweck einer anderen Vorschrift, der andernfalls nicht erreicht würde, dies gebieten. 49 So liegen die Dinge hier: Wie dargestellt, geht es weder § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB 9 7 / 9 8 noch § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG '98 um einen
45
Zum Nachfolgenden auch W. Erbguth/J. Wagner, Grundzüge des öffentlichen Baurechts, 4. Aufl., München 2005, § 8 Rn. 136 ff.; bereits M. Spiecker, BayVBl. 2001, 673. 46
Dazu sogleich im Text.
47
K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Heidelberg 1995, S. 210 ff.; im Ansatz ähnlich K. Goppel (Anm. 22), S. 33: § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB als bloße Rechtsfolgenregelung; für gesetzgeberische Anpassung S. Grotefels (Anm. 24), S. 382. 4
« K. Larenz/C.-W.
49
K. Larenz/C.-W.
Canaris (Anm. 47), S. 211. Canaris e benda.
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Zielcharakter der innergebietlichen Festlegung von Eignungsgebieten, sondern um deren Ausschlusswirkung nach außen. Der Wortlaut des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB 9 7 / 9 8 ist daher in seiner Bezugnahme auf die besagte Innenwirkung einzuschränken und - spiegelbildlich - im Wege teleologischer Extension 5 0 auf die Zielwirkung des maßgeblichen Ausschlusses auszurichten. 51 Dergestalt lässt sich die raumordnungsrechtlich wie städtebaurechtlich intendierte Geltung des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB für Eignungsgebiete bzw. -räume rechtsmethodisch herleiten bzw. begründen. Jenseits dessen erscheint die Einschätzung zutreffend, derzufolge die vielfach für die Annahme des fraglichen Zielcharakters herangezogene Maßgabe der Bestimmtheit bzw. des Letztentscheidungsgehalts 52 einseitig überbetont w i r d , 5 3 nämlich zu Lasten der Wahrung des Kompetenzbereichs anderer Planungsträger, hier der gemeindlichen Bauleitplanung - und des Weiteren mit Blick auf die Sinnhaftigkeit des gesamtkonzeptionellen Gefüges von Positiv- und Negativflächen, aus denen sich das maßgebliche Gebot der Nutzungssicherung in den Eignungsgebieten ableitet: Aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG folgt insoweit zum Schutze der Planungshoheit, dass gebietskategoriale Festlegungen der Raumordnung gegenüber der gemeindlichen Planungshoheit erforderlich sein müssen, d. h. das mildeste Mittel in Anspruch zu nehmen haben, welches das verfolgte Ziel zu erreichen vermag. Das sind im Verhältnis zu den Vorranggebieten mit Ausschlusswirkung nach § 7 Abs. 4 S. 2 ROG Eignungsgebietsfestsetzungen, weil sie innergebietlich den Gemeinden Ausgestaltungsspielräume belassen. 54 Ohnehin dürfte es - und das richtet sich zugleich gegen die Forderung nach einer konkreten Standortgewährleistung 55 - hinsichtlich des nutzungssichernden Charakters der Positivausweisung letztlich irrelevant sein, ob innergebietlich bei Eignungsgebieten von einer Zielverbindlichkeit auszugehen ist oder nicht: Allein maßgeblich muss der mit der Positivausweisung verfolgte Zweck sein, Verhinderungs- bzw. Negativplanungen zu Lasten besagter privilegierter Außenbereichsvorhaben auszuschließen. Eben das ist gemeint, wenn das BVerwG betont, es müsse die Durchsetzbarkeit der erfassten Privilegierungen in den Positivbereich gewährleistet, ein „Wegwägen" ausgeschlossen sein. 5 6 Anlass zu derartigen Befürch50 Dazu K. Larenz/C.-W.
Canari s (Anm. 47), S. 216 ff.
51
§ 35 Abs. 3 S. 3 BauGB wäre dann wie folgt zu lesen: soweit hierfür durch Darstellung im Flächennutzungsplan eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt ist oder aufgrund raumordnerischer Ausweisung an anderer Stelle eine derartige Maßnahme im übrigen Gebiet durch Ziele der Raumordnung ausgeschlossen worden ist". 52 Kritisch Ρ Runkel (Anm. 17), S. 23. 53 So bereits P. Runkel (Anm. 17), S. 22 f. 54 Vgl. dazu allgemein A. Schink (Anm. 33), 78; H. v. Nicolai, Z U R 2004 (Anm. 1), 76; auch BVerwG ν. 17. 12. 2002 - 4 C 15 / 01 - , N V w Z 2003, 733 (735). 55 Vgl. bei und nach Anm. 34. 19 FS Bartlsperger
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tungen besteht nicht, und zwar unabhängig davon, ob die Festlegung von Eignungsgebieten mit Zielbindungskraft belegt ist oder dies nicht der Fall ist: Was die gemeindliche Planung anbelangt, hat nämlich das BVerwG schon in Fällen einer „eigenen", d. h. durch Flächennutzungsplan nach § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB vorgenommenen Ausweisung mit Ausschlusswirkung für das restliche Gemeindegebiet zwar Abwägungsspielräume bei aller gesetzlichen Aufwertung der Privilegierungstatbestände eingeräumt, zugleich jedoch eindeutige Grenzen mit Blick auf einen angemessenen Anteil an Positivbereichen aufgezeigt 57 - und solche im Wege einer Flächenrelation ansatzweise konkretisiert. 58 Diese die Bauleitplanung limitierende Indiepflichtnahme impliziert aber nach allgemeinen Grundsätzen ordnungsgemäßer Abwägung 5 9 eine substantielle Gewichtsverlagerung zugunsten des Belangs, hinreichende Nutzungsmöglichkeiten durch entsprechende gebietliche Ausweisungen zu schaffen. 60 Das gilt in besonderem Maße, wenn bereits durch Regionalplanung entsprechende Vorgaben gesetzt worden sind. 6 1 Indem solcher Art für die jeweilige Gemeinde der Ausschlussbereich feststeht, sind aufgrund der hiermit vorprogrammierten Abhängigkeit, angemessene Nutzungen zu eröffnen, den auf den Positivflächen verbleibenden Möglichkeiten abwägender Gestaltung mithin deutliche(re) Restriktionen setzt. Für eine Negativ- oder Verhinderungsplanung bleibt rechtlich kein Raum, schon gar nicht für ein gänzliches „Wegwägen". Dann aber verbietet der Schutz der kommunalen Planungshoheit aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG (siehe oben) umso mehr eine in ihrer Stringenz unnötig weitergehende raumordnerische Vorgabe. 62
III. Ergebnisse 1. Hinsichtlich der Zulässigkeit von raumordnerischen Gebietskategorien nach § 7 Abs. 4 ROG zur Festlegung von Konzentrationsflächen mit der Ausschlusswirkung des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB hat das BVerwG lediglich verneint, dass eine derartige Wirkung von Vorbehaltsgebieten i. S. d. § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 ROG ausgehen kann. M i t Blick auf Eignungsgebiete nach § 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG ist aufgrund dieser Rechtsprechung nicht ausgeschlossen, dass sie die Wirkung des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB zu zeitigen vermögen. 56 BVerwG, Urt. v. 13. 03. 2003 - 4 C 4 / 0 2 - , N V w Z 2003, 738 (742); auch BVerwG, Urt. v. 21. 10. 2004 - 4 C 2 . 0 4 - , UPR 2005, 111 (111 f.). 57 BVerwG v. 17. 12. 2 0 0 3 - 4 C 15/01 - , N V w Z 2003, 733 (735). 58 BVerwG v. 13. 03. 2003 - 4 C 4.03 - , ZfBR 2003, 464 (465). 59 Dazu nur W. Erbguth/J.
Wagner (Anm. 45), § 5 Rn. 114, 157 m. w. N.
60 Ähnlicher Gedanke bei H.-J. Koch/R. Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 4. Aufl., Stuttgart 2004, § 3 Rn. 38; zurückhaltender wohl St. Kirste (Anm. 24), 1000. 61 Vgl. im Ansatz auch BVerwG v. 17. 12. 2 0 0 3 - 4 C 15/01 - , N V w Z 2003, 733 (736). 62 Vgl. vorstehend vor Anm. 54.
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2. Dem Gesetzgeber des BauGB '98 zufolge bildete die Ausweisung Eignungsgebiet (§ 7 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 ROG) die zentrale Festsetzungsmöglichkeit zur Erreichung der Steuerungswirkung des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB. M i t der Kombinationsmöglichkeit des § 7 Abs. 4 S. 2 ROG (Vorranggebiet mit Ausschlusswirkung) sollte lediglich eine zusätzliche Planungskategorie in den Bundesländern vermieden werden, in denen § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB wegen geringer Windhöffigkeit ohnehin wenig praktische Relevanz zukommt. 3. Die diesbezüglichen Einschätzungen im Schrifttum divergieren. Einigkeit besteht nur dahingehend, dass die Ausschlusswirkung der Eignungsgebiete mit raumordnerischer Zielbindung ausgestattet ist. Umstritten ist hingegen die innergebietliche Geltungskraft von Eignungsgebieten, also auf den Positivflächen. Hier reicht die Meinungsvarianz • von der Ablehnung einer Zielverbindlichkeit (nur - ggf. „gehobener" - Grundsatz-Charakter) • über die Annahme einer Zielwirkung, der aber die erforderliche konkret nutzungssichernde Kraft fehlen soll, • bis zur (uneingeschränkten) Einordnung als Ziel der Raumordnung. 4. M i t Ausnahme der zweitgenannten Auffassung kommen die Sichtweisen freilich zum Ergebnis eines zulässigen Einsatzes von Eignungsgebieten im Rahmen des § 35 Abs. 3 S. 3 ROG. Gewisse Widersprüchlichkeiten zum Wortlaut der Vorschrift im Falle der erstbezeichneten Auffassung lassen sich methodisch auflösen. 5. Dessen ungeachtet wird die für die Annahme des fraglichen Zielcharakters herangezogene Maßgabe der Bestimmtheit bzw. des Letztentscheidungsgehalts einseitig überbetont. Das geht zu Lasten der Wahrung des Kompetenzbereichs anderer Planungsträger, hier der gemeindlichen Bauleitplanung. Gründe rechtsstaatlicher Erforderlichkeit verlangen im Gefolge von Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG, dass gebietskategoriale Festlegungen der Raumordnung das mildeste Mittel in Anspruch zu nehmen haben, welches das verfolgte Ziel zu erreichen vermag. Das sind i m Verhältnis zu den Vorranggebieten mit Ausschlusswirkung nach § 7 Abs. 4 S. 2 ROG Eignungsgebietsfestsetzungen, weil sie innergebietlich den Gemeinden Ausgestaltungsspielräume belassen. 6. Schließlich und vor allem dürfte es für den Planvorbehalt des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB, genauer: hinsichtlich des nutzungssichernden Charakters der Positivausweisung, letztlich irrelevant sein, ob innergebietlich bei Eignungsgebieten von einer Zielverbindlichkeit auszugehen ist oder nicht. Das spricht zugleich gegen die Forderung nach einer konkreten Standortsicherung im Sinne der zweitgenannten (obigen) Auffassung. Allein entscheidend ist - vielmehr - der mit der Positivausweisung verfolgte Zweck, Verhinderungs- bzw. Negativplanungen zum Nachteil der erfassten privilegierter Außenbereichsvorhaben auszuschließen. Das ist im Gefolge der Festlegung von Ausschlussflächen sichergestellt, weil hieraus eine die Bauleitplanung limitierende Indiepflichtnahme erwächst: 1
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Wilfried Erbguth
a) Nach allgemeinen Grundsätzen ordnungsgemäßer Abwägung folgt aus jenem Ausschluss eine substantielle Gewichtsverlagerung zugunsten des Belangs, hinreichende Nutzungsmöglichkeiten durch entsprechende innergebietliche Ausweisungen zu schaffen. b) Das gilt umso mehr, wenn bereits durch Regionalplanung derartige Vorgaben gesetzt worden sind.
Grundlagen und Grundsätze des Lärmschutzes beim Bau von Verkehrswegen Von Hans Carl Fickert, Ratingen / Aachen
Besondere Einführung 1. Das gestellte Thema enthält mit seiner allgemein gehaltenen Formulierung scheinbar nichts, was nicht im Rahmen der Umweltprobleme bereits behandelt worden ist, soweit sie den Lärm von Verkehrswegen und die gleichzeitige Frage des wirksamen Schutzes gegenüber dem Lärm zum Gegenstand haben. Es gibt zwar unzählige Abhandlungen über den (richtigen) Lärmschutz gegenüber Verkehrswegen, insbesondere gegenüber den Straßen und ihrem Verkehr. Sie behandeln in den meisten Fällen aber nur Teilfragen und häufig mit dem Unterton, dass im Grunde nicht genügend für den Lärmschutz der Bürger getan werde. Die Autoren befinden sich mit ihren Äußerungen 1 in guter Gesellschaft mit ähnlichen Ansichten in den Medien. Es soll hier nur auf eine im August 2005 erfolgte Äußerung mit der Fettüberschrift „ Z w e i Drittel der Deutschen leiden unter Lärm" hingewiesen werden. Kein geringerer als der Präsident des Umweltbundesamts (UBA), äußerte sich - so die Zeitungsnotiz - , „Zwei von drei Bürgern fühlen sich durch Straßenverkehrslärm belästigt." Und weiter: „Rund zwölf Millionen Menschen hätten durch Verkehrslärm ein erhöhtes Risiko für eine Herzkrankheit." 2 2. Zeitlich weit vor den hier erwähnten verschiedenen Abhandlungen über Teilfragen des Lärmschutzes beim Verkehrswegebau hat sich unser Jubilar, Prof. Dr. Bartlsperger, bereits mit Problemen des Umweltschutzes im allgemeinen, dem Lärmschutz im besonderen im Zusammenhang mit den Straßen vor mehr als 25 1
Ζ. Β. Η. D. Jarass, Probleme und Lücken des Verkehrsimmissionsschutzrechts, in: H.-J. K o c h / R . Lechelt (Hrsg.), 20 Jahre Bundes-Immissionsschutzgesetz, Baden-Baden 1993, S. 145 ff.; Einzelheiten dazu in Abschn. 11,3 über grundsätzliche Fragen der Unzumutbarkeit. 2 So Präsident Dr. Troge vom U B A in einer Augustausgabe der Rheinischen Post. Es soll hier nur soviel dazu gesagt werden: Es liegen diesseits langjährige Erfahrungen gerade über Befragungen der Bevölkerung vor. Schließlich war der Autor fast 20 Jahre (1974 bis 1992) im Vorstandsrat des D A L (Deutscher Arbeitsring für Lärmbekämpfung) tätig. Die Befragungen sollen besonders der Lärmschutz/?6>//7/Ä: dienen. Die Äußerung ist nichts Neues. Das zeigt, dass es auch im Lärm-Report 2 / 2 0 0 2 des D A L schon auf der ersten Seite heißt: „ I n Deutschland fühlen sich mehr als Zweidrittel der Bevölkerung durch Lärm belästigt"; neu ist lediglich, dass sich der Präsident des U B A dafür hergibt. Weiteres in Abschn. 11,3 über Grundsätze.
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Hans Carl Fickert
Jahren befasst. Bartlsperger hielt auf der dritten wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht 3 1979 den Eröffnungsvortrag 4 mit dem Thema „Die Straße im Recht des Umweltschutzes" unter gleichzeitiger Beifügung von 35 Thesen für die spätere Diskussion 5 . Es gebührt Bartlsperger das Verdienst, in dem frühen Zeitpunkt auf den schwierigen Wandlungsprozess des Straßenbaurechts und seiner Vertreter vom „Nur-Straßenbau" zur Ökologisierung des Straßenrechts, wie er es nannte, und auf die damit verbundenen zahlreichen neuen bzw. andersartigen Probleme in rechtsgrundsätzlicher Weise in einem sehr ausführlichen Vortrag eingegangen zu sein. 6 Den Zuhörern wurde bei dem weithin von dogmatischen Überlegungen gekennzeichneten Vortrag - wie könnte es bei Bartlsperger anders sein ein hohes Maß an gedanklicher Konzentration abverlangt. Er hat bei der sogenannten ökologischen Wende insbesondere auf die Berücksichtigung des Immissionsschutzes beim Bau von Straßen und hierbei außer auf die Fragen der Lärmvorsorge auch auf die Lärmsanierung abgestellt. Sein Vortrag fiel in die Zeit der Beratungen des Entwurfs eines VLärmSchG. Dazu hatte sich die Bundesregierung unter Federführung des Bundesministers für Verkehr ( B M V ) anstelle der §§ 41 bis 43 BImSchG entschlossen 7 , weil die genannten Vorschriften eine gesetzliche Regelung der Lärmsanierung nicht vorgesehen hatten. Es ist bemerkenswert, dass das Immissionsschutzrecht 8 mit seinen vielfältigen Problemen erst langsam Gestalt annahm. 3
Sie wurde 1977 gegründet; der Autor gehörte ihr seit Gründung an.
4
Heute würde man von „Festvortrag" sprechen.
5
Die Gesellschaft hat von Beginn an für ihre Fachtagungen einen sehr arbeitssamen Ablauf gewählt; nach den Begrüßungsansprachen erfolgt ein Schwerpunktvortrag, über den mit weiteren Umweltproblemen in verschiedenen Arbeitskreisen anhand von Thesen nachmittags beraten wird. 6 Vgl. R. Bartlsperger, Die Straße im Recht des Umweltschutzes, Hamburg 1980; der Vortrag ist in der „Dokumentation zur wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. Berlin 1979", S. 28 bis S. 87 mit ergänzten Fußnoten sowie den Thesen für die Diskussion und dem Ergebnis der Beratungen (S. 114 bis 117) abgedruckt; vgl. im übrigen auch R. Bartlsperger, DVB1. 1979, S. 1 ff. 7 Vgl. „Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Verkehrslärm von Straßen und Schienenwegen - Verkehrslärmschutzgesetz - (EVLärmSchG) vom 6. 01. 1978, BT-Drucks. 8 / 1 6 7 1 ; NRW war vom Bundesrat beauftragt, an allen Ausschussberatungen teilzunehmen; da die Aufgaben des Lärmschutzes für Bundesfernstraßen und Landesstraßen in N R W in der Zuständigkeit des Autors und seiner Gruppe lagen, war er zur Teilnahme verpflichtet. Dazu auch H. C. Fickert, DVB1. 1979, 645. Der Gesetzentwurf scheiterte nach 21 Monaten intensiver Beratung letztlich an der Kostenfrage, da die Umweltgremien eine Absenkung der Grenzwerte für die Lärm Vorsorge um 5 dB(A) forderten, was zwangsläufig eine Herabsenkung der Lärmgrenzwerte auch für die Lärmsanierung zur Folge gehabt hätte; zur Finanzierungsproblematik i m einzelnen Fickert, ebd., S. 646, 648. Siehe dazu auch E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Systemgedanken einer Regelung des Lärmschutzes an vorhandenen Straßen in: Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Η 276/1979, i m Auftrage des B M V . 8 Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz BImSchG), in Kraft getreten am 1. April 1974.
Grundsätze des Lärmschutzes beim Bau von Verkehrswegen
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3. Angesichts des Bemühens von Bartlsperger, die unterschiedlichen Gesichtspunkte zwischen einerseits dem Bau von Verkehrswegen (Straßen) und andererseits dem Lärmschutz aufzuzeigen und zu einer vernünftigen Übereinstimmung beider Bereiche beizutragen, möchten die diesseitigen Ausführungen versuchen, den derzeitigen Erkenntnisstand zusammenzufassen. Ziel und Zweck sollen dabei sein, den Straßenbaustellen und Lärmschutzstellen bei dem Bau von Straßen eine praxisnahe Handhabung zu vermitteln.
I. Z u den Grundlagen des Lärmschutzes 1. Die Definitionsnorm als Einstieg in die Lärmschutzproblematik Definitionsnorm für die Bekämpfung der Verkehrsgeräusche ist § 3 Abs. 1 BImSchG. Danach sind - abgewandelt auf den Lärmschutz - schädliche Schalleinwirkungen i. S. des BImSchG „Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen". Zu den Immissionen i. S. des § 3 Abs. 2 BImSchG zählen auch Geräusche; Emissionen i. S. des Gesetzes sind die von einer Anlage ausgehenden Geräusche (§ 3 Abs. 3 BImSchG). Dazu gehören nach § 3 Abs. 5 Nr. 3 auch „Grundstücke, auf denen Stoffe gelagert oder abgelagert werden". Der Geltungsbereich des Gesetzes erstreckt sich nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 BImSchG ausdrücklich auf den „Bau öffentlicher Straßen sowie von Eisenbahnen . . . nach Maßgabe der §§41 bis 43". Der Bau von Verkehrswegen im weitesten Verständnis w i l l hinsichtlich des Lärmschutzes (unzumutbare Geräusche = Lärm) nach dem BImSchG ein in sich abgestimmtes System von gesetzlichen Vorschriften in Anspruch nehmen. Es beginnt mit der Grobplanung nach § 50 BImSchG 9 , setzt sich fort mit dem Bau von Verkehrswegen nach § 41 Abs. 1 BImSchG i.V.m. der VerkehrslärmschutzVO 16. B I m S c h V 1 0 und ermöglicht schließlich einen passiven Lärmschutz nach § 41 Abs. 2 BImSchG i. V. m. der Verkehrswege-SchallschutzmaßnahmenVO - 24. BImSchV sowie eine angemessene Entschädigung in Geld, soweit schädliche Umwelteinwirkungen nicht vermieden werden können (§ 42 Abs. 2 BImSchG). 1 1 9
Die hier nicht behandelt wird.
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Zu den Verkehrswegen gehören nach § 41 Abs. 1 außer den Straßen ausdrücklich auch die Schienenwege, z. B. von Eisenbahnen. Die Ausführungen hier werden sich auf den Bau von Straßen konzentrieren und zugleich beschränken. 11 Der Gesetzgeber hatte bei Verabschiedung des BImSchG die Vorstellung, ein dreistufiges „lückenloses" System zur Gewährleistung eines ausreichenden Lärmschutzes zu schaffen (vgl. BT-Drucks. 7 / 1 5 1 3 , S. 13); Es zeigte sich jedoch, dass der für erforderlich gehaltene umfassende Lärmschutz nicht gewährleistet werden konnte. Die Lärmsanierung konnte durch eine V O nach § 43 BImSchG nicht geregelt werden. Außerdem hatte man sich nicht über die
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Nach § 41 Abs. 1 BImSchG als der eigentlich maßgebenden Vorschrift ist „bei dem Bau oder der wesentlichen Änderung öffentlicher Straßen sowie von Eisenbahnen" . . . „unbeschadet des § 50 sicherzustellen", dass keine schädlichen Umwelteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche hervorgerufen werden können, „die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind". Es handelt sich bei § 41 Abs. 1 BImSchG um eine Vorschrift des strikten Rechts (ist . . . sicherzustellen). Nach ihr hat der Baulastträger dafür zu sorgen, dass „durch diese" (Straßen und Schienenwege) keine erheblichen Lärmeinwirkungen auf die benachbarten Grundstücke erfolgen können. Das bedeutet, dass die Einhaltung der IGW, die bei § 41 Abs. 1 i. V. m. der 16. BImSchV vorgegeben sind, nicht der Abwägung unterliegen. Dies dürfte herrschende Auffassung sein 1 2 . Das Schutzniveau, das beim Bau oder der wesentlichen Änderung öffentlicher Straßen 13 einzuhalten ist, wird (erst) durch die VerkehrslärmschVO) - 16. BImSchV - bestimmt.
2. Regelungen aufgrund der VerkehrslärmschutzVO - 1 6 . BImSchV a) Die 16. BImSchV vom 12. Juni 1990 enthält in § 1 den Anwendungsbereich. Das Schutzniveau gilt für alle Straßen gleichermaßen. Die V O enthält zwei Besonderheiten gegenüber anderen Regelungen zur Lärmvorsorge. Die 16. BImSchV hat Immissionsgre/izwerte festgelegt. Die 18. BImSchV zur Vorsorge gegenüber Lärm von Sportanlagen und die TA Lärm 1998 zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Lärm haben dagegen lediglich Immissionsr/c/zrwerte vorgegeben. Außerdem geht die 16. BImSchV von Werten zwischen Tag und Nacht von 10 dB(A) aus, während die anderen Regelungen noch immer an 15 dB(A) zwischen Tag und nachts ohne wissenschaftliche Begründung festhalten 14 . Die 16. BImSchV, aufgrund der Ermächtigung in § 43 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG erlassen, hat in § 2 die IGW, abgestuft nach der Schutzbedürftigkeit der Baugebiete bzw. baulichen Anlagen, bestimmt. Die Abstufung hat die Lärmempfindlichkeit der Baugebietstypen der BauNVO zum Vorbild genommen. Sonstige Anlagen sind entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit zu beurteilen. Die I G W entsprechen annähernd den vom BVerwG im Urt. v. 21. 5. 1976 als „einleuchtend" bezeichneten Richtwerten 1 5 . Das Lärmschutzkonzept der 16. BImSchV verstößt nicht gegen § 41 Abs. 1 BImSchG, weil die I G W den Charakter von Mittelungspegeln haben. Der Höhe der Immissionsgrenzwerte (IGW) verständigt. Diese Mängel sollte das VLärmSchG beheben (vgl. dazu Einführung Nr. 2 a.E. und Anm. 7). •2 Vgl. statt vieler M. Uechtritz, DVB1. 1999, 198 m. weit. Nachw. 13 An der Wortfassung „öffentlicher Straßen" zeigt sich, dass die Vorschrift nicht vom Verkehrsressort ( B M V ) formuliert worden ist; Straßen sind stets öffentlich. (Verkehrs-)Wege werden erst durch die Widmung zu „Straßen".
14 Vgl. H. C. Fickert, ZBauR 1973, 1. 15 BVerwG, Urt.v.21. 5. 1976 - 4 C 80.74 - , BVerwGE 51, 15 = DVB1. 1976, 779; auch als Klosterkötter-Vne'ü bezeichnet. Zur Berechnung der Lärmauswirkung infolge Unzumutbarkeit s. Abschn. I I Grundsätze der Lärmauswirkung.
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Lärmschutz im Straßenbau braucht sich grundsätzlich nur an der vorausschätzbaren Durchschnittsbelastung auszurichten. 16 Bei dem Bau oder der wesentlichen Änderung einer Straße besteht ein Anspruch auf Lärmschutz nur, wenn der von der neuen oder geänderten Straße ausgehende Verkehrslärm den nach § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV maßgebenden IGW überschreitet. Ein bereits vorhandener Verkehrslärm (Vorbelastung) und die durch den Bau oder durch die wesentliche Änderung einer Straße entstehende zusätzliche Lärmbeeinträchtigung dürfen jedoch zu keiner Gesamtbelastung führen, die eine Gesundheitsgefährdung darstellt. 17 b) Die IGW des § 2 Abs. 1 der 16. BImSchV legen verbindlich und abschließend die Intensitätsgrenze fest, ab der schädliche Umwelteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche i. S. des § 41 Abs. 1 BImSchG nicht hervorgerufen werden dürfen. Welches Maß an Lärmschutz der Planungsträger zu gewährleisten hat, bestimmt sich grundsätzlich nach der planerischen Qualität, die den betroffenen Bereichen im Zeitpunkt der Entscheidung zukommt. Den insoweit maßgeblichen Anknüpfungspunkt bildet in überplanten Bereichen die jeweils einschlägige Festsetzung und im nicht beplanten Innenbereich die tatsächlich vorhandene Bebauung. 18 Es braucht sich nicht um einen qualifizierten B-Plan i. S. des § 30 BauGB zu handeln. Das BVerwG hat bereits in einer frühen Entscheidung auf die Gesamtproblematik im Zusammenhang mit einem Kleingartengebiet hingewiesen. 19 Ein Kleingartengebiet, das auch der Erholung dient, kann grundsätzlich gegen Verkehrslärm entsprechend dem Tagesimmissionsgrenzwert für ein Dorfgebiet schutzbedürftig sein. 2 0 Weicht die tatsächliche Nutzung im Einwirkungsbereich der Straße erheblich von der im B-Plan festgesetzten baulichen Nutzung ab, bleibt dennoch - anders als beispielsweise bei der 18. BImSchV - die Festsetzung maßgebend. In solch einem Fall ist zu prüfen, ob die Festsetzung des B-Plans (noch) rechtswirksam oder etwa funktionslos geworden ist. Für die Frage des Umfangs der Lärmschutzmaßnahmen kommt es darauf an, welche Straßenbauvorhaben § 41 Abs. 1 BImSchG i. V. m. der 16. BImSchV unterfallen. „Bei dem Bau 4 ' bedeutet, dass ein Streckenabschnitt einer bestimmten Straße erstmalig in einem Gelände als Straßentrasse errichtet wird. Die benachbarten Grundstücke der Straßentrasse sind dann vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche = erhebliche Belästigungen durch 16 BVerwG, Urt.v.21. 3. 96 - 4 A 10.95 - , BVerwGE 101,1 = N V w Z 1996, 1006 = NuR 1997, 76. 17
BVerwG, Urt.v.21. 3. 96, a. a. O. Näheres unter Lärmschutzgrundsätze.
ι« BVerwG, Urt.v.21. 3. 1 9 9 6 - 4 A 11.95-, N V w Z 1996, 1008 = NuR 1997,78. 19 BVerwG, Urt.v.17. 3. 1992 - 4 Β 230.91 - , DVB1. 1992, 1103; in einem der Leitsätze hat das BVerwG herausgestellt: „ D i e Schutzbedürftigkeit eines sonstigen Gebiets i. S. des § 2 Abs. 2 Satz 2 16. BImSchV kann sich maßgeblich nach einer in einem derartigen Gebiet stattfindenden Wohnnutzung bestimmen, jedoch ist eine Wohnnutzung keine Voraussetzung dafür, die Schutzbedürftigkeit eines bestimmten Gebiets überhaupt zu begründen." 2
V
Ur.
19
nm. 1 9 .
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Straßenverkehrslärm entsprechend den I G W des § 2 Abs. 1 16. BImSchV zu schützen. Das gilt auch für alle Ortsumgehungen, sofern die Straßentrasse eine Grundstücksfläche benutzt, die bis dahin anderen Zwecken vorbehalten war. A u f die Länge des Straßenstücks kommt es nicht an. Im Unterschied dazu wird die wesentliche Änderung nach § 41 BImSchG in § 1 Abs. 2 16. BImSchV als ein erheblicher baulicher Eingriff beschrieben, der zu einer spürbaren Verschlechterung der bisherigen Lärmsituation führt. c) Die wesentliche Änderung ist immer dann gegeben, wenn der Beurteilungspegel des von dem zu ändernden Verkehrsweg ausgehenden Verkehrslärms um 3 dB(A) erhöht wird. A u f eine Steigerung um mindestens 3 dB(A) kommt es dagegen bei einer wesentlichen Änderung dann nicht mehr an, wenn in Folge des erheblichen baulichen Eingriffs der Beurteilungspegel auf 7 0 / 6 0 dB(A) Tag/ Nacht erhöht wird oder er vor dem baulichen Eingriff bereits über 7 0 / 6 0 dB(A) Tag/Nacht lag. Die Verbreiterung einer vorhandenen Straße um einen oder mehrere durchgehende Fahrstreifen für den Kfz-Verkehr ist ebenfalls ohne die Steigerung um 3 dB(A) stets eine wesentliche Änderung. Kennzeichnend für einen „erheblichen baulichen Eingriff" sind Maßnahmen, die in nicht geringem Maße in die Substanz der Straße eingreifen. 21 Maßnahmen nicht rein baulicher Art, die die Substanz, der Straße als solche unberührt lassen oder der Erhaltung dienen, sind durch die Ermächtigung des § 43 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. der 16. BImSchV nicht gedeckt. Die Regelung in § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 hinsichtlich der Verbreiterung einer vorhandenen Straße geht im wesentlichen auf sog. Moderator-Variablen von Klosterkötter zurück. Die Bevölkerung, vor allem in der Nähe „alter" Autobahnen hätte kein Verständnis für die Feststellung, dass bei der Erweiterung beispielsweise einer 4-streifigen Autobahn auf 6 Fahrstreifen und dem entsprechenden Heranrücken der Fahrbahn an die Wohnbebauung, beispielsweise im Ruhrgebiet, sich schalltechnisch der Lärmpegel nur um etwa 1 - 1 , 5 dB(A) und damit nicht „hörbar" erhöht; der Kfz-Verkehr verdoppelt sich infolge des jeweils einen zusätzlichen Fahrstreifens eben nicht. Das würde dazu geführt haben, dass die Lärmbetroffenen keinen Anspruch auf Lärmschutzmaßnahmen geltend machen könnten, selbst wenn der Als erhebliche bauliche Eingriffe i. S. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 16. BImSchV werden nach einem BMV-Rdschr. Zur Handhabung des Lärmschutzes vom 2. 7. 1991, StB 15, abgedr. u. a. in Gerhard Feldhaus (Hrsg.), Bundes-Immisionsschutzgesetz, Bd. 3, B2.16.1 angesehen: - Anlegen von Verzögerungs- und Beschleunigungsspuren, - Anlegen von Kriechspuren und von Standstreifen, - Anlegen von Fahrstreifen für zusätzliche Fahrbeziehungen im Bereich höhenfreier Knotenpunkte, - Anlegen von Radwegen. Nicht erhebliche bauliche Eingriffe sind z. B.: - Installation von Lichtsignalanlagen und von Schilderbrücken, - Anlegen von Abbiegestreifen im Knotenpunktbereich bei geringem baulichen Aufwand, - Anlegen von Bushaltebuchten u. Bau von Lärmschutzwänden u. -wällen.
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Lärmpegel bereits höher gewesen wäre als der beim Neubau einer Straße zu berücksichtigende Beurteilungspegel. Subjektiv würden die Lärmbetroffenen den Verkehrslärm noch stärker als vorher wegen des Heranrückens empfinden. - Nach § 3 der 16. BImSchV wird bei der Feststellung der Belastung durch Verkehrsgeräusche vom Beurteilungspegel 22 ausgegangen. Die Handhabung des § 41 BImSchG hat sich im Laufe des Bestehens der 16. BImSchV als besonders schwierig erwiesen, was sich u. a. in der sehr unterschiedlichen rechtswissenschaftlichen Auslegung des § 41 Abs. 2 BImSchG, besonders durch die Gerichte gezeigt hat. Dazu kann hier aus Platzmangel nicht Stellung genommen werden. 2 3
3. Die technischen und akustischen Grundlagen für den Lärmschutz a) Besonderheiten der Schall- / Geräuscherfassung Unter Schall versteht man mechanische Schwingungen einer Schallquelle, wenn die Anzahl der Schwingungen pro Sekunde (Frequenz) 16 Hertz (Hz) und etwa 20000 Hz innerhalb des Wahrnehmungsbereichs des menschlichen Gehörs liegt. Wegen der unterschiedlichen Empfindlichkeit des menschlichen Gehörs gegen akustische Einwirkungen ist es nicht möglich, den Begriff „ L ä r m " physikalisch exakt zu definieren. 24 Lärm ist kein physikalischer, sondern ein weitgehend subjektiver Begriff und nicht direkt messbar; messbar sind die auftretenden Geräusche einer Geräusch- / Schallquelle. Was der Mensch hören kann, wird vor allem durch die Lautstärke und Tonhöhe bestimmt. Die Lautstärke hängt also von dem Schalldruck ab. 2 5 Ein Ton wird um so höher empfunden, je größer die Frequenz des Tones ist. Die Wahrnehmung von Tönen im Frequenzbereich zwischen 16 bis 20 000 Hz verliert sich beim Menschen im zunehmenden Alter. Meistens hat man es mit einem Geräusch lauter und leiser, hoher und tiefer Frequenzen zu tun 2 6 Die Grundkenntnisse, die zunächst etwas schwer verständlich sind, haben sich nicht geändert. Das menschliche Gehör verfügt zwischen Hörschwelle und Schmerz-
22 Der Beurteilungspegel ergibt sich aus dem Mittelungspegel, der in D I N 45641 „ M i t telungspegel und Beurteilungspegel zeitlich schwankender Schallvorgänge" definiert ist, und dem Lästigkeitszuschlag an lichtzeichengeregelten Kreuzungen und Einmündungen. Bei der Berechnung in den RLS-90 (Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen) sind aufgrund neuerer Erkenntnisse gegenüber den RLS-81 einige Änderungen zugunsten von Lärmbetroffenen eingetreten; dazu J. Ullrich, DVB1. 1985, 1159. 23 Vgl. dazu Η. C. Fickert, in: ders./H. Fieseier, Umweltschutz i m Städtebau, Berlin 2002, S. 396 ff. 24 Vgl. u. a. R. Kürer, Ermittlung und Bewertung von Lärmkenngrößen, in: H.-J. Koch (Hrsg.), Schutz vor Lärm, Baden-Baden 1990, S. 21 ff. 2
5 Die Tonhöhe eines Schalls hängt von der Häufigkeit der Druckschwankungen ab.
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6 Vgl. dazu J. Ullrich (Anm. 22), 1159; ferner Lärmfibel des D A L , 3. Aufl. 1989.
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grenze über eine große Spanne zur Wahrnehmung des Schalldrucks. 27 Schallereignisse lassen sich nur hinsichtlich der Schalleistung, der Frequenz und der Dauer messen, nicht dagegen hinsichtlich der übrigen Faktoren, die den Grad der Lästigkeit bestimmen (dazu Abschn. II). Als Maßstab für die Lautstärke des Schalls wird der Schallpegel in dB(A) (Dezibel-Α) angegeben. 28 b) Einige akustische Werte zur richtigen Erfassung der Lärmintensität; Berechnungsweise des Mittelungspegels Für die Wahrnehmung der Schallereignisse - soweit diese lästig, störend oder gefährdend wirken als Lärm - ist von Bedeutung, in welcher Weise und in welcher Pegelstärke der störende Schall = Lärm auf den Betroffenen trifft. Der Außenwohnraum wie Balkon, Terrasse oder Garten ist bei allen Lärmarten, die auf ein Grundstück treffen, wegen der Stärke des Lärms von besonderer Bedeutung; denn es kommt hier entscheidend auf die aktiven Schallschutzmaßnahmen an. Der Innenraum ist sehr viel besser zu schützen. Bei Räumen üblicher Größe mit Fenstern üblicher Größe und Konstruktion in massiven Außenwänden können folgende Unterschiede zwischen Mittelungspegeln außen und innen angenommen werden: Bei geöffnetem Fenster bis 10 dB(A), bei spaltbreit geöffnetem Fenster (auf Kippe gestellt) bis 15 dB(A), bei geschlossenem Einfachfenster 20 bis 25 dB(A). Die unterschiedliche Lärmsituation zeigt die nachfolgende Übersicht aufgrund langjähriger Erfahrung: Welche Lärmpegelhöhe ist mit entsprechender menschlicher Betätigung, „Schall"ereignissen im Lebensbereich, z. B. von der Schlafphase über die unterschiedliche Kommunikation und mit verschiedenen Verkehrs- und sonstigen Situationen bis zur Unzumutbarkeitsschwelle zu vergleichen. 29 Die Differenz von 3 dB(A) wird als gerade hörbare (merkbare) Erhöhung der Lautheit empfunden. Die Zunahme von 15 auf 30 Kfz bewirkt ebenso wie die Zunahme von 27 Die Schallintensität (Schalleistung pro Fläche, die auf unser Ohr trifft) kann millionen mal stärker sein als an der Hörschwelle. Um nicht mit so riesigen Zahlen umgehen zu müssen, einigte sich die Fachwelt bereits vor Jahrzehnten darauf, Schalldruckpegel in Dezibel (dB)anzugeben. 28 Die Bezeichnung (A) bedeutet, dass die vom menschlichen Ohr unterschiedlich laut empfundenen Frequenzen durch eine Frequenzkorrektur (Α-Kurve) bewertet werden. Die Bewertung ist erforderlich, weil das menschliche Gehör auf unterschiedliche Frequenzen unterschiedlich reagiert. Ein Ton mit einer Frequenz von 1000 Hz und einem Schallpegel von 40 dB wird ebenso laut empfunden wie ein Ton von 100 Hz und etw. 50 dB. 29
Geräuschart u. -quelle (Schallereignisse ohne Nebengeräusche) Lautstärke in dB(A) Atemgeräusch eines Schlafenden 20-30 Ticken einer leisen Uhr, Blätterrauschen, Flüstern (1 m Entfernung) etwa 30 Leises (Unterhaltungs-)Sprechen 40 Übliche Unterhaltungsgespräche, laufender Wasserhahn 50 Unterhaltungssprache (normales Gespräch) in 1 m Abstand 60 Laute Unterhaltung, Vorbeifahrt eines Pkw etwa 70 Verkehrsreiche Straße 80 Lärm einer Kreissäge, Vorbeifahrt eines schweren L k w etwa 8 5 - 9 0 Heutige Diskotheken, Arbeiten mit Presslufthammer bis 110 Unzumutbarkeitsschwelle (Mittelungspegel am Tag) 70
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15 000 auf 30 000 Kfz eine Pegelerhöhung um 3 dB(A). Die Verdoppelung bzw. Halbierung der Lautstärke entspricht einer Pegeldifferenz von etwa 10 dB(A). Bei freier (ungehinderter) Schallausbreitung verringert sich der Mittelungspegel mit zunehmender Entfernung von der Geräuschquelle. 30
II. Die Unzumutbarkeit = erhebliche Belästigung eines Betroffenen als Voraussetzung für einen Lärmschutzanspruch 1. Allgemeines zum Bemühen um die Frage der Unzumutbarkeit einer Lärmeinwirkung Der physikalisch nach bestimmten Verfahren berechenbare und berechnete Verkehrslärm sagt noch nichts über die Wirkung des Lärms auf den Menschen aus. Es gilt vor allem, die zahlreichen unterschiedlichen Wortfassungen und Wertvorstellungen von der Lästigkeit (Lärmbelästigung) bis zur unzumutbaren Belastung durch Lärm i. S. „erhebliche Belästigung" nach § 3 Abs. 1 BImSchG und bis zur Frage der Gesundheitsbeeinträchtigung gegeneinander abzugrenzen. Seit mehr als 30 Jahren ist die Lärmwirkungsforschung bemüht, den Begriff Lärm einzugrenzen und gleichzeitig die Spannweite des Begriffs infolge der Vielschichtigkeit und Regelungsbedürftigkeit nach seinem fachlichen Inhalt zu bestimmen. Der Meinungsstreit knüpfte zunächst an die Frage an, was als übliche Belästigung (Lästigkeit) in verschiedener Ausdrucksform anzusehen ist, ab welcher Lärmpegelhöhe sich die Lärmintensität zu einer erheblichen (unzumutbaren) Beeinträchtigung verstärkt und ab welchem Entwicklungsgrad eine gesundheitsgefährdende Einflussnahme nicht mehr ausgeschlossen werden kann. 3 1 So hat Klosterkötter in einer vielbeachteten Abhandlung bereits 1973 auf die schwierigen Abgrenzungskriterien hingewiesen. 3 2 Das Bemühen um einen bestimmten Lärmpegel zur Abgrenzung erheblicher Belästigungen i. S. von § 3 Abs. 1 BImSchG zu einer Gesundheitsgefährdung kam in dem EVLärmSchG der Bundesregierung besonders zum Ausdruck. 3 3 Es hat diesseits sehr beeindruckt, dass alle befragten Mediziner sich dahin äußerten, die vorgesehenen dB(A)-Werte führten nicht zu einer Gesundheitsschädigung, 30 Er nimmt etwa 3 dB(A) je Verdoppelung der Entfernung ab (z. B. 25 m von der Straße 63 dB(A), 50 m = 60 d B ( A ) ) . 31 Die Fragen wurden in der frühen Zeit vor allem von den Arbeitsmedizinern bearbeitet. Später beteiligte sich auch die Rechtsprechung (Rspr.) wegen der zwangsläufig notwendigen rechtlichen Beurteilung; s. Anm. 16. 32 W Klosterkötter (s. Z. Vorsitzender des D A L ) , K d L 1973, 113; ders., K d L 1974, 103 mit jeweils w. N. auch aus dem ausländischen Schrifttum; s. auch H. C. Fickert, Anm. 14. 33 S. dazu Anm. 7; in zwei ganztägigen Anhörungen versuchte der federführende VerkehrsA insbesondere zu der Frage Klarheit zu gewinnen, ob in Wohngebieten bei einem I G W von 75 dB(A) tags oder 65 dB(A) nachts bei bestehenden Bundesstraßen mit einer Gesundheitsgefährdung gerechnet werden müsste.
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wenngleich eine Herabsetzung der I G W im Interesse der Gesundheit wünschenswert wäre. Die I G W für Wohngebiete sollten für alle Straßen gelten. Auch in den Folgejahren bis in die jüngste Zeit haben maßgebende Institutionen sich für die Verbesserung des Immissionsschutzes intensiv mit den Risikofaktoren hinsichtlich einer Gesundheitsgefährdung gerade beim Straßenverkehrslärm befasst, so u. a. der Umweltrat. 3 4 Aus der Vielzahl der Stellungnahmen sollen wegen Platzmangels aus dem neueren Schrifttum lediglich erwähnt werden Klein, Babisch und SchulzeFielitz. 35
2. Ergebnisse des Bemühens um einen einsichtigen Lärmschutz a) Die mehr als 30 Jahre währenden Arbeiten, insbesondere auch der Straßenbau-Stellen und Exponenten, in Bund und Ländern, 3 6 häufig in vertiefenden Rechtsgesprächen mit der höchstrichterlichen Rspr., haben i m Ergebnis zu einem Lärmschutzkonzept geführt, mit dem die straßenbauliche Praxis seit geraumer Zeit in der Öffentlichkeit gut bestehen kann. Die intensiven Vorarbeiten für das VLärmSchG 3 7 und später für die VerkehrslärmSchVO (16. BImSchV) mit den in § 2 der 16. BImSchV festgesetzten I G W haben dazu wesentlich beigetragen. Für das nunmehr geltende Lärmschutzkonzept ist zunächst von dem Berechnungsverfahren der Anlage 1 der 16. BImSchV auszugehen. Dabei ist u. a. die unterschiedliche Bewertung der Tageszeit gegenüber der Nachtzeit von erheblicher Bedeutung, und die Berechnung des I G W selbst, ausgehend von dem Innengeräuschpegel nachts am Ohr des Schläfers. Hinzu kommt das betroffene Baugebiet /. S. der Ortsüblichkeit. 38 Die Berechnung erfolgt am Ende dieses Abschnitts. Die Lärmauswirkung für den einzelnen kann sehr unterschiedlich sein. Sie hängt von den sog. Lärmwirkungsfaktoren ab. 3 9 Diese betreffen jedermann und stellen ein gewisses Grundgerüst über die Lärmbeurteilung dar. Die Belastung des Menschen durch Lärm wird dadurch jedoch nur unvollkommen erfasst. Denn es kommt für den einzelnen entscheidend auf den Informationsgehalt, die Tonhaltigkeit und die Frequenzzusammensetzung der Lärmereignisse an. Das BVerwG hat in seinem Urt. vom 20. 10. 1989 4 0 darüber hinaus in dem „Bündel" von Faktoren hinsichtlich der Lästigkeit des Lärms weitere Moderatoren genannt, wie die Dauer, die Häufigkeit, die (individuelle) Gewöhnung, die subjektive Befindlichkeit des Be34 Dazu G. Jansen, Z f L 2000, 103 sehr lesenswert!. 35 G. Klein (Direktor Umwelt und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Regionalbüro für EuropaJ, Z f L 2001, 115; Babisch, Z f L 2000, 95; H. Schulze-Fielitz, D Ö V 2001, 181 f. 36
Vgl. statt vieler H. C. Fickert, Anm. 7 u. 14.
37
Siehe Anm. 7 und 33, ferner Abschn. I, 2 dieser Abhandlung.
38
Siehe Anm. 18.
39 Vgl. Anm. 1 9 - 2 2 . 40 Vgl. BVerwG, Urt. v. 20. 10. 1 9 8 9 - 4 C 12.87 - , BVerwGE 84, 31 - 4 9 = DVB1. 1990, 419 = UPR 1990, 99.
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troffenen nach physischen und psychischen Merkmalen, seine Tätigkeit, die Art und Betriebsweise der Geräuschquelle, der soziale Sympathiewert der Geräuschquelle. b) Diese Aufzählung zeigt, wie unterschiedlich ein Lärmereignis auf den einzelnen wirken kann, und wie entscheidend die physischen und psychischen Persönlichkeitsstrukturen sowie die soziale Einstellung des Lärmbetroffenen zur Lärmsituation ist. Zugleich zeigt es, dass es keinen auf den einzelnen abstellenden Lärmschutz geben kann, weder in der Vorsorge zur Vermeidung noch in der „Bekämpfung" von vorhandenen Lärmeinwirkungen. Das wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass Abertausende Diskotheken und andere lärmintensive Musikveranstaltungen besuchen und sich dabei freiwillig oftmals einem Lärmpegel bis zu 100 dB(A) aussetzen. Der Informationsgehalt und die Tonhaltigkeit bei ganz unterschiedlicher Frequenzzusammensetzung der (Rock-)Musik gefällt den Besuchern. Für die Diskothekenbesucher ist der Lärm kein störendes Schallereignis, obwohl die Lärmintensität die Pegelstärke von 85 dB(A) für das mögliche Eintreten von Gehörschäden häufig deutlich übersteigt. Das Beispiel zeigt besonders eindrucksvoll, dass es nicht möglich ist, die subjektive Spannweite der Betroffenen nach deren Befinden und ihrer Einstellung zur Lärmquelle durch einen einheitlichen Pegelwert zu erfassen. Erhebliche Belästigungen führen dann zu einer nicht mehr tragbaren und damit unzumutbaren Einwirkung, wenn diese das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen mit „normaler" Einstellung beispielsweise zum Informationsgehalt von Geräuschen in einen fortdauernden, negativ empfundenen Spannungszustand versetzen. In persönlicher Hinsicht beantwortet sich die Reaktion auf eine erhebliche Belästigung nach den auf Immissionen durchschnittlich reagierenden Menschen. In diesem Verständnis sind nicht schon Belästigungen in der Bequemlichkeit und Behaglichkeit unzumutbar, mögen sie auch für nervöse Menschen Gegenstand dauernden Ärgernisses sein. 41 c) Für die Unzumutbarkeit der Einwirkung i. S. erheblicher Belästigung ist vor allem eine störungsfreie Kommunikation i. S. einer guten Sprachverständigung und eine im wesentlichen störungsfreie Schlafruhe zu fordern. 4 2 „Belästigungen sind Beeinträchtigungen des subjektiven Wohlbefindens. Nach allgemeinem Begriffsverständnis kann unter Belästigungen nicht jede Lästigkeit verstanden werden, etwa i. S. der Abgrenzung von Gesundheit zu Krankheit wie die W H O meint (dazu in Abschn. 3). Der Gesetzgeber des BImSchG hat die WHO-Formel dem Begriff Belästigungen nicht zugrunde gelegt; denn die Belästigungen müssen unzumutbar sein, was eben dem Begriff der erheblichen Belästigungen nach § 3 Abs. 1 BImSchG entspricht. Die erheblichen Belästigungen sind hinsichtlich ihrer Auswirkungen deutlich im Vorfeld der Gesundheitsgefährdung einzuordnen; sie haben mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung nichts gemein. Dies war in der Fach-
41 So schon Pr.OVGE Bd. 72, 380, 382. 42 Vgl. dazu die noch immer maßgebenden Abhandlungen von W. Klosterkötter, 1974, 29; ders,. K d L 1974, 103.
KdL
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welt nicht umstritten. Es war in der Lärmwirkungsforschung vor allem umstritten, ab welcher Lärmeinwirkung erhebliche Belästigungen anzunehmen sind. Diese Frage ist durch die 16. BImSchV weitgehend geklärt. Die Überschreitung der - abgestuften - Zumutbarkeitsgrenze durch erhebliche Belästigungen nach § 3 Abs. 1 BImSchG ist nicht gleichzusetzen mit einem „schweren und unerträglichen Nachteil" i. S. der Rspr. des BVerwG zum Eigentumsschutz nach Art. 14 G G . 4 3 Seit dem Urt. vom 21. 5. 1976 gewährt das BVerwG bei Lärmeinwirkungen durch Straßenverkehrslärm auf benachbarte Grundstücke Schutz für deren Benutzung immer dann, wenn die nachteilige Wirkung „billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann". Diese Regelung hinsichtlich unzumutbarer Belästigungen hält sich im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums und ist aus sozialmedizinischer Sicht gleichfalls nicht zu beanstanden. In der Fachwelt besteht nach dem Stand der modernen Lärmwirkungsforschung weitgehend Einigkeit darüber, dass sich ein allgemeingültiger Schwellenwert für den Übergang von der erheblichen (billigerweise nicht mehr zumutbaren) Belästigung zur Gesundheitsgefährdung durch Lärm nicht aufstellen lässt. 44 d) Zur Berechnung des Lärmpegels nach der 16. BImSchV Nach Klosterkötter liegen Innengeräuschpegel von 30 bis 35 dB(A) nachts am Ohr des Schläfers im schlafgünstigen Bereich 4 5 Der Innengeräuschpegel nachts ist von erheblicher Bedeutung für die Grenzwertberechnung, und es sind Schutzmaßnahmen erforderlich, wenn die Innenpegel der zu schützenden Räume 45 dB(A) am Tage bzw. 35 dB(A) nachts übersteigen. Die Festlegung des Außengeräuschpegels hat sich nach dem Innengeräuschpegel zu richten. Diese Feststellung entspricht nicht der Berechnung der Immissionsrichtwerte (IRW), wie diese durch die TA Lärm 1998 festgesetzt worden sind. Danach ist ein Außenpegel von 35 dB(A) nachts für Wohngebiete, der nach Nr. 6.1. i.V.m. A. 1.3. Buchst, a des Ermittlungsverfahrens der TA Lärm 0,5 m vor dem geöffneten Fenster des vom Geräusch am stärksten betroffenen, schutzbedürftigen Raumes zu messen. Das bedeutet bei voll geöffnetem Fenster, dass in der Mitte des Schlafraums ein Innengeräuschpegel von 25 d B ( A ) - Differenz zwischen Außen- und Innenpegel - , am Ohr des Schläfers ein Innengeräuschpegel von etwa 20 dB(A) besteht. Die Lärmwirkungsforschung ist sich darin weitgehend einig, dass Innengeräuschpegel von 3 0 - 3 5 dB(A) nachts im schlafgünstigen Bereich liegen 4 6 Selbst Klosterkötter, der als Vorsitzender an maximalen Lärmanforderungen verständlicherweise interessiert war, hat gemeint, IRW in den ausschließlich dem Wohnen dienenden Gebieten mit Nachtwerten von Vgl. Grundsatzurt. des BVerwG vom 21. 5. 76, Anm. 15. 44
Vgl. statt vieler G. Jansen, Z f L 87, 152; ders., Schutz vor Lärm - Zum Stand der Wirkungsforschung, in: Schutz vor Lärm (Anm. 24), S. 9 f., 17 f. 4
5 W. Klosterkötter,
46
K d L 1976, 1.
W. Klosterkötter, Anm. 45; ders., Die Situation der Lärmbelästigung durch den Verkehr aus medizinischer Sicht Schlußfolgerungen für die Durchführung des BImSchG, DIfU, Nov. 1976; G. Jansen, Z f L 1983, 159; ders. (sehr instruktiv), Schutz vor Lärm - in: Schutz vor Lärm (Anm. 24).
Grundsätze des Lärmschutzes beim Bau von Verkehrswegen
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35 dß(A) seien nicht realistisch 47 , weil im Ergebnis die Zulassung von Anlagen häufig nur unter Erteilung einer Ausnahme erfolgen kann. Die Einhaltung eines Außengeräuschpegels von 35 dB(A) nachts nach der TA Lärm ist aus medizinischer Sicht nicht erforderlich und aus volkswirtschaftlicher Gesamtsicht nicht vertretbar; sie verlangt dem Bürger und vor allem der öffentlichen Hand wegen der dadurch zusätzlichen Schutzmaßnahmen gegen Lärmeinwirkungen unnötige (Mehr-)Kosten ab. Der bei einem zum Zwecke der Lüftung spaltbreit geöffneten Fenster um 15 dB(A) erhöhte Außenpegel beträgt als Mittelungspegel nachts 4 5 - 5 0 dB(A); wird die Verbesserung des Berechnungsverfahrens nach den RLS 90 lediglich mit 2 dB(A) angesetzt - sie kann auch mehr betragen - 4 8 , entspricht der Mittelungspegel nachts ( 3 0 + 1 5 + 2 dB(A) = 47 dB(A) dem IGW zum Schutz von Krankenhäusern, Schulen und dergl. nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 VerkLSchVO (16. BImSchV). Am Tage kann - bei Berücksichtigung einer uneingeschränkten Kommunikation (mit 100%iger Satzverständlichkeit) - von einem Innengeräuschpegel von 4 5 - 5 0 dB(A) ausgegangen werden. Dann wird nach der Errechnung beispielsweise von 45 + 15 + 2 dB(A) = 62 dB(A) in jeder Hinsicht der Außengeräuschpegel (Mittelungspegel für den Tag (6.00 bis 22.00) der 16. BImSchV mit 59 dB(A) für Wohngebiete gerecht. Geht man von einem akzeptablen Außengeräuschpegel von 55 dB(A) am Tage aus, zuzüglich 2 dB(A) infolge des verbesserten Berechnungsverfahrens, entspricht dies dem IGW für Krankenhäuser usw. nach § 2 Abs. 1 16. BImSchV. Der Außengeräuschpegel erhält seine Bedeutung insbesondere für die ungestörte Benutzung der Außenwohnanlagen (Terrasse, Balkon, Garten). Für den Schutz dieses Bereichs ist auf die Gewährleistung der normalen Unterhaltung in 1 m Abstand (60 dB(A)) abzustellen, so dass unter Berücksichtigung des verbesserten Berechnungsverfahrens auch hier der IGW den Voraussetzungen der Zumutbarkeit entspricht.
3. Gegenteilige Äußerungen, Bedenken, einseitige Betrachtungen, ungelöste Probleme a) Das in der 16. BImSchV verwirklichte Lärmschutzkonzept verstößt nicht etwa deshalb gegen § 41 Abs. 1 BImSchG, weil die IGW den Charakter von Mittelungspegeln haben 4 9 Das Lärmschutzkonzept geht - wie gezeigt - von einem auf Immissionen durchschnittlich reagierenden Menschen aus, für den übliche Belästigungen nicht als Lärm i. S. störender, die Gesundheit in irgendeiner Weise berührender Geräusche angesehen werden. Nach der Auffassung der W H O dagegen 47
Dazu schon W. Klosterkötter
(Anm. 45).
4
* Zur Problematik auch Kersten , BayVBl 1987, 641; zur Erinnerung: 30 dB(A) = Ticken einer leisen Uhr und Blätterrauschen! 4t
> BVerwG, Urt. v. 21. 3. 1 9 9 6 - 4 A 10.95-, BVerwGE 101,1 = N V w Z 1996, 1006.
20 FS Bartlsperger
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bedingt der Begriff Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheiten, sondern schließt das vollkommene körperliche, psychische und soziale Wohlbefinden ein. Nach dieser Definition wäre jede Belästigung, nicht etwa nur durch Immissionen, sondern durch jedwede psychische und/oder soziale Unlust hervorrufende Einwirkung Dritter bereits eine nachteilige Beeinflussung der Gesundheit. Dass die rechtliche Umsetzung dieser kaum qualifizierbaren Vorstellung der W H O zu keinem Zeitpunkt ernsthaft überlegt worden ist, liegt auf der Hand. Die rechtliche Erfassbarkeit müsste bereits daran scheitern, dass das vollkommene psychische und soziale Wohlbefinden nur individuell zu erreichen wäre, womit nicht mehr auf durchschnittlich Empfindende und reagierende Personen abgestellt werden könnte. Dies zeigt, dass das BImSchG und die 16. BImSchV das Lästigkeitsempfinden nach der WHO-Formel dem Begriff erhebliche Belästigungen nicht zugrunde gelegt haben. 5 0 b) Im Unterschied zu der weitgehend übereinstimmenden Auffassung der Fachwelt in der Lärmwirkungsforschung hinsichtlich der Innengeräuschpegel von 3 0 - 3 5 dB(A) nachts am Ohr des Schläfers w i l l Berkemann den Aufweckwert nachts unter 30 dB(A) festgelegt wissen, ohne dies im Hinblick auf die abweichende Meinung im Fachschrifttum zu begründen. 51 Berkemann, der offensichtlich der Gesundheitsformel der W H O zuneigt, wie dies unter Buchst, a) herausgestellt worden ist, hat sich darüber hinaus geäußert, die medizinische Forschung habe festgestellt, dass Störungen im vegetativen System (Hervorhebung dort) bei etwa 30 dB(A) nachweisbar seien. 52 Das wird diesseits bezweifelt. Denn bei der „Lautstärke" des Tickens einer leisen Uhr kann es sich nur um krankhafte Empfindungen handeln. Der wiederholten Äußerung von Berkemann auf die notwendige Einbeziehung des psychisch-sozialen Wohlbefindens in den Lärmschutz wird diesseits deutlich entgegengetreten. Das Lärmschutzkonzept des BImSchG ist nicht für psychisch labile oder für herzkranke, insbesondere Herzinfarkt disponierte Menschen sondern für durchschnittlich Lärmempfindende vorgesehen. Die öffentliche Hand hat den einzelnen nicht auf Kosten der Allgemeinheit vor jeglichem Unbill zu bewahren. c) Das Lärmschutzkonzept entspricht nicht der Vorstellung einiger Wissenschaftler, und nicht dem U B A . Äußerungen bringen zum Ausdruck, dass sich durch das Schutzkonzept in der Praxis an der bedauerlichen Lärmsituation nichts geändert habe. Das U B A hat im Laufe der Jahre zahlreiche Befragungen zum Problem des Verkehrslärmschutzes durchgeführt. In einer jüngeren Leseraktion heißt es in der Einleitung: „Lärm ist für viele Bürgerinnen und Bürger das Umwelt50 Es ist zu keinem Zeitpunkt zweifelhaft gewesen, dass der Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen i. S. von § 3 Abs. 1 BImSchG sich etwa nur auf die körperliche Unversehrtheit i . S . von Art. 2 Abs. 2 GG beschränkt. 51 J. Berkemann, Lärmgrenzwerte im Bereich des Straßen- und Schienenverkehrs, in: Schutz vor Lärm (Anm. 24). 52 J. Berkemann, Lärmschutz im öffentlichen Baurecht, Seminar des vhw, Landesverband N R W am 13. 2. 2001, S. 20, 25, 26.
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problem Nummer e i n s / ' 5 3 Diese Behauptung hat Jansen widerlegt. In einer Liste von 42 Umweltbelastungen, zu denen er Stellung genommen hat, steht Verkehrslärm sowohl bei den Experten (26%) als auch bei der Bevölkerung (28%) erst an 20. Stelle. 5 4 Der Hinweis von Jansen wird durch eine „Studie zur Lärmbetroffenheit in Hessen 2004" bestätigt, die weitgehend der bundesweiten Situation entspreche. Danach fühlen sich durch Lärm, also durch Gesamtlärm, überhaupt nicht gestört oder belästigt 41,2% der Bevölkerung in Hessen; 10,7% hätten angegeben, „äußerst" oder „stark" belästigt zu sein. 5 5 A u f Koch und Jarass 56 wird bereits hier eingegangen. Diese haben aufgrund ihrer erkennbaren Bevorzugung der Immissionsschutzbelange bei gleichzeitig mangelnder Kenntnisse der Lärmschutzproblematik beim Straßenbau den Lärmschutz dort ungerechtfertigt fehlerhaft beurteilt. So hat Koch in einer Abhandlung „Fünfzig Jahre Lärmschutzrecht" - Rückblick und Ausblick - für den D A L unter „Kleine Entwicklungsgeschichte des Lärmschutzrechts" geäußert: „Ausgerechnet der Kraftfahrzeugverkehr konnte sich bis Mitte der 80er Jahre ernstzunehmenden Regulierungen zum Schutz vor Lärm entziehen." Nach diesseitiger Vorstellung sind auch nachwachsende Wissenschaftler verpflichtet, sich umfassend mit den vorangegangenen Arbeiten zum Lärmschutz (seit mehr als 30 Jahren) zu befassen, wie diese Abhandlung zeigt. Jarass beklagt sich in der Abhandlung (Fn. 1) durchgehend über die Unzulänglichkeit des Lärmschutzes beim Verkehrswegebau. Der Platzmangel lässt es nicht zu, auf die zahlreichen Kenntnismängel einzugehen. Wenn Jarass jedoch meint: „Es ist daher dringend geboten, alle wichtigen Entscheidungen des Verkehrsimmissionsschutzes Umweltschutzbehörden zu übertragen und die Verkehrs- und Verkehrswegebehörden nur in deren Ausführung einzuschalten" und am Ende weiter äußert: „Echte Fortschritte werden sich im übrigen nur erreichen lassen, wenn die Federführung für diese Fortentwicklung beim Umweltressort bzw. den Immissionsschutzbehörden liegt",
so muss das diesseits fast als anmaßend empfunden werden. Jarass verfügt offensichtlich kaum über Kenntnisse, welche zeitraubenden Schwierigkeiten gerade beim Zustandekommen von Lärmschutzvorschriften für den Straßenbau überwunden werden mussten, nicht zuletzt infolge ideologisch überspannter Forderungen der Umweltschutzbehörden. 57 d) M i t den Fragen des Lärmschutzes beim Bau von Verkehrswegen haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Autoren in sehr unterschiedlicher Weise befasst. 53 B. Beule /J. Ortscheid , Z f L 2001, 202. Hierbei sollte erwähnt werden, dass das U B A seit vielen Jahren ein gestörtes Verhältnis zum Straßenverkehrslärm hat; s. auch Anm. 2 54
G. Jansen, Anm. 34.
55
Vgl. zu der ausführlichen Studie Lärm-Report 1 /2005, Beilage der Z f L des D A L .
56 H.-J. Koch, Z f L 2002, 235, H. D. Jarass, (Anm. 1), S. 148, 153. 57 Der Autor war 22 Jahre in verschiedenen Ressorts tätig, u. a. von 1964 bis 1978 Referatsleiter der Planfeststellungsbehörde für den Bau der Autobahnen und BundesstraiSen in NRW; bereits 1967 wurde ein Lärmschutzwall an der A 52 angeordnet, zugleich die erste Anlage in der Bundesrepublik überhaupt. 20*
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A u f die Abhandlungen kann infolge Platzmangels nur sehr kursorisch eingegangen werden. A m umfassendsten sind die Probleme bei Schulze-Fielitz. behandelt. 58 Jarass hat sich in „Neues von den Schwierigkeiten des Verkehrsimmissionsschutzes 4 ' 5 9 im wesentlichen mit der jüngeren Rspr. des BVerwG befasst und dabei nichts abweichendes „Neues" gebracht; in der Abhandlung sind einige unhaltbare Äußerungen aus „Probleme . . ( F n . 1, 57) nicht wiederholt worden. Koch 60 hat sich in „Aktuelle Probleme des Lärmschutzes" und in „Die rechtliche Beurteilung der Lärmsummation nach BImSchG und TA Lärm 1998 insbesondere mit der nach seiner Ansicht Fehlentwicklung des Lärmschutzes befasst. Er kommt in „Aktuelle Probleme" (a. a. O., S. 493) zu dem Ergebnis, „nur eine summative Behandlungsweise ist überhaupt geeignet, den Schutzauftrag des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zu erfüllen. Dieser Schutzauftrag wird durch die im vielfältigen untergesetzlichen deutschen Lärmschutzrecht vorfindliche Segmentierung von Lärmquellen nicht erfüllt."
In „Die rechtliche Behandlung . . . " (Fn. 61) äußert Koch zur Frage der Lärmsummation u. a.: „Für jede Anlage gilt, dass sie für die Entstehung schädlicher Umwelteinwirkungen nicht relevant mitursächlich sein darf. Auch Verkehrswege dürfen nicht für die Entstehung schädlicher Umwelteinwirkungen mitursächlich sein." (a. a. O., S. 217). Koch kann sich mit der Straßenbaupraxis i. S. § 41 Abs. 1 BImSchG nicht ernsthaft befasst haben, denn sonst müsste er wissen, dass der Begriff „schädliche Umwelteinwirkungen" dort anders verstanden werden muss. Der Bau einer Straße ist vielfach, häufig weitgehend für die Lärmimmissionen am Einwirkungsort maßgebend. Es macht geräusch-/lärmmäßig bereits einen Unterschied, ob die Straßentrasse in der 0-Variante verläuft, oder die Gradiente 1 m abgesenkt werden kann, von einer Troglage ganz zu schweigen. Lärmschutzwälle oder - wände gehören, wenn sie an der Straße errichtet werden, zum Straßenkörper. 61 Die Fragen der Summation bedürfen bereits einer eigenen Abhandlung. 6 2
58 H. Schulze-Fielitz, Konzept und Erfolge des Schutzes vor Verkehrsimmissionen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, in: H.-J. K o c h / R . Lechelt (Hrsg.), Zwanzig Jahre Bundes-Immissionsschutzgesetz, Baden-Baden 1994, S. 117 ff.; s. auch ders. (Anm. 35) m. w. N. 59 H. D. Jarass, Neues von den Schwierigkeiten des Verkehrsimmissionsschutzes, in: Czajka u. a. (Hrsg.), Immissionsschutzrecht in der Bewährung, Festschrift für G. Feldhaus, 1999, S.235. 60 H.-J. Koch, N V w Z 2000, 490; ders. Die rechtliche Beurteilung der Lärmsummation nach BImSchG und TA Lärm 1998 in: Immissionsschutzrecht in der Bewährung, FS Feldhaus, 1999,215.
61 § 1 Abs. 4 Nr. 1 FStrG, § 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst, a StrWG N W sowie die anderen Straßengesetze der Länder. 62 Vgl. zur Lärmschutzproblematik weiter H.-P. Μ ichler, VB1BW 2004, 361 m. w. N.; ferner G. Halama, Lärmschutz an Straßen in: 423. Kurs „Städtebau und Recht, Berlin; BVerwG, Urt.v. 17. 3. 2 0 0 5 - 4 A 18.04-, BauR2005, 1611.
Unzeitgemäße Betrachtungen anlässlich der Neufassung des Bayerischen Landesplanungsgesetzes Von Ulrich Höhnberg,, München
I. Widmung und Einführung Die Landesarbeitsgemeinschaft Bayern der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) hatte aus Anlass des Raumordnungsgesetzes 19981 eine von dem Jubilar geleitete Arbeitsgruppe beauftragt, sich mit der dadurch erforderlichen Novellierung des Bayerischen Landesplanungsgesetzes (BayLplG) zu befassen. Die vom Jubilar und den anderen Mitgliedern dieser Arbeitsgruppe verfassten Abhandlungen und Stellungnahmen sind im Jahre 2000 von der A R L veröffentlicht worden. 2 Der Verfasser dieses Beitrags, der im damaligen Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen für das Raumordnungsrecht zuständig war, hat die Beratungen der Arbeitsgruppe mit seinen Anregungen gern und zum Teil auch kritisch begleitet. Es ist für ihn deshalb eine besondere Freude, dem Jubilar diesen Beitrag widmen zu können. Die Neufassung des BayLplG ist erst Ende des Jahres 2004 abgeschlossen worden, 3 da mit diesem Gesetz nicht nur die Anpassung an das geänderte Bundesrecht, sondern auch die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme 4 im Landesrecht vorgenommen worden ist. Der Gesetzesberatung im Bayerischen Landtag vorausgegangen war eine am 6. Mai 2004 durchgeführte Experten-Anhörung zum Thema „Reform der Regionalen Planungsverbände" durch den federführenden Ausschuss für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie gemeinsam mit den Ausschüssen für Kommunale Fragen und Innere Sicherheit sowie für Umwelt und Verbraucherschutz. Der Verfasser, der sich seit 2002 im Ruhestand befindet, hat als Bürger das Gesetzgebungsverfahren mit Interesse - und zugleich mit Sorge um die Zukunft der Landes- und Regionalplanung - verfolgt. • Raumordnungsgesetz (ROG) vom 18.August 1997 (BGBl. I S. 2081, 2102), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Juni 2005 (BGBl. I S. 1746). 2 R. Bartlsperger u. a., Zur Novellierung des Landesplanungsrechts aus Anlass des Raumordnungsgesetzes 1998, ARL-Arbeitsmaterial Nr. 266, Hannover 2000. 3 4
Bayerisches Landesplanungsgesetz (BayLplG) vom 27. Dezember 2004 (GVB1. S. 521).
Richtlinie 2001 / 4 2 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. EG Nr. L I 97, S. 30).
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Für die Behandlung dieser Gesetzesmaterie ist es nicht untypisch, dass die maßgebenden Impulse zur Neufassung des BayLplG vom Bundes- und Europarecht ausgegangen sind, während die Aufgaben von Raumordnung, Landes- und Regionalplanung in der Landespolitik derzeit keine besondere Aufmerksamkeit erfahren: da steht der Zeitgeist entgegen. U m diesem Zeitgeist zu huldigen, hatte der Bayerische Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung vom 6. November 2003 angekündigt, die Landesplanung auf das bundesrechtlich notwendige Maß zu reduzieren, die Regionalplanung radikal zu vereinfachen und die Regionalen Planungsverbände in ihrer bisherigen Struktur abzuschaffen. Vor dem Hintergrund dieses Zeitgeistes erscheint es reizvoll, einige unzeitgemäße Betrachtungen anlässlich der Neufassung des BayLplG anzustellen. Dem Verfasser steht es selbstverständlich nicht zu, mit seinem Beitrag auf den Spuren des Philosophen Friedrich Nietzsche zu wandeln, der sich in den vier zwischen 1873 und 1876 entstandenen „Unzeitgemäßen Betrachtungen" mit der Kultur des aus dem Sieg über Frankreich hervorgegangenen deutschen Kaiserreiches kritisch auseinandergesetzt hat. 5 Das Adjektiv „unzeitgemäß" soll in diesem Beitrag allerdings nicht mit einer negativen Bedeutung im Sinne von „veraltet" versehen, sondern wie bei Nietzsche in einer Umwertung als das verstanden werden, was schon immer an der Zeit war: die Wahrheit zu sagen. In diesem Bemühen setzt sich der Beitrag mit dem in der bayerischen Landesplanungsgesetzgebung zur Zeit Herrschenden und damit Zeitgemäßen kritisch auseinander.
II. Aufgabe und Stellenwert von Raumordnung und Landesplanung Die Landesplanung, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts im damaligen Deutschen Reich aus den Planungsbedürfnissen der Kommunen in den industriellen Ballungsräumen hervorgegangen ist und dadurch legitimiert war, hatte seit 1933 eine deutliche Wandlung erfahren, als der Staat diese Aufgabe an sich zog. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Entwicklung der Raumordnung und Landesplanung nach der zutreffenden Analyse von Fürst/Hesse in mindestens vier zentralen Spannungsfeldern: 6 • Zum Ersten geriet sie in die zum Teil ideologisch geführte Auseinandersetzung über das Verhältnis des Staates zur Privatwirtschaft („Planwirtschaft" versus „Marktwirtschaft").
5 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen nach dem Text der Ausgaben 1873 (David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller), 1874 (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben sowie Schopenhauer als Erzieher) und 1876 (Richard Wagner in Bayreuth), München 1999. 6 D. Fürst/ J. J. Hesse, Landesplanung, Düsseldorf 1981, S. 10 f.
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• Zum Zweiten musste sie sich ihren Platz im neuen föderalen System schaffen. Konflikte mit der vom Grundgesetz garantierten kommunalen Selbstverwaltung (Baurecht versus Landesplanungsrecht) und die Klärung des Verhältnisses zwischen der Raumordnung der Länder und den Raumordnungskompetenzen des Bundes verdrängten inhaltliche Diskussionen. • Drittens wurden Fragen der längerfristig angelegten Raumordnung überlagert vom kurzfristigen Krisenmanagement durch Politik und Fachressorts. • Schließlich stand die Raumordnungspolitik in einem Spannungsverhältnis zu der administrativ von ihr getrennten regionalen Wirtschaftspolitik, was auch zur Folge hatte, dass die Raumordnung über keine nennenswerten Finanzmittel verfügen konnte. Die aus diesen Spannungsfeldern resultierenden Widerstände erschweren es der Raumordnung und Landesplanung nach wie vor, politische Resonanz zu finden und vor allem die Fachplanungen in ein System der Entwicklungsplanung zu integrieren. Ein äußeres Anzeichen für den tendenziell abnehmenden Stellenwert von Raumordnung und Landesplanung ist nicht zuletzt ein häufigerer Wechsel der Ressortzuordnung sowie der weitgehende Verzicht auf die Erwähnung dieser Aufgabe in der Bezeichnung des jeweils dafür zuständigen Bundes- oder Landesministeriums. Dieses Schicksal ist auch der bayerischen Landesplanung mit der Zuordnung zum Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie mit Wirkung vom 14. Oktober 2003 widerfahren. 7 Angesichts der damit einhergehenden Forderungen nach Deregulierung, „Verschlankung" der öffentlichen Verwaltung und Privatisierung bisheriger Gemeinwohlaufgaben bedarf es mehr denn je einer Rückbesinnung auf die Wesensmerkmale des Staates. Nach der Allgemeinen Staatslehre ist der Staat die politische Einheit von Menschen (Staatsvolk), die in einem bestimmten Gebiet (Staatsgebiet) unter einer obersten Gewalt (Staatsgewalt) organisiert sind. 8 Die vorausschauende Einflussnahme auf die Entwicklung des Staatsgebiets gehört deshalb zu den unverzichtbaren Kernaufgaben des Staates. Es gibt nicht nur eine im Selbstverwaltungsrecht wurzelnde kommunale Planungshoheit, sondern auch eine Planungshoheit des Staates, die sowohl die Fachplanungen als auch die räumlich-koordinierende Gesamtplanung umfasst. Gegenstand der Raumordnung als Gesamtplanung auf übergeordneter und überörtlicher Ebene sind die komplexen Zusammenhänge von Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt und Raum, die durch staatliche Ordnungsmaßnahmen, Leistungen und Investitionen beeinflusst werden sollen. Raumordnung 7 Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zuständigkeiten in der Landesentwicklung und in den Umweltfragen und des BayLplG vom 23. Februar 2004 (GVB1. S. 14). Der Entwurf für das neue BayLplG wurde bei der Ersten Lesung im Bayerischen Landtag von der Staatsregierung nicht einmal begründet (Plenarprotokoll 15/24 vom 30. September 2004, S. 1597). 8
O. Model/C. Creifelds/G. München 1995, S. 2.
Lichtenberger/G.
Zierl, Staatsbürger-Taschenbuch, 28. Aufl.,
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greift daher weit über die Planung der Flächennutzung hinaus und zielt auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung durch Entwicklung des Staatsgebiets und seiner Teilräume. Insofern ist die Landesplanung als Aufgabe des Staates in der einleitenden Vorschrift - gleichsam als Entree - des BayLplG (Art. 1 Abs. 1 ) in geradezu vorbildlicher Weise umschrieben: „Aufgabe der Landesplanung ist es, nach Maßgabe des Raumordnungsgesetzes (ROG) und dieses Gesetzes den Gesamtraum Bayerns und seine Teilräume auf Grund einer fachübergreifenden Koordinierung unter den Gesichtspunkten der Raumordnung zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern. Dabei sind gleichwertige und gesunde Lebens- und Arbeitsbedingungen in allen Landesteilen zu schaffen und zu erhalten."
Diesem hohen Anspruch vermag das neue BayLplG leider nicht in allen Teilen gerecht zu werden. Das Augenmerk soll dabei im Folgenden nicht nur auf den vom Bayerischen Landtag am 14. Dezember 2004 beschlossenen Gesetzestext gerichtet werden, sondern auch auf einzelne Regelungsgegenstände, die zwar i m Parlament diskutiert wurden, aber in diesem Gesetz keinen Niederschlag gefunden haben. Weitere Gesichtspunkte der Reform des BayLplG werden in dem Beitrag von Manssen behandelt. 9
III. Reduzierung des Flächenverbrauchs bei Siedlungs- und Infrastrukturmaßnahmen Leitvorstellung bei der Erfüllung der Aufgaben der Raumordnung ist nach § 1 Abs. 2 Satz 1 ROG eine nachhaltige Raumentwicklung, die die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt. Im April 2002 wurde von der Bundesregierung unter dem Titel „Perspektiven für Deutschland - Unsere Strategie für eine Nachhaltige Entwicklung" die nationale Nachhaltigkeits-Strategie verabschiedet. Einer der Schwerpunkte dieser Strategie zielt auf die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme, wobei als ambitioniertes Ziel formuliert wurde, die Neuinanspruchnahme von Flächen bundesweit auf maximal 30 ha pro Tag bis zum Jahr 2020 zu begrenzen. 10 Auch wenn allein in Bayern die Flächeninanspruchnahme in den letzten fünf Jahren von 28,4 ha pro Tag 1 1 auf ca. 17 ha zurückgegangen ist, ist Bayern innerhalb des Bundesgebiets dennoch das Land mit dem höchsten Flächenverbrauch. Dessen Reduzierung ist deshalb ein zentrales Thema für die Raumplanung. Während der Regierungsentwurf des B a y L p l G 1 2 noch keine Aussage zur Reduzierung des Flächenverbrauchs enthielt, wurde auf Grund einer von Vertretern aller 9 G. Manssen, Die Reform des Bayerischen Landesplanungsgesetzes, in diesem Band S. 363; s. ferner K. Goppel/R. Schreiber, B a y V B l 2005, 3 5 3 - 3 5 6 . 10
Raumordnungsbericht 2005, Hrsg. vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, S. 232. " 1 5 . Raumordnungsbericht Bayern 1999/2002, Hrsg. vom S t M W I V T , 2004, S. 20. •2 L T - D r s . 15/1667.
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Fraktionen getragenen Empfehlung des Landtags-Ausschusses für Umwelt und Verbraucherschutz 13 - entgegen dem Votum der anderen beteiligten Ausschüsse vom Landtagsplenum beschlossen, in den Katalog der Raumordnungsgrundsätze (Art. 2 BayLplG) folgende Nummer 13 einzufügen: 1 4 „Grund und Boden sind nicht vermehrbar. Der sparsame Umgang mit diesen Gütern bei Maßnahmen der Siedlung und der Infrastruktur und die Möglichkeiten der Minderung des Flächenverbrauchs sind zu berücksichtigen."
Zur Verwirklichung dieses Grundsatzes insbesondere im Bereich des Siedlungswesens reicht es jedoch nicht aus, in das Landesentwicklungsprogramm Bayern (LEP) ein allgemeines Ziel aufzunehmen, wonach der Flächenverbrauch in allen Landesteilen reduziert werden und die Entwicklung des Landes und seiner Teilräume so flächensparend wie möglich erfolgen soll. 1 5 Zur wirksamen landesplanerischen Lenkung der Siedlungsentwicklung und zur Reduzierung der dadurch verursachten Flächeninanspruchnahme sind quantitative Vorgaben für Teilräume bis hinunter zu den einzelnen Gemeinden in den Regionalplänen unumgänglich. Statt dessen wurde bei der Neufassung des BayLplG auf die - ohnehin nur in der Begründung der Raumordnungspläne enthaltenen - quantitativen Aussagen zur anzustrebenden Entwicklung der Bevölkerung in den Regionen und in deren Teilbereichen (Art. 13 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 4 BayLplG a. F.) „nach den in der Praxis gewonnenen Erfahrungen verzichtet". 1 6 Diese Richtwerte bzw. die nach dem BayLplG 1970 (Art. 13 Abs. 2 Nr. 4 und Art. 17 Abs. 2 Nr. 2) bis 1981 sogar noch verbindlichen Richtzahlen sind in der Tat als ein verfehlter Ansatz anzusehen, weil die Entwicklung der Bevölkerung und der Arbeitsplätze eben nicht vom Staat durch raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen gesteuert werden kann. Der Staat kann aber sehr wohl in Vollzug von § 1 Abs. 4 BauGB durch quantitative Flächenvorgaben auf die Siedlungsentwicklung der Gemeinden Einfluss nehmen, wie es in der Regionalplanung anderer deutscher Länder (vgl. z. B. für Hessen § 9 Abs. 4 Nr. 2 HLPG) auch praktiziert wird.
IV. Schwächung der Stellung der Landesplanung im Verhältnis zur Fachplanung Sowohl für das Landesentwicklungsprogramm als auch für die Regionalpläne schreibt das BayLplG nunmehr vor, dass diese Raumordnungspläne neben den 13 Niederschrift über die 23. Sitzung des Landtags-Ausschusses für Umwelt und Verbraucherschutz vom 25. November 2004, S. 36 ff.(39).
14 Plenarprotokoll 15/31 vom 14. Dezember 2004, S. 2141. 15
Vgl. Anlage zur geltenden Verordnung über das Landesentwicklungsprogramm Bayern vom 12. März 2003 (GVB1. S. 173) A I 1.9 sowie A I 2.4 (Ζ) des Entwurfs der LEP-Gesamtfortschreibung vom 12. Juli 2005. >6 So die Amtliche Begründung in LT-Drs. 15/1667, S. 20.
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überfachlichen Festlegungen (wie Zentrale Orte und Gebietskategorien) Festlegungen zu raumbedeutsamen Fachbereichen nur enthalten, „sofern nicht die jeweiligen Belange fachrechtlich hinreichend gesichert sind" (Art. 16 Abs. 2 Nr. 4 und Art. 18 Abs. 2 Nr. 3). Nach der Amtlichen Begründung soll damit der „Ausschluss von Doppelregelungen in Raumordnungsplänen und im Fachrecht" bezweckt werden. 1 7 Diese Regelungen stehen im Widerspruch zu der zentralen landes- und regionalplanerischen Aufgabe „einer fachübergreifenden Koordinierung unter Gesichtspunkten der Raumordnung" (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayLplG), die sich gerade auch auf die Abstimmung der raumbedeutsamen Fachplanungen bezieht. Sie lassen außer Acht, dass Raumordnung und Landesplanung nicht nur einen Sicherungs-, sondern auch einen Ordnungs- und Entwicklungsauftrag haben. Dieser Ordnungs- und Entwicklungsauftrag kann von den Trägern der Landes- und Regionalplanung nur dann wirksam erfüllt werden, wenn diese in ihren Raumordnungsplänen - gemäß Art. 3 Abs. 3 BayLplG - auch Festlegungen zu raumbedeutsamen Infrastrukturprojekten vornehmen können, obwohl diese bereits Gegenstand fachgesetzlich geregelter Pläne sind. Nach § 7 Abs. 3 ROG sollen die Raumordnungspläne auch diejenigen Festlegungen aus den dort aufgeführten Fachplänen des Verkehrs-, Umweltund sonstigen Planungsrechts enthalten, die wegen ihres Ziele- oder GrundsätzeCharakters zur Aufnahme in Raumordnungspläne geeignet und zur Koordinierung von Raumansprüchen erforderlich sind. Raumordnung, Landes- und Regionalplanung sollen damit die raumbedeutsamen Fachplanungen zusammenführen und bezogen auf den jeweiligen Raum - aufeinander abstimmen. Wird ihnen dies durch die inhaltliche Einschränkung der Raumordnungspläne verwehrt, bleibt das Feld weitgehend der Fachplanung überlassen. Der durch die Abschaffung fachlicher Programme und Pläne (Art. 15 und 16 BayLplG a.F.) erzielte Integrationseffekt wird damit an anderer Stelle wieder zunichte gemacht. Die Abgeordnete Kronawitter hat die zu befürchtende Schwächung der Stellung der Landesplanung im Verhältnis zur Fachplanung in der Zweiten Lesung des BayLplG im Bayerischen Landtag treffend zum Ausdruck gebracht mit den Worten: „Wenn man Landesund Regionalplanung auf Aufgabenfelder wie Luftverkehr oder Windenergie reduziert, weil es in diesen Fragen noch keine fachplanerischen Festlegungen gibt, dann verliert die Raumordnung ihren Stellenwert als Querschnittsaufgabe und gerät in eine Lückenbüßerfunktion". 1 8
>7 LT-Drs. 15/1667, S. 14; Plenarprotokoll 15/24 (Fn. 7), S. 1598 f. Plenarprotokoll 15/31 (Anm. 14), S. 2145.
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V. Einschränkung der Eigenverantwortung und der Gestaltungsfreiheit der Regionalen Planungsverbände Nach dem neuen BayLplG bleiben die Regionalen Planungsverbände Träger der Regionalplanung (Art. 5 Abs. 1) in der Form von Zusammenschlüssen der Gemeinden und Landkreise einer Region (Art. 5 Abs. 2) und damit in ihrer verbandlichen Struktur - entgegen der Ankündigung in der Regierungserklärung vom 6. November 2003 - zwar grundsätzlich bestehen. Das Gesetz schränkt diese Verbände jedoch sowohl in ihrer planerischen Tätigkeit als auch hinsichtlich ihrer organisatorischen Gestaltungsmöglichkeiten in mehrfacher Hinsicht ein. Die vom Bundesrecht eröffnete Möglichkeit, in verdichteten Räumen oder bei sonstigen raumstrukturellen Verflechtungen Regionalplan und gemeinsamen Flächennutzungsplan zu einem regionalen Flächennutzungsplan zusammenzuführen (§ 9 Abs. 6 ROG), wird im BayLplG - im Gegensatz zu Gesetzen anderer deutscher Länder 1 9 - nicht einmal als Option vorgesehen. 20 In den Regionalplänen sind zwar künftig nicht nur die Zentralen Orte der untersten Stufe (Kleinzentren), sondern alle Zentralen Orte der Grundversorgung - d. h. auch die Unterzentren - sowie die Siedlungsschwerpunkte festzulegen. Insgesamt sind die Regionalen Planungsverbände hinsichtlich ihrer planerischen Tätigkeit in Zukunft jedoch ausschließlich auf die in Art. 18 Abs. 2 BayLplG enumerativ aufgezählten Inhalte beschränkt. Des Weiteren werden die Belange, für die in Regionalplänen Vorrang- oder Vorbehaltsgebiete im Sinne von § 7 Abs. 4 Nrn. 1 und 2 ROG festgelegt werden können, künftig i m LEP bestimmt und damit von der Staatsregierung vorgegeben (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BayLplG). Diese Vorschriften setzen der planerischen Gestaltungsfreiheit der Regionalplanung enge Grenzen. Den Regionalen Planungsverbänden ist es künftig auch verwehrt, in den Verbandssatzungen neben den gesetzlich vorgeschriebenen Organen (Verbandsversammlung, Planungsausschuss, Verbandsvorsitzender) weitere Organe oder einen regionalen Planungsbeirat vorzusehen (Art. 7 Abs. 1 BayLplG). Bei der letzten umfassenden Änderung des BayLplG im Jahre 1997 21 hatte der Bayerische Landtag noch - entgegen dem Gesetzentwurf der Staatsregierung 22 - beschlossen, den Regionalen Planungsverbänden die Entscheidung über die Beibehaltung regionaler Planungsbeiräte zu überlassen. Nunmehr wurde bei der Gesetzesberatung hinsichtlich der Abschaffung der regionalen Planungsbeiräte von der Mehrheitsfraktion als Begründung u. a. darauf hingewiesen, dass das Volk auch den Bayerischen Senat für entbehrlich gehalten habe. 2 3 '9 Z. B. Hessen (§ 13 HLPG), Nordrhein-Westfalen (§ 25 LP1G), Sachsen (§ 5 SächsLPIG) und Thüringen (§ 13 ThürLPIG). 20
Ablehnung des Änderungsantrags LT-Drs. 15/1803 (Nr. 8) durch Landtags-Beschluss
vom 14. Dezember 2004, vgl. Plenarprotokoll 15/31 (Fn. 14), S. 2144 u. 2148. 2 · Verwaltungsreformgesetz vom 26. Juli 1997 (GVB1. S. 311). 22
LT-Drs. 13/5120.
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Während die Regionalen Planungsverbände bisher die Gröi3e ihrer Planungsausschüsse innerhalb eines Rahmens zwischen 10 und 30 Vertretern der Verbandsmitglieder selbst bestimmen konnten (Art. 8 Abs. 9 Satz 1 BayLplG a.F.), gibt Art. 7 Abs. 4 Satz 1 BayLplG nunmehr detaillierte Obergrenzen - gestaffelt nach der Mitgliederzahl des jeweiligen Verbandes - für die Zahl der Mitglieder des Planungsausschusses vor. Die Mehrheitsfraktion hielt es für sinnvoll, damit der „Gremienwirtschaft" eine Grenze zu setzen. 24 Das In-Kraft-Treten dieser Vorschrift, die bei den meisten Verbänden eine deutliche Reduzierung der Zahl der Mitglieder der Planungsausschüsse zur Folge hat, wurde vom Landtag auf Antrag der SPD-Frakt i o n 2 5 immerhin bis zum 1. Mai 2008 hinausgeschoben, um zu vermeiden, dass diese Gremien innerhalb der laufenden kommunalen Wahlperiode umgebildet werden müssen (vgl. Art. 34 Abs. 1 BayLplG).
VI. Mitgliedschaft aller Gemeinden im Regionalen Planungsverband als „ l e e r e Hülse" Die Mitgliedschaft aller Gemeinden und Landkreise einer Region im jeweiligen Regionalen Planungsverband wird in Art. 5 Abs. 2 BayLplG zwar formal beibehalten. Durch die gleichzeitige Verlagerung wesentlicher Zuständigkeiten von der Verbandsversammlung, in der jedes Verbandsmitglied vertreten ist, auf den z.T. erheblich verkleinerten Planungsausschuss werden jedoch die Mitwirkungsrechte vor allem der kreisangehörigen Gemeinden weitgehend ausgehöhlt. Das gilt sowohl für Planungs- wie für Haushaltsangelegenheiten. In Angelegenheiten der Regionalplanung ist die Verbandsversammlung in Zukunft nur noch für die Beschlussfassung über Gesamtfortschreibungen des Regionalplans zuständig. (Art. 7 Abs. 3 Nr. 3 BayLplG), während die Beschlussfassung über Teilfortschreibungen des Regionalplans allein dem Planungsausschuss obliegt (Art. 7 Abs. 5 Nr. 2 BayLplG). Nachdem alle Regionen Bayerns über verbindliche Regionalpläne verfügen und diese zumeist nur in räumlichen oder sachlichen Teilabschnitten fortgeschrieben werden, stellen Gesamtfortschreibungen des Regionalplans seltene Ausnahmefälle dar. Das bedeutet für den Regelfall der Teilfortschreibung, dass die von einem im Fortschreibungsentwurf vorgesehenen Ziel der Raumordnung betroffenen Kommunen zwar wie andere in Art. 13 Abs. 1 BayLplG aufgeführte Stellen angehört werden, aber nicht mehr an der Entscheidung über die regionalplanerische Festlegung mitwirken dürfen, obwohl sie Mitglieder des Regionalen Planungsverbandes sind. Eine Mitgliedschaft, die ihren Inhabern jede un23 Niederschrift über die 20. Sitzung des Landtags-Ausschusses für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie vom 28. 10. 2004, S. 50 f. 24
Niederschrift über die 20. Sitzung des Landtags-Ausschusses für W I V T (Fn. 23), S. 50 f.; Plenarprotokoll 15/31 (Anm. 14) S. 2142. 2
5 LT-Drs. 15/1804.
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mittelbare Entscheidungsbefugnis vorenthält und sie faktisch auf eine bloß repräsentative Gruppenvertretung beschränkt, wird zur „leeren Hülse". Damit geht auch der mit der kommunal verfassten Regionalplanung angestrebte Effekt verloren, dass regionale Zielvorstellungen innerhalb der Kommunen als eigene Ziele erkannt werden und damit eine höhere Umsetzungs- und Realisierungswahrscheinlichkeit haben. 26 Noch gravierender kann sich die Aushöhlung der Mitwirkungsrechte der Mitglieder Regionaler Planungsverbände in Haushaltsangelegenheiten auswirken. Nach Art. 7 Abs. 5 Nr. 4 BayLplG ist künftig - im Gegensatz zu Art. 34 Abs. 2 Nr. 3 KommZG - für die Beschlussfassung über den Haushalt eines Regionalen Planungsverbandes nicht mehr die Verbandsversammlung, sondern ausschließlich der Planungsausschuss zuständig. Gleichzeitig soll nach Art. 7 Abs. 2 Satz 9 BayLplG die Regelung des Art. 32 Abs. 1 Satz 1 KommZG, wonach die Verbandsversammlung (z. B. zur Verabschiedung des Haushalts) jährlich mindestens einmal einzuberufen ist, auf Regionale Planungsverbände nicht mehr anzuwenden sein. Damit könnte der Planungsausschuss künftig bei der Verabschiedung des Haushalts sogar eine Erhebung von Umlagen von den Verbandsmitgliedern beschließen (Art. 5 Abs. 4 BayLplG in Verb, mit Art. 42 KommZG), ohne dass diese über das Weisungsrecht des Art. 33 Abs. 2 Satz 4 KommZG überhaupt eine Möglichkeit hätten, auf diese auch für sie haushaltswirksame Entscheidung Einfluss zu nehmen. Ein Weisungsrecht gegenüber den Mitgliedern des Planungsausschusses besteht nicht, da diese nicht Vertreter der einzelnen kommunalen Gebietskörperschaften sind, sondern Vertreter der drei Gruppen kreisangehörige Gemeinden, kreisfreie Gemeinden und Landkreise. 27 Dies ist mit der mitgliedschaftlichen Verfassung der Regionalen Planungsverbände wohl nicht zu vereinbaren und begegnet auch unter Gesichtspunkten der kommunalen Finanzhoheit, die Bestandteil der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie ist, erheblichen Bedenken. Auch wenn der Freistaat Bayern den Regionalen Planungsverbänden den notwendigen Aufwand für die Ausarbeitung und Aufstellung der Regionalpläne ersetzt, 28 sehen einzelne Verbände darüber hinaus entsprechend der Mustersatzung 29 die Erhebung von Umlagen vor.
26 27
Vgl. dazu Miosga in der Experten-Anhörung vom 6. Mai 2004 (S. 9 der Niederschrift).
L. Heigl/R. BayLplG a.F.
Hosch, Raumordnung und Landesplanung in Bayern, Rn. 27 zu Art. 8
28 Art. 9 BayLplG in Verb, mit der Verordnung über die Kostenerstattung an Regionale Planungsverbände (KostErstV) i.d.F. vom 27. Juli 1980 (GVB1. S. 485), zuletzt geändert durch Verordnung vom 24. April 2001 (GVB1. S. 154). 29
§ 19 Abs. 2 des Musters einer Verbandssatzung für Regionale Planungsverbände, Anlage 1 zur Bek. des S t M L U vom 12. Mai 1982 (LUMB1. S. 50).
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VII. Regelungsdefizite bei der grenzüberschreitenden raumordnerischen Abstimmung In dem unter I. genannten Veröffentlichungsband der vom Jubilar geleiteten Arbeitsgruppe sind den Fragen der grenzüberschreitenden raumordnerischen Abstimmung immerhin drei Beiträge gewidmet. 3 0 Die Notwendigkeit der regionsübergreifenden Zusammenarbeit (z. B. gemeinsame Entwicklungskonzepte zur Ordnung grenznaher Einzelhandelsgroßprojekte) war auch ein zentrales Thema bei der von den drei beteiligten Landtags-Ausschüssen am 6. Mai 2004 durchgeführten Experten-Anhörung zur Reform der Regionalen Planungsverbände. 31 U m so mehr überrascht es, dass das neue BayLplG zu diesem sowohl im innerdeutschen als auch im europäischen Kontext wichtigen Gegenstand keine Regelung enthält. Die in Art. 13 Abs. 2 Nr. 2 und Art. 27 des früheren BayLplG enthaltenen Regelungen zur Regionalplanung mit Nachbarländern wurden ersatzlos aufgehoben, da „die bisher einzige grenzüberschreitende Regionalplanung in der Region Donau-Iller durch Staatsvertrag . . . geregelt ist und weitere Fälle einer grenzüberschreitenden Regionalplanung sich derzeit nicht abzeichnen". 32 M i t den Stimmen der Mehrheitsfraktion wurde im Bayerischen Landtag auch ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion abgelehnt, der auf die Einfügung folgender Regelung abzielte: 3 3
„Art. 31 a Regionsübergreifende Zusammenarbeit (1) Die Regionalen Planungsverbände können untereinander sowie mit den Trägern der Regionalplanung in benachbarten deutschen Ländern oder in Nachbarstaaten zusammenarbeiten, insbesondere zur Erstellung gemeinsamer fachübergreifender Entwicklungskonzepte und zur Vereinbarung gemeinsamer Zielsetzungen für regionsübergreifende Teilräume. (2) Soweit für Teilräume des Freistaats Bayern eine gemeinsame Regionalplanung mit Teilräumen benachbarter deutscher Länder oder von Nachbarstaaten erforderlich oder zweckmäßig ist, können durch Staatsvertrag oder durch Rechtsverordnung der Staatsregierung mit Zustimmung des Landtags Form und Inhalt der Regionalpläne, die Zuständigkeit für die Ausarbeitung und Aufstellung, das Verfahren sowie die Kostenerstattung abweichend von den Vorschriften dieses Gesetzes geregelt werden."
Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Regionalen Planungsverbände wurde von der Mehrheitsfraktion im Bayerischen Landtag mit Hinweis auf den Grundsatz „Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist" verneint. 3 4 Bei dieser Argumentation wird jedoch verkannt, 30 S. Anm. 2. 31 Vgl. S. 11 - 13, 15 f., 18, 22 und 26 der Niederschrift. 32 LT-Drs. 15/1667, S. 20. 33 LT-Drs. 15/1803 (Nr. 12). 34 Plenarprotokoll 15/31 (Fn. 14), S. 2143.
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dass es sich bei den Regionalen Planungsverbänden - i m Gegensatz zu „normalen" Zweckverbänden nach Art. 17 ff. KommZG - nicht um freiwillige Zusammenschlüsse, sondern um kraft Gesetzes entstandene „Zwangsverbände" handelt (Art. 5 Abs. 2 BayLplG). Zwangsverbände sind aber auf die Wahrnehmung der ihnen vom Gesetzgeber ausdrücklich übertragenen Aufgaben beschränkt. Eine darüber hinausgehende Aufgabenerweiterung wäre auch nach dem Grundsatz des Sachzusammenhangs nicht zulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben die Mitglieder öffentlicher Zwangsverbände sogar einen im Verwaltungsrechtsweg verfolgbaren Anspruch darauf, dass der Verband sich nicht mit Aufgaben befasst, die ihm der Gesetzgeber nicht zugewiesen hat. 3 5 Da eine regionsübergreifende Zusammenarbeit gerade wegen der Lage bayerischer Regionen im deutschen und europäischen Raum sinnvoll und notwendig sein kann, sollte diese Regelungslücke durch eine weitere Änderung des BayLplG baldmöglichst geschlossen werden. Das in Art. 31 BayLplG geregelte Verfahren betrifft ausschließlich die der Richtlinie 2001 / 4 2 / E G über die Umweltprüfung bestimmter Pläne und Programme geschuldete Abstimmung von Raumordnungsplänen eines Nachbarlandes oder -staates mit den bayerischen Trägern der Landes- oder Regionalplanung und stellt keinen Ersatz für eine generelle Regelung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit dar.
VIII. Ausblick auf europarechtliche und bundesrechtliche Entwicklungen Trotz der in diesem Beitrag angesprochenen teilweisen Defizite ist anzuerkennen, dass der Freistaat Bayern mit der Neufassung seines Landesplanungsgesetzes als erstes deutsches Flächenland den europarechtlichen Vorgaben zur Umweltprüfung bei Raumordnungsplänen Rechnung getragen hat. Dabei war sich der Gesetzgeber durchaus dessen bewusst, dass die notwendige Umsetzung von EG-Richtlinien den Bestrebungen der Deregulierung und Verfahrensvereinfachung auf Landesebene teilweise zuwiderlaufen kann. 3 6 Gleichwohl werden Fälle der direkten oder mittelbaren Beeinflussung des Landesplanungsrechts durch europarechtliche Vorgaben in Zukunft eher zunehmen, wie z. B. auch die Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (FFH-Richtl i n i e ) 3 7 und die Richtlinie über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und den Zugang zu Gerichten 3 8 zeigen. 35 BVerwGE 34, 69 (74); Heigl/Hosch BayLplG a.F.
(Fn. 27), Rn. 3 zu Art. 6 und Rn. 2 zu Art. 7
36 Plenarprotokoll 15/31 (Fn. 14), S. 2142. 37 Richtlinie 9 2 / 4 3 / E W G des Rates vom 21. M a i 1992 (ABl. EG Nr. L 206, S. 7). 3« Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 ( A B l . EG Nr. L 156, S. 17).
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Nach Bildung der neuen, aus der vorgezogenen Bundestagswahl vom 18. September 2005 hervorgegangenen Bundesregierung ist auch damit zu rechnen, dass die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung („Föderalismuskommission") ihre Arbeit wieder aufnehmen wird. Sollte dabei, was keineswegs auszuschließen ist, die Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 GG) aufgehoben werden, würde für die Raumordnung eine völlig neue Gesetzgebungssituation auf Bundes- und Länderebene entstehen. Eine mögliche Änderung der Gesetzgebungskompetenzen im Bereich der Raumordnung wird dabei insbesondere auf die spezifisch koordinierende Funktion dieser Rechtsmaterie zwischen dem Bundesstaat und seinen Verpflichtungen gegenüber der EU einerseits sowie den Ländern und Regionen andererseits Rücksicht zu nehmen haben.
D i e G e w i c h t u n g der U m w e l t b e l a n g e d u r c h die Umweltprüfung in der bauleitplanungsrechtlichen
Abwägung
nach d e m E A G B a u ( B a u G B 2004) bei der Aufstellung der Bauleitpläne Zugleich zu der begrenzten Wirkung des Nachhaltigkeitsprinzips im Planungsrecht Von Werner Hoppe, Berlin
I . D i e rechtlichen A u s w i r k u n g e n von U m w e l t p r ü f u n g (§ 2 Abs. 4 B a u G B 2 0 0 4 ) u n d nachhaltiger städtebaulicher E n t w i c k l u n g (§ 1 Abs. 5 Satz 1 B a u G B 2 0 0 4 ) a u f die A b w ä g u n g a u f d e m verfassungsrechtlichen H i n t e r g r u n d von A r t i k e l 2 0 a G G 1. Umweltprüfung und Nachhaltigkeitsanforderungen im E A G Bau (BauGB 2004) Das BauGB 2004 (im folgenden BauGB) hat in der Form des Europarechtsanpassungsgesetzes - EAG Bau vom 24. Juni 2004 1 - vor allem durch die Integration der Umweltprüfung aufgrund der Europäischen Plan-UP-Richtlinie 2 (§§ 2 Abs. 4, 2 a, 3, 4, 4 a bis 4 c BauGB) eine besondere Ausprägung in Bezug auf die im BauGB geregelten Umweltbelange (§ 1 Abs. 6 Nr. 7 und § 1 a BauGB) ebenso wie durch die an die Formulierung des § 1 Abs. 2 Satz 1 ROG angelehnte Nachhaltigkeitsklausel des § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB erfahren. Diese Änderungen werfen nach wie vor die Frage auf, ob die bauplanungsrechtliche Abwägung, die jetzt zentral in § 1 Abs. 7 BauGB in Übereinstimmung mit § 1 Abs. 6 BauGB a. F. (1997) und in Übereinstimmung mit der bisherigen Abwägungsdogmatik geregelt ist, oder aber durch § 2 Abs. 3 BauGB, dessen Inhalt als „Verfahrensgrundnorm" nach wie vor Rätsel aufgibt, 3 eine Ergänzung erfahren hat, ι E A G Bau vom 24. Juni 2004 (BGBl. I, S. 2414: Neubekanntmachung des BauGB vom 27. August 1997 (BGBl. I S. 2141 ) in der seit dem 20. Juli 2004 geltenden Fassung), das der Umsetzung von vier europäischen Richtlinien diente. Siehe zu diesen Richtlinien die Zusammenstellung bei K. Finkelnburg, N V w Z 2004, 897 Fn. 2. 2
Richtlinie 2001 / 4 2 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 06. 2001 über die Prüfung bestimmter Pläne und Programme. 21 FS Bartlsperger
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die die Abwägung verändert hat, insbesondere i m Hinblick auf das Problem, ob im BauGB den Umweltbelangen ein besonderes Gewicht und eine Vorrangstellung gegenüber anderen städtebaulichen Belangen zukommt. So ist in der Literatur die Rede davon, daß die „einfachen Umweltbelange . . . über den Begriff der nachhaltigen Entwicklung " in der Plan-UP-RL und infolge der Zielsetzungen dieser Richtlinie, „ i m Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen", zu Belangen würden, „die auch in der Abwägung einen erhöhten Stellenwert im Sinne eines Optimierungsgebotes" erführen und daß die „Umweltbelange in der Vorstellung des europäischen Gesetzgebers zu den optimierten Belangen gehörten, für die eine Komfortabwägung " anstehe. 4 Außerdem „soll" die Nachhaltigkeit in § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB, nach dem die „Bauleitpläne . . . eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringen" soll, „mehr als ,Abwägung', nämlich die Aufgabe, einen Mehrwert für möglichst alle Ziele des Nachhaltigkeitsgrundsatzes zu erreichen", sein, wofür sich Krautzberger ausspricht. 5 Erweitert dieser von Krautzberger postulierte „Mehrwert" der Nachhaltigkeit sei es infolge ihrer Erwähnung in der Plan-UP-RL, sei es aufgrund der Regelung in § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB - die Ausgleichsentscheidung in der Abwägung, die nach bisherigem Verständnis der Abwägungsdogmatik als letzte Phase der Abwägung die elementare planerische Entscheidung des Vorziehens und Zurückstellens von konkurrierenden Belangen - einschließlich der Umweltbelange - nach Maßgabe ihres objektiven Gewichts darstellt 6 und die - in der Sprache des BVerwG - eine „bilanzierende Gesamtbeurteilung" bzw. einen „bilanzierenden Gesamtabwägungsvorgang " fordert, bei dem die Belange als vorzugswürdig oder nachrangig zu beurteilen seien, 7 um zusätzliche Prüfungsschritte? Diese Umweltbelange sollen nämlich nach Stüer „in der Reichweite der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelungen" eine weitere Prüfung dahin durchlaufen, ob die Eingriffe vermieden, verringert, ausgeglichen oder in sonstiger Weise kompensiert werden können, 8 bevor sie bei der Ausgleichsentscheidung „weggewogen " werden. Erstreckt das BauGB da3 Siehe dazu W. Hoppe, N V w Z 2004, 903, 904 f. 4 So M. Krautzberger!B. Stüer, DVB1 2004, 914, 924 (Hervorhebungen vom Verfasser). Sie berufen sich i m Hinblick auf die Optimierungsanforderungen auf W. Hoppe, DVB1 1992, 853, der das Optimierungsgebot rechtlich als Vorrangregelung i m Hinblick auf bestimmte Belange charakterisiert: Siehe dazu weiter Hoppe (Anm. 3) 909. 5 M. Krautzberger, in: U. B a t t i s / M . Krautzberger/R. P. Lohr, BauGB, 9. Aufl., München (2005), § 1 BauGB Rn. 45 (Hervorhebungen vom Verfasser). 6 Siehe dazu Hoppe (Anm. 3), 907; W. Hoppe, in: ders./C. Bönker/S. Grotefels, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl., München 2004, § 5 Rn. 82 ff. 7 BVerwG vom 05. 10. 1 9 9 0 - 4 Β 2 4 9 / 8 9 - N V w Z - RR 1991, 118, 122. « So Β. Stüer, N V w Z 2004, 508, 513 f. (Hervorhebungen vom Verfasser).
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bei - wie vorgetragen wird - „die bisherige naturschutzrechtliche Kompensationsregelung in § 1 a Abs. 3 BauGB auf alle umweltschützenden Belange"? 9 Alle diese Ansätze signalisieren eines: Eine angebliche Vorrangstellung der Umweltbelange, wie sie nach dieser Auslegung im „neuen" BauGB geregelt sein soll.
2. Der verfassungsrechtliche Vorbehalt des Artikels 20 a GG gegenüber einfachrechtlichen Vorrangabwägungssteuerungen Man wird mit Richard Bartlsperger fragen müssen, ob nicht im Hinblick auf eine solche Regelung, wenn sie einen Vorrang tatsächlich im BauGB getroffen haben sollte, der sich auf einfachrechtliche Regelungen auswirkende unmittelbare Durchgriff des sogenannten Verfassungsvorbehalts von Artikel 20 a GG als Gesetzesvorbehalt dieser Umweltstaatszielbestimmung eine verfassungsrechtliche Sperrwirkung für einfachgesetzliche ökologische Steuerungsregelungen dieser Art für umweltrelevante verwaltungsrechtliche Abwägungsvorgänge auslösen kann. 1 0 In dieser Frage kann - so Bartlsperger - „auf die Umweltstaatszielbestimmung des Art. 20 a GG abgestellt werden, denn es ist eines der zentralen Probleme und Ergebnisse, wenn nicht gar die hauptsächliche und letztlich den politischen Konsens gewährleistende dezidierte Entscheidung bei Schaffung jener Umweltstaatszielbestimmung gewesen, daß der Umweltschutz von Verfassungs wegen keinen ,generellen', auch keinen nur relativen Vorrang beanspruchen kann, vielmehr unter dem Vorbehalt einer ,im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung' dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit folgenden Abwägung generell gleichrangiger Prinzipien und Belange steht." 11 Nach diesem Vorbehalt sind zwar Präferenzentscheidungen „für einen tatbestandlich umfassend und abschließend gedachten und erfaßten Zielkonflikt, „das heißt ein Zielkonflikt zwischen bestimmten Umweltbelangen und bestimmten anderen Prinzipien bzw. Belangen" - also bestimmter konkreter Belange - zulässig. Nicht zulässig sind jedoch „generelle" Vorrangregelungen im Sinne von tatbestandlich nicht eingegrenzten Abwägungsvorbehalten, die eine „generelle Präferenzsteuerung" einfachgesetzlicher Provenienz ohne Bezug auf tatbestandlich um9 So Stüer (Anm. 8), 513, der verlangt, daß das Gericht zu prüfen habe, ob die planerische Stelle den Nachhaltigkeitsgedanken in der Ausgleichsentscheidung durch ein entsprechendes methodisches Vorgehen der Kompensationsprüfung ausreichend berücksichtigt habe. Dies schließe die Prüfung einer möglichst geringen Beeinträchtigung umweltschützender Belange und die Kontrolle von Kompensationserwägungen mit ein, wie dies bereits aus der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung bekannt sei. - Es fragt sich, wie das zu realisieren sein soll, wenn nach dem Nachhaltigkeitsprinzip alle sozialen, ökonomischen und ökologischen Belange möglichst zur Schonung zugeführt werden bzw. einen Mehrwert erfahren sollen? 10
Siehe dazu R. Bartlsperger, Ökologische Gewichtungs- und Vorrangregelung, in: W. Erbguth (Hrsg.), Planung: Festschrift für Werner Hoppe, 2000, S. 126 ff., S. 141 ff. 11
21
Bartlsperger (Anm. 10) S. 142 (Hervorhebungen vom Verfasser).
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fassend und abschließend gedachte und einfache Zielkonflikte bestimmter konkreter Belange zwischen bestimmten Umweltbelangen und bestimmten anderen Belangen bedeuten. Bei einer solchen Verlagerung auf einfach-rechtliche Abwägungsvorbehalte beachten solche generellen Vorrangsregelungen nicht den aus dem Verfassungsvorbehalt abgeleiteten Verwaltungsvorbehalt einer „ i m Einzelfall konkret vorzunehmenden, zweckrational situativ offenen Abwägung" und bewegen sich außerhalb des allgemeinen Gesetzesvorbehalts von Art. 20 a GG aufgrund des unmittelbaren Durchgriffs des Verfassungsvorbehalts der Umweltstaatszielbestimmung. 1 2 Würde eine Auslegung des BauGB, die den Umweltbelangen die oben geschilderte Vorrang- und Präferenzstellung einräumt, dem Verdikt der Nichtbeachtung des gegenüber derartigen einfachgesetzlichen Regelungen durchgreifenden Verfassungsvorbehalts von Art. 20 a GG unterfallen? Da die dargestellte Auslegung des Stellenwerts von Umweltbelangen im BauGB, ihre eventuelle Vorrangstellung und höhere Gewichtung gegenüber anderen städtebaulichen Belangen, diesem Gesetzesvorbehalt nicht entspricht, könnte nämlich eine Regelung getroffen worden sein, die eine generelle Vorrangregelung ohne Bezug zu konkreten Konfliktlagen für sich in Anspruch nimmt, also im Gegensatz steht zu dem Verfassungsvorbehalt des Art. 20 a GG und dem „ökologischen Relativismus" dieser Umweltstaatszielbestimmung, wie er sich in der Sicht von Bartlsperger darstellt. Deswegen ist zunächst zu fragen, ob diese Auslegung dem Gesetzesinhalt und den Regelungsabsichten der Plan-UP-Richtlinie und denen des BauGB mit integrierter Umweltprüfung und Nachhaltigkeitsanforderung überhaupt entspricht. Je nachdem, wie das Ergebnis der weiteren Untersuchung ausfällt, ist möglicherweise nicht mehr zu prüfen, ob der Verfassungsvorbehalt des Art. 20 a GG in der Stringenz, wie Bartlsperger ihn sieht, mit dieser Regelung einem Gesetzesvorbehalt widerspricht oder vielleicht nur eine verfassungskonforme Interpretation der Vorschriften des BauGB gebietet, die diesen Konflikt vermeidet.
I I . Zur Dogmatik der Umweltprüfung und Abwägung im E A G Bau 1. Der verfehlte „Einzug" der Metaphorik in die Abwägungsdogmatik Die Rechtsprechung - wegweisend die Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts 1 3 - und Literatur 1 4 haben eine bewährte und verfestigte Abwägungsdog12 Zu dem unmittelbaren Durchgriff des von Bartlsperger hervorgehobenen Verfassungsvorbehalts von Art. 20 a GG bzw. des mit ihm dezidiert festgelegten „ökologischen Relativismus" dieser Umweltstaatsbestimmung s. Bartlsperger (Anm. 10), S. 142 f. mit weiteren Nachweisen.
Siehe dazu W. Hoppe, DVB1 2003, 697. 14
Nachweise siehe bei Hoppe in: Hoppe / Bönker / Grotefels, ÖffBauR (Anm. 6), § 5 passim.
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matik für die bauleitplanerische Abwägung entwickelt, die bei stetiger Rechtsprechung bisher eine sichere Basis für die Abwägung von Planungsträgern bildete und auch heute noch bietet. Sie gilt als einheitliches Abwägungsgebot für alle Raumplanungen und als materielle raumplanerische Koordinationsregel 15 , die ein Vorbild für die Anerkennung eines gemeinschaftsrechtlichen Abwägungsgebots bei der Entwicklung einer spezifischen gemeinschaftsrechtlichen Planungsrechtsdogmatik sein könnte. 1 6 Die oben dargestellten Auffassungen von einer Änderung der Abwägungsdogmatik des § 1 Abs. 7 BauGB, etwa durch Optimierungsgebote, Kompensationsanforderungen nach einschränkungsloser Maßgabe der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung und Erweiterung der planungsrechtlichen Ausgleichsentscheidung um weitere Prüfungsstufen, um Anreicherung der Abwägung um einen „Mehrwert", werden begleitet von einer Metaphorik, die an die Stelle belastbarer und schlüssiger Dogmatik Sprachbilder treten läßt, die nicht einen Mindestgehalt an argumentativ vernunftgesteuerten materiellen und sachgerechten Aussagegehalten vermitteln und die keine inhaltlichen Sachverhalte anschaulich und einleuchtend machen. Wenn diese Metaphern von ausgewiesenen Planungsrechtlern dennoch in diesem Beitrag in der gebotenen Kürze angesprochen und nicht als indiskutabel ignoriert werden, dann deshalb, weil sie mit ihren verfehlten Sprachbildern die Interpretation der Plan-UP-RL und die rechtlichen Gehalte der Nachhaltigkeit (§ 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB) in eine Richtung zu steuern versuchen, die eine Modifizierung der bisherigen Abwägungsdogmatik herbeiführen soll, sie mithin die Metaphern in den Dienst der Änderung des Gewichts und des Rangs einer bestimmten Gruppe von Belangen - nämlich der Umweltbelange - stellen, die rechtsdogmatisch weder aus der Plan-UP-RL noch aus dem Nachhaltigkeitsgebot des § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB abgeleitet werden können. 1 7
a) Der metaphorische Auslegungstopos „Grundsatz, der nachhaltigen Trauerarbeit" und die „Mehrwert"-Theorie Das - in diesem Zusammenhang - völlig irrationale Sprachbild vom „Grundsatz der nachhaltigen Trauerarbeit", von Krautzberger mit Stüer zusammen entwikk e l t 1 8 , ist bezeichnend für diese Entwicklung. Es ist die Rede von dem „Gedanken 15 Grundlegend die 2005 erschienene Habilitationsschrift von W. Durner, Konflikte räumlicher Planung, Tübingen 2005, S. 270 ff., S. 331 ff. - Siehe auch W. Hoppe, Planung, in: Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. IV, Heidelberg (im Erscheinen), Rn. 24, 25.
16 So Durner (Anm. 15), S. 544, S. 554. 17 Siehe zu der politischen Metaphorik H. Münkler, FAZ Nr. 7 vom 10. 01. 2005, S. 8, der aufzeigt, wie politische Metaphern Sachverhalte anschaulich und einleuchtend machen wollen, „die das von sich aus nicht sind". 18
512 ff.
Krautzberger/Stüer
(Anm. 4), 923 f.; siehe dazu weiter B. Stüer, N V w Z 2005, 508,
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der Trauerarbeit", der „nachhaltigen Trauerarbeit", dem „Grundsatz der nachhaltigen Trauerarbeit", die an die Planung zusätzliche verfahrensrechtliche Anforderungen stellen und schon bei der naturschutzrechtlichen Regelung eine maßgebliche Rolle gespielt haben sollen. Krautzberger spricht zwar in der BauGB-Kommentierung nicht mehr von der „nachhaltigen Trauerarbeit", sondern nur noch davon, die Nachhaltigkeit im Sinne von § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB sei „mehr als Abwägung", „nämlich die Aufgabe, einen Mehrwert für möglichst alle Ziele des Nachhaltigkeitsgrundsatzes zu erreichen" 1 9 , wie bereits erwähnt. Damit dürften wohl „zusätzliche Prüfungsschritte der Vermeidung, Verminderung und der Kompensation" - Kompensation nach Maßgabe der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung - gemeint sein, 2 0 wobei den Umweltbelangen - wie gesagt - „auch in der Abwägung ein erhöhter Stellenwert im Sinne des Optimierungsgebots" nach Maßgabe dieser Stichworte zugesprochen w i r d . 2 1 Meint Krautzberger mit diesen „Mehrwert" die angebliche Anreicherung der Abwägung um neue Prüfungsschritte oder was ist unter „Mehrwert" i m Sinne von Krautzberger zu verstehen? Stüer sieht nach wie vor „eine aus dem naturschutzrechtlichen Kompensationsgedanken abzuleitende nachhaltige Trauerarbeit' oder eine in der Mediation angestrebte ,Win-Win-Methode' . . . für ein modernes Planungsrecht stehen". 2 2 Obgleich „Trauerarbeit" ein „Vorgang zur Bewältigung seelischen Schmerzes" 23 und zunehmend und vornehmlich auf den Tod von Nahestehenden bezogen ist, im Planungsrecht aber zu einem peinlichen Sprachbild gerät und obgleich die rechtliche Abwägung kein durch Freude oder Trauer geprägter emotionaler Vorgang, sondern eine in der menschlichen Willensfreiheit wurzelnde „spezifische Fähigkeit des Menschen, Gründe abzuwägen und der Abwägung entsprechend zu hand e l n " , 2 4 ist, wird nach wie vor von Stüer - immer noch unter Berufung auf den Mitautor Krautzberger - an dieser Metapher als „rechts siche re Grundlage" für die Änderung der Abwägung, also als rechtliche Kategorie, festgehalten. 25 Bedenken begegnen auch der Mehrwerttheorie von Krautzberger. Wenn nach ihm alle ökonomischen, ökologischen und sozialen Belange einen „Mehrwert" erhalten sollen, was immer ein „Mehrwert" sein mag, 2 6 fragt sich, wie dieses Ziel 19 Krautzberger
(Anm. 5), § 1 BauGB Rn. 45.
20 Stüer (Anm. 18), 514. 21 Krautzberger/Stüer
(Anm. 4), 924.
22 B. Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 3. Aufl., München 2005, Vorwort S. V I (Hervorhebung vom Verfasser). 23 Die Definition stammt von Sigmund Freud, zitiert nach H. Paul, Wörterbuch, 10. Aufl., Tübingen 2002, r. Sp.; Hoppe (Anm. 3), 910. 24 J. Nida-Rümelin,
Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, S. 98.
25 Stüer (Anm. 22) Rn. 1378, 1394, 1401, 1407, 2972, 2991 (Hervorhebung vom Verfasser). 26 Krautzberger
(Anm. 5), § 1 BauGB Rn. 45.
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realisiert werden soll. Die Zuordnung von „Mehrwerten" für jeden dieser Belange bedeutet eine „Mehrwertüberlappung" und eine „Mehrwertüberschneidung" und somit einen Kampf aller gegen alle Nachhaltigkeitsbelange. Woher und wie soll auf diese Weise ein Mehrwert für alle Belange des Nachhaltigkeitsgedankens innerhalb einer Abwägung generiert werden, die dazu dienen soll, diese Belange „miteinander in Einklang" zu bringen? Dasselbe gilt für den Vorschlag von Stüer: „Die Trauerarbeit setzt dort an, wo Belange durch die Planung nachteilig betroffen werden, der Eingriff nicht vermieden oder minimiert werden kann und die Frage nach einem Ausgleich oder einer anderweitigen Kompensation ansteht. Hier kommt ein entsprechender Verarbeitungsprozess in Gang. Das gilt nicht nur für naturschutzrechtliche und umweltschützende Belange, sondern auch für soziale, wirtschaftliche und andere städtebauliche Belange (§ 1 V 1 BauGB) gleichermaßen. 21
b) Keine Bestätigung des Grundsatzes der „nachhaltigen " Trauerarbeit für die Abwägung durch das Gottesgarten-Urteil des BVerwG vom 15. Januar 2004 (BVerwGE 120, S. 1, S. 12 ff.) Stüer hat in einem DVBl-Rechtsprechungsbericht seine persönliche Rechtsauffassung zur Verpflichtung der Bauleitplanung zu einer „nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung" aufgrund des BauGB durch „nachhaltige Trauerarbeit" dargestellt und sich für seine Theorie der zusätzlichen Abwägungselemente in der Ausgleichsentscheidung zu Unrecht auf das BVerwG bezogen 2 8 : Für diese zusätzlichen Abwägungselemente in der Ausgleichsentscheidung könne die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung Pate stehen, bei der die Kompensation bereits seit mehr als einem Jahrzehnt durchgeführt werde. „Win-Win-Methode" oder „nachhaltige Trauerarbeit" stellten die planerische Ausgleichsentscheidung daher auf eine rechtssichere Grundlage. Die Methode sei auch bereits vom BVerwG erfolgreich angewendet worden. Bei dieser Auffassung bezieht sich Stüer auf die Entscheidung des 4. Senats des BVerwG vom 15. Januar 2004. 2 9 Bei diesem Urteil geht es um einen Planfeststellungsbeschluß für die A 73, der auf dem Fernstraßengesetz beruht. Nach Auffassung der Kläger in diesem Verfahren war das Abwägungsgebot verletzt, „weil das öffentliche Interesse an der Erhaltung des ,Gottesgartens', einer europaweit einzigartigen Kulturlandschaft, mit dem ebenfalls öffentlichen Interesse an dem Bau der A 73 fehlerhaft abgewogen worden" sei. 3 0 Der Senat hat sich der Ansicht der Kläger nicht angeschlossen. 27
Stüer (Anm. 18), 511 (Hervorhebung vom Verfasser).
2
« B. Stüer, DVB1 2005, 806 ff.
29
BVerwG vom 15. 01. 2 0 0 4 - 4 A 11.02 - , BVerwGE 120, S. 1, S. 12 ff. insbesondere S. 14 f. 3 B e r
120, S.
1.
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Der Senat wendet weder die von Stüer „entwickelte" Methode an, wenn es sich denn überhaupt um eine als rechtlich zu qualifizierende Methode und „rechtssichere Grundlage" für eine erweiterte Ausgleichsentscheidung handelt. Das BVerwG verhält sich in seinem Urteil zu einem Planfeststellungsbeschluß aus 2002 mit keinem Wort zum Nachhaltigkeitsgrundsatz und zu den Vorschriften des BauGB (§ 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB). Der Senat, nach dessen Meinung das Abwägungsergebnis nur dann vom Gericht zu beanstanden sei, wenn bei der Abwägung die einen Belange gegenüber den anderen unverhältnismäßig zurückgesetzt worden seien 3 1 , spricht sich bei der Behandlung des Eingriffs in das Landschaftsbild weder für eine Minimierung des Eingriffs nach Möglichkeit, noch für eine möglichste Schonung des Landschaftsbildes und schon gar nicht für eine Kompensation bei dem Ausgleich der abzuwägenden Interessen nach dem Muster der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung aus. M i t anderen Worten: Es fehlt jedweder Bezug des „Gottesgarten-Urteils" zu der Auffassung von Stüer. Im Gegenteil: Der Senat hat die Abwägung mit der Zurückstellung des Belanges Kulturlandschaft zugunsten des Straßenbaus nicht beanstandet: Aus der Sicht des mit historischen Zusammenhängen nicht vertrauten Durchschnittsbetrachters werde dem Straßenbau „nicht etwas eigenartiges geopfert". 3 2 Von Win-Win-Methode ist keine Rede. Der Senat ist dabei den üblichen und anerkannten Abwägungsregeln gefolgt, ohne Einfügung irgendwelcher neuer Abwägungselemente 33 , auch wenn dem Senat der Eingriff in das Landschaftsbild von einem bestimmten Sichtpunkt aus „am schmerzlichsten " erschien und er die Veränderung des Landschaftsbildes durch das Straßenbauvorhaben als „eine tiefe Wunde" gewertet hat, ist er zu dem Ergebnis gekommen: „Vor dem Hintergrund der für das Straßenbauvorhaben sprechenden Erwägungen erscheint die Veränderung des Landschaftsbildes noch hinnehmbar" 3 4 und: „Die durchgeführte Ortsbesichtigung hat bei dem Senat nicht den Eindruck hinterlassen, das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Landschaftsbildes im ,Gottesgarten' sei in der Abwägung mit den für das Straßenbauvorhaben streitenden Gesichtspunkten in unvertretbarer Weise zu Kurz gekommen." 3 5 „Trauer" und „nachhaltige Trauerarbeit" sind keine Begründungselemente des Urteils. Das „Nachhaltigkeitsprogramm" im BauGB als „nachhaltige Trauerarbeit" findet keine „Rückendeckung" durch die Judikatur.
31 BVerwGE 120, S. 13. 32 BVerwGE 120, S. 15. 33 BVerwGE 120, S. 19. 34 BVerwGE 120, S. 15. 35 BVerwGE 120, S. 13.
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I I I . Aspekte der Beibehaltung der herkömmlichen Abwägung 1. Die Plan-UP-Richtlinie als reine Verfahrensregelung und die fehlgeratenen europarechtlichen Verfahrensansätze im EAG Bau Entwurf 36 Vorab ist hierzu thesenartig festzuhalten, was in einzelnen Facetten noch entfaltet werden kann: - Die Plan-UP-RL ist eine rein verfahrensrechtliche Regelung, die über die Umweltprüfung keine materiell-rechtlichen Veränderungen des Rechts der Bauleitplanung, insbesondere nicht im Hinblick auf die materiell-rechtlichen Gewichtungen von Umweltbelangen, auch nicht unter dem Aspekt der Zielsetzung in Artikel 1 Plan-UP-RL, „ i m Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ein hohes Umweltniveau sicherzustellen", hervorgerufen hat. Verfahrensrechtlich hat die Prozeduralisierung der Ermittlung durch die Umweltprüfung lediglich zu einer stärkeren Ermittlungsintensität und einer erhöhten Ermittlungstiefe im Hinblick auf Umweltbelange geführt. - Dasselbe gilt für die Nachhaltigkeitsregelung in § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB und auch im Hinblick auf das Ziel der nachhaltigen Entwicklung in der Richtlinie, die keine Gewichtungsregelung im Sinne eines Vorrangs bestimmter Belange bzw. eines „Mehrwerts" darstellt. Die Nachhaltigkeitsanforderung stellt eine Abwägungsdirektive, also ein Abwägungssteuerungsinstrument dar mit dem Planungsziel, „die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang" zu bringen. Das generelle Planziel der Nachhaltigkeit mag als Programmfunktion wohl „die Berücksichtigung der Erkenntnis, daß wirtschaftliche Entwicklung und soziales Wohlergehen vor allem für kommende Generationen nur möglich sind, wenn wir die Natur als Lebensgrundlage nicht übermäßig beeinträchtigen" 3 7 , das ändert aber nichts an der Abwägungsdirektive, die für alle Belange der Nachhaltigkeitsanforderung gleichermaßen und gleichrangig lediglich die Herstellung eines Einklangs fordert, wie noch zu zeigen ist. - Das in der Begründung des E A G Bau-Gesetzentwurfs betonte neue Verständnis der Vorschriften der §§ 2 ff. B a u G B 3 8 in Anpassung an das europäische Rechtsverständnis, das der Einhaltung von Verfahrensvorschriften einen hohen Stellenwert einräume, deren Zweck auf die Gewährleistung der materiellen Rechtmäßigkeit der Entscheidung gerichtet sein solle, 3 9 hat im BauGB keinen 36 I m Ganzen siehe dazu Hoppe (Anm. 3), 903. 37 So R. P. Lohr in: U. B a t t i s / M . Krautzberger/ders., BauGB, 9. Aufl., München 2005, § 5 BauGB Rn. 1 a. - Siehe dazu auch Hoppe, Planung (Fn. 15), Rn. 8 1 - 8 5 . 3« BT-Drs. 1 5 / 2 2 5 0 S. 181. - zum Folgenden siehe W. Hoppe in: H o p p e / B ö n k e r / G r o t e fels, ÖffBauR (Anm. 6), § 5 Rn. 2,3. 39 Begründung BT-Drs. 15/2250, S. 180.
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maßgeblichen Niederschlag gefunden. Die stärkere Betonung der verfahrensrechtlichen Anforderungen komme, so die Begründung, im Planaufstellungsverfahren zum Ausdruck, so auch in § 2 Abs. 3 und § 4 Abs. 1 B a u G B . 4 0 Die Berufung auf ein neues europarechtlich geprägtes Rechtsverständnis ist offensichtlich fehlgeschlagen, besonders im Hinblick auf § 2 Abs. 3 BauGB. Bemerkenswert in der Begründung des Gesetzentwurfs ist in diesem Zusammenhang auch, 4 1 daß sie von einem Wechsel vom materiell-rechtlichen Abwägungsvorgang zu den verfahrensbezogenen Elementen des Ermitteins und Bewertens der von der Planung berührten Belange ausgeht. Das macht zwar deutlich, daß der Gesetzgeber die Regelung des § 2 Abs. 3 BauGB als Verfahrensvorschrift sehen will. Gleichwohl bleibt offen, welche Bedeutung der „Verfahrensgrundnorm" des § 2 Abs. 3 BauGB für die Abwägung der Bauleitpläne zukommen soll. Es ist schwer ersichtlich, was das neue Verständnis der Planaufstellungsvorschriften in Anpassung an ein postuliertes europarechtliches Verständnis der Bedeutung von Verfahrensvorschriften an rechtlichen Vorgaben für die Abwägung im Ganzen mit sich bringen soll. Es ist offensichtlich, daß durch § 2 Abs. 3 BauGB nichts Entscheidendes geändert worden ist, schon gar nicht in materiell-rechtlicher Hinsicht. Trotz der vermeintlich neuen Ansätze, gestützt auf ein europarechtliches Verständnis der besonderen Bedeutung des Verfahrens, spricht alles dafür, es bei der in langjähriger Rechtsprechung aus dem Wesen der Planung und dem Wesen der Abwägung entwickelten Abwägungsdogmatik und ihren Abwägungsphasen und der spezifischen Sicht der daraus entwickelten Abwägungsfehlerlehre zu belassen, in die sich die Umweltprüfung und das Nachhaltigkeitsprinzip sinnvoll einfügen lassen. Im Übrigen ist davon auszugehen, daß sich die Auffassung, die Plan-UP-Richtlinie habe lediglich eine verfahrensrechtliche Bedeutung, als herrschende Meinung durchgesetzt hat. Diese herrschende Meinung ist in der Regel verbunden mit der Feststellung, auch die Abwägung habe sich durch die Integration der Umweltprüfung in das BauGB in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht geändert 4 2 Für die Um40 Begründung BT-Drs. 15/2250, S. 181. 41 Begründung BT-Drs. 15/2250, S. 182. 42 H. Ginzky, UPR 2002,51 f.; J. Pietzcker/C. Fiedler, Gutachten zum Umsetzungsbedarf der Plan-UP-Richtlinie der EG i m BauGB (maschinenschriftl.) (2004), S. 80 These 11; C. Uebbing, Umweltprüfung bei Raumordnungsplänen, Münster 2004, S. 321 („Verfahrensvorgaben"); Hoppe (Anm. 3), 907 ff.; Hoppe in: Hoppe/Bönker/Grotefels, ÖffBauR (Anm. 6), § 5 BauGB Rn. 2, Rn. 35, Rn. 43, Rn 70, Rn 84; W. Erbguth/M. Schubert, Umweltrechtliche Instrumente und bauleitplanerische Abwägung im neuen Städtebaurecht, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts Bd. 83, Berlin 2005, S. 63 ff., 69 ff.; U. Battis, in: ders./M. Krautzberger/R. P. Lohr, BauGB, 9. Aufl., München 2005, § 2 BauGB Rn. 5; Lohr (Anm. 37), § 5 BauGB, Rn. 1 a (in Bezug auf Nachhaltigkeit); A. Schink, Umweltprüfung für Pläne und Programme, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben und Fachplanung, in: Tagungen der Gesellschaft für Umweltrecht Bd. 35 (2005), S. 100 ff., Seite 165 (These 3); M. Uechtritz, Umweltprüfung für Pläne und Programme, Raumordnung und Bauleitplanung, in: Tagungen der Gesellschaft für Umweltrecht Bd. 35 Berlin 2005, S. 179 f., S. 201 ff., S. 223 (These 10);
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weltprüfung bleibt es - mit Ausnahme der Intensivierung der Ermittlung im Blick auf Umweltbelange - bei der herkömmlichen Abwägung und Abwägungsfehlerdogmatik. 4 3
2. Die herkömmlichen Abwägungsphasen und die Umweltprüfung Die Abwägung folgt also auch im Hinblick auf die Umweltprüfung den herkömmlichen Abwägungsschritten der Ermittlung, Einstellung, Gewichtung und der Planungs- und Ausgleichsentscheidung der Belange auf folgende Weise: Die Ermittlung der Umweltbelange (Erste Phase) unterliegt zwar den speziellen Verfahrenserfordernissen der § § 2 Abs. 4 ff. BauGB. In der Umweltprüfung, die für die Belange des Umweltschutzes nach § 1 Abs. 6 Nr. 7 und § 1 a BauGB durchgeführt wird, müssen die voraussichtlichen Umweltauswirkungen ermittelt werden und in einem Umweltbericht beschrieben und bewertet werden. Das Ergebnis der Umweltprüfung ist in der Abwägung zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 4 Satz 4 BauGB). Der Umweltbericht bildet einen gesonderten Teil der Begründung (§ 2a Satz 2 BauGB). Die Einstellung der Belange (Zweite Phase) bedeutet einen Schritt von der Ermittlung zur Gewichtung. Die Einstellung trifft die Entscheidung, bestimmte Belange in die Gewichtung aufzunehmen. Die als Feinselektion (konkrete Abwägungsbeachtlichkeit) bewertete Einstellungsanforderung 44 bezog sich bisher generell auf alle für die Bauleitplanung relevanten Belange. Infolge der Einführung der Umweltprüfung (§ 2 Abs. 4 BauGB) in die Planaufstellung ist allerdings bei der Einstellung zu unterscheiden nach den - außerhalb der Umweltprüfung ermittelten städtebaulichen Belange, die nach Maßgabe der Feinselektion (Filter der konkreten Abwägungsbeachtlichkeit nach Maßgabe der mehr als geringfügigen, eintrittswahrscheinlichen und insoweit erkennbaren Betroffenheit der Belange) einzustellen sind und nach den -
im Wege der Umweltprüfung ermittelten und im Umweltbericht beschriebenen und in Bezug auf die voraussichtlichen erheblichen Umweltauswirkungen bewerteten Belange des Umweltschutzes.
Die Umweltbelange sind in die Gewichtung auf der nächsten Abwägungsstufe so einzustellen, wie sie - ermittelt, beschrieben und bewertet - aus der Umweltprüfung hervorgegangen sind. Einzustellen sind also diese Belange nach ihrer umO. Reidt, in: K. Geizer/C.-D. Bracher/O. Reidt, Bauplanungsrecht, 6. Aufl., Köln 2001, Rn. 550; J. Schliepkorte, ZfBR 2004, 645, 547; J. Busse, KommJur 2004, 245, 248; W. Schrödter, NordÖR 2004, 317, 325. « Siehe dazu Uechtritz (Anm. 42), S. 185 ff., insbesondere S. 201 ff.; Erbguth/Schubert (Anm. 42), S. 71; Hoppe (Anm. 3), 909 ff.; Hoppe, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, ÖffBauR (Anm. 6), § 5 Rn. 35 ff. 44 Siehe dazu Hoppe, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, ÖffBauR (Anm. 6), § 5 Rn. 64.
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welthelangemiérnéTi Abschätzung. Angesichts der nur Umweltbelange betreffenden internen, ökologisch beschränkten Bewertung im Rahmen der Umweltprüfung stellt diese Bewertung einen der bauleitplanerischen Einstellung und Gewichtung aller Belange vorgelagerten Zwischenschritt dar. Infolgedessen sind die Umweltbelange im Rahmen der Bauleitplanung bei Durchführung einer Umweltprüfung einer zweifachen Gewichtung zu unterwerfen, zunächst in ihrem Verhältnis zueinander bei und im Wege der internen umweltspezifischen Bewertung vor der Einstellung in die Abwägung, durch die ihre Einstellungsfähigkeit beurteilt wird, und dann im Verhältnis zu anderen Belangen nach der Einstellung in die Abwägung bei der Gewichtung. Die Gewichtung aller Belange unter Einbeziehung der Umweltbelange (Dritte Phase) fordert, daß alle ordnungsgemäß eingestellten abwägungsbeachtlichen Belange, einschließlich der aus der Umweltprüfung hervorgegangenen Umweltbelange, zu gewichten sind. Die Beantwortung der Frage nach der endgültigen und abschließenden Hinnahme oder Außerachtlassung der in die Abwägung eingestellten ermittelten, beschriebenen und bewerteten Umweltbelange ist allerdings nach ihrer bauleitplanerischen Gewichtung der abschließenden Planungsentscheidung vorbehalten. Diese Planungs- und Ausgleichsentscheidung unter Berücksichtigung der aus der Umweltprüfung hervorgegangenen, die allgemeine Gewichtungsphase durchschritte nen Umweltbelange (Vierte Phase) zeigt keine Besonderheiten: In der letzten Phase der Abwägung, der elementaren Planungsentscheidung des Vorziehens und der Zurückstellung von Belangen, geht es auch um die Berücksichtigung der Ergebnisse der Umweltprüfung (§ 2 Abs. 4 Satz 4 BauGB). Über sie wird - bei diesem Planungsakt - abschließend mit entschieden. Bei der Planungsentscheidung ist auch insoweit darüber zu befinden, welchen Vor- und Nachrang die in der Umweltprüfung ermittelten, beschriebenen und bewerteten Umweltbelange im Verhältnis zu anderen städtebaulichen Belangen nach Maßgabe des Ausgleichsgebots einnehmen. Bei dieser Entscheidung können Umweltbelange auch - je nach ihrer tatsächlichen und rechtlichen Bewertung - durch Abwägung überwunden und gegenüber objektiv gewichtigeren, vorzugswürdigen Belangen ohne weitere Prüfungsschritte „weggewogen" werden. Auch eine solche, die Umweltbelange zurückstellende Abwägung entspricht dem Berücksichtigungsgebot des § 2 Abs. 4 Satz 4 BauGB. Das BauGB sieht also keine Erweiterung der Ausgleichsentscheidung um zusätzliche Schritte vor, weder aufgrund der durch die Plan-UP-RL eingeführten Umweltprüfung noch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeitsanforderung (§ 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB). Daraus folgt: Die Ermittlung und Einstellung von Belangen des Umweltschutzes nach § 1 Abs. 6 Nr. 7 BauGB und § 1 a BauGB im Rahmen der Umweltprüfung hat sich nach ihrem Wesen und ihrer Grundstruktur, wie sie sich bei der bisherigen Bauleitplanung entwickelt haben, nicht verändert. Änderungen liegen nicht im Bereich materiell-rechtlicher Anforderungen an die Ermittlung, sondern im Bereich
Die Gewichtung der Umweltbelange durch die Umweltprüfung
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der verfahrensmäßigen Auswirkungen einer intensiver auf Umweltbelange fokussierten Zusammenstellung des Abwägungsmaterials bei der Umweltprüfung in Verbindung mit den neuen Anforderungen an das Verfahren. Sowohl die Ermittlung der Umweltbelange als auch die der sonstigen städtebaulichen Belange erfolgen nach derselben Methodik. Der Blick wird - wie mehrfach festgestellt - durch die verfahrensrechtlichen Anforderungen der Umweltprüfung in gesteigerter Weise auf die Umweltgüter gelenkt. Diese verfahrensrechtlichen Anforderungen führen notwendigerweise zu einem Unterschied bei der Einstellung der städtebaulichen und der Umweltbelange: Die Aufnahme der im Rahmen der Umweltprüfung ermittelten, beschriebenen und als in die Gewichtung einstellungsfähig bewerteten Umweltbelange setzt ihre direkte Einstellung in die Gewichtung voraus, die bei den sonstigen städtebaulichen Belangen der Feinselektion unterliegt. Im Rahmen der Umweltprüfung wird allerdings bereits über die Einstellungsfähigkeit der Umweltbelange in die Gewichtung anhand des Maßstabs der konkreten Abwägungsbeachtlichkeit (mehr als geringfügige, eintrittswahrscheinliche und erkennbare Betroffenheit der Umweltbelange) entschieden. Damit wird auch über ihre Berücksichtigung im Umweltbericht befunden. Das hat zur Folge, daß nicht einstellungsfähige Umweltbelange von vorn herein aufgrund ihrer Bewertung in der Umweltprüfung nicht in die Phase der generellen Gewichtung im Rahmen der Abwägung aller relevanten städtebaulichen Belange gelangen können, weil sie nicht in die Gewichtung eingestellt werden. Es kann also keine Rede davon sein, daß die Ausgleichsentscheidung um Prüfungsschritte erweitert und irgendwelche „abstrakten" Gewichtungsvorgaben bei der Abwägung in der Planungs-Ausgleichsentscheidung, die immer konkret-situationsbezogen orientiert ist und sein muß, zu beachten wären.
3. Umweltprüfung und naturschutzrechtliche Eingriffsregelung In dieses „Ablaufschema" der Abwägung fügt sich auch die Eingriffsregelung nach dem Bundesnaturschutzgesetz ein, aber nur soweit gemäß § 1 a Abs. 3 BauGB „die Vermeidung und der Ausgleich voraussichtlich erheblicher Beeinträchtigungen des Landschaftsbildes sowie der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes in seinen in § 1 Abs. 6 Nr. 7 a BauGB bezeichneten Bestandteilen in die Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB zu berücksichtigen sind" 4 5 . 45
Siehe dazu M. Schubert, Harmonisierung umweltrechtlicher Instrumente in der Bauleitplanung, Baden-Baden 2005, der sich angesichts der partiellen Übereinstimmung zwischen Umweltprüfung und bundesnaturschutzrechtlicher Eingriffsregelung de lege ferenda für eine verfahrensrechtliche Integration der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung einsetzt, S. 167 ff. (zum BauGB-Gesetzentwurf), S. 274 zum E A G Bau. - Zur Methodik der Prüfung nach § 1 a Abs. 3 BauGB 2004 siehe auch W. Spannowsky, Umweltverträglichkeitsprüfung im Rahmen des Bebauungsplanverfahrens, Kaiserslautern 2003, S. 106 ff.
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§ 1 a Abs. 1 BauGB, der in die Umweltprüfung einzubeziehen ist, ordnet die Anwendung bestimmter Vorschriften bei der Aufstellung der Bauleitpläne an, wozu auch die Eingriffsregelung in der Ausprägung in § 1 a Abs. 3 BauGB zählt. Nach § 2 Abs. 4 BauGB 2004 umfaßt die Umweltprüfung auch die Belange des Umweltschutzes nach § 1 a BauGB, wie sie - neben anderen Vorschriften - in Absatz 3 der Vorschrift ausdrücklich benannt sind. Das heißt, daß die in § 1 a Abs. 3 BauGB bezeichneten Schutzgüter als Umweltbelange unter die umweltprüfungsspezifische Ermittlung und Bewertung, die auch ihre Einstellungsfähigkeit in die Gewichtung prüft, fallen. Diese Ermittlung und Bewertung der nach § 1 a Abs. 3 BauGB angeordneten Prüfung ist - wie gesagt - der umfassenden Gewichtung aller Belange (.Dritte Abwägungsphase) vorgelagert, in der diese Belange mit den anderen städtebaulichen Belangen zusammentreffen und in der ihre Gewichtung in Relation zu anderen Belangen erfolgt, mit dem sie sodann der Ausgleichs- und Planungsentscheidung (Vierte Phase) zugeführt werden. Es kann also auch in dieser Hinsicht nicht davon gesprochen werden, daß das E A G Bau ganz generell die Ausgleichsentscheidung um die Elemente der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung erweitert. Zutreffend stellt Uechtritz fest, 4 6 die „Datenerhebung" bei naturschutzrechtlicher Eingriffsregelung und Umweltprüfung sei zwar (teil)identisch: „Allerdings ist die Annahme, die Anwendung der Eingriffsregelung liefere für die Umweltprüfung den Teil, der sich speziell mit den Schutzgütern des Naturhaushalts und des Landschaftsbildes befasse, mißverständlich. Die Eingriffsregelung geht nicht in einer - umfassenderen - Umweltprüfung auf. Die in Bezug auf die Schutzgüter der Eingriffsregelung ermittelten Daten müssen entsprechend den Vorgaben der Eingriffsregelung (Ausgleich oder Kompensation; Abwägung über die Zulässigkeit des Eingriffs bei Unmöglichkeit vom Ausgleich oder Kompensation) in der sich an die Umweltprüfung anschließenden Abwägung berücksichtigt werden - was nicht ausschließt, daß sich der Plangeber im Einzelfall dafür entscheidet, Kompensationsmaßnahmen, die im Rahmen der Umweltprüfung zum Ausgleich des Eingriffs als erforderlich gewertet wurden, nicht durchzuführen, sofern hierfür hinreichend gewichtige Belange sprechen." 47 Reidt 48 betont, daß § 1 a Abs. 3 BauGB keinen strikten Anwendungsbefehl dahingehend enthalte, daß in der Bauleitplanung zwingend Kompensationsmaßnahmen in einem bestimmten Mindestumfang vorzusehen seien. I m übrigen stehen einer bundesgesetzlichen Erweiterung der Vermeidungs- und Kompensationspflichten auf alle sonstigen Schutzgüter der naturschutzrechtlichen 46 M. Uechtritz (Anm. 42), S. 183. 47 So auch O. Reidt (Anm. 42), Rn. 684, beide unter Bezugnahme auf V G H Mannheim vom 17. 05. 2 0 0 1 - 8 S 2603/00, N V w Z - RR 2002, 8. Siehe auch Krautzberger, in: Battis/ Krautzberger/Lohr, BauGB, (Anm. 5), § 1 a BauGB Rn. 12 und Rn 13, in der die Bestimmungen aufgeführt sind, die das BauGB speziell zur Umsetzung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung enthält. (Anm.
) Rn.
4.
Die Gewichtung der Umweltbelange durch die Umweltprüfung
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Eingriffsregelung sogar de lege lata etwa im Sinne der Interpretation von Stüer verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes entgegen. 49 Abschließend sei noch einmal betont, daß die Vorschrift des § 2 Abs. 3 BauGB das rätselhafte Ergebnis einer abundanten Normproduktion ist, die möglicherweise durch den fehlgeschlagenen Versuch entstanden ist, europarechtliche Verfahrensvorgaben für das E A G Bau fruchtbar zu machen. Auch nach allen bisher in der Literatur entwickelten Interpretationsbemühungen, der Vorschrift eine Funktion beizulegen, die hier nicht im einzelnen zu referieren sind, bleibt es bei meiner Auffassung, daß die Regelung keinen irgendwie erkennbaren substanziellen Regelungsgehalt hat, der gegenüber demjenigen des Abwägungsgebots und der mit der Anordnung dieser Abwägung nach bisherigem Verständnis wesensmäßig verbundenen und verfassungsrechtlich begründeten Abwägungsschritten der Ermittlung, Einstellung, Gewichtung und ausgleichenden Planentscheidung aller abwägungsrelevanten Belange nach materiellen Maßstäben eine Änderung bewirken könnte, über ihn hinausginge oder dessen Regelungsgehalt einschränkte oder modifiziert e . 5 0 Demnach erweist sich die Regelung in § 2 Abs. 3 BauGB eher als überflüssig denn als weiterführend. 51 Ein neues europarechtliches Verständnis gemäß Verfahrenskontrolle versus Inhaltskontrolle hat sich nicht durchgesetzt. Die sogenannte „Verfahrensgrundnorm" des § 2 Abs. 3 BauGB sollte ersatzlos gestrichen werden. 5 2 Jedenfalls kann aus dieser sogenannten „Verfahrensgrundnorm" kein „Honig gesogen" werden für die Auffassung, daß den Umweltbelangen eine irgendwie geartete Vorrangstellung zukomme.
4. Zur Rolle der Nachhaltigkeit bei der Abwägung und zu ihrer begrenzten Wirkungsweise Der rechtliche Begriff der „Nachhaltigkeit " leidet darunter, daß er zu einer umgangssprachlich gängigen und sehr abgegriffenen Allerwelts-Wortmünze gediehen ist, mit der alle möglichen Vorgänge, Verhaltensweisen, Überlegungen, Ziele, Programme, Belange, Absichten etikettiert werden, wenn ihnen irgendeine besondere Gewichtigkeit zugesprochen werden und ihnen möglicherweise über den Tag hinaus Bedeutung zukommen soll. Es war schon betont, daß die Nachhaltigkeit in § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB ebenso wie in § 1 Abs. 2 Satz 1 ROG ein Instrument der planerischen Abwägungssteuerung, eine Abwägungsdirektive, eine Leitvorstellung und ein Programmsatz im 49 So Schubert (Anm. 45), S. 178. 50 Hoppe (Anm. 3), 905. si Hoppe (Anm. 3), 905. 52 Hoppe (Anm. 3), 910.
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Rahmen der Abwägung ist. Bei der Auslegung und Anwendung der Nachhaltigkeitsregelung, wie sie im ROG und BauGB ausgeprägt ist, sollte man sich immer wieder der Grundlagen vergewissern, auf denen diese Regelung letztlich beruht. Es handelt sich um eine Trias von Belangen, die bereits im Bericht der BrundtlandKommission formuliert worden ist. Die Autoren des Brundtland-Berichts strebten eine Weltentwicklung an, die eine Balance zwischen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Zielen hält. 5 3 Der Bericht der Βrundtland-Kommission wurde als Resolution einstimmig von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen und bildete die Grundlage für die Beratungen der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, die im Juni 1992 in Rio de Janeiro stattfand und die den Inhalt des Sustainability-Konzepts ausmacht. Diese Entwicklung zeigt - wie Beaucamp zu Recht feststellt, „daß mit einer einseitigen Vereinnahmung für ökologische oder auch soziale Aspekte der Sinn einer zukunftsfähigen Entwicklung verfehlt wird. Ihr Ideal ist vielmehr die Erarbeitung einer dreidimensionalen Perspektive, in der allen Dimensionen gleiches Gewicht zukommt 4 '. 5 4 Aus diesen Ansätzen haben ROG und BauGB die Rechtsregelungen des § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB und § 1 Abs. 2 Satz 1 ROG im Sinne dieser Trias entwickelt. Dementsprechend bezweckt nachhaltige raumordnungsrechtliche und städtebauliche Entwicklung einen Ausgleich ökologischer, ökonomischer und sozialer Raumansprüche und -funktionen. Die ökologische Raumschutzfunktion und die ökonomischen und sozialen Raumnutzungsansprüche sollen zu einem tragfähigen räumlichen Ausgleich gebracht werden. Die Nachhaltigkeit ist im ROG und BauGB damit „dreidimensional" definiert. Dabei wird weder den ökonomischen oder sozialen Raumansprüchen noch den ökologischen Schutz- und Entwicklungsansprüchen per se ein Vorrang eingeräumt. Vielmehr wird von deren prinzipieller Gleichrangigkeit ausgegangen, das auch die Annahme eines Optimierungsgebotes zugunsten ökologischer Raumfunktionen ausschließt. Nutzungsansprüche und ökologische (Schutz-)funktionen sind räumlich in Einklang zu bringen, damit es langfristig zu einer dauerhaften räumlich ausgewogenen Ordnung kommt, in der diese 53 Siehe dazu G. Beaucamp, Das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung im Recht, Tübingen 2002, S. 18 ff. 54 C. Beaucamp (Anm. 53) S. 20 mit umfangreichen Nachweisen.- Siehe dazu auch P. Runkel, in: W. Bielenberg/W. Erbguth/W. Söfker/P. Runkel, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Budnes und der Länder, J 630, Tz. 2.2; M. Krautzberger/J. Stemmler, Zum Rechtsbegriff der nachhaltigen räumlichen Erntwicklung insbesondere § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB und § 1 Abs. 2 Satz 1 ROG, in: Planung (Fn. 10), S. 317 ff. Das „3-Säulen-Modell" für die Interpretation des Nachhaltigkeitsbegriffs (ökologisch, ökonomisch, sozial) erfährt allerdings Kritik dahin, daß die soziale und ökonomische Dimension als „Auffangbecken für alle nur denkbaren wissenschafts- und sozialpolitischen Ziele genutzt wird" und der Nachhaltigkeitsbegriff dazu jede Orientierungsfunktion verliere, L. Michalski, Nachhaltige Entwicklung - Umweltpolitische Prioritäten aus ökonomischer Sicht, Vortrag bei der Gesellschaft für Umweltrecht. Jahrestagung 2001. Eingehend zur Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumentwicklung R. Bartlsperger, ARL-Arbeitsmaterial Nr. 266 (2000), S. 4 ff.; E. Rehbinder, Das deutsche Umweltrecht auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, Dokumentation zur wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrechte e.V. Berlin 2001.
Die Gewichtung der Umweltbelange durch die Umweltprüfung
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Funktionen in Einklang stehen. 55 Zu Recht betont Beaucamp in seiner grundlegenden Untersuchung zum Sustainability-Konzept im bundesdeutschen Raumordnungs- und Bauleitplanungsrecht: „Die rechtliche Relevanz der §§ 1 Abs. 2 Satz 1 ROG und § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB beschränkt sich darauf, die vom Abwägungsgebot stets geforderte Berücksichtigung aller einschlägigen Gesichtspunkte für die drei zentralen Dimensionen der Ökonomie, der Ökologie und des Sozialen noch einmal herauszustellen." 56 Es ist deswegen nicht nachvollziehbar, daß immer wieder versucht wird, aus den Nachhaltigkeitsregelungen im Planungsrecht Vorrangigkeit für ökologische Belange abzuleiten, die keine Grundlage im Regelwerk von ROG und BauGB finden.
IV. Ergebnis Wenn die Abwägung im BauGB nach § 1 Abs. 7 des Gesetzes, auch im Hinblick auf die neu eingeführte Umweltprüfung, so verstanden wird, wie es in diesem Beitrag entwickelt ist, greift der aus dem Verfassungsvorbehalt des Art. 20 a GG von Bartlsperger abgeleitete Gesetzesvorbehalt des Verbots genereller Vorrangregelungen nicht, da das BauGB auch nach Einführung der Umweltprüfung keine „generelle" Vorrangregelung im Sinne von tatbestandlich nicht eingegrenzten Abwägungsvorbehalten ohne Bezug auf tatbestandlich umfassend und abschließend gedachte und einfache Zielkonflikte bestimmter konkreter Belange zwischen bestimmten Umweltbelangen und bestimmten anderen Belangen, enthält. Allerdings spricht dieser Gesetzesvorbehalt nach wie vor gegen die weitergehenden, in einem Teil der Literatur vertretenen Auffassungen von einer Änderung der Abwägung im Sinne einer Optimierung und Vorrangstellung von Umweltbelangen und einer strukturellen Änderung der Abwägung und Abwägungsfehlerlehre im Interesse darüber hinausgehender, einen Vorrang implizierender Abwägungsvorbehalte.
55
Siehe dazu Hoppe, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, ÖffBauR (Anm. 6), § 6 Rn. 3 mit umfassenden Nachweisen aus der Literatur. Zur begrenzten Wirkung des Nachhaltigkeitsprinzips siehe auch Hoppe (Anm. 15) Rn. 85. 56
Beaucamp (Anm. 53), Seite 415, der sich zu Recht gegen die Ansicht von Erbguth wendet, im ROG sei eine sogenannte „Wegwägsperre" geregelt, die verhindere, daß eine der drei Dimensionen der nachhaltigen Raumentwicklung völlig vernachlässigt werde. Siehe dazu auch R. Bartlsperger, Aufgabe der Landesplanung und Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumordnung, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.) Zur Novellierung des Landesplanungsrecht aus Anlaß des Raumordnungsgesetzes 1998 (2000), S. 1, S. 16 f., S. 19 und Seite 24. B
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Regionale Planungsverbände Unverzichtbar für eine kommunaladäquate Umsetzung der Landesplanung in Flächenländern am Beispiel Bayern V o n Franz-Ludwig
Knemeyer,
Würzburg
Das Planungsrecht hat i m w i s s e n s c h a f t l i c h e n L e b e n s w e r k R i c h a r d Bartlspergers einen besonderen S t e l l e n w e r t . M i t Fragen der L a n d e s p l a n u n g hat der J u b i l a r sich f r e i l i c h erst später i n seinen A r b e i t e n i n der A k a d e m i e f ü r R a u m f o r s c h u n g u n d L a n d e s p l a n u n g a u s f ü h r l i c h e r befasst. Sein Interesse galt u n d g i l t A u f g a b e n , I n h a l t e n u n d I n s t r u m e n t a r i e n . I n e i n e m k l e i n e n G l ü c k w u n s c h b e i t r a g z u m 70. G e b u r t s t a g des geschätzten K o l l e g e n sei v o r a l l e m a u f organisatorische F r a g e n eingegangen. D i e R e g i o n a l p l a n u n g i n D e u t s c h l a n d ist f ö d e r a l i s m u s b e s t i m m t v i e l f ä l t i g gestaltet. N u r b u n d e s r e c h t l i c h r a h m e n b e s t i m m t k o n n t e n sich u n t e r s c h i e d l i c h e M o d e l l e e n t w i c k e l n . Praxiserfahrung u n d W a n d e l i n der j e w e i l i g e n P h i l o s o p h i e z u m Verhältnis
Staat / K o m m u n e
haben
das
ihre
zu
Modellkorrekturen
beigetragen.1
S c h l i e ß l i c h w a r es die W i e d e r v e r e i n i g u n g , d i e f ü r j e d e s neue B u n d e s l a n d d i e Frage nach d e m adäquaten M o d e l l u n d d a m i t auch nach M o d e l l v e r g l e i c h e n erneut aufgeworfen hat.2
1 Zur Rahmenkompetenz des Bundesgesetzgebers BVerfGE 3, 407 ff., die zentrale Aussage (427 f.) lautet: „Raumordnung kann nicht an den Grenzen der Länder halt machen. Erkennt man Raumordnung als eine notwendige Aufgabe des modernen Staates an, dann ist der größte zu ordnende und zu gestaltende Raum das gesamte Staatsgebiet. I m Bundesstaat muss es also auch eine Raumplanung für den Gesamtstaat geben. Die Zuständigkeit zu ihrer gesetzlichen Regelung kommt nach der Natur der Sache dem Bund als eine ausschließliche und Vollkompetenz zu. Es ergibt sich also, dass der Bund regeln könnte: kraft ausschließlicher Kompetenz die Bundesplanung vollständig; kraft konkurrierender Rahmenkompetenz die Raumordnung der Länder in ihren Grundzügen." Als erstes entstand das nordrhein-westfälische Landesplanungsgesetz vom 11. 03. 1950 (GVB1. S. 41). Später folgte das bayerische Landesplanungsgesetz vom 21. 12. 1957 (GVB1. S. 323). Die Entwicklung in den anderen westdeutschen Bundesländern verlief schleppender und es bedurfte eines Zeitraumes von insgesamt 16 Jahren, bis letztendlich auch RheinlandPfalz mit dem Landesplanungsgesetz vom 14. 06. 1966 (GVB1. S. 177) als letzter Flächenstaat eine landesgesetzliche Regelung eingeführt hat. 2
Nach der Wende wurden in kürzester Zeit 1991 /1992 in den fünf neuen Ländern ebenfalls Landesplanungsgesetze verabschiedet, welche sich weitgehend an ihre westdeutschen Pendants anlehnten: Thüringisches Landesplanungsgesetz vom 17. 07. 1991 (GVB1. S. 21); brandenburgisches Vorschaltgesetz zum Landesplanungsgesetz und Landesentwicklungspro-
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Zwar sprach der Zeitdruck, unter dem Gesetzgebung und Behördenaufbau in den neuen Ländern standen, nicht selten für die Kopie des Systems des jeweiligen „Partnerlandes". 3 Es gab jedoch auch wohlbedachte Abweichungen. So hat z. B. das Land Sachsen nicht das Modell seines „Partnerlandes" Baden-Württemberg mit direkt gewählten Repräsentanten in den Regionalverbänden übernommen. Zu einem erneuten Systemvergleich haben schließlich die umfassend angelegten Verwaltungsreformen der letzten Jahre geführt, bei denen grundsätzlich jede öffentliche Aufgabe und jede öffentliche aufgabenerfüllende Stelle auf den Prüfstand gekommen ist. Verwaltungsmodernisierung, Straffung von Verfahrensabläufen und Behördenkonzentrationen oder gar Abschaffungen, Totalprivatisierung oder regelmäßig nur Organisationsprivatisierung von Aufgaben, warfen zwangsläufig auch die Frage nach der Zukunft der Regionalplanung auf. 4 Nicht verwunderlich war vor diesem Hintergrund ein „Schnellschuss-Beschluss" des bayerischen Kabinetts zur Abschaffung der regionalen Planungsverbände. In der folgenden Regierungserklärung des bayerischen Ministerpräsidenten vom 6. November 2003 war dann der Abschaffungsbeschluss nicht unerheblich eingeschränkt. Die Formulierung in der Regierungserklärung lautet wörtlich: „Die regionalen Planungsverbände werden in ihrer bisherigen Struktur abgeschafft." 5 Obwohl der bayerische Gesetzgeber 6 nach ausführlichen Erörterungen namentlich in einer umfassend angelegten Anhörung am 06. Mai 2004 das bayerische Modell der Regionalplanung mit seinen starken regionalen Planungsverbänden - modifiziert - beibehalten hat 7 , bleibt weiterhin Anlass zum Vergleich mit anderen gramm vom 06. 12. 1991 (GBVI. S. 616); Landesplanungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern vom 31. 03. 1992 (GVB1. S. 242); sachsen-anhaltinisches Vörschaltgesetz zu einem Landesplanungsgesetz vom 02. 06. 1992 (GVB1. S. 390); Landesplanungsgesetz Sachsen vom 24. 06. 1992 (GVB1. S. 259). 3 F.-L. Knemeyer, D Ö V 2000, S. 496 ff. 4
Allgemein zur Verwaltungsmodernisierung H. Hill, D Ö V 2004, S. 721 ff. und F.-L. Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, 11. Aufl., München 2004, Rn. 173 ff. 5 Protokoll der Anhörung i m bayerischen Landtag zum Thema „Reform der Regionalen Planungsverbände" am 06. 05. 2004, S. 7. 6 7
Bayerisches Landesplanungsgesetz vom 27. 12. 2004 (GVB1. S. 521).
Der bayerische Gesetzgeber hat den Vertretern einer staatlich organisierten Regionalplanung unter bloßer Beteiligung der Kommunen eine klare Absage erteilt (Protokoll der Anhörung im bayerischen Landtag, S. 7). Ziel der Neufassung des BayLplG ist die Rückführung der landesrechtlichen Regelungen über die Landesplanung auf das bundesrechtlich notwendige Mindestmaß unter gleichzeitiger Vereinfachung der gesamten Regionalplanung. Es geht nicht mehr um eine völlige Abschaffung, sondern um eine zukunftsorientierte Anpassung und Reformierung der regionalen Planungsverbände. Zu den wichtigsten Reformen gehört die vollständige Abschaffung der regionalen Planungsbeiräte (vormals in Art. 8 Abs. 7 und 10 BayLplG 1997 geregelt), die Stärkung der Entscheidungskompetenzen der Planungsausschüsse der regionalen Planungsverbände bei gleichzeitig gestaffelter Verringerung der Obergrenze der Mitgliederzahl (jetzt in Art. 7 Abs. 4 und 5 BayLplG 2005) sowie die grundsätzliche gesetzgeberische Beschränkung des fachlichen Inhaltes von Regionalplänen auf regionsweit raumbedeutsame Festlegungen zu den Bereichen Siedlungswesen, Verkehr, Wirt-
Regionale Planungsverbände
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Modellen. Insbesondere ist dem Aspekt einer kommunaladäquaten Ausgestaltung der Regionalplanung wissenschaftlich nachzugehen. Dabei steht im Vordergrund die Frage nach der Trägerschaft dieser auf der Schnittstelle zwischen Staat und Kommunen angesiedelten öffentlichen Aufgabe. Im Anschluss an eine knappe Darlegung bundesrechtlicher Vorgaben für eine Unverzichtbarkeit der Regionalplanung im Teil Eins wird im zweiten Teil die kommunaladäquate und damit betroffenenadäquate Umsetzung der Landesplanung in Regionalpläne erörtert. Dabei werden - ausgehend von staatsnahen Modellen betroffenen-, selbstverwaltungsadäquate Konstruktionen ausführlicher behandelt.
I. Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Landesplanung vor dem Hintergrund bundesrechtlicher Vorgaben 1. Rechtliche und tatsächliche Vorgaben für eine Regionalplanung in Flächenländern Die Form kommunal-verbandlicher Regionalplanung ist vom Bundesgesetzgeber nicht zwingend vorgeschrieben, vielmehr verbleibt den einzelnen Ländern hinsichtlich der Organisationsträgerschaft ein Gestaltungsspielraum. Der Bund Abs. 1 Nr. 4 eigentlichen verbleibt im der.
hat bezüglich der Raumordnung nach dem Grundgesetz gemäß Art. 75 GG eine bloße Rahmengesetzgebungskompetenz. Die Kompetenz zur Ausfüllung dieses vom Bundesgesetzgebers abgesteckten Rahmens föderalistischen Staatsgebilde der Bundesrepublik auf Seiten der Län-
§ 9 des Raumordnungsgesetzes des Bundes berücksichtigt diese verfassungsrechtliche Schranke und verpflichtet in § 9 Abs. 1 S. 1 ROG die einzelnen Bundesländer zur Aufstellung von Regionalplänen, soweit „deren Gebiet die Verflechtungsbereiche mehrerer Zentraler Orte oberster Stufe umfasst". Hinsichtlich der konkreten Organisationsform für die Durchführung der Regionalplanung bietet § 9 Abs. 4 ROG des Bundes den einzelnen Flächenstaaten zwei Möglichkeiten; ansonsten sind die Länder bei der Ausgestaltung der Organisation ihrer Landesplaschaft, Sozialwesen, Kultur und Freiraumsicherung (jetzt geregelt in Art. 18 Abs. 2 BayLplG 2005). Daneben wird in Art. 25. Abs. 3 BayLplG 2005 den regionalen Planungsverbänden bei Konflikten zwischen einzelnen Verbandsmitgliedern eine Moderator- und Ausgleichsfunktion zugewiesen. Bei solchen Konflikten, welche die Regionalplanung betreffen, wirkt der Regionale Planungsverband auf eine einvernehmliche Lösung hin. A n der in Bayern traditionellen kommunal-verbandlichen Struktur der Regionalen Planungsverbände unter Beteiligung aller Gemeinden und Landkreise wurde festgehalten. Träger der Regionalplanung sind nach wie vor die regionalen Planungsverbände (Art. 5 Abs. 1 S. 1 BayLplG 2005), welche Zusammenschlüsse der Gemeinden und Landkreise einer Region sind. Mitglieder eines regionalen Planungsverbandes sind danach alle (!) Gemeinden, deren Gebiet in der fraglichen Region liegt, sowie die Landkreise, deren Gebiet ganz oder teilweise zur Region gehört (Art. 5 Abs. 3 S. 1 und 3 BayLplG 2005).
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nung frei. Weder im Grundgesetz selbst noch in den einzelnen Landesverfassungen findet sich ein ausdrückliches Recht auf Beibehaltung der gegenwärtigen Form der Regionalplanung in Gestalt regionaler Planungsverbände. Auch vom verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsverständnis der Kommunen wird nur die örtliche, ortsbezogene Planung erfasst. Die Regionalplanung ist durch ihre „Über-Örtlichkeit" als Bestandteil der staatlichen Landesplanung gekennzeichnet. Eine Region ist eben mehr als nur die Summe der ihr angehörenden Gemeinden und Kreise. Es ist vielmehr auch im Falle staatlicher Regionalplanung unter Beteiligung der kommunalen Ebene ausreichend, wenn den Kommunen die sich aus Art. 28 Abs. 2 GG ergebenden Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte eingeräumt werden, ohne dass sich aus dem kommunalen Selbstverwaltungsrecht des Art. 28 Abs. 2 GG und entsprechender Landesverfassungen für kommunal-verbandlich strukturierte regionale Planungsverbände etwa eine Art verfassungsrechtlichen Bestandsschutzes ergeben würde.
2. Bundesgesetzliche „Modellvorgaben" für die Trägerschaft einer Regionalplanung Die bundesgesetzliche Rahmenregelung in § 9 Abs. 4 ROG sieht grundsätzlich zwei verschiedene Modelle für die Organisation der Trägerschaft einer Regionalplanung vor: a) Kommunal-verbandlich organisierte Regionalplanung durch einen Zusammenschluss von Gemeinden und Gemeindeverbänden zu regionalen Planungsverbänden, § 9 Abs. 4 Alt. 1 ROG. Bei diesem Modell erfolgt die Beschlussfassung über die Regionalpläne durch Zusammenschlüsse von Gemeinden und Gemeindeverbänden zu regionalen Planungsgemeinschaften/Planungsverbänden. Unter solchen Zusammenschlüssen von Gemeinden und Gemeindeverbänden zu regionalen Planungsverbänden sind mitgliedschaftlich strukturierte (kommunalverbandliche) Organisationsformen zu verstehen, in denen die Gemeinden und Gemeindeverbände auf die Willensbildung entscheidenden Einfluss haben, deren Gebiet dem Planungsraum entspricht. b) Nicht kommunal-verbandlich, sondern i m Regelfall 8 staatlich organisierte Regionalplanung unter Beteiligung der Gemeinden und Gemeindeverbände (oder 8 Die Alternative zu kommunal-verbandlicher Regionalplanung ist nicht in jedem Falle die rein staatliche Regionalplanung (a.A. wohl H. Braese, Das Gegenstromverfahren in der Raumordnung - zum Abstimmungsverfahren bei Planungen - , Diss, iur., Würzburg 1982, S. 160 f.). Das wesentliche Element einer kommunal-verbandlichen Regionalplanung, nämlich die mitgliedschaftliche Struktur, ordnet folgerichtig auch solche Regionalplanungsorganisationen der nicht kommunal-verbandlichen Trägerschaft und damit dem Anwendungsbereich des § 9 Abs. 4 Alt. 2 ROG zu, die weder durch staatliche Behörden noch durch kommunale Verbände durchgeführt werden. Eine bestimmte Form der nicht kommunal-verbandlichen Regionalplanung ist im ROG nicht bestimmt. Dazu ausführlich S. Backhaus, Die Gemeinden in der Landesplanung, Diss, iur., Würzburg 2001, S. 59 f.
Regionale Planungsverbände
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deren Zusammenschlüsse) in einem förmlichen Beteiligungsverfahren, Abs. 4 Alt. 2 ROG.
§ 9
Allein aus dem § 9 Abs. 4 ROG folgt kein zwingender Vorrang des dort an erster Stelle genannten Modells der Organisation der Regionalplanung in kommunal-verbandlicher Form. Beide Möglichkeiten stehen gleichberechtigt nebeneinander; es ist in die freie Entscheidung jedes einzelnen Bundeslandes gestellt, ob es die Erarbeitung der Regionalpläne kommunalen Körperschaften überlassen w i l l oder nicht. Einwände gegen die Wahl einer mehr staatlichen Organisationsform gemäß dem § 9 Abs. 4 Alt. 2 ROG können zumindest solange nicht erhoben werden, wie dem durch Art. 28 Abs. 2 GG abgesicherten Beteiligungs- und Teilhaberecht der kommunalen Ebene ausreichend Rechnung getragen wird. A u f der anderen Seite ist dann aber im Falle einer kommunal-verbandlichen Organisationsform staatlichen Einflussmöglichkeiten - zumindest im Wege von Genehmigungs- oder Aufsichtsbefugnissen - gebührend Rechnung zu tragen. Ansonsten bliebe in einem solchen Fall unberücksichtigt, dass die Regionalplanung von der Natur der Sache her eine Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Kommunen ist.
3. Trägermodelle im Überblick 9
Staatliche Regionalplanung unter kommunaler Beteiligung § 9 Abs. 4 Alt. 2 ROG Staatlich-kommunale
Μischsy steme
Schleswig-Holstein Hessen und Nordrhein-Westfalen
Nicht-mitgliedschaftliches Sondermodell
Baden-Württemberg
Kommunal-verbandliche Regionalplanung
Bayern, Rheinland-Pfalz, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen
Regionalplanung durch Gebietskörperschaften selbst
Niedersachsen
9 Das Saarland hat als einziges Flächenland auf eine eigenständige Regelung wieder verzichtet. Die Neufassung des saarländischen Landesplanungsgesetzes kennt eine Regionalplanung im Sinne des § 9 ROG nicht (mehr). Aufgrund der verhältnismäßig geringen räumlichen Ausdehnung des Landesgebiets erscheint eine zusätzliche regionale Planungsebene nicht als zwingend geboten. In den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg ersetzt ein Flächennutzungsplan die Programme und Pläne der Landes- und Regionalplanung. Einer Landesplanungsgesetzgebung bedarf es hier wegen § 8 Abs. 1 S. 2 ROG nicht.
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II. Dezentralisation und kommunale Selbstverwaltung als Vorgaben für die Trägerschaft der Regionalplanung W i l l man die Schnittstelle zwischen staatlicher Landesplanung und kommunaler Bauleitplanung optimal gestalten, so müssen Effizienz sowie staatliche und kommunale Interessen in Einklang gebracht werden. Während Effizienzfragen faktisch bestimmt sind, machen Verfassungs- und Gesetzesrecht für die Ausgestaltung dieser Schnittstellen und namentlich für die Trägerschaft der Regionalplanung wesentliche Vorgaben für staatliche Interessen einerseits und kommunale Interessen andererseits.
1. Verfassungs- und gesetzesbestimmte Vorgaben Lässt auch der Bundesgesetzgeber selbst die Ausgestaltung der Umsetzungsebene zwischen staatlicher Landesplanung und kommunaler Bauleitplanung offen, so hat doch die Ausgestaltung der Regionalplanung an der Schnittstelle zwischen Staat und Kommunen der kommunalen Betroffenheit entsprechend die Prinzipien von Subsidiarität, Dezentralisation und kommunaler Selbstverwaltung zu beachten. 1 0 Je stärker die letztgenannten Prinzipien in der Staat-/Kommunalphilosophie eines Landes ausgestaltet sind, umso stärker sollten sie auch und gerade im Bereich der Regionalplanung und damit auch der Trägerschaft ausgestaltet sein. Die Trägerschaft selbst ist kennzeichnend für den Grad der Staats- oder Kommunalnähe. Da Regionalplanung nicht auf einzelne Städte oder Gemeinden übertragen werden kann, da diese selbst Träger der umsetzenden Bauleitplanung sind - auf Besonderheiten in Niedersachsen ist später einzugehen - bleibt für eine möglichst kommunaladäquate Gestaltung nur eine umfassende Kommunalisierung. Dies bedeutet eine Übertragung der originär-staatlichen Landesplanung auf regionaler Ebene in den Aufgabenbestand von Städten und Gemeinden. Nach dem dualistischen Aufgabenmodell 1 1 verbleibt die Übertragung in den übertragenen Wirkungskreis - beim monistischen Modell in den Bereich der Aufgaben zur Erfüllung nach Weisung. Da Regionalplanung aber übergemeindliche Planung ist und sein muss, können diese übertragenen kommunalen Aufgaben nur wahrgenommen werden in Formen kommunaler Zusammenarbeit. A u f diese Weise sind die kommunalen Interessen in der Region - wenn auch nicht einzeln so doch verbandlich ausgeglichen - zur Wirkung zu bringen 1 2 . •o F.-L. Knemeyer, DVB1. 1976, S. 380 ff. " Dazu F.-L. Knemeyer, D Ö V 1988, S. 397 ff. 12 Dass die Aufgabenübertragung einhergehen muss mit einer entsprechenden Finanzierung besagt schon dass mittlerweile allenthalben geltende Konnexitätsprinzip.
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Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises ist es darüber hinaus jedoch eigen, dass der Staat diese aus grundsätzlich staats/kommunalphilosophischen, aus verfassungsrechtlichen und /oder aus Zweckmäßigkeitsgründen zwar den Kommunen überträgt, sich jedoch eine die Gesamtverantwortung wahrende Aufsicht zurückbehält 1 3 . Dementsprechend ist auch eine kommunalisierte Landesplanung ohne staatliche Aufsicht - in welcher Intensität auch immer - nicht denkbar. Geht man von der Regionalplanung als originär staatlicher Aufgabe aus und ergibt sich aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Verpflichtung zur Kommunalisierung und sieht der Staat auch aus Effizienzgesichtspunkten keine Notwendigkeit der Übertragung auf die regionalen Trägerschaften, so bedarf es unter dem Gesichtspunkt der kommunalen Betroffenheit jedenfalls einer effektiven BetroffenenMitwirkung, die stärker ausgestaltet sein muss als lediglich eine Betroffenen-Anhörung. Regionalplanung betrifft wie kaum andere staatliche Vorgaben die eigene Entwicklung einer Kommune und wirkt damit unmittelbar auf den Selbstverwaltungsbereich ein. Derartige Einwirkungen sind nur im Rahmen von Gesetzen möglich, die die Position kommunaler Selbstverwaltung entsprechend berücksichtigen. Kommunale Selbstverwaltung und in ihr gewährleistet die kommunale Planungshoheit bedeutet möglichst umfassende Selbstbestimmung dessen, was die kommunale Entwicklung betrifft. Wenn dem aber so ist, so müssen staatliche Vorgaben möglichst umfassende Freiheit bei der Umsetzung notwendiger gesamtstaatlicher Vorgaben einhalten. Kommunaladäquanz bedeutet freilich nicht in jedem Fall auch die eigenständige, durch eigene Behörden wahrzunehmende technische Vorbereitung und Umsetzung. So zeigt z. B. die Konstruktion der Verwaltungsgemeinschaften in Bayern die gelungene Symbiose zwischen eigenverantwortlicher Entscheidung und von anderer Stelle wahrzunehmender verwaltungstechnischer Vorbereitung und Umsetzung 1 4 . Von ähnlichen Gedanken getragen ist das bayerische Regionalplanungssystem des Rückgriffs auf vorhandene staatliche Stellen - bei Vorbereitung und Umsetzung kommunal-verbandlicher eigenständiger Planung und Entscheidung (siehe Art. 5 Abs. 3 BayLplG).
2. Effizienzbestimmte Vorgaben Schon bisherige Regelungen kannten eine technische Vernetzung zwischen kommunalbestimmter Grundentscheidung und technischer Vorbereitung und Ausführung. In der Neufassung im Rahmen der Verwaltungsreformen wurde die Effizienz gesteigert. Gemäß dem neuen Art. 7 Abs. 3 Nr. 1 - 3 BayLplG 2005 ist die zahlenmäßig große, da aus allen Gemeinde- und Landkreisvertretern bestehende, Verbandsver13
Knemeyer (Anm. 4), Rn. 419 ff.
14
Knemeyer (Anm. 4), Rn. 450 ff.
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Sammlung eines regionalen Planungsverbandes zwar noch zuständig für die Wahl des Verbandsvorsitzenden und seiner Stellvertreter sowie die Beschlussfassung über die Verbandssatzung, daneben aber nur noch für die Gesamtfortschreibungen des Regionalplanes. Alle übrigen Aufgaben, wie beispielsweise die Einhaltung der Verfahrensschritte bei der Ausarbeitung des jeweiligen Regionalplanes sowie dessen bloße 7e//fortschreibungen obliegen von nun an allein den zuständigen Planungsausschüssen (Art. 7 Abs. 5 BayLplG 2005). Diese Neufassung dient der Stärkung der wesentlich kleineren (Art. 7 Abs. 4 BayLplG 2005) - und damit effektiveren und kostengünstiger arbeitenden - Planungsausschüsse, welche für alle wesentlichen Aufgaben (Art. 7 Abs. 5 Nr. 1 - 4 BayLplG 2005) verantwortlich sind. Neu auf den Planungsausschuss übertragen wurden insbesondere die Zuständigkeiten für alle Teilfortschreibungen des Regionalplanes (Nr. 2) und aller Haushaltsund Finanzangelegenheiten (Nr. 4). In anderen Bundesländern mit kommunalen Regionalen Planungsverbänden ist es zu einer derart weitgehenden Verlagerung von Aufgaben und Zuständigkeiten weg von der Verbandsversammlung hin zu den kleineren Planungsausschüssen bis dato noch nicht gekommen. Der bayerische Gesetzgeber erfüllt also hinsichtlich dieses Modells eine Vorreiterrolle. Den regionalen Planungsausschüssen gehören erheblich weniger Mitglieder als der oftmals schwerfälligen Verbandsversammlung an. Die Obergrenze der Mitgliederzahl eines Planungsausschusses wurde - gestaffelt nach der Mitgliederzahl des Verbandes - auf maximal 30 beschränkt (Art. 7 Abs. 4 B a y L p l G 1 5 ) . Wie schon zuvor wird bei der Zusammensetzung des Ausschusses das Entsendeprinzip berücksichtigt: Der regionale Planungsausschuss setzt sich aus Vertretern der kreisangehörigen und kreisfreien Gemeinden sowie der Landkreise entsprechend ihrem Stimmanteil in der Verbandsversammlung zusammen. Im Sinne einer noch strafferen Organisation der regionalen Planungsverbände wird auf den bislang fakultativen regionalen Planungsbeirat endgültig verzichtet; bei Bedarf ist aber nach wie vor die Zuziehung externen Sachverstandes - wenngleich nicht mehr in institutionalisierter Form - weiterhin möglich und sachgerecht. Die Abschaffung der Planungsbeiräte ist unter dem Gesichtspunkt einer Strukturreform der regionalen Planungsverbände sowie der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung konsequent. Bayern war ohnehin das letzte Bundesland, welches externen Sachverstand in Form von Beiräten noch kannte.
15 Die neue zahlenmäßige Abstufung tritt gemäß Art. 34 Abs. 1 BayLplG 2005 aber erst am 01. 05. 2008 in Kraft. Bis dahin verbleibt es bei der Anwendung des bisherigen Art. 8 Abs. 9 S. 1 BayLplG a.F., der für den Planungsausschuss mindestens 10, höchstens aber 30 Mitglieder vorschreibt.
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III. „Kommunalranking" Das Modell einer staatlichen Regionalplanung findet sich in reiner Form heute noch in Schleswig-Holstein, wo Regionalpläne von der staatlichen Landesplanungsbehörde erlassen werden 1 6 . Sowohl die technisch-verwaltungsmäßige Planerarbeitung als auch der eigentliche rechtssetzende Aufstellungsbeschluss ist ausschließlich Sache einer staatlichen Landesplanungsbehörde - also des zuständigen Ministeriums (§ 7 LP1G Schleswig-Holstein). Eine institutionelle kommunale Beteiligung an der Regionalplanung fehlt vollständig. Schleswig-Holstein kennt auf regionaler Ebene keine eigenständigen Institutionen in Form regionaler Planungsverbände. Die schleswig-holsteinischen Landkreise und kreisfreien Städte sind nur an der Aufstellung, Änderung und Anpassung von Regionalplänen entsprechend § 9 Abs. 4 Alt. 2 ROG in einem förmlichen Verfahren zu beteiligen. - Dem Ziel einer Regionalplanung als Instrument regionaler Selbststeuerung wird damit ebenso wenig Rechnung getragen wie der Charakterisierung der Regionalplanung als Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Kommunen. Als Vorteil einer staatlich organisierten Regionalplanung wird angeführt, dass es innerhalb der dann zuständigen Verwaltung zu einer besseren Koordination der sektoralen Fachplanung einerseits und der räumlichen - regionalen - Entwicklungsplanung andererseits käme. Der auf den ersten Blick für eine staatlich organisierte Regionalplanung sprechende Grund eines effizienteren und vor allem schnelleren Planungsverfahrens greift aber bei näherer Betrachtung in der heutigen Zeit nicht mehr. Selbst wenn das eigentliche Planaufstellungsverfahren vielleicht - was gar nicht sicher ist - schneller ablaufen würde, würde dieser Zeitgewinn aufgrund der dann aus rechtlichen Gründen - § 9 Abs. 4 Alt. 2 ROG - zwingend notwendigen Beteiligung der kommunalen Ebene wieder entfallen. Die Wahrnehmung der Aufgabe der Regionalplanung allein durch den Staat hat daher nur scheinbar Vorteile. Vor allem widerspricht sie der Dezentralisation und dem Grundgedanken kommunaler Selbstverwaltung. Ähnliches gilt für die in Hessen und auch Nordrhein-Westfalen entwickelten staatlich-kommunalen Mischsysteme, als dort für die Aufstellung der Regionalpläne Einrichtungen besonderer Art - Regionalversammlung, Regionalrat - zuständig sind, deren Mitglieder von den kreisfreien Städten, Landkreisen und ggf. zumindest in Hessen auch von größeren kreisangehörigen Gemeinden (§ 22 Abs. 1 HessLplG) entsandt werden. Erarbeitet werden die eigentlichen Pläne selbst aber auch hier von staatlichen Landesplanungsbehörden. 17 Im einzelnen gibt es aber auch hier Unterschiede: 16 §§ 6 ff. SchlHLplG. Landesplanungsbehörde ist grundsätzlich das Ministerium für ländliche Räume, Landeplanung, Landwirtschaft und Tourismus, § 8 Abs. 1 SchlHLplG (Ausnahmen in Abs. 2). Kreis und kreisfreie Städte sind an der Entwurfserstellung von Regionalplänen zu beteiligen und geben hierzu - für die Landesplanungsbehörde unverbindliche - Stellungnahmen ab.
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In Hessen erfolgt die Aufstellung durch die Regionalversammlung. Die obere Landesplanungsbehörde arbeitet - vergleichbar dem bayerischen Modell - als Geschäftsstelle der - insoweit weisungsbefugten - Regionalversammlung die Pläne aus, die sodann zur Beschlussfassung der Regionalversammlung vorgelegt werden. Über die Genehmigung entscheidet letztendlich die Landesregierung. Das hessische Modell ist damit einer kommunaladäquaten Lösung näher als die Variante in Nordrhein-Westfalen: Zuständige Behörde ist dort die Bezirksregierung als staatliche Instanz. In Nordrhein-Westfalen ist die Regionalplanung auf der Ebene der Regierungsbezirke angesiedelt. Sie erfolgt im Gegenstrom-Prinzip. A n ihr wirken die kommunal legitimierten Regionalräte und die staatlich verfassten Bezirksplanungsbehörden, die Bestandteil der Bezirksregierungen sind, mit. Über die Aufstellung des Regionalplanes, das „ o b " und „ w i e " entscheidet - vergleichbar wie in Hessen - ein Regionalrat („Bezirksplanungsrat"). Das eigentliche Ausarbeitungsverfahren der „Gebietsentwicklungspläne" obliegt dann der Bezirksplanungsbehörde als Unterabteilung der Bezirksregierung, die insoweit voll in die hierarchische Struktur der staatlichen Mittelinstanz eingebunden ist. Anders als in Bayern wird dort in Nordrhein-Westfalen nicht dem Regionalrat eine besondere staatliche Stelle zur bloßen Ausarbeitung der Planungsarbeit - unter ausschließlichem Weisungsrecht des kommunalen Verbandsträgers - zur Verfügung gestellt; die Bezirksplanungsbehörde ist vielmehr vollumfänglich der Möglichkeit staatlicher Einflussnahme unterworfen. Auch deshalb ist dies aus Sicht der für die spätere Umsetzung der Regionalplanung zuständigen Gemeinden alles andere als eine „kommunalfreundliche" Lösung. Niedersachsen nimmt in der Regionalplanung insoweit eine Sonderstellung ein, als dort Träger der Regionalplanung die Landkreise und kreisfreien Städte für ihr Gebiet selbst sind - nicht etwa ein Zusammenschluss aus ihnen. Sie nehmen die Aufgaben der Regionalplanung als Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises wahr. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Landkreise und kreisfreien Städte selbständig Träger der Regionalplanung sind, wird teilweise ein Verstoß gegen § 9 Abs. 4 ROG und somit die Rechtswidrigkeit der landesrechtlichen Vorschriften angenommen. 1 8 Es liege ein Verstoß gegen den vorrangigen § 9 Abs. 4 ROG vor, da dieser die kommunale Trägerschaft der Regionalplanung nur im Wege des Zusammenschlusses von Gemeinden und Gemeinde verbänden zu regionalen Planungsverbänden vorsieht. Im Übrigen aber erscheint die Regionalplanung durch einzelne Landkreise und kreisfreie Städte schon aufgrund ihrer Größe und ihres Verwaltungszuschnittes einer effizienten Regionalplanung wenig angemessen.
17 §§ 9 ff., 20 ff. HessLplG; §§ 2 ff. N R W L p l G . Hierzu Backhaus (Anm. 8), S. 60 und F.-L. Knemeyer, Der Bayerische Bürgermeister 1993, 255 (256). 18 H. Meier, Regionalplanung und kommunale Selbstverwaltung, Köln 1984, S. 202, 206. Kritisch auch W. Erbguth/J. Schoeneberg, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 2. Aufl., Köln u. a. 1992, Rn. 107 und I. Brentano, Verfassungs- und raumordnungsrechtliche Probleme der Regionalplanung, Münster 1978, S. 104 ff.
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Auch Baden-Württemberg 19 nimmt im Rahmen der Regionalplanung eine Sonderstellung ein, als dort Träger der Regionalplanung zwar so genannte Regionalverbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, diese sich allerdings nicht mitgliedschaftlich aus den Gemeinden und Landkreisen zusammensetzen. Mitglieder der dortigen Regional verbände sind - anders als z. B. in Bayern nicht die im Verbandsgebiet liegenden Landkreise und Gemeinden. Die Verbandsversammlung des Regionalverbandes besteht aus unabhängigen, nicht weisungsgebundenen Repräsentanten, die aus den wählbaren Einwohnern der jeweiligen Region von den Kreis-, Land- und Gemeinderäten und den Oberbürgermeistern der Stadtkreise direkt gewählt werden (§§ 34 ff. LP1G Baden-Württemberg). 20 Die in § 22 Abs. 1 BaWüLplG bestimmten Gemeinden und Landkreise, für welche das Gesetz selbst jeweils einen Regionalverband errichtet, sind nicht Verbandsmitglieder im Sinne des § 9 Abs. 4 Alt. 1 ROG. Ihre Benennung dient einzig und allein dem Zweck, den räumlichen Zuschnitt des jeweiligen Regional Verbandes zu beschreiben. 21 Gegen den baden-württembergischen Sonderweg spricht, dass die von der Umsetzung der Regionalplanung selbst betroffenen Kommunen „außen vor" bleiben. Die Direktwahl der Vertreter in den regionalen Planungsverbänden ist aus kommunaler Sicht keine vernünftige, anzustrebende Alternative. A u f den ersten Blick hat dieses Modell zwar den „Vorteil" einer unmittelbaren, direkten demokratischen Legitimation durch die Bürger der Region selbst. A u f der anderen Seite ist zu bedenken, dass dies zugleich zu einer Degradierung der für die spätere Planumsetzung zuständigen Gebietskörperschaften - Gemeinden und Landkreise - führt. Die Besetzung der Verbandsgremien der regionalen Planungsverbände mit direkt gewählten Vertretern bewirkt, dass sich Gemeinden und Landkreise nicht mehr im gleichen Maße für die Ziele der Regionalplanung verantwortlich fühlen, als wenn sie dies (durch dann regelmäßig weisungsgebundene Vertreter) zu verantworten hätten. Der Stellenwert unmittelbarer Demokratie mag noch so bedeutsam sein. Der Erfüllung einer Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Kommunen sollte auch die Organisation auf der Schnittstelle zwischen Staat und Kommunen Rechnung tragen. Nur wer an den Planungsentscheidungen mitwirkt und diese mitgestalten kann, der wird auch uneingeschränkt zu ihrer späteren Umsetzung auf örtlicher Ebene bereit sein. Dass im Rahmen des bayerischen Modells alle Kommunen direkt - und nicht nur mittelbar - beteiligt sind, ist eine wichtige Säule und ein großes Plus dieses Modells. Diejenigen, die von den Auswirkungen der Regionalplanung später im Rahmen ihrer eigenen kommunalen Bauleitplanung betroffen sind, haben die Grundlinie selbst zuvor mitbeschlossen. §§ 11 ff., 31 ff. BaWüLplG. Z u m „Entsendeprinzip" in Baden-Württemberg SV Köhler, Protokoll der Anhörung „Reform der Regionalen Planungsverbände", S. 15. 20 Knemeyer (Anm. 17) , 255 (257) und Backhaus (Anm. 8), S. 68 ff. 21 Erbguth/Schoeneberg
(Anm. 18), Rn. 105.
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Die mitgliedschaftliche Struktur der kommunalen Planungsverbände ist - vergleichbar den Zweckverbänden - auf dem Prinzip der mittelbaren Demokratie aufgebaut: Dem erforderlichen demokratischen Prinzip ist in Bayern und anderorts ausreichend dadurch Rechnung getragen, dass die in den Gremien der regionalen Planungsverbände sitzenden - und durch die Verbandsmitglieder direkt entsandten - Bürgermeister und Landräte, Kreistagsabgeordnete, Stadt- und Gemeinderäte von den Bürgern der Region demokratisch legitimiert sind, so dass für eine Direktvertretung bzw. Direktwahl kein demokratisches Bedürfnis besteht, eine solche Direktwahl vielmehr gegen die Grundprinzipien der kommunal-verbandlichen Trägerschaft sprechen würde. Die kommunalen Gebietskörperschaften sind die unmittelbaren Volksvertretungen - eine Änderung ihrer Beteiligung würde die Grundfesten der kommunalen Planungshoheit betreffen. 22 Die in Bayern, Rheinland-Pfalz und allen neuen Bundesländern 23 praktizierte Form der Regionalplanung mittels kommunal-verbandlicher Planungsverbände (an denen in Bayern alle - nicht nur kreisfreie - Gemeinden und die Landkreise beteiligt sind 2 4 ) hat anders als eine staatlich gelenkte oder gar verstaatlichte Regionalplanung den „Charme" größerer Bürgernähe und Akzeptanz in der Bevölkerung der Region. Die Bundesländer, in denen es eine staatliche Regionalplanung gibt, unterscheiden sich vom bayerischen kommunal-verbandlichen Modell dadurch, dass dort die Ziele, die im Regionalplan aufgestellt und verbindlich werden, vom Staat - wenn auch unter Beteiligung der Kommunen - erstellt werden. „Dass ist etwas anderes, als wenn die Kommunen als Planungsträger diesen Regionalplan selbst erstellen ein großer rechtlicher und systematischer Unterschied." 2 5 Die Ansiedlung der Regionalplanung im kommunalverbandlichen Bereich ist am bürgernächsten und verwaltungsfreundlichsten. Die bessere Kenntnis der jeweiligen örtlichen Verhältnisse spricht für eine kommunal-verbandliche Trägerschaft der Regionalplanung, ebenso das Prinzip der Subsidiarität. Anders als bei der staatlichen Planung droht hier keine steigende Abhängigkeit der kommunalen Planungsträger von einer staatlichen Einflussnahme; die kommunale Trägerschaft bedeutet eine Stärkung des kommunalen Elements in der Regionalplanung. Durch die Mitgliedschaft vieler kommunaler Mandatsträger in den Gremien der regionalen Planungsverbände wird sichergestellt, dass das in § 1 Abs. 3 des ROG des Bundes verankerte „Gegenstromprinzip" 2 6 und die Belange der örtlichen kom-
22
K. Goppel, Protokoll der Anhörung „Reform der Regionalen Planungsverbände", S. 11.
2
3 §§ 12 ff. RhPfLplG; §§ 1 ff. BbgRegBkPIG; § 12 M V L p l G ; §§ 9 ff., 19 SächsLplG; § 17 SachsAnhLplG; §§ 2 ff., 11 ff. ThürLplG. 24 Allein Rheinland-Pfalz (§ 14 Abs. 2 Nr. 1 RhPfLplG) und Thüringen (§ 2 Abs. 3 ThürLplG) kennen auch die Mitgliedschaft größerer kreisangehöriger Gemeinden. 2
5 K. Goppel (Anm. 22), S. 16.
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munalen Bauleitplanung - als Ausfluss des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechtes - von vornherein bei den Zielen und Grundsätzen der Regionalplanung berücksichtigt werden. Es findet somit eine ständige Abstimmung kommunaler Planungsinteressen mit den Vorgaben der Regionalplanung als Teilgebiet der Raumordnung statt. Dies spricht gleichzeitig für eine höhere Umsetzungs- und Realisierungswahrscheinlichkeit der vereinbarten Planvorgaben und Planziele. Für die Regionalplanung mittels einer kommunal-verbandlichen Organisationsform ist - in Bayern - geradezu wesentlich, dass dort alle Gemeinden und Landkreise bereits an der Planung und letztlich Entscheidungsfindung beteiligt sind. Würde man hier ein StellVertreterprinzip einführen, wonach nun nicht mehr jede Kommune beteiligt wäre, würde dies zu nachteiligen Effekten bei der Akzeptanz und Umsetzung der Regionalplanung führen. Die Vertretung aller Gemeinden und Landkreise in der - nunmehr nur noch die zentralen Aufgaben innehabenden Verbandsversammlung ist ein für Bayern unumstößliches Prinzip kommunal-verbandlicher Regionalplanung. Ergebnis: Kommunal-verfasste Regionalplanung festigt eine dezentrale Struktur und stärkt gleichzeitig die kommunale Selbstverwaltung. Sie dient gleichermaßen einer regionalen Selbststeuerung wie kommunal akzeptablen Planungsvorgaben „von oben". Regionalplanung und regionale Planungsverbände haben nicht deshalb Sinn, weil sie im Bundesgesetz (§ 9 ROG) vorgesehen sind, sondern weil sie gerade die Interessen und Bedürfnisse der Kommunen in einer Region abstimmen und vertreten. Die von Seiten der bayerischen Staatsregierung angestoßene Diskussion um eine „Abschaffung der Regionalplanungsverbände in ihrer bisherigen Form" hat diese im Ergebnis insgesamt gestärkt und an die Erfordernisse der heutigen Zeit ange27
passt.
26 Eingehend zum Gegenstromprinzip i m Rahmen der Regionalplanung auch H. Braese (Anm. 8), S. 159 ff. Demnach wird „Regionalplanung als Nahtstelle von örtlicher und überörtlicher Planung und als Umschaltstelle für das Gegenstromverfahren bezeichnet". 27
pel/R.
Eingehend zur Neuregelung der bayerischen regionalen Planungsverbände K. GopSchreiber, BayVBl. 2005, 353 (353).
Die Ausweitung der Öffentlichkeitsbeteiligung an umweltrelevanten Planungsvorhaben - Erkenntnishilfe für die Planungsbehörden oder ihre demokratische Kontrolle? Von Helmut Lecheler, Berlin
M i t der Verabschiedung der damals noch auf die Ausnahmebestimmung des Art. 235 E W G V (jetzt 308 EG) gestützten Richtlinie 8 5 / 3 3 7 / E W G des Rates am 27. 6. 19851 hat sich die Welt des Planungsrechts verändert. 2 Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Jubilar als anerkannter Planungsrechtler 3 auf einer Einführungstagung beim Umweltamt der Stadt Erlangen, an der ich als seinerzeitiger Fakultätskollege teilnahm, die sich mit der Richtlinie abzeichnenden Veränderungen erklärte. Sein Vortrag hat mich zum ersten Mal mit dem Umweltrecht in Berührung gebracht, das mich in der Folge bei meiner Beschäftigung mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht begleiten sollte. Der Umweltschutz ist zu einem der zentralen Ziele der Gemeinschaft geworden: Durch den Maastricht-Vertrag wurde er in Art. 3 lit. k E W G V ausdrücklich in die Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft aufgenommen (heute Art. 3 lit. 1); ein neuer Kompetenztitel „ U m w e l t " wurde in den Vertrag eingeführt (Art. 130 r ff. (heute Art. 175 ff.) EWGV). Art. 130 r I I hat dabei die Erfordernisse des Umweltschutzes zu einer Querschnittsmaterie gemacht, die bei der Festlegung und Durchführung anderer Gemeinschaftspolitiken einbezogen werden musste. Später wurde dieser Grundsatz aus dem speziellem Umweltkapitel herausgelöst und unter die allgemeinen Grundsätze des EGV aufgenommen (Art. 6 (ex Art. 3 c) EG). Die Bedeutung des Umweltschutzes ist im Gemeinschaftsrecht entsprechend gestiegen: Überlegungen des Umweltschutzes dienten dem EuGH 4 bei der Beurteilung der Subventionierung ausschließlich deutscher Windenergie durch das EEG 5 als eine Rechtfertigung für formal diskriminierende Eingriffe in 1 A B l . L 175/40. 2
Κ . Fassbender nennt diese Richtlinie zu Recht die „ w o h l prominenteste Umweltrichtlinie": N V w Z 2005, 1122 / 1123 1. Sp.). 3 Vgl. eine der jüngsten Arbeiten aus seiner Feder: R. Bartlsperger, Außenbereich, Berlin 2003.
Raumplanung zum
4 Urt. v. 13. 3. 01 C - 3 7 9 / 9 8 PreussenElektra, NJW 2001, 3695 ff.; EuZW 2001, 242 (m. Anm. Rüge); RdE 2001, 137 (m. Anm. Lecheler); vgl. dazu G. Kühne, JZ 2001, 759 ff.; J. F. Baur, in: G. Kühne/J. F. B a u r / M . B a r o n / U . Büdenbender, Das deutsche Berg- und Energierecht auf dem Wege nach Europa, Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität zu Köln, Bd. 101, 2002, 9 ff. 5 v. 29. 3. 2000 (BGBl. 1-305); insoweit ebenso das G zur Neuregelung des Rechts der Erneuerbaren Energien im Strombereich v. 21. 7. 2004 (BGBl. 1-1918).
23 FS Bartlsperger
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den freien Warenverkehr. Jüngst hat der EuGH in einem Verfassungsstreit zwischen Rat und Kommission die Kompetenzbestimmung des Art. 175 EG auf das Umweltstrafrecht hin erweitert. 6 Die Kommission bedient sich auch zunehmend einer schrittweise ausgebauten Beteiligung der Öffentlichkeit zur Durchsetzung des Umweltrechts. „Der Bürger wird zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gleichsam funktionalisiert." 7 Die Rückerinnerung an die gemeinsame Vortragsstunde Mitte der 80er Jahre in Erlangen gibt mir Anlass, den enormen Wandel exemplarisch darzustellen, den die mit der UVP-Richtlinie 8 5 / 3 3 7 / E W G angestoßene Öffentlichkeitsbeteiligung an Planungsakten inzwischen genommen hat.
I. Der Ausbau der Öffentlichkeitsbeteiligung im sekundären Umweltrecht 1. Die U V P - R L 8 5 / 3 3 7 / E W G sollte seinerzeit erstmals gewährleisten, dass die Genehmigung für öffentliche und private Projekte, bei denen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, erst nach vorheriger Beurteilung möglicher erheblicher Umweltauswirkungen dieser Projekte erteilt würde (Vorerwägung Abs. 3). Bei der Bestimmung der unter die Richtlinie fallenden Projekte ließ die Richtlinie den Mitgliedstaaten allerdings nicht unerhebliche Freiräume: Projekte, die durch einen förmlichen Gesetzgebungsakt „genehmigt" wurden, blieben von der Richtlinie ausgenommen (Art. 1 V), weil die erforderliche Transparenz und die Beteiligung der Öffentlichkeit im Parlamentsverfahren gewährleistet war; Art. 2 I I I gab (und gibt heute noch) den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, einzelne Projekte ganz oder teilweise von den Bestimmungen der Richtlinie auszunehmen; Art. 4 i.V.m. den Anhängen I und I I zählte die Vorhaben im Einzelnen auf, die unter die Richtlinie fallen, wobei es bei Vorhaben des Anhangs I I bei den Mitgliedstaaten liegt, zu bestimmen, für welche Arten von Vorhaben eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchzuführen ist, bzw. Kriterien und/oder Schwellenwerte aufzustellen, 8 anhand derer dann bestimmt werden konnte, welche dieser Projekte einer UVP-Prüfung unterliegen sollten. Die Öffentlichkeitsbeteiligung beschränkte sich nach Art. 6 I I damals noch darauf, dass der Öffentlichkeit jeder Genehmigungsantrag sowie die nach Art. 5 eingeholten Informationen des Projektträgers sowie der Behörden zugänglich gemacht werden mussten und ihr Gelegenheit gegeben wurde, sich vor der „Durchführung" des Projekts dazu zu äußern. Dabei lag es (nach Art. 6 III) noch bei den Mitgliedstaaten, den betroffenen Personenkreis zu bestimmen und die Art der Infi Urt. des EuGH (Große Kammer) v. 13. 9. 2005 C - 1 7 6 / 0 3 ( K o m m / R a t ) Tz. 47, 48 = EWS 2005, 454 ff. 7 F. Schoch, N V w Z 1999, 4 5 7 / 4 6 1 l.Sp. m. w. N. « Urt. des EuGH v. 21. 9. 1999, Kommission/Irland C - 3 9 2 / 9 6 Tz. 64 ff.
Öffentlichkeitsbeteiligung an umweltrelevanten Planungsvorhaben
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formation der Öffentlichkeit und ihrer Anhörung festzulegen sowie geeignete Fristen für die verschiedenen Phasen des Verfahrens festzusetzen. Auch im Bereich der Vogelschutz-RL 9 und der Flora-Fauna-Habitat ( F F H ) - R L 1 0 war die Öffentlichkeitsbeteiligung noch relativ schwach ausgebildet. Art. 6 I I I 2 FFH-RL verpflichtete die Mitgliedstaaten grundsätzlich dazu, eine Bestimmung zu schaffen, nach der die Behörden vor der Zulassung eines Vorhabens eine Befragung der vom Plan oder Projekt betroffenen Unionsbürger durchführen oder diesen Gelegenheit zu Äußerungen oder Stellungnahmen geben können. 1 1 Wie diese Öffentlichkeitsbeteiligung im Einzelnen im nationalen Recht verwirklicht wird, steht i m Ermessen der Mitgliedstaaten 1 2 . 2. Die inzwischen auf die Grundlage des Art. 130 s I E W G V gestützte Änderungs-Richlinie 9 7 / 1 1 / E G vom 3. 3. 1997 1 3 weitete den Kreis der unter den Anhang I fallenden und damit in jedem Fall einer UVP-Prüfung zu unterziehenden Vorhabens aus und gab den Mitgliedstaaten bei den Vorhaben nach Anhang I I Kriterien für ihre Prüfung vor, ob ein Vorhaben einer UVP unterzogen werden müsse. 1 4 Die Beteiligung der Öffentlichkeit selbst hat sich strukturell nicht geändert. Es bleibt bei einer Verpflichtung zur Unterrichtung und zur Anhörung. Präzisiert und ausgeweitet werden freilich die vom Vorhabenträger vorzulegenden Angaben (Art. 5 I und I I I in der geänderten Fassung) und die Einbeziehung sachdienlicher Angaben der Behörden (Artt. 5 I V und 6 I nF). Erstmals taucht der Begriff der „betroffenen" Öffentlichkeit auf, die in Art. 6 I I nF und 7 I I I Äußerungsrechte erhält. Die stattgebende oder versagende Entscheidung wird der „Öffentlichkeit" zugänglich gemacht (Art. 9 I nF). 3. Zur Umsetzung verschiedener internationaler Übereinkünfte, die in den Erwägungsgründen 3 und 7 der Richtlinie genannt werden, haben EP und Rat die Richtlinie 2 0 0 1 / 4 2 / E G vom 27. 6. 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme erlassen. 15 Den Geltungsbereich umschreibt Art. 3 II. Demnach wird eine U V P bei allen Plänen und Programmen vorgenommen, die in den Bereichen Landwirtschaft, 9 R L 7 9 / 4 0 9 / E W G des Rates vom 2. 4. 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten A B l . L 1 0 3 / 1 i.d.F. v. 23. 9. 2003 A B l . L 236/33. •ο Nr. 9 2 / 4 3 / E W G des Rates v. 21. 5. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen A B l . L 2 0 6 / 7 i.d.F. der V O Nr. 1 8 / 1 8 8 2 / 2 0 0 3 des EP und des Rates v. 29. 9. 2003 A B l . L 284 / 1 . 11 Vgl. M. Gellermann, NuR 2005, 4 3 3 / 4 3 7 zur neuesten Rspr. des EuGH. 12
Näher dazu Th. Berner, Der Habitatschutz i m europäischen und deutschen Recht, Baden-Baden 2000, S. 117 f. 13 A B l . L 7 3 / 5 . 14 Art. 15 I der I V U - R L 9 6 / 6 1 / EG des Rates hat für die Spalte 2 - Vorhaben der vierten BImSchVO Bedeutung (vgl. M. Schmidt-Preuß, N V w Z 2000, 2 5 2 / 2 5 9 f.) 15 A B l . EG 2001, L 197/30. 23 :
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Forstwirtschaft, Fischerei, Energie, Industrie, Verkehr, Abfallwirtschaft, Wasserwirtschaft, Telekommunikation, Fremdenverkehr, Raumordnung oder Bodennutzung ausgearbeitet werden und durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung der in den Anhängen I und I I der UVP-Richtlinie 8 5 / 3 3 7 / E W G aufgeführten Projekte gezogen wird. Ziel der Richtlinie ist es demnach, die UVP in den genannten wesentlichen Wirtschaftszweigen auf die den Genehmigungsverfahren vorgelagerten Planungsakte zu erstrecken. Die UVP nach der UVP-Richtlinie bleibt nach Art. 11 der R L 2001/42 ausdrücklich unberührt. Unterfällt eine Planung dem Anwendungsbereich der Richtlinie, so ist nach Art. 5 ein Umweltbericht zu erstellen. Der Planentwurf und der Umweltbericht werden nach Art. 6 neben den in der R L genannten Behörden auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die nach Abs. 2 des Art. 6 „innerhalb ausreichend bemessener Fristen" „frühzeitig und effektiv" Gelegenheit erhält, Stellung zu nehmen. Dabei bleibt es nur noch zum Teil in der Hand der Mitgliedstaaten zu bestimmen, was unter „Öffentlichkeit" i.S. des Abs. 2 zu verstehen ist (Art. 6 IV), denn betroffene oder voraussichtlich betroffene Teile der Öffentlichkeit sowie „relevante Nichtregierungsorganisationen, z. B. Organisationen zur Förderung des Umweltschutzes und andere betroffene Organisationen" sind dabei einzubeziehen. 4. Das Jahr 2003 brachte einschneidende Veränderungen: a) M i t der Richtlinie 2 0 0 3 / 4 EG des EP und des Rates vom 28. 1. 2 0 0 3 1 6 erhält die Öffentlichkeit in Art. 4 I einen Anspruch auf Zugang zu den bei den Behörden „vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen" Umweltinformationen, die in Art. 2 näher definiert werden und nach Art. 8 auf aktuellem Stand zu halten sind. Ausnahmen bestehen hinsichtlich der Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse (Art. 4 I lit. d) und für personenbezogene Daten (Art. 4 I lit. f)· Art. 6 vermittelt den Antragsstellern einen Zugangsanspruch zu Gerichten, wenn ihre Meinung ist, ein Antrag sei zu Unrecht abgelehnt worden. b) Die tiefgreifendsten Änderungen bringt die RL 2 0 0 3 / 3 5 / E G des EP und des Rates 17 . Vor allem diese Richtlinie dient der Umsetzung des Aarhus-Übereinkommens 1 8 . Ziel der R L ist es (gem. Art. 1 lit a), eine Beteiligung der Öffentlichkeit an 16
A B l . EU L 41 / 2 6 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der R L 9 0 / 313 / E W G des Rates. Umgesetzt durch Art. 1 des Gesetzes zur Neugestaltung des Umweltinformationsgesetzes und zur Änderung der Rechtsgrundlagen zur Emissionshandel v. 22. 12. 2004 (BGBl. 1-3704); zum neuen Umweltinformationsgesetz vgl. A. Nückel/ A. Wasielewski, DVB1. 2005, 1351 ff. 17 v. 25. 6. 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 8 5 / 3 3 7 / E W G und 9 6 / 6 1 / EG in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten, A B l . E U L 156/17. 18
Abgeschlossen im Rahmen der Umweltkonferenz des UN-Wirtschafts und Sozialrates Wirtschaftskommission für Deutschland; in kraft seit 30. 10. 2001; Vertragspartner neben der EU auch alle ihre Mitgliedstaaten; Text: Beil. I I I zu Heft 3 der N V w Z 2001; ArchVR 38(2000), 252 ff.
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„bestimmten umweltbezogenen Plänen und Programmen" über den Anwendungsbereich der R L 2001 / 4 2 / E G hinaus auszuweiten (Art. 2 V). Nach Art. 1 lit. b soll diese Regelung daneben (und im hier betrachteten Zusammenhang vor allem) die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu den Gerichten im Rahmen der UVP-Richtlinie zu verbessern. Zu diesem Zweck ändert Art. 3 dieser R L 2003 / 35 / EG die UVP-RL 85 / 337 / EWG erneut und schwerwiegend: Sie fügt der UVP-RL die Definitionen von „Öffentlichkeit" 1 9 sowie „betroffener Öffentlichkeit" 2 0 ein. Der Umfang der der Öffentlichkeit zugänglich zu machenden Informationen wird erneut präzisiert; der Zeitrahmen für die Informationen der betroffenen Öffentlichkeit wird gestrafft (Art. 6 I I - V I nF). Neu eingefügt wird der Richtlinie ein Art. 10a, nach dem die Mitgliedstaaten „ i m Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften" sicherstellen, dass „ M i t glieder der betroffenen Öffentlichkeit, die a) ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ b) eine Rechtverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsverfahrensrecht bzw. Verwaltungsprozessrecht eines Mitgliedstaates diese als Voraussetzung erfordert, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht" . . . „haben, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Öffentlichkeitsbeteiligung gelten." Was als ausreichendes Interesse und als Rechtsverletzung gilt, bestimmen die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Ziel, den Betroffenen nach Möglichkeit einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren. Zu diesem Zweck gilt das Interesse jeder Nichtregierungsorganisation, welche die in Art. 1 I I genannten Voraussetzungen erfüllt, als ausreichend i.S. von Abs. 1 a dieses Artikels. Derartige Organisationen gelten auch als Träger von Rechten, die i.S. von Abs. 1 b dieses Artikels verletzt werden können." 5. Bei der Schlussentscheidung im Rat hängend ist noch immer der auch auf Art. 175 I EG gestützte Vorschlag für eine Richtlinie des EP und des Rates über den Zugang zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten 21 . Dieser Vorschlag nimmt die Chance zu einer Bereinigung der inzwischen sehr kompliziert geworde19 „Eine oder mehrere natürliche oder juristische Personen und, in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder der innerstaatlichen Praxis, deren Vereinigungen, Organisationen oder Gruppen." 20
„Die vom umweltbezogenen Entscheidungsverfahren gem. Art. 2 I I betroffene oder wahrscheinlich betroffene Öffentlichkeit oder die Öffentlichkeit mit einem Interesse daran; im Sinne dieser Begriffsbestimmung haben Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Umweltschutz einsetzen und alle nach innerstaatlichem Recht geltenden Voraussetzungen erfüllen, ein Interesse." 2
' v. 24. 10. 2003 KOM(2003) 624 endg.
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nen Öffentlichkeitsbeteiligung und ihrer Klagerechte nicht wahr; er dient zusätzlich zu den soeben angesprochenen Richtlinien 2 0 0 3 / 4 / E G und 2 0 0 3 / 3 5 / E G dazu, die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Durchsetzung des Umweltrechts zu verstärken 22 . Pkt. 6 der Begründung (zu Art. 1, Abs. 3) lässt ausdrücklich andere Gemeinschaftsvorschriften über den Zugang zu Gerichten unberührt. 23 Nach Art. 4 des Vorschlags sollen Mitglieder der Öffentlichkeit unter den gleichen Voraussetzungen wie oben unter 4. Zugang zu Verfahren in Umweltangelegenheiten erhalten, „ u m die Verfahrens- oder materiellrechtliche Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten oder der Unterlassung von Verwaltungsakten, die gegen eine Umweltvorschrift verstoßen, anzufechten . . . " . Art. 9 verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einführung eines Verfahrens für die zügige Anerkennung „qualifizierter Einrichtungen," 2 4 die die in Art. 8 aufgestellten Kriterien erfüllen (unabhängige Rechtspersonen ohne Erwerbscharakter, die den Schutz der Umwelt zum Ziel haben; ein zur Erreichung dieses Ziels geeigneter organisatorischer Aufbau; Tätigkeit über einen näher festzulegenden Zeitraum, der nicht mehr als drei Jahre umfassen darf; Prüfung der Jahresabschlüsse durch Buchprüfer). Diese „qualifizierten Einrichtungen" müssen Zugang zu einem auch einen vorläufigen Rechtsschutz umfassenden Verfahren in Umweltangelegenheiten erhalten, ohne ein ausreichendes Interesse oder eine Rechtsverletzung nachweisen zu müssen, wenn der zu überprüfende Sachverhalt in den satzungsgemäßen Tätigkeitsbereich und die Überprüfung in das geographische Tätigkeitsgebiet speziell dieser Einrichtung fällt. Dieses Klagerecht für anerkannte nichtstaatliche Organisationen wird in Pkt. 5.1 der Begründung der Richtlinie als eine entscheidende Bestimmung angesehen. 25 Was die Klagebefugnis von Individuen angeht, so erscheint mir die Klarstellung wesentlich, die in der Begründung zu Art. 4 gegeben wird: „Die Mitglieder der Öffentlichkeit" . . . müssen „ein ausreichendes Interesse an dem Verwaltungsakt oder der Unterlassung des Verwaltungsakts nachweisen oder eine Rechtsverletzung geltend machen, wenn das Verwaltungsprozessrecht eines Mitgliedstaats dies als Vorbedingung verlangt. Durch Einführung dieses Kriteriums hat sich die Kommis22 In dieser Richtung vgl. auch den Beschl. 1 6 0 0 / 2 0 0 2 / E G des EP und des Rates v. 22. 7. 2002 über das sechste Umweltaktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft A B l . 2002, L 2 4 2 / 1 . 23 „Solche Bestimmungen sind derzeit in der Richtlinie 2 0 0 3 / 4 / E G über den Zugang zu Umweltinformationen und der Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G über die Beteiligung der Öffentlichkeit vorgesehen." 24 Definition in Art. 2 Nr. 1 c: „Qualifizierte Einrichtung" bedeutet „jede Vereinigung, Organisation oder Gruppe, deren Ziel der Umweltschutz ist und die nach dem Verfahren des Art. 9 anerkannt worden ist." 25 In den Kompromissverhandlungen mit den Mitgliedstaaten wurde die besondere Klagebefugnis für Gruppen ohne Rechtspersönlichkeit und für lokale und regionale Behörden aus dem Text gestrichen (vgl. 5.1. der Begründung).
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sion gegen eine allgemeine Klagebefugnis für jede natürliche Person entschieden, da die allgemeinen Voraussetzungen einer Popularklage mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht zu vereinbaren ist, wenn man auch bedenkt, dass das Übereinkommen von Aarhus die Möglichkeit vorsieht, dass im innerstaatlichen Recht Kriterien festgelegt werden." 2 6
II. Was sind die nationalen Konsequenzen aus diesen Vorgaben? 1. Umweltrechtliche Vereins- bzw. Verbandsklagen sind dem geltenden Recht nicht fremd. 2 7 Das BNatSchG regelt sie für die nach § 59 dieses Gesetzes oder nach entsprechenden landesrechtlichen Regelungen anerkannten Vereine. 28 Stets war freilich die Klagebefugnis der Verbände bzw. Vereine daran gebunden, dass sie die unmittelbare Verletzung in eigenen Rechten geltend machen konnten. 2 9 M i t der Neufassung des BNatSchG i m Jahre 2002 haben Umweltverbände unabhängig von der Betroffenheit in eigenen Rechten in § 61 BNatSchG die Möglichkeit erhalten, die Verletzung von objektiv-rechtlichen Pflichten des Naturschutzrechts geltend zu machen. Der Entwurf eines Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes 30 sieht sich darüber hinaus durch die Vorgaben der Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G dazu verpflichtet, ein Vereinsklagerecht ohne die Voraussetzung der Geltendmachung einer eigenen Rechtsverletzung einzuführen. Das Gesetz soll Anwendung finden für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen über die Zulässigkeit von Vorhaben, für die nach dem UVPG bzw. nach landesrechtlichen Vorschriften eine Pflicht zur Durchführung einer U V P besteht sowie für Rechtsbehelfe gegen Genehmigungen für Anlagen, die nach der Spalte 1 (förmliches Verfahren) des Anhangs zur 4. BImSchVO einer Genehmigung bedürfen. Klageberechtigt sollen nach § 2 I I alle Vereine werden, die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, deren Vorliegen nach Satz 2 vermutet wird, wenn der Verein innerhalb der letzten 3 Jahre einen nach Auffassung der entscheidenden Behörde oder des entscheidenden Gerichts zulässigen Rechtsbehelf in einem Verfahren nach § 1 I eingelegt hat. 26 Das wird zutreffend gesehen von F. Eckart/K.
Pöhlmann, N V w Z 2005, 5 3 2 / 5 3 3 l.Sp.
27 Vgl. v. a. § 61 BNatSchG; § 13 BGG, § 2 EBO (dazu V G H Bad-Württ, Urt. v. 21.4. 2005, D Ö V 2005,968. 28 Vgl. dazu B. Stüer, NuR 2002, 711 m. w. N.; aus der Rechtsprechung vgl. V G H München N V w Z - R R 2004, 342; 2005, 705 f. (letzteres Urteil verdeutlicht die Rechtssituation im Naturschutzrecht deutlich). 29 Zur Rolle der Naturschutzverbände i m bisherigen Recht: E. Hien, 1341/1342 f.
DVB1. 2005,
3° Entw. des B M U eines Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der E G - R L 2 0 0 3 / 3 5 / E G v. 21. 2. 2005 Kabinett-Nr. 15 16 100 01; der Entwurf ist seither unverändert.
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Der Rechtsbehelf eines derartigen Vereins soll zulässig sein, wenn er geltend macht, dass eine Entscheidung nach § 1 I 1 oder deren Unterlassen Rechtsvorschriften, die dem Umweltschutz dienen, widerspricht (§ 2 I I I Nr. 1), er in seinem satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes berührt ist (Nr. 2) und (Nr. 3) zur Mitwirkung in einem Verfahren nach § 1 1 berechtigt war und sich entsprechend geäußert hat. Ansonsten ist er (nach § 2 IV) mit seinen Einwendungen ausgeschlossen. Ob aus der Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G eine derartige Verpflichtung folgt, ist umstritten. 31 Der Wortlaut der Richtlinie zwingt jedenfalls nicht zu dieser Konsequenz. Bezieht man den unter 1.5 dargestellten Richtlinienvorschlag mit in die Betrachtung ein, der nicht zufällig seit geraumer Zeit beim Rat hängt, so spricht das m.E. dafür, dass erst mit der Einführung der dort vorgesehenen weiten Klagebefugnis für Umweltverbände die Mitgliedstaaten zu einer entsprechenden Umsetzung verpflichtet sind. Dem nationalen Gesetzgeber steht es natürlich frei, das auch vorher zu tun. Nur sollte er sich dann nicht auf verpflichtende Vorgaben der EU berufen. 2. Der Streit um die Auslegung der Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G hat auch eine weitere Dimension: Das Bundesverwaltungsgericht hat bisher daran festgehalten, eine Anfechtung von Planungsakten wegen eines Verfahrensverstoßes nur dann zuzulassen, wenn der Kläger gleichzeitig auch materielle Rügen hinreichend substantiiert erheben kann. 3 2 Eine isolierte Anfechtung von Verfahrensfehlern hat es bisher nicht zugelassen. Das soll bei europarechtlich vorgegebenen Verfahrenspflichten künftig anders sein. In diesen Fällen hätten Individualkläger wie auch Vereine oder Verbände das Recht, Verfahrensfehler isoliert zu rügen und ggf. einzuklagen. 33 Befürworter dieser Auffassung 34 berufen sich zum Teil auf die (im Grundsatz unstreitige) Verpflichtung aller Organe der Mitgliedstaaten (also auch der staatlichen Gerichte) zu einer richtlinienkonformen Auslegung des gesamten nationalen Rechts, z. T. auch auf eine unmittelbare Anwendung des Art. 10 a, der der UVP-RL durch die R L 2 0 0 3 / 3 5 / E G eingefügt wurde. § 10 a verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, Mitgliedern der betroffenen Öffentlichkeit Zugang zu Gerichten zu gewähren, damit sie „die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen oder Unterlassungen" überprüfen lassen können. Aus dieser gleichberechtigten Nebeneinanderstellung materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Fehler folge, dass letztere auch isoliert angefochten werden können. Zwingend ist das nach dem Wortlaut nicht. Systematisch erschiene es unlogisch, bei der Notwendigkeit individueller Beeinträchtigung den Mitgliedstaaten die Freiheit zu belassen, nach ihren verwaltungsgerichtlichen Systemen zu verfahren, sie 31 Vgl. die Nachw. bei M. Schmidt -Ρ re ιιβ, N V w Z 2005. 4 8 9 / 4 9 5 l.Sp. 32 Vgl. zul. BVerwG N V w Z 2005, 442 m.w.Nachw. 33 O V G Koblenz, B. v. 25. 1. 2005 N V w Z 2005, 1208 (m. Anm. Lecheler, a. a. O., S. 1156 f.). 34 Vgl. v.a. J. Ziekow, N V w Z 2005, 263(265 r. Sp.); G. Sydow, JuS 2005, 9 7 / 1 0 0 f.; G. Kahl, Verw A Bd. 95(2004), 1 / 22 ff.
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aber beim Umfang der zulässigen Rügen zu binden. Das würde auch bedeuten, dass europarechtlich vorgegebenen nationalen Verfahrensregelungen schlechthin Drittschutz zuerkannt wird. Für einen derart radikalen Wandel der Dogmatik des Umweltrechts 3 5 bedürfte es stärkerer Gründe als etwa den, umweltrechtliche Verfahrensvorschriften der E U mit dem erforderlichen effet-utile auszustatten. Denn ob die Zulässigkeit einer isolierten Anfechtung von Verfahrensfehlern ohne materielle Beeinträchtigung wirklich im Sinne eines effet-utile liegt, das möchte ich nachdrücklich bezweifeln. So wichtig Verfahrensvorschriften auch sein mögen ihre Abtrennung von der substantiierten Rüge einer materiellen Rechtsverletzung führt sie nahe heran an einen Formalismus, der mit Effizienzüberlegungen nicht zu vereinbaren ist. 3. Damit spitzt sich die Frage dahin zu, ob auch künftig nationale Unbeachtlichkeitsvorschriften wie §§ 75 I a und 46 V w V f G 3 6 und § 214 BauGB bei der Verletzung von gemeinschaftsrechtlich induzierten Form- und Verfahrensfehlern weiter angewendet werden dürfen 3 7 . Die diesen Vorschriften zugrunde liegenden Effizienzgedanken werden nicht dadurch unzulässig, dass es um den Vollzug von Gemeinschaftsrecht geht. Im System des indirekten Vollzugs des Gemeinschaftsrechts sind dafür die Mitgliedstaaten zuständig. Ihnen kommt bei der Ausgestaltung ihres Verfahrensrechts grundsätzlich eine volle Autonomie zu, solange dieses autonom geformte nationale Recht die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts „nicht wesentlich erschwert oder gar unmöglich macht" - so die Standardformel des EuGH.38 Schließlich kennt das Rechtsschutzsystem des Gemeinschaftsrechts selbst nicht den Klagegrund der Verletzung von Form- und Verfahrensfehlern, sondern denjenigen der Verletzung wesentlicher Form- oder Verfahrensvorschriften (Art. 230 I I EG), so dass auch „nur solche Fehler, die im konkreten Fall Auswirkungen auf die das Verfahren abschließende Entscheidung haben konnten, als Verstoß gegen eine „wesentliche Formvorschrift" (Art. 230 II EG 2. Alt.) einzuordnen sind." 3 9 Der deutsche Gesetzgeber ist offenbar zwiespältig: Während der aus dem B M U stammende Entwurf eines Umweltrechtbehelfsgesetzes 40 § 45 und 46 V w V f G ausVgl. zur bisherigen Rspr. Urt. des BVerwG v. 18. 11. 2 0 0 4 - 4 CN 11.03; Beschl. v. 19. 5. 2005 4 V R 2000.05. 36 Vgl. dazu etwa H. Sodati, DVB1. 1999, 729 ff. 37 Zum Streitstand vgl. die Nachw. bei G. Sydow (Anm. 33), 101. 38
Vgl. dazu etwa die beiden berühmten Alcan-Entscheidungen des EuGH Slg. 1989, 175 (Alcan I) und Slg. 1997, 1-1591 (Alcan II). 39 Vgl. m.w.Nachw. J. Gundel, Verwaltung, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Handbuch der europäischen Rcchtspraxis, 2006, Tz. 178. Dieser Zusammenhang scheint bei der Beurteilung der hier zu beantwortenden Fragen nicht im nötigen Umfang bewusst zu sein. Selbst wenn die Maßstäbe der Gerichtshofs strenger sein sollten als die nationalen Gerichte, so rechtfertigt dies „nicht schon den Schluss, dass die Lösungen des eigenen Verwaltungsrechts (der Gemeinschaft) in jedem Detail übernommen werden müssten" J. Gundel, a. a. O.; R. Wahl, in: Hill/Pitschas (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, Berlin 2004.
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schließt, sollen im Entwurf des B M W i eines Beschleunigungsgesetzes für die Planung von Infrastrukturvorhaben 41 die § § 4 5 und 46 V w V f G unberührt bleiben 4 2 Bei der Verabschiedung der Entwürfe muss sich das deutsche Parlament darüber klar werden, welche Linie es hier verfolgen will. Aufgabe der Wissenschaft ist es, diese Entscheidungsprozesse beratend zu begleiten. Vor allem das Fachplanungsrecht steht unter großem Reformdruck. Zwischen den divergierenden Zielen der Effizienz einer Planung, der Beteiligung der Öffentlichkeit und dem Rechtsschutz der Betroffenen ist ein schwieriger Ausgleich zu finden. A n Arbeit wird es künftig also nicht fehlen. Dem Jubilar wünsche ich die erforderliche Gesundheit, damit er sich an der Erfüllung dieser Aufgabe in bewährter Weise auch weiterhin beteiligen kann.
40 Vgl. Hien (Anm. 29). 41 v.4. 11. 2005 BTDs. 16/54. 42
So z. B. in der vorgesehenen Neufassung des § 18 e A E G (S. 7 des Entwurfs) sowie bei allen weiteren Novellierungen der Fachplanungsgesetze.
Die Reform des Bayerischen Landesplanungsgesetzes Von Gerrit Manssen, Regensburg
I. Gut Ding will Weile haben? „Gut Ding w i l l Weile haben" sagt der Volksmund oder auch: „Was lange währt wird endlich gut". Der Bayerische Landesgesetzgeber hat sich für die Reform des Bayerischen Landesplanungsgesetzes Zeit gelassen. Das Bau- und Raumordnungsgesetz des Bundes (BauROG), das zum Ol. Januar 1998 in Kraft getreten ist, verlangte eine Anpassung auch des bayerischen Landesrechts bis zum 31. 12. 2002. Erst zum Ende des Jahres 2004 gelang es jedoch dem Bayerischen Gesetzgeber, ein allerdings komplett neu gefasstes Bayerisches Landesplanungsgesetz (BayLplG) zu erlassen. 1 Statt 5 Jahren hat der Bayerische Gesetzgeber also fast 8 Jahre gebraucht, um auf das neue Bundesrecht zu reagieren. Gründe für diese Verzögerung dürfte es mehrere gegeben haben. Möglicherweise war im Vorfeld der Landtagswahl Ende des Jahres 2003 eine Diskussion über das Bayerische Landesplanungsrecht und damit zusammenhängend den Landesentwicklungsplan politisch nicht gewünscht. A u f demokratische Wiederwahl angewiesene Regierungen tun sich erfahrungsgemäß leichter, Reformwerke nach der Wahl anzugehen. Möglicherweise ist die Nichteinhaltung der Umsetzungsfrist aber auch Ausdruck einer gewissen Rechts- und Gesetzesentrückung der Bayerischen Landesplanung. Es scheint nicht so bedeutsam zu sein, zwingende Vorgaben des Bundesrechts einzuhalten. Man macht weiter so, wie man bisher verfahren ist und wiegt sich in dem Glauben, damit keinen größeren Schaden anzurichten. Möglicherweise ist man auch der Überzeugung, vieles besser zu wissen als die maßgeblichen Akteure auf Bundesebene. Oder man wartet - nach der Bildung der großen Koalition in Berlin vielleicht wieder zu Recht - auf die Abschaffung der bisherigen bundesrechtlichen Rahmenkompetenz nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 GG und damit auf „freie Fahrt" für ein bayerisches Raumordnungsrecht. 2 Es besteht deshalb Anlass, einen kritischen Blick auf das neue Bayerische Landesplanungsgesetz zu werfen. 3 Hat sich das lange Warten der Rechtsanwender auf 1 Gesetz vom 27. Dezember 2004, GVB1 S. 521. 2
Nach dem Ergebnis der Koalitionsgruppe zur Föderalismusreform vom 07. November 2005 soll die „Raumordnung" Gegenstand der „Abweichungsgesetzgebung" werden.
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eine auf das Bundesrecht angepasste Rechtsgrundlage für die Bayerische Regionalplanung gelohnt? Gibt es bayerische Sonderwege, möglicherweise auch solche, die mit dem Bundesrecht nicht vereinbar sind? Und wie haben die wissenschaftlichen Hinweise, vor allem durch die Beiträge von Richard Bartlsperger im Hinblick auf die rechtlichen Vorgaben für das Reformwerk 4 Beachtung gefunden?
I I . Ausgewählte Einzelfragen 1. Strukturreformen der Regionalen Planungsverbände a) Die Idee der Abschaffung „Die Regionalen Planungsverbände werden in ihrer bisherigen Struktur abgeschafft". Der Reformeifer des Bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber, der besonders in der Regierungserklärung vom 06. November 2003 zum Ausdruck kam, machte auch vor einer zentralen Institution des Bayerischen Landesplanungsrechts nicht halt. Die ebenfalls umzustrukturierende Ministerialverwaltung stand seitdem vor der Aufgabe, die Erklärung des Ministerpräsidenten mit rechtlich zulässigen Inhalten zu füllen. Hierbei erwies sich schnell, dass die möglicherweise intendierte vollständige Abschaffung der Regionalen Planungsverbände mit bundesrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar ist. So enthält § 9 Abs. I ROG eine Pflicht der Länder mit mehreren zentralen Orten oberster Stufe zur Aufstellung von Regionalplänen. Dass der Freistaat Bayern als flächenmäßig größtes Bundesland der Bundesrepublik Deutschland dieser Verpflichtung unterliegt, wird von niemand in Zweifel gezogen. 5 Bedarf es jedoch einer Regionalplanung, so muss der Landesgesetzgeber Einrichtungen zur Erfüllung dieser Aufgabe vorsehen. Hierbei sieht § 9 Abs. 4 ROG zwei Möglichkeiten vor: Eine kommunalisierte Regionalplanung durch Zusammenschlüsse von Gemeinden und Gemeindeverbänden zu regionalen Planungsgemeinschaften oder eine unmittelbare staatliche Trägerschaft. Konsequenz aus der Absicht, die Regionalen Planungsverbände abzuschaffen, hätte deshalb nur sein können, stattdessen eine Planung durch unmittelbare staatliche Behörden einzuführen. Dies war zweifellos nicht die Intention des Ministerpräsidenten. Dabei sprächen gute Argumente für eine unmittelbare staatliche Regionalplanung. Weil häufig überörtliche Interessen zu verfolgen sind, müssen gegebenenfalls für die Gemeinden und Landkreise vor Ort unpopuläre Standortentscheidungen getroffen 3 Vgl. ergänzend auch den Beitrag von U. Höhnberg, in diesem Band. Siehe weiterhin K. Goppel/R. Schreiber, BayVBl. 2005, 353 ff. 4
Vgl. R. Bartlsperger, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Novellierung des Landesplanungsrechts aus Anlass des Raumordnungsgesetzes 1998, Arbeitsmaterial 266, Hannover 2000, S. 119 ff. 5 Die Verpflichtung betrifft alle Flächenländer mit Ausnahme des Saarlandes, siehe H.-J . Koch/R. Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 4. Auflage, Stuttgart, 2004, S. 84.
Die Reform des Bayerischen Landesplanungsgesetzes
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werden. Die liegen bei den in den Gremien des Regionalen Planungsverbandes entsandten kommunalen Funktionsträgern kaum in den richtigen Händen. Einen Blick auf das viel durchsetzungsstärkere Fachplanungsrecht lehrt, dass Standortentscheidungen zwar unter Beteiligung von Betroffenen, aber nicht durch Betroffene getroffen werden müssen (vgl. § 38 BauGB). Letztlich bestand die Intention des Ministerpräsidenten wohl in einer möglichst weitgehenden Verschlankung und Entbürokratisierung bei gleichzeitiger Beibehaltung der bisherigen Grundstrukturen.
b) Das Reformergebnis Ziel des wiederum mit gewissem zeitlichen Abstand zur Regierungserklärung von Ende 2003 vorgelegten neuen Bayerischen Landesplanungsgesetzes ist es, die Regionalplanung zu vereinfachen. Dies geschieht durch eine Stärkung der Kompetenzen der Planungsausschüsse der Regionalen Planungsverbände bei gleichzeitig gestaffelter Verringerung der Obergrenze der Mitgliederzahlen 6 so wie durch den Wegfall der regionalen Planungsbeiräte; weiterhin erfolgt eine Konzentration der Inhalte in der Regionalplanung. 7 Die Figur des bisherigen „Regionsbeauftragten" ist entfallen. Stattdessen bestimmt Art. 5 Abs. 3 BayLplG, dass sich die Regionalen Planungsverbände zur Ausarbeitung des Regionalplans und zur Erstellung der Arbeitsunterlagen für die Verbandsorgane der jeweils für ihren Sitz zuständigen höheren Landesplanungsbehörde bedienen. 8 Die vom bayerischen Gesetzgeber insofern veranlassten Änderungen erscheinen insgesamt sinnvoll. Die Schaffung eines Regionsbeauftragten war ein Irrweg. Die Unterstützung der Regionalen Planungsverbände durch die höhere Landesplanungsbehörde muss kontinuierlich erfolgen und kann nicht auf einen bestimmten „Beauftragten" verengt werden. 9 Eine wichtige Neuerung ist die Stärkung der Kompetenzen des Planungsausschusses. 10 Die Zuständigkeiten der Verbandsversammlung werden weitgehend beschränkt (Art. 7 Abs. 3 BayLPOG). 1 1 Der Planungsausschuss ist das zentrale Organ vor allem für die Ausarbeitung sowie für Teilfortschreibungen des Regionalplans (§ 7 Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 2 BayLplG). Dieser selbst besteht jedoch immer noch aus bis zu 30 Mitgliedern (§ 7 Abs. 4 Satz 1 BayLplG). Eine wesentliche Schwäche der bisherigen Regionalplanung bestand darin, dass sich die Planer gerne in möglichst wohlklingende, aber weiche und offene Inhalte geflüchtet haben. 6
Kritisch U. Höhnberg, in diesem Band.
ι Vgl. LT-Drs. 15/1667, S. 1 f. Ausführlicher und kritisch U. Höhnberg, in diesem Band. 8
Die Gesetzbegründung spricht von einer „Organleihe", siehe LT-Drs. 15/ 1667, S. 16.
9
In der Praxis zeigen sich insoweit keine nennenswerte Änderungen, die bisherigen „Regionsbeauftragten" führen ihre Arbeit auch ohne diese Bezeichnung wie bisher weiter. 10
Kritisch U. Höhnberg, in diesem Band,
i' Vgl. auch LT-Drs. 15/1667, S. 17.
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Gerrit Manssen
Besonders deutlich geworden ist dies bei den sogenannten Windenergiekonzepten. 1 2 Anlagen, die niemand auf seinem Gemeindegebiet haben möchte, werden von der Regionalplanung in möglicherweise unzureichendem Maße positiv ausgewiesen. Auffällig ist auch eine Tendenz zu In-der-Regel-Formulierungen. Sollformulierungen werden vom Bayerischen Landesplanungsgesetz sogar als Grundsatz im Gesetz vorgesehen (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BayLplG). Der Planungsausschuss dürfte auf Grund der entsprechend den Stimmanteilen der Gruppen in der Verbandsversammlung vorgeschriebenen Vertretungen bei kreisangehörigen Gemeinden, kreisfreien Gemeinden und Landkreisen aber auch in der neuen, „verschränkten" Struktur und seinen neu geschaffenen Kompetenzen stark auf Kompromissformeln programmiert sein (vgl. § 7 Abs. 4 Satz 1 BayLplG). Dies lässt es nicht erwarten, dass die Regionalplanung in Bayern in Zukunft bei unpopulären Standortausweisungen mehr „Biss" entwickeln wird. Leider hat das Bayerische Landesplanungsgesetz auch an der bisherigen Aufsichtsregelung festgehalten. Es sind die für Zweckverbände geltenden Vorschriften anzuwenden, und zwar die für die Landkreise vorgesehenen Bestimmungen (Art. 5 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 BayLplG). Damit gilt für die staatliche Aufsicht die Regelung des Art. 95 Abs. 2 L K r O mit den in Art. 95 Abs. 2 Satz 2 enthaltenen Beschränkungen bei Eingriffen in das „Verwaltungsermessen". Die wesentlichen planerischen Entscheidungen im Rahmen der Regionalplanung wird man als „Ermessen" in diesem Sinne einordnen müssen. Jedenfalls handelt es sich nicht um einen gebundenen Gesetzesvollzug. Die insofern eingeschränkte Aufsicht wird bei der Verbindlicherklärung von in den Regionalplänen enthaltenen normativen Vorgaben in Art. 19 Abs. 2 Satz 2 BayLplG noch einmal in Bezug genommen. Das neue Landesplanungsgesetz verzichtet deshalb nach wie vor auf einen stärkeren staatlichen Einfluss auf die eigentlich staatliche Aufgaben wahrnehmenden Regionalen Planungsverbände (Art. 1 Abs. 3 BayLplG). Zu begrüßen ist der Versuch der inhaltlichen Beschränkung der Regionalpläne durch Art. 18 Abs. 2 BayLplG. Danach enthalten Regionalpläne in Zukunft ausschließlich die im Rahmen der Regionalplanung festzusetzenden zentralen Orte (Art. 18 Abs. 2 Nr. 1 BayLplG), Festlegungen zu einheitlich zu behandelnden Gebieten gemäß Art. 16 Abs. 2 Nr. 3 BayLplG (Art. 18 Abs. 2 Nr. 2 BayLplG) sowie in einer Art Generalklausel. Aufgenommen werden dürfen auch regionsweit raumbedeutsame Festsetzungen zum Siedlungswesen, zum Verkehr, zur Wirtschaft, zum Sozialwesen und zur Kultur sowie zur Freiraumsicherung, allerdings mit dem Vorrang fachrechtlicher Sicherung (Art. 18 Abs. 2 Nr. 3 BayLplG). Die gesetzliche Neufassung wird hoffentlich von den Regionalen Planungsverbänden als Hinweis gesehen, die bisherigen, teilweise ausufernden Festlegungen einzudämmen. Letztlich muss jedoch auch befürchtet werden, dass es kaum denkbare Festlegungen gibt, die sich nicht dem Verkehr, der Wirtschaft, dem Sozialwesen, der Kultur oder der Freiraumsicherung zuordnen lassen.
>2 Vgl. dazu G. Manssen, B a y V B l 2005, 485 ff.
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2. Gebietskategorien a) Allgemeines Zentrales Element des BauROG 1998 war die normative Einführung der Kategorien Vorbehalts-, Vorrang- und Eignungsgebiet (§ 7 Abs. 4 ROG). Für sie hat insbesondere Bartlsperger den Begriff „Raumordnungsgebiete mit besonderer Funktion" geprägt. 13 Die Bayerische Landesplanung hat sich in der Praxis dieser Gebietskategorien auch ohne gesetzliche Absicherung im Bayerischen Landesplanungsgesetz bedient. Dies war auf Grund der bisherigen Fassung des Bayerischen Landesplanungsgesetzes auch rechtlich zulässig. Nunmehr besteht in Gestalt von Art. 11 Abs. 2 BayLplG n. F. jedoch die aus Gründen der Rechtssicherheit gewünschte Klarheit. Festlegungen in Raumordnungsplänen können gemäß Art. 11 Abs. 2 BayLplG Vorranggebiete, Vorbehaltsgebiete und Ausschlussgebiete enthalten. Die Festsetzung von Vorrang- und Vorbehaltsgebieten i m Regionalplan ist allerdings nur für solche Belange möglich, die im Landesentwicklungsprogramm bestimmt werden (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BayLplG). Die Kategorie des Eignungsgebietes (§ 7 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 ROG) ist hingegen nicht vorgesehen. Auch wenn das Gesetz dies nicht ausdrücklich sagt, wird man davon ausgehen müssen, dass die Festlegung von Eignungsgebieten damit vom Gesetzgeber ausgeschlossen wird.14
b) Der Verzicht auf Eignungsgebiete Der Verzicht auf die norddeutsche Erfindung des Eignungsgebietes wird vom Gesetzgeber damit begründet, dass der Regelungsgehalt des Eignungsgebietes sich auf den zielförmigen Ausschluss bestimmter Maßnahmen außerhalb des festgesetzten Gebietes beschränke, während innergebietlich eine landesplanerisch positive Regelungswirkung trotz der Verwendung des Begriffs „geeignet" nicht gegeben sei; 1 5 dies könne zu Missverständnissen führen. 1 6 Die Gefahr solcher Missverständnisse besteht in der Tat. Sie betrifft allerdings nicht nur den innergebietlichen, sondern vor allem auch den außergebietlichen Bereich. So wird der Festlegung eines Eignungsgebiets außergebietlich i m Allgemeinen viel Wirkung i m Sinne von § 3 Nr. 2 ROG zugeschrieben. Dies harmoniert nicht mit dem Gesetzeswortlaut des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB. Danach stehen öffentliche Belange einem privilegierten Vorhaben nach Abs. 1 Nr. 2 bis 6 in der Regel auch dann entgegen, wenn hierfür als Ziele der Raumordnung eine Ausweisung an anderer Stelle erfolgt ist.
13 R. Bartlsperger
(Anm. 4), S. 119 ff.
14
Die Gesetzesbegründung, LtDrs. 15/1667 S. 18 spricht davon, dass auf die Umsetzung des Instruments des Eignungsgebiets „verzichtet" werde. 15 Die innergebietliche Wirkung von Eignungsgebieten wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt; zum Streitstand siehe Koch/Hendler (Anm. 5), S. 51 f.
•fi LtDrs. 15/1667 S. 18.
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Das Gesetz stellt insoweit die Ziele der Raumordnung auf eine Stufe mit Darstellungen des Flächennutzungsplanes, was zunächst eine Art von Tatbestandswirkung der Festsetzung nahe legt. Dies lässt sich allerdings mit dem Zielcharakter nicht in Übereinstimmung bringen. Soweit ein Eignungsgebiet außergebietlich normativ „durchgreift", geht es über eine Tatbestandswirkung hinaus. Zu Recht ist deshalb festgestellt worden, dass § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB in dem Sinne verstanden werden müsse, dass öffentliche Belange den betreffenden Außenbereichsvorhaben in der Regel auch dann entgegenstehen, „soweit diese Vorhaben durch Darstellungen in dem Flächennutzungsplan oder durch Ziele der Raumordnung ausgeschlossen sind, weil hierfür eine Ausweisung an anderer Stelle im Planungsraum erfolgt ist." 17 Das tägliche Geschäft in der Landesplanung ist keine Juristendomäne. In erheblichem Umfang wirken insoweit juristische Laien mit, sowohl auf Grund der Struktur der Regionalen Planungsverbände als auch auf Grund des Beratungsbedarfs für die eigentlichen inhaltlichen Entscheidungen. Insofern wäre es Zeichen einer guten Gesetzgebung im Landesplanungsrecht, die Planer auf Landesebene vor zu vielen juristischen Fallstricken zu bewahren. In dieser Hinsicht mag man den Verzicht auf Eignungsgebiete begrüßen können.
c) Ausschlussgebiete Völlig ohne die zielförmige Festlegung von negativen Festsetzungen wird jedoch auch das Bayerische Landesplanungsgesetz nicht auskommen. Es wäre zwar grundsätzlich denkbar, die Negativwirkung des § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB lediglich in Form einer Tatbestandswirkung wie beim Flächennutzungsplan umzusetzen. Dies würde bedeuten, dass die zielförmige Positivfestlegung von Standorten insbesondere für privilegierte Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB nicht mit einer negativen zielförmigen Ausschlusswirkung verbunden wird. Der Landesgesetzgeber würde sich dann jedoch schlechthin der Möglichkeit negativer planerischer Festsetzungen in Raumordnungsplänen begeben. Solche Negativplanungen sind als reine Negativfestsetzungen ohne positive Standortaussage jedoch dort zulässig, wo es nicht um privilegierte Vorhaben im Sinne des § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB geht. Es ist deshalb folgerichtig, dass der bayerische Gesetzgeber in Art. 11 Abs. 2 Nr. 3 BayLplG die Möglichkeit vorsieht, dass in Raumordnungsplänen Gebiete bezeichnet werden, in denen bestimmte, raumbedeutsame Funktionen oder Nutzungen ausgeschlossen werden sollen. Anders als bei Vorrang- und Vorbehaltsgebieten ist auch nicht vorgesehen, dass dies nur zur Förderung solcher Belange geschehen kann, die im Landesentwicklungsprogramm ausdrücklich bestimmt sind. Die Neufassung des Bayerischen Landesplanungsgesetzes verhält sich neutral zu der in der bisherigen Diskussion strittigen Frage, inwieweit negative Zielfestset17
Siehe dazu R. Bartlsperger, Raumplanung zum Außenbereich, die raumplanerische Steuerung von Außenbereichsvorhaben, Berlin 2003, S. 51.
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zungen der Raumordnung auch privilegierte Außenbereichsvorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB erfassen dürfen. 1 8 Die Praxis der Bayerischen Landesplanung sieht hierfür wohl ein Bedürfnis. So finden sich in den Bayerischen Regionalplänen vor allem für den Bereich der Windenergie reine Ausschlussfestsetzungen oder auch ein Konzept sogenannter „weißer Flächen", in denen drei Kategorien von Festsetzungen enthalten sind: Positivfestsetzung, Negativfestsetzungen und keine Festsetzungen (weiße Flächen). Nun sind bayerische Sonderwege im Recht nicht per se falsch und rechtswidrig, sie sind aber auch nicht immer richtig bzw. rechtmäßig. Im Hinblick auf Negativfestsetzungen für bundesrechtlich privilegierte Anlagen ist deutlich darauf hinzuweisen, dass eine solche Planungspraxis dem bundesrechtlichen System des § 35 BauGB widerspricht. 1 9 Es ist die eindeutige Zielsetzung des Gesetzgebers, die Vorhaben nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 einerseits zu privilegieren, sie aber andererseits einer Standortsteuerung zu unterziehen. Dies impliziert, dass ohne substantielle Positivausweisungen eine Negativplanung nicht zulässig ist. 2 0 Es gibt kein belastbares Argument dafür, entweder den Gemeinden über die Flächennutzungsplanung oder den Trägern der Landes- und Regionalplanung die Möglichkeit einer Endprivilegierung für bestimmte Planungsräume zuzugestehen. Verfahren die Planungsträger trotzdem anders, sind entsprechende Festsetzungen als zielförmige Ausschlussregelungen rechtlich nicht haltbar. Die Möglichkeit der Umdeutung in grundsatzähnliche Festlegungen bleibt allerdings möglich. Die Anwendung von § 35 Abs. 3 Satz 2 1. HS BauGB, wonach raumbedeutsame Vorhaben den Zielen der Raumordnung nicht widersprechen dürfen, ist damit aber nicht eröffnet. Aus weiteren Rechtsfragen von Negativausweisungen hält sich das Bayerische Landesplanungsgesetz heraus. Reformbedürftig ist die bisherige Planungspraxis insbesondere hinsichtlich der bisher zu wenig beachteten Notwendigkeit eines gesamträumlichen Konzeptes bei der Standortsteuerung für privilegierte Anlagen. Hier verlangt das Bundesrecht mehr als nur eine teilweise Überplanung von Räumen und insbesondere die substantielle Ausweisung von Positivflächen. 21 Dass bayerische Landesplanung jedoch im bundesrechtlichen Rahmen stattfinden muss, macht schon Art. 1 BayLplG deutlich. Die Neufassung des Art. 11 BayLplG ist jedenfalls hinreichend offen formuliert, um eine bundeskonforme Landes- und Regionalplanung zu ermöglichen.
"H Vgl. dazu ausführlich R. Bartlsperger
(Anm. 17), S. 189 ff.
19 BVerwG, BayVBl. 2003, 664 ff. 20 Vgl. BVerwG, BayVBl. 2003, 753 ff.; vgl. auch BayVGH, BayVBl. 2004, 272 ff. 21 Dazu ausführlicher G. Manssen,(knvc\. 24 FS Bartlsperger
12), 485 (486).
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d) Vorbehaltsgebiete Die Frage, ob auch Vorbehaltsgebiete „Ziele" der Raumordnung im Sinne von § 3 Nr. 2 ROG sind, ist lange intensiv diskutiert worden. 2 2 Das Bundesverwaltungsgericht hat mittlerweile eine eindeutige Aussage getroffen: Vorbehaltsgebiete sind Grundsätze, keine Ziele. 2 3 Erstaunlich ist deshalb, dass das Bayerische Landesplanungsgesetz in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BayLplG eine vom Bundesrecht abweichende Zieldefinition trifft. Zwar ist die ursprüngliche Idee, den Zielcharakter von Vorbehaltsgebieten ausdrücklich festzulegen, aufgegeben worden. Der Sache nach wird aber genau das gemacht. Im Gegensatz zu § 3 Nr. 2 ROG lässt Art. 3 Abs. 1 BayLplG es für den Zielcharakter ausreichen, wenn eine abschließende Abwägung auf der Ebene der Landes- und Regionalplanung vorgenommen worden ist. Dies war genau das Argument, mit dem der Zielcharakter von Vorbehaltsgebieten begründet wurde. Der bayerische Gesetzgeber stiftet mit dieser Eigensinnigkeit Verwirrung und Rechtsunsicherheit. 24 Die bundesrechtlichen Genehmigungsmaßstäbe des § 35 BauGB können nicht beeinflusst werden. Es ist auch nicht erkennbar, dass es Bedürfnis für einen eigenen landesrechtlichen Zielbegriff gibt.
3. Sollziele Ein Charakteristikum der Bayerischen Landes- und Regionalplanung ist eine gewisse Tendenz zur Halbherzigkeit von planerischen Aussagen. 25 So werden fast durchgehend sogenannte Sollformulierungen verwendet. Das neue Bayerische Landesplanungsgesetz gibt dieser Praxis normative Weihen. Textliche Ziele sollen grundsätzlich als Soll-Vorschriften formuliert werden (so Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BayLplG). Begründet wird dies damit, dass auf diese Weise sogenannte atypische Fälle berücksichtigt werden könnten. Zudem handele es sich um ein anerkanntes Prinzip der Bayerischen Landesplanung. 26 22
Vgl. etwa S. Grotefels , Vorrang-, Vorbehalts- und Eignungsgebiete in der Raumordnung (§ 7 Abs. 4 ROG) in: Erbguth/Oebbecke/Rengeling (Hrsg.), Planung - Festschrift für Hoppe, München 2000, S. 376 ff.; W. Spannowsky, in: Bielenberg/Runkel/Spannowsky (Hrsg.), Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Berlin Stand 2 / 2 0 0 5 , Κ 97 Rdnr. 104; H. A. Wolff, BayVBl. 2001, 737 ff. 23
BVerwG, BayVBl. 2003, 753 ff. Ebenso BayVGH, B a y V B l 2004, 272 (274).
24
Anders erwartungsgemäß Goppel/Schreiber (Anm. 3), 353 (353): Soweit das Gesetz (gemeint ist das Landesplanungsgesetz) von den Regelungen des ROG abweiche, stelle es die Rechtslage klar bzw. interpretiere und ergänze sie in zulässiger Weise. 25 Eine Ursache für den Bereich der Regionalplanung ist zweifellos die Kommunalisierung in der Regionalplanung durch den entsprechenden Aufbau der Regionalen Planungsverbände. 2 6 Vgl. K. Goppel, B a y V B l 1998, 289/292; ders., B a y V B l 2002, 449 ff.; Goppel/Schreiber (Anm. 3), 353 (354).
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Die Verwendung von Sollformulierungen ist aus verschiedenen Gründen kritisiert worden. 2 7 Es gibt die Möglichkeit des Zielabweichungsverfahrens nach § 11 ROG und Art. 29 BayLplG. Dies ist das Instrument, um auf sogenannte atypische Fälle zu reagieren, die von einem Ziel der Raumordnung abweichen, wobei immer zunächst geklärt werden muss, ob die entsprechende Vorschrift den „atypischen" Fall überhaupt erfasst, oder bereits auf Grund einer entsprechend restriktiven Interpretation gar kein Normkonflikt entsteht. Hinzu kommt, dass die Vorschrift des § 35 Abs. 3 Satz 2 BauGB nicht als „echte" Raumordnungsklausel verstanden wird, die gegebenenfalls zwingend zur Unzulässigkeit eines Vorhabens führt. 2 8 Selbst dann, wenn ein Vorhaben einem Ziel der Raumordnung widerspricht, kann auch im Wege der nachvollziehenden Abwägung im Baugenehmigungsverfahren eine Zulassung des Vorhabens erfolgen, soweit es sich um einen besonders gelagerten Einzelfall handelt. 2 9 Dies ist eine verfassungsrechtlich notwendige Konsequenz aus dem durch die Regionalplanung verursachten „großräumigen Eigentumseingriff'. 30 Die im Bayerischen Landesplanungsgesetz zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung steht schließlich auch im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Zwar können landesplanerische Aussagen, die eine Regelausnahmestruktur aufweisen, die Merkmale eines Ziels der Raumordnung erfüllen; Voraussetzung ist jedoch, dass der Planungsträger neben den Regeln auch die Ausnahmevoraussetzungen mit hinreichender tatbestandlicher Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit selbst festlegt. 31 Gewichtungsvorgaben für die spätere Abwägung erfüllen nicht die Erfordernisse des bundesrechtlichen Zielbegriffs. 3 2 Es ist deshalb zu bedauern, dass das Bayerische Landesplanungsgesetz auf einer nicht überzeugenden bayerischen Besonderheit beharrt, die dem Rechtsanwender nur Probleme bereiten wird.
III. Fazit Das neue Bayerische Landesplanungsgesetz ist zweifellos kein großer Wurf. Die Regionalplanung ist immer noch „kommunalisiert", wenn auch nicht mehr so stark wie vorher. Bei den Gebietskategorien erfolgt eine insgesamt akzeptable Anpas27
Vgl. mit weiteren Nachweisen W. Hoppe, BayVBl. 2005, 356 ff.; Manssen (Anm. 12), 485 (487). 28 BVerwG, N V w Z 2002, 476 ff. zur Übertragbarkeit auf die neue Rechtslage nach Inkrafttreten des BauROG, siehe auch H. von Nikolai, N V w Z 2002, 1078/1079. Möglicherweise anders BayVGH, B a y V B l 2004, 272/273. 29 Anders allerdings W Hoppe, DVB1. 2003, 1345 ff. 30
Vgl. dazu R. Bartlsperger, S. 707 ff. 31 BVerwGE 119, 54 ff. 32 BVerwGE 119,54,61. 24*
Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, Berlin 2004,
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sung an den bundesrechtlichen Standard. Landesplanungsrecht ist angesichts der nach wie vor bestehenden bundesrechtlichen Rahmenvorgaben allerdings kein sinnvoller Gegenstand von landestypischen Eigensinnigkeiten. Insofern zeigen sich im Bayerischen Landesplanungsgesetz Fehlentscheidungen, die bei gründlicherer Auseinandersetzung mit den Argumenten und Schriften Bartlspergers vermeidbar gewesen wären.
Datenschutz in der Planfeststellung Von Michael Ronellenfitsch,
Tübingen/Wiesbaden
I. Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht Die Notwendigkeiten des universitären Lehrbetriebs bringen es mit sich, dass die Vertreter des Fachs „Öffentliches Recht" in der Regel zugleich Generalisten und Spezialisten sind. Jede Generation der Öffentlichrechtler bestimmt ihren generellen Gegenstand neu. Dadurch wandert der Bezugspunkt für das jeweilige Spezialgebiet. Während es gegenwärtig en vogue ist, möglichst alle verwaltungsrechtliche Problemlösungen mit den Weihen des Verfassungsrechts zu versehen, gehört der Jubilar einer Generation an, die das Allgemeine und Besondere Verwaltungsrecht zunächst aus sich selbst heraus entwickelte, freilich nicht nach dem Motto „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht", 1 sondern Verwaltungsrecht als verfassungsrechtlich umhegtes Teilgebiet des öffentlichen Rechts begreifend. 2 In der Tat gilt es, die Verkürzung des Verwaltungsrechts auf Verfassungsvollzug zu vermeiden. 3 Der deutsche Rechtsstaat ist der Staat des „wohlgeordneten Verwaltungsrechts" 4 Die verfassungsrechtlichen Aspekte fließen in das verwaltungsrechtliche Ordnungsgefüge ein und nicht umgekehrt. In diesem Sinn ist die informationelle Selbstbestimmung in den Funktionszusammenhang des Planfeststellungsverfahrens einzupassen.
II. Datenschutz 1. Verfassungsrechtliche Verankerung Das Datenschutzrecht betrifft eine Materie, die irrationale Züge aufweist. Die zu Beginn der 1970er Jahre mehr erahnten als realen Gefährdungen des Persönlichkeitsrechts durch die Großrechnertechnologie, 5 die eine massenhafte und schnelle 1
O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl., Leipzig 1924.
2 Hier darf der ritualisierte Hinweis auf F. Werner,
DVB1. 1959, 527 ff. nicht fehlen.
3
Treffend dagegen das von L. von Stein (Handbuch der Verwaltungslehre, 1. Tl, 3. Aufl., Stuttgart 1887, Einleitung S. 1 ff.) entworfene B i l d der Verwaltung als tätig werdende Verfassung. 4 Mayer (Anm. 1 ), S. 58. 5
P. Gola/Ch.
Klug, Grundzüge des Datenschutzrechts, München 2003, S. 2.
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Datenverarbeitung ermöglichte, schürte Ängste, wie sie mit unüberschaubaren Entwicklungen zumeist verbunden sind. So ließen sich bereits damals durch die Verarbeitung personenbezogener Daten aussagekräftige Persönlichkeitsprofile erstellen, auf die Interessierte hätten leicht zugreifen können. Die seinerzeit utopische Schreckensvorstellung vom gläsernen Menschen kam auf. Die Gesetzgeber in Bund und Ländern versuchten dem frühzeitig gegenzusteuern, vermochten aber nicht die Wogen zu glätten, die im Zusammenhang mit der Datenerhebung nach dem Volkszählungsgesetzes 1983 6 hoch schlugen. Im Zuge des Rechtsstreits um dieses Gesetz gelang die Versachlichung der Diskussion. 7 Durch das Grundsatzurteil des BVerfG vom 15. Dezember 1983, 8 mit dem das Gericht die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Datenschutzes umfassend darstellte, trat Befriedung ein. Durch die Kombination von Art. 2 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG wurde einerseits ein Mehrwert gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit geschaffen, andererseits die Abwägungssperre bei der Menschenwürde aufgehoben. Weiter reicht auch der Garantiegehalt des nachträglich in die Landesverfassungen von Nordrhein-Westfalen (Art. 4 Abs. 2), des Saarlandes (Art. 2), Berlins (Art. 21 b) und von Rheinland-Pfalz (Art. 4 a) eingefügten und in den Landesverfassungen der neuen Bundesländer von vornherein enthaltenen 9 Grundrechts auf Datenschutz nicht.
2. Reale Lage Trotz der verfassungsrechtlichen Verankerung hat der Datenschutz heute einen schweren Stand. Seit dem Volkszählungsurteil hat sich das Datenumfeld gravierend verändert. Der PC fand Einzug am individuellen Arbeitsplatz und im privaten Bereich. Zugleich wandelten sich die Verarbeitungstechniken. Die Möglichkeiten des Direktzugriffs, die Verwendung freier Abfragesprachen, die weltweite Vernetzung verschiedener Informationssysteme sind selbstverständlich geworden. Das Internet gehört mittlerweile zur Daseinsvorsorge. Den Vorteilen des unbegrenzten Informationszugangs korrespondieren die Gefahren einen unbegrenzten Datenzugriffs. Angesichts des weltweiten Terrorismus ist das Sicherheitsbedürfnis so groß, dass man bereit ist, alle Formen der Datenvernetzung und Zusammenarbeit der Dienste, der Telefonüberwachung und der biometrischen Erfassungen zuzulassen. Ferner segelt heute der Datenschutz im Windschatten der Entwicklung zu einer „transparenten" Verwaltung. M i t dem alten Schreckensbild des gläsernen Bürgers kontrastiert die Wunschvorstellung der gläsernen Verwaltung. Es droht die 6
Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung vom 25. 3. 1982
(BGBl. I S. 369). ι BVerfGE 64, 67. « BVerfGE 65, 1. 9
Brandenburg (Art. 11 ), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 6), Sachsen (Art. 33), SachsenAnhalt (Art. 6), Thüringen (Art. 6).
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Aufrüstung der auf allgemein zugängliche Quellen bezogenen Informationsfreiheit zu einem unbegrenzten Informationsanspruch, der die informationellen Selbstbestimmungsrechte der Mitbürger verletzt. Die gegenwärtige Geringschätzung des Datenschutzes ist so irrational wie die alten Ängste. Die Informationsgesellschaft ist Wirklichkeit geworden. In der Informationsgesellschaft besteht die Möglichkeit, automatisiert Informationen zu beschaffen und zu verarbeiten, um „Profile" zu erstellen (Persönlichkeitsprofil, Bewegungsprofil, Kundenprofil, Wählerprofil, Täterprofil). Globalisierung, Umbau der Sozialsysteme, Wandel der Staatsaufgaben, Privatisierung und Verwaltungsmodernisierung entwickeln eine Eigendynamik, angesichts derer der Datenschutz vielfach nur als effektivitätshemmender Störfaktor betrachtet wird.
3. Verwaltungsrechtliche Ausformung A u f einfachgesetzlicher Ebene konstituierte sich das Datenschutzrecht beginnend mit den Datenschutzgesetzen der Länder Hessen (1970) und Rheinland-Pfalz (1974) und sodann mit dem Bundesdatenschutzgesetz 1977 1 0 als neues Nebenrechtsgebiet, 11 das sich keinem der großen Rechtsgebiete ausschließlich zuordnen lässt, sondern eine Querschnittsmaterie betrifft. 1 2 Das allgemeine Datenschutzrecht ist in Auffanggesetzen enthalten, die hinter den bereichsspezifischen Sonderregelungen zurücktreten. Gebildet wird das allgemeine Datenschutzrecht durch die E U - D S R L , 1 3 das B D S G 1 4 und die Datenschutzgesetze der Länder. Als verwaltungsrechtliche Ausformung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung normiert es eine Reihe von Datenschutzgrundsätzen. So ist die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nur zulässig, soweit dies eine Rechtsvorschrift erlaubt oder anordnet oder der Betroffene hierzu ohne jeden Zweifel einwillig (§ 4 Abs. 1 BDSG) - repressives Verbot mit Zulassungsmöglichkeit - 1 5 , wenn dies für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erfolgt (Art. 6 Abs. 1 lit. b DSRL) - Zweckbindungsgrundsatz - , wenn dies zur rechtmäßigen Erfüllung der Aufgaben der datenverarbeitenden Stelle erforderlich ist (§§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1,15 Abs. 1 Nr. 1, 16 Abs. 1 Nr. 1 BDSG) - Erforderlichkeitsgrundsatz - und wenn die Gestaltung und Auswahl von Datenverarbeitungssystemen am Ziel der Datenvermeidung und Datensparsamkeit ausgerichtet sind (§ 3a
io Vom 27. 1. 1977 (BGBl. I S. 201). •ι K. Hümmerich/R.
Kniffka,
NJW 1979, 1182 ff. (112)
12 H.P. Bull, NJW 1979, 117 ff. (1182). 13 Richtlinie 9 5 / 4 6 / E G vom 24. 10. 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. vom 23. 11. 1995, Nr. L 281, S. 31).
14 I.d.F. der Bekanntmachung vom 14. 1. 2003 (BGBl. I S. 66). 15
Anders (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) die h. L.; vgl. R Gola/R. 8. Aufl., München 2005, § 4 Rn. 3.
Schomerus, BDSG,
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BDSG) - Grundsatz der „Datenaskese 4 ' Die Grundsätze sind Schranken-Schranken des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und konkretisieren insoweit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
I I I . Planfeststellung 1. Zuordnung Raumrelevante Vorhaben berühren eine Vielzahl öffentlicher und privater Belange und müssen an die Umgebung angepasst werden. Dadurch entseht Planungsbedarf. Dieser kann durch Planungen für einen Gesamtraum oder im Rahmen der fachbezogenen Vorhabenplanung gedeckt werden. Die wichtigsten Fachplanungen betreffen Verkehrsprojekte wie (Fern-)Straßen, Betriebsanlagen der Eisenbahn, Flughäfen und Verkehrlandplätze, Bundeswasserstraßen und Betriebsanlagen für Straßenbahnen. Zentrales Instrument das Fachplanungsrechts ist die Planfeststellung, die das Verfahren zur Feststellung eines Plans einschließlich des das Verfahren abschließenden Planfeststellungsbeschlusses umfasst. 16 Alle Planungen erfordern planerische Gestaltungsfreiheit, 17 die wie jede Freiheit auf Schranken stößt. Der Bestimmung und Kontrolle dieser Schranken dient das Abwägungsgebot, das durch eine ausdifferenzierte Fehlerlehre im Planungsrecht Konturen gewann. 1 8
2. Funktion und Wesen des Planfeststellungsbeschlusses Der Planfeststellungsbeschluss ist eine Genehmigungsform für Vorhaben, die einem präventiven Verbot (Planfeststellungsvorbehalt) unterliegen. Genehmigt wird ein künftiges Vorhaben, das sich noch im Planungsstadium befindet; genehmigt werden somit die Pläne für das Vorhaben. Der sachlich-konkrete Gegenstand der Planfeststellung ergibt sich aber aus den jeweiligen Fachgesetzen. Daraus können unterschiedliche Genehmigungsstrukturen folgen. Zumeist ist ein Planfeststellungsbeschluss lediglich die Baugenehmigung eines Vorhabens. 19 Die Bauplanfeststellung als wichtigster Anwendungsfall der Planfeststellung kombiniert die ordnungsrechtliche Baugenehmigung und die bauplanungsrechtliche Vorhabengeneh§ 17 FStrG; § 18 AEG, § 8 LuftVG; § 14 WaStrG; § 28 PBefG. 17 Grundlegend BVerwGE 34, 301 (304); zur Bauleitplanung BVerwGE 45, 309 (313 ff.); zur Straßenplanung BVerwG, BRS 26,1, BVerwGE 48, 56 (59); zur Eisenbahnplanung BVerwGE 59, 253 (257), zur Flughafenplanung BVerwGE 56, 110 (116); ferner W Tzschaschel, Rechtfertigungserfordernisse für die straßenrechtliche Planfeststellung - Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Kategorie der „planerischen Gestaltungsfreiheit", Berlin 1994; W Hoppe/J.-D. Just, DVB1. 1997, 789 ff. 18 Nachweise bei M. Ronellenfitsch, Fachplanung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: K. Grupp (Hrsg.), Planung - Recht - Rechtsschutz, Festschrift für W i l l i Blümel zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, S. 497 ff.
Datenschutz in der Planfeststellung
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migung. Die Planfeststellungsbehörde hat in ihrer Funktion als Genehmigungsbehörde keine originäre Planungskompetenz. Diese liegt vielmehr beim Vorhabenträger. Für die raumplanerischen Genehmigung ist ebenfalls die Planfeststellungsbehörde zuständig, der insoweit die Planungshoheit zusteht.
3. Abwägung Jede Abwägung erfolgt in den Schritten der Ermittlung und Gewichtung der Abwägungsbelage sowie der eigentlichen Abwägung der Abwägungsbelange. Die Abwägung gehört zum juristischen Handwerkszeug und ist bei der Entscheidungsfindung nicht hinwegzudenken. 20 Sie stößt gleichwohl bei Subsumtionsjuristen auf Misstrauen und Ablehnung. Neben der Methode der Abwägung richtet sich die Kritik gegen die Ermittlung der Abwägungsbelange. Die Kritik erfasst namentlich die Abwägung im Verfassungsrecht. 21 Hiergegen wird vorgebracht, anders als bei der Planung, die es mit der Gestaltung von Sachzielen zu tun habe, gehe es im Verfassungsrecht um Rechtsanwendung. 22 Die Abwägung erscheine als eine Methode im Prozess der Rechtsgewinnung und trete an die Stelle der Subsumtion, weil der Syllogismus mangels zureichender Obersätze nicht funktioniere. Dies bedeute aber, dass eine Unbekannte durch eine andere Unbekannte ersetzt werde. Gleichwohl ist die Abwägung eine unentbehrliche Methode nicht nur im Planungsrecht, sondern auch für den Umgang mit Grundrechten. Ohne Abwägung misslingt der Ausgleich konträrer Grundrechtspositionen in mehrpoligen Rechtsverhältnissen. Was für die Auflösung von Grundrechtskonflikten gilt, gilt ganz allgemein für die Auflösung von Rechtsgutskollisionen auf Verfassungsebene. Den Kritikern der Abwägungsmethode ist einzuräumen, dass durch die Gewichtung der Abwägungsbelange Unsicherheiten in die Verfassung hineingetragen werden. Es trifft aber nicht zu, dass das Grundgesetz für die Gewichtung der Abwägungsbelange keine Maßstäbe enthält. Der Gewichtung der Abwägungsbelange im Einzelfall liegt aber das Wertesystem des Grundgesetzes zugrunde, das den Werten unterschiedliche „Wertigkeit' 4 zumisst. Dient das Abwägungsgebot generell der rationellen Entscheidungsfindung und Kontrolle bei Lösung von Interessenkonflikten, so sind bei 19 Das bedeutet nicht, dass es nur eine „Bauplanfeststellung" geben könne. Einzelne Fachplanungsgesetze lassen auch betriebliche Festsetzungen im Planfeststellungsbeschluss zu. Die „Betriebsplanfeststellung" ist eine Unternehmergenehmigung. Für den unternehmerischen Bereich, darf die Planfeststellungsbehörde die Abwägungsentscheidung nicht als ökologische Bedürfnisprüfung handhaben.
20 Vgl. BVerfGE 85, 36 (57). H.-J. Koch, Die normtheoretische Basis der Abwägung, in: W. Erbguth u. a. (Hrsg.), Abwägung im Recht, Werner Hoppe zur Emeritierung, Köln 1996, S. 9 ff.; R. Bartlsperger, Das Abwägungsgebot in der Verwaltung als objektives und individualrechtliches Erfordernis konkreter Verhältnismäßigkeit, ebd., S. 79 ff. 21 W. Leisner, NJW 1997, 636 ff.; demgegenüber wiederum Jansen, Der Staat 1997, 27 ff. 22 F. Ossenbiihl, Abwägung im Verfassungsrecht, in: W. Erbguth, u. a. (Hrsg.), Abwägungen im Recht (Anm. 20), S. 25 ff. (25).
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Michael Ronellenfitsch
der planerischen Abwägung öffentliche und private Interessen angesprochen, die sich bis hin zu subjektiven Rechten mit Verfassungsrang verdichten können. Der Aggregatzustand ergibt kein „verplantes" Individualrecht als „Recht auf Abwägung". Dies wurde vom Jubilar überzeugend nachgewiesen. 23 Das ändert nichts daran, dass die Abwägung, auf die sich das Planungsermessen erstreckt, mit der korrekten Ermittlung und Gewichtung der Abwägungsbelange steht und fällt. Dem entspricht die Struktur des Planfeststellungsverfahrens.
4. Informationsverarbeitung Das Planfeststellungsverfahren beginnt nach planerischen Vorstufen (Bedarfsplanung, Raumordnungsverfahren) und einer informellen Vorbereitungsphase damit, dass der Träger des Vorhabens den Plan bei zur Durchführung des Anhörungsverfahrens einreicht. Die Anhörungsbehörde kümmert sich sodann um die Stellungnahme der Träger öffentlicher Belange und veranlasst die Auslegung des Plans in den in Frage kommenden Gemeinden. Jeder, dessen Belange durch das Vorhaben berührt werden, kann nach Ablauf der Auslegungsfrist ebenfalls befristet Einwendungen erheben. Nach Ablauf der Einwendungsfrist führt die Anhörungsbehörde einen Erörterungstermin mit den Träger des Vorhabens, den Trägern öffentlicher Belange, den Betroffenen und den nicht präkludierten Einwendern einschließlich der anerkannten Naturschutzvereine durch. Nach Abschluss der Erörterung hat die Anhörungsbehörde zum Ergebnis des Anhörungsverfahrens eine Stellungnahme abzugeben und den Plan zusammen mit den Stellungnahmen der beteiligten Behörden und den nicht erledigten Einwendungen der Planfeststellungsbehörde zuzuleiten. Die Panfeststellungsbehörde prüft daraufhin Ablauf und Ergebnisse des Anhörungsverfahrens, bewertet die Umweltauswirkungen, befindet über den naturschutzrechtlichen Eingriff und stellt den Plan fest. Das Planfeststellungsverfahren ist somit in seiner Gesamtheit ein iterativer Prozess zur Ermittlung und Gewichtung des Abwägungsmaterials. Im Planfeststellungsverfahren sollen alle Möglichkeiten eines kommunikativen Verwaltungsverfahrens ausgeschöpft werden, in dessen Rahmen das Vorhaben im Zusammenwirken von Vorhabenträger, Planfeststellungsbehörde, Trägern öffentlicher Belange, Betroffenen und der Öffentlichkeit optimiert wird. M i t dieser Zielsetzung ist die Planfeststellung strengen förmlichen und inhaltlichen Anforderungen unterworfen. In förmlicher Hinsicht sind vor allem die Bindungen zu beachten, die das Verwaltungsverfahren betreffen. Bedeutsam sind die Vorschriften, die dem Informationsbedürfnis der Betroffenen und der Öffentlichkeit Rechnung tragen, welche die Möglichkeit von Einwendungen regeln und Mitwirkungsrechte anderer Behörden und privilegierter Vereine sichern. In materieller Hinsicht spielen die behördeninternen Bindungen an vorbereitende Planungsentscheidungen, das Erfordernis der Planrechtfertigung, die Wahrung der gesetzlichen externen und internen Planungsleitsätze sowie die inhalt23 R. Bartlsperger
(Anm. 21), S. 87 ff.
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liehen Anforderungen des Abwägungsgebots eine Rolle. Für den Vorhabenträger und die Planfeststellungsbehörde stellt sich die korrekte Abwägung und Ausübung des Planungsermessens in erster Linie als ein Akt rechtlich gesteuerter Informationsverarbeitung dar. Die rechtliche Steuerung kann dabei detailliert-geschwätzig sein wie in § 1 Abs. 5 und 6 BauGB und § 1 Abs. 2, § 2 ROG sein oder sich spartanisch auf eine Normierung des Abwägungsgebots beschränken; in jedem Fall muss sich das Wertesystem des Grundgesetzes in der Gewichtung der Abwägungsbelange widerspiegeln.
IV. Wertesystem des Grundgesetzes: Grundrechte und Sonstige Belange in der planerischen Abwägung Planfeststellungsbedürftige Fachplanungen betreffen vorwiegend Infrastrukturprojekte, ohne die keine moderne Industriegesellschaft existieren könnte. Das gilt speziell für ein exportorientiertes Land wie Deutschland. Die geographische Lage macht Deutschlands zudem zu einem Transitland für die europäischen Verkehrsströme. Je rascher Europa zusammenwächst, desto effektiver und zügiger müssen die erforderlichen verkehrlichen Infrastrukturmaßnahmen realisiert werden. Dies macht eine dem Wertesystem des Grundgesetzes angepasste nachhaltige Verkehrspolitik notwendig. 2 4
1. Wertesystem Der Streit um die „Werteordnung' 4 des Grundgesetzes soll hier nicht neu aufgeführt werden, 2 5 zumal er mit der Entdeckung der objektiven Grundrechtsgehalte 26 24 Hierzu M. Ronellenfitsch, 25
N V w Z 2006 (im Druck).
In der Weimarer Republik setzte sich R. Smend (Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928, S. 163) mit dem Grundrechteverständnis als „Wert- oder Gütersystem" nicht durch. I m Dritten Reich wurde die fehlende Legitimation der Staatsgewalt mit allgemeinverbindlichen Werten wie Volksgemeinschaft (C. Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933) oder Rasse (//. Nicolai, Deutsches Recht 1934, 74 ff.) überspielt und dem liberalen „Judenstaat" sein Werterelativismus vorgehalten (A. Rosenberg, Der Mythus des 20 Jahrhunderts, 7. Aufl., München 1943, S. 450 ff.). Nach dem Krieg kam eine Rückkehr zum Werterelativismus nicht in Betracht; Abkehr vom Dritten Reich war jetzt der oberste Wert. Dementsprechend erscheint die „Werteordnung des Grundgesetzes" in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Abrechnung der befreiten Unterdrückten mit ihren ehemaligen Unterdrückern, bzw. wurde von letzteren so empfunden (vgl. nur C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 10 f.; ders.; Ex Captivitate Salus, Erfahrungen der Zeit 1945/1947, Köln 1950). Ob diese Sichtweise berechtigt war, mag dahinstehen. Jedenfalls sprach später der zweite Präsident des BVerfG J. Wintrich (Zur Problematik der Grundrechte, Köln 1957) in einem allgemeineren Sinn vom einheitlichen Wertgefüge der Grundrechte. Beginnend mit BVerfGE 7, 198 übernahm das BVerfG diese Terminologie, ohne sich festzulegen, ob die Werteordnung
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an Schärfe verloren hat. Im Kopftuchstreit sprach das B V e r w G 2 7 wieder von einer Wertewelt, die erkennbar dem Grundgesetz zu Grunde liege. Damit wurde auch die Kritik an einem derartigen Verfassungsverständnis wieder belebt. Hauptkritiker war Forsthoff, der die Grundrechte als Hervorbringungen der Verfassungsgeschichte verstand, die jeweils mit eigener Logik dem Staat zum Schutz bestimmter Individualfunktionen Grenzen setzen. 28 Das Verständnis der Grundrechte als vom Staat ertrotzter Freiheitsverbürgungen, die es vor Rückschlägen zu bewahren gelte, beruht auf Forsthoffs pessimistischem, biographisch bedingtem Staatsverständnis. 29 Wer den Staat in erster Linie als Garant der Freiheit sieht, tut sich mit Annahme einer Werteordnung der Grundrechte weniger schwer. So ist es nach wie vor geboten, von einem Wertesystem des Grundgesetzes auszugehen. Art. 79 Abs. 3 GG bildet den Ausgangspunkt des Systems, das durch die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze, d. h. durch die Verknüpfung der Grundrechte mit staatsorganisatorischen Ausformungen gebildet wird. Das Grundgesetz hat sich für den Verfassungsstaat in Gestalt des sozialen Rechts- und Bundesstaats als Organisationsform des sozialen Zusammenlebens entschieden. Dem Verfassungsstaat geht es in erster Linie um die Freiheit des Individuums. Er beruht auf dem Verteilungsprinzip. Prinzipiell ist die dem Staat vorgegebene Freiheit des Einzelnen unbegrenzt, die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre begrenzt. 30 Die individuelle Freiheit stößt im Interesse der Freiheit Dritter auf Schranken und soziale Bindungen. Der Verfassungsstaat erfordert ein austariertes System von Freiheitsgewährleistungen und gleichen Freiheitseinschränkungen. Staatliche Freiheitsbeschränkungen werden legitimiert, wenn sie zum Ausgleich kollidierender individueller Freiheitsrechte dienen und den individuellen Freiheitsgebrauch aller erst ermöglichen. Garant der Freiheit kann der Staat im sozialen Rechts- und Bundesstaat nur sein, wenn er neben sozialen Mindeststandards die individuelle Daseinssicherung ermöglicht und bundesweit gleichwertig eine adäquate Infrastruktur gewährleistet. 31 Dies gilt auch für den postnationalen Gewährleistungsstaat des 21. überpositives Recht meint oder ob die Werteordnung allein durch die Systematik des Grundgesetzes, namentlich der Grundrechte, gebildet wird - vgl. BVerfGE 10, 59 (81); 12, 114 (124); 21, 362 (372); 25, 256 (263); 28, 243 (261); 33, 303 (330); 34, 269 (280); 35, 79 (114); 35, 202 (219); 37, 57(65); 39, 1 (41); 49, 89 (142); 52, 131(165 f.); 52, 223 (247); 80, 182 (186) - , ehe es nur noch auf objektivrechtlichen Grundrechtsgehalte abstellte. 26
M. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, Berlin 2000; H. D. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, S. 35 ff. 27
NJW 2004, 3581; vgl. auch BVerwGE 102,142 (145 f.).
28
E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., München 1976, S. 130 ff. (134 f.); vgl ferner H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, Baden-Baden 1973; hiergegen K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / 2 , München 1994, S. 665 ff. 29 Hierzu M. Ronellenfitsch, Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff, in: W. Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff, Berlin 2003, S. 53 ff.
30 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 126; H. Bethge, Der Grundrechtseingriff, V V D S t R L 57 (1998), l O f f ( 1 1 f.).
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Jahrhunderts. Im fortbestehenden Staat der Industriegesellschaft stellt die Optimierung der Verkehrsinfrastruktur eine Staatsaufgabe von hoher Wertigkeit dar. Planfestzustellen Infrastrukturvorhaben kommt von Verfassungswegen von ein hoher Rang im Rahmen der planerischen Abwägung zu.
2. Grundrecht auf Mobilität und Daseinsvorsorge Zum Wertesystem des Grundgesetzes zählt das eigenständige, durch systematischen Auslegung aus dem Grundgesetz gewonnene, Grundrecht auf M o b i l i t ä t . 3 2 Das Grundrecht trägt dazu bei, dem Wertesystem Konturen zu verleihen. Das System besteht im Ausgleich von Freiheiten und Bindungen. Die Freiheiten sind unterschiedlich stark, weil der Staat zur Wahrung gegenläufiger Werte mit Verfassungsrang unterschiedlich intensiv Freiheitsbeschränkungen vornehmen kann. Das Verteilungsprinzip wird nicht allein konkretisiert durch das Verständnis von Art. 2 Abs. 1 GG als Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit und historisch mehr oder weniger zufällige speziell geregelte Freiheitsrechte. Vielmehr gibt es benannte und unbenannte Freiheiten. 33 Die Anerkennung unbenannter Freiheiten dient dazu, Lücken des Freiheitsschutzes zu schließen. Auch bei der Grundrechtsinterpretation ist das Gesamtbild mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein qualitativer Sprung bei den Grundrechten muss angenommen werden, wenn ein unbenanntes Freiheitsgrundrecht ein derart eigenständiges Gewicht erlangt hat, dass der Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit zu kurz greifen würde. Die Verkehrsmobilität wird auch durch die allgemeine Handlungsfreiheit erfasst. So fällt das Führen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr 34 unter Art. 2 Abs. 1 GG. Es bestehen weitgehende Beschränkungsmöglichkeiten der allgemeinen Handlungsfreiheit. Schranke ist bereits die verfassungsgemäße Rechtsordnung. Bei der kollidierenden wichtigen Rechtsgütern wie Leib, Leben und Eigentum Dritter, aber auch dem Umweltschutz wäre die Lage für die Verfechter der Mobilität schlecht, wenn sie sich nur auf die allgemeine Handlungsfreiheit berufen könnten. Jedoch ist der Mobilitätsgehalt zahlreicher benannter Grundrechte evident. 3 5 Die Mobilität ist nicht nur Voraussetzung des Grundrechtsgebrauchs, sondern in Schutzbereich etwa von Art. 4, 5, 8, 11 und 12 GG verankert. Gleichwohl genügt es nicht, den Mobilitätsaspekt bei der Würdigung der allgemeinen Handlungsfrei31 Hierzu bereits M. Ronellenfitsch, Planerische Vorfestlegungen für die eisenbahnrechtliche Fachplanung (Bundesverkehrswegeplanung, Schienenwegeausbauplanung, Raumordnung) zur Wahrung der föderalen Daseinsvorsorge - Besinnung auf den harmonischen Bundesstaat - , in: ders./R. Schweinsberg (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Eisenbahnrechts I X , Hamburg 2004, S. 21 ff.
32 M. Ronellenfitsch,
SächsVBl. 2006 (im Druck).
33 BVerfGE 54, 148 (153); H.-U. Erichsen, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. V I , Heidelberg 1989, § 152, Rdnr. 24. 34 Vgl. BVerfG, NJW 2005, 349, 350. 35 Vgl. auch umfassend A. Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, Berlin 1997.
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heit bzw. bei den benannten Grundrechten mit Mobilitätsgehalt zu berücksichtigen. Die Grundrechte mit Mobilitätsgehalt beeinflussen und verstärken sich wechselseitig. Verkehrsmobilität ist nicht nur die Fähigkeit, sich von Punkt A zu Punkt Β zu bewegen. Vielmehr hat die Mobilität auch einen kommunikativen Einschlag. Mobilität ermöglicht und erweitert den Kontakt mit den Mitmenschen und der Umwelt. Die Mobilität begründet ein interaktives System von Verkehrsbeziehungen, an dem grundsätzlich alle partizipieren. Daraus resultiert bei der Abwägung des Mobilitätsgrundrechts dessen Mehrwert. Bei dem Kombinationsgrundrecht auf Mobilität handelt es sich um ein übergreifende Grundrecht. M i t der Anerkennung eines Grundrechts auf Mobilität ist ein Mehrwert bei der Abwägung verbunden. Die Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts und der Gemeinschaftsrechts reflektiert auf der Ebene des einfachen Rechts der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorg e , 3 6 da der soziale Rechtsstaat nur dann Garant der Freiheit sein kann, wenn er soziale Mindeststandards und eine der Grundrechtsverwirklichung adäquate Infrastruktur gewährleistet. Sozialstaatliche Daseinsfürsorge und rechtsstaatliche Daseinsvorsorge ergänzen sich. Die dem modernen Staat obliegenden Leistungsaufgaben bestehen gegenüber allen, nicht nur den sozial Schwachen. Wo Private nicht in der Lage sind, eine flächendeckende Versorgung mit Daseinsvorsorgeleistungen zu gewährleisten, besteht eine entsprechende staatliche Einstandspflicht. Der Rechtsbegriff der Daseinsvorsorge gewinnt zwar erst Konturen, wenn es gelingt, seinen Anwendungsbereich abzustecken. Unstreitig ist es aber eine originäre staatliche Aufgabe, die für das Funktionieren der Industriegesellschaft unentbehrliche Verkehrsinfrastruktur zu gewährleisten. Das gilt auch auf Gemeinschaftsebene. Die Staatenverbindung der E U nimmt für sich im Binnenbereich Elemente der Staatlichkeit in Anspruch. Sie wird nicht nur durch den Binnenmarkt, sondern auch durch Erfüllung von Daseinsvorsorgeaufgaben im Interesse der Gemeinschaftsbürger legitimiert. Nach Art. 16 EG kommt „Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" besondere Bedeutung z u , 3 7 die in die Abwägung bei der Planfeststellung von Infrastrukturprojekten für solche Dienste einfließt.
3. Leben, Gesundheit; Eigentum Art. 2 Abs. 2 Satzl GG schützt mit dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit Grundrechte von höchsten Rang. Namentlich das Grundrecht auf Leben „stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar". 3 8 Aber auch Gesundheitsbeeinträchtigungen hat der Staat nicht nur zu vermeiden, sondern er verpflichtet die mit der Formulierung dieser Grundrechte getroffene Wertentscheidung den Staat dazu, die bezeichneten Rechtsgüter zu schützen und zu fördern. Bei der Erfüllung der Schutz und Förderpflicht besteht ein weiter Gestaltungsspielraum. 39 36
Hierzu M. Ronellenfitsch
(Anm. 30).
37 Zutreffend R. Streinz, E u Z W 1998, 137 ff. 38 BVerfGE 49, 244 (53).
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Im Vordergrund sollten materielle Vorgaben stehen. In Betracht kommt aber auch ein Grundrechtsschutz durch adäquate Gestaltung von Verwaltungsverfahren. 40 Eine Planfeststellung, die rechtswidrige Gesundheitsbeeinträchtigungen ermöglicht, verletzt diese Schutzpflicht. 41 Als materielle Voraussetzung des Freiheitsgebrauchs schützt Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG das Eigentum als Grundrecht und I n s t i t u t 4 2 Das Eigentum ist normgeprägt und sozialgebunden. Die Konkretisierung der Sozialbindung gemäß Art. 14 Abs. 2 GG erfolgt durch Abwägung zwischen den Interessen des Eigentümers und den öffentlichen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. 43 Eine Abwägung ist auch geboten, wenn der Planfeststellungsbeschluss für ein im öffentlichen Interessen liegendes Vorhaben enteignungsrechtliche Vorwirkungen entfaltet. 4 4 Zwar ist dann zunächst eine Art. 14 Abs. 3 GG standhaltende, in vollem Umfang justiziable Planrechtfertigung erforderlich. Hierfür genügt aber, dass das Vorhaben vernünftigerweise geboten ist. 4 5 Das dem Abwägungsgebot vorgeschaltete Erfordernis der Planrechtfertigung beschränkt sich auf die Kontrolle, ob das Vorhaben mit den maßgeblichen fachplanerischen Zielvorgaben übereinstimmt. 4 6 Die Dringlichkeit der auf der Ebene der Planrechtfertigung zugrunde gelegten Zielvorstellung bestimmt sodann gleichzeitig das Gewicht der in die Abwägung einzustellenden öffentlichen Belange 4 7 Das wirkt sich auf die konkrete Inanspruchnahme von Grundstücken Privater aus. Zu beachten ist hier nicht nur der Grundsatz des geringst möglichen Eingriffs in das Grundeigentum, sondern auch die nach der Rechtsprechung 48 zu unterstellende „Minderwertigkeit" öffentlicher Grundstücke im Verhältnis zu Privatgrundstücken. Eine vorrangige Inanspruchnahme öffentlicher Flächen kommt freilich nur in Betracht, wenn das Vorhaben „gleich gut auch auf Grundstücken der öffentlichen Hand verwirklicht werden k a n n " . 4 9 Maßgeblich ist dabei die Erreichung des mit dem Vorhaben angestrebten Zwecks. Im Rahmen der Variantenprüfung sind daher Kriterien wie das der Verkehrswirksamkeit, der Umweltverträglichkeit und schließlich der Wirtschaftlichkeit und mit dem Erhaltungsschutz des Eigentums Privater abzuwägen. Hierzu müssen der Vorhabenträger und die Planfeststellungsbehörde die konkreten Bestandsinteressen des betroffenen Eigentümers kennen.
39 H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, GG, 7. Aufl., München 2004, Art. 2 Rn. 71. 40 BVerfGE 49, 89 (140 ff.); 53, 30 (65 ff.). 41 BVerwGE 107,350 (357). 42 BVerfGE 24, 367 (389); 97, 350 (370 f.), 102, 1(15). 43 W. Berg, JuS 2005, 961 ff. (965). 44 BVerwGE 45, 297 (319); 56, 249 (264 f.); 74, 264 (282); 95, 1 (22); BVerwGE 98, 339 (346). « BVerwGE 48, 56 (60); 56, 110 (118 f.); 71, 166 (168), 72, 282 (284); 75, 214 (233); 84, 123 (130); 107, 142(145); 120, 1 (3). 46 BVerwG 114,364(375). 47 BVerwG, Buchholz 442.40 § 9 L u f t V G Nr. 6; BVerwGE 107, 142 (145). 4« BVerwG, N V w Z 2002, 1506; O V G Berlin, BRS 57 Nr. 12. 49 BVerwG, N V w Z 2002, 1506(1507).
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4. Kommunikation und Informationsfreiheit Soziales Zusammenleben erfolgt durch wechselseitigen Austausch und Verständigung. Diesen Lebensvorgang nennt man Kommunikation. 5 0 Kommunikation bezeichnet den Informationsaustausch. Gegenstand der Kommunikation ist die Information. 5 1 Die Information dient im Kommunikationsprozess der Kenntnisvermittlung und Meinungsbildung. Alles was zu diesem Zweck beiträgt - fremde Willensäußerungen, Meinungen, Gedanken, Behauptungen, Nachrichten, Auskünfte kann Informationscharakter haben. 52 Generell hat nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG jeder das Recht, sich aus „allgemein zugänglichen Quellen" ungehindert zu informieren. Die allgemeine Informationsfreiheit ist auf Verfassungsebene schwach ausgeprägt. Über die Modalitäten des Zugangs entscheidet, wer über ein entsprechendes Bestimmungsrecht verfügt. 5 3 „Legt der Gesetzgeber die Art der Zugänglichmachung von staatlichen Vorgängen und damit zugleich das Ausmaß der Öffnung dieser Informationsquelle fest, so wird in diesem Umfang zugleich der Schutzbereich der Informationsfreiheit eröffnet' 4 . 54 Einfachgesetzlich ist die Informationsgesellschaft mit der Neufassung des Umweltinformationsgesetzes 55 und dem Erlass des Informationsfreiheitsgesetzes 56 weit vorangekommen. Immerhin schützen beide Gesetze vor dem Zugriff auf personenbezogene Daten. In Planfeststellungsverfahren bestehen demgegenüber spezielle Informationsansprüche der Beteiligten, die - dem Kommunikationscharakter des Verfahrens Rechnung tragend - über die allgemeinen Informationsansprüche hinausgehen.
50
Der Ausdruck „Kommunikation" stammt vom lateinischen „communicare" = gemeinschaftlich machen, teilen, und von „communicatio" = Mit-Teilung. Im deutschen Sprachraum bürgerte sich „Kommunikation" als Lehnwort für „sprachliche Verständigung, Unterhaltung und Mitteilung" ein. 51 Der Ausdruck „Information" wurde ebenfalls aus dem lateinischen „informatio" = Nachricht, Auskunft, Belehrung" bzw. „in-formare" = „bilden, unterrichten" entlehnt.
52 BVerfGE 67, 157 (171). 53 BVerfGE 103,44(60). 54 BVerfGE 103,44(61). 55 Art. 1 des Gesetzes zur Neugestaltung des Umweltinformationsgesetzes und zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel vom 22. 12. 2004 (BGBl. I S. 3704). Durch dieses Gesetz wird die Richtlinie 2 0 0 3 / 4 / E G vom 28. 1. 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zum Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 9 0 / 3 1 3 / E W G (ABl. Mr. L 41 S. 26) umgesetzt. Zu beidem Burr, Erweiterter Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen - Die neue EG-Umweltinformationsrichtlinie, N V w Z 2003, 1071 ff.; A. Nückel /A. Wasielewski, DVB1. 2005, 1351 ff.; B. Werres, DVB1. 2005, 611 (617 ff.) 56 Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz - IFG) vom5. 9. 2005 (BGBl. I S. 2722). Vgl. Schubert, D u D 2001, 400 ff.; M. Kloepfer, D Ö V 2003, 221 ff.; ders.JS. von Lewinski, DVB1. 2005, 1277 ff.; F. Schoch, in: Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 247 ff.; ders., D Ö V 2006, 1 ff.; Kugelmann, NJW 2005, 3609 ff.; H. L. Weber, R D V 2005, 243 ff.
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5. Informationelle Selbstbestimmung M i t der Kreation des Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung", das von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst wird und die Befugnis des Einzelnen gewährleistet, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, 5 7 hat das BVerfG den Datenschutz als „starkes" Grundrecht in der Verfassung verankert. Auch als starkes Grundrecht ist die informationelle Selbstbestimmung nicht schrankenlos. Ob ohne weiteres auf die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden und eine Feinsteuerung über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfolgen kann 5 8 oder ob die Abwägungsstruktur eher der Güterabwägung bei immanenten Schranken entspricht, sei dahingestellt. Jedenfalls hat eine nachvollziehbare Gewichtung der informationellen Selbstbestimmung im jeweils konkreten Abwägungszusammenhang zu erfolgen. Die Wertigkeit der informationellen Selbstbestimmung steht somit nicht von vornherein fest. 5 9 Die Wertigkeit findet ihren Niederschlag in der Anwendung und Auslegung der allgemeinen Datenschutzgrundsätze im jeweiligen Sachzusammenhang. Im Kontext der Planfeststellung ist den Belangen des Planfeststellungsverfahrens als kommunikativen Prozess der Problembewältigung Rechnung zu tragen.
6. Praktische Konkordanz Wer seine Grundrechte, namentlich die auf Leben, Gesundheit und Eigentum durch ein planfestzustellende Vorhaben bedroht sieht, muss sich offenbaren. Die Erhebung von Einwendungen und die Einlegung von Rechtsbehelfen ist regelmäßig mit der Preisgabe persönlicher Daten verbunden. Werden die Daten in individualisierter Form dem Vorhabenträger mitgeteilt oder gar ohne Anonymisierung zur Information der Öffentlichkeit bekannt gemacht, liegt ein Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung vor, der an der Rechtswahrung hindern kann. Ein derartiger Eingriff bedarf der Rechtfertigung. Zur Rechtfertigung kann nicht kurzerhand auf die Kommunikationsfunktion des Planfeststellungsverfahrens abgestellt werden mit der Folge, dass die Datenschutzgrundsätze völlig verdrängt werden. 6 0 Andererseits sind die Datenschutzgrundsätze unter Berücksichtigung der Kommunikationsfunktion des Planfeststellungsverfahren zu sehen. Der Vorhaben57 BVerfGE 65, 1,43. 58 So U. Di Fabio, in: Th. M a u n z / G . Dürig u. a. (Hrsg.), GG, Loseblatt, München, Art. 2 Rn. 133. 59 Das Volkszählungsurteil beruht auf dem Prinzip der gleitenden Skala. Diese nimmt in Art. 2 Abs. 1 GG ihren Ausgang, der lediglich den Grundbereich unbenannter Freiheitsrechte markiert, und bewegt sich auf Art. 1 Abs. 1 GG zu. Je näher das Pendel der Skala bei Art. 1 Abs. 1 GG ausschlägt, desto strenger sind die Voraussetzungen für die Einschränkung, desto größer wird die Begründungslast für die Beschränkung. 60 In diese Richtung aber V G H Bad.-Württ. vom 19. 6. 1 9 8 9 - 5 S 3111191 -. 25 FS Bartlsperger
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träger und die Planfeststellungsbehörde können Einwendungen oft nur zureichend beurteilen, wenn ihnen der Einwender bekannt ist. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könnte man wie folgt vorgehen: Die allgemeine Handlungsfreiheit ist Bestandteil der Werteordnung des Grundgesetzes. Diese nimmt in Art. 1 Abs. 1 GG ihren Ausgang und markiert lediglich den Grundbereich unbenannter Freiheitsrechte, die sich auf einer gleitenden Skala auf Art. 1 Abs. 1 GG zu bewegen. Je näher das Pendel der Skala bei Art. 1 Abs. 1 GG ausschlägt, desto strenger sind die Voraussetzungen für die Einschränkung, desto größer wird die Begründungslast für die Beschränkung. Dieser Argumentationsansatz wird beispielsweise im Volkszählungsurteil des Bundsverfassungsgerichts verfolgt. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist nach diesem Verständnis nicht alleinige sedes materiae der Mobilität, sondern nur der Ausgangspunkt für die Würdigung von Freiheitspositionen, die durch einen engen Bezug zur Menschenwürde oder durch Sachnähe zu stärkeren Grundrechten oder Verfassungsaussagen an Gewicht zunehmen können.
V. Folgerungen Die allgemeinen Datenschutzgrundsätze finden auch im Planfeststellungsverfahren Anwendung, 6 1 werden aber durch die Belange der Beteiligten modifiziert. Einwendungen, die personebezogene Daten enthalten, dürfen an den Vorhabenträger oder sonstige Verfahrenbeteiligte nur weitergegeben werden, wenn dies ausschließlich für Zwecke des Planfeststellungsverfahrens erfolgt und für die planerische Abwägung erforderlich ist, wenn Gestaltung und Auswahl von für die Abwägung verwendeten Datenverarbeitungssystemen am Ziel der Datenvermeidung und Datensparsamkeit ausgerichtet sind und vor allem, soweit dies eine Rechtsvorschrift erlaubt oder anordnet - das ist im Planfeststellungsrecht regelmäßig nicht der Fall oder der Betroffene hierzu ohne jeden Zweifel einwilligt. I m allgemeinen Datenschutzrecht muss die Einwilligung grundsätzlich ausdrücklich erfolgen. In Planfeststellungsverfahren werden die Einwendungen dagegen üblicherweise ohne ausdrückliche Einwilligung personenbezogen an den Vorhabenträger weitergegeben, 6i BVerfGE 77, 121; BVerfG, N V w Z 1990, 1162. Anders BVerwG v. 14. 8. 2000 - V R 10.00, AV S. 5. „Der Informationsaustausch dient nicht nur der Vorbereitung des Erörterungstermins, in dem sich der Einwender ebenso wie in einem etwa nachfolgenden gerichtlichen Verfahren ohnehin mit seinen persönlichen Daten zu erkennen geben muss, und ist insoweit von § 73 Abs. 6 V w V f G gedeckt. Er erfüllt zugleich den verfassungsrechtlichen Anspruch der Vorhabenträger und Antragsteller des Planfeststellungsverfahrens auf rechtliches Gehör und faires Verfahren. Es ist nicht erkennbar, dass das . . . Datenschutzgesetz diesen verfahrensinternen Informationsaustausch, der mit der Weitergabe von Schriftteilen durch das Gericht an die übrigen Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens verglichen werden kann, hat regeln oder beschränken wollen." Doch! Genau dies ist der Fall. Vgl. auch zur Nichteinsehbarkeit von Aktenteilen, die Einwendungen Privater enthalten, i m Zusammenhang mit dem Einsichtsrecht in Umweltinformationen HessVGH vom 5. 1. 2006 - 12 Q 2828/05 - , AV S. 11 f.
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damit dieser sich konkret mit der Einwendung auseinandersetzen und gegebenenfalls Planänderungen vornehmen oder Entschädigungsreglungen treffen kann. Der Interessenlage der Planfeststellung entsprechend, genügt die mutmaßlichen Einwilligung in die Weitergabe der persönlichen Daten. Die Erhebung der Einwendung impliziert die Einwilligung in die Weitergabe der persönlichen Daten. Macht ein Einwender jedoch geltend, dass die personenbezogene Weitergabe ihn in seinen Rechten verletzt, darf die Anhörungsbehörde die Einwendung lediglich in anonymisierter Form an den Vorhabenträger weiterleiten. Was die Erforderlichkeit angeht, so gilt: Nur soweit der Vorhabenträger sich gezielt mit individuellen Einwendungen auseinandersetzen muss kann auf eine Anonymisierung verzichtet werden. Das macht es erforderlich, zwischen anonymen Jedermann-Einwendungen und individualisierbaren Betroffenen-Einwendungen zu unterscheiden. Die Hilfsbegründung des BVerwG i m Beschluss vom 14. 8. 2000 11 VR 10.00 - zur Planfeststellung für den Flughafen Berlin-Schönefeld 62 ist in der Tendenz richtig, bedarf aber einer datenschutzfreundlicheren Korrektur. Nur wenn der Vorhabenträger die individualisierten Einwendungen wirklich benötigt, kann er beanspruchen, die Einwendungen nicht anonymisiert zu erhalten.
Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben Möglichkeiten zur Sicherstellung von Raumverträglichkeit Von Willy
Spannowsky, Kaiserslautern
I. Die Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben als Erscheinungsbild und Trend Seit einigen Jahren zeichnet sich im Bereich des Einzelhandels der Trend ab, dass jeweils für sich betrachtet unter der Schwelle der Großflächigkeit bleibende Einzelhandelsbetriebe im unmittelbaren Nahbereich parallel oder sukzessive an einem Standort angesiedelt werden, ohne dass im Einzelfall der Nachweis der konzeptionellen Funktionseinheit der Einzelhandelsbetriebe geführt werden kann. Erkennbar und empirisch nachweisbar ist jedoch, dass häufig ein Discounter, ein Voll sortimenter und ein Getränkemarkt räumlich so verbunden werden, dass für den Kunden der Vorteil greifbar wird, bei Anfahrt dieses Standorts verschiedene Einkäufe zeitsparend auf einmal erledigen zu können. Problematisch ist dies, soweit solche agglomerierten Einzelhandelsansiedlungen, die in der Summe und in ihren kumulativen Auswirkungen die Schwelle der Großflächigkeit überschreiten, außerhalb des unter dem Gesichtspunkt der Raumverträglichkeit für solche Entwicklungen im Regionalplan dargestellten Einzelhandelsschwerpunktes oder außerhalb eines dafür vorgesehenen Ergänzungsstandortes, der nur für nicht zentrenrelevante Sortimente geplant ist, errichtet werden. Denn dadurch wird nicht nur die Steuerungsfähigkeit der Regionalplanung auf den Prüfstand gestellt, sondern es werden auch raumfunktionelle und -strukturelle sowie städtebauliche Fehlentwicklungen in den betroffenen Standortgemeinden als auch deren Nachbargemeinden angebahnt. Eine Standortkonzeption für die Einzelhandelsentwicklung, die der verbrauchernahen Versorgung, die den Anforderungen von Behinderten, Familien mit Kindern und Senioren dient, Rechnung trägt, die eine Zersiedelung und unangemessene Verkehrserschließung mit nicht tragfähigen Folgelasten bei gleichzeitig zurückgehender Bevölkerungszahl verhindert, die die Funktionsfähigkeit zentralörtlicher Versorgungskerne und Zentraler Orte sichert, eine Zerschlagung intakter örtlicher Versorgungsstrukturen und die Verringerung des Flächenangebots für notwendige gewerbliche Investitionen verhindert, kann dadurch durchkreuzt oder gar vereitelt werden. Deshalb stellt sich die Frage, ob und inwieweit solche Fehlentwicklungen, die durch Agglomerationen von Einzelhandelsbetrieben ausgelöst werden, durch raumordnerische Steuerung verhindert werden können.
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II. Die rechtlichen Mittel der Bundesländer zur Steuerung der Ausweisung von Flächen für den großflächigen Einzelhandel Aufgrund der neueren Entwicklung der Rechtsprechung des BVerwG 1 steht fest, dass die Landesplanung befugt ist, raumfunktionelle und -strukturelle Fehlentwicklungen durch die Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe zu verhindern. Dies wird vom Gesetzgeber durch die neueren Änderungen des BauGB in den § § 2 Abs. 2 und 34 BauGB unterstrichen. Die Reichweite der Steuerungsmöglichkeiten hinsichtlich der Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe ist zwar bis heute umstritten, 2 jedoch hat die neuere Rechtsprechung des BVerwG die bisherige Diskussion in der Literatur kanalisiert und zu einer Klärung beigetragen. Bislang wurde die gesetzliche Steuerungswirkung gem. § 11 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BauNVO für den Bereich der Bauleitplanung und die Steuerungswirkung der Raumordnungsplanung der Länder auf Einkaufszentren und solche Vorhaben des großflächigen Einzelhandels bezogen, die sich nach Art, Lage oder Umfang auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken können. Ausgehend von der gesetzlichen Regelungsvermutung wurden solche Auswirkungen bei Betrieben des großflächigen Einzelhandels angenommen, wenn die Geschossfläche 1200 m 2 überschritt. Soweit Vorhaben mit geringerer Geschossfläche solche Auswirkungen erzeugt haben, ist die standortbezogene Steuerungswirkung des § 11 Abs. 3 S. 1 BauNVO davon abhängig, dass für solche Vorhaben mit geringerer Geschossfläche im Einzelfall der Nachweis solcher erheblicher Auswirkun-
1 Vgl. BVerwG, Urt. v. 18. September 2003, Az. 4 C N 2 0 / 0 2 , N V w Z 2004, 226 (227) und BVerwG, Urt. v. 17. September 2003, Az. 4 C 14/01, N V w Z 2004, 220 (224)- Nur scheinbar widersprüchlich sind die Entscheidung des O V G Münster (Urt. v. 06. Juni 2005, Az.: 10 D 145/04) und die des O V G Lüneburg (Urt. v. 01. 09. 2005, Az.: 1 L C 107/05). Beide Entscheidungen respektieren den raumordnerischen Steuerungsbedarf und den Gestaltungsspielraum der Landesgesetzgeber. Beide sind in Bezug auf die landesrechtlichen Festlegungen zu unterschieden Ergebnissen gelangt, stehen aber im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerwG. Das O V G Münster hat die von dem BVerwG formulierten Anforderungen bezüglich Regel-Ausnahme-Zielen auf die zu beurteilende nordrhein-westfälische Festlegung übertragen und ist diesbezüglich zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ausnahmen nicht hinreichend bestimmbar seien. Demgegenüber hat das O V G Lüneburg für die niedersächsische Rechtslage das Vorliegen raumordnerischer Ziele bejaht und hat darin auch keinen Verstoß gegen das kommunale Selbstverwaltungsrecht gesehen. 2 Vgl. einerseits W Hoppe, N V w Z 2004, 282 (285 f.) und ders., NWVB1. 1998, S. 461 ff. und ders., Raumordnungsrechtliche Beschränkungen großflächiger Einzelhandelsbetriebe, DVB1. 2000, 1078 ff.; in raumwissenschaftlicher Hinsicht J. Deiters, Informationen zur Raumentwicklung, 10.1996, S. 631 und andererseits H. H. Blotevogel, Informationen zur Raumentwicklung, 10.1996, S. 647 ff. (655) sowie W. Spannowsky, NdsVBl. 2 / 2 0 0 1 , S. 32 (34); ders., UPR 7 / 2 0 0 3 , 248 (250); ders., in: Bielenberg /Runkel /Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Berlin 2005, § 7 Rn. 57 ff. und Rn. 96 ff.
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gen geführt wird. Die Steuerungswirkung der Raumordnung bezieht sich vor allem auf großflächige Vorhaben des Einzelhandels, die nach der Regelvermutung des § 11 Abs. 3 S. 1 BauNVO raumstrukturelle und -funktionelle Auswirkungen haben können. Soweit sich die Steuerung an dem im Landesentwicklungsprogramm der Länder verankerten Zentrale-Orte-Prinzip ausrichtet, werden daraus folgende Anforderungen abgeleitet und von den Bundesländern teilweise kombiniert und unterschiedlich konkretisiert in den jeweiligen Raumordnungsplänen aufgestellt, um eine raumstrukturell und -funktionell verträgliche Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe sicherzustellen: 1. Das Vorhaben ist, soweit keine Ausnahmen vorgesehen sind, in einem Zentralen Ort zu errichten. 2. Der MikroStandort in der Gemeinde soll, soweit keine Ausnahmen zugelassen sind, städtebaulich integriert sein (Integrationsgebot). 3. Großflächige Einzelhandelsbetriebe sind in zentralen Orten vorzusehen (Konzentrationsgebot). Betriebe mit mehr als 2.000 m 2 Geschossfläche kommen in der Regel (abgesehen von konkret bestimmten Ausnahmen) nur für Mittel- und Oberzentren in Betracht. 4. Der Einzugsbereich darf den zentralörtlichen Verflechtungsbereich der Ansiedlungsgemeinde nicht wesentlich überschreiten (Kongruenzgebot 3 ). 5. Die verbrauchernahe Versorgung, insbesondere der nicht mobilen Bevölkerung darf durch den Betrieb nicht gefährdet werden (Beeinträchtigungsverbot).
III. Ansätze zur regionalplanerischen Steuerung in den Fällen der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben Die landes- und regionalplanerischen Vorschriften der Bundesländer zur Steuerung der Einzelhandelsentwicklung beziehen sich fast ausschließlich auf raumbedeutsame Einzelhandelsgroßprojekte. Sie enthalten zwar teilweise Ansätze, aber keine differenzierte Regelung zum Thema der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben. Es stellt sich daher die Frage, ob und inwieweit aufgrund des geltenden Rechts negative Auswirkungen solcher Agglomerationen auf die städtebauliche und raumordnerische Entwicklung verhindert werden können. Der Einzelhandelserlass des Wirtschaftsministeriums des Landes Baden-Württemberg (Verwaltungsvorschrift des Wirtschaftsministeriums zur Ansiedlung von Einzelhandelsgroßprojekten - Raumordnung, Bauleitplanung und Genehmigung von Vorhaben) geht davon aus, dass für Agglomerationen das Kongruenzgebot und das Beeinträchtigungsverbot entsprechend zur Anwendung kommen (vgl. 3.5). Al3
Noch nicht höchstrichterlich entschieden ist, ob und inwieweit das Kongruenzgebot ein zulässiges Steuerungsmittel ist.
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lerdings sieht er als Agglomeration (vgl. 2.3.3) nur diejenigen Fälle, in denen die einzelnen Betriebe aus der Sicht der Kunden als aufeinander bezogen, als durch ein gemeinsames Konzept und durch Koordination miteinander verbunden in Erscheinung treten oder diejenigen Fälle, in denen mehrere an sich selbständige, nicht großflächige Einzelhandelsbetriebe als ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb angesehen werden können, weil diese Betriebe eine Funktionseinheit bilden. Eine solche Funktionseinheit liegt vor, wenn die Betriebe ein bestimmtes gemeinsames Nutzungskonzept haben, aufgrund dessen die einzelnen Betriebe wechselseitig voneinander profitieren und das die Betriebe nicht als Konkurrenten, sondern als gemeinschaftlich verbundene Teilnehmer am Wettbewerb erscheinen lässt. Dabei stützt sich der Einzelhandelserlass auf die Rechtsprechung des BVerwG (vgl. Urteil vom 27. April 1990 - 4 C 16.87 - , BauR 1990, S. 573 und V G H BW, Beschluss vom 22. Januar 1996 - 8 S 2964/95 - , BRS 58, Nr. 201). Ähnlich ist die Beurteilung gemäß des nordrhein-westfälischen Einzelhandelserlasses des M i nisteriums für Bauen und Wohnen vom 07. 05. 1996. Die Beurteilung von Agglomerationen, die diesen Einzelhandelserlassen zugrunde liegt und die an die Rechtsbegriffe Einkaufszentrum und großflächiger Einzelhandelsbetrieb im Sinne von § 11 Abs. 3 S. 2 BauNVO anknüpft, ist nicht zu beanstanden. Nicht erfasst werden davon aber solche Formen der Agglomeration, in denen die Kriterien, die für eine Funktionseinheit sprechen, wie gemeinsames Nutzungskonzept, Verbindung durch Koordination, einheitliches Grundstück, einheitlicher Parkplatz mit einer Zufahrt, äußerlich einheitliches Gebäude, Projektierung und Projektdurchführung aus einer Hand und betriebliche Gesichtpunkte wie Kooperation, Werbung und Sortimentsabstimmung 4 von den Betrieben in der Genehmigungsphase bewusst vermieden werden, um eine Genehmigung erlangen zu können. Zu klären ist, ob und inwieweit auch solche Formen der Agglomeration, die durch ihr Zusammenwirken, ohne dass eine konzeptionelle Verbindung nachgewiesen werden kann, städtebauliche und raumfunktionelle sowie -strukturelle Fehlentwicklungen auslösen, am fraglichen Standort ausgeschlossen und an einen raumverträglichen Standort verwiesen werden können.
IV. Stand von Rechtsprechung und Literatur zu den Fällen der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben Nicht hinreichend bestimmt wäre eine Festlegung, die eine „Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben" unter den gleichen Voraussetzungen wie großflächige Einzelhandelsbetriebe ohne nähere Charakterisierung ausschließen würde. Zwar 4 Vgl. dazu eingehend BayVGH, Beschl. v. 07. Juli 2003 - 20 CS 03.1568 - , ZfBR 7 / 2 0 0 3 , S. 698 (699) sowie vorausgehend BVerwG, Urt. v. 22. 5. 1987, BayVBl. 1988, 52 (56); BVerwG, Urt. v. 27. 4. 1990, N V w Z 1990, 1074; O V G Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 03. 11. 1988 - 11 A 2 3 1 0 / 8 6 - , ZfBR 1989, 175 f.; O V G Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 04. 0 5 . 2 0 0 0 - 7 A 1 7 4 4 / 9 7 - , N V w Z 2000, 1066 ff. = BauR 10/2000, S. 1453 (1455).
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können textliche Festlegungen in Raumordnungsplänen wie Festsetzungen in einem Bebauungsplan auch mit unbestimmten Rechtsbegriffen getroffen werden, wenn sich ihr näherer Inhalt unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse und des erkennbaren Willens des Normgebers erschließen lässt, 5 doch fehlt es an der hinreichenden Bestimmbarkeit, wenn zulässige und unzulässige Anlagentypen nicht zu unterscheiden sind. 6 Deshalb kann ohne eine differenzierte regionalplanerische Regelung eine Agglomeration nur unter der Voraussetzung ausgeschlossen werden, dass die Voraussetzungen eines Einkaufszentrums oder eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs im Sinne von § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und 2 BauNVO vorliegen. Soweit mehrere kleinere Betriebe mit einer Größe von jeweils unter 1200 m 2 Geschossfläche in räumlichem und zeitlichem Zusammenhang errichtet werden, zu vorhandenen Betrieben hinzutreten oder vorhandene Betriebe entsprechend erweitert oder umgenutzt werden, können solche Agglomerationen folglich nur dann in ihrem Zusammenhang gewürdigt werden, wenn sie zu Vorhaben im Sinne von § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 BauNVO werden. Insofern ist der Einzelhandelserlass nicht zu beanstanden. Die Problematik liegt dabei freilich bei der Nachweisbarkeit des Vorliegens der Voraussetzungen eines solchen Sonderfalls der Agglomeration im Einzelfall und der Durchsetzbarkeit der rechtlichen Konsequenzen, insbesondere dann, wenn einzelne Bauanträge für verschiedene Betriebe vorliegen. Vor diesem Hintergrund hat die Rechtsprechung die Versagung von Baugenehmigungen im Sonderfall der Agglomeration von für sich unterhalb der Großflächigkeit bleibenden Einzelhandelsbetrieben bislang nur unter der Voraussetzung versagt, dass mehrere bautechnisch jeweils für sich selbständige „Läden", die für sich unterhalb der Schwelle der Großflächigkeit lagen, als Funktionseinheit zu werten waren und daher wie ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb oder ein Einkaufszentrum zu behandeln waren. So hat das OVG Nordrhein-Westfalen 7 zwei „Läden", für die eine Baugenehmigung in einem Gewerbegebiet beantragt worden war, als Funktionseinheit gewertet und wegen des Eingreifens der Regelvermutung des § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BauNVO die Genehmigung für die Errichtung dieser Betriebe im Gewerbegebiet versagt. Als Kriterien, die für eine „Funktionseinheit" sprechen, wurden angesehen: gemeinsames Nutzungskonzept, wofür auch ausreichend ist, wenn die Betriebe aufgrund eines Konzepts wechselseitig voneinander profitieren und das gemeinsame Konzept an den objektiven Gegebenheiten ablesbar ist. Als Indizien dafür wurden angeführt: der gewählte Sortimentszuschnitt, der aus der Sicht der Kunden eine Erledigung der Einkaufsvorgänge für den täglichen Bedarf Zeit und Kosten sparend an einem einheitlichen Ort ermöglicht; die Nut5 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 1995 - 4 Β 3.95 - , BRS 57 Nr. 26 = BauR 1995, S. 662 sowie O V G Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 09. Oktober 2003 - 10 a D 5 5 / O l . N E - (noch nicht veröffentlicht) für den Bebauungsplan. 6 Dies gilt auch für den Ausschluss „zentrumstypischer Einzelhandelsbetriebe", vgl. O V G Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 01. Oktober 1996 - 10 a D 102/96.NE - , BauR 3 / 9 7 , S. 436 f.
7 Vgl. O V G Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 04. Mai 2000 - 7 A 1744/97 - , N V w Z 2000, 1066 ff. = BauR 10/2000, S. 1453 (1455).
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zung eines Synergieeffekts eines gemeinsamen Standorts im Hinblick auf sich ergänzende Sortimente für eine konkret identische Zielgruppe und das konkret vorgesehene Stellplatzangebot, das dem eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs gleicht. Das BVerwG 8 hat die Versagung einer Baugenehmigung wegen der Unzulässigkeit eines Einzelhandels am fraglichen Standort auch für den Fall bejaht, in dem in der zeitlichen Abfolge bereits vorher andere Vorhaben verwirklicht worden sind, die aber in einem funktionellen Zusammenhang mit dem beantragten Vorhaben stehen. In diesem Fall sollte ein allgemein zulässiger Einzelhandelsbetrieb in einem Mischgebiet errichtet werden, in dem nach dem Planungswillen der Gemeinde eine Massierung von Einzelhandelsbetrieben nicht eintreten sollte. Eine summierende Betrachtung, bei der die vorhandenen Betriebe mit den hinzukommenden Betrieben der Klägerin zusammengerechnet werden, hat das BVerwG abgelehnt, weil eine Funktionseinheit nicht angenommen werden könne. Das Gericht hat die Unzulässigkeit deshalb auch nicht mit § 11 Abs. 3 BauNVO begründet, sondern mit § 15 Abs. 1 BauNVO, wonach zulässige bauliche und sonstige Anlagen im Einzelfall nach ihrer Anzahl wegen der Eigenart des Baugebiets und ihrem Widerspruch dazu unzulässig sein können. In einem anderen Fall hat das BVerwG 9 i m Rahmen einer Revision beanstandet, dass das Berufungsgericht ein Vorhaben, das in den Eingabeplänen im eigentlichen Hallenbereich als Lagerfläche von 400 m 2 und als Ausstellungs- und Verkaufsfläche von 1.000 m 2 beschrieben war, als ein im Gewerbegebiet unzulässiges Einkaufszentrum im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BauNVO qualifiziert hatte. Das BVerwG hat in dieser Entscheidung die Kriterien für ein Einkaufszentrum darin gesehen, dass ein Einkaufszentrum schon aus systematischen Gründen aus mindestens zwei Betrieben bestehen müsse. Ein einzelner Betrieb könne stets nur ein großflächiger Betrieb im Sinne des § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 BauNVO sein. Als ein einzelner Betrieb in diesem Sinne könne auch eine Funktionseinheit zwischen zwei oder mehreren Betrieben gelten. Hinsichtlich der Größe der einzelnen zu einem Einkaufszentrum gehörenden Betriebe sowie der notwendigen Breite ihres Warenangebots ließen sich kaum eindeutige Abgrenzungskriterien finden. Entscheidendes Gewicht werde letztendlich darauf gelegt, ob eine räumliche Konzentration von Einkaufsmöglichkeiten des Einzelhandels im Einzelfall die Bedeutung eines „Zentrums" im Sinne einer Sog- oder Magnetwirkung auf die Kunden in der Umgebung habe. Einschränkend betonte das BVerwG insofern aber, dass auch diesen Merkmalen je für sich gesehen letztlich nur indizielle Bedeutung beizumessen sei. Soweit das Berufungsgericht für den Fall des nachträglichen Zusammenwachsens mehrerer selbständiger Betriebe zu einem Einkaufszentrum darauf abgestellt hatte, dass Zentralität auch dann bestehen oder entstehen könne, wenn sich in einer Ansammlung einzelner Betriebe ein überdurchschnittlich großes und leistungsfähiges Unternehmen befinde, so dass die Kunden Einkäufe bei diesem Unternehmen bequem mit weiteren 8 Vgl. BVerwG, Urt. v. 04. M a i 1988 - 4 C 3 4 / 8 6 - , BVerwGE 79, 309 ff. = NJW 1988, 3168 ff. 9 Vgl. BVerwG, Urt. v. 27. April 1 9 9 0 - 4 C 1 6 / 8 7 - , UPR 1990, S. 339 f.
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Einkäufen in der Umgebung verbinden könnten, hat es diese Tatsachen für das Vorliegen eines Einkaufszentrums nicht als ausreichend angesehen. Dies folge aus dem Umstand, dass der Verordnungsgeber Einkaufszentren, ohne dass für diese das Vorliegen der weiteren für großflächige Einzelhandels- und sonstige Handelsbetriebe geltenden, in § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 BauNVO beschriebenen nachteiligen Auswirkungen als Voraussetzungen normiert sind, also ohne weitere tatbestandliche Voraussetzungen, außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten zugelassen hat. Infolgedessen müsse ausgehend von der Wertung des Verordnungsgebers eine deutliche Abgrenzung des Einkaufszentrums von einer bloßen Ansammlung von Läden vorgenommen werden. Denn die bloße Ansammlung von Läden, die sich in Ausübung jeweils zulässiger baulicher Nutzungen in einem Gebiet entwickeln, habe der Verordnungsgeber in § 11 Abs. 3 BauNVO nicht erfassen wollen. In einer weiteren Entscheidung hat das B V e r w G 1 0 es für möglich angesehen, dass aus einer zufälligen Ansammlung von Betrieben ein Einkaufszentrum entstehen könne, wenn die Betriebe als durch ein gemeinsames Konzept und Kooperation verbunden in Erscheinung treten, sei es durch gemeinsame Werbung oder durch eine verbindende Sammelbezeichnung. Trete zu einem großflächigen Einzelhandelsbetrieb mit besonders starker Anziehungskraft nur ein weiterer Einzelhandelsbetrieb hinzu, ohne dass beide Betriebe auf die Kunden als kooperierende Unternehmen wirkten, handele es sich um eine bloße Ansammlung von Betrieben. Das BVerwG setzt folglich für das Entstehen eines ungeplant durch Hineinwachsen entstandenen Einkaufszentrums das Vorhandensein einer in einem gemeinsamen Konzept und Koordination erkennbare Funktionseinheit voraus. Schenke 11 hat die Entscheidung des BVerwG kritisiert, die Notwendigkeit des Vorliegens eines gemeinsamen Konzepts, führe zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten und lade zur Umgehung der Vorschrift des § 11 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO geradezu ein. Eine Ansammlung von Läden, die für sich gesehen noch kein Einkaufszentrum sei, könne durch das Hinzutreten weiterer Einzelhandelsgeschäfte in ein Einkaufszentrum „umkippen". Da eine planerische Absicht für den Begriff des Einkaufszentrums nicht konstituierend sei, könne eine etappenweise faktisch bewirkte Bildung eines Einkaufszentrums nicht aus dem Anwendungsbereich des § 11 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO ausgeklammert werden. Diese Auffassung wird jedoch von Jahn und von Fickert / Fieseier abgelehnt. Jahn 1 2 hält dem entgegen, dass diese Auslegung eine unzulässige Zurechnung von Auswirkungen eines Drittbetriebes bewirken würde, die gar nicht Gegenstand des Genehmigungsverfahrens sei. Und auch Fickert/Fieseier 1 3 lehnen eine Ausweitung des Begriffs des Einkaufszentrums auf eine zeitlich sukzessiv entstehende Ansammlung von Läden im Anwendungsbereich des § 11 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO mit der Begründung ab, dass io BVerwG, Beschluss v. 15. 02. 1995 - 4 Β 84.94 - , ZfBR 1995, 338. •ι Vgl. W.-R. Schenke, W U R 2 / 1 9 9 0 , S. 61 (67). 12 So ausdrücklich R. Jahn, UPR 1989, 371. 13 Vgl. H. C Fickert/H. Rn. 18.5 und 18.6.
Fieseier, Baunutzungsverordnung, 10. Aufl., Köln 2002, § 11,
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der Willkür der Behörden keine Grenzen gesetzt sei, nach Belieben jede zufällige Ansammlung von Betrieben als Einkaufszentrum zu beurteilen. Das „Windhundprinzip", wonach der letzte die magische Schwelle der „Auswirkungen" überschreite, lasse sich dem Wortlaut des § 11 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO nicht entnehmen. M i t der Ablehnung der Möglichkeit eines sukzessiven ungeplanten Hineinwachsens einer Ansammlung von Betrieben in die Rechtsfolgen eines Einkaufszentrums ist auch die Schlussfolgerung verbunden, dass das Überschreiten einer bestimmten Größe allein nach der Rechtsprechung des BVerwG und der herrschenden Meinung in der Literatur für die Qualifizierung als Einkaufszentrum nicht ausreichen könne. Das B V e r w G 1 4 hat der Großflächigkeit als Merkmal nur indizielle Bedeutung - als einem Merkmal neben anderen - beigemessen. Schenke 15 und Hoppe/Beckmann haben entgegen der Auffassung des O V G Münster angenommen, dass die notwendige Gesamtgröße abhängig von der räumlichen Umgebung zu bestimmen sei und in der Regel erheblich über der in § 11 Abs. 3 S. 3 und 4 BauNVO genannten Geschoßflächengrenze liegen müsse. Schenke meint zutreffend, es sei zu differenzieren, ob eine Ansammlung räumlich integrierter Einzelhandelsgeschäfte in einer Großstadt oder im ländlichen Raum liegt. Die Großflächigkeit ist wegen ihrer Abhängigkeit von strukturellen Besonderheiten eine relative Größe. 1 6 Jahn hat insofern die Problematik auf den Punkt gebracht: „Werden in einem Bauquartier nacheinander mehrere (großflächige oder nicht großflächige) Einzelhandelsbetriebe angesiedelt, die für sich betrachtet unbedenklich sind und zusammengefasst (noch) kein Einkaufszentrum bilden, so kann das Hinzutreten eines weiteren Betriebes, der das Warensortiment der anderen ergänzt und damit planungsrelevante Auswirkungen hervorruft, begrifflich zur Geburt eines Einkaufszentrums führen. Gleichwohl kann im Baugenehmigungsverfahren die Ansiedlung des letzten Bauwerbers nicht mit der Begründung abgewiesen werden, sein Vorhaben sei ein „Einkaufszentrum" und damit nach § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BauNVO unzulässig". Soweit Schenke 17 dem entgegenhält, dass sich die Notwendigkeit der Versagung der Baugenehmigung nicht daraus ergebe, dass das neue Einzelhandelsgeschäft ein Einzelhandelszentrum sei, sondern daraus, dass durch dessen Hinzutreten ein solches konstituiert werde, bleibt jedoch die durch § 11 Abs. 3 BauNVO ungelöste Problematik der Zurechenbarkeit, zumal für die Annahme eines Einkaufszentrums keine Wirkungsanalyse vorausgesetzt wird. Anders ist dies nur unter den Voraussetzungen des Vorliegens einer „Funktionseinheit" 1 8 oder im Fall der Korrekturmöglichkeit im Einzelfall gem. § 15 Abs. 1 BauNVO. Fickert/Fieseier und Stock 1 9 sind sich jedoch in der Auffassung einig, dass die Agglomeration mehrerer nicht '4 Vgl. BVerwG, Urt. v. 27. April 1990, UPR 1990, 339 f. is Vgl. W.-R. Schenke, UPR 1986, 281 (288); ders., N V w Z 1989, 632 (634). 16 So ebenfalls Jahn (Anm. 12), 375. '7 So ausdrücklich Schenke, W U R 2 / 9 0 , 65. 18 19
Ebenso im Ergebnis Jahn (Anm. 12), 375 f.
J. Stock, in: H. K ö n i g / T h . Roeser/ders., Baunutzungsverordnung, München, 2003, § 11, Rn. 51.
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unter die Vermutungsregel fallender Betriebe zu einer größeren Einheit mit „Auswirkungen" nach wie vor ein gravierendes Problem sei, das allenfalls mit § 15 Abs. 1 BauNVO, aber mit dieser Vorschrift allein, nicht allgemein bewältigt werden könne. Danach lassen sich diejenigen Fälle der Ansammlung mehrerer Einzelhandelsbetriebe (Agglomeration), die für sich betrachtet weder großflächige Einzelhandelsbetriebe sind noch in ihrer Summe ausnahmsweise wegen Funktionseinheit als Einkaufszentrum zu betrachten sind, nicht über § 11 Abs. 3 BauNVO steuern. Nur ausnahmsweise können sie wegen Widerspruches zur Eigenart des Baugebiets gem. § 15 Abs. 1 BauNVO als unzulässig beurteilt werden. Denkbar ist, dass in Fällen, in denen die Einzelhandelsbetriebe erst getrennt auftreten, dann aber nach der Erteilung der Baugenehmigungen ihre Sortimente und ihr Auftreten in der Weise ändern, dass eine Funktionseinheit gemäß den Kriterien der Rechtsprechung eindeutig nachgewiesen werden kann, sich wegen der dadurch bedingten Nutzungsänderung nicht mehr auf die bisherige Baugenehmigung stützen können, sondern nunmehr als großflächige Einzelhandelsbetriebe oder gar als Einkaufszentrum im Sinne von § 11 Abs. 3 Nr. 2 und 1 BauNVO zu behandeln sind und wegen der Nutzungsänderung einer Baugenehmigung bedürfen, die am fraglichen Standort zu versagen sein kann. Sind an die nachträgliche Konzept- und Sortimentsänderung von Einzelhandelsbetrieben, die zunächst getrennt, dann aber als Einheit aufgetreten sind, gem. § 11 Abs. 3 Nr. 1 und 2 BauNVO weitergehende Anforderungen zu stellen, ist diese Nutzungsänderung grundsätzlich genehmigungspflichtig (vgl. § 59 Abs. 1 Musterbauordnung und die entsprechenden landesrechtlichen Regelungen). Freilich ist in einem solchen Fall die Macht des Faktischen nicht zu unterschätzen. Immerhin sind die Einzelhandelsbetriebe bereits gebaut. Abgesehen davon ist der Nachweis des Vorliegens einer Funktionseinheit auch im Nachhinein kaum zu führen, wenn von den Einzelhandelsbetrieben ein entsprechender Anschein vermieden wird. Entfaltet also eine Ansammlung mehrerer Einzelhandelsbetriebe, ohne dass der Nachweis des Vorliegens einer Funktionseinheit geführt werden kann, gleichwohl in ihrer Summe am fraglichen Standort schädliche Auswirkungen, bleibt nur der Weg, die Raumverträglichkeit solcher Ansammlungen mehrerer Einzelhandelsbetriebe durch Regionalplanung sicher zu stellen.
V. Möglichkeiten zur Steuerung in den Fällen der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben Soweit meration BauNVO lung mit
die Einzelhandelserlasse der Länder die Sonderproblematik der Agglothematisieren, lehnen sie sich an die Rechtsprechung zu § 11 Abs. 3 an und erfassen bislang nur die Agglomerationen, die eine GleichstelEinkaufszentren bzw. großflächigen Einzelhandelsbetrieben unter dem
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Aspekt der Funktionseinheit erlauben. So heißt es beispielsweise ähnlich wie i m Einzelhandelserlass des Landes Baden-Württemberg: 1. im gemeinsamen Einzelhandelserlass des Ministeriums für Stadtentwicklung, Kultur und Sport, des Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Technologie und Verkehr, des Ministeriums für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft und des Ministeriums für Bauen und Wohnen v. 7. M a i 1996 - I I A 1 - 901.11 - des Landes Nordrhein-Westfalen: „Auswirkungen im Sinne von § 11 Abs. 3 S. 2 BauNVO können jedoch auch dadurch gegeben sein, dass mehrere kleinere Betriebe mit einer Größe von jeweils nicht wesentlich unter 1200 m 2 Geschoßfläche in räumlichem Zusammenhang errichtet werden, zu vorhandenen Betrieben neue Betriebe unter 1200 m 2 hinzutreten oder vorhandene Betriebe entsprechend erweitert oder umgenutzt werden sollen. Solche als isolierte Einzelfälle ggf. für sich unbedenkliche Vorhaben müssen in ihrem Zusammenwirken gesehen werden und können durch eine derartige Agglomeration gemeinsam zu Vorhaben i. S. des § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 BauNVO, wenn nicht sogar zu einem Einkaufszentrum werden (Nr. 2. 2. 1). A u f die Zulässigkeitsbeschränkung durch § 15 B a u N V O wird hingewiesen (Nr. 5.1.5)". Ergänzend wird dann in 2.2.1 auf die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Funktionseinheit nach der Rechtsprechung Bezug genommen. 2. in der Handlungsanleitung zur landesplanerischen Überprüfung von Einzelhandelsgroßprojekten in Bayern vom 1. August 2002 des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie: „Wenn zwei oder mehrere Einzelhandelsgroßprojekte i m gleichen zentralen Ort i m wesentlichen mit gleichem Sortiment zeitgleich beantragt werden, müssen sie auch im Hinblick auf ihre Summenwirkung" geprüft werden. Zeitgleich bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Summenwirkung geprüft werden muss, solange für ein Projekt noch kein Baurecht (Baugenehmigung oder rechtswirksamer Bebauungsplan) vorliegt und ein weiteres oder mehrere weitere Vorhaben zur Beurteilung anstehen. Ist jedoch für ein landesplanerisch positiv beurteiltes Vorhaben bereits Baurecht vorhanden, so kann auf das Vorhaben aus landesplanerischer Sicht kein Einfluss mehr genommen werden. Gegenstand der landesplanerischen Überprüfung ist grundsätzlich jedes Vorhaben für sich, d. h. für jedes Vorhaben muss eine landesplanerische Beurteilung ohne Berücksichtigung anderer Vorhaben erstellt werden. Darüber hinaus ist aber zu prüfen, ob die Projekte auch gemeinsam (insbesondere i m Hinblick auf die Kaufkraftabschöpfung, vgl. III. 2. 6) mit den Erfordernissen der Raumordnung i m Einklang stehen. Zu diesem Zweck ist aus dem Kaufkraftpotential und der Raumleistung eine Obergrenze für eine sortimentspezifische Verkaufsfläche zu errechnen, die insgesamt maximal errichtet werden d a r f . . . „Die Verkaufsflächenobergrenze ist in den landesplanerischen Beurteilungen für jedes einzelne Vorhaben als Maßgabe aufzunehmen. Die Umsetzung der Maßgabe und ggf. die Aufteilung der maximal zulässigen Verkaufsfläche erfolgt im Rahmen der kommunalen Bauleitplanung. Die Träger der Vorhaben sind von der höheren Landesplanungsbehörde auf das Vorhandensein eines anderen Vorhabens und eine evtl. Verkaufsflächenobergrenze hinzuweisen." 3. im Einzelhandelserlass des Ministeriums für Bau, Landesentwicklung und Umwelt des Landes Mecklenburg Vorpommern vom 5. Juli 1995 - V I I I 4 1 0 505.3 - 4 - : „Der Gesichtspunkt der Funktionseinheit kann unter Umständen auch in Fällen zum Tragen kommen, in denen die Verkaufsflächen des neuen Betriebes sogar unter den für die
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„Großflächigkeit" im Sinne des § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 BauNVO erforderlichen Maßen liegen. Hier ist eine Summierung mit den Flächen benachbarter Flächen ausnahmsweise zulässig, falls die genannten Voraussetzungen für eine funktionelle Einheit gegeben sind (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4. Mai 1988 - 4 C 34.86, NJW 1988, S. 3168, 3169)."
Diese Regelungen in den Einzelhandelserlassen ermöglichen nur eine Erfassung von Fällen der Agglomeration, in denen die Ansammlung wegen des Vorliegens eines einheitlichen Konzepts bzw. eines wechselseitigen funktionellen Bezugs als Funktionseinheit qualifiziert werden kann. Fraglich ist, ob und inwieweit darüber hinaus, auch Fälle der Ansammlung von Einzelhandelsbetrieben in die raumordnerische Steuerung einbezogen werden können, in denen ein einheitliches Konzept nicht nachgewiesen werden kann, die aber trotz zeitlich versetzter Realisierung und unterschiedlicher Antragssteller sich später konzeptionell oder hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkungen so verknüpfen lassen, dass sie am fraglichen Standort dieselben räumlichen Auswirkungen entfalten wie ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb. Nach der Analyse der Entscheidungen der Rechtsprechung und der Literatur ist im Hinblick auf die Möglichkeiten zur Steuerung in den Fällen der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben festzustellen, dass sich sowohl die Entscheidungen der Rechtsprechung als auch die Fachaufsätze, soweit sie sich mit diesen Fällen befassen, auf die Auslegung des § 11 Abs. 3 BauNVO beziehen. Diese Vorschrift steht im Zusammenhang mit der bauleitplanerischen Steuerung der Nutzungsmöglichkeiten hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung mittels der am Prinzip der Nutzungstrennung orientierten Gebietstypisierung. Insoweit stößt die Rechtsanwendung auf die Grenzen des § 11 Abs. 3 BauNVO. Aus den daraus folgenden Feststellungen zur bauleitplanerischen Steuerung lassen sich indessen keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen hinsichtlich der Grenzen der regionalplanerischen Steuerung ableiten. Insbesondere schließen diese auf die Bauleitplanung bezogenen Entscheidungen nicht aus, dass die raumordnungsplanerische Steuerung - ausgehend von raumfunktionellen und -strukturellen Erfordernissen - gemeindegebietsübergreifend für den Fall der Agglomeration mehrerer Betriebe zusätzliche Anforderungen aufstellt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die raumordnungsplanerische Steuerung auch Ansammlungen von Läden erfasst, die nach der Wertung des Verordnungsgebers gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 BauNVO weder als Einkaufszentrum noch als großflächiger Einzelhandelsbetrieb zu qualifizieren sind. Allerdings müssen sich etwaige denkbare raumordnungsplanerische Steuerungsvorgaben für den Fall der Agglomeration mehrerer Betriebe auch durchsetzen lassen. Dies setzt insbesondere voraus, dass die an die Ziele der Raumordnung gebundene Bauleitplanung solche Vorgaben auch realisieren können muss. Da Ziele der Raumordnung im Geltungsbereich des § 34 BauGB nicht unmittelbar dem Vorhaben entgegengesetzt werden können, können sie nach § 34 Abs. 3 BauGB n. F. nur insoweit Bedeutung erlangen, als durch sie unter raumfunktionellen und -strukturellen Aspekten auch schädliche Auswirkungen auf
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zentrale Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden abgewehrt werden sollen. Daraus folgt, dass die Ansammlung mehrerer Betriebe über den Regelungsbereich des § 11 Abs. 3 S. 1 BauNVO hinaus zum Gegenstand einer raumordnungsplanerischen Steuerung gemacht werden kann. Diese muss aber um durchsetzbar zu sein, eine verfassungskonforme Beschränkung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts und des Eigentumsrechts der Grundstückseigentümer und Investoren bilden, muss also als Ziel der Raumordnung verbindlich sein, um eine Beachtenspflicht auslösen zu können und muss durch Bauleitplanung zu verwirklichen sein. Im Bereich der Regionalplanung werden bislang zwei Modelle zur Steuerung der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben eingesetzt: 1. die Vorgabe von Schwellenwerten der Kaufkraftabschöpfung für den großflächigen Einzelhandel, wobei bei mehreren Vorhaben die Summenwirkung hinsichtlich der festgesetzten Schwellenwerte für maßgebend erklärt wird. So hat die Planungsgemeinschaft Westpfalz im Regionalen Raumordnungsplan folgende Zielfestlegung getroffen: „Zur Sicherung der flächendeckenden Versorgung auch und gerade im ländlichen Bereich werden Schwellenwerte der Kaufkraftabschöpfung für den großflächigen Einzelhandel für den kurzfristigen Bedarf in den Nahbereichen sowie für den mittel- bis langfristigen Bedarf in den Mittelbereichen festgesetzt. Die Festsetzung der Schwellenwerte erfolgen in den Textkarten,,... „ Z Ein Vorhaben ist aus Sicht des zentralörtlichen Versorgungsgefüges zulässig, wenn der festgesetzte Schwellenwert nicht überschritten wird; bei mehreren Vorhaben ist die Summenwirkung maßgebend".
2. die durch Festlegung bestimmte Gleichstellung der Ansammlung von Läden mit großflächigen Einzelhandelsbetrieben durch Anknüpfung an eine Mindestgröße für Verkaufsflächen, mit deren Erreichen bzw. Überschreiten eine nicht nur unwesentliche Wirksamkeit auf die Ziele der Raumordnung unabhängig vom Sortiment angenommen wird. So bestimmt der Regionalplan Ingolstadt „ Z Ansiedlung und Erweiterung von Einzelhandelsgroßprojekten - dazu zählen auch Ansammlungen von Einzelhandelsbetrieben mit der Wirkung eines Einzelhandelsgroßprojektes - sollen sich an der zentralörtlichen Funktion der Gemeinde orientieren. Dabei darf die Funktionsfähigkeit zentraler Orte nicht wesentlich beeinträchtigt werden".
In der Begründung zu diesem Regionalplan wird davon ausgegangen, dass eine nicht nur unwesentliche Wirksamkeit auf die Ziele der Raumordnung häufig mit einer Mindestgröße verbunden sei. Sie liege bei der kurzfristigen Bedarfsdeckung regelmäßig bei einer Größe von ca. 800 m 2 Verkaufsfläche. Die vom BVerwG (BVerwG v. 22. 5. 1987 - 4 C 19.85) noch genannten 700 m 2 Verkaufsfläche hätten sich durch die Änderung des Käuferverhaltens, das inzwischen regelmäßig größere Distanzen überwinde, auf ca. 800 m 2 erhöht). Ob nicht nur unwesentliche Auswirkungen zu vermuten seien, unterliege einer Einzelfallprüfung.
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Beide Modelle dürften prinzipiell zum Ausschluss von raumfunktionell und -strukturell wesentlichen Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit zentraler Orte sowie bestehender Versorgungsstrukturen geeignet sein. Da raumordnerische Vorgaben für die Ansiedlung von Einzelhandelsbetrieben das Eigentumsrecht der Grundstückseigentümer und Investoren einschränken, müssen sie sachlich gerechtfertigt sein und dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit standhalten. Es handelt sich um Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums, die durch oder aufgrund eines Gesetzes vorgesehen werden können, die aber zur gesetzgeberisch erstrebten Zielsetzung geeignet, erforderlich und angemessen sein müssen. Ausschlaggebend ist, ob eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Beschränkung der Agglomeration von für sich betrachtet nicht großflächigen Einzelhandelsbetrieben an einem bestimmten Standort vorhanden ist. Hierfür reicht die allgemeine Ermächtigung des § 7 Abs. 2 Nr. 1 ROG, wonach Raumordnungspläne Festlegungen zur Raumstruktur, insbesondere zur Siedlungsstruktur, enthalten sollen, nicht aus. Vielmehr muss die Ermächtigungsgrundlage durch den Landesplanungsträger konkretisiert werden. Eine solche Grundlage enthalten sowohl die Festlegung in dem Landesentwicklungsprogramm Bayerns von 2003 (auch im Entwurf des Landesentwicklungsprogramms 12. 07. 2005) als auch die Festlegungen im Hessischen Landesentwicklungsprogramm 2000, S. 18 und in § 11 Abs. 3 LP1G BadenWürttemberg. Allerdings ist die Reichweite dieser Ermächtigungen unterschiedlich. Während in Bayern nur Agglomerationen „ i m Anschluss an Einzelhandelsgroßprojekte" „vermieden werden sollen", erstreckt der hessische Landesentwicklungsplan vom 13. 12. 2000 das Konzentrations- und Integrationsgebot auch auf Agglomerationen von mehreren Einzelhandelsbetrieben. Eine Grundlage für solche Festlegungen in Regionalplänen bildet § 11 Abs. 3 LP1G Baden-Württemberg. Gemäß Satz 1 dieser Regelung enthält der Regionalplan Festlegungen zur anzustrebenden Siedlungsstruktur und zu den zu sichernden Standorten, soweit es für die Entwicklung und Ordnung der räumlichen Struktur erforderlich ist. Im Regionalplan sind unter anderem Standorte für Einkaufszentren, großflächige Einzelhandelsbetriebe und sonstige großflächige Handelsbetriebe festzulegen. Diese Regelung macht nur Sinn, wenn damit der Zweck verfolgt wird, mit dieser Standortfestlegung eine raumverträgliche Standortentwicklung im Bereich der Ansiedlung von Einzelhandelsbetrieben sicher zu stellen. Gedeckt sind dadurch auch Festlegungen bezüglich der Ansammlung von Läden, die die räumlichen Wirkungen eines Einzelhandelsgroßprojektes entfalten. Besser wäre es freilich, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit der Steuerung von agglomerierten Einzelhandelsbetrieben ebenfalls ausdrücklich vorgesehen hätte. Aus Wortlaut, Sinn und Zweck des § 11 Abs. 3 LP1G BadenWürttemberg lässt sich eine Befugnis der Regionalplanung ableiten, entsprechende Festlegungen zu treffen, soweit dies für die Entwicklung und Ordnung der räumlichen Struktur der Region erforderlich ist. Dies folgt insbesondere daraus, dass bei der Festlegung von Schwerpunkten für Industrie, Gewerbe und Dienstleistungseinrichtungen „insbesondere" Standorte für Einkaufszentren, großflächige Einzelhandelsbetriebe und sonstige großflächige Handelsbetriebe vorgesehen werden kön26 FS Bartlsperger
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nen. Daraus kann geschlossen werden, dass dann, wenn eine Ansammlung von Läden die gleichen Wirkungen wie ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb erzeugt, auch diese Ansammlung der regionalplanerischen Steuerung unterworfen werden kann. Zur näheren Bestimmung der Fälle der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben, in denen eine Gleichstellung mit den großflächigen Einzelhandelsbetrieben wegen der erheblichen räumlichen Wirkungen gerechtfertigt ist, kann auf quantitative und qualitative Bewertungsfaktoren zurückgegriffen werden. Es kann also zur Erfassung der kritischen Fälle der Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben auf den Größenmaßstab für großflächige Einzelhandelsbetriebe abgestellt werden. Da die sachliche Rechtfertigung für die Steuerung der Ansammlung von Läden aus der regionalplanerischen Aufgabenstellung resultiert, muss mit dem Größenmaßstab auch ein qualitativer Maßstab verknüpft werden. Maßgebend ist danach, ob durch eine Ansammlung von Läden raumstrukturell und/oder -funktionell so erhebliche Auswirkungen ausgelöst werden, die zu wesentlichen Beeinträchtigungen von zu schützenden und zu sichernden Raumfunktionen und -strukturen führen können. Festgemacht werden können solche Auswirkungen im Hinblick auf die Verpflichtung der Regionalplanung auf die nachhaltige Raumentwicklung an der Wahrung von bestehenden funktionsfähigen Versorgungsstrukturen und an der Funktionsfähigkeit von Schwerpunkten oder Zentren. Denkbar ist, dass Schwellenwerte hinsichtlich der Kaufkraftabschöpfung zur näheren Bestimmung der Schwelle für schädliche Auswirkungen eingesetzt werden oder dass die Art der Ansammlung von Läden, die typischerweise solche erheblichen Auswirkungen haben, beschrieben und von einer Einzelfallprüfung hinsichtlich ihrer Auswirkungen abhängig gemacht wird. Sind dies Ansammlungen, die aus einem Discounter, Vollsortimenter und einem Getränkemarkt bestehen, könnten sie etwa ab Überschreiten einer gewissen Mindestgröße und im Fall des Zusammentreffens bestimmter Sortimente in ihren Auswirkungen den großflächigen Einzelhandelsbetrieben mit der Folge gleichgestellt werden, dass auch für sie das Integrationsgebot, das Kongruenzgebot und das raumordnerische Beeinträchtigungsverbot zur Anwendung kommen. I m Hinblick auf § 34 Abs. 3 und 3 a BauGB n. F. könnten die Anforderungen, wonach von Einzelhandelsbetrieben keine schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden zu erwarten sein dürfen, für solche agglomerierten Vorhaben, die innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile errichtet werden sollen, zugleich zum Gegenstand von Zielen der Raumordnung gemacht werden.
VI. Ergebnis in Kurzfassung Nach der derzeitigen Rechtslage sind die Fälle, in denen durch eine Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben, die durch sukzessives ungeplantes Hineinwachsen oder zwar aufgrund gemeinsamer, aber nicht nachweisbarer Konzeption entstehen, raumstrukturelle Fehlentwicklungen ausgelöst werden oder drohen, in den
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meisten Bundesländern nicht steuerbar, weil dafür entweder eine Rechtsgrundlage fehlt oder sich diese nicht auf die Fälle der Agglomeration von für sich unterhalb der Schwelle der Großflächigkeit bleibenden Einzelhandelsbetrieben erstreckt. Soll diese Lücke geschlossen werden, müssen entsprechende Ziele der Raumordnung formuliert werden. Denkbar ist, das Integrationsgebot und das raumordnerische Beeinträchtigungsverbot auch auf solche Ansammlungen von Läden zu erstrecken. Dies muss jedoch wegen der Beschränkungen, die damit für das Eigentumsrecht verbunden sind, aufgrund einer ausreichenden landesplanerischen Ermächtigungsgrundlage durch höhergewichtige raumordnerische Belange gerechtfertigt sein. Dies ist dann der Fall, wenn solche Ansammlungen von Läden an näher zu bestimmenden Standorten zu Auswirkungen führen, die denen eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs entsprechen, und wenn dadurch raumstrukturelle Fehlentwicklungen in Bezug auf die verbrauchernahe Versorgung der Bevölkerung oder in Bezug auf die den benachbarten Gemeinden durch das zentral-örtliche Gliederungssystem zugewiesenen Versorgungsfunktionen entstehen.
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für die Auslegung und Anwendung des § 906 BGB Von Klaus Vieweg und Thomas Regenfus, Erlangen
I. Einleitung Schon als 35-jähriger Professor war Richard Bartlsperger ein Mann klarer Worte und eindeutiger Positionen. Das zeigt seine - jetzt ebenfalls 35-jährige, aber noch immer lesenswerte - Anmerkung zum Splittwerk-Urteil des BGH. 1 Seitdem haben sich in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur beachtenswerte Entwicklungen vollzogen. Stichworthaft seien nur das Tennisplatz-Urteil des B G H 2 und die 18. BImSchV 3 genannt. Hinzu kommen tatsächliche Entwicklungen, insbesondere die zunehmende Verdichtung der Bebauung. Diese Entwicklungen lassen es lohnenswert erscheinen, den bisherigen Meinungsstand zu skizzieren (dazu II.) und die Grundsatzfrage des Verhältnisses von öffentlichem und privatem Nachbarrecht zu behandeln (dazu III.) sowie die Auswirkungen auf die Begriffe „wesentlich" und „ortsüblich" in § 906 BGB zu untersuchen (dazu IV.).
II. Meinungsstand Der Streit um die Beachtlichkeit von Bebauungsplänen im Rahmen der Auslegung und Anwendung des § 906 BGB ist untrennbar verbunden mit der Grundsatzfrage, ob dem öffentlichen Recht eine dominierende Rolle bei der Regelung der nachbarlichen Beziehungen zukommen soll oder ob die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen neben die zivilrechtlichen Regeln treten (sog. Zweispurigkeit). Dabei sind die beiden Ebenen der Vorhabenzulassung im Blick zu behalten, nämlich der Bebauungsplan und die Baugenehmigung. 4 Die folgende Darstellung ι R. Bartlsperger, DVB1. 1971, 745 f.; umfassend zuvor ders., VerwArch 60 (1969), 35 ff. 2
BGH, NJW 1983, 751 f.; vgl. dazu zuletzt H. Hagen, Harmonisierung des Lärmschutzes gegenüber Sport und Spiel: Rückschau und Ausblick, in: G. Crezelius u. a. (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, Rechnungslegung, Sportrecht, Festschrift für Volker Röhricht, 2005, S. 1175 (1176 f.). 3 Sportanlagenlärmschutzverordnung v. 18.07. 1991, BGBl. I, S. 1588, 1790. 4 Statt vieler M. Dolderer, DVB1. 1998, 19 (insbes. 20, 23); Ch. Enders, SächsVBl 2002, 289 (289 f.).
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befasst sich aus Raumgründen vorrangig mit den Auswirkungen der Bebauungspläne. Vor allem von „öffentlich-rechtlicher" Seite wurde und wird die Ansicht vertreten, dem Verwaltungsrecht komme die führende Rolle in Nachbarkonflikten zu. Bebauungspläne sollen danach die Maßstäbe für die Beurteilung der Zulässigkeit von Immissionen nach § 906 BGB über den Begriff „ortsüblich" beeinflussen 5 oder Duldungspflichten i.S.v. § 1004 Abs. 2 BGB begründen. 6 Die umfassende Regelung durch das öffentliche Nachbarrecht i m Bebauungsplan sei als speziellere und umfassendere vorrangig 7 und daher auch von den Zivilgerichten zu akzeptieren und umzusetzen. 8 Eine Parallelität zivil- und öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes sei entbehrlich, da auch das Verwaltungsrecht einen ausgeprägten und effektiven Individualschutz ermögliche. 9 Der Bundesgerichtshof 10 vertritt demgegenüber den Standpunkt, dass öffentlichrechtliche Regelungen bei der Bestimmung dessen, was „ortsüblich" i.S.v. § 906 Abs. 2 S. 1 BGB ist, nicht mit bindender Wirkung heranzuziehen seien. Den Festsetzungen eines Bebauungsplans komme allerdings Indizwirkung 1 1 zu. Vorrangig seien die tatsächlichen Verhältnisse, während die planerischen Vorgaben aus den Gebietsqualifizierungen der BauNVO nur als allgemeiner Anhalt für die Ermittlung der ortsüblichen Nutzung dienten, so dass nicht ausgeschlossen sei, verursachte Einwirkungen wegen Besonderheiten im Einzelfall als nicht mehr ortsüblich zu qualifizieren. 1 2 Bauleitpläne sollten nur der Vorbereitung und Leitung der baulichen oder sonstigen Nutzung der Grundstücke dienen; 1 3 ihnen komme dagegen keine entscheidende Bedeutung für die Beurteilung bereits bestehender Nutzungskonflikte z u . 1 4 Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des § 906 Abs. 2 S. 1 BGB (ebenso dem des § 906 Abs. 2 BGB a.F.), der allein auf die tatsächliche 5 H. Johlen , BauR 1984, 134 (135 ff.); G. Gaentzsch, UPR 1985, 201 (210). 6 G. Gaentzsch, N V w Z 1986, 601 (604); H.-J. Papier, Der Bebauungsplan und die Baugenehmigung in ihrer Bedeutung für den zivilrechtlichen Nachbarschutz, in: H.-J. Driehaus (Hrsg.), Baurecht - aktuell, Festschrift für Felix Weyreuther, 1993, S. 291 (296). 7 Bartlsperger,
VerwArch 60 (1969), 35 (37); ähnlich J. Schapp, 1978, S. 174 ff., 217 ff.
« Bartlsperger, DVB1. 1971, 745 f., 745 (746). 9 Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 (passim, insbes. S. 36 ff.); vgl. auch Gerlach (Anm. 9), 161 (162); Dolde re r (Anm. 4), 19 (20).
10 BGH, DVB1. 1971, 744 (745) m. w. N.; BGH, NJW 1976, 1204 (1205); auch BGH, NJW 1959, 1632 (1632). - Weitergehend, aber heute nicht mehr vertreten, für einen Vorrang des Zivilrechts ζ. Β. W. Dehner, 6. Auflage 1981, A § 7 I I (S. 31 ff.); M. Seilmann, DVB1. 1963, 273 (284 f.). " Dolderer (Anm. 4), 19 (22 f.) sieht hierin lediglich eine verbale Konzession, weil auch nach dieser Ansicht jedenfalls faktisch ein Vorrang des Zivilrechts bestehe. 12 Vgl. BGH, NJW 1983, 751 (752); NJW 1962, 2341 (2342) (insoweit in B G H Z 38, 61 nicht abgedruckt); Dehner (Anm. 10), A § 8 V I I I 3 (S. 89). 13 BGH, L M B G B § 906 Nr. 5, Nr. 39; NJW 1958, 1776 (1777); DVB1. 1968, 51 (51); DVB1. 1971,744 (745). 14 BGH, DVB1. 1971, 744 (745).
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für § 906 BGB
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Lage bei Schluss der letzten mündlichen Verhandlung abstelle. 15 Auch wenn aufgrund der planerischen Festsetzungen langfristig eine Wandlung der vorhandenen Nutzung hin zum vorgeschriebenen Gebietstypus zu erwarten sei, müsse man sich in der Übergangszeit noch nicht an den künftigen Zielen, sondern zivilrechtlich im Rahmen des § 906 BGB an den tatsächlichen Verhältnissen orientieren. 16 Diese Rechtsprechung wird von einem Teil der Literatur begrüßt, da sie - ebenso wie die inhaltsgleiche Regelung in § 2 Abs. 6 der 18. BImSchV - sachgerecht sei und auch dem Gebot der Rechtssicherheit entspreche. 17
III. Vorrangverhältnis zwischen öffentlichem Recht und Zivilrecht? Richtigerweise wird man weder einen Vorrang des öffentlichen Rechts noch einen solchen des Zivilrechts annehmen können. Die Begründungsansätze, mit denen ein Vorrang des öffentlichen Rechts - sei es wegen der Wirkung einer Baugenehmigung, sei es aufgrund des Bebauungsplans - begründet werden soll, sind alle nicht zwingend. Ein logischer Vorrang ergibt sich nicht schon daraus, dass der Bebauungsplan als Satzung erlassen wird (§ 10 Abs. 1 BauGB) und ihm damit Rechtsnormqualität zukommt. Zwar wird daraus gefolgert, er bestimme Inhalt und Schranken des Eigentums an dem Grundstück (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) und regele so die Befugnisse der Eigentümer und Nachbarn unmittelbar und abschließend 18 oder beschränke als „Gesetz" i.S.v. Art. 2 EGBGB die in § 903 S. 1 BGB niedergelegten „negativen" Befugnisse des Nachbarn. 1 9 Insofern ist aber gerade fraglich, wie weit die Regelungskraft des Bebauungsplans reicht. 2 0 A u f den ersten Blick einleuchtend scheint zwar das Argument, die Beurteilung des Bauens und Nutzens anhand zweier getrennter Rechtsordnungen sei ohne Syst e m 2 1 und für den bauwilligen Bürger unerfreulich. 22 Letztlich bedeute es einen Verstoß gegen die Einheit der Rechtsordnung, wenn das öffentliche Recht eine be15 BGH, L M BGB § 906 Nr. 6; NJW 1976, 1204 (1205); NJW 1992, 2569 (2569). '6 BGH, DVB1. 1971,744(745). >7 Säcker, in: MünchKomm-BGB, § 906 Rn. 20. 18
M. Quaas, Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht: Berührungspunkte und Überschneidungen in den Bereichen des Umwelt- und des Planungsrechts, in: Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 37 (44 f.); Dolderer (Anm. 4), 19 (23); Papier (Anm. 6), S. 291 (293 f.); Gaentzsch (Anm. 5), 201 (201 f.); Johlen (Anm. 5), 134 (136); auch H.-J. Birk, N V w Z 1985, 689 (697). 19 K. Kleinlein,
N V w Z 1982, 668 (669); Dolderer (Anm. 4), 19 (23, 24).
20 Vgl. Gaentzsch (Anm. 5), 201 (202); Enders (Anm. 4), 289 (290). 21 Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 (36). 22 Bartlsperger, „nicht einsehbar".
DVB1. 1971, 745 f., 745 (746); ähnlich
Johlen (Anm. 5), 134 (135):
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stimmte Nutzung erlaube, das Zivilrecht aber dennoch Abwehransprüche einräume und sie so verbiete. 23 Bei genauer Betrachtung liegt jedoch ein Normwiderspruch im eigentlichen Sinne nicht vor. Nicht ungewöhnlich ist, dass ein bestimmtes Verhalten unter dem einen rechtlichen Aspekt für unbedenklich erachtet wird, unter dem anderen aber missbilligenswert erscheint und daher verboten w i r d . 2 4 Ebenso liegt kein Normwiderspruch darin, dass trotz der öffentlich-rechtlichen Zulässigkeit ein Bauvorhaben aufgrund einer dinglich durch Dienstbarkeit gesicherten Baubeschränkung nicht verwirklicht werden darf. 2 5 Weiterhin kann dem BauGB und den Landesbauordnungen selbst kein Hinweis entnommen werden, dass die Rechtsinstitute des Bebauungsplans ( § § 8 ff. BauGB) und der Baugenehmigung (vgl. Art. 72 BayBO) eine verbindliche Regelung der Beziehungen der Grundstücksnachbarn darstellen sollen, und, um dies zu erreichen, eine das Privatrecht betreffende Präklusionswirkung 26 entfalten sollen. Gegen eine Bindungswirkung einer erteilten Baugenehmigung spricht insbesondere, dass sie nur schwer mit der in den meisten Landesbauordnungen enthaltenen ausdrücklichen Einschränkung, die Genehmigung werde „unbeschadet privater Rechte Dritter" erteilt, 2 7 vereinbart werden kann. 2 8 Umgekehrt fehlt eine ausdrückliche Präklusionsklausel, wie sie richtigerweise zu verlangen wäre, 2 9 sowohl im BauGB als auch in den Landesbauordnungen. 30 Ebenso wenig lässt sich dem BauGB entnehmen, dass sich die Rechtswirkungen der Bauleitpläne auch auf das Gebiet des Zivilrechts erstrecken sollen. 3 1 Eine unmittelbar privatrechtsgestaltende Wirkung ist nicht angeordnet. 32 23 Johlen (Anm. 5), 134 (135); vgl. auch Enders (Anm. 4), 289 (290); Gerlach (Anm. 9), 161 (175). 24
Selbst innerhalb des öffentlichen Rechts ist dies eine alltägliche Erscheinung, da z. B. die Vereinbarkeit mit den Regelungen des Bauplanungs- oder Bauordnungsrechts nicht besagt, dass das Vorhaben auch unter dem Gesichtspunkt des Wasserrechts oder des Denkmalschutzrechts durchgeführt werden darf. Vgl. BVerwG, N V w Z 2004, 1507 (1508): Festsetzung eines Überschwemmungsgebiets als andere Bestimmung i.S.v. § 29 Abs. 2 BauGB. 25 Vgl. zu einer Baubeschränkung auf eine „eineinhalbgeschossige Bauweise" BGH, NJW 2002, 1797 ff. 26 Vgl. - mit Unterschieden im Detail - Dolderer (Anm. 4), 19 (25); Gaentzsch (Anm. 6), 601 (606); ferner Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 (57). 27 Z. B. Art. 72 Abs. 4 BayBO; dazu H. König/H. Schwarzer, Bayerische Bauordnung, 3. Aufl. 2000, Art. 72 Rn. 35 f.; A. Simon/J. Busse (Hrsg.), Bayerische Bauordnung, Stand: April 2005, Art. 72 Rn. 69 ff.; ebenso § 75 Abs. 3 S. 1 BauO NRW. Die Befürworter verstehen daher die Beschränkungsklauseln so, dass sie sich nur auf vertragliche Ansprüche beziehen (Quaas [Anm. 18J, S. 37 [48]) oder dass sie nur daraufhinweisen, dass durch die Baugenehmigung andere zivilrechtliche Hindernisse, wie z. B. das fehlende Eigentum des Bauantragstellers am Baugrundstück, nicht überwunden werden (Dolderer [Anm. 4J, 19 [251; Schapp [Anm. 7], S. 165); ähnlich auch Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 (62 f.). 29 K. Fehn/C. Laschet, (Anm. 6), S. 291 (301).
UPR 1998, 7 (9); Johlen
30 Richtig H. Hagen, N V w Z 1991, 817 (820).
(Anm. 5), 134 (135); auch Papier
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für § 906 BGB
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Auch zivilrechtlichen Vorschriften kann ein Wille des Gesetzgebers, einen „allgemeinen" umfassenden Vorrang öffentlich-rechtlicher Normen zu statuieren, nicht entnommen werden. 3 3 Gerade die Neufassung des § 906 Abs. 1 BGB mit der Einfügung der S. 2 und 3 zeigt dies, da dort nur Rechtssätze und bestimmte Technische Anleitungen genannt sind, jedoch die Bebauungspläne nicht erwähnt werden. 3 4 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass selbst die dort aufgeführten Normen nur eine Indizwirkung 3 5 entfalten, aber keinesfalls eine verbindliche Beurteilung für das Zivilrecht und die Tatbestandsmerkmale des § 906 Abs. 1 S. 1 BGB darstellen. Wenn daher selbst diese Grenzwerte keine privatrechtsgestaltende Wirkung entfalten sollen, kann man eine solche erst recht nicht dem Bebauungsplan und der Genehmigung zukommen lassen. 36 Gegen eine Streitentscheidung im Verwaltungsrechtsweg spricht schließlich der Gesichtspunkt, dass im Zivilprozess Bauherr und Nachbar unmittelbar gegeneinander prozessieren, während bei einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage der Rechtsträger der Genehmigungsbehörde Beklagter ist und Bauherr bzw. Nachbar nur die Rolle eines Beigeladenen (§ 65 Abs. 1, 2 VwGO) innehaben: Bei einer Klärung im Zivilprozess wird der Rechtsstreit um die Zulässigkeit des Vorhabens und der davon ausgehenden Immissionen also unmittelbar zwischen den Parteien ausgetragen, die betroffen sind. 3 7
IV. KooperationsVerhältnis von Zivilrecht und öffentlichem Recht Steht damit fest, dass weder dem öffentlichen Recht noch dem Zivilrecht Vorrang gebührt, so stellt sich die Frage nach dem „ O b " und „ W i e " eines Kooperationsverhältnisses. Ein solches hätte Bedeutung für Auslegung und Anwendung der 3· Hagen (Anm. 30), 817 (829 ff.); A. Lorenz, in: H. P. Westermann (Hrsg.), Erman BGB, 11. Aufl., Münster 2004, § 906 Rn. 29; Enders (Anm. 4), 289 (290); für eine Maßgeblichkeit dagegen Quaas (Anm. 18), S. 37 (45); R. Breuer, DVB1. 1983, 431 (438); Kleinlein (Anm. 19) 668 (669); ferner Hagen (Anm. 2), S. 1175 (1181 f.), der eine Harmonisierung für notwenig und am ehesten beim Tatbestandsmerkmal „ortsüblich" für realisierbar hält. 32 BGH, NJW 1980, 1679 (1679). 33 Enders (Anm. 4), 289 (291 ). 34 Enders (Anm. 4), 289 (291 ). 35 Siehe nur BGH, NJW 2004, 1317 (1318 f.); BGH, N Z M 2004, 957 (958); BGH, Urt. v. 21.10. 2005, Az. V ZR 169/04, Rdnrn. 17 ff.; A. Röthel, JZ 2004, 1083 (1084); zuvor bereits so R Marburger, Zur Reform des § 906 BGB, in: Max Dietrich Kley (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Ritter zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 901 (913 ff.). 36 So richtig J. Wenzel, NJW 2005, 241 (245). 37 Ähnlich G. Schwerdtfeger, N V w Z 1983, 199 (201): Es sei nicht einsehbar, dass die Baugenehmigungsbehörde ihren „ K o p f zur Verteidigung der Individualinteressen . . . „hinhalten" solle, wenn der Bauherr im zivilrechtlichen Schutzsystem in eine unmittelbare Verteidigerposition gebracht werden kann; vgl. auch Gaentzsch (Anm. 6), 601 (603).
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Begriffe „wesentlich" und „ortsüblich" in § 906 BGB. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zum Kooperationsverhältnis ist, dass beide Rechtsgebiete unterschiedliche Aufgaben beim Schutz des Eigentums vor Einwirkungen haben und angesichts der jeweiligen „Schwachstellen" - nur gemeinsam einen adäquaten Bestand an Normen und Rechtsbehelfen liefern können: 3 8
1. Korrektur von Unzulänglichkeiten bauplanerischer Immissionsprognosen Das öffentliche Recht hat wegen seiner präventiven Ausrichtung die Aufgabe, im Vorfeld der Vorhabendurchführung die Errichtung von Anlagen zu verhindern, von denen unzumutbare Einwirkungen auf andere ausgehen. Die Anforderungen, die sich aus dem Bebauungsplan selbst und aus anderen Vorschriften, die an den Gebietscharakter anknüpfen, ergeben, sollen daher nur bewirken, dass es in den meisten und typischen Fällen nicht zu unzumutbaren Einwirkungen kommt. Daher ist ein Schutzniveau aufzustellen, welches - bei ex-ante-Sicht und ohne intensive Betrachtung von Detailsituationen - geeignet erscheint, den überwiegenden Teil der denkbaren Konflikte zu entschärfen: Das öffentliche Recht schätzt die Folgen eines Vorhabens generalisierend ein. 3 9 Auch der Grundsatz der Konfliktbewältigung, der einen wesentlichen Teil des in § 1 Abs. 7 BauGB enthaltenen Abwägungsgebots ausmacht, besagt nur, dass Konflikte, die durch die Planung hervorgerufen werden, grundsätzlich bereits im Plan und durch diesen selbst zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden müssen. 40 Er verbietet aber nicht, von einer abschließenden Konfliktbewältigung im Bebauungsplan Abstand zu nehmen, wenn die Durchführung der als notwendig erkannten Konfliktlösungsmaßnahmen außerhalb des Planungsverfahrens auf der Stufe der Verwirklichung der Planung sichergestellt ist. 4 1 Eine solche grobe Vorprüfung ist auch unter verwaltungs- und prozessökonomischen Gesichtspunkten sinnvoll, weil sich eine Vielzahl späterer Zivilprozesse vorab vermeiden lässt, wenn die Behörde die Interessen aller Betroffenen wahrzunehmen versucht. Hinzu kommt, dass die - zumindest in dieser Phase - besseren und umfangreicheren Kenntnisse über die Anlagenkonzeption und die zu erwartenden Auswirkungen hier bereits genutzt werden können; dem Nachbarn stehen dagegen kaum Informationsmittel zur Verfügung, die wegen der ihn treffenden Darlegungslast für einen Zivilprozess aber erforderlich wären. Höhere Grenzen als die beschriebenen aufzustellen, erscheint aber ebenfalls wenig sinnvoll, weil mögli38 Ähnlich auch Birk (Anm. 18), 689 (697); Dolderer (Anm. 4), 19 (25 f.). 39 Gerlach (Anm. 9), 161 (164). 40 Statt vieler BVerwGE 57, 297 (301 f.); 61, 307 (311); BVerwG, N V w Z 1996, 888 (889); NJW 1995, 2572 (2573); N V w Z 1988, 351 (353). 41 BVerwG, N V w Z 1999, 414 (414); NJW 1995, 2572 (2573); N V w Z - R R 1995, 130 (131).
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cherweise die Handlungs- und Nutzungsfreiheit der betroffenen Eigentümer zu stark eingeschränkt wird, um vielleicht wenige denkbare weitere Fälle in den Griff bekommen zu können. Die Gefahr von Prognosefehlern ist dabei umso größer, je kleinräumiger die Planung erfolgt. 4 2 Mehr kann das öffentliche Recht, gerade weil es zum einen eine Beurteilung ex ante vornimmt und zum anderen eine Vielzahl von Betroffenen mit ihren mannigfaltigen Interessen und Schutzbedürfnissen im Blick hat, nicht leisten. Es muss zudem auch dem - grundrechtlich untermauerten - Anspruch des Bauwerbers, sein Vorhaben durchführen zu können, Rechnung tragen 4 3 Deshalb ist eine Versagung der Genehmigung allein aus dem Grund, dass es zu möglicherweise nicht hinnehmbaren Einwirkungen für Einzelne kommt, nicht zulässig: Das besondere Verwaltungsrecht ist insoweit primär ein Zulassungsr e c h t 4 4 Auch wenn i m Genehmigungsverfahren vor der Bauaufsichtsbehörde der individuellen Situation und den Schutzanforderungen i m Einzelfall Rechnung zu tragen ist, weil die Baugenehmigung zusätzlich dem Rücksichtnahmegebot des § 15 Abs. 1 BauNVO entsprechen muss, 4 5 kann dies nach alledem die Unzulänglichkeit der ex-ante-Prüfung durch die Behörde nicht überwinden. Es verbleibt somit - untechnisch formuliert - ein „Restrisiko" 4 6 Das Zivilrecht soll die Lücken, die der verwaltungsrechtliche Schutz an einzelnen Stellen (zwangsläufig) hinterlässt, schließen. 47 Dies kann bereits in der Phase vor der Errichtung und Inbetriebnahme der Fall sein, weil nach gegenwärtigem Verständnis der Abwehranspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB bereits dann gegeben ist, wenn eine hinreichend konkrete Erstbegehungsgefahr besteht. 48 Anders als teilweise behauptet, achtet das Zivilrecht nicht von vornherein nur auf den kleinräumigen Ausgleich. 4 9 Beim gegenwärtigen Verständnis des § 906 BGB und des damit verbundenen materiellen Nachbarbegriffs ist ein Aneinandergrenzen des emittierenden und des beeinträchtigten Grundstücks nicht erforderlich. Vielmehr stehen die Abwehransprüche aus § 1004 BGB und die damit korrespondierenden Duldungspflichten des § 906 BGB jedem zu, der i m Einwirkungsbereich der emittierenden Anlage wohnt. 5 0 Allerdings sind die praktischen Schwierigkeiten eines
42 Vgl. Hagen (Anm. 30), 817 (821). 43 Gerlach (Anm. 9), 161 (164). 44 Gerlach (Anm. 9), 161 (164). 45 Vgl. Dolderer (Anm. 4), 19 (22); Quaas (Anm. 18), S. 37 (47). 46 Gerlach (Anm. 9), 161 (164). 47 So auch Gerlach (Anm. 9), 161 (167, 175). 4« Vgl. Gerlach (Anm. 9), 161 (166); anders Hagen (Anm. 30), 817 (822), nach dem abgesehen von den Fällen des (regelmäßig nicht gegebenen) § 907 BGB in der Genehmigungsphase noch gar kein durchsetzbarer Abwehranspruch bestehe. 49 Vgl. Quaas (Anm. 18), S. 37 (38 f.); Birk (Anm. 18), 689 (697); Gerlach (Anm. 9), 161 (163). 50 Vgl. K. Vieweg, Vertikale Nachbarschaft im öffentlichen Recht und im Zivilrecht, in: Heinrich de Wall (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung : Festschrift für Christoph L i n k zum siebzigsten Geburtstag, 2003, S. 985 (986 f. m. w. N.).
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Nachweises nicht zu verkennen, ein Vorhaben werde mit hinreichender Sicherheit Störungen erheblichen Umfangs verursachen. 51 Diese Schwierigkeiten bewirken, dass privatrechtliche Ansprüche in den meisten Fällen erst nach Eintritt einer Störung praktisch durchsetzbar sind. 5 2 Die weitaus größere Bedeutung hat die auf § 1004 BGB gestützte zivilrechtliche Nachbarklage daher gegenüber bereits bestehenden Anlagen. Hier kann, wenn sich zeigt, dass die vom öffentlichen Recht aufgestellten Schutzanforderungen allgemein (Fall des Prognosefehlers) oder im Einzelfall (atypische Situation, besondere Anfälligkeit usw.) nicht genügen, eine Unterlassung der Betriebsfortsetzung verlangt und durchgesetzt werden. Zudem kann in gewissem Umfang dem jeweils geltenden Stand des Zumutbaren (und dabei mittelbar auch dem Stand der „Vermeidungs-Technik") entsprochen werden. Das Zivilrecht nimmt schließlich die individuelle Betroffenheit besser wahr, weil hier nicht nur auf die typischen Empfindlichkeiten geachtet w i r d , 5 3 sondern auch eine subjektive Anfälligkeit (z. B. von Krankenhäusern) Beachtung finden kann, soweit sie für bestimmte Einrichtungen typisch ist. 5 4 Der Vorwurf, das private Nachbarrecht enthalte nur punktuelle Regelungen, die lediglich primitiven, landwirtschaftlichen Grundstücksnutzungen Rechnung tragen könnten, während das Bauplanungsrecht auf einen umfassenden Ausgleich abziel e , 5 5 trifft hingegen nicht in vollem Umfang zu. Zwar mögen die Abstandsflächenvorschriften des Bauordnungsrechts und die zahlreichen Instrumente des Bauplanungsrechts besser gewährleisten, dass die Gebäude ausreichend Abstand zum Nachbarn aufweisen. Nicht nur in Ballungsgebieten erhalten aus ökonomischen Gründen die Baugrundstücke einen immer kleineren Zuschnitt. Angesichts der daraus resultierenden Verdichtung der Bebauung bestehen Zweifel, ob das Zivilrecht dem Bedarf an Licht, Luft und Distanz zum Zweck des Lärmschutzes Rechnung tragen kann, da es keine ausdrücklichen Regelungen hierzu enthält und nach h . M . 5 6 bei sog. „negativen Immissionen" keine Abwehransprüche gewährt. Zumindest in Bezug auf den Schutz vor Immissionen aller Art ist die Bestimmung des § 906 BGB aber durch die neuere gesetzgeberische Tätigkeit und die Rechtspre51 Vgl. Gerlach (Anm. 9), 161 (161, 163). 52 Gerlach (Anm. 9), 161 (163, 165 f.). So muss bei § 907 Abs. 1 S. 1 BGB ein „höchster Grad an Wahrscheinlichkeit auf Grund der Lebenserfahrung" gegeben sein, damit die künftige Beeinträchtigung „ m i t Sicherheit vorauszusehen" ist (vgl. K. Vieweg, in: jurisPK, § 907 Rn. 33 ff. m. w. N.); bei § 1004 Abs. 1 S. 1 B G B muss die Erstbegehungsgefahr i m Einzelfall nachgewiesen werden, da Anhaltspunkte für eine Vermutung der Beeinträchtigung nicht vorliegen (vgl. Habermeier, in: jurisPK, § 1004 Rn. 15). 53 Gerlach (Anm. 9), 161 (174). 54 Vgl. K. Vieweg, in: jurisPK, § 906 Rn. 53. 55 Bartlsperger (Anm. 1), VerwArch 60 (1969), 35 (61); Breuer (Anm. 31), 431 (435); W Rüfner, DVB1. 1963, 609 (612). 56 Vgl. K. Vieweg/A. Werner, Sachenrecht, 2. Auflage, Köln 2005, § 9 Rn. 19; jurisPK/ K. Vieweg, § 906 Rn. 33 ff. m. w. N. zum Streitstand. Zweifel erkennen lassend nun BGH, Urt. v. 10. 06. 2005, Az. V ZR 2 5 1 / 0 4 , S. 6 (noch unveröffentlicht; abrufbar unter http://www.bundesgerichtshof.de ); Wenzel (Anm. 36), 241 (247).
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chung zu einem Instrument ausgebaut worden, das den denkbaren Konflikten Rechnung trägt. 5 7 So haben sich §§ 1004, 906 BGB als geeignet erwiesen, auch auf neuartige Phänomene, die durch Mobilfunkanlagen 5 8 oder Windkraftanlagen 59 hervorgerufen werden, angemessen zu reagieren. Hinzu kommt die Ergänzung durch das Landesnachbarrecht und den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der bei weniger grundstücksbezogenen Beeinträchtigungen herangezogen werden kann. 6 0 Lediglich Änderungen des Gebietscharakters 61 können über das zivilrechtliche Anspruchssystem nicht verhindert werden. Das öffentliche Recht hält zwar ebenfalls gewisse Mittel bereit, um Fehler zu korrigieren oder um auf neu eingetretene Verhältnisse zu reagieren. So sieht § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG mit den „dynamischen" Betreiberpflichten 62 z. B. nachträgliche Anordnungen (vgl. §§ 17, 20 ff. BImSchG) vor. Etwaige Prognosefehler sind daher korrigierbar, 63 freilich weitgehend unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit und ggf. der Entschädigung. Die TA L ä r m 6 4 sieht in Ziff. 6.9 ferner Messabschläge vor, damit bei Kontrollmessungen nicht Ungenauigkeiten zu Lasten des Betreibers gehen. 65 Allerdings bestehen im Baurecht bei nachträglichen Veränderungen der „Zumutbarkeits- Philosophie" keinerlei Anpassungsmöglichkeiten, da der Bestandsschutz entgegensteht. 66 Zudem steht dem betroffenen Bürger auch dann, wenn der Emittent Grenzwerte überschreitet, kein unbedingter Anspruch auf Einschreiten gegen die Behörde zu, sondern nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zum Ob und Wie eines Tätigwerdens. 67 Hierbei darf die Behörde nach - zwar kritisierter, aber herrschender - Auffassung auch berücksichtigen, dass der Nachbar seine Ansprüche auf ihm zumutbare Weise unmittelbar zivilrechtlich durchsetzen kann. 6 8 57 Insoweit besteht der Zustand, den Riifner (Anm. 55), 609 (612) beschrieb, gerade nicht mehr, weil die (nach seiner Beurteilung vom Bedeutungszuwachs des öffentlichen Rechts verhinderte) Weiterentwicklung eingetreten ist.
5* BGH, NJW 2004, 1317 ff. = N V w Z 2004, 1019 ff. BGH, N Z M 2004, 957 f. = N V w Z 2005, 116 f. 60
Vgl. nochmals die Nachweise bei K. Vieweg/A.
61
Die Bedeutung desselben hebt Riifner (Anm. 55), 609 (612) hervor.
Werner (Anm. 56), § 9 Rn. 19.
62 Siehe nur H.-D. Jarass, BImSchG, 5. Auflage 2002, § 5 Rn. 2. « So auch Hagen (Anm. 30), 817 (821). 64 Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm v. 26. 08. 1998, GMB1. 1998, S. 503. 65 Vgl. BGH, N Z M 2004, 957 (958). 66 Dazu, dass der baurechtliche Bestandsschutz stärker ist als der nach dem BImSchG, siehe nur Gaentzsch (Anm. 5), 201 (205); allgemein zum Bestandschutz aufgrund der Baugenehmigung M. Uecht ritz, in: Wolfgang Lenz (Hrsg.), Festschrift für Konrad Geizer zum 75. Geburtstag, 1991, S. 259 (261 ff.). 67 Vgl. § 25 Abs. 1 i.V.m. § 24 BImSchG („kann"), aber auch § 25 Abs. 2 BImSchG, wonach die Behörde bei drohenden Schäden für Menschen oder für bedeutende Sachwerte den Betrieb untersagen „soll" (intendiertes Ermessen), soweit nicht andere Maßnahmen ausreichen; ferner S. Liehetanz, in: Obermayer, V w V f G , 3. A u l l . 1999, § 40 Rn. 20; BVerwG, DVB1. 1969,586 (586).
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Aus diesen Gründen wird ein Verzicht auf ein wirksames zivilrechtliches Instrumentarium nicht möglich sein. I m Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass das Verwaltungsrecht allein keinen ausreichenden Schutz gewähren kann und ein Verzicht auf die zivilrechtlichen Ansprüche nicht opportun ist. 6 9
2. Auswirkungen auf den Begriff „wesentlich" Die Komplementarität der Zwecke des öffentlichen Rechts und des Zivilrechts wirkt sich auf den Begriff „wesentlich" in § 906 BGB wie folgt aus: Mittelbare Konsequenzen ergeben sich daraus, dass in anderen Vorschriften etwa der 18. BImSchV oder der TA Lärm - die Schutzwürdigkeit explizit in Abhängigkeit vom Gebietstypus des Immissionsorts geregelt w i r d . 7 0 Dabei ist, wie § 2 Abs. 6 S. 1 der 18. BImSchV festlegt, primär auf den planerisch ausgewiesenen Typus abzustellen und nur ausnahmsweise - wenn die tatsächliche bauliche Nutzung im Einwirkungsbereich der Anlage erheblich von der i m Bebauungsplan festgesetzten baulichen Nutzung abweicht - die faktische Situation zu berücksichtigen. Nach Ziff. 6.6 der TA Lärm sind für die Immissionsrichtwerte der Ziff. 6.1 Festsetzungen eines Bebauungsplans entscheidend. Insoweit kann die gemeindliche Planung dadurch, dass an sie die zulässigen Grenzwerte anknüpfen, denen dann wiederum Indizwirkung gem. § 906 Abs. 1 S. 2, 3 BGB zukommt, die Zulässigkeit des Betriebs einer Anlage auch andernorts beeinflussen; die Gemeinde bestimmt - wenn auch nur indirekt - insoweit im Plan über die Zumutbarkeit von Lärm und anderen Immissionen. 7 1 Auch soweit die „Wesentlichkeit" unter Rückgriff auf das Empfinden eines „verständigen Durchschnittsmenschen" 72 zu bestimmen ist, kommt der Zulässigkeit 68 Vgl. BVerwG, DVB1. 1969, 586 (586); N V w Z 1998, 395 m.w.N; BayVGH, BRS Bd. 48 Nr. 174; O V G Münster, DVB1. 1967, 546 (548); U. Ramsauer, AöR 111 (1986), 501 (523, 526); M. Seilmann (Anm. 10), 273 (281); H. Konrad, B a y V B l 1984, 33 (35 f., 73, der allerdings wenig Möglichkeiten sah, dass beide Wege alternativ offen stehen); M. Just, B a y V B l 1985, 289 (290); /. Kraft, B a y V B l 1992, 456 (460 f.); Η Wiethaup, NJW 1961, 492 (493, allerdings i m Wesentlichen mit der Subsidiarität des Polizeirechts argumentierend; für die Zuständigkeiten der besonderen Ordnungsbehörden gilt diese nicht in so strengen Form); R. Schmidt/H. Müller, JuS 1986, 127 (130); R Marburger, Ausbau des Individualschutzes gegen Umweltbelastungen als Aufgabe des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts: Gutachten C für den 56. Deutschen Juristentag, München 1986, S. 44 f.: jedenfalls, soweit es um keine konkreten Gefahren geht; a.A. H.-D. Jarass, DVB1. 1985, 193 (195); kritisch ferner S. Broß, Gedanken zum Verhältnis von öffentlichem Baurecht und zivilrechtlichem Nachbarschutz, in: Günter Brambring (Hrsg.), Festschrift für Horst Hagen, 1999, S. 358 (364). 69 So selbst Gaentzsch (Anm. 6), 601 (606). 70 Zur 18. BImSchV siehe auch Hagen (Anm. 2), S. 1175 (1183 ff.). J. Salzwedel, UPR 1985, 210 (211). 72 St. Rspr. seit B G H Z 120, 239 (255); dazu Κ Vieweg, NJW 1993, 2570 (2570 ff.). Bereits unter Geltung des Begriffs des „normalen Durchschnittsmenschen" wurde eine Anknüpfung an den Gebietscharakter des betroffenen Grundstücks bewirkt, da nach dem differenziert-objektiven Maßstab auf die gegebenen örtlichen Verhältnisse sowie auf Natur und
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der störenden Nutzung nach dem Bebauungsplan durchaus Bedeutung zu. Dies beruht auf der Wirkung der Festsetzungen als Verbotsnormen, bestimmte bauliche Maßnahmen durchzuführen: Wer eine Anlage betreibt, die schon als solche an einer bestimmten Stelle wegen der Festsetzungen eines Bebauungsplans eigentlich nicht errichtet werden durfte, kann auf kein Verständnis seitens des Betroffenen hoffen. Dies bedeutet, dass sowohl die Behörde als auch der Nachbar die Beseitigung der Anlage verlangen können - die Behörde vorbehaltlich ihrer Ermessensentscheidung, bei der insbesondere der Bestandsschutz zu berücksichtigen ist. 7 3 Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Beeinträchtigte und der Störer im Geltungsbereich desselben Bebauungsplans wohnen. 7 4 Der Gebietscharakter bestimmt so über die Zumutbarkeit von Beeinträchtigungen. 75
3. Auswirkungen auf den Begriff „ortsüblich" a) Bedeutung und Funktion des Merkmals Die „Ortsüblichkeit" i.S.v. § 906 BGB wird nicht starr, sondern in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung, dem technischen Fortschritt und den beteiligten Bevölkerungskreisen bestimmt. 7 6 Dabei kommt es darauf an, ob sich im relevanten Vergleichsgebiet 77 Nutzungen finden, durch die das betroffene Grundstück gleich starken oder stärkeren Belästigungen dieser Art ausgesetzt wird und die so der Gegend ein Gepräge geben. 7 8 Zweckbestimmung des Grundstücks abzustellen war, vgl. nur B G H Z 111, 63 (65); BGH, L M BGB § 906 Nr. 6; NJW 1958, 1393; NJW 1959, 1632 (1632); NJW 1984, 1242 (1242). 73 Zu beachten ist freilich, dass u.U. eine Genehmigung vorliegt, die einen unmittelbaren Rückgriff auf die materiellrechtlichen Bestimmungen versperrt. 74
Vgl. die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte dazu, dass die Festsetzungen hinsichtlich der Art der Nutzung stets drittschützend zugunsten der anderen Eigentümer sind, da sich alle in einer bodenrechtlichen Schicksalsgemeinschaft befinden, U. Battis/M. Krautzberger/H. Lohr, BauGB, 9. Aufl. 2005, § 31 Rn. 62, 64. π Papier (Anm. 6), S. 291 (299); ferner BVerwG, N V w Z 1993, 987 (988); N V w Z 2000, 679 (679). ™ Vgl. Fehn/Laschet (Anm. 29), 7 (7); BGH, L M BGB § 906 Nr. 6. Der historische Gesetzgeber des B G B verstand das Merkmal „ortsüblich" weitgehend synonym mit der „Verkehrssitte", vgl. Mot. III, S. 260, 267. Das Reichsgericht sah im Jahre 1906 den entscheidenden Grund für die Duldungspflicht des § 906 Abs. 2 BGB a.F. darin, dass der Mehrheitswille, der sich in der Verbreitung einer Nutzung in einem Gebiet ausdrückt, zu respektieren sei, RGZ 64, 363 (365). Auch heute wird eine Aufgabe des Tatbestandsmerkmals der Ortsüblichkeit darin gesehen, die Bestandsinteressen emittierender Anlagen abzusichern, Ch. Trzaskalik, DVB1. 1981, 71 (72); Gaentzsch (Anm. 6), 601 (604); Ρ Baumann, JuS 1989, 433 (435). 77 Zur Abgrenzung und den dahinter stehenden Interessen /. Mittenzwei, Umweltverträglichkeit statt Ortsüblichkeit als Tatbestandsvoraussetzung des privatrechtlichen Immissionsschutzes, M D R 1977, 99 (102); j u r i s P K / t f . Vieweg, § 906 Rn. 81 f.
™ Vgl. j u r i s P K / t f . Vieweg, § 906 Rn. 79 f.; B G H Z 38, 61 (62); 97, 97 (105); BGH, DVB1. 1968, 51 (51); NJW 1976, 1204 (1205); Fehn/Laschet (Anm. 29), 7 (8).
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In der jüngeren Vergangenheit hat sich in der Rechtsprechung durchaus eine gewisse Tendenz gezeigt, den Begriff der „Ortsüblichkeit" nicht mehr allein anhand der tatsächlichen Situation zu bestimmen, sondern auch in gewissem Umfang normative Aspekte einschließlich solcher aus dem Bereich des öffentlichen Rechts einfließen zu lassen. 79 Insbesondere hat der Bundesgerichtshof in der Schweinemästerei-Entscheidung ausgesprochen, dass das Fehlen einer erforderlichen Genehmigung die Ortsüblichkeit ausschließe, weil auch i m privaten Nachbarrecht dem Umstand Bedeutung zukommen müsse, dass sich der Emittent nach öffentlich-rechtlichen Maßstäben rechtswidrig verhält. 8 0 Ähnlich hatte der B G H bereits zu Geruchsbelästigungen aus einer Kläranlage entschieden, die in einer öffentlichrechtlichen Bestimmungen widersprechenden Weise betrieben wurde. 8 1 Als ortsunüblich wurden auch Pflanzen eingestuft, die die nach dem Landesnachbarrecht vorgeschriebenen Grenzabstände unterschritten, weil damit keine ordnungsgemäße Bewirtschaftung des Grundstücks mehr gegeben sei. 8 2 In der Literatur wird ferner teils angenommen, eine Überschreitung der in § 906 Abs. 1 S. 2, 3 BGB angesprochenen Grenz- und Richtwerte indiziere nicht nur die Wesentlichkeit, sondern auch die Ortsunüblichkeit, 8 3 und Einwirkungen, die geeignet sind, schwerwiegende Lebens- oder Gesundheitsgefahren hervorzurufen, könnten niemals ortsüblich sein. 8 4
b) Differenzierung anhand der Regelungssituationen bei Bebauungsplänen Sinnvollerweise wird man die aufgeworfene Frage nach der Relevanz von Bebauungsplänen nicht einheitlich beantworten können, sondern eine Differenzierung unter Berücksichtigung der vorgefundenen örtlichen Gegebenheiten und der konkreten Regelungszwecke des Bebauungsplans vornehmen müssen. 85 Zentral ist dabei, ob ein Bebauungsplan auf einen vorhandenen Bestand an Gebäuden und Anlagen trifft oder nicht. aa) Handelt es sich um eine erstmalige Beplanung eines Neubaugebiets, besteht kein Bedarf, diejenigen, die sich zuerst ansiedeln und zufällig der eher immissions79 So auch J. Fritzsche, in: H. G. Bamberger/H. Roth, BGB, § 906 Rn. 62; Quaas (Anm. 18), S. 37 (48 f.); siehe auch Johlen (Anm. 5), 134 (135 ff.); Gaentzsch (Anm. 5), 201
(210). «ο B G H Z 140, 1 (9); bestätigend BGH, Urt. v. 21. 10. 2005, A Z . V ZR 169/04, Rdnrn. 14. «1 B G H Z 97, 97 (105). 82 B G H Z 157, 33 (44, 46 f.). 83 So etwa Scicker, (1181 f.).
in: MünchKomm-BGB, § 906 Rn. 24; Hagen (Anm. 2), S. 1175
84 In diese Richtung M. Schmalholz, Z U R 2000, 257 (264); Η. Roth, in: Staudinger, BGB, 2001, § 906 Rn. 110, 231. 85 Ähnlich Trzaskalik (Anm. 76), 71 (73); Hagen (Anm. 30), 817 (823); Schapp (Anm. 7), S. 219 ff. (anhand der Figur des latenten Störers); differenzierend ferner Gaentzsch (Anm. 5), 201 (207 f.).
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empfindlichen Gruppe der zugelassenen Nutzungen angehören, davor zu schützen, dass sich später auch andere, ebenfalls zulässige Nutzer ansiedeln. Es spricht dann auch nichts dafür, „ortsüblich" rein faktisch zu verstehen, und als ortsüblich die Nutzungen anzusehen, die der Plan dort vorsieht. In der Ausweisung eines Misch-, Gewerbe- oder Industriegebiets liegt damit im Ergebnis eine indirekte Zulassungsentscheidung für Vorhaben, die nach der BauNVO dort regelmäßig zulässig sind; gerade dies entspricht dem Willen der ein Gebiet erstmals beplanenden Gemeinde. Auch wenn sich emittierende Nutzer ausnahmsweise 86 zuerst niederlassen, kann sich hieraus nichts zum Nachteil der alsbald hinzukommenden anderen Nutzer ergeben, da es letztlich vom Zufall abhängt, in welcher Reihenfolge Bau und Fertigstellung der Gebäude und Anlagen erfolgen. Grenze kann hier nur die Funktionslosigkeit des Bebauungsplans sein: Hat sich über eine längere Zeit hinweg nur eine Nutzungsform etabliert und sind andere Vorhaben nicht realisiert worden, kann in den Bebauungsplan, der auch die letztgenannten Vorhaben erlaubt, kein Vertrauen mehr gesetzt werden. 8 7 bb) Soll mit einem Bebauungsplan ein bereits baulich genutztes Gebiet in ein anderes umgewandelt werden - typisch: Umwandlung eines faktischen Mischgebiets oder eines Dorfgebiets in ein allgemeines Wohngebiet (WA) - , kann dies nicht in gleicher Weise gelten. Der vorhandene Bestand muss geschützt werden. Das öffentliche Recht trägt dem Rechnung, indem (baurechtlich) eine Nutzungsuntersagung am Bestandsschutz scheitert und Sanierungsmaßnahmen nur unter ganz engen Voraussetzungen und gegen Entschädigung möglich sind (§§ 136 ff. BauGB) bzw. (immissionsschutzrechtlich) der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen ist. 8 8 Auch im Zivilrecht hat eine derartige Berücksichtigung zu geschehen; richtiger Platz ist dabei die „Ortsüblichkeit". 8 9 Daher sind die Vorgaben des Plans lediglich bei der Neuansiedlung zu beachten, nicht aber gegenüber dem Altbestand. Für diesen ist in solchen Situationen so lange allein auf die tatsächliche Nutzungssituation abzustellen, wie sich nicht - entsprechend der Intention des Plans - der Gebietscharakter wirklich spürbar gewandelt hat. Diese Phase kann relativ lange Zeit andauern, weil von vornherein die Mittel des Bauplanungsrechts in diesem Bereich nur langfristig operieren können, wenn nicht von den ZwangsVgl. BGH, L M BGB § 906 Nr. 39, wonach es hier der Regelfall sein wird, dass die tatsächliche Nutzung den Plänen entspricht. 87 Vgl. zur Funktionslosigkeit von Rechtssätzen, insbesondere Bebauungsplänen BVerwGE 85, 273 (281 f.); 109, 246 (155 f.); BVerwG, N V w Z 1997, 893 (895); N V w Z - R R 1997, 415 (415 f.); N V w Z 2001, 1055 (1156); N V w Z 2003, 1125 (1125); N V w Z 2004, 1244 (1245); BayVGH, B a y V B l 1990, 87; U. Steiner, in: Planung und Plankontrolle, Festschrift für Otto Schlichter, Köln 1995, S. 314 (314 ff.): Die tatsächliche Entwicklung muss einer Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit entgegenstehen, und dieses Hindernis muss derart offensichtlich sein, so dass kein schutzwürdiges Vertrauen in die Fortgeltung gebildet werden kann.
«8 Vgl. zum Ganzen V G H Mannheim, N V w Z - R R 2001, 716 (718 f.): Einbeziehung eines mit einer Schreinerei bebauten Grundstücks in ein Sondergebiet „Technologiepark". 89 In diese Richtung bereits BGH, L M B G B § 906 Nr. 39. 27 FS Bartlsperger
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mittein der §§ 175 ff. BauGB Gebrauch gemacht werden soll. Eine Funktionslosigkeit eines solchen umstrukturierenden Plans wird man demgemäß auch erst dann annehmen können, wenn innerhalb des Zeitraums, innerhalb dessen bei normalem Verlauf der Dinge mit einer spürbaren Veränderung gerechnet werden kann, keine merkliche Entwicklung eingesetzt hat; vorher fehlt es an der Erkennbarkeit. cc) Schließlich sind Bebauungspläne denkbar, die den Status eines bebauten Gebiets festschreiben wollen , mit denen beispielsweise das „Abgleiten" eines überwiegend zum Wohnen genutzten Bereichs (faktisch WA oder WR) in ein Mischgebiet ( M I / M D ) oder eines Mischgebiets in ein Gewerbegebiet (GE) verhindert werden soll. Hier kommen scheinbar beide Ansätze zum gleichen Ergebnis: „ Z i v i l rechtlich" darf sich ein neuer Emittent nicht darauf berufen, dass das von ihm beabsichtigte Verhalten bereits vorkommt. Da sich die störungsintensive Nutzung gerade noch nicht durchgesetzt hat, dürfte dies nach § 906 Abs. 2 S. 1 BGB nicht gelingen. Das öffentliche Baurecht bewirkt ebenfalls eine Unzulässigkeit, da der Bebauungsplan entgegensteht. Diese materielle Unterscheidung vereinfacht die Problematik nicht, da jeweils nach den konkreten Regelungszwecken und Gegebenheiten gefragt werden muss. Ungewöhnlich ist dies aber nicht, da auch bei der Frage, ob einer Festsetzung Drittschutz zukommt, - von wenigen Ausnahmen abgesehen - eine Auslegung des Bebauungsplans zu erfolgen hat. Hierbei können (wenn, wie regelmäßig, klare Aussagen im Textteil selbst fehlen) sowohl der subjektiv-historische Wille des planenden Kollegialgremiums als auch die objektive Zielrichtung, die den Festsetzungen typischerweise zukommt, herangezogen werden. Die oben genannten Umstände werden dabei eher leicht zu ermitteln sein.
c) Vorteile
einer differenzierenden
Lösung
aa) Respektierung des Planungsrechts der Kommune Der differenzierende Ansatz gewährleistet, dass das eigenverantwortliche Abwägen und Planen der Gemeinden - wie es ihnen durch Art. 28 Abs. 2 GG garantiert i s t 9 0 - weitgehend realisiert werden kann. Weil bei der Neubebauung der Plan weitgehend zu beachten ist, ist es dem aufgrund zufälliger zeitlicher Reihenfolge bereits vorhandenen Nutzer nicht möglich, den Vollzug des Bebauungsplans zu „blockieren" 9 1 , indem er von zivilrechtlichen Rechtsbehelfen Gebrauch macht und die Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Da bei der Umstrukturie-
90 Hierauf hinweisend Dolderer (Anm. 6), 601 (602).
(Anm. 4), 19 (21); Gaentzsch (Anm. 5) 201 (210); ders.
91 Vgl. Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 745 (746); Schapp (Anm. 7), S. 177; Papier (Anm. 6), S. 291 (295 f.); Johlen (Anm. 5), 134 (136); Trzaskalik (Anm. 76), 71 (72); G. Gaentzsch (Anm. 6), 601 (602); insoweit zustimmend auch Fehn/Laschet (Anm. 29), 7 (9).
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für § 906 BGB
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rung von Gebieten der Plan bei neuen Vorhaben ebenfalls zu beachten ist, kann dem Entwicklungsauftrag des § 1 Abs. 5 BauGB entsprochen werden. Dabei kann z. B. auch das Ziel eines sparsamen und planvollen Umgangs mit den Grundflächen und einer Innerortsverdichtung umgesetzt werden. 9 2 Das Anliegen, der aktiven Gestaltung Vorrang vor der unsteuerbar zufälligen tatsächlichen Entwicklung zukommen zu lassen, 93 muss dabei auch von Seiten des Zivilrechts grundsätzlich akzeptiert werden. Eine Steuerungsabsicht ist diesem nämlich eher fremd, was sich schon daran zeigt, dass mit der Qualifizierung einer Nutzung als ortsüblich in § 906 BGB keine Aussage über Wert oder Unwert des jeweiligen ortsüblichen Zustandes verbunden i s t 9 4 und die Vorschrift somit nur eine Verfestigung der jeweils gegeben Zustände bewirkt.
bb) Kompensation von Rechtsschutzdefiziten Des Weiteren kann auf diese Weise das Problem des „Rechtschutzdefizits 4 ' entschärft werden. Die Auffassung, die eine Bindungswirkung der Bebauungspläne und der Baugenehmigungen ablehnt, stützt sich auch darauf, dass der betroffene Eigentümer mangels effektiver Rechtschutzmöglichkeiten gegen Pläne und Genehmigungen nur unzureichend für die Beachtung und Berücksichtigung seiner individuellen privaten Belange i m Verfahren der Planaufstellung und der Genehmigungserteilung sorgen könne 9 5 und dass er daher der zivilrechtlichen Instrumentarien dringend bedürfe. Bereits i m Verfahren der Aufstellung eines Bebauungsplans sind zahlreiche „Störfaktoren 4 ' für eine wirklich gerechte Abwägung nicht zu übersehen: Die Entscheidung über den Bebauungsplan i m Gemeindeoder Stadtrat ist der Erfahrung nach häufig geprägt von politischen Interessen, Partikularinteressen und - in Zeiten knapper Kassen - von fiskalischen Überlegungen (Ausweisung von Gewerbegebieten lässt auf Gewerbesteuereinnahmen hoffen; enge Bebauung in neuen Wohngebieten sorgt wegen des größeren Zuzugs für höhere Einkommensteueranteile). 96 Drohende Konflikte innerhalb der Plangebiete und zu den Nachbarbereichen werden daher bei der Planaufstellung leicht übersehen, übergangen oder hintangestellt. Die Frage, ob man es der Baugenehmigungsbehörde zutrauen und zumuten darf, die nachbarlichen Beziehungen i m Rahmen des Bauantragsverfahrens zu beurteilen und über sie zu entscheiden, 97 stellt sich daher im Bereich der Planung noch mehr. Der einzelne Eigentümer kann zwar Stellungnahmen abgeben (vgl. § 3 Abs. 1 BauGB), den Planungsvor92 Das Ziel, den Flächen verbrauch einzudämmen, hat der Gesetzgeber im E AG-Bau mehrfach betont, vgl. § 1 Abs. 5, § 1 a Abs. 2 S. 1, § 9 Abs. 1 Nr. 3 BauGB n.F.
93 Vgl. Dolderer ( Anm. 4), 19 (21). 94 Trzaskalik
(Anm. 76), 71 (72).
95 Hagen (Anm. 30), 817 (821). 96 So auch Gerlach (Anm. 9), 161 (165, 168). 97 Vgl. einerseits Bartlsperger, (Anm. 10), A § 7 I I (S. 33 f.). 27'
VerwArch 60 (1969), 35 (58); andererseits
Dehner
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gang und das an seinem Ende stehende Ergebnis kann er aber regelmäßig nur unzureichend beeinflussen. 98 Der Rechtsschutz gegen solche Planungsentscheidungen ist dabei - sei es im Wege der prinzipalen Normenkontrolle, sei es inzident im Rahmen eines anderen Rechtsstreits 99 - nur mit begrenzter Effektivität möglich. Die meisten Fehler können wegen der Regeln zur Planerhaltung nach einer Frist von zwei Jahren nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nicht fristgerecht eine Rüge erhoben wurde (vgl. § 215 Abs. 1 BauGB). Insofern trifft das früher vorgebrachte Argument, eine Bindungswirkung von Bebauungsplänen sei unbedenklich, weil diese stets auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfbar seien, 1 0 0 nicht mehr zu. Der Verlust von Rechtspositionen (sei es infolge der Bestandskraft der Baugenehmigung, Art. 43 Abs. 2 Bay V w V f G , §§ 70, 74 VwGO, sei es wegen des Eintritts der Unbeachtlichkeit von Fehlern des Bebauungsplans, § 215 BauGB) ist für einen Bürger zwar nicht grundsätzlich unzumutbar: Zum einen trifft ihn die Obliegenheit, ihm zur Verfügung stehende Abwehrrechte rechtzeitig geltend zu machen; 1 0 1 zum anderen ist Grund des Ausschlusses von Abwehransprüchen als Konsequenz der Bestandskraft der - im Rechtsstaat verfassungsrechtlich garantierte - Vertrauensschutz für den Bauherrn. 1 0 2 Voraussetzung muss aber auch sein, dass dem Eigentümer wirksame Mittel der Interessenwahrnehmung und Durchsetzung an die Hand gegeben sind, was derzeit kaum der Fall ist. Auch dann, wenn eine materielle Überprüfung des Plans überhaupt stattfinden kann, besteht in jedem Fall nur eine beschränkte Kontrolldichte: 1 0 3 Regelmäßig können nur offensichtliche Fehler des Abwägungsvorgangs zur Nichtigkeit des Plans oder zu einer Unanwendbarkeit führen (vgl. § 214 Abs. 1 Nr. 1; Abs. 3 BauGB). Das ist nur dann der Fall, wenn der Fehler zur äußeren Seite des Abwägungsvorgangs gehört, also auf objektiv fassbaren Sachumständen beruht. 1 0 4 Das Abwägungsergebnis selbst ist ohnehin nur begrenzt überprüfbar. 105
98 Hagen (Anm. 30), 817 (821). 99 Hierüber besteht Einigkeit, vgl. Kleinlein (137 f.); Birk (Anm. 18), 689 (697).
(Anm. 19), 668 (669); Johlen (Anm. 5), 134
im Vgl. Gerlach (Anm. 9), 161 (172); Schapp (Anm. 7), S. 166. «o« So Trzaskalik (Anm. 76), 71 (73); Birk (Anm. 18), 689 (697); Dolderer (Anm. 4), 19 (24); auch Quaas (Anm. 18), S. 37 (55 ff.). 102 Vgl. Dolderer (Anm. 4), 19 (25); Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 (51). - Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 (45, 51, 56, 59), Dolderer (Anm. 4), 19 (21, 24) und Breuer (Anm. 31), 431 (434) fürchten daher eine Entwertung des Genehmigungsverfahrens, weil der Bauherr selbst nach Eintritt der Bestandskraft die Genehmigung erst ausnutzen könne, nachdem Zivilprozesse erfolgreich geführt worden seien, und sprechen sich daher gegen die Zulässigkeit gerichtlicher Klagen aus. «ο-1 Hagen (Anm. 30), 817 (821); Gerlach (Anm. 9), 161 (165). 104 Vgl. BVerwGE 64, 33 (38); Battis/Krautzberger/Lohr 105
(Anm. 74), § 214 Rn. 62, 64.
Zur Rechtslage nach dem EAG-Bau ist hier noch vieles ungeklärt, insbesondere in welchem Verhältnis Abwägungsvorgang und Abwägungsergebnis stehen und was für die
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für § 906 BGB
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Die oben entwickelte Differenzierung bringt mit sich, dass sich in den Fällen, in denen der Betroffene eine Nutzung bereits seit längerem ausübt, eine Überplanung nur in eingeschränktem Umfang auswirkt. Der Bestand an „störenden" Anlagen ist ortsüblich, und zwar sowohl gegenüber den alten als auch gegenüber den neuen Nachbarn. Dies verhindert Einschränkungen des Betriebs störender Anlagen bei „Hochstufungen", solange sich noch eine Mehrzahl emittierender Anlagen im Vergleichsgebiet befindet. Im umgekehrten Fall, der für die Nichtberücksichtigung von Interessen der angestammten Wohnbevölkerung besonders anfällig ist, gilt Ähnliches: Da die gewerbliche Nutzung noch nicht so weit etabliert ist, dass sie ortsüblich ist, müssen die Bewohner vorerst nur unwesentliche Beeinträchtigungen hinnehmen. Im Ergebnis kann dies bedeuten, dass die mit der Planung erstrebte Umwandlung lange Zeit nicht erfolgen kann. In den Fällen, in denen binnen eines eher kurzen Zeitraums eine solche Umwandlung erfolgen soll, dürfte aber auch den schutzwürdigen Interessen der Bewohner nicht ausreichend Rechnung getragen sein, so dass die materielle Rechtmäßigkeit des Plans fraglich ist und seine Umsetzung keinen großen Stellenwert besitzen kann.
d) Mit-Regelung
der konkreten zivilrechtlichen
Verhältnisse?
aa) Vorsorge gegen zivilrechtliche Konflikte als Aufgabe der Bauleitplanung Eine Deutung des Bebauungsplans als Rechtssatz, der auch zivilrechtliche Konflikte schlichten soll, wäre mit dem Aufgabenbereich, den das BauGB den Gemeinden im Rahmen der Bauleitplanung zuweist, vereinbar. Den Kommunen ist es zwar z.B. verwehrt, unter dem Deckmantel des Städtebaurechts andere Zwecke wie etwa Denkmalschutz zu verfolgen, doch schließt dies nicht aus, dass die Gemeinde durch einen Bebauungsplan eine überkommene Nutzungsstruktur und/ oder prägende Bestandteile des Orts- und Straßenbildes um ihrer städtebaulichen Qualität willen für die Zukunft festschreibt, zumal nach § 1 Abs. 6 Nr. 5 BauGB im Rahmen der Planung auch die Belange des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege zu berücksichtigen s i n d . 1 0 6 Noch deutlicher treten diese „gemischten" Regelungsbefugnisse im Bereich des Immissionsschutzes hervor. Insofern ist es den Gemeinden gestattet, durch ihre Bauleitplanung bereits im Vorfeld schädlicher Umwelteinwirkungen eigenständig und gebietsbezogen das Maß des Hinnehmbaren zu steuern (konkret: durch entsprechende Gebietsausweisungen große Mindestabstände von Windkraftanlagen zur Wohnbebauung sicherzustellen). 107 Die Gemeinden müssen sich dabei aber auf die ihnen eingeräumten Mittel - insbesonPlanerhaltung gilt; siehe dazu Battis/Krautzberger/U)hr N V w Z 2004, 903 (904 ff.).
(Anm. 74), § 215 Rn. 3; W. Hoppe,
BVerwGE 114, 247 (250 f.) zum inhaltsgleichen § 1 Abs. 5 S. 2 Nr. 5 BauGB a.F. BVerwG, N V w Z 2002, 1114 (1114 f.); N V w Z 1990, 257 (257); auch BVerwGE 117, 287 (299);
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dere die zulässigen Festsetzungen nach § 9 Abs. 1 BauGB (dort insbes. Nrn. 1, 2, 23) - beschränken. 108 Unzulässig ist eine Planung daher erst, wenn sie auch unter Berücksichtigung des Gestaltungsspielraums, den der Gesetzgeber der Gemeinde zubilligt, städtebaulich nicht mehr begründbar ist. Diese Rechtsprechung kann auf die zivilrechtlichen Folgen eines Bebauungsplans übertragen werden: Die Schaffung gesunder Wohnverhältnisse ist nach § 1 Abs. 5 Nr. 1 BauGB ein Ziel der Bauleitplanung. Anders als das Bauordnungsrecht schützt es private Belange somit nicht nur mittelbar im Rahmen der öffentlichen Aufgabe der Gefahrenabwehr, sondern erhebt sie in § 1 Abs. 7 BauGB ausdrücklich zum Abwägungsbelang. 1 0 9 Hierin wird auch ein Auftrag und eine Pflicht gesehen, die zu erwartenden Bürger-Bürger-Konflikte zu bewältigen. 1 1 0 Die Verfolgung dieses Ziels ist daher legitim und eine zivilrechtsbestimmende Wirkung ist anzunehmen, weil und soweit darin auch private Nachbarinteressen abgewogen und zum Ausgleich gebracht werden. 1 1 1 Unterstrichen wird dies dadurch, dass zahlreiche der nach § 9 Abs. 1 BauGB möglichen Festsetzungen ganz überwiegend private Interessen im Blick haben, da für die Festsetzung solcher Verbote quasi keine rein staatlichen Interessen ersichtlich oder jedenfalls nur in Ausnahmefällen denkbar s i n d . 1 1 2 Eine sich aus dem BauGB ergebende Grenze der Schlichtung drohender privater Konflikte ist erst dann erreicht, wenn die Festsetzungen vorrangig darauf abzielen, das Verhältnis der Nachbarn untereinander abschließend zu regeln. Die Beeinflussung der zivilrechtlichen Beziehungen ist aber unbedenklich, wenn dies - wie nach der hier vertretenen Konzeption - nur mittelbar und eher beiläufig geschieht. bb) Drittschützende Wirkung als Voraussetzung Eine Festsetzung eines Bebauungsplans muss, damit sie eine Vorgabewirkung für das Zivilrecht entfalten kann, somit zum einen von der planenden Gemeinde als „drittschützend" gewollt sein. Sie darf dazu nicht nur im allgemeinen öffentlichen Interesse bestimmte Nutzungen ausschließen, sondern muss dies auch i m Interesse des einzelnen Nachbarn t u n 1 1 3 und ihm zudem einen entsprechenden
io« BVerwG, N V w Z 2002, 1114 (1114 f.); N V w Z 2000, 815 (817) m. w. N., wonach jeweils insbesondere sog. „Zaunwerte" unzulässig sind. Nach BVerwG, N V w Z 2002, 1114 (1114 f.) scheidet auch aus, Immissionsschutz durch Anforderungen an die bauliche oder technische Gestaltung der Anlagen zu betreiben; dies trifft zu, da dies eine originäre Angelegenheit des Immissionsschutzes ist; vgl. ferner BVerwG, N V w Z 1989, 664 (664 f.). >09 Hierauf abstellend Kleinlein (Anm. 19), 668 (670); Gerlach (Anm. 9), 161 (173); Papier (Anm. 6), 1993, S. 291 (294). no Papier (Anm. 6), 1993, S. 291 (294); Johlen (Anm. 5), 134 (137): „Bebauungsplan erfüllt die gleiche Funktion des Interessenausgleichs wie § 906 B G B " . Allgemein zum Gebot der Konfliktbewältigung i m Bebauungsplan vgl. oben IV. 1. Gerlach (Anm. 9), 161 (172); Schapp (Anm. 7), S. 176 f. 112 Trzaskalik
(Anm. 76), 71 (72).
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für § 906 BGB
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Rechtsdurchsetzungsanspruch geben. 1 1 4 Dies wiederum setzt voraus, dass der Schutz vor bestimmten Einwirkungen wie z. B. Lärm überhaupt Gegenstand der Abwägung w a r . 1 1 5 Zum anderen müssen die Festsetzungen im Hinblick auf den erstrebten Schutz hinreichend konkret sein. Soweit daher dem Bebauungsplan nur in Verbindung mit dem Rücksichtnahmegebot des § 15 BauNVO und der Baugenehmigung Bedeutung für die zivilrechtlichen Verhältnisse zukommen s o l l , 1 1 6 schließt dies eine Heranziehung aus. Die Notwendigkeit umfassender Einzelfallwertungen spricht vielmehr dagegen, dass der Plangeber eine verbindliche Entscheidung treffen wollte. cc) Weitere Voraussetzungen und Grenzen Des Weiteren ist selbstverständliche Voraussetzung dafür, dass ein Bebauungsplan als solcher Beachtung finden kann, dass dieser fehlerfrei zustande gekommen i s t . 1 1 7 Wie oben dargestellt, bestehen hier starke Bedenken angesichts der vielfältigen Fehlerquellen in der Planaufstellungsphase. Unzulässig sind daher in jedem Fall reine Legalisierungsplanungen. 118 Schließlich kann sich die „genehmigungsähnliche' 4 Wirkung immer nur auf die typischerweise zu erwartenden Beeinträchtigungen erstrecken. 119 Für Sondersituationen ist es in der Praxis gar nicht möglich, diese bereits in der Planungsphase zu antizipieren und zu berücksichtigen. Auch das Bauplanungsrecht geht davon aus, dass bei der Abwägung der Belange die Interessen und die künftige Entwicklung der Nutzungswünsche nicht stets vollständig ermittelt bzw. prognostiziert werden können. Beleg hierfür ist nicht zuletzt § 31 Abs. 2 BauGB, nach dem Befreiungen von den Festsetzungen möglich sind, insbesondere wenn diese zu einer unbeabsichtigten Härte führen. Diese Bestimmung soll es ermöglichen, auch im Einzelfall verhältnismäßige Lösungen herbeizuführen, die die Planungsabsicht der Gemeinde, die Belange der Nachbarn und die Interessen der Eigentümer berücksichti-
"3 Vgl. zum Ganzen Schwerdtfeger (Anm. 37), 199 (199 f.); Breuer (Anm. 31), 431 (432 f.); Wahl/Schütz, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner, V w G O (Stand: 10. E L 2004), § 42 Abs. 2 Rn. 45; Dehner (Anm. 10), A § 7 I I I 1 (S. 36 f.); ähnlich der Ansatz der „Konfliktschlichtungsformer bei M. Schmidt- Ρreuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, Berlin 1992, S. 247 f. sowie das „Austauschverhältnis" in BVerwGE 94, 151 (161); 101, 364 (374). "4 Schwerdtfeger
(Anm. 37), 199 (200).
"5 Gaentzsch (Anm. 5), 201 (209). 116 Quaas (Anm. 18), S. 37 (46); Dolderer (697); ferner Hagen (Anm. 30), 817 (823).
(Anm. 4), 19 (23 ff.); Birk (Anm. 18), 689
117 Vgl. auch Papier (Anm. 6), 1993, S. 291 (296, 298). us Statt vieler Salzwedel (Anm. 71), 210 (212). 119 Papier (Anm. 6), 1993, S. 291 (296 f.). 120 Vgl. umgekehrt O V G Münster, N V w Z - R R 2005, 388 m. w. N. (wo es jedoch nicht um Konflikte mehrerer Eigentümer ging, sondern um die Nutzung einer Fläche als öffentliche
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Klaus Vieweg und Thomas Regenfus
Die - häufiger anzutreffende - Sondersituation, dass das emittierende und das beeinträchtigte Grundstück nicht im gleichen Plangebiet liegen, ist dabei in spezieller Form zu würdigen. Hier kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, dass die Gemeinde bei der Planaufstellung die möglichen Störungen für sämtliche anderen Grundstücke erkennt und berücksichtigt. Regelmäßig wird sich die Untersuchung auf die Plangrundstücke selbst und die unmittelbar angrenzenden Parzellen beschränken. Je größer der Einwirkungsbereich ist, desto schwerer ist es aber, ex ante zu erkennen, wie viele Betroffene überhaupt vorhanden sind und wie intensiv deren Beeinträchtigung ist. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zieht hier Mittelwerte heran. Bei deren Ermittlung sind das Gesetz der Schalldruckausbreitung und die Einzelheiten der Situation, in der die Grundstücke der Gebietsnachbarn liegen (z. B. Windrichtung), zu berücksichtigen. 121
V. Zusammenfassung Da sowohl das Zivilrecht als auch das öffentliche Recht materielle Bestimmungen für das Nachbarrecht und entsprechende Rechtschutzmöglichkeiten (Stichwort „ Z w e i g l e i s i g k e i t " 1 2 2 ) aufweisen, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis beider Rechtsbereiche. Ein Vorrang eines der beiden ist nicht festzustellen. Vielmehr bestehen vielfältige Wechselwirkungen, insbesondere haben auch Bebauungspläne Einfluss auf die Begriffe „unwesentlich" und „ortsüblich" in § 906 BGB. Vorgaben hinsichtlich der Zulässigkeit von Vorhaben durch Festsetzungen des Gebietstyps wirken sich auf die „Wesentlichkeit" entweder unmittelbar durch das Verbot einzelner Nutzungen oder mittelbar dadurch aus, dass andere Rechtssätze an den Gebietstyp anknüpfen. Die Frage, welchen Einfluss ein Bebauungsplan für die „Ortsüblichkeit" i.S.v. § 906 Abs. 2 BGB einer Immission hat, ist danach zu beantworten, vor welchem Hintergrund der Bebauungsplan konkret erlassen worden ist. A u f diese Weise kann sowohl dem Zweck des § 906 Abs. 2 BGB, die eingelebte Wirklichkeit zum Maßstab des Zulässigen zu machen, als auch dem Anliegen entsprochen werden, der Gemeinde eine Planung zu ermöglichen und etwaigen Bestandsschutzinteressen der früher angesiedelten Nutzer Rechnung zu tragen. Somit lässt sich eine weitgehende Konvergenz der Ergebnisse des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts nicht nur bei der Ermittlung, welche Beeinträchtigungen „unwesentlich" i.S.v. Grünfläche): Befreiung nur möglich, wenn die Festsetzungen ein Mindestmaß an Abstraktion enthalten; ist eine bestimmte Regelung „ i m Angesicht des Falles" getroffen, ist für eine Befreiung kein Raum (Hervorheb. im Original). 121 BVerwGE 50, 49 (54 f.); B G H Z 111, 248 (254). 122 Enders (Anm. 4), 289 (293); dazu auch Quaas (Anm. 18), S. 37 (38).
Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für § 906 BGB
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§ 906 Abs. 1 S. 1 BGB und welche schädlichen Umwelteinwirkungen „erheblich" i.S.v. § 3 Abs. 1 BImSchG s i n d , 1 2 3 sondern auch bei der „Ortsüblichkeit" i.S.v. § 906 Abs. 2 S. 1 BGB erzielen.
•23 Vgl. B G H Z I I I , 63 (65 f., 68 f.); 120, 239 (255); 121, 248 (255); 122, 76 (78); BGH, NJW 2003, 3699 (3699) und BVerwGE 79, 254 (258); 81, 197 (200); 88, 210 (213). Zum Ganzen K. Vieweg, NJW 1993, 2570 (2572 f.); K. Vieweg/A. Köthel, DVB1. 1996, 1171 (1172 f.); dies., NJW 1999, 969 (969, 973); Quaas (Anm. 18), S. 37 (38 ff.).
Die Fachplanung in der Phase ihrer Europäisierung Von Rainer Wahl, Freiburg i. Br.
I. Die Europäisierung als Fundamentalvorgang des gesamten Verwaltungsrechts Die folgenreichste Entwicklung der deutschen Rechtsordnung nach 1949 resultiert aus der 1958 vollzogenen Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft. Deutschland ist weiterhin ein Staat, gewiss, aber in vielerlei Hinsicht ist es treffender, es als Mitglieds-Staat zu charakterisieren. 1 Seine Rechtsordnung ist nicht mehr autark oder autonom. Das Recht in einem Mitgliedstaat ist pluralisiert. Das in Deutschland geltende Recht ist nicht nur deutsches Recht, sondern ein aus mehreren Quellen stammendes, zusammengesetztes und ineinander verwobenes Recht. Dieser Grundsachverhalt bestimmt die Ausgangslage für nahezu jedes Rechtsgebiet neu. Es gibt kein Refugium mehr, in dem ein deutsches Rechtsgebiet mit sich selbst alleine ist. Stattdessen ist es zur Normallage geworden, dass jedes konkrete Rechtsgebiet in dem Sinne europäisiert worden ist, dass es vorrangiges Gemeinschaftsrecht und eine Reihe von indirekten Wegen der Beeinflussung gibt. 2 Dieses Ende der Eigenständigkeit des nationalen Rechts ist 1958 begründet, aber natürlich erst langsam und in den einzelnen Rechtsgebieten sehr unterschiedlich bewusst geworden. Rechtsgebiete, die typischerweise in nationalen Lebensverhältnissen verwurzelt sind, sind natürlich erst später erfasst worden. Der Bau von Wohnsiedlungen und Gebäuden, die Anlage von Straßen und Eisenbahnen im Landesinnern konnten so lange als national bleibende Sachaufgaben angesehen werden. Dementsprechend waren das Baurecht und das Fachplanungsrecht lange von der europäischen Einwirkung abgeschirmt oder wurden einfach so erlebt. Diese 1 Zur (Glied-)Staatlichkeit in der Europäischen Gemeinschaft grundsätzlich I. Pernice, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. V I I I , 2. Aufl. 1995, § 191 Rn. 20 ff. 2 Das Schrifttum zum Fundamentalvorgang der Europäisierung ist kaum mehr zu überblicken. Dazu R. Wahl, Der Staat 38 (1999), S. 495 ff., dazu auch ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a. M . 2003, S. 411 ff.; F. Schoch, NordÖR 2002, S. 1 ff.; ders., Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, in: E. Schmidt-Aßmann/D. Sellner/G. Hirsch/G.-H. K e m p e r / H . Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, Köln 2003, S. 507 ff.; ders., VB1BW 2003, S. 297 ff.; T. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, Tübingen 1996.
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Rainer Wahl
Wahrnehmung konnte auch dadurch bestärkt werden, dass weder das Bau-, noch das Fachplanungsrecht (in ihrem Kern) zu den Rechtssetzungskompetenzen der E U gehören. 3 Dies ist auch heute so und dies ist natürlich auch ein wichtiges Ausgangsdatum. Längst aber ist erkannt worden, dass die Europäisierung des nationalen Rechts nicht allein über den Weg der Rechtssetzung in den jeweiligen Kompetenzmaterien vor sich geht. Europäische Einflüsse sind auch in den von der Rechtsetzungskompetenz nicht erfassten Gebieten kräftig zu verspüren, auf die aber Rechtssätze einwirken, die die E U in Ausübung anderer Kompetenzen gesetzt hat. So ist natürlich das Verwaltungsverfahrensrecht als solches keine Materie der EG-Rechtssetzung, aber Verfahrensvorschriften und generelle Verfahrensgedanken sind in Richtlinien aus anderen Kompetenzbereichen enthalten. 4 Dieser Weg des Einflusses kann nicht überraschen, wenn man sich die Funktionsweise von Recht vor Augen hält: Auch im deutschen Recht gehören zum Bau- oder Fachplanungsrecht nicht nur die Regeln der jeweiligen Fachgesetze, sondern auch Regeln in anderen Gesetzen und Prinzipien des vorrangigen Verfassungsrechts. Wendet man diese Einbindung konkreter Gesetze in die Gesamtrechtsordnung auf die europäische Ebene an, so überrascht es nicht, dass im deutschen Baurecht und im deutschen Fachplanungsrecht allgemeine Rechtsgedanken und Verfahrens Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, Prinzipien des EGV oder außerfachplanungsrechtliche Vorschriften wirksam werden. Für das Fachplanungsrecht, auf das sich die weiteren Überlegungen konzentrieren, 5 kommt hinzu: Das Fachplanungsrecht ist Planungsrecht, das vom Grundsatz 3 Sieht man von den Transeuropäischen Netzen Art. 154 ff. EG ab, dazu E. Bogs, Die Planung transeuropäischer Verkehrsnetze, Berlin 2002 und R. Wahl, Europäisches Planungsrecht - Europäisierung des deutschen Planungsrechts, in: K. G r u p p / M . Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung - Recht - Rechtsschutz. Festschrift für W i l l i Blümel zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, S. 617 ff.; W Durner, Konflikte räumlicher Planungen, Tübingen 2005, S. 510, 518 ff.
4 R. Wahl, DVB1. 2003, S. 1285 (auch in: H. H i l l / R . Pitschas, Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, Berlin 2004, S. 357 f. 5
Gesamtdarstellungen zum Fachplanungsrecht: J. Kühling, Fachplanungsrecht, Düsseldorf 1988; J. Kühling/N. Hermann, Fachplanungsrecht, 2. Aufl., Düsseldorf 2000; R. Steinberg/T. Berg/M. Wickel (Hrsg.), Fachplanung, 3. Aufl., Baden-Baden 2000; B. Stüer/W. E. Probstfeid (Hrsg.), Die Planfeststellung, München 2003; B. Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 3. Aufl., München 2005; J. Ziekow (Hrsg.), Planung 2000 - Herausforderungen für das Fachplanungsrecht, Berlin 2001; ders., (Hrsg.), Praxis des Fachplanungsrechts, Berlin 2004; K. Kodal/H. Krämer/S. Rinke, Straßenrecht, 7. Aufl., München 2006; E. Marschall/ F. Kastner, Bundesfernstraßengesetz, 6. Aufl., Köln 2005; s. auch die Schriftenreihe Planungsrecht Bd. 1 - 1 0 , hrsgg. von B. Stüer und K. Grupp/ M. Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung - Recht - Rechtsschutz. Festschrift für W i l l i Blümel, Berlin 1999 sowie W. Blümel, Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Planfeststellung, in: W. Erbguth/J. Oebbec k e / H . - W . Rengeling/M. Schulte (Hrsg.), Planung. Festschrift für Werner Hoppe, München 2000, S. 3 ff. Umfassende Darstellungen in den Kommentaren zum Verwaltungsverfahrensgesetz (zu §§ 72 ff. V w V f G ) . Aus der reichhaltigen Berichts-Literatur R. Wahl, N V w Z 1990, 426; ders. /H. Dreier, N V w Z 1999, 606; ders./D. Hönig, N V w Z 2006 (im Erscheinen); B. Stüer/C.D. Hermanns, DVB1. 1999, 513; DVB1. 2000, 428; DVB1. 2002, 435; DVB1. 2002, 114; DVB1. 2003, 711 ; B. Stüer, DVB1. 2003, 899.
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der allseitigen Abwägung aller berührten Belange beherrscht ist. Aus seinem Grund Verständnis als Planungsrecht heraus hat es zahlreiche konstitutive Verbindungen zu anderen Materien, insbesondere zum Umweltrecht, für das die EG eine eigene Kompetenz hat (Art. 174 ff. EG). Das planerische Abwägungsgebot schlägt so eine folgenreiche Brücke zu anderen Rechtsmaterien. Die Rechtsentwicklungen des letzten Jahrzehnts, in dem Themen des europäischen Naturschutzes (FFHRichtlinie), der Umweltverträglichkeitsprüfungen (in Projekten und Programmform) dominant geworden sind, zeigt den Weg des Fachplanungsrechts aus einer nationalen Materie zu einem nachhaltig europäisierten Rechtsgebiet. Die weiteren Überlegungen zeichnen diesen Weg nach. Sie nehmen zum einen den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und die daraus folgende Europäisierung des nationalen Rechts auch im Bereich der Fachplanung als Ausgangs- und Normallage, über die kein weiteres Wort mehr zu verlieren ist. In der Folge daraus interessiert einerseits die oft behandelte absteigende Linie, in der das deutsche Fachplanungsrecht durch das Gemeinschaftsrecht beeinflusst ist. Die Überlegungen gehen zum andern aber auch der Frage nach den Quellen nach, aus denen sich das europäische Recht inhaltlich speist. Im Blickpunkt steht dabei eine aufsteigende Linie vom deutschen zum Gemeinschaftsrecht und damit auch der mögliche Vorbildcharakter eines bewährten deutschen Rechtsinstituts wie der Planfeststellung im Prozess der wechselseitigen Beeinflussung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. 6 Die Planfeststellung ist ein besonders bewährtes Rechtsinstitut (II.). Ihr Hauptkennzeichen, die Konzentrationswirkung, stimmt in einer überraschenden Weise mit Konzepten des EU-Rechts überein, soweit dieses eine gesamthafte Betrachtung, eine medienübergreifende und inneradministrative Fragmentierung und ein überwölbendes Konzept verfolgt. Die weiteren Ausführungen beschäftigen sich mit dem Prozess der Europäisierung des Fachplanungsrechts (III.) und seiner sich daraus ergebenden legistischen Struktur (IV.). Abschließend geht es um die Zusammengehörigkeit der beiden zentralen Entwicklungsstränge, sowohl des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wie einer relativen Eigenständigkeit des nationalen Rechts (V.).
II. Entwicklungslinien des traditionellen Instituts der Planfeststellung: Überblick Die Planfeststellung ist ein über 170 Jahre bewährtes Institut. 7 Zu ihrer Beschreibung und zum Verständnis ihrer Eigenarten hat W i l l i Blümel in zahlreichen 6 Es kommt die Beeinflussung in der horizontalen Richtung, zwischen den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen untereinander, hinzu. 7 Im Folgenden geht es um eine geraffte, auf die tragenden Elemente der Planfeststellung konzentrierte Darstellung. A u f umfangreiche Nachweise wird - nicht zuletzt mit Rücksicht auf die ausführliche Darstellung und die umfassenden Literaturnachweise von W. Blümel,
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Veröffentlichungen Entscheidendes beigetragen. 8 Blümel hat den Ursprung des Instituts im preußischen Eisenbahngesetz vom Jahre 1838 9 nachgewiesen. Bezeichnend ist ein Parai lei Vorgang oder eine Ko-Evolution: So wie der Eisenbahnbau die Anlage von Infrastruktur auf ein völlig neues Niveau hob, so hat dies zugleich die juristische Innovation der Planfeststellung herausgefordert und bewirkt. Die Planfeststellung als rechtlich verbindliche und umfassende Regelung aller mit dem Vorhaben im umgebenden Raum zusammenhängender Rechtsprobleme ist ein bemerkenswertes und gelungenes Rechtsinstitut, weil sie eine Sachaufgabe in nahezu idealer und problemadäquater Form umfassend löst. Das Grundproblem von Infrastrukturprojekten entsteht daraus, dass die durchgehende Linie der Straße, Eisenbahn oder der (künstlichen) Wasserstraße zahlreiche räumliche Situationen verändert, in sie eingreift, die Umgebung gestaltet und in viele schutzwürdige Belange von einzelnen oder von Naturschutz-, Wasser- und anderen Belangen eingreift. 1 0 Wegen dieser nachteiligen und intensiven Einwirkungen musste der PFB von Anfang an viele Ausgleichsentscheidungen einschließen, die sich vor allem bei Auflagen für den Vorhabenträger niederschlugen. Die Planfeststellung war schon immer eine Abwägungsentscheidung, auch wenn der Rechtsbegriff (oder gar die Dogmatik) noch nicht verfügbar war (Abwägung avant la lettre). Die wichtigste Eigenart der PF ist es, dass das zu Grunde liegende Infrastrukturvorhaben ein überaus komplexes Vorhaben ist, für das eigentlich eine kaum zu überblickende Vielzahl von Genehmigungen (im Wasser-, Naturschutz-, Gefahrenabwehr-, Lärmschutzrecht usw.) erforderlich wäre. Die Planfeststellung, so wie sie sich rasch im 19. Jh. entwickelt hat, ist problemadäquat, weil sie dieses zentrale Problem überzeugend löst. Die Konzentrationswirkung der Planfeststellung, 11 die
Die Bauplanfeststellung. 1. Teil: Die Planfeststellung im preußischen Recht und im Reichsrecht, Stuttgart 1961; ders., Die Planfeststellung, 2. Teil: Die Planfeststellung im geltenden Recht - Habilitationsschrift aus dem Jahre 1 9 6 7 - 2 Bände, Speyer 1994 (Speyerer Forschungsberichte Nr. 140) - verzichtet. 8 Blümel (Anm. 7); ders., Beiträge zum Planungsrecht 1959-2000, hrsg. von K. Grupp/ M. Ronellenfitsch, Berlin 2004, S. 441 - 4 6 3 . 9 Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen vom 3. November 1838 (Preuß. GesetzSammlung, S. 505). Ausführlich Blümel, Bauplanfeststellung I (Anm. 7), S. 21 (eisenbahnrechtliche Planfeststellung als ein Institut von besonderem Reiz und Interesse), S. 84 ff. Gewisse Vorläufer gab es bei den Vorschriften über den Bau der sog. Kunststraßen, dazu Blümel, ebd., S. 86, 43 ff. 10 Blümel hat als klassische Definition die frühe Umschreibung von W. Gleim (Das Eisenbahnbaurecht, Berlin 1893, S. 341) genannt: Planfeststellung als „rechtswirksame Bestimmung über die Lage, die Gestaltung oder Beschaffenheit der (Bahn-)Anlage selbst in allen ihren Bestandteilen, sowie über die Frage, wieweit es zugunsten der durch die (Eisenbahn-)Unternehmung in Mitleidenschaft gezogenen öffentlichen und Privatinteressen der Herstellung besonderer Anlagen (Nebenanlagen) bedarf, wo und wie dieselben auszuführen sind".
ι· Dazu Blümel, Bauplanfeststellung I (Anm. 7), S. 28, 84 f., 88 f., W Blümel/M. Ronellenfitsch, Die Planfeststellung in der Flurbereinigung, Hiltrup 1975, S. 55 f., 64 ff.; M. Ronellenfitsch, VerwArch 80 (1989), 92, 94 f.; P. Karwath, Die Konzentrationswirkung der Plan-
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eine Entscheidung uno actu ermöglicht, ist eine bestechend einfache, aber gerade deshalb auch eine rechtlich sehr voraussetzungsvolle Lösung. Sie bedingt eine Reihe von administrativen und rechtlichen Vor- und Begleit- Leistungen. Das letztendliche Ziel der einheitlichen Entscheidung und der Ersetzung aller anderen Bewilligungen usw. ist nämlich nicht durch einen einfachen juristischen Gewaltakt, etwa durch die einfache hoheitliche Anordnung der Konzentration oder durch ein gewaltsames Durchschlagen der Problemknoten, zu bekommen. Die erstrebte Konzentrationswirkung muss stattdessen durch aufwendige administrative Leistungen fundiert werden, die eine hohe sachliche Qualität der Entscheidung garantieren. Deshalb muss die eine Verwaltungsbehörde, die alleine entscheidet, vorher die Stellungnahmen aller berührten Verwaltungseinheiten intern einholen und Kontakte mit den vielen Betroffenen herstellen, Informationen austauschen und die Interessen zur Kenntnis nehmen, kurz: Akzeptanz muss gesucht werden. Im Ergebnis gehört zur Gesamtfigur der Planfeststellung eine Reihe von notwendig miteinander verbundenen Elementen als ihre Voraussetzungen: Erstens und vieles weitere fundierend ist ein umfassendes, aufwendiges förmliches Verfahren mit großen Beteiligungsmöglichkeiten der einzelnen erforderlich. 12 Zweitens ist ein besonderer Schutz für die betroffenen Eigentümer erforderlich, denen alle Anhörungsmöglichkeiten und Entschädigungsleistungen eines rechtsstaatlichen Enteignungsverfahrens geboten werden. Des Weiteren entscheidet über das Ob der Enteignung nicht die lokale oder regionale Behörde, sondern die höchste politische Instanz. Darin verwirklicht sich ein Schutz des einzelnen gegenüber der Verwaltung nicht durch Einschaltung der Gerichte, sondern der höchsten politischen Stelle, des Kabinetts. 13 Drittens hat die entscheidende Behörde bei den „Neben"- oder Inhalts-Bestimmungen des Planfeststellungsbeschlusses den Ausgleich der Interessen aller anzuzielen. Im Ergebnis gilt: Das Rechtsinstitut der Planfeststellung hat nicht nur die Konzentrationswirkung, sondern es hat diese Wirkung oder dieses Privileg sorgsam und intensiv erarbeitet und durch Verfahrensleistung nach innen und außen „erfeststellung nach dem Bundesfernstraßengesetz, Bad Godesberg 1968; Blümel, Bauplanfeststellung I (Anm. 7), S. 90: Die Konzentrationswirkung hat sich nicht zwingend aus dem Eisenbahngesetz ergeben. Die Praxis aber hat sie von Anfang an (ziemlich) umfassend verstanden. Die Konzentrationswirkung ist so ein Werk der Gesetzgebung und der Praxis. 12 Das besonders ausgestaltete förmliche Verfahren bietet eine Informationsbasis und die Möglichkeit, Interessen zu artikulieren, ehe die Verwaltung mit dem Planfeststellungsbeschluss die Konzentrationswirkung auslöst. Im Ergebnis ist das Verfahren rechtlich in der gesamten räumlichen Umgebung verortet, alle räumlichen Auswirkungen, so wie sie zu einer jeweils gegebenen Zeit als relevant angesehen werden, sind rechtlich abgearbeitet, in den Interdependenzen angegangen . . . Zum Planfeststellungsverfahren im 19. Jh. Blümel, Bauplanfeststellung I (Anm. 7), S. 99 ff. 13
Dies ist eine Alternative gegenüber dem damals nicht verwirklichten gerichtlichen Rechtsschutz; dazu Blümel, Bauplanfeststellung I (Anm. 7), S. 97 f. I m Einzelnen war die Rechtslage durchaus komplizierter. Dies ändert aber nichts daran, dass die vom Ministerium ergangene Planfeststellung durch Rechtsmittel nicht anfechtbar war, s. auch Blümel/Ronellenfitsch (Anm. 11), S. 55 ff.
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dient". Schon der frühe rechtsstaatliche Verwaltungsstaat des 19. Jh. wusste, dass man für die Akzeptanz von Vorhaben, die vielen nützen, aber einige besonders nachteilig betreffen, vieles tun muss. Der fertige Planfeststellungsbeschluss ist ein folgenreiches, auch schneidiges Institut, 1 4 aber vor ihm liegen viele Anstrengungen der Verwaltung, die ihn erst ermöglichen. So war die Planfeststellung von ihrem Beginn an ein bewundernswertes administrativ und rechtlich technisches Institut; sie war auch eine Figur, die die fortgeschrittensten Elemente der Rechtsepoche spiegelte. In ihrem Kern war die Planfeststellung ein Institut des Verwaltungsstaates: 5 2. Die Erfolgsgeschichte der so ausgebildeten Figur der Planfeststellung hielt auch in der Weimarer Z e i t 1 6 sowie in den Jahren des NS-Regimes an. Erst mit dem Grundgesetz gab es einen großen und grundsätzlichen Wandel: Der bisher legislativ und administrativ orientierte Rechtsstaat wandelte sich zum gerichtsorientierten Rechtsstaat . Der „Schlussstein des Rechtsstaates", 17 als der die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 I V GG bezeichnet wurde, sowie die Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel sind die Beweise für diesen grundsätzlichen Wandel. A n der rechtlichen Konstruktion und an den Kennzeichen der Planfeststellung änderte sich nichts; es blieben das umfassende Verwaltungsverfahren, die breite Anhörung der Betroffenen, der Interessenausgleich und die Konzentrationswirkung. Im Rechtsleben und in der Verwaltungspraxis änderte sich aber viel, so viel, wie sich immer ändert, wenn ein materielles Recht, das Anforderungen an die Verwaltung stellt (Verwaltungsrecht als Recht der Verwaltung) ins Blickfeld und in den Aktionsradius von Gerichten gerät und dadurch folgenreich subjektiv gewendet wird. Wie bei der städtebaulichen Planung stellte sich unübersehbar die Frage, was in den von Planern und Technikern durch-
14 M i t der privatrechtsgestaltenden Wirkung, mit der Bestandskraft des VA und mit der Duldungspflicht der Anlieger, dazu H.-R Μ ichler, Die Duldungswirkung der Planfeststellung, in: K. G r u p p / M . Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung - Recht - Rechtsschutz. Festschrift für W i l l i Blümel, Berlin 1999, S. 357 ff. 15 Der Verwaltungsstaat des 19. Jhs. lebte sowohl aus den Traditionen der aufgeklärten Reformbürokratie wie auch aus den Prinzipien des frühen Rechtsstaates. Die einzelnen Betroffenen waren zwar nicht durch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit geschützt, aber in einer anderen Weise, nämlich durch das aufwendige förmliche Verfahren (Schutz durch Verfahren) und durch die Einschaltung der höchsten politischen Regierungsinstanz. 16
Als Herausforderung tauchten jetzt bundesstaatliche Probleme auf, die durch die Übernahme der bisherigen Landeseisenbahnen auf das Reich entstanden sind (Art. 89 ff. +171 WRV). Die Konzentrationswirkung der von der Reichsbahn-Gesellschaft vorgenommenen Planfeststellungen traf jetzt landesrechtliche Vorschriften. Es überrascht nicht, dass in mehreren Konflikten der Staatsgerichtshof angerufen wurde, dazu Blümel, Bauplanfeststellung I (Anm. 7), S. 172 ff., 174, 177. - Diese Streitigkeiten waren ein Zeichen des administrativen oder gouvernementalen Rechtsstaates, in denen vor dem Staatsgerichtshof das Reich und die Länder, aber noch nicht die einzelnen stritten. 17 R. Thoma, Über die Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland., Recht - Staat - Wirtschaft III, 1951, S. 9 (Art. 19 IV GG der „kühne" Absatz, der dem Gewölbe des Rechtsstaats den Schlussstein einfügt).
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geführten und verwirklichten Planungen rechtlich geregelt ist, was der rechtliche Anteil ist, wie er im einzelnen benannt und begrifflich konzipiert werden und zu gerichtlichen Kontrollmaßstäben ausbuchstabiert werden könnte. Und da der gerichtliche Rechtsschutz seit der Systementscheidung für den subjektiven Rechtsschutz (Art. 19 I V GG und andere Vorschriften) 18 fast immer der Verwirklichung subjektiver Rechte zu dienen hat, stellt sich die weitere Frage, welche Rechte den Eigentümern und sonstigen Betroffenen gegenüber einem öffentlichen Infrastrukturvorhaben eingeräumt sind und wie diese Rechte und Interessen in das Rechtsprogramm der Planung eingehen. Der umfassende Rechtsschutz (spätestens) nach 1949 zog die Planung insgesamt in einer qualitativ gesteigerten Weise in das Recht hinein. M i t diesem Verrechtlichungsschub wuchs zugleich die Zahl relevanter Rechtsfragen in der Bauleit- und Fachplanung schnell an. Jetzt, in diesem neuen Entwicklungsstadium, musste ein eigenständiges und eigentliches Planungsrecht entstehen. 19 M i t der gerichtlichen Überprüfbarkeit und der „Produktion" von vielen Gerichtsentscheidungen veränderte sich auch und folgenreich der Kreis der an der Fachplanung Interessierten, veränderten sich auch die Texte zur Fachplanung: Das Richterrecht trat machtvoll hervor und stieß einen Prozess der Intensivierung der Interpretation und der weiteren Verrechtlichung an. Der bisherige Blick von Praktikern und Ministerialbeamten auf die gesetzgeberischen und administrativen Probleme der Planfeststellung 20 wurde nachhaltig ergänzt durch die Perspektive der Betroffenen, die sich, vertreten durch immer sachkundiger werdende Anwälte, mit ihren Belangen bei den Gerichten meldeten; die Richter antworteten auf die Klagen mit ihrer typischen und originären Sicht auf den Rechtsschutz. Bei der Aufgabe, ein Planungsrecht auszubilden, übernahm bekanntlich das Bauleitplanungsrecht die Führung, nicht zuletzt deshalb, weil dort die immer an erster Stelle stehenden prozessualen Fragen viel komplizierter waren und neue Lösungen erforderten. Mehr als ein Jahrfünft dauerte der Streit um die Rechtsnatur der Bebauungspläne und ihrer Implikationen für den Rechtsschutz, 21 bis diese Fra18 R. Wahl, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner (Hrsg.), V w G O , Loseblattkommentar, München, Stand Vorb. § 42 Abs. 2, Rn. 1 - 1 6 . 19 Die Geschichte der Auswirkungen des umfassenden Rechtsschutzes auf die (Durchdringung der) einzelnen Rechtsgebiete ist noch nicht geschrieben, an ihr besteht aber ein hohes Interesse, weil sie ein Hauptteil der umfassenden Verrechtlichungsprozesse betrifft, die nach 1949 im deutschen Öffentlichen Recht stattgefunden haben und die dessen Eigenart begründet haben. Wichtige Beiträge zum Gesamtthema stammen von W. Blümel, Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit (II), in: K. G r u p p / M . Ronellenfitsch (Hrsg.), Beiträge zum Planungsrecht 1959-2000, Berlin 2004, S. 419 ff.; ders., D V B l . 1975, S. 695 ff. (= G r u p p / R o nellenfitsch, ebd,. S. 169 ff.). 20
Erwähnt werden soll, dass die gesetzgeberischen Aktivitäten zu Beginn der Bundesrepublik durchaus beachtlich sind, so das Bundesbahngesetz von 1953 und dann das - modernste damalige - Gesetz, das Bundesfernstraßengesetz von 1953. 2
· E. Forsthoff: D V B l . 1957, S. 113 ff.; Zusammenfassend dazu W. Brohm, Rechtsschutz im Bauplanungsrecht, Stuttgart 1959, S. 5 3 - 6 2 ; R. Breuer, Die hoheitliche raumgestaltende 28 FS Bartlsperger
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ge d u r c h § 10 B B a u G i n einer für d i e Praxis ausreichend abschließenden Weise g e k l ä r t w u r d e . D e m g e g e n ü b e r w a r b e i der Planfeststellung, d i e als V e r w a l t u n g s a k t erging, die A n f e c h t u n g s k l a g e u n p r o b l e m a t i s c h . W e i t e r e P r o b l e m e gab es i m H i n b l i c k a u f die K l a g e b e f u g n i s u n d die G r ü n d e , a u f d i e sich d i e Ü b e r p r ü f u n g d u r c h das G e r i c h t stützen k o n n t e . B e i den danach zu k l ä r e n d e n m a t e r i e l l - r e c h t l i c h e n Fragen g i n g e i n weiteres M a l das B a u p l a n u n g s r e c h t voraus. D i e E n t s c h e i d u n g des B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t s v o m 12. D e z e m b e r 1969 ( B V e r w G E 34, 3 0 1 ) m a c h t e n i c h t n u r f ü r das B a u p l a n u n g s r e c h t , sondern f ü r das gesamte Planungsrecht, d a m i t auch für das F a c h p l a n u n g s r e c h t , R e c h t s g e s c h i c h t e . 2 2 Das G e r i c h t hatte n i c h t m e h r u n d n i c h t w e n i g e r z u entscheiden als d i e K e r n f r a ge, was d e n n an der v o n A r c h i t e k t e n u n d T e c h n i k e r n v o r g e n o m m e n e n
Planung
r e c h t l i c h r e l e v a n t ist, w o r i n d i e r e c h t l i c h e n B i n d u n g e n der Planer u n d der P l a n u n g als einer Fachaufgabe bestehen. D i e große E n t d e c k u n g u n d I n n o v a t i o n w a r e n die K r e a t i o n des A b w ä g u n g s g e b o t s , seine d o g m a t i s c h e A u s f o r m u n g i n e i n e r beachtl i c h e n B i n n e n s t r u k t u r 2 3 u n d die B e s t i m m u n g des K o m p l e m e n t ä r v e r h ä l t n i s s e s v o n planerischer G e s t a l t u n g s f r e i h e i t u n d i h r e n r e c h t l i c h e n G r e n z e n . 2 4 A u s d e m sozusa-
Planung, Bonn 1968. Nachzeichnung der Diskussion von R. Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Bd. 1, Berlin 1978, S. 2 7 - 4 5 (mit Nachweisen). 22 W. Hoppe, DVB1. 2003, S. 697 mit dem kennzeichnenden Untertitel: „Hommage an die Leitentscheidung zum planungsrechtlichen Abwägungsgebot vom 12. Dezember 1969 (BVerwGE 34, 301)"; ders., DVB1. 1964, 165 (Pionieraufsatz zum Abwägungsgebot); ders., BauR 1970, S. 15 ff. - Es belegt den Rang dieses Urteils, dass es immer wieder als eine der großen Leistungen des (rechtsfortbildenden und rechtsschöpferischen) Richterrechts gewürdigt worden ist, vgl. ζ. Β . J. Berkemann, Horizonte rechtsstaatlicher Planung, in: J. Berkem a n n / G . Gaentzsch/G. H a l a m a / H . Heeren/E. Hien/H.-P. Lemmel, Planung und Kontrolle. Festschrift für Otto Schlichter zum 65. Geburtstag, Köln 1995, S. 27, 47 f.; K. Redeker, Entwicklungen und Probleme verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung, in: N. Achterberg/H. U. Scupin (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, Berlin 1983, S. 861, 874 („Eine der großen Leistungen des Richterrechts der letzten 20 Jahre."); J. Kormann/R. Stich, Das neue Bundesbaurecht, München 1994, S. 275; H. Sendler, Über Wechselwirkungen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung i m Bau- und Umweltrecht, in: H.-J. Driehaus (Hrsg.), Baurecht - aktuell. Festschrift für Felix Weyreuther, Köln 1993, S. 3 ff.; ders., (Un)erhebliches zur planerischen Gestaltungsfreiheit, in: J. Berkemann/G. Gaentzsch/G. H a l a m a / H . Heeren/E. Hien/H.-P. Lemmel, Planung und Kontrolle. Festschrift für Otto Schlichter zum 65. Geburtstag, Köln 1995, S. 55 ff.; R. Bartlsperger, in: W. Erbguth/J. Oebbecke/H.-W. R e n g e l i n g / M . Schulte (Hrsg.), Abwägung i m Recht, Köln 1996, S. 79 ff.; R. Käß, Inhalt und Grenzen des Grundsatzes der Planerhaltung, Berlin 2002, S. 135. 23 Entfaltet in der Lehrbuch- und Kommentarliteratur. Die Ausbildung einer hochdifferenzierten Dogmatik hat besonders gefördert W. Hoppe, zusammenfassend in: W. H o p p e / C . Bönker/S. Grotefels, Öffentliches Baurecht, 2. Aufl., München 2002, § 7, S. 2 2 3 - 3 1 3 ; vgl. auch W. Brohm, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl., München 2002, § § 1 1 - 14. 24 Zur planerischen Gestaltungsfreiheit das einprägsame Diktum, eigentlich schon ein geflügeltes Wort, in BVerwGE 34, 304: „Erstens, dass die Befugnis zur Planung - hier wie anderweit - einen mehr oder weniger ausgedehnten Spielraum an Gestaltungsfreiheit einschließt und einschließen muss, weil Planung ohne Gestaltungsfreiheit ein Widerspruch in sich wäre." Vgl. auch M. Ihler, Die Schranken der planerischen Gestaltungsfreiheit, Berlin 1985.
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gen unschuldigen Satz in § 1 I V 2 BBauG (damalige Fassung), dass die öffentlichen und privaten Belange miteinander und gegeneinander abzuwägen sind, entstand durch Richterrecht (und einige Vorarbeit in der Literatur) ein dogmatisch eindrucksvolles Gebäude. Die Judikatur nahm die Formulierung der Abwägung im Gesetz, von der man nicht so recht weiß, wie sie in das Gesetz geraten war, 2 5 einfach ernst, sie nahm sie sozusagen zum Nennwert und machte daraus eine dogmatische Figur. Sie übersetzte und transformierte die Alltagsvorstellung, dass man nicht alles zugleich haben kann, sondern dass es bei einer Entscheidung über komplexe Verhältnisse ein Vorziehen und ein Nachsetzen gibt, zu einer griffigen und so erst juristisch handhabbaren und anspruchsvollen Einsicht. Die Judikatur verstand es, die Sache auf den Begriff zu bringen und bewirkte damit den Durchbruch, der damit üblicherweise verbunden ist. Es lag in der Logik dieser Entwicklung, dass diese rechtliche Strukturierung der Planung wie selbstverständlich auch auf das Fachplanungsrecht übertragen wurde; dies geschah in der fachplanungsrechtlichen Grundsatzentscheidung zum Bau der Β 42 im Urteil vom 14. Februar 1975 (BVerwGE 48, 56), die rasch zum Klassiker des Fachplanungsrechts wurde. Wegweisend waren beide Grundsatzentscheidungen auch darin, dass sie das bekannte Prüfungsschema für die Kontrolle von Plänen mit vier Stufen entwickelten. 2 6 Die so entwickelte allgemeine Planungsdogmatik erfuhr in der Folgezeit viele Verfeinerungen und dann auch wieder Entfeinerungen. 27 Die Eigenarten der Fachplanung wurden mit der Zeit erkannt und dogmatisch ausformuliert. Einen nicht zu unterschätzenden Schub an Aufmerksamkeit und daraus folgender vertiefter wissenschaftlicher Durchdringung erhielt das Fachplanungsrecht auf einem eher ungewohnten Weg: Die Aufnahme des Planfeststellungsverfahrens in die Verwaltungsverfahrensgesetze seit 1976 - §§ 72 ff. (L)VwVfGe - machte aus diesem Teil des besonderen Planungsrechts für die Lehrbuch- und Kommentarliteratur einen Bestandteil des Allgemeinen Verwaltungs(Verfahrens)Rechts - der Umfang der Literatur und der Kreis der Autoren zur Planfeststellung weitete sich stark aus. 2 8 Insgesamt kann man vom Glanz des Abwägungsgebots und der Dogmatik des räumlichen Planungsrechts sprechen. Dabei wurde Stück für Stück angebaut, verfeinert, spezialisiert; auch das Verständnis der Konzentrationswirkung wurde vollends ge25
Käß (Anm. 22), S. 135 f., Fn. 2 und 3, führt anhand der Gesetzesmaterialien und des Gesetzgebungsverfahrens den Nachweis, dass dem Gesetzgeber die Bedeutung der Abwägung und die der Grundstrukturen der Planung allenfalls in Ansätzen bewusst war. 2
6 BVerwGE 48, 56 - Β 42-Entscheidung.
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Diese Systematisierung und der Inhalt der einzelnen Prüfungsstationen können hier nicht weiter behandelt werden. Zur Entwicklung und Modifikation dieses Prüfungsschemas Kühling, Fachplanung (Anm. 5), S. 68 ff., 77 ff., 101 ff.; R. Wahl, N V w Z , 1990, S. 4 3 3 - 4 3 8 ; ders./H. Dreier, N V w Z 1999, 606, 6 1 3 - 6 1 9 und ders./D. Honig, N V w Z 2006, ( i m Erscheinen); Steinberg /Berg/Wickel (Anm. 5), S. 1 7 5 - 2 4 4 ; P. Stelkens IH. J. Bonk/M. Sachs, V w V f G , 6. Aufl., München 2001, § 74, Rn. 23. 28 Dazu R. Wahl, N V w Z 2000, 1192; dort auch der Vergleich mit dem Genehmigungsrecht, dem eine solche Konzentration und Konturierung durch eine Stammgesetzgebung fehlt.
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klärt. 2 9 Kurzum - die Dogmatik des Fachplanungsrechts war rege, die Gerichtsbarkeit äußerst produktiv und für das weitere Durchdenken der Probleme anregend, die Literatur versuchte eine Systematisierung, insgesamt: die Dogmatik des Fachplanungsrechts hatte eine beträchtliche Höhe erreicht. Längere Zeit waren die „Begünstigten" dieser Rechtsprechung die Nachbarn, die Anlieger der Vorhaben, insgesamt die Dritten (die direkt betroffenen Eigentümer hatten wie auch schon früher eine gesicherte Rechtsstellung im Verfahren und beim Rechtsschutz). Der Siegeszug der Nachbar- und Drittklagen, der die Zeit nach 1960 bestimmt, kann auch und gerade beim Rechtsschutz gegen Planfeststellungen beobachtet werden. 3 0 Weil das Richterrecht die Entwicklung des Fachplanungsrechts bestimmte, dominierte längere Zeit die Perspektive des Rechtsschutz begehrenden Einzelklägers, die Kontrollmaßstäbe wurden ausdehnend interpretiert und die Kontrolldichte wuchs an. In den neunziger Jahren, unter den Herausforderungen einer verstärkten Bautätigkeit im Infrastrukturbereich infolge der deutschen Einigung und im Bewusstwerden der internationalen Vergleichssituation der Rechtsordnungen (Stichworte Standortdiskussion) gab es eine Gegenbewegung. Sie ging jetzt vom Gesetzgeber aus, der mit den Gesetzen zur Beschleunigung und Vereinfachung von Zulassungsverfahren antwortete. 31 Wichtige Elemente dieser Bewegung waren die Einführung von Entscheidungsfristen in den Genehmigungs- und Planungsverfahren, ebenso die flächendeckende Verbreitung von Präklusionsvorschriften. 32 Das all-
29 Nachweise R. Wahl , N V w Z 1990, 430; clers./ Η. Dreier, N V w Z 1999, 606, 609. 30 W. Blümel veröffentlichte 1967 seinen Klassiker: Raumplanung, Vollendete Tatsachen und Rechtsschutz, in: K. Doehring (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, München 1967, S. 133 ff., weitere Arbeiten Blümeis sind enthalten in der Aufsatzsammlung: K. Grupp/M. Ronellenfitsch (Hrsg.), Beiträge zum Planungsrecht 1959-2000, Berlin 2004. - Eine Pionierarbeit aus der Sicht der praxisorientierten Literatur war W. Hoppe, Rechtsschutz bei der Planung von Straßen und anderen Vorhaben, München 1971 (2. Aufl. mit H. Schiarmann, München 1981; 3. Aufl., München 2001 mit Schiarmann und R. Buchner mit ausführlicher Bibliographie und Nachweisen). 31 Zu den Beschleunigungsgesetzen gehören das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz (1991), Planungsvereinfachungsgesetz (1993), Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz (1996), Stendal-Gesetz (1993) und das Wismar-Gesetz (1994). Aus der umfangreichen Literatur: O. Schlichter u. a., Investitionsförderung durch flexible Genehmigungsverfahren: Bericht der Unabhängigen Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, Bonn 1994; M. Ronellenfitsch (Hrsg.), Beschleunigung und Vereinfachung der Anlagenzulassungsverfahren, Berlin 1994; U. Steiner, Die Beschleunigung der Planung für Verkehrswege i m gesamten Bundesgebiet, in: W. Blüm e l / R . Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, Berlin 1994, S. 151 ff.; W. Erbguth, Zur Vereinbarkeit der jüngeren Deregulierungsgesetzgebung im Umweltrecht mit dem Verfassungs- und Europarecht - am Beispiel des Planfeststellungsrechts, Baden-Baden 1999; G. Lübbe-Woljf, Die Beschleunigungsgesetze, in: A. Daily (Hrsg.), Wirtschaftsförderung per Umweltrecht? Loccumer-Protokolle 5 / 9 7 , Rehburg-Loccum 1997, S. 88. Übersicht bei Blümel, in: ders., Beiträge zum Planungsrecht 1959-2000, Berlin 2004, S. 457 ff.; B. Stüer/W. E. Probstfeld (Anm. 5), S. 2 - 7 . 32
H. C. Röhl/C. Ladenburger, Die materielle Präklusion im raumbezogenen Verwaltungsrecht, Berlin 1997; T. v. Danwitz, UPR 1996, 323.
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gemeine Gebot der „Zügigkeit" von Verfahren (§ 9 V w V f G in der Fassung von 1996) avancierte zum symbolisch-normativen Ausdruck dieser verwaltungspolitischen Bewegung. 3 3 Materiell-rechtlich sicherte der neuentwickelte Grundsatz der Planerhaltung 34 den Hauptteil eines Plans rechtlich ab, wenn die Rechtswidrigkeit abtrennbare Teile betrifft. Umfangreiche Regeln über die Begrenzung der Fehlerfolgen traten hinzu. 3 5 Dem Grundgedanken der Vereinfachung ist das neu eingeführte Institut der Plangenehmigung verpflichtet. 3 6 Insgesamt blieb das dogmatische System in seinen Grundzügen unverändert; die Modifikationen wurden gleichwohl auch grundsätzlich kritisiert. 3 7 Das Fachplanungsrecht erwies sich in seiner Dogmatik als offen und flexibel. In ähnlicher Weise wurden auch die beträchtlichen Herausforderungen durch die deutsche Einigung und den dadurch ausgelösten umfangreichen Neu- und Ausbau von Infrastruktureinrichtungen bewältigt.38
5. Eine der großen Herausforderungen der Nachkriegsentwicklung war in den Jahren nach 1970 der Einbau des Umweltschutz.es. 39 Fachlich stellte er die Verwaltung und Praxis der Fachplanung vor einige Probleme. Für das Fachplanungsrecht selbst war aber der letztlich erfolgreiche Einbau der Umweltschutzbelange prinzipiell kein Problem. Die entscheidende Stelle für die Offenheit des Planungsrechts war und ist das Abwägungsgebot. Es besagt, dass alle relevanten Belange in die Abwägung einbezogen werden müssen. Dank seiner Universalität kann es vor dem Erfolge bei der Verkürzung der Dauer von Verwaltungsverfahren, auch bei Planfeststellungen, gab es in bemerkenswerter Weise, weil sich Verwaltungspraxis und -politik für die Umsetzung der Ziele einsetzen und z. B. die Mittel der Personalpolitik einsetzen. 34 H. Sendler, in: J. Kormann (Hrsg.), Aktuelle Fragen 1994, S. 9, 24 ff., 36 ff.; W Hoppe, D V B l . 1996, 12 ff.; ders., (Un)erhebliches zur planerischen Gestaltungsfreiheit, in: J. H a l a m a / H . Heeren/E. Hien/H.-P. Lemmel, Planung und Schlichter zum 65. Geburtstag, Köln 1995, S. 87 ff.
der Planfeststellung, München D V B l . 1994, 1033, 1041; ders., Berkemann/G. Gaentzsch/G. Kontrolle. Festschrift für Otto
35 Sendler (Anm. 34), S. 24; Stüer, Handbuch (Anm. 5), Rn. 3 9 1 7 - 3 9 4 2 ; H. Fischer, in: Ziekow (Anm. 5), S. 133. Materialreich M. Ronellenfitsch, Fachplanung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: K. G r u p p / M . Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung - Recht - Rechtsschutz. Festschrift für W i l l i Blümel zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, S. 497 ff. mit Literatur; andere Akzente von W. Blümel, Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit (II), in: Grupp/Ronellenfitsch (Anm. 19). 36
H.-J. Ringel, Die Plangenehmigung im Fachplanungsrecht, Berlin 1996.
37
Bei Erbguth (Anm. 31), mit grundsätzlicher Kritik (vgl. Gesamtergebnis S. 98).
38
Zunächst zeitlich befristetes Recht mit besonderer Beschleunigung und Vereinfachung und Reaktion auf die Situation, dass es zunächst keine funktionsfähige Verwaltung in den neuen Ländern gab. 39
Aus der Literatur zum Problemkreis Umweltrecht und Fachplanungsrecht R. Sparwasser/R. Engel/A. Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl., Heidelberg 2003, § 4 V d, S. 185 ff.: „Das Planfeststellungsrecht im Umweltrecht und seine Konsolidierung durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.", S. 189; K. Grupp (Hrsg.), Umsetzung und Vollzug von EGRichtlinien im Straßenrecht, Bremerhaven 2004; P. Stelkens IH. J. Bonk/M. Sachs, V w V f G , 6. Aufl. 2001, § 72 Rn. 13; neuestens zum europäischen Umweltplanungsrecht K.J. Faßbender, N V w Z 2005, 1122.
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Abwägungsgebot sozusagen überhaupt nichts prinzipiell Neues oder Überraschendes geben, weil definitionsgemäß alles Wichtige und Relevante in die Abwägung einbezogen werden muss. Was es dagegen geben kann, ist, dass es im gesellschaftlichen und politischen Bewusstsein zu einer Um- oder Höherbewertung von einzelnen Belangen kommt. Darauf ist aber das Abwägungsgebot bestens vorbereitet: Belange sind in ihrer Bedeutung einzubeziehen. Ändert sich in der Gesellschaft oder was rechtlich noch wichtiger ist - in den Gesetzen die Bedeutung und Wertschätzung eines Belanges, dann ist dieser Belang, der natürlich auch schon bisher zu berücksichtigen war, jetzt mit seinem gesteigerten Gewicht zu beachten. Das Abwägungsgebot ist immer präsent; es enthält jeweils einen Verweis darauf, relevante Belange mit dem Gewicht einzubeziehen und abzuwägen, mit dem sie durch das Recht außerhalb des Fachplanungsrechts anerkannt sind. Die Bedeutungssteigerung des Umweltschutzes konnte also vom Fachplanungsrecht gut nachvollzogen werden, sie ist sozusagen mitlaufend und automatisch mitvollzogen worden. Trotzdem blieb es nicht bei dieser sozusagen mitlaufenden Berücksichtigung des geänderten Gewichts der Umweltbelange. Das Umweltschutzziel verlangte je länger je mehr nach einer ausdrücklichen Ausformulierung im Recht. I m Bauplanungsrecht ist dies in der letzten Novelle geschehen und zwar - wie der sprechende Titel anzeigt - als Europarechtsanpassungsgesetz. Das Fachplanungsgesetz steht unter denselben Herausforderungen, die auch hier ihre Quelle im Gemeinschaftsrecht haben.
III. Europäisches Planungsrecht Europäisierung des deutschen Fachplanungsrechts 1. Ganz andere Herausforderungen sind für das konsolidierte Gefüge des Fachplanungsrechts aus der Quelle entstanden, die generell für die wichtigsten rechtspolitischen Änderungen in den letzten Jahrzehnten verantwortlich war, aus der Europäisierung des Öffentlichen Rechts, die zugleich Auslöser und Motor der wichtigsten rechtspolitischen Änderungen ist. Die Auswirkungen dieses Fundamentalvorgangs 40 auf das Fachplanungsrecht soll der folgende kurze Überblick erweisen. Die einschlägige Liste dieser Einwirkungen beginnt - natürlich - mit den Rechtsgrundlagen und deren hohen Abhängigkeit vom Europarecht. 41 Im Verfahrens re cht 40 Dazu Wahl, Verfassungsstaat (Anm. 2), S. 411, 422 ff. 41 Stüer, Handbuch (Anm. 5), S. 1029 mit informativem Überblick und ausführlichen Literaturgaben; H.-W. Rengeling, Die Einbindung des Umweltrechts der Europäischen Gemeinschaften in das nationale Umweltrecht, in: E. Schmidt-Aßmann/D. Sellner/G. Hirsch/G.-H. K e m p e r / H . Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, Köln 2003, S. 889 ff.; A. Jannasch/K. Schlotterbreck/R. Vondung, in: J. Bergmann/M. Kenntner (Hrsg.), Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, Stuttgart 2002, S. 471 ff., 495 ff., 599 ff. - In dem für die Praxis in Verwaltung und Gerichten bzw. Anwaltschaft berechneten Handbuch von Stüer/Probstfeid, Planfeststellung (Anm. 5) sind mindestens die Hälfte der Problemkreise vom Europarecht und zum Teil sehr nachhaltig betroffen.
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sind es die gewichtigen Vorschriften zur U V P (zunächst zur Projekt-UVP, 4 2 dann auch zur Plan- oder Programm-UVP), 4 3 zur Umweltinformation, 4 4 zur Verfahrensbeteiligung und insbesondere zum Anhörungsverfahren (Öffentlichkeitsbeteiligung bei UVP-pflichtigen Vorhaben) und zur Tätigkeit der Anhörungsbehörde (ggf. zusammenfassende Darstellung). Bei den materiellen Anforderungen sind zu nennen die Vorschriften über die vorgelagerten Entscheidungen (mit Einfluss der PlanUVP), dann der große Anteil des Naturschutzes und Landschaftsschutzes (FFHund Vogelschutz-Richtlinie 45 ). Im Verwaltungsprozessrecht ist die Verbandsklage immer stärker durch das Europarecht (zum Teil in Umsetzung der Aarhus-Konvention) gemeinschaftsrechtlich abgesichert bzw. als Anforderung an das nationale Recht formuliert. Der Überblick macht unübersehbar deutlich: Die Fachplanung und die dortigen Planer haben etwa zur Hälfte Recht anzuwenden, das aus dem Europarecht stammt und das auch in der Form des deutschen Umsetzungsrechts die Nabelschnur zum Gemeinschaftsrecht nicht verloren hat - das Gebot der europarechtskonformen Auslegung „seilt" das deutsche umgesetzte Recht dauerhaft an seinen gemeinschaftsrechtlichen Ursprung an. Die Rechtsprechung des EuGH tut ihr Übriges, um diese Verbindung lebendig zu halten und daraus Konsequenzen zu ziehen. 2. Von den vielfältigen Einwirkungen, die aus dieser kräftigen europäischen Rechtssetzung resultieren, seien hier - exemplarisch - die folgenden nur genannt. Ehe man in der gewohnten deutschen Differenzierung von „dienendem" Verfahrens· und letztlich dominierendem materiellem Recht denkt, 4 6 sollte man in Rech-
42 Die umfangreiche Literatur ist nachgewiesen etwa bei Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Anm. 39), § 63, Rn. 52, Fn. 53; Stüer, Handbuch (Anm. 5), Rn. 2690, Fn. 25. 43 R. Hendler, N U R 2003, 2; ders., N V w Z 2005, 977 mit Literatur; W Erbguth, UPR, 2003, 321; C. Jacobi, Die strategische Umweltprüfung (SUP) in der Raumplanung, 2000; B. Stüer, UPR 2003, S. 97; R. Hendler (Hrsg.), Die strategische Umweltprüfung (so genannte Plan-UVP) als neues Instrument des Umweltrechts, Berlin 2004; A. Schink, N V w Z 2005, 615 ff. (mit ausf. Lit.Nachweisen); Fassbender (Anm. 39). 44 Dazu M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl., München 2004, S. 710 ff.; Stüer/Probstfeid, Planfeststellung (Anm. 5), S. 2 6 - 3 1 ; Stüer, Handbuch (Anm. 5), Rn. 2812 ff.; dazu auch J. Ziekow, N V w Z 2005, 263 (mit Lit. zur Aarhus-Konvention Fn. 24 ff.), vgl. auch G.-M. Knopp, Z U R 2005, 281 ff.; W. Durner, Z U R 2005, 285 ff. 4 5 Richtlinie 9 2 / 4 3 / E W G des Rates vom 21. 5. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, A B L EG Nr. L 2 0 6 / 7 vom 22. 7. 1992. Neueste Zusammenfassungen der Literatur zur FFH M. Gellermann, N A T U R A 2000, 2. Aufl. 2001; ders., in: H.W. Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht II, 2. Aufl., Köln 2003, § 78; F. Wiehert, N A T U R A 2000, Freiburg i. B. 2001; Sparwasser/Engel/Voßkuhle (Anm. 39), § 6 Rn. 221 ff.; Kloepfer, (Anm. 44), S. 894 ff.; W Hoppe/M. Beckmann/P. Kauch, Umweltrecht, 2. Aufl., München 2000, S. 389 ff. 46 Zur sog. dienenden Natur E. Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke in der Dogmatik des öffentlichen Rechts, in: P. Lerche/W. Schmitt-Glaeser/E. Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberg 1984, S. 1 , 6 ; ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 361; J. Pietzcker, V V D S T R L
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nung stellen, dass wichtige Instrumente des Gemeinschaftsrechts, wie die Umweltverträglichkeitsprüfung und die Verträglichkeitsprüfung der FFH-Richtlinie, auf einen höheren Umweltschutz gerade durch den Einsatz von Verfahrensinstrumenten abzielen. Sie streben also (für die Umweltbelange) eine Gewichtsverstärkung durch Verfahrensinstrumente an. Sie folgen einem Gesamtkonzept, das eine Brücke über das Verfahrensrecht und das materielle Recht schlägt. Die exklusive Darstellung 4 7 der Umweltbelange in einem Umweltbericht hebt sowohl die einzelnen Elemente der Umweltbelange, dann aber auch die in der zusammenfassenden Darstellung deutlich werdende Gesamtbelastung der Umwelt heraus. Die deutsche Diskussion über die hier zentrale Frage, ob die UVP „nur" Verfahrenscharakter oder auch materiellen Inhalt hat, 4 8 zerreißt den im Gemeinschaftsrecht bewusst angelegten einheitlichen Zusammenhang. Die europarechtliche Konzeption der Gewichtsvergrößerung durch Verfahrensrecht kann in der deutschen Vorstellung vom bloß dienenden Charakter nicht abgebildet oder voll umgesetzt werden. Ähnliches könnte für den im Gemeinschaftsrecht immer wiederkehrenden Baustein der Öffentlichkeitsbeteiligung 49 gelten. Zum Testfall könnte die für die Planfeststellungsverfahren auch sehr wichtige Frage werden, ob die deutschen Verfahrensvorschriften über Heilung und Unbeachtlichkeit wirklich mit Gemeinschaftsrecht vereinbar sind. 5 0 Wilfried Erbguth hat die für die Planfeststellungsverfahren einschlägigen Beschleunigungsgesetze auf den Prüfstand des deutschen Verfassungsrechts und des Europarechts gestellt und damit eine relevante und noch nicht vollständig beantwortete Frage gestellt. Die Präsenz des Gemeinschaftsrechts wurde im Umwelt- und Fachplanungsrecht am stärksten wohl bei der Umsetzung der UVP-Richtlinie von 1985 5 1 durch das UVPG von 1990 5 2 wahrgenommen. Die damaligen Diskussionen hatten einen 41 (1983)193, 220; s. neuestens dazu auch J. Ziekow, N V w Z 2005, 263. (unter dem bezeichnenden Titel: „Von der Reanimation des Verfahrensrechts"). 47 E. Schmidt-Aßmann, Die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-Rl) vom 27. Juni 1985 in das nationale Recht, in: K. Hailbronner/G. Ress/T. Stein (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für Karl Doehring, Berlin 1989, S. 8 8 9 - 9 0 1 f.
48 M. Schmidt-Preuß, D V B l . 1956, 485, 495 („rein verfahrensrechtlicher Charakter); a.A. differenzierend und materielle Gehalte anerkennend M. Beckmann, in: W. Hoppe (Hrsg.), UVPG, 2. Aufl., Köln 2002, § 12, Rn. 2 und 3.; W Erbguth/A. Schink, UVPG, 2. Aufl., München 1996, § 2, Rn. 28, Vor § 5 - 12, Rn. 9 -12 a; § 9 Rn. 2. - Hervorzuheben ist, dass die Auslegungsprobleme bei § 12 UVP, in denen sich der Streit um den Charakter der U V P notwendigerweise spiegelt, für die Planfeststellungen nicht einschlägig sind, so auch Erbguth/Schink, ebd. § 12 Rn. 33 (mit Nachweisen). 49 E. Schmidt-Aßmann/C. Ladenburger, Umweltverfahrensrecht, in: H.-W. Rengeling (Hrsg.), E U D U R , Bd. 1, 2. Aufl., Köln 2002, § 18, S. 551 557 ff. E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin 2004, S. 105, 107, 371. 50 Überblick über die Gesetzeslage und Rechtsprechung von Stüer/Probstfeid, stellung (Anm. 5), S. 71 ff.; vgl. auch die Nachweise oben Anm. 46.
Planfest-
Richtlinie 8 5 / 3 3 7 / E W G des Rates vom 27. 06. 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (AB1EG) 1985, Nr. L 175, 40.
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Stellvertreter- oder exemplarischen Charakter über die „Einwirkungen" und „Einbrüche" des Gemeinschaftsrecht ins einschlägige nationale Recht. 5 3 Unabhängig von den zum Teil schmerzlichen Lernvorgängen, die mit dem Erleben oder gar Erleiden des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (mehr im Umwelt- als im Fachplanungsrecht) verbunden waren, erwiesen sich manche Vorgaben des Europarechts als ausgesprochen innovativ und weiterführend: Die UVP-Richtlinie formulierte erstmals den eigenständigen Umweltbegriff des Gemeinschaftsrechts: der gesamthafte Ansatz beim Umweltschutz unter Einschluss der Wechselwirkungen 54 sollte sich als Konzept mit Fernwirkung für das Planungs- und Genehmigungsrecht (Zulassungsrecht) erweisen. Entsprechend innovatorisch waren die FFH- und die Vogelschutz-Richtlinie. 55 Beide werteten Belange des Umwelt- und Artenschutzes, nicht zuletzt durch europaweit abgestimmte Gebietsausweisungen und durch die Notwendigkeit einer expliziten Verträglichkeitsprüfung, auf. Von der Warte des deutschen Rechts aus betrachtet, war dies wiederum ein Vorgang, der im Abwägungsgebot bisher unbenannt aufgehobene Belange expliziert, differenziert und durch ein wirksames Instrument in ihrer Bedeutung für die Planungspraxis bedeutsam verstärkt hat. Man kann kaum sagen, dass die Umsetzung des Grundgedanken der UVP-Richtlinie, nämlich der ganzheitlichen Betrachtung der Umwelt bei Projektzulassungsentscheidungen das deutsche Fachplanungsrecht grundlegend verändert hat oder hat verändern müssen - wäre da nicht der Umstand, dass die Anstöße zu diesen und anderen Neuerungen aus dem Gemeinschaftsrecht kamen. Als Recht aus einer anderen Quelle und aus einer supranationalen Rechtssetzung war und ist natürlich nicht gesichert, dass dieses vorrangige Recht ohne weiteres und leicht mit dem « UVPG vom 12. 2. 1990, BGBl. I, 205; zur umfangreichen Literatur siehe die Nachweise etwa bei Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Anm. 39), § 63, Rn. 52, Fn. 53; Stüer, Handbuch (Anm. 5), Rn. 2690, Fn. 25. 53
In der Umsetzungsdiskussion zur UVP-Richtlinie waren die typischen harschen und emotionalen Abwehrreaktionen gegen „Europa" ebenso vertreten wie die kaum verhehlte Freude mancher Autoren darüber, über das Gemeinschaftsrecht nun endlich die Fortschritte im deutschen Recht bewirken zu können, die bisher politisch nicht zu erreichen waren. Wie auch in anderen Rechtsgebieten, in denen erstmals der „Einbruch" des Gemeinschaftsrechts erlebt oder gar erlitten wurde, hat sich nach einiger Zeit ein entspanntes und gelasseneres Verständnis breit gemacht, das den Vorrang des Gemeinschaflsrecht als Normalität anerkennt, aber gleichwohl eine vernünftige Integration von europäischen Regelungen in den deutschen Rechtsbestand als wichtiges Problem sieht und verfolgt. Vor allem geht die eigentliche Aufgabe von Literatur, Regelungen auf ihre innere Stimmigkeit und Vereinbarkeit mit grundsätzlichen Regelungen i m Fachgebiet zu überprüfen, natürlich auch für das Gemeinschaftsrecht. Diese hat zwar einen Vorrang in der Anwendung, es hat aber keinen Vorrang an inhaltlicher Richtigkeit oder Überzeugungskraft. Auch und gerade aus der Perspektive der verschiedenen nationalen Rechte und ihrer langen Erfahrungen kann und muss das Gemeinschaftsrecht dogmatisch und rechtspolitisch auf den rechtswissenschaftlichen Prüfstand. 54 In der für das Fachplanungsrecht nicht einschlägigen IVU-Richtlinie kehrte der Grundgedanke in anderer Form, nämlich im Konzept der integrierten Genehmigung wieder und bereitete ähnliche Umsetzungsschwierigkeiten.
Literatur vorne Anm. 36.
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deutschen Recht vereinbar ist. Natürlich lässt die Rechtssetzungsform der Richtlinie den Mitgliedstaaten Spielraum bei der Umsetzung. I m deutschen Verwaltungsrecht und i m Fachplanungsrecht wurde aber die Gesamtkonstellation von bindendem vorrangigem Recht und Umsetzungsspielraum so bewertet und verstanden, dass dadurch in das deutsche Recht eingebrochen worden sei. Die neue Phase des Fachplanungsrechts ist weniger wegen ihres Inhalts als wegen des Vorgangs der Europäisierung und der Überformung des deutschen Rechts von Bedeutung. Deshalb ist es zutreffend, von einer neuen Phase zu sprechen, von der zweiten Phase des Fachplanungsrechts. 56
IV. Die zwei Regelungsblöcke des gegenwärtigen Fachplanungsrechts 1. Andere Auswirkungen der Europäisierung trafen sich mit internen deutschen Entwicklungslinien und verstärkten sie. Der gemeinsame Nenner dieser Neuerungen besteht im Folgenden. Das Abwägungsgebot ist zwar sehr gut geeignet, neue und neubewertete Belange in den zentralen Vorgang der Abwägung hineinzubringen. Es enthält aber nur eine geringe Direktionskraft über das Ergebnis der Abwägung, also darüber, welche Belange i m Rahmen des planerischen Gestaltungsspielraumes (also ohne Verletzung der rechtlichen Bindung) zurückgestellt werden. A u f dieses Problem antwortet eine umfangreiche Rechtsetzung, zunächst des deutschen, dann immer stärker werdend des europäischen Gesetzgebers: - Eingriffsregelungen i m Naturschutzrecht (§§ 18, 19BNatSchG) - Umweltverträglichkeitsprüfungen auf Projektebene (UVPG) und - Umweltprüfungen auf Plan- und Programmebene (strategische Umweltprüfung, SUP) - Verträglichkeitsprüfungen beim europäischen Habitatschutz (§ 34 BNatSchG) - Vereinsbeteiligungsrecht und -klagerechte (§§ 5 8 - 6 1 BNatG) - Erweiterung der Öffentlichkeitsbeteiligung, Informationsrechte (UVPG, UIG), beide mit künftigen Änderungen (in Umsetzung der Aarhus-Konvention mindestens 3 Richtlinien über Zugang zu Umweltinformationen, Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter Pläne und Programme und Zugang zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten 57 ). 56
Zum Grundgedanken der zweiten Phase Wahl (Anm. 2).
57 Richtlinie 2 0 0 3 / 4 / E G vom 28. 1. 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 9 0 / 3 1 3 / E W G des Rates (AB1EG Nr. L41, S. 26 vom 14. 2. 2003, Richtlinie 2 0 0 3 / 3 5 / E G vom 26. 5. 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung . . . (verschiedener Richtlinien) (AB1EG Nr. L 156, S. 17 v. 25. 6. 2003) sowie Vorschlag für eine Richtlinie . . . über den Zugang zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten (KOM(2003) 624 endg. vom 24. 10. 2003; Ratsdok. 14154/03.
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Ihre hier interessierende Gemeinsamkeit ist es, dass das, was bisher generell als „Belange der Umwelt" zu berücksichtigen und abzuwägen war, sachlich und begrifflich als spezielle Anforderungen des Natur-, Landschafts- oder Bodenschutzes ausdifferenziert und für ihren Schutz konkrete und spezifische Maßnahmen getroffen wurden. Regelungstechnisch wurden diese Ausdifferenzierungen des Umweltschutzes aber nicht in die Kernbestimmungen der Fachplanungsvorschriften eingefügt, sondern sie verblieben fachplanungsextern in ihrem spezifischen umweltrechtlichen Regelungszusammenhang. Im Ergebnis besteht das Fachplanungsrecht jetzt aus zwei Blöcken von Rechtsvorschriften, dem engeren spezifischen Fachplanungsrecht und den in einem anderen fachlichen Kontext entstandenen Zusatzregelungen(Umweltregelungen). Das Kontrollprogramm der Fachplanung hat eine zweite Seite, eine umweltrechtliche Seite erhalten. Es sind fachplanungsexterne, umweltbezogene Fachgesetze, die zusätzliche Anforderungen an die Planung stellen. Das Verhältnis dieses zweiten Blocks von Vorschriften zum ursprünglichen Kern des Fachplanungsrechts muss jedes Mal für sich neu bestimmt werden. Es kommt ein weiteres hinzu: Die genannten umweltrechtlichen Zusatzregelungen sind meist (nicht nur) europäischen Ursprungs, sie sind auch innerstaatlich außerhalb der zentralen Vorschriften der Verkehrsgesetze und der Verwaltungsverfahrensgesetze geregelt. Auch nach der Umsetzung sind sie von den Kernregelungen der Planfeststellung getrennt. Letztere bringen das zentrale Abwägungsgebot zum Ausdruck, während in den Zusatzregelungen abwägungserhebliche Belange ausdifferenziert werden, aber nicht nur das, sondern es wird einzelnen Belangen ein zwingender Charakter beigelegt oder es werden Ausnahmen von Regelungen nur unter strengen Ausnahmen für zulässig erklärt. Die Folge davon ist, dass das ursprüngliche Fachplanungsrecht (Verwaltungsverfahrensgesetze und Verkehrsgesetze) und der meist europarechtlich angestoßene zweite Block gesetzestechnisch nicht mehr eine Einheit bilden. Wäre dieser Verlust der formalen Einheit trotz der daraus resultierenden Erschwernisse für die Rechtsanwendung im Ergebnis zu verkraften, so wiegt es schwerer, dass eine Einheit oder Einheitlichkeit auch inhaltlich und materiell nicht mehr vorhanden ist. Dies rührt daher, dass die Gesetze des erwähnten zweiten Blocks jeweils ein spezielles Gut schützen und aus der Perspektive dieses Schutzguts (etwa des Naturschutzes) heraus denken und regeln. Ähnliches gilt für die europarechtlichen Konzepte, die ihrer Natur nach als supranationales Recht in der Regel andere Systemgedanken verfolgen als das deutsche (oder ein anderes nationales) Recht. Ein besonderes Problem entsteht, wenn die neuen Regelungen unabgestimmt neben die alten treten und dann zum Beispiel neben der umfassenden fachplanerischen Abwägung eine weitere Abwägung normiert wird, ohne dass deren Verhältnis im Gesetzgebungsverfahren geklärt w i r d . 5 8 In dieser Situation der kodifikatorischen Unabgestimmt58 Ähnliche Probleme entstehen, wenn neben der zentralen Umweltverträglichkeitsprüfung im U V P G andere „Verträglichkeitsprüfungen" nach der FFH-Richtlinie bzw. nach § 34 BNatSchG vorgesehen werden. Die Ursache für solche Unabgestimmtheiten liegt dabei häu-
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heit muss zwangsläufig die Frage auftauchen, ob die beiden Abwägungen gleich oder unterschiedlich strukturiert sind, ob also eine Abwägung ausreicht oder zwei vorgenommen und dokumentiert werden müssen. Genau diese Frage hat mehrere Jahre lang zur Unsicherheit bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der allgemeinen Abwägung nach § 17 FStrG und der Eingriffsabwägung nach § 19 BNatSchG geführt, bis sich nach einigem Schwanken das BVerwG gegen eine doppelte Abwägung entschieden hat. 5 9 Es hat nicht am Federstrich, sondern am Nachdenken des Gesetzgebers gefehlt. In all diesen Fällen gibt es eine rechtspolitische Pflicht des Gesetzgebers selbst zu entscheiden. 3. In jüngster Zeit ist im benachbarten Planungsgebiet der Bauleitplanung ein bedeutsames Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen worden, nämlich die neueste Novelle zum B a u G B . 6 0 M i t Recht heißt das konzeptionell ausgelegte Vorhaben Europarechtsanpassungsgesetz^ ] Die Novelle unternimmt es in einem eindrucksvollen Konzept, alles, was an EU-Recht für die Bauleitplanung relevant ist, formal ins BauGB zu übernehmen und materiell zu integrieren. In diesem Sinne baut die Novelle die Anforderungen der FFH-Verträglichkeitsprüfung und der UVP-Richtlinien zusammen mit den Anforderungen der deutschen Eingriffsregelung in die Vorschriften des BauGB so ein, dass diese Anforderungen der fachplanungsexternen Gesetze systematisch in die entsprechenden Kategorien des BauGB eingefügt werden. Im Ergebnis muss in Zukunft nicht mehr der Anwender in der Praxis oder die Gerichte die Integration der verschiedenen Vorschriften leisten, sondern der Gesetzgeber hat dies getan. Ein solches integrierendes Gesetzgebungsvorhaben steht für das Fachplanungsrecht aus. Es ist die aktuelle Herausforderung, es ist die Herausforderung zur inneren Systematik und Ordnung disparat gewordener Gesetzeslandschaft. Es ist zu hoffen, dass der Funke eines Europarechtsanpassungsgesetzes auf das Fachplanungsrecht überspringt. Es gibt kaum einen größeren Dienst, den die Rechtspolitik dem Recht und seinen Adressaten leisten kann als den, einen unübersichtlichen und unabgestimmten Bestand von verschiedensten Regelungen zu ordnen und zu systematisieren - genau dies steht im Fachplanungsrecht aus. A n der Unübersichtlichkeit des Fachplanungsrechts, am Nebeneinander der beiden Blöcke, ist nicht die europäische Rechtssetzung schuld, sondern der deutsche Umsetzungsgesetzgeber, der seine Aufgabe nicht erfüllt hat: Statt im Vorgang der Umsetzung und fig auch i m EU-Recht - was die Probleme für die Rechtsverwirklichung und -anwendung nicht erleichtert. BVerwG, N V w Z 2002, 1103; BVerwGE 104, 144, 147 = N V w Z 1997, 838, 839 - A 94. 60 Europarechtsanpassungsgesetz Bau ( E A G Bau) vom 24. 6. 2004, BGBl. I S. 1359, vgl. dazu M. Krautzberger/B. Stüer, DVB1. 2004, 781 ff. u. 914 ff.; M. Krautzberger, UPR 2004, 401 ff.; ders., DVB1. 2005, 197; B. Jessel, UPR 2004, 408 ff. - Zum weiteren schon R. Wahl/D. Hönig, N V w Z 2006 (im Erscheinen). 61 Wichtige Verdienste hat die Gaentzsch-Kommission, die die Novelle gedanklich vorbereitet hat und das Konzept der umfassenden Regelung entwickelt hat. Vgl. BMVBW, Novellierung des Baugesetzbuches, Bericht der unabhängigen Expertenkommission, 2002.
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gestützt auf den Umsetzungsspielraum die neuen Vorschriften umfassend mit dem vorhandenen Bestand zu verbinden, hat er die eigentliche Integrationsaufgabe auf die Anwender verschoben. Für den Fachplanungs-Gesetzgeber gilt demnach die rechtspolitische Maxime: Das Fachplanungsrecht muss, insbesondere im wichtigen Verfahrensrecht, von Anfang an von den europäischen Vorschriften her gedacht werden; das umgesetzte Recht darf nicht als Anhang oder Anhängsel zum „eigentlichen" Fachplanungsrecht verstanden werden Für alle „Interessierten" am Fachplanungsrecht ist ein Perspektivenwandel erforderlich - ein aktuelles und damit auch modernes Fachplanungsrecht ist ein europäisiertes Fachplanungsrecht. Die Impulse des Gemeinschaftsrechts sind jetzt und in Zukunft nicht beiläufig, sondern von Dauer; sie haben häufig system- und strukturbestimmenden Charakter. Allerdings sind die verschiedenen Richtlinien häufig in sich nicht stimmig. Aus diesem Grund droht die Methode der isolierten Einzel-Umsetzung diese Mängel ins nationale Recht zu übertragen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist ein „Europarechtsanpassungsgesetz", das die zahlreichen unterschiedlichen Vorgaben in ein größeres Konzept „einfangen" will, von besonderer Bedeutung. 62
V. Zur bleibenden Bedeutung des Instituts der Planfeststellung Die Europäisierung hat eine bedeutsame Wandlung im Fachplanungsrecht bewirkt, es ist zum Fachplanungsrecht einer zweiten Phase geworden. 63 Für Deutschland als Mitgliedstaat der EU wird die europarechtlich veranlasste Umsetzungsgesetzgebung als Nachvollzug und Ausgestaltung europarechtlicher Vorgaben fortbestehen und in Zukunft weiterhin zum Normalbestand gehören 6 4 Ist also die Europäisierung auch weiterhin einer der großen Motoren im Fachplanungsrecht, so gibt es doch bedeutsame originäre Institute im deutschen Recht. Dazu gehört die Planfeststellung als eigenständiger Typ eines Verwaltungs- und Planungsakts. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung ist ein gereiftes und bewährtes Institut entstanden. Vor allem hat die Planfeststellung nach wie vor einen voll überzeugenden und leistungsfähigen Kern, den sie schon seit ihrer Entstehung hat. Es handelt sich um die Trias: förmliches, alle Betroffenen und die Öffentlichkeit einbeziehendes Verfahren, umfassendes Abwägungsgebot und die Konzentrationswirkung. Alle drei Strukturelemente hängen zusammen. Das aufwendige, auf umfassende Sammlung der Information und auf Artikulation der Interessen angelegte Verfahren gibt
62 Gravierende Praxisprobleme wirft jede verspätete Umsetzung auf. Allgemein zur (damaligen?) Misere bei der Umsetzung von Richtlinien H. Sendler, NJW 2000, 2871 f.; R. Wahl, ZUR 2000, 360 f. 63 64
Dazu schon oben I I I 2 am Ende.
Zur Fortsetzung trägt schon bei, dass der vorhandene Bestand an europarechtlichen Vorschriften natürlich immer wieder geändert werden wird.
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die Grundlage und die Voraussetzung für das materiell-rechtliche Abwägungsgebot. Weil potentiell alles im Verfahren zur Sprache und auf den Tisch kommt, ist der Kern der Planung, die umfassende Abwägung, möglich. Wegen ihr kann eine einheitliche Entscheidung ergehen. Und weil die Abwägung eine einheitliche, alle Probleme bewältigende Entscheidung ist, kann sie alle anderen Genehmigungen, Bewilligungen usw. ersetzen. In dieser inneren Konsequenz und Verbundenheit der drei Strukturelemente ist die Planfeststellung ein Ergebnis und eine Leistung des deutschen Verwaltungsrechts. Wenn man den Blick auf die bestimmt eintretenden Weiterentwicklungen und vor allem auf die Anstöße aus dem europäischen Raum richtet, dann kann man und sollte man aus dieser Einsicht die Maxime und das Postulat ableiten: Die innere Geschlossenheit und die Leistungsfähigkeit des Instituts der Planfeststellung ist ein rechtlicher Aktivposten, der es wert ist, auf der europäischen Ebene als Vorbild für künftige Regelungen vertreten und verteidigt zu werden. Betrachtet man das Gesamtverhältnis zwischen Traditionsbestand von über 170 Jahren und europäischen Neuerungen, so ist es müßig und erfolglos, Einwirkungen zum europäischen Bereich nur defensiv wahrzunehmen und zu beklagen. Die von deutschen Juristen in Wissenschaft und Praxis häufig eingenommene abwehrende, wenn nicht gar larmoyante Haltung gegenüber dem Europarecht ist unfruchtbar. Sie ändert nichts am Gang der Dinge und der Notwendigkeit einer Umsetzung von in der EG (meist mit Zustimmung des deutschen Vertreters) beschlossenem Recht. Die richtige Konsequenz und das richtige Postulat ist es, die Vorzüge des überkommenen Planfeststellungsrechts offensiv in den Prozessen der europäischen Rechtssetzung zu vertreten. Das kann man nur, wenn man sich dieser Vorzüge bewusst ist, wenn man überhaupt auf die Idee kommt, dass etwas, was 170 Jahre i m deutschen Recht geprägt worden ist, auch als Ausgangspunkt und Gegenstand für das Gemeinschaftsrecht gültig sein kann. Zu dieser Grundhaltung braucht man ein Geschichtsbewusstsein und zugleich die Fähigkeit, ein Rechtsinstitut in seinem inneren Zusammenhang zu erkennen. Die allseitige Konzentrationswirkung ist eine, um es zu wiederholen, ingeniöse Erfindung. Man erinnere sich an die Diskussion um die integrierte Genehmigung, die IVU-Richtlinie. 6 5 Was wollte damals das EGRecht? Nichts anderes als eine einheitliche Entscheidung an der Stelle von vielen Entscheidungen. Es ging genau um den Grundgedanken, der in der Planfeststellung verwirklicht wird, auch wenn man die Unterschiede zwischen Genehmigung und Planfeststellung betont, so liegt doch auf der Hand, dass ein vergleichbares Strukturproblem verhandelt wurde. Auch wäre es besser gewesen, wenn die deutschen Juristen, statt abwehrend den Grundgedanken der integrierten Genehmigung zu bekämpfen und ihren Gehalt minimieren zu wollen, sich an das deutsche Institut der Planfeststellung als Vorbild und Vergleichsinstitut erinnert hätten. M i t einer solchen Strategie hätten sie auch inhaltlich mehr erreichen und mitbestimmen können.
65 R. Wahl, N V w Z 2000, 502, 503 ff.; ders., Z U R 2000, 360.
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Jedenfalls ist die Konzentrationswirkung der Planfeststellung selbst ein Exportgut. Sie könnte zum Exportschlager werden, wenn sich die deutschen Juristen i m europäischen Kontext nur daran erinnern wollten. Auch dazu ist, es ist zu wiederholen, eine adäquate Einstellung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht notwendig, die den Vorrang des verabschiedeten Gemeinschaftsrechts anerkennt, zugleich aber gewisse Eigenständigkeiten des deutschen Rechts in die Diskussion über die Ausarbeitung einbringt. Eine defensive Abwehrhaltung des deutschen Fachplanungsrechts ist erfolglos, sie schaltet den möglichen deutschen Beitrag am Rechtsbildungsprozess aus. Allein Erfolg versprechend ist es, sofern die Grundentscheidungen für eine europäische Regelung getroffen sind, an der Ausarbeitung des Gemeinschaftsrechts mitzuwirken und bewährte Institute aus dem deutschen Bereich in den Wettbewerb der rechtlichen Ideen offensiv hineinzutragen. Die Planfeststellung als Institut kann jeden Wettbewerb aushalten und bestehen.
IV. Steuerung und Ordnung
29 FS Bartlsperger
Administrative Aspekte der Juristenausbildungsreform 2002 Von Heinrich
de Wall , Erlangen
I. Einleitung Richard Bartlsperger war in seiner Zeit als aktiver Professor ein äußerst engagierter akademischer Lehrer, der hohe Anforderungen an seine Zuhörer stellte, diese aber auch an seinem Wissen und seiner analytisch-kritischen Kraft teilhaben ließ. Vor allem die stetige Verbesserung der Ausbildung und ihrer Organisation lag ihm besonders am Herzen. Die Reformen in der Hochschulbildung der letzten Jahre nimmt er, wenn ich ihn richtig deute, mit deutlichen Vorbehalten und mit Unverständnis wahr. Diese Haltung teilt er mit zahlreichen älteren wie jüngeren Praktikern der Hochschulausbildung. In seiner aktiven Zeit als Hochschullehrer hat er zahlreiche Diskussionen über mehr oder weniger einschneidende Reformen der Juristenausbildung erlebt. In diesem Bereich herrscht, um den Titel eines Werkes von Leo Trotzki abzuwandeln, zwar keine permanente Revolution, aber doch eine permanente Reform. Hatte man sich nach den im Gesetz zur Reform der Juristenausbildung vom 11. 7. 2002 1 beschlossenen Änderungen des Deutschen Richtergesetzes und den dadurch veranlaßten Reformen der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnungen eine Verschnaufpause erhofft, die wenigstens die Zeit bis zu den ersten Prüfungsdurchgängen neuen Rechts umfaßt, sah man sich bald eines Schlechteren belehrt. Für den mit der hochschulpolitischen Diskussion Vertrauten war bereits während der Reformdiskussion zu erkennen, daß der sogenannte Bologna-Prozeß vor der Juristenausbildung nicht halt machen würde. 2 Da Ankündigungen der Bildungspolitik noch nicht einmal über die Dauer einer Legislaturperiode halten, kann es nicht verwundern, daß entgegen anfänglichen Ankündigungen, die Staatsexamensstudiengänge blieben von der „Bolognisierung" unberührt, die Diskussion um die Anpassung der Juristenausbildung an diesen Prozeß voll entbrannt ist. 3 Dabei ist die Studienreform von 2002 noch nicht ein1 BGBl. I, S. 2592. Dazu aus der umfangreichen Literatur nur J. Münch (Hrsg.), Die neue Juristenausbildung, München 2003; H. Schöbel, JuS 2004, 847 ff. m. w. N.; ders., Reform der Juristenausbildung, B a y V B l 2003, 641 ff.; P. Gilles und N. Fischer, NJW 2003, 707 ff.; weitere Beiträge zum Reformstand finden sich jeweils zweimonatlich in der Beilage JuS-Magazin. S. zu den Änderungen siehe auch die Übersicht im JuS-Magazin 1 /2004, 9 ff.
2 S.a. Schöhel (Anm. 1), S. 852. 29=
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mal umgesetzt. Die ersten Examina nach diesem neuen Modell werden j a erst Anfang 2007 stattfinden. 4 Ein Kennzeichen der Reformdiskussion im Hochschulwesen der letzten Jahre, nicht nur des Bologna-Prozesses ist, daß fachspezifische Erwägungen und Erfahrungen so gut wie keine Rolle spielen. 5 insofern hebt sich die der Ausbildungsreform 2002 vorangegangene Debatte freilich wohltuend von den Diskussionen um Hochschulorganisation, Recht des Lehrpersonals und Bologna-Prozeß ab. Dies mag daran liegen, daß sich an dieser Diskussion weniger die allgemeine Hochschulpolitik beteiligte, als Fachleute der Juristenausbildung, denen die Sache am Herzen liegt. Doch davon soll hier nicht in erster Linie gehandelt werden, es bietet nur den allgemeinen Hintergrund. Ich möchte vielmehr das Augenmerk auf einige administrative Aspekte und Probleme der Studienreform 2002 richten und so versuchen, auch dem fachlichen Profil des Jubilars gerecht zu werden. Dabei wird von der bayerischen Rechtslage ausgegangen. Es soll nicht darum gehen, die Verwaltung und ihre Praxis zum Maßstab der Studienreform zu machen. Auch hier gilt, daß die Verwaltung dienenden Charakter hat. Allerdings wäre es bisweilen klug gewesen, wenn man absehbare verwaltungstechnische Probleme in die Entscheidungsfindung mit einbezogen hätte. Vielleicht können auch die Erfahrungen der derzeitigen Ausbildungsreform dazu beitragen, Irrwege im Bologna-Prozeß erst gar nicht zu beschreiten.
II. Elemente der Juristenausbildungsreform 2002 Für die universitäre Ausbildung in den juristischen Kernbereichen, den Pflichtfächern, hat sich durch die Reform - von der hier der Teil ausgeblendet wird, der sich auf den zweiten Ausbildungsabschnitt bezieht - wenig geändert. Das gilt sowohl für das Studium selbst als auch für die Prüfung, letzteres freilich nur für die Bundesländer, in denen die Erste Juristische Staatsprüfung bereits bisher als Klausurenexamen ausgestaltet war. In den anderen Bundesländern bedeutet der nach dem Landesrecht nunmehr vorgesehene Fortfall der Examenshausarbeiten natürlich einen erheblichen Einschnitt. Als die wichtigsten inhaltlichen Änderungen im 3 S. nur J. Jeep, NJW 2005, 2283 ff.; M. v.Wulffen, N V w Z 2005, 890 ff.; T. Pfeiffer, NJW 2005, 2281 ff.; B. Merk, ZRP 2004, 264 ff.; zu den verfassungsrechtlichen Bedenken s. die instruktiven Überlegungen von J. Lege, JZ 2005, 698 ff. 4 Es ist ein besonderes Ärgernis, wenn auch Hochschulrektoren die doch wohl eigentlich die Interessen und Erfahrungen der Universitäten und damit auch der Juristischen Fakultäten in die Diskussion einbringen sollten, besonders laut nach der erneuten Reform rufen. 5 Das Verhältnis von Wissenschaft und Ausbildungspraxis zur Politik ist auf den Kopf gestellt: nicht mehr schaffen Politik und Verwaltung optimale Rahmenbedingungen für eine fachlich fundierte Ausbildung, vielmehr hat umgekehrt das Fach den willkürlich übergestülpten, politisch begründeten Strukturen zu folgen und die Vorgaben der Politik umzusetzen. Es wird Zeit, daß sich die Hochschulpolitik darauf besinnt, Dienerin der Sache zu sein und nicht Herrin über die freie Forschung und Lehre.
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Pflichtfachbereich in allen Bundesländern sind wohl die Einbeziehung der so genannten Schlüsselqualifikationen in die Studieninhalte (§ 5a I I I 1 D R i G ) 6 und die Einführung einer obligatorischen fachspezifischen Fremdsprachenausbildung (§ 5a II 2 DRiG) zu nennen. Beides bereitet freilich nicht unerhebliche Probleme, muß doch wegen der durch das Gesetz vorgesehenen, äußerst zügigen Einführung der Reform sowohl für die Schlüsselqualifikationen als auch für die obligatorische Fremdsprachenausbildung übergangslos das nötige Personal bereit gestellt werden, das in der Lage ist, die fachspezifischen Anforderungen der Juristen zu erfüllen. Eine Neuigkeit nicht nur in der Juristenausbildung ist, daß das Erste Juristische Staatsexamen in Zukunft lediglich Teil einer aus ihm und der Juristischen Universitätsprüfung bestehenden Gesamtqualifikation, der Ersten Juristischen Prüfung, ist. Die Juristische Universitätsprüfung ist ein wesentliches Element des eigentlichen Kerns der Studienreform. Deren erklärtes Ziel war es unter anderem, Studium und Universität bzw. deren juristische Fakultäten dadurch zu stärken, daß ihnen die Möglichkeit zu stärkerer fachlich-wissenschaftlicher Akzentsetzung und damit eigener Profilbildung in der Lehre gegeben wird. 7 Dem dient die Einführung von Schwerpunktbereichen, deren Inhalt die Fakultäten weitgehend selbständig bestimmen können, anstelle der bisher landesweit vorgegebenen Wahlfächer. Gleichzeitig wurde der zeitliche Umfang der Schwerpunktbereichsausbildung auf etwa das Doppelte des bisher für die Wahlfächer vorgesehenen ausgedehnt und die gestiegene Bedeutung der vertieften Ausbildung in exemplarischen Bereichen durch die Einführung eben des Universitätsexamens zu den Schwerpunktbereichen, das zu 30% das Ergebnis der Ersten Juristischen Prüfung bestimmt, unterstrichen. Dadurch wird nicht nur den juristischen Fakultäten die Möglichkeit gegeben, ihre besonderen Stärken und Schwerpunkte auch in der Lehre deutlich werden zu lassen. Gleichzeitig wird die Erkenntnis bekräftigt, daß auch in der Juristenausbildung nicht nur das breite Überblickswissen, sondern auch das exemplarische Lernen ihren Platz hat und daß wissenschaftliches Arbeiten nur dann möglich ist, wenn in einem überschaubaren Bereich auch ein hinreichender Zeitrahmen innerhalb des Studiums zur Verfügung gestellt wird. Indes sind die Profilierungsmöglichkeiten bei kleinen Fakultäten durch Sachzwänge eher beschränkt. Zum einen ist ihre personelle Ausstattung ohnehin so gering, daß die nötige Verläßlichkeit des Angebots eine deutliche Beschränkung der Vielfalt in den Schwerpunkten gebietet. Zum anderen müssen sie über eine erhebliche Zeit sowohl die Ausbildung nach der bisherigen Prüfungsordnung mit ihren Wahlfächern anbieten, als auch Schwerpunktbereiche aufbauen. Den Fakultäten bleibt daher zum Teil nicht viel anderes übrig, als die Schwerpunktbereiche weitgehend aus den Lehrveranstaltungen der bisherigen Wahlfächer zusammenzusetzen, 8 um so die für eine erhebliche Über6 S. dazu V. Römermann und C. Paulus, Schlüsselqualifikationen für Jurastudium, Examen und Beruf, München 2003.
7 S. dazu Schöbel (Anm. 1), S. 847. 8 Die teilweise bloße „Umetikettierung statt Umstrukturierung" wird beklagt bei Münch (Anm. 1), S. 21.
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gangszeit erforderliche Doppelspurigkeit auch bei beschränkten personellen Ressourcen gewährleisten zu können. Abzuwarten bleibt auch, ob die Profilierung durch unterschiedliche Lehrangebote an den Fakultäten außerhalb dieser überhaupt wahrgenommen werden wird. Die Schwerpunktbereichsausbildung dient indes nicht nur der Profilierung der Fakultäten, sondern natürlich auch der fachlichen Profilierung der Studierenden. Durch die Wahl des Schwerpunktbereiches möchten diese zeigen, wo sie ihre persönlichen Schwerpunkte und Chancen sehen. Zudem soll ihnen eine frühzeitige Orientierung an Berufsfeldern ermöglicht werden. Die spätere Praxis wird zeigen, ob dieser Sinn der Schwerpunktbereichsausbildung ebenso erreicht werden kann 9 wie ein Wettbewerb und die Profilierung der Fakultäten. Die Vermutung liegt nicht ganz fern, daß wegen der beschränkten Vergleichbarkeit der Ausbildung in den unterschiedlichen Fakultäten nicht die Gesamtqualifikation aus Staatsexamen und Universitätsprüfung entscheidend für den Berufseinstieg sein wird. Möglich und nicht ganz unwahrscheinlich ist es, daß dafür vielmehr allein der Staatsprüfungsanteil eine Rolle spielt. 1 0 Dabei ist indes ohnehin in Rechnung zu stellen, daß für den Berufsstart das erste Examen vielfach nur eine beschränkte Bedeutung hat.
III. Administrative Anforderungen des reformierten Studiums und Examens U m so mehr stellt sich die Frage nach dem durch die Einführung der Schwerpunktbereiche und das zweispurige Examen hervorgerufenen Aufwand. In administrativer Hinsicht ist dieser nämlich beträchtlich. Soweit ersichtlich, gibt es kein anderes Fach, in dem die studienabschließende Qualifikation aus einem Staatsund einem Universitätsanteil zusammengesetzt ist. Für alles, was das Prüfungsverfahren ohnehin bereits aufwendig macht, muß hier doppelt Sorge getragen werden und beides muß dann, da j a beide Prüfungsteile in eine Gesamtqualifikation einfließen, koordiniert werden. Zunächst mußten die Fakultäten bzw. Universitäten Prüfungs- und Studienordnungen für die Schwerpunktbereichsausübung und die Juristische Universitätsprüfung erarbeiten. Da es für die Sonderkonstellation der doppelten Prüfung keine Vorbilder gab, war das eine fordernde, aber auch reizvolle Aufgabe, die man als einmaligen Aufwand relativ schnell abhaken kann. Eine dauerhafte Anforderung ist dagegen die Einrichtung der entsprechenden Prüfungsgremien. Erforderlich sind ein Prüfungsausschuß, der die Entscheidungen im Prüfungsverfahren treffen kann, sowie ein Prüfungsamt, dem die administrative Durchführung und Begleitung des Prüfungsverfahrens obliegt. Geregelt und verwaltet werden müssen eine ganze Reihe von Einzelheiten des Prüfungsverfahrens. Dazu gehören die Ernen9 Skeptisch etwa Schöbel (Anm. 1), S. 848; vgl. a. P. Gilles und N. Fischer (Anm. 1). So etwa auch Schöbel (Anm. 1), S. 848.
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nung der Prüfer, die Zulassung der Prüflinge, die Durchführung der Prüfung selbst, die Bewertung der Prüfungsleistungen, die Erhebung und Übermittlung der Ergebnisse, die Ausstellung von Prüfungsbescheinigungen und Prüfungszeugnissen sowie die Anerkennung an anderen Universitäten erbrachter Prüfungsleistungen. Zu diesen Bereichen einige Bemerkungen: A l l diese Einzelpunkte können prüfungstechnische wie auch prüfungsrechtliche Probleme unterschiedlicher Art aufwerfen, die freilich meist nicht neu sind und für deren Bewältigung auf eine Fülle von Erfahrungen in den universitären und staatlichen Prüfungsämtern zurückgegriffen werden kann. Freilich erfordert dies bei den Fakultäten bzw. Universitäten personelle und sachliche Ressourcen, für die - überflüssig dies zu erwähnen - nicht etwa entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden, sondern die aus den bescheidenen laufenden Etats zu erbringen sind.
1. Zulassung der Prüfungskandidaten Besonderheiten ergeben sich aber aus der Zweispurigkeit der Prüfung in ihrer Aufteilung in einen Universitäts- und einen Staatsprüfungsteil mit jeweils unterschiedlichen Zuständigkeiten für die Durchführung. Was die Zulassung der Prüfungskandidaten angeht, ist aus prüfungsökonomischen Gründen sicherzustellen, daß niemand zu einer abschließenden Prüfung zugelassen wird, der die Gesamtqualifikation der Ersten Juristischen Prüfung nicht mehr erreichen kann. Soweit die Prüfung aus studienbegleitenden Anteilen besteht, etwa einer lehrveranstaltungsbezogenen Abschlußklausur oder einer größeren wissenschaftlichen Arbeit, stellt sich dieses Problem nicht. Es würde aber sowohl die Prüfer als auch den Prüfling unnötig belasten, wenn eine Prüfung, sei es als schriftliche Abschlußarbeit, sei es als mündliche Abschlußprüfung, durchgeführt würde, obwohl die Ergebnisse im jeweils anderen Prüfungsteil so sind, daß der Mißerfolg für die Gesamtprüfung bereits feststeht. Für die Universitätsprüfung läßt sich das etwa dadurch bewerkstelligen, daß die Zulassung zur mündlichen Abschlußprüfung des juristischen Staatsexamens zur Zulassungsvoraussetzung für eine abschließende Prüfung gemacht wird. Die Zulassung zur mündlichen Staatsprüfung setzt j a eine Mindestpunktzahl in den Aufsichtsarbeiten voraus, 11 an die dann angeknüpft werden kann. Für die zeitnahe und zügige Durchführung des Zulassungsverfahrens setzt das freilich voraus, daß die Zulassungsbescheide für die mündliche Staatsprüfung früh genug vorliegen, um über die Zulassung zur mündlichen Universitätsprüfung zu entscheiden, bzw., daß die entsprechenden Daten vom staatlichen Justizprüfungsamt an die universitären Prüfungsämter übermittelt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die universitäre Abschlußprüfung in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der mündlichen Staatsprüfung abgehalten werden soll. Es dürfte im Interesse der Prüfer wie der Prüflinge liegen, daß eine universitäre mündliche Abschlußprüfung über die Schwerpunktbereichsausbildung i m unmit' ι Überblick bei Schöbet (Anm. 1 ), S. 847, Fn. 9.
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telbaren Anschluß an die mündliche Staatsprüfung stattfinden kann, so daß der äußere Prüfungsablauf demjenigen der bisherigen Wahlfachprüfung im mündlichen Staatsexamen gleicht.
2. Ernennung und Auswahl der Prüfer Dementsprechend wäre es sinnvoll, wenn auch der Einsatz der Prüfer in einer solchen mündlichen Abschlußprüfung mit dem der Prüfer im universitären Teil koordiniert werden könnte. Auch dies setzt die rechtzeitige Übermittlung der entsprechenden Prüferpläne voraus, so daß nicht etwa Prüfer A in einer Staatsprüfung der Prüfungsgruppe X eingesetzt wird, obwohl seine Kenntnisse für die gleichzeitig stattfindende mündliche Universitätsprüfung der Prüfungsgruppe Y benötigt wird. Im Hinblick auf die Prüferbestellung ist überdies - nicht in erster Linie bei mündlichen Prüfungen, in denen auch ein Prüfer/Beisitzer Modell möglich ist, sondern vor allem bei Aufsichts- und Hausarbeiten - durch die Universitäten sicherzustellen, daß das Zwei-Prüfer-Prinzip für Abschlußprüfungen, das hochschulgesetzlich angeordnet ist (z. B. durch Art. 80 I X BayHochschulG), auch bei den Schwerpunktbereichsprüfungen sichergestellt werden kann. Je größer die fachliche Profilierung der Schwerpunktbereiche ist, desto schwieriger kann freilich im Einzelfall diese Anforderung zu erfüllen sein und desto mehr muß von den jeweiligen Ausnahmeklauseln Gebrauch gemacht werden. Mißlich ist es, wenn sich die Regeln über die Voraussetzungen für die Bestellung zum Prüfer zwischen der Staatsprüfung und der Universitätsprüfung unterscheiden. Dies ist etwa in Bayern der Fall. Für die Staatsprüfung erlaubt § 21 I I Nr. 1 der JAPO, daß wissenschaftliche Assistenten mit mindestens einjähriger Unterrichtstätigkeit an einer juristischen Fakultät zu Prüfern ernannt werden können. Für die Juristische Universitätsprüfung ist § 3 I I der Bayerischen Hochschulprüferverordnung einschlägig. Diese verlangt für die Ernennung wissenschaftlicher Assistenten zu Prüfern bei Universitätsabschlußprüfungen, durch die akademische Grade erworben werden, eine rae/zrjährige selbstständige Unterrichtstätigkeit an einer Universität. Die an sich in Aussicht gestellte Harmonisierung dieser Regelungen mit der JAPO ist bisher nicht erfolgt. 1 2 12 Zudem können nach § 21 I I Nr. 2 JAPO Vertreter der Berufspraxis auch ohne Lehrtätigkeit an einer juristischen Fakultät zu Prüfern ernannt werden. Für Universitätsabschlußprüfungen wird in § 3 I der Bayerischen Hochschulprüferverordnung bei Vertretern der Berufspraxis dagegen eine selbstständige Unterrichtstätigkeit von mindestens einem Jahr an einer Universität verlangt. Dies bedeutet, daß Praktiker in einer an die mündliche Staatsprüfung unmittelbar anschließenden mündlichen Universitätsprüfung lediglich als Beisitzer eingesetzt werden können, wenn sie nicht die entsprechende Erfahrung besitzen. Sachlich erscheint mir diese Einschränkung freilich geboten. Es erscheint mir auch erwägenswert, ob für den Einsatz von Praktikern in der ersten Juristischen Staatsprüfung nicht auch Lehrerfahrung an einer Universität, die j a in vielen Fällen vorliegt, oder in der Referendarausbildung verlangt werden sollte.
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3. Durchführung der Prüfung Die Durchführung der Prüfung selbst verlangt, wie schon dargelegt wurde, einen erheblichen Koordinierungsaufwand, wenn die Termine einer mündlichen Universitätsabschlußprüfung mit denen der mündlichen Abschlußprüfung der Ersten Juristischen Staatsprüfung in unmittelbarem Zusammenhang liegen sollen. Freilich sind die möglichen Zeitfenster auch dann zu beachten, wenn eine zeitlich davon getrennte Universitätsprüfung stattfindet. Ob und inwiefern die zeitliche Koordinierung beider Prüfungen reibungslos möglich ist, darüber liegen freilich noch keinerlei Erkenntnisse vor, da diese Prüfungen erst im Jahr 2007 stattfinden werden.
4. Bescheinigung und Übermittlung der Prüfungsergebnisse, Universitätsdiplom Da Juristische Universitätsprüfung und Erste Juristische Staatsprüfung lediglich Teile der Ersten Juristischen Prüfung sind und für diese Erste Juristische Prüfung ein Gesamtergebnis festgesetzt wird, sind auch die Ergebnisse der Juristischen Universitätsprüfung an das Landesjustizprüfungsamt zu übermitteln. U m einen reibungslosen Übergang in den zweiten Ausbildungsabschnitt zu ermöglichen, ist hier ein besonderes Augenmerk auf die unverzügliche, zeitnahe Übermittlung zu richten. Überdies wird nunmehr von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, aufgrund der bestandenen Ersten Juristischen Prüfung auch einen akademischen Grad zu verleihen. Der Absolvent braucht sich nicht mehr mit der kargen Bezeichnung eines geprüften Rechtskundigen zufrieden zu geben, sondern erhält den klingenderen Titel eines Diplomjuristen und ein entsprechendes akademisches Abschlußzeugnis. Dies setzt, neben dem Verwaltungsaufwand für die Feststellung der Voraussetzungen und der Ausstellung des Diploms, wiederum voraus, daß die Daten über die Ergebnisse der gesamten Juristischen Prüfung vom Landesjustizprüfungsamt so an die universitären Prüfungsämter übermittelt werden, daß die entsprechenden Zeugnisse auch zeitnah ausgestellt werden können. Die Zweiteilung der Prüfung führt so insgesamt zu einem regen Hin und Her der Übermittlung verschiedener Prüfungsergebnisse.
5. Anerkennung an anderen Universitäten erbrachter Prüfungsleistungen Eine vorhersehbare, aber an sich unerwünschte Nebenfolge der verstärkten Eigenständigkeit der Fakultäten in der Schwerpunktbereichsausbildung ist es, daß der Wechsel des Studienortes durch die Studierenden erheblich erschwert wird.
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Die Schwerpunktbereiche und die zu erbringenden Prüfungsleistungen unterscheiden sich von Fakultät zu Fakultät zum Teil beträchtlich. 13 Dies ist j a auch erwünscht. Darüber hinaus werden auch die einzelnen Lehrveranstaltungen mit einem Schwerpunktbereich an einer anderen Universität häufig nicht kompatibel sein, so daß der Studienortwechsler einen erheblichen Teil der Lehrveranstaltungen i m Schwerpunktbereich an der neuen Universität nachbelegen muß. Die Mobilität der Studierenden im späteren Studienabschnitt wird daher voraussichtlich weiter eingeschränkt werden. U m so mehr kommt es darauf an, diese Option nicht auch noch durch restriktive Regelung und Handhabung von Möglichkeiten der Anerkennung an anderen Fakultäten erbrachter Studienleistungen zu mindern.
6. Personeller und sachlicher Aufwand Aus dieser - keinesfalls vollständigen - Auflistung der administrativen Anforderungen für die Durchführung des Prüfungsverfahrens und insbesondere den Problemen der Koordination der beiden Prüfungsteile wird deutlich, daß der verwaltungstechnische Aufwand, der durch die Studienreform 2002 hervorgerufen wird, erheblich ist. Die erforderlichen zusätzlichen sachlichen und vor allem personellen Ressourcen sind freilich nicht zur Verfügung gestellt worden. Die Fakultätsverwaltungen sind in ihrem bisherigen Zuschnitt nicht in der Lage, die Prüfungsverfahren durchzuführen. Die Fakultäten sind daher auf die Hilfe ihrer Universitäten angewiesen - trotz der knappen gesamtuniversitären Mittel. Daß, wie zum Teil erhofft, in den Landesjustizprüfungsämtern in nennenswertem Umfang Ressourcen frei werden, ist kaum zu erwarten. Zwar entfällt hier die Verwaltung der bisherigen Wahlfachprüfungen. Durch den neuen Koordinationsaufwand mit den Juristischen Universitätsprüfungen wird die dadurch möglicherweise verringerte Arbeitsbelastung aber zumindest teilweise kompensiert. In einem Bundesland mit mehreren juristischen Fakultäten ist im übrigen kaum zu erwarten, daß im Landesjustizprüfungsamt genügend Ressourcen freigesetzt werden können, um eine Mehrzahl von Prüfungsämtern der Universitäten zu entlasten. Ganz beiseite bleiben hier einmal die haushaltstechnischen und politischen Probleme eines solchen Transfers an Verwaltungsressourcen. Daß für den absehbaren Verwaltungsaufwand im Verfahren der Gesetzes- und Verordnungsgebung der Juristenausbildungsreform keine Vorsorge getroffen wurde, stellt den Entscheidungsträgern ein schlechtes Zeugnis aus. Es zeigt, daß die erheblichen verwaltungstechnischen Friktionen einer solchen Reform nicht in Rechnung gestellt wurden. U m nicht mißverstanden zu werden: die administrativen Probleme scheinen mir durchweg lösbar und die Ziele der Reform sollen gar nicht in Frage gestellt werden. Umsonst ist das aber nicht und die Mittel, die dafür eingesetzt werden müssen, fehlen an anderer Stelle.
13
Eine Zusammenstellung der Schwerpunktbereiche der Juristischen Fakultäten enthält JA 2005, 721 ff.
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IV. Verfahrens- und prozeßrechtliche Folgen der Ausbildungsreform Auch in Verwaltungsverfahrens- und verwaltungsprozeßrechtlicher Hinsicht hat die Studienreform mit ihrer Zweiteilung der Ersten Juristischen Prüfung nicht unerhebliche Auswirkungen. Jedes Prüfungsverfahren ist, wie andere Verwaltungsverfahren auch, fehlerträchtig. Die Gefahr, daß durch Fehler im Verfahren Rechte der Prüflinge verletzt werden, bedingt dabei selbstverständlich, daß für den Rechtsschutz Vorsorge getragen wird, was ja auch wegen Art. 19 I V GG verfassungsrechtlich geboten ist. Im bisherigen einteiligen Staatsexamen ist hier die Rechtslage mit ihren durch die Prüfungsorganisation bedingten Besonderheiten unkompliziert. Gegen Fehler der Prüfung und der Bewertung der Prüfungsleistungen ist, je nach Klageziel i m Einzelfall, Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten im Rahmen einer Verpflichtungsklage oder einer Anfechtungsklage zu suchen. 14 Sofern die Landesjustizprüfungsämter keine eigenständigen Behörden sind, sondern, wie in Bayern (§ 3 BayJAPO) den Landesjustizministerien als obersten Landesbehörden zugeordnet sind, entfällt für die juristische Staatsprüfung nach § 68 I Nr. 1 V w G O das Widerspruchsverfahren, sofern nicht etwas anderes gesetzlich geregelt ist. 1 5 U m der Forderung der Rechtsprechung nach einer effektiven verwaltungsinternen Kontrolle der Prüfungsbewertungen 16 gleichwohl nachzukommen, ist in § 14 BayJAPO ein besonderes Nachprüfungsverfahren vorgesehen. Gegner einer verwaltungsgerichtlichen Klage ist entweder - wie in Bayern - das Land oder die Landesjustizprüfungsbehörde selbst, wenn das Landesrecht dies bestimmt (§ 78 I Nr. 2 VwGO). Dabei wird es für die Erste Juristische Staatsprüfung auch bleiben. Die Juristische Universitätsprüfung ist freilich ein eigenständiger Prüfungsteil, der von den Universitäten selbständig und in eigener Verantwortung durchzuführen ist (so § 38 BayJAPO) Daher ist auch für ihn entsprechender Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Prüfung selbst bzw. die Feststellung ihres Bestehens bzw. Nichtbestehens haben unmittelbare Rechtswirkungen für den Kandidaten und damit Verwaltungsaktscharakter. Auch hier ist - je nach Fallkonstellation - Anfechtungsoder Verpflichtungsklage zu erheben. Allerdings findet, da die Universitäten keine obersten Landesbehörden sind, ein Widerspruchsverfahren nach § 68 ff. V w G O statt. Widerspruchsbehörde ist, da es sich um eine eigene (Körperschafts-)Angelegenheit der Universitäten handelt (s. Art. 5 II, I I I BayHochschulG), nach § 73 I Nr. 3 V w G O die Universität selbst. Diese ist auch in einem nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren Klagegegner. Die gespaltene Erste Juristische Prüfung zieht damit auch eine Spaltung des Rechtsschutzes nach sich - mit Unterschieden sowohl hinsichtlich des Klagegegenstandes und des Klagegegners als 14
Zu den einzelnen Konstellationen N. Niehues, Prüfungsrecht, 4. Aufl. 2004, Rn. 804 ff.
15 S. a. Niehues (Anm. 14), Rn. 816. 16 Vgl. BVerfGE 84, 34 (45 ff.) u. 59; BVerwG, N V w Z 1993, 681 (683 f.) u. 686 ff.
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Heinrich de Wall
auch des Vorverfahrens. Dies bedeutet etwa auch, daß, sofern eine Klage auf Fehler in einer mündlichen Prüfung gestützt wird, in der zunächst der Staatsprüfungsanteil und dann eine mündliche Universitätsprüfung stattfindet, für diesen einheitlichen Lebensvorgang unter Umständen zwei Klagen gegen unterschiedliche Gegner durchzuführen sind. Dies ist natürlich kein Ergebnis, das nicht rechtlich zu handhaben wäre. Zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren und der verwaltungsgerichtlichen Klagen führt es aber nicht. Ein anderer Aspekt ist hier noch anzufügen: M i t der Verlagerung eines Teils der Prüfung auf die Universitäten kommen auf diese in der Konsequenz neue Belastungen zu, wenn sie als Gegner verwaltungsgerichtlicher Klagen gegen Prüfungsentscheidungen in Anspruch genommen werden - hier sind die Justitiarate der Universitäten gefragt. M i t etwas Sarkasmus könnte man feststellen, daß die Juristenausbildungsreform auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Juristen schafft.
V. Alternativen Die aufgezeigten administrativen, Verfahrens- und prozeßrechtlichen Probleme stellen die Beteiligten vor erhebliche Aufgaben. Diese Aufgaben sind freilich nicht unlösbar. Sie erfordern einen erheblichen Aufwand an Personal und Sachverstand. Gleichwohl sollte man sich den Optimismus, daß die Studienreform 2002 ihre Ziele erreicht, nicht nehmen lassen. Abschließend sei aber die Frage erlaubt, ob nicht mit etwas geringerem administrativen Aufwand ähnliche Ergebnisse hätten erreicht werden können. Auch vor dem Hintergrund der Wahlfachausbildung, wie sie vor der Studienreform bekannt war und j a für eine Übergangszeit nach wie vor durchgeführt wird, wäre eine Stärkung der Eigenständigkeit der Fakultäten und eine Schärfung von deren Profil sowie eine wissenschaftliche Vertiefung des Studiums durchaus vorstellbar gewesen. So hätte der zeitliche Anteil der Wahlfächer und ihre Bedeutung auch innerhalb des alten Systems gestärkt werden können. Es erscheint auch durchaus vorstellbar, die Ausgestaltung der Wahlfächer in die Hand der Fakultäten zu legen, gleichwohl an einer zentral verwalteten Staatsprüfung festzuhalten. Die nötige Verankerung der Prüfer in der in einem solchen Fall unterschiedlichen Wahlfachausbildung der jeweiligen Fakultäten hätte dadurch gewährleistet werden können, daß die Prüfer für den Wahlfachteil auf Vorschlag und im Einvernehmen mit der jeweiligen Fakultät bestimmt werden. Eine weitere Stärkung der Wahlfachausbildung hätte zudem auch dadurch erreicht werden können, daß eine größere Zahl an Leistungsnachweisen zur Voraussetzung für die Zulassung zum Staatsexamen mit Wahlfachprüfung gemacht worden wäre. M i t einer solchen Lösung hätten die Probleme, die sich aus der Zweiteilung der Prüfung ergeben, vermieden oder zumindest minimiert werden können. Vielleicht hat insofern die permanente Reformdiskussion auch ihr Gutes: Möglicherweise lassen sich in die Diskussion um den Bologna-Prozeß und seine Bedeutung für die Juristenausbildung auch die dann in wenigen Jahren vorliegenden Er-
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fahrungen mit der Juristenbildung 2002 und den verwaltungstechnischen Problemen, die mit ihr verbunden sind, einbeziehen. Die Autonomie der Fakultäten und Universitäten und ihr Stellenwert in der Juristenausbildung werden nicht unbedingt dadurch gestärkt, daß ihnen zunehmende Verwaltungsaufgaben auferlegt werden, sondern daß sie die Freiheit in ihrem eigentlichen Kernbereich, Forschung und Lehre, bewahren und ausbauen können. Umgekehrt ist eine Verwaltung nicht um so besser, je aufwendiger sie ist, sondern je effektiver und einfacher sie ihre dienende Funktion für die jeweilige Sachfrage, in unserem Fall das Prüfungswesen, erfüllen kann.
Die Baugenehmigung - Baustein oder Schlussstein der Baufreigabe? Von Dirk Ehlers, Münster
I. Problemstellung Nach der euklidischen Geometrie treffen sich Parallelen niemals. Die sogenannte projektive Geometrie hält demgegenüber zwar eine Überschneidung von Parallelen in einem unendlich fernen Punkt für möglich. Da wir in dieser Welt aber nicht in der Unendlichkeit leben, muss für das Hier und Heute und damit auch für das Rechtsleben von einer nicht zu beseitigenden Zweispurigkeit paralleler Vorgänge ausgegangen werden. Dem scheint sich das Rechtssystem nicht immer bewusst zu sein. So gibt es i m Verwaltungsrecht in großer Anzahl Verwaltungsverfahren, die parallel zueinander ablaufen. Gleichwohl wird versucht, sie aufeinander abzustimmen, obwohl dies more geometrico kaum gelingen kann. Beansprucht zum Beispiel ein Bauherr für sein Bauvorhaben eine Baugenehmigung, wird er wissen wollen, ob er nach Erhalt dieser Genehmigung mit dem Bauen beginnen darf oder ob er vorher, gleichzeitig oder nachträglich weitere Genehmigungen etwa landschaftsschutzrechtlicher, wasserrechtlicher oder sanierungsrechtlicher Art - einholen muss. U m das Verhältnis des Baugenehmigungsverfahrens zu den parallelen, das Bauvorhaben betreffenden Verwaltungsverfahren klären zu können, bedarf es zunächst des Eingehens auf die Regelungswirkungen einer Baugenehmigung (II.). Sodann wird dazu Stellung genommen, ob für die Bestimmungen der Regelungswirkungen einer Baugenehmigung das Bundes- oder Landesrecht maßgebend ist (III.). Darauf aufbauend kann das Augenmerk auf die in Betracht kommenden und tatsächlich gewählten Gestaltungen des Baugenehmigungsverfahrens geworfen werden (IV.). Ein Vorschlag de lege ferenda schließt die Ausführungen ab (V.).
II. Regelungswirkungen einer Baugenehmigung Der Baugenehmigung werden gemeinhin jedenfalls eine Feststellungs- (1.) und eine Gestaltungswirkung (2.) zugeschrieben. 1 Darüber hinaus könnten mit ihr weitere Regelungswirkungen verbunden sein (3.). 1 U. Battis, Öffentliches Baurecht und Raumordnungsrecht, 4. Aufl., Stuttgart 1999, S. 224; W. Brohm, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl., München 2002, § 28 Rn. 25; F.-J. Peine,
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1. Feststellungswirkungen der Baugenehmigung In unterschiedlichen Wendungen sehen die Bauordnungen in allen Ländern vor, dass eine Baugenehmigung zu erteilen ist, wenn dem Vorhaben keine öffentlichrechtlichen Vorschriften entgegenstehen: positiv ausgedrückt, wenn das Vorhaben öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht." Der Umstand, dass die Baugenehmigung danach nur erlassen werden darf, wenn die öffentlich-rechtlichen Anforderungen erfüllt werden und dies von der Bauaufsichtsbehörde (Baugenehmigungsbehörde, Baurechtsbehörde) zunächst festgestellt werden muss, besagt noch nicht, dass die Genehmigung die Übereinstimmung mit den öffentlich-rechtlichen Anforderungen verbindlich feststellt. Zwischen Genehmigungsvoraussetzungen und Genehmigungsinhalt ist zu unterscheiden. 3 Die zur Begründung eines Verwaltungsaktes getroffenen Feststellungen werden von den Regelungswirkungen prinzipiell nicht erfasst. 4 So ist eine Gaststättenerlaubnis eine Betriebserlaubnis. Diese darf zwar nur erteilt werden, wenn die zum Betrieb der Gaststätte bestimmten Räume den in § 4 Abs. 1 Nr. 2, 2 a, 3 GaststättenG genannten Erfordernissen genügen. Die positive Bewertung dieser Voraussetzungen ist aber nicht verbindlicher Inhalt der mit Wirkung nach außen getroffenen Behördenentscheidung. 5 Dagegen wird echten Anlagegenehmigungen ein verbindlicher, die Vereinbarkeit der Anlage mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften feststellender Inhalt zugeschrieben, weil der Anlage bestimmte rechtliche Eigenschaften mit Bindungswirkung für andere Verwaltungs- und Gerichtsverfahren bescheinigt werden sollen. 6 Somit ist in Übereinstimmung mit der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung davon auszugehen, dass auch die Baugenehmigung Feststellungswirkungen entfaltet. Wieweit die Feststellungswirkungen reichen, hängt bei gesetzeskonformer Verfahrensweise der Bauaufsichtsbehörde von der Gesetzeslage ab. Sie können nicht über den gesetzlichen Prüfungsauftrag der Bauaufsichtsbehörde hinausreichen. Während das Baugenehmigungsverfahren nach überkommener Ansicht auf eine umfassende Prüfung des zur Genehmigung gestellten Bauvorhabens am Maßstab Öffentliches Baurecht, 4. Aufl., Tübingen 2003, Rn. 1071; W. Krebs, in: E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl., Berlin 2005, 4. Kap. Rn. 208; K-M. Ortloff, Öffentliches Baurecht, Bd. 2, Bauordnungsrecht, Nachbarschutz, Rechtsschutz, 5. Aufl., München 2005, 140 f.; B. Stiler, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 3. Aufl., München 2005, Rn. 2245; vgl. auch R. Bartlsperger, DVB1. 1971, 723 (728). 2 § 58 Abs. 1 S. 1 BauO BW, Art. 72 Abs. 1 S. 1 BayBO; § 62 Abs. 1 S. 1 BauO Bin, § 67 Abs. 1 S. 1 BbgBO, § 74 Abs. 1 BauO Brem, § 69 Abs. 1 S. 1 HBauO, § 64 Abs. 1 Hess BauO, § 72 Abs. 1 S. 1 LBauO M - V , § 75 Abs. 1 S. 1 NBauO, § 75 Abs. 1 S. 1 BauO NRW, § 70 Abs. 1 S. 1 LBauO RP, § 73 Abs. 1 S. 1 SaarlBauO, § 72 Abs. 1 SächsBO, § 77 Abs. 1 S. 1 BauO LSA, § 78 Abs. 1 S. 1 L B O SH, § 70 Abs. 1 ThürBO. 3 G. Gaentzsch, NJW 1986, 2787 (2790). 4 D. Ehlers, in: W. Krebs (Hrsg.), Liber amicorum Hans-Uwe Erichsen, Köln 2004, 1(12, 13 f., 16). 5
Vgl. D. Ehlers, in: N. Achterberg/G. Püttner/Th. Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., Heidelberg 2000, § 2 Rn. 224 f. ^ Vgl. G. Gaentzsch, NJW 1996, 2787 (2791).
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nahezu des gesamten einschlägigen öffentlichen Rechts abzielte, ist das Prüfprogramm in vielen Ländern heute erheblich reduziert worden, wie noch zu zeigen sein wird (IV.)· Je nachdem können die Feststellungswirkungen der Baugenehmigung weit oder weniger weit reichen. Da sich das Genehmigungserfordernis auf die Errichtung, die Änderung, die Nutzungsänderung und den Abbruch der erfassten Anlagen bezieht 7 , knüpfen die Baugenehmigungen hieran an, können sich insbesondere also auch auf die Nutzung der Anlage beziehen.
2. Gestaltungswirkungen der Baugenehmigung Unterfällt ein Bauvorhaben der Genehmigungspflicht, ist es vor Erteilung einer Baugenehmigung verboten, mit der Bauausführung (respektive der Nutzungsänderung oder dem Abbruch) zu beginnen und das geplante Vorhaben ins Werk zu setzen. Die Erteilung der Baugenehmigung hebt dieses Verbot ganz oder teilweise auf. Somit kommt jeder Baugenehmigung neben der Feststellungs- zugleich eine Gestaltungswirkung zu. A u f diesen Aspekt wird abgehoben, wenn die Baugenehmigung in Rechtsprechung und Literatur der Kategorie der präventiven Verbote mit Erlaubnisvorbehalt 8 respektive der Kontrollerlaubnisse 9 zugerechnet wird. Da die feststellende und gestaltende Wirkung der Baugenehmigung korrespondieren, weil diese die Folgerungen aus jener zieht und daher nicht weiterreichen kann, hängt die Reichweite der Gestaltungswirkung von der Reichweite der Feststellungswirkung ab. Stellt die Baugenehmigung die Vereinbarkeit mit allen einschlägigen Vorschriften des öffentlichen Rechts fest, entfällt das Bauverbot ganz. Bezieht sie sich nur auf bestimmte Feststellungen (bauplanerischer oder bauordnungsrechtlicher Art) oder bedarf es zur Ausführung des Vorhabens noch weiterer Genehmigungen in einem anderen Verwaltungsverfahren, ist die Aufhebung des Verbotes nur partieller Art.
3. Weitere Regelungswirkungen der Baugenehmigung Unter Umständen könnte eine Baugenehmigung weitere Regelungswirkungen entfalten. So wird vielfach davon gesprochen, dass die Baugenehmigung auch einen verfügenden Teil enthält, 1 0 die Baufreigabe regelt 1 1 und eine Erlaubnis aus7 Vgl. z. B. § 63 Abs. 1 S. 1 BauO NRW. « Vgl. W. R. Schenke, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Anm. 5), § 9 Rn. 92; Brohm (Anm. 1), § 28 Rn. 8; Peine (Anm. 1), Rn. 1071; Stüer (Anm. 1), Rn. 2196 mit weiteren Hinweisen; Krebs (Anm. 1), Rn. 208. 9 Brohm (Anm. 1), § 28 Rn. 8; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl., München 2004, § 9 Rn. 51.
· Vgl. z. B. Krebs (Anm. 1), 4. Kap. Rn. 209; Brohm (Anm. 1), § 28 Rn. 25; S. Grotefels, in: W. Hoppe/Ch. Bönker/dies., Öffentliches Baurecht, 3. Aufl., München 2004, § 15 Rn. 50. 25 FS Bartlsperger
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spricht. Einem Verwaltungsakt kommt Verfügungscharakter zu, wenn er auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen gerichtet i s t . 1 2 Da von einer Baugenehmigung nicht Gebrauch gemacht werden muss, trifft dies auf die Baugenehmigung nicht zu. Unter Baufreigabe ist die Verleihung des Rechts zu verstehen, mit der Bauausführung (respektive der Nutzungsänderung oder dem Abbruch der baulichen Anlage) zu beginnen. Doch ergibt sich bereits aus den getroffenen Ausführungen, dass mit der Erteilung der Baugenehmigung eine solche Wirkung wegen der Möglichkeit des Bestehenbleibens von Bauverboten keineswegs notwendigerweise verbunden ist. Zum Teil enthalten die Bauordnungen ausdrücklich Vorschriften, wonach die Erteilung der Baugenehmigung für die Baufreigabe nicht ausreicht. 13 Auch § 72 Abs. 6 der von der Bauministerkonferenz erarbeiteten Musterbauordnung 2002 bestimmt, dass mit der Bauausführung oder mit der Ausführung des jeweiligen Bauabschnitts erst begonnen werden darf, wenn die Baugenehmigung dem Bauherrn zugegangen ist „sowie die Bescheinigungen nach § 66 Abs. 3 und die Baubeginnsanzeige der Bauaufsichtsbehörde vorliegen". Selbst wenn die Baugenehmigung als solche den Weg zur Bauausführung freimacht, ist nicht ersichtlich, welchen Sinn die gesonderte Verleihung eines hierauf gerichteten zusätzlichen Rechts haben sollte. Bereits aus Art. 14 Abs. 1 GG i. V. m. § 903 BGB und den sonstigen Vorschriften des privaten und öffentlichen Baurechts 14 ergibt sich, dass gebaut (und die bauliche Anlage genutzt bzw. abgerissen) werden darf, wenn kein Verbot entgegensteht. Hebt die Baugenehmigung alle zuvor bestehenden Bauverbote auf, folgt hieraus im Gegenschluss, dass nunmehr gebaut werden darf. Die Baufreigabe ist dann nichts anderes als die Erläuterung des gestaltenden Teils der Baugenehmigung. Solche Erläuterung mag zweckmäßig sein, entfaltet aber keine zusätzlichen Regelungswirkungen. Demgemäß enthält die Baugenehmigung keine über die feststellende und die verfügende Wirkung der Baugenehmigung hinausgehenden weiteren Erlaubnisse.
III. Maßgeblichkeit des Bundes- oder Landesrechts Bis Mitte der neunziger Jahre ist zumeist die Auffassung vertreten worden, dass sich der Regelungsgegenstand und der Zeitpunkt der Erteilung einer Baugenehmigung nicht nur nach Landesrecht, sondern auch und vorrangig nach Bundesrecht bestimmen. So hat das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahre 1994 in einem obiter dictum festgestellt, dass ohne sanierungsrechtliche Genehmigung nach § 144 11 Siehe A. Lechner, in: A. Simon/J. Busse, Bayerische Bauordnung, Bd. 1, München Stand: April 2005, Art. 72 Rn. 42 mit weiteren Nachweisen. 12 H.-U. Erichsen, in: ders./Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., Berlin 2002, § 12 Rn. 27; Maurer (Anm. 9), § 9 Rn. 44.
13 Vgl. § 68 Abs. I S. 1 Nr. 3 BbgBO, § 73 Abs. 6 Nr. 2, 3 SaarlBauO, § 72 Abs. 6 Nr. 2, 3 SächsBO, § 70 Abs. 6 Nr. 2, 3 ThürBO. •4 Zum Zusammenspiel dieser Normen vgl. D. Ehlers, V V D S t R L 51 (1992), 211 (217 ff.).
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BauGB ein positiver Baubescheid nicht erteilt werden darf; denn die sanierungsrechtliche Genehmigung trete an die Stelle der Veränderungssperre (§ 14 Abs. 4 BauGB) und der Zurückstellung von Baugesuchen (vgl. § 15 Abs. 2 BauGB). Diese der sanierungsrechtlichen Genehmigung kraft Bundesrechts zukommende bodenrechtliche Sicherungsfunktion stehe nicht zur Disposition des für die Regelung des Baugenehmigungsverfahrens zuständigen Landesgesetzgebers. 15 Jedoch ist das Bundesverwaltungsgericht von dieser Ansicht ein Jahr später ausdrücklich abgerückt. Nunmehr wurde festgestellt, dass das jeweilige Landesbauordnungsrecht bestimmt, was Gegenstand der Prüfung im Baugenehmigungsverfahren zu sein hat. Das gelte namentlich auch für die Frage, ob die Baugenehmigung i. S. d. sogenannten Schlusspunkttheorie (vgl. I V 2. a) eine umfassende und abschließende Entscheidung über alle öffentlich-rechtlichen Fragen zu enthalten habe. Hieran ändere auch ein sanierungsrechtliches Genehmigungserfordernis nichts. Die §§ 144 und 145 BauGB regelten nur, dass es einer gesonderten Genehmigung bedarf und wer hierüber zu entscheiden hat. Die weitere Verfahrensgestaltung bleibe dem Landesrecht überlassen. Damit folge der Bundesgesetzgeber dem in Art. 83, 84 GG enthaltenen Grundsatz, dass Bundesrecht durch die Länder auszuführen sei. Die Länder dürften hierzu, je nach dem Regelungsgehalt, den sie dem Bauvorbescheid und der Baugenehmigung im Rahmen des bauordnungsrechtlichen Instrumentariums zuerkennen, unterschiedliche Lösungen entwickeln, solange die bundesrechtlich vorgegebene Zielsetzung nicht berührt wird. So fordere das Bundesrecht, dass ein Bauvorhaben in einem förmlich festgelegten Sanierungsgebiet nicht ohne vorherige sanierungsrechtliche Genehmigung begonnen werden darf. Zu welchem Zeitpunkt diese Genehmigung vorliegen müsse, entscheide es aber nicht. Vielmehr bleibe es dem Landesrecht überlassen, dafür zu sorgen, dass das Genehmigungserfordernis i m Verwaltungsvollzug auch beachtet w i r d . 1 6 Diese Rechtsauffassung hat sich mittlerweile zu Recht allgemein durchgesetzt. 17 Der Bundesgesetzgeber könnte zwar für die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder nach den Art. 84 Abs. 1, 85 Abs. 1 GG mit Zustimmung des Bundesrates Spezialregelungen mit Auswirkungen für die Art und Weise der Gestaltung des Baugenehmigungsverfahren treffen. Solche Regelungen sind aber nicht ersichtlich. Somit ist es Sache der Länder, den genauen Inhalt sowie den Erlasszeitpunkt der Baugenehmigung festzulegen: vorausgesetzt, den inhaltlichen Vorgaben des Bundesrechts wird
•5 BVerwG, N V w Z - R R 1995, 66 f. Vgl. auch V G H BW, N V w Z - R R 1991, 284 f. 16 BVerwGE 99, 351 ff. Vgl. auch bereits BayVGH, BRS 55 Nr. 146. 17 Vgl. V G H BW, N V w Z - R R 1997, 156; ZfBR 2003, 47 jeweils zu § 144 Abs. 1 BauGB; O V G M - V , L K V 1998, 460 - für atomrechtliche Genehmigungsverfahren; O V G M - V , BauR 2001, 1409 - zum Befreiungsvorbehalt zu einer aufgrund NaturschutzG M - V vorgenommenen Schutzgebietsausweisung durch NationalparkVO; O V G N R W (7. Senat), N V w Z - R R 2002, 564 (567) - zum Befreiungserfordernis gem. § 69 LandschaftsG NRW; O V G N R W (10. Senat), D Ö V 2004, 302 - zu weiteren öffentlich-rechtlichen Genehmigungen z. B. nach dem Landschafts-, Straßen-, Sanierungs- und Wasserrecht. Zur anders gelagerten Problematik, ob ein Bauinteressierter sanierungsrechtliche Fragen bei Beantragung eines Bauvorbescheides ausklammern kann, vgl. bejahend NdsOVG, N V w Z - R R 2005, 391. 25*
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Rechnung getragen. Bestimmt das Landesrecht etwa, dass eine Baugenehmigung trotz Fehlens der erforderlichen sanierungsrechtlichen Genehmigung erteilt werden darf, lässt sich dies mit dem Bundesrecht nur vereinbaren, wenn der Baugenehmigung kraft Landesrechts nicht die Wirkung einer Baufreigabe zukommt. Schreibt das Landesrecht dagegen vor, dass die Bauaufsichtsbehörde eine abschließende Entscheidung über alle mit dem Bauen zusammenhängenden Fragen zu treffen hat, muss verfahrensrechtlich sichergestellt werden, dass die Baugenehmigung erst erlassen wird, wenn alle erforderlichen weiteren Genehmigungen vorliegen oder gleichzeitig erteilt werden.
IV. In Betracht kommende und tatsächlich gewählte Ausgestaltungen des Baugenehmigungsverfahrens Wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, kann das Verhältnis des Baugenehmigungsverfahrens zu anderen Verwaltungsverfahren unterschiedlich ausgestaltet sein. Idealtypisch lässt sich danach differenzieren, ob die Verfahren getrennt sind, aufeinander abgestimmt werden oder ineinander aufgehen. Dementsprechend kann von einem Separationsmodell (1.), einem Koordinationsmodell (2.) und einem Konzentrationsmodell (3.) gesprochen werden. 1 8
1. Ausrichtung des Baugenehmigungsverfahrens auf das Separationsmodell a) Merkmale des Separationsmodells Wird ein Separationsmodell zugrunde gelegt, stehen das Baugenehmigungsverfahren und die sonstigen auf dasselbe Vorhaben bezogenen Verwaltungsverfahren nebeneinander, ohne dass eine Koordinierung angestrebt wird. Des Näheren lässt sich zwischen einem reinen und einem abgeschwächten Separationsmodell unterscheiden. Im Falle eines reinen Separationsmodells werden im Baugenehmigungsverfahren nur (bestimmte) Rechtsfragen des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts geprüft und entschieden. Von einem abgeschwächten Separationsmodell lässt sich sprechen, wenn in gewisser Weise fachfremdes Recht oder fachfremde Verfahren einbezogen werden. In Betracht kommt eine Abschwächung in dreifacher Hinsicht. Zunächst kann die Bauaufsichtsbehörde gehalten sein, neben den baurechtlichen Vorschriften in bestimmtem Ausmaß auch andere öffentlich-rechtliche Vorschriften zu prüfen, die für das Vorhaben relevant sein können, sofern die Einhaltung Vgl. auch H. Jarass, D Ö V 1978, 21 (22 ff.); G. Gaentzsch, NJW 1986, 2787 (2788 f., 2793 ff.); O V G NRW, D Ö V 2004, 302 (303).
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dieser Vorschriften keinem Genehmigungserfordernis einer anderen Behörde unterworfen worden ist. Sodann kommt in Betracht, dem Bauherrn das Sachentscheidungsinteresse für einen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung abzusprechen, wenn eine für das Vorhaben benötigte weitere Genehmigung offensichtlich nicht erteilt werden kann oder bereits versagt worden ist. Vergleichend lässt sich darauf hinweisen, dass die Baugenehmigung nach allen Bauordnungen zwar „unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt w i r d " . 1 9 Ist ein Bauvorhaben wegen offensichtlich entgegenstehender privater Rechte aber nicht durchführbar, wird der Baugenehmigungsbehörde nicht zugemutet, eine - unter Umständen sehr aufwendige - Sachprüfung des gestellten nutzlosen Antrags durchzuführen. 20 Die Verneinung eines Sachentscheidungsinteresses wegen offensichtlich nicht zu erlangender weiterer Genehmigungen läuft darauf hinaus, der Bauaufsichtsbehörde eine wenn auch sehr begrenzte - Vorfragenkompetenz im Hinblick auf fachfremdes Recht einzuräumen. Völlig unbedenklich ist dies nicht, weil man darin unter Umständen auch eine Kompetenzanmaßung sehen könnte, doch wird diese von der h. M . 2 1 hingenommen. Schließlich sind nicht nur Verwaltungsträger zur gegenseitigen Rücksichtnahme, sondern ebenfalls die Organe dieser Rechtsträger zur gegenseitigen Organtreue verpflichtet. 2 2 Hieraus könnte sich möglicherweise die Berechtigung oder Verpflichtung zur Informierung der jeweils zuständigen anderen Behörde ergeben. So darf etwa eine straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis nicht aus polizei- oder ordnungsrechtlichen Erwägungen versagt werden. 2 3 Wird die Sondernutzungserlaubnis erteilt, ist die zuständige Behörde nach der Rechtsprechung aber berechtigt oder sogar verpflichtet, die Polizei- oder Ordnungsbehörde über das Vorhaben des Antragstellers zu informieren, damit diese dagegen einschreiten kann. 2 4 Entsprechendes könnte für die im Baugenehmigungsverfahren tätig werdende Bauaufsichtsbehörde gelten.
b) Konzeption der Musterbauordnung
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Das abgeschwächte Separationsmodell liegt insbesondere der Musterbauordnung 2002 zugrunde. Nach § 72 Abs. 1 M B O ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Damit wird der Prüfungsmaßstab von vornherein beschränkt. Welche öffentlich-rechtlichen Vor19 Vgl. etwa § 75 Abs. 3 S. 1 BauO NRW. 20 Vgl. Brohm (Anm. 1), § 28 Rn 11. 21 Siehe z. B. O V G NRW, D Ö V 2004, 302 (305); BayVGH, N V w Z 1994, 304 (306 f.). 22 Zum Gebot staats- und gemeindefreundlichen Verhaltens vgl. etwa E. Schmidt-Aßmann/H. Ch. Röhl in: Schmidt-Aßmann (Anm. 1), 1. Kap. Rn. 25; zur Organtreue W.-R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue, Berlin 1977. 23 HessVGH, N V w Z 1987, 902 ff. 4
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Schriften im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, hängt von der Art des Genehmigungsverfahrens ab. Für „gewöhnliche" Bauvorhaben gilt - unter Umständen bis hin zur Hochhausgrenze - das vereinfachte Genehmigungsverfahren. In diesem prüft die Bauaufsichtsbehörde neben der Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den § § 2 9 bis 38 BauGB und bestimmten beantragten Abweichungen nur „andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt oder ersetzt wird" (§ 63 S. 1 Nr. 3 MBO). In den sonstigen Baugenehmigungsverfahren ist zwar auch Bauordnungsrecht zu überprüfen, für die „anderen öffentlich-rechtlichen Anforderungen" gilt aber dasselbe wie im vereinfachten Verfahren (§ 64 S. 1 Nr. 3 MBO). Somit ist anderes öffentliches Recht als Baurecht nur zu prüfen, wenn „ein fachrechtliches Anlagenzulassungsverfahren für den Fall eines Baugenehmigungsverfahrens diesem (unter Zurücktreten der fachrechtlichen Gestattung) die Prüfung des materiellen Fachrechts zuweist (sog. „aufgedrängtes" öffentliches Recht)". 2 5 Insoweit entfaltet die Baugenehmigung kraft der Anordnung des fremden Fachrechts sogar Konzentrationswirkung für das fachfremde Recht, wenn die fachrechtliche Präventivkontrolle nicht nur entfällt, sondern ersetzt wird. Hierfür gibt es aber nur wenige Beispiele. Hinzuweisen ist vor allem auf das Denkmalschutzrecht, weil dieses zumeist vorsieht, dass die Baugenehmigung an die Stelle der denkmalrechtlichen Genehmigung t r i t t 2 6 . Verfahrensrechtlich bedarf es dafür i. d. R. des Einvernehmens der Denkmalbehörde. 27 Kommt es nicht zur Ersetzung oder zum Wegfall anderer öffentlich-rechtlicher Entscheidungen durch die Baugenehmigung, berührt das bauaufsichtliche Genehmigungsverfahren nicht andere Verwaltungs verfahren. Die Zurücknahme des öffentlichen Baurechts auf die Prüfung lediglich partieller Gesichtspunkte kommt auch in der Aufgaben- und Befugnisnorm des § 58 Abs. 2 S. 1 M B O zum Ausdruck, weil die Bauaufsichtsbehörden nach dieser Vorschrift über die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu wachen haben, „soweit nicht andere Behörden zuständig sind". Dies gilt sowohl für das präventive als auch für das repressive Einschreiten. Vorschriften über das Sachentscheidungsinteresse des Bauherrn und Hinweispflichten zwischen den Behörden enthält die Musterbauordnung nicht. Doch wird in der Begründung des § 64 M B O darauf hingewiesen, dass die Befugnis der Bauaufsichtsbehörde unberührt bleibt, eine Baugenehmigung (auch im vereinfachten 25 Vgl. Begründung der Musterbauordnung zu § 63 und § 64 M B O . 26 Vgl. § 7 Abs. 3 DSchG BW, Art. 6 Abs. 3 S. 1 BayDSchG, § 12 Abs. 3 S. 2 DSchG Bin, § 20 Abs. 1 S. 1 BbgDSchG, § 10 Abs. 6 S. 1 DSchG Brem, § 7 Abs. 3 S. 2 HessDSchG, § 7 Abs. 6 S. 1 DSchG M - V , § 10 Abs. 4 S. 1 NDSchG, § 9 Abs. 3 S. 1 DSchG N R W (mit der Möglichkeit gesonderter Beantragung der denkmalrechtlichen Erlaubnis nach Satz 2), § 8 Abs. 8 S. 1 SaarlDSchG, § 12 Abs. 3 SächsDSchG, § 14 Abs. 8 S. 1 DSchG L S A , § 12 Abs. 3 S. 2 ThürDSchG. Zum Verhältnis von Denkmalschutzrecht und Bauplanungsrecht grundlegend R. Bartlsperger, DVB1. 1981, 284 ff. 27 § 12 Abs. 3 S. 3 DSchG Bin, § 10 Abs. 6 S. 1 DSchG Brem, § 7 Abs. 6 S. 2 DSchG M - V , § 8 Abs. 8 S. 3 SaarlDSchG.
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Die Baugenehmigung
Baugenehmigungsverfahren) i m Ermessenswege mangels Sachentscheidungsinteresse jedenfalls dann zu versagen, wenn eine erforderliche fachrechtliche Parallelgenehmigung unanfechtbar versagt worden i s t 2 8 oder offenkundig nicht erteilt werden kann. Die Berechtigung (nicht notwendigerweise die Pflicht), andere Behörden auf das Bauvorhaben hinzuweisen, dürfte sich den allgemeinen zwischenbehördlichen Verfahrensgrundsätzen (Organtreue, gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfe) entnehmen lassen.
c) Dem Separationsmodell folgende
Bauordnungen
In Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, im Saarland sowie in Sachsen und Thüringen schreiben die Bauordnungen in wörtlicher oder sinngemäßer Übereinstimmung mit der Musterbauordnung vor, dass eine Baugenehmigung zu erteilen ist, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Dies spricht dafür, dass diese Länder dem Separationsmodell nach Art der Musterbauordnung folgen. Doch lässt sich dies nicht immer eindeutig feststellen, weil es in einigen der genannten Länder überhaupt keine oder nur partielle Normierungen darüber gibt, welche Vorschriften i m bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen oder nicht zu prüfen sind. So kennt die Landesbauordnung Baden-Württemberg keine derartigen Bestimmungen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vertritt aber seit langem die Auffassung, dass Vorschriften, die von einer anderen Behörde in einem gesonderten Verfahren zu prüfen sind, das durch eine rechtlich selbständige Entscheidung in Form eines Verwaltungsakts abgeschlossen wird, von der Baurechtsbehörde nicht zu prüfen sind. 2 9 Dementsprechend darf die Erteilung der Baugenehmigung nicht deshalb verweigert werden, weil es an „parallelen" Genehmigungen fehlt. 3 0 Die denkmalrechtliche Genehmigung wird allerdings durch die Baugenehmigung ersetzt. 31 In Bayern ist das Prüfprogramm der Bauaufsichtsbehörde für das vereinfachte Genehmigungsverfahren, 32 in Sachsen 33 und Thüringen 34 sowohl für das vereinfachte als auch für das sonstige Genehmigungsverfahren in derselben Weise wie in 28 Ob das Sachentscheidungsinteresse erst mit der Unanfechtbarkeit entfällt, erscheint zweifelhaft, da die fachrechtliche Versagung schon vor ihrer Unanfechtbarkeit Bindungswirkung entfaltet und es darüber hinaus lange dauern kann, bis sie bestandskräftig wird. 2
9 V G H BW, N V w Z - R R 1991, 284 (285); N V w Z - R R 1997, 156.
30 V G H BW, D Ö V 2003, 642 f. 31 Vgl. § 7 Abs. 3 DSchG BW. 32
Vgl. Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 BayBO. Für sonstige Genehmigungsverfahren vgl. bereits Bay V G H , N V w Z 1994, 304 f. 33 Vgl. §§ 63 S. 1 Nr. 3, 64 S. 1 Nr. 3 SächsBO. 34 §§ 63 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 a. E., 63 c S. 1 Nr. 3 ThürBO.
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Dirk Ehlers
der Musterbauordnung umschrieben worden. Zusätzlich soll die Bauaufsichtsbehörde in Hessen bei Sonderbauten, bei Gebäuden der Gebäudeklassen 4 und 5, die keine Wohngebäude sind sowie bei zugehörigen Nebengebäuden und Nebenanlagen die Zulässigkeit nach den anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften prüfen, soweit kein Zulassungsverfahren vorgeschrieben ist. 3 5 Dies dürfte etwa auf die Errichtung nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen im Sinne des Immissionsschutzrechtes zutreffen, die geeignet sind, schädliche Umwelteinwirkungen hervorzurufen oder in anderer Weise die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zu gefährden, erheblich zu benachteiligen oder erheblich zu belästigen. In diesen Fällen muss die Bauaufsichtsbehörde auch die Einhaltung der § § 2 2 ff. BImSchG überprüfen. Besonders unklar ist die Rechtslage in Mecklenburg-Vorpommern. Nach § 63 Abs. 1 LBauO M - V werden Bauvorlagen im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nur nach Maßgabe der Absätze 2 bis 6 geprüft. A n einer Normierung der zu prüfenden Vorschriften fehlt es jedoch. Stattdessen begnügt sich § 63 Abs. 2 LBauO M - V damit, festzulegen, was nicht geprüft wird. Doch geht das Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das Baugenehmigungsverfahren und andere Gestattungsverfahren voneinander unabhängig sind. 3 6 Im Saarland sind i m vereinfachten Baugenehmigungsverfahren neben der Zulässigkeit des Vorhabens nach den Vorschriften des Baugesetzbuches die „sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften außerhalb des Bauordnungsrechts' 4 zu prüfen. 3 7 Trotz der wenig klaren Formulierung dürften mit den „sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften" nur solche gemeint sein, die nicht in einem eigenständigen Verfahren zu beurteilen sind. 3 8 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass in Bremen im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren neben bauplanerischen und bauordnungsrechtlichen Vorschriften nur die Einhaltung des Denkmalschutzgesetzes und des Naturschutzrechts (für Vorhaben im Außenbereich) geprüft werden darf 3 9 und in Sachsen-Anhalt andere öffentlich-rechtliche Vorschriften im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren insoweit Prüfungsgegenstand sind, als deren Einhaltung nicht in einem anderen Genehmigungs-, Erlaubnis-, Bewilligungs- oder sonstigen Zulassungsverfahren geprüft w i r d . 4 0 Anderes gilt wiederum für das Denkmalschutzrecht, weil die Baugenehmigung die denkmalrechtliche Genehmigung ersetzt 4 1
35 § 58 Abs. 1 Nr. 3 b HessBauO. 36 Vgl. L K V 1998, 460 ff.; D Ö V 2001 744; L K V 2004, 563 (564). 37 Vgl. § 64 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SaarlBauO. 38 So auch Ortloff
(Anm. 1), S. 122.
39 Vgl. § 67 Abs. 2 Nr. 6 u. 7 BauO Brem. 40 Vgl. § 67 Abs. 2 Nr. 2 BauO LSA. 41 Vgl. § 14 Abs. 8 DSchG LSA.
Die Baugenehmigung
473
2. Ausrichtung des Baugenehmigungsverfahrens auf das Koordinationsmodell a) Merkmale des Koordinationsmodells Stehen bei Zugrundelegung des Separationsmodells das bauaufsichtliche Verfahren und die sonstigen vorhabenbezogenen Verwaltungsverfahren im Grundsatz unverbunden nebeneinander, sucht das Koordinationsmodell dies durch Verfahrensverknüpfungen zu vermeiden. Der Baugenehmigung soll zwar keine Konzentrationswirkung für andere Genehmigungen zukommen, sie soll aber den Schlusspunkt der rechtlichen Beurteilung des Bauvorhabens setzen, damit der Bauherr weiß, wann er mit dem Bauen beginnen darf. Dies hat zur Folge, dass die Prüfungs- und Entscheidungskompetenzen der Bauaufsichtsbehörde auseinander fallen. Ergibt sich aus dem Gesetz nichts anderes 42 , ist es der Bauaufsichtsbehörde nicht gestattet, über andere Genehmigungen (oder Mitwirkungsakte anderer Behörden) mit zu entscheiden. Wohl aber muss geprüft werden, ob es weiterer Genehmigungen (respektive Mitwirkungsakte anderer Behörden) bedarf. Ist die Frage zu bejahen und liegen die weiteren Genehmigungen (respektive Mitwirkungsakte) vor, steht der Erteilung der Baugenehmigung nichts im Wege. Fehlt die Genehmigung (oder der Mitwirkungsakt) einer anderen Behörde, muss die Bauaufsichtsbehörde mangels Sachentscheidungskompetenz abwarten, bis die zuständige Behörde tätig geworden ist. Teilweise wird darüber hinausgehend eine Vorprüfungskompetenz der Bauaufsichtsbehörde befürwortet. Komme die Bauaufsichtsbehörde zu dem Ergebnis, dass fremdes Fachrecht einer positiven Entscheidung der anderen Behörde entgegensteht, dürfe sie wegen der Illegalität des Vorhabens die Baugenehmigung versagen. 43 Indessen würde sich die Bauaufsichtsbehörde damit eine Kompetenz anmaßen, die ihr nicht zusteht. Nur wenn eine benötigte weitere Genehmigung offensichtlich nicht erlangt werden kann, ist die Bauaufsichtsbehörde befugt, die Baugenehmigung aus diesem Grunde zu verweigern. Dann fehlt es jedoch bereits am Sachentscheidungsinteresse des Bauherrn. Modifiziert und abgeschwächt wird die „Schlusspunkttheorie" und damit zugleich das Koordinationsmodell, wenn man der Bauaufsichtsbehörde gestattet, eine Baugenehmigung auch unter der aufschiebenden Bedingung zu erteilen, dass die noch fehlenden anderweitigen Genehmigungen beigebracht werden. Umstritten ist die Zulässigkeit einer solchen Verfahrensgestaltung. Das Bundesverwaltungsgericht hat schon im Jahre 1989 entschieden, dass Bundesrecht es nicht ausschließe, eine Baugenehmigung, soweit sie die Art der genehmigten Nutzung bestimmt, unter den Vorbehalt einer gesetzlich vorgeschriebenen weiteren Genehmigung zu stellen. 4 4 Auch das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat zur früheren sächsischen Bauordnung die Auffassung vertreten, dass die Baugenehmigung unter der 42
« 44
Andere Regelungen treffen in der Regel die Denkmalschutzgesetze. Vgl. Anm. 26. Vgl. Ortlqff
(Anm. 1), S. 116.
BVerwGE 82, 61 (69).
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aufschiebenden Bedingung des Beibringens einer weiteren Anlagegenehmigung erteilt werden darf. 4 5 Ortloff befürwortet für alle Länder, die der Schlusspunkttheorie folgen, die Erteilung einer aufschiebend bedingten Baugenehmigung. 46 Demgegenüber hält Jäde - allerdings bei Zugrundelegung des Separationsmodells eine bedingte Baugenehmigung für eine contradictio in adiecto. 4 7 Dem hat sich unter der Prämisse des Koordinationsmodells - im Ergebnis das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen angeschlossen 4 8 Nach der hier vertretenen Auffassung muss differenziert werden. Ein Verwaltungsakt, auf den (wie bei der Baugenehmigung) ein Anspruch besteht, darf nach § 36 Abs. 1 des jeweiligen Landesverwaltungsverfahrensgesetzes mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden. Hängt die Erteilung einer Baugenehmigung von dem Vorliegen anderer Genehmigungen ab - was nur bei Zugrundelegung des Koordinationsmodells der Fall sein kann - , würde eine unter der aufschiebenden Bedingung des Erlasses weiterer Genehmigungen erteilte Baugenehmigung dem Ziel dienen, die gesetzlichen Voraussetzungen der Baugenehmigung zu erfüllen. Die Beifügung einer aufschiebenden Bedingung ist dann grundsätzlich als zulässig zu erachten. Vergleichend lässt sich darauf hinweisen, dass sowohl die Musterbauordn u n g 4 9 als auch viele Bauordnungen der Länder ganz allgemein die Erteilung einer Baugenehmigung „unter Bedingungen" zulassen. Anders stellt sich die Rechtslage aber dar, wenn sich das Landesrecht zur Schlusspunkttheorie in ihrer strikten Ausprägung bekennt, d. h. Modifizierungen und Abschwächungen nicht zulässt. Soll die Baugenehmigung die öffentlich-rechtliche Zulässigkeit genehmigungsbedürftiger Anlagen abschließend feststellen und den Bau freigeben, würde eine aufschiebende Bedingung diesem Gesetzesprogramm zuwiderlaufen. Somit hängt die Zulässigkeit des Erlasses von Baugenehmigungen unter der aufschiebenden Bedingung, dass weitere Genehmigungen erteilt werden, von der Auslegung des jeweiligen Landesrechts ab.
b) Dem Koordinationsmodell
folgende
Bauordnungen
Dem Koordinationsmodell nach Maßgabe der Schlusspunkttheorie folgen diejenigen Bauordnungen, die festlegen, dass die Baugenehmigung zu erteilen ist, wenn das Vorhaben öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht - respektive 45 SächsOVG, L K V 1995, 405 ff. 46 Ortloff (Anm. 1), S. 117 f. Vgl. auch U. Große-Suchsdorf/D. Lindorf/H. Schmaltz/ R. Wiechert, Niedersächsische Bauordnung, 7. Aufl., Hannover 2002, § 75 Rn. 33. 47 H. Jäde, SächsVBl. 1996, 105 (106). 48 O V G NRW, D Ö V 2004, 302 (304). Ebenso D. Heinz, in: H. Gädtke/H.-G. T e m m e / D . Heinz, Landesbauordnung Nordrhein-Westfalen, 10. Aufl., Düsseldorf 2003, § 75 Rn. 83. 49 Vgl. § 72 Abs. 3 M B O .
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Die Baugenehmigung
wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen - , ohne dass die Prüfungskompetenz der Bauaufsichtsbehörde weiter eingeschränkt worden ist. Dies dürfte auf die Bauordnungen der Länder Berlin 50, Hamburg 5\ RheinlandPfalz 52 und Schleswig-Holstein 53 sowie - im Hinblick auf die nicht vereinfachten Baugenehmigungsverfahren - unter Umständen auch auf die Bauordnungen in Bremen 54 und Sachsen-Anhalt 55 zutreffen. A m deutlichsten hatte sich ursprünglich Brandenburg auf das Koordinationsmodell festgelegt, weil § 71 Abs. 5 a. F. BbgBO ausdrücklich bestimmte, dass die Baugenehmigung erst erteilt werden darf, wenn der Bauaufsichtsbehörde die für das Vorhaben erforderliche Genehmigung, Erlaubnis, Zulassung oder Bewilligung nach anderen als baurechtlichen Vorschriften vorliegt. 5 6 Für Niedersachsen bestimmt § 75 NBauO, dass die Baugenehmigung zu erteilen ist, wenn die Baumaßnahme, soweit sie genehmigungsbedürftig ist und soweit die Prüfung nicht entfällt, dem öffentlichen Baurecht entspricht. Unter öffentlichem Baurecht sind nach § 2 Abs. 10 NBauO die Vorschriften der Bauordnung, die Vorschriften aufgrund der Bauordnung, das städtebauliche Planungsrecht und „die sonstigen Vorschriften des öffentlichen Rechts", die Anforderungen an bauliche Anlagen, Bauprodukte oder Baumaßnahmen stellen oder die Bebaubarkeit von Grundstücken regeln, zu verstehen. Damit ist das gesamte einschlägige öffentliche Recht Prüfungsmaßstab. Dies spricht dafür, dass dieses Recht auch dann zu prüfen ist, wenn es weiterer Genehmigungen anderer Behörden bedarf. 57 Unklar ist die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen. Einerseits darf auch in Nordrhein-Westfalen die Baugenehmigung nur erteilt werden, wenn dem Vorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen. 58 Andererseits prüft die Bauaufsichtsbehörde im vereinfachten Verfahren nur die Vereinbarkeit des Vorhabens mit anderen (d. h. nicht dem Bauplanungsrecht oder dem Bauordnungsrecht zuzuordnenden) öffentlich-rechtlichen Vorschriften, deren Einhaltung nicht in einem anderen Genehmigungs-, Erlaubnis- oder sonstigen Zulassungsverfahren geprüft w i r d . 5 9 Zudem lässt die Baugenehmigung aufgrund anderer Vorschriften bestehende Verpflichtungen zum Einholen von Genehmigungen, Bewilligungen, Er50 Vgl. § 62 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 60 a Abs. 2 S. 2 BauO Bln. 51 Vgl. § 69 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 58 Abs. 1 S. 1 HBauO. 52 Vgl. § 70 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 66 Abs. 3 S. 1 LBauO RP. 53 Vgl. § 78 Abs. 1 S. 1 L B O SH. § 75 Abs. 2 L B O SH erhält ebenso wie § 63 Abs. 2 LBauO M - V lediglich einen Negativkatalog. 54 Vgl. § 74 Abs. 1 BauO Brem. 55 Vgl. § 77 Abs. 1 S. 1 BauO L S A ; anders Ortlojf(Anm.
1), 122.
56 In der Fassung des Gesetzes zur Änderung der BbgBO und anderer Gesetze v. 18. 12. 1997 (GVB1. I, 124). Kritisch zu dieser Vorschrift C. L. Lässig, L K V 1998, 339 ff. Brandenburg folgt nun dem Konzentrationsmodell, vgl. IV. 3. b. 57 Vgl. Große-Suchsdorf/Lindorf
/Schmaltz/ Wiechert
5« Vgl. § 75 Abs. 1 S. 1 BauO NRW. 59 Vgl. § 68 Abs. 1 S. 4 Nr. 4 BauO NRW.
(Anm. 46), § 75 Rn. 33.
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Dirk Ehlers
laubnissen und Zustimmungen oder zum Erstatten von Anzeigen unberührt. 6 0 Hieraus hat der 7. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen gefolgert, dass eine Baugenehmigung nach nordrhein-westfälischem Landesrecht nicht der Schlusspunkt eines Prüfungsverfahrens ist, welches sich auf alle öffentlich-rechtlichen Vorschriften mit der Folge erstreckt, dass die Baugenehmigung abschließend die Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit dem gesamten öffentlichen Recht feststellt. 61 Dem ist der 10. Senat desselben Gerichts aber entgegengetreten. 62 Der Begriff der öffentlich-rechtlichen Vorschriften im Sinne des § 75 Abs. 1 S. 1 BauO NRW sei entsprechend dem Gesetzeswortlaut, der keine Einschränkungen enthält, in einem umfassenden - über das Bauplanungs- und das Bauordnungsrecht hinausreichenden - Sinne zu verstehen. Hieraus zieht der 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts den Schluss, dass sämtliche öffentlich-rechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Bauvorhabens und nicht nur die bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Fragen zu prüfen sind. Anderes ergebe sich auch nicht aus § 75 Abs. 3 S. 2 BauO NRW, wonach die aufgrund anderer Vorschriften bestehenden Verpflichtungen zum Einholen von Genehmigungen unberührt bleiben. Dies bedeute nur, dass die Baugenehmigung die nach anderen Vorschriften erforderlichen Genehmigungen nicht ersetze. Die materielle Prüfungskompetenz hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für die Erteilung der jeweiligen Genehmigung und die Kompetenz zu deren Erteilung obliege nicht der Bauaufsichtsbehörde, sondern der hierfür zuständigen Stelle. Eine weitergehende Aussagekraft komme § 75 Abs. 3 S. 2 BauO NRW nicht zu. Insbesondere könne der Vorschrift nicht entnommen werden, dass die nach anderen Vorschriften erforderlichen Genehmigungen im Baugenehmigungsverfahren keinerlei Bedeutung haben. Denn die Bestimmung regele lediglich das Verhältnis der weiteren Genehmigungen zur bereits erteilten Baugenehmigung. Im laufenden Baugenehmigungsverfahren komme dagegen § 72 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BauO NRW zentrale Bedeutung zu. Diese Vorschrift schreibt vor, dass die Bauaufsichtsbehörde zu prüfen hat, ob die Erteilung der Baugenehmigung von der Erteilung einer weiteren Genehmigung einer anderen Behörde abhängig ist. Liege die Genehmigung, von der die Erteilung der Baugenehmigung abhängig ist, nicht vor, dürfe die Baugenehmigung nicht erteilt werden, weil dem Vorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegenstehen. Das Landesrecht hat sich nach Ansicht des 10. Senats des Oberverwaltungsgerichts im Hinblick auf das Baugenehmigungsverfahren damit für das Koordinationsmodell entschieden. Dies folge auch aus § 72 Abs. 3 BauO NRW, weil die Vorschrift die Bauaufsichtsbehörde verpflichtet, die Entscheidungen und Stellungnahmen anderer zu beteiligender Stellen gleichzeitig einzuholen. Die Bauaufsichtsbehörde habe die Einholung der weiteren erforderlichen Genehmigungen zu veranlassen, was im Interesse des Bauherrn zu einer Straffung des Baugenehmigungsverfahrens beitrage. Die Baugenehmigung sei dann „Schlusspunkt" der für 60 Vgl. § 75 Abs. 3 S. 2 BauO NRW. 61 N V w Z - R R 2002, 564 ff. 62 Vgl. D Ö V 2004, 302 ff.
Die Baugenehmigung
All
genehmigungsbedürftige Bauvorhaben durchzuführenden öffentlich-rechtlichen Zulässigkeitsprüfung. M i t einer Baugenehmigung sei neben der Baufreigabe und damit der Befugnis, mit dem Bauen beginnen zu dürfen, die Feststellung verbunden, dass das genehmigte Vorhaben mit dem im Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung geltenden öffentlichen Recht übereinstimmt. Da die Erforderlichkeit weiterer Genehmigungen von der Bauaufsichtsbehörde zu prüfen ist, erstrecke sich die Feststellungswirkung der Baugenehmigung auch hierauf. Fehle der Baugenehmigung eine für ihre Erteilung erforderliche weitere Genehmigung, sei diese rechtswidrig. Ein Einschreiten gegen das rechtswidrig genehmigte Vorhaben setze aber die vorherige Aufhebung der Baugenehmigung nach § 48 V w V f G voraus. A u f § 68 Abs. 1 S. 4 Nr. 4 BauO NRW (wonach im vereinfachten Genehmigungsverfahren andere öffentlich-rechtliche Vorschriften zu prüfen sind, deren Einhaltung nicht in einem anderen Genehmigungs-, Erlaubnis- oder sonstigen Zulassungsverfahren geprüft wird) ist der 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen nicht eingegangen. Bildet die Baugenehmigung den Schlusspunkt der für genehmigungsbedürftige Bauvorhaben durchzuführenden öffentlich-rechtlichen Zulässigkeitsprüfung und steht die öffentlich-rechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens umfassend fest, ist zudem nicht ersichtlich, warum der Bauherr noch verpflichtet sein soll, nach Erteilung der Baugenehmigung weitere Genehmigungen, Bewilligungen, Erlaubnisse und Zustimmungen einzuholen. Das verlangt aber ausdrücklich § 75 Abs. 3 S. 2 BauO NRW.
3. Ausrichtung des Baugenehmigungsverfahrens auf das Konzentrationsmodell a) Merkmale des Konzentrationsmodells Einem Verwaltungsakt kommt Konzentrationswirkung zu, wenn er verschiedene behördliche Entscheidungen bündelt. Zu unterscheiden ist zwischen formeller und materieller Konzentrationswirkung. 63 Im zuerst genannten Fall ersetzt der Verwaltungsakt sämtliche sonst erforderliche behördliche Entscheidungen, das materielle Recht, welches im Rahmen der ersetzten Entscheidung hätte angewendet werden müssen, ändert sich aber nicht. Im Falle einer materiellen Konzentrationswirkung kommt es nicht nur zu einer Zuständigkeitsverlagerung oder -bündelung, sondern auch zu einer Änderung des materiell-rechtlichen Maßstabes, weil die Bindung an das fremde Fachrecht abgeschwächt wird oder gar vollständig entfällt.
63 Vgl. H.-W. Laubinger, Verwaltungsarchiv 77 (1986), 77 ff.; H. J. Wolff/ Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 2, 6. Aufl., München 2000, § 62 Rn. 48 ff.
O. Bachof/R.
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b) Konzeption der Brandenburgischen
Bauordnung
Die Baugenehmigung ist vielfach „Opfer" der Konzentrationswirkung anderer Verwaltungsakte. So schließt die immissionsschutzrechtliche Genehmigung nach § 13 BImSchG andere die Anlage betreffende behördliche Entscheidungen - und damit auch die Baugenehmigung - ein. Ebenso wird durch ein Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung gem. den §§ 74 Abs. 6, 75 Abs. 1 V w V f G die Zulässigkeit eines Vorhabens im Hinblick auf alle von ihm berührten öffentlichen Belange festgestellt, ohne dass es noch anderer behördlicher Entscheidungen, wie einer Baugenehmigung, bedarf. Der Baugenehmigung selbst spricht nur das Land Brandenburg Konzentrationswirkung zu. Nach § 56 Nr. 3 BbgBO prüft die Bauaufsichtsbehörde die Zulässigkeit von Vorhaben nicht nur nach den Vorschriften des Baugesetzbuches und des Bauordnungsrechts, sondern auch nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, soweit diese für das Vorhaben beachtlich sind. Gem. § 67 Abs. 1 S. 1 BbgBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. Nach Satz 2 der genannten Bestimmung schließt die Baugenehmigung die für das Vorhaben erforderlichen weiteren behördlichen Genehmigungen ein. Da materiell-rechtliche Änderungen damit nicht verbunden sind, handelt es sich um die Anordnung einer formellen Konzentrationswirkung. Auch diese gilt nicht uneingeschränkt. Ordnet das Bundesrecht eine Konzentrationswirkung von Verwaltungsakten an (wie dies etwa für die immissionsschutzrechtliche Genehmigung zutrifft), darf das Landesrecht dies wegen der Vorrangigkeit des Bundesrechts nicht durch abweichende Konzentrationsregelungen unterlaufen. Zudem normiert § 67 Abs. 2 S. 1 BbgBO, dass die Erlaubnis nach einer aufgrund des § 11 Abs. 1 Nr. 2 des Gerätesicherheitsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung, die Entscheidung der oberen Wasserbehörde nach § 126 Abs. 2 des Brandenburgischen Wassergesetzes und die Genehmigung nach § 7 des Atomgesetzes die Baugenehmigung einschließen. Ferner gilt § 67 Abs. 1 S. 2 BbgBO nach Absatz 2 Satz 2 der Vorschrift nicht für Entscheidungen in Selbstverwaltungsangelegenheiten der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie für Entscheidungen im Planfeststellungs- oder Plangenehmigungsverfahren. Somit kommt der Baugenehmigung in Brandenburg nur eine partielle formelle Konzentrationswirkung zu.
V. Vorschläge de lege ferenda Abschließend soll in aller Kürze der Frage nachgegangen werden, welche Gesetzesänderungen anzustreben sind. Die Landesgesetzgeber wären gut beraten, wenn sie sich an zwei Leitvorstellungen orientieren würden: nämlich an der Rechtsklarheit und an der Systemgerechtigkeit. Wie der Überblick über die Regelungstechniken der Landesbauordnungen gezeigt hat, lassen diese die Rechtsanwender und Rechtsbetroffenen in einer Reihe
Die Baugenehmigung
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von Ländern i m Unklaren über die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Rechtsvorschriften. Damit können in diesen Ländern auch die Feststellungs- und Gestaltungswirkungen der Baugenehmigung nicht eindeutig bestimmt werden. Dies ist in einem Rechtsstaat nicht hinnehmbar und bedarf der Korrektur. Sodann müssen sich die Landesgesetzgeber darüber klar werden, nach welchen der vorgestellten Ordnungsmodelle das Verhältnis des Baugenehmigungsverfahrens zu den „parallelen" Verwaltungsverfahren systematisch ausgerichtet werden soll. Hat man sich für ein Ordnungsmodell entschieden, ist darauf zu achten, dass Systembrüche vermieden werden. Welches Ordnungsmodell präferiert wird, hängt davon ab, welche Relevanz man der Baugenehmigung zumessen will. In den letzten zehn Jahren hat die Baugenehmigung einen dramatischen Bedeutungsverlust erlitten. Zum einen bedürfen die Errichtung, Änderung und der Abbruch baulicher Anlagen in weitem Umfange keiner Genehmigung mehr. Allenfalls ist das Bauvorhaben anzuzeigen. Zum anderen ist in den meisten Ländern im Normalfall nur noch ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren durchzuführen. Dieses zeichnet sich durch eine erhebliche Reduktion des bauaufsichtlichen Kontrollprogramms aus, was zur Folge hat, dass die Bauherren - respektive die für sie tätig werdenden Architekten und bauvorlageberechtigten Bauingenieure - die Verantwortung für die Übereinstimmung des Bauvorhabens mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften in weitem Umfange selbst übernehmen müssen. Man kann diese Entwicklung begrüßen oder bedauern. Rückgängig machen lässt sich diese grundlegende Weichenstellung realistischerweise in absehbarer Zeit nicht. Gibt es ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren, wird man dieses nach dem Vorbild der Musterbauordnung am Separationsmodell ausrichten müssen. Von einer Reduktion des bauaufsichtlichen Prüfprogramms könnte keine Rede sein, wenn das Koordinationsmodell mit der Schlusspunkttheorie oder gar das Konzentrationsmodell zugrunde gelegt würde. Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zwar nicht oder nur ansatzweise das Bauordnungsrecht geprüft werden dürfte, wohl aber das gesamte vorhabenbezogene anderweitige öffentliche Recht zu berücksichtigen wäre. Es sollte deshalb insoweit allein dem Fachrecht die Entscheidung darüber überlassen bleiben, ob es seine Berücksichtigung in einem bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren auch bei denjenigen Vorhaben für geboten hält, die dem vereinfachten Baugenehmigungsverfahren unterworfen bleiben. 6 4 Dies erscheint nur ausnahmsweise sinnvoll, wenn die Baugenehmigung eine fachrechtliche Genehmigung ersetzt. Anders stellt sich die Interessenlage dar, wenn nicht das vereinfachte, sondern das „normale" Baugenehmigungsverfahren zum Zuge kommt oder es kein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren gibt. Das Separationsmodell entlastet zwar die Bauaufsichtsbehörde von der Prüfung fremden Rechts, ist aber bürgerunfreundlich. Wenn der Bauherr einen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung einreicht, möchte er wissen, ob das Vorhaben so gebaut werden darf wie beantragt. Diese 4
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Dirk Ehlers
Antwort muss ihm die Verwaltung bei Zugrundelegung des Separationsmodells in der Regel aber schuldig bleiben. Jedenfalls wenn das Fachrecht kein Genehmigungserfordernis mit Konzentrationswirkung kennt, sind nicht nur die Bauaufsichtsbehörden, sondern auch die Fachbehörden nur befugt, sich zu Teilaspekten zu äußern. Somit muss der Bauherr selbst herausfinden, welche Genehmigungen benötigt werden und welche rechtlichen Anforderungen zu wahren sind. Handelt es sich aber gerade nicht um vereinfachte Genehmigungsverfahren, dürfen nach heutigem Verwaltungsverständnis 65 nicht alle Risiken auf den Bürger überwälzt werden. Dieser muss sich zumindest an einen Ansprechpartner in der Verwaltung wenden können, der sich nicht mit punktuellen Auskünften und Entscheidungen zufrieden gibt. Das vermag das Separationsmodell gerade nicht zu leisten. Hinzu kommt, dass die weit reichenden Eingriffsbefugnisse der Bauaufsichtsbehörde in den meisten Ländern unberührt bleiben sollen. Dann aber liegt es nahe, im Falle nicht vereinfachter Verfahren präventive und repressive Kontrolle stärker aufeinander zu beziehen - zumal zweifelhaft ist, ob die Bauaufsichtsbehörde bei einer nur auf das Baurecht abstellenden Baugenehmigung noch die Möglichkeit hat, einen Bau wegen des Fehlens weiterer Fachgenehmigungen aus formellen Gründen stillzulegen. 6 6 Nach alledem ist für die nicht vereinfachten Baugenehmigungsverfahren entgegen der Musterbauordnung eine Übernahme des Separationsmodells abzulehnen. Damit stellt sich die Frage, ob insoweit das Koordinations- oder Konzentrationsmodell zugrunde gelegt werden sollte. Für das Konzentrationsmodell spricht, dass der Bauherr dann nur noch einen einzigen Verwaltungsakt in Gestalt der Baugenehmigung benötigt, die umfassend am Maßstab aller einschlägigen materiellrechtlichen Normen mit Bindungswirkung für alle Privaten und staatlichen Stellen feststellt, ob das Vorhaben verwirklicht werden darf, und dementsprechend die Rechtslage gestaltet. 67 Dadurch wird zugleich der Rechtsschutz für die Bauherren und Nachbarn vereinfacht. Schließen andere Genehmigungen die Baugenehmigung ein, würde diese entfallen. Strikt verwirklichen lässt sich das Konzept allerdings kaum, wie einerseits § 67 Abs. 2 S. 2 BbgBO zeigt und sich andererseits aus der Vorrangigkeit des Bundesrechts ergibt. 6 8 Auch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Bauaufsichtsbehörde zum Beispiel einer mittleren kreisangehörigen Stadt mit etwas mehr als 25.000 Einwohnern 6 9 überfordert sein könnte, wenn
65 Zum Übergang vom Prinzip des „administrative culture" zu „service culture" vgl. G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2000, 60 f. 66 Vgl. zu diesem Argument D. Mampel, BauR 2002, 719 (724 f.). 67 Für dieses Lösungsmodell K.-M. Ortlojf, N V w Z 2003, 1218 f., der den Gesetzgebern empfiehlt, das Brandenburgische Konzept der Baugenehmigung mit Konzentrationswirkung zu übernehmen („Ex oriente lux"). 68 So muss die sanierungsrechtliche Genehmigung gem. § 145 Abs. 1 S. 1 BauGB „durch die Gemeinde erteilt" werden. Hieran kann das Landesrecht nichts ändern.
69 Vgl. für Nordrhein-Westfalen § 60 Abs. 1 Nr. 3 a BauO N R W i. V. m. § 4 Abs. 1 S. 1 GO NRW.
Die Baugenehmigung
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mit der Baugenehmigung zugleich über die Erlaubnispflicht nach ganz unterschiedlichen Fachgesetzen vom Landschaftsschutzrecht über das Naturschutzrecht bis hin zum Wasserrecht entschieden werden muss. Dies gilt zumal dann, wenn in der Regel nur ein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren durchzuführen ist, ein komplexes Baugenehmigungsverfahren also eine Seltenheit darstellt und die Bauaufsichtsbehörde demgemäß kaum mit den Genehmigungsvoraussetzungen des Fachrechts näher vertraut ist. Deshalb wird hier empfohlen, für die nicht vereinfachten Baugenehmigungsverfahren das Koordinationsmodell mit der Schlusspunkttheorie zugrunde zu legen. Dadurch kann der beschränkten Fachkompetenz und Verarbeitungskapazität der Bauaufsichtsbehörde ebenso Rechnung getragen werden wie den Bedürfnissen der Bauherren. Soweit eine Baugenehmigung nicht durch eine andere Genehmigung mit Konzentrationswirkung ersetzt wird, sollte sie den Schlusspunkt sämtlicher Genehmigungsverfahren bilden, einschließlich derjenigen nach bundesrechtlichen Vorschriften. Damit müsste die Bauaufsichtsbehörde vor Erteilung der Baugenehmigung einerseits prüfen, ob dies von der Zustimmung, dem Einvernehmen, Benehmen oder der Erteilung einer weiteren Genehmigung einer anderen Behörde abhängig ist. Andererseits wäre es Aufgabe der Bauaufsichtsbehörde, auf ein zügiges Verfahren gegebenenfalls durch Veranlassung eines Sternverfahrens und Einberufung einer Antragskonferenz hinzuwirken. 7 0 Gleichzeitig könnte sich der Bauherr grundsätzlich darauf verlassen, nach Erteilung der Baugenehmigung mit dem Bauen beginnen zu dürfen. Gestattet werden sollte aber auch die Erteilung der Baugenehmigung unter der aufschiebenden Bedingung, dass noch bestimmte Genehmigungen beigebracht werden. Der Bauherr wird in diesem Falle nicht i m Ungewissen darüber gelassen, welche weiteren Genehmigungen für das Bauvorhaben erforderlich sind. Folgt man diesen Vorschlägen, muss somit differenziert werden. I m Falle der Zulassung vereinfachter Baugenehmigungsverfahren ist die Hinnahme einer Parallelität von baurechtlichen und fachrechtlichen Verwaltungsverfahren deren notwendige Konsequenz. Im Übrigen wird der Parallelität durch zeitliche Entzerrung begegnet. Dies lässt sich dadurch erreichen, dass der Bauaufsichtsbehörde aufgegeben wird, die Regelungswirkung der Baugenehmigung erst dann eintreten zu lassen, wenn zuvor alle benötigten weiteren Genehmigungen eingeholt worden sind.
70 Vgl. Z. B. § 72 Abs. 3 BauO NRW und die §§ 71 d, 71 e V w V f G . 26 FS Bartlsperger
Zur Untersagung nach § 12 ROG und Art. 24 BayLplG Von Konrad Goppel, München
I. Allgemeines Die Untersagung gemäß § 12 ROG (bzw. den entsprechenden landesrechtlichen Regelungen) ist ein förmliches Verfahren zur Sicherung geltender und zukünftiger Ziele der Raumordnung, das den sog. „harten" Instrumenten der Raumordnung und Landesplanung zugeordnet wird. Bereits der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumordnung (Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 - BauROG), der auch die unbefristete Untersagung einführte, misst ihr tragende Bedeutung für die Durchsetzbarkeit der übergeordneten Planung gegenüber örtlichen oder fachlichen Planungen und Maßnahmen zu. 1 Nach der rahmenrechtlichen Vorschrift des § 12 Abs. 1 ROG ist in den Landesplanungsgesetzen vorzusehen, dass raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen, die von den Bindungswirkungen der Ziele der Raumordnung nach § 4 Abs. 1 und 3 ROG erfasst werden, zeitlich unbefristet untersagt werden können, wenn Ziele der Raumordnung entgegenstehen (Nr. 1), und zeitlich befristet, wenn zu befürchten ist, dass die Verwirklichung in Aufstellung, Änderung, Ergänzung oder Aufhebung befindlicher Ziele der Raumordnung unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde (Nr. 2). Eine befristete Untersagung kann auch bei behördlichen Entscheidungen über die Zulässigkeit raumbedeutsamer Maßnahmen von Personen des Privatrechts erfolgen, wenn die Ziele der Raumordnung bei der Genehmigung der Maßnahme nach § 4 Abs. 4 und 5 ROG rechtserheblich sind (§ 12 Abs. 2 ROG). Die befristete Untersagung hat, wie auch aus anderen Rechtsgebieten geläufig, präventiven Charakter; sie dient zur einstweiligen Sicherung eines noch nicht zur vollen rechtlichen Wirksamkeit gelangten Ziels der Raumordnung und ist insoweit etwa vergleichbar mit der bauplanungsrechtlichen Veränderungssperre bzw. der Zurückstellung von Baugesuchen. Dagegen ist die unbefristete Untersagung als repressives Sicherungsinstrument anzusehen, 2 das die Einhaltung bereits rechtsver1 BT-Drs. 13/6392, S. 86. 2
Vgl. W. Bielenberg/ Ρ Runkel/W. Spannowsky, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht des Bundes und der Länder, Berlin, Stand: 2005, § 12, Rn. 36. 31
Konrad Goppel
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bindlicher Ziele zum Gegenstand hat und somit deren Durchsetzungskraft erhöht. Dies mag, da dem Ziel als Norm j a bereits selbst Durchsetzungsvermögen zukommt, rechtssystematisch zwar ungewöhnlich erscheinen, ist aber vom Gesetzgeber bewusst so gewollt. Nicht zuletzt in der Einführung der unbefristeten Untersagung hat sich eines der Leitprinzipien für die Novellierung des ROG 1998 niedergeschlagen, nämlich die Durchsetzungsfähigkeit der Raumordnung zu erhöhen. 3 M i t diesem Instrument kann insbesondere auch Planungsträgern entgegengetreten werden, die sich bewusst oder unbewusst der Beachtenspflicht der Ziele der Raumordnung entziehen. 4 I m Folgenden sollen ein allgemeiner Überblick über die Voraussetzungen für die verschiedenen Konstellationen landesplanerischer Untersagungen gegeben und einige klärungsbedürftige Fragestellungen aus der Praxis vertieft aufgegriffen werden.
I I . Untersagungen nach § 12 Abs. 1 R O G 1. Gegenstand und Adressat der Untersagung Nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 ROG können raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen untersagt werden, die von den Bindungswirkungen nach § 4 Abs. 1 und 3 ROG erfasst werden. Für die Begriffe der „raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen" als Untersagungsgegenstand ist zunächst auf die Legaldefinition des § 3 Nr. 6 ROG zurückzugreifen. In Betracht kommen damit insbesondere Bauleitpläne, da die Gemeinde bei deren Aufstellung der Beachtenspflicht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 ROG (neben der Anpassungspflicht nach § 1 Abs. 4 BauGB) unterliegt. Konkrete Vorhaben öffentlicher Stellen unterfallen als raumbedeutsame Maßnahmen ebenfalls der Beachtenspflicht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 ROG und können untersagt werden. Aber auch Regionalpläne können grundsätzlich möglicher Untersagungsgegenstand sein, da die Beachtenspflicht im Hinblick auf die Ziele eines landesweiten Raumordungsplans/-programms auch für sie gilt. 5 Möglich ist hier insbesondere eine befristete Untersagung in Fällen, in denen während der noch laufenden Fortschreibung des landesweiten Raumordnungsplans /-programms der Träger der Regionalplanung beabsichtigt, bei der Fortschreibung des Regionalplans Ziele aufzustellen, die zwar nicht im Widerspruch zu den Zielen des (derzeit noch) geltenden landesweiten Raumordungsplans / -programms stehen, aber denen des in Aufstellung befindlichen landesweiten Plans/Programms widersprechen. Je nach landesrechtlicher Re3
K. Goppel, Untersagung von Zulassungsentscheidungen öffentlicher Stellen, B a y V B l 2002, S. 617 ff. 4
Bielenberg
5
Vgl. auch: H. Schoen, Landesplanerische Untersagung, Münster 1999, S. 39.
/Runkel/Spannowsky
( A n m . 2 ) , § 12, R n . 3 6 .
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gelung ist in diesen Fällen eine Ausnahme des betreffenden Regionalplanziels von der Verbindlicherklärung nicht möglich, nämlich dann, wenn im Rahmen der Verbindlicherklärung nur eine Rechtmäßigkeitskontrolle (ggf. zusätzlich eine stark eingeschränkte Zweckmäßigkeitskontrolle) vorgesehen ist. Eine Ausnahme von der Verbindlicherklärung kommt dann nicht in Betracht, weil gerade kein Widerspruch zu den geltenden Zielen des landesweiten Raumordnungsplans/-programms besteht. Möglich ist in diesen Fällen (sofern die übrigen Voraussetzungen vorliegen, s. u.) aber eine befristete Untersagung der Aufstellung des Regionalplanziels. Die unmittelbar mit dem Untersagungsgegenstand zusammenhängende Frage des Adressaten bestimmt sich ebenfalls nach den Bindungswirkungen der Ziele der Raumordnung; der grundsätzlich enge Zusammenhang zwischen der Untersagung und den Bindungswirkungen nach § 4 ROG wird bereits im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BauROG betont. 6 Da nach § 12 Abs. 1 ROG nur Planungen und Maßnahmen untersagt werden können, die von den ΒindungsWirkungen nach § 4 Abs. 1 und 3 ROG erfasst werden, kann Adressat der Untersagung grundsätzlich nur sein, wer an die Ziele der Raumordnung gebunden ist. Bei der Untersagung einer Bauleitplanung wird dies also grundsätzlich die Gemeinde als Trägerin der Bauleitplanung sein, die der Beachtenspflicht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 ROG unterliegt. Die Untersagung einer Regionalplanfortschreibung wird sich regelmäßig an den Träger der Regionalplanung richten und die Untersagung eines Vorhabens einer öffentlichen Stelle an diese selbst. Im Einzelfall kann sich aber bei der Bestimmung des Untersagungsgegenstandes und -adressaten durchaus Klärungsbedarf ergeben. Nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 ROG können raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen öffentlicher Stellen jedenfalls gegenüber dem Träger der jeweiligen Planung bzw. Maßnahme untersagt werden. Nach Sinn und Zweck der Regelung des § 12 ROG muss jedoch auch die Untersagung von Zulassungs- und Planfeststellungsentscheidungen öffentlicher Stellen möglich sein. Ist etwa eine Behörde zuständig für die Genehmigung des Vorhabens einer anderen öffentlichen Stelle, so hat die öffentliche Stelle selbst bei dem Vorhaben als raumbedeutsamer Maßnahme die Ziele gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 zu beachten, aber auch die Genehmigungsbehörde ist bei der Genehmigung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ROG gebunden; die Genehmigungsbehörde ist selbst „Adressatin" der Zielbeachtenspflicht. 7 In diesen Fällen besteht also sozusagen eine „doppelte Bindungswirkung". 8 Hier kann jedenfalls entsprechend dem unzweifelhaften Wortlaut des § 12 Abs. 1 ROG die Maßnahme selbst gegenüber der öffentlichen Stelle als Vorhabensträgerin un6 BT-Drs. 13/6392, S. 86. 7 Entschließung der Ministerkonferenz für Raumordnung „Handreichung zu den Abschnitten 1 und 4 des Raurnordnungsgesetzes vom 18. August 1997" vom 4. Juni 1998, GMB1, S. 432.
8
Vgl. dazu auch: Schoen (Anm. 5), S. 14.
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tersagt werden. Möglich ist aber auch - über den engen Wortlaut hinaus - die Untersagung der Genehmigung gegenüber der Genehmigungsbehörde. 9 Dies ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Regelungen über die unbefristete und befristete Untersagung, die die Einhaltung der Ziele der Raumordnung und die einstweilige Sicherung eines in Aufstellung befindlichen Ziels zum Anliegen haben. Die Wirksamkeit des Sicherungsmittels der Untersagung erfordert insbesondere auch, dass es gegenüber allen anwendbar sein muss, die der Bindungswirkung der Ziele unterworfen sind. Auch der Wille des Gesetzgebers spricht dafür, behördliche Genehmigungsentscheidungen als möglichen Untersagungsgegenstand anzusehen. Er erschließt sich zum einen aus der Bezugnahme des § 12 Abs. 1 ROG auf die Bindungswirkungen nach § 4 Abs. 1 und 3 ROG, die ausdrücklich auch Genehmigungsentscheidungen einbeziehen. Zum andern lässt er sich aus dem Wortlaut des § 12 Abs. 2 ROG erkennen, der die Möglichkeit von Untersagungen bei behördlichen Entscheidungen erwähnt. 1 0 Im Ergebnis bestehen also zwei mögliche Untersagungsgegenstände und -adressaten: die Untersagung der Maßnahme selbst gegenüber dem Vorhabensträger und die Untersagung der Genehmigungsentscheidung gegenüber der Genehmigungsbehörde. Ebenso kann auch einer Behörde die Planfeststellung (oder Genehmigung mit der Rechtswirkung der Planfeststellung) über die Zulässigkeit einer raumbedeutsamen Maßnahme eines Privaten untersagt werden, da die Behörde dabei gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ROG an die Beachtenspflicht der Ziele der Raumordnung gebunden ist. Eine Untersagung gegenüber dem Privaten selbst kommt dabei nicht in Betracht, da dieser (von den Fällen des § 4 Abs. 3 ROG abgesehen) nicht Adressat der Zielbeachtenspflicht ist. Untersagungsgegenstand und -adressat bedürfen ebenfalls der Erörterung, wenn im oben genannten Fall einer Regionalplanfortschreibung der Träger der Regionalplanung schon alles seinerseits Erforderliche getan hat und nur noch die Verbindlicherklärung durch die Landesplanungsbehörde aussteht. Es ist dann kein Anknüpfungspunkt für eine Untersagung gegenüber dem Planungsträger selbst mehr gegeben. In diesem Fall kommt dann eine Untersagung der Verbindlicherklärung in Betracht, die gegenüber der für die Verbindlicherklärung zuständigen Landesplanungsbehörde ausgesprochen wird. 1 1 Gegenstand der Untersagung können grundsätzlich auch Planungen und Maßnahmen von Bundesbehörden bzw. die behördlichen Zulassungsentscheidungen darüber sein. Bei Planungen und Maßnahmen des Bundes müssen bei der Beurteilung, ob der jeweilige Untersagungsgegenstand von den Bindungswirkungen nach § 4 Abs. 1 und 3 ROG erfasst ist, aber insbesondere die Voraussetzungen des § 5 ROG beachtet werden, z. B. die Wirkungen eines Widerspruchs der betroffenen
9 10
So im Ergebnis auch: Bielenberg/Runkel/Spannowsky
(Anm. 2), § 12, Rn. 14.
Vgl. zur Argumentation i m Einzelnen: Goppel (Anm. 3), S. 617, 618.
11 Naturgemäß ist das Gesagte nur dann einschlägig, wenn nicht die oberste Landesplanungsbehörde für die Verbindlicherklärung zuständig ist, wie das bis 1997 in Bayern der Fall war.
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Bundesstelle. Das Bestehen bzw. Nichtbestehen der Bindungswirkungen bei den besonderen Bundesmaßnahmen nach § 5 ROG kann verbindlich nur durch ein Gericht festgestellt werden; die Klage auf Feststellung des Bestehens bzw. Nichtbestehens kann sowohl die betroffene Bundesstelle als auch die oberste Landesplanungsbehörde erheben.
2. Voraussetzungen für eine unbefristete Untersagung Eine unbefristete Untersagung kann ausgesprochen werden, wenn rechtsverbindlich aufgestellte Ziele der Raumordnung i. S. d. § 3 Nr. 2 ROG der raumbedeutsamen Planung oder Maßnahme entgegenstehen. Entgegenstehende Ziele können solche in Regionalplänen und im Landesentwicklungsprogramm sein. Ein Ziel steht einer Planung oder Maßnahme dann entgegen, wenn die Auslegung des Ziels ergibt, dass die Planung bzw. Maßnahme mit ihm unvereinbar ist. 1 2 Eine Untersagung zugunsten von unverbindlichen landesplanerischen Leitvorstellungen oder sonstigen Konzepten kommt, da sie keine Ziele im Sinne des § 3 Nr. 2 ROG darstellen, nicht in Betracht.
3. Voraussetzungen für eine befristete Untersagung Voraussetzung für eine befristete Untersagung ist die Befürchtung, dass die Verwirklichung in Aufstellung, Änderung, Ergänzung oder Aufhebung befindlicher Ziele der Raumordnung unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde. Zu der Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Ziel der Raumordnung „ i n Aufstellung befindlich" ist, werden verschiedene Auffassungen vertreten. Wenn beispielsweise gefordert wird, die Absicht der zuständigen Behörde, ein Ziel neu aufzustellen, zu ändern oder aufzuheben, müsse nach außen hin kenntlich gemacht worden sein, 1 3 so ist dies zwar auch notwendig, allein jedoch nicht ausreichend. Das künftige Ziel, das j a gerade durch die Untersagung gesichert werden soll, muss nämlich schon einen gewissen Grad der Ausarbeitung erfahren haben. Es muss jedenfalls in räumlicher und sachlicher Hinsicht so weit konkretisiert sein, dass die möglicherweise zu untersagende Planung bzw. Maßnahme an ihm gemessen werden kann. 1 4 Danach liegt ein in Aufstellung befindliches Ziel grundsätzlich spätestens dann vor, wenn der Entwurf des Ziels durch das zuständige Beschlussorgan für die Anhörung freigegeben wurde. Eine Untersagung kann aber unter Umständen auch 12 Vgl. auch: W. Cholewa/H. Dyong/H.-J. von der Heide/W. Bund und Ländern, Stuttgart, Stand: 10/2004, § 12, Rn. 8. 13
Cholewa/Dyong/von
der Heide/Arenz
Arenz, Raumordnung in
(Anm. 12), § 12, Rn. 9.
14 O V G Lüneburg, ZfBR 1996, S. 225; vgl. auch: (Anm. 2), § 12, Rn. 45 (m. w. N.).
Bielenberg/Runkel/Spannowsky
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schon zu einem früheren Zeitpunkt in Betracht kommen. Zwischen dem bloßen Beschluss, einen Raumordnungsplan fortzuschreiben, und dem Beschluss des Planentwurfs als Grundlage für das Anhörungsverfahren kann es eine Zwischenstufe geben, in der ebenfalls bereits ein in Aufstellung befindliches Ziel vorliegt. Auch in diesem Stadium muss aber das Ziel bereits im oben dargelegten Sinne hinreichend konkretisiert sein. Denkbar ist hier beispielsweise der Beschluss über einen Kriterienkatalog für Ausschlussgebiete für Windenergieanlagen, der bereits hinreichend sicher erkennen lässt, an welchen Stellen eines Planungsraums sich künftig Ausschlussgebiete befinden werden. Das zuständige Organ muss aber in diesem Fall spätestens mit den Kriterien auch die Fortschreibung des Raumordnungsplans als solche beschließen. Eine (detaillierte) Rechtmäßigkeitskontrolle des in Aufstellung befindlichen Ziels durch die Untersagungsbehörde findet nicht statt. 15 Sie scheidet schon deswegen aus, weil sich im Stadium der Aufstellung eines Raumordnungsplans regelmäßig noch keine sichere Aussage über die Rechtmäßigkeit des Inhalts treffen lässt. Ein offenkundig unrechtmäßiges Ziel vermag eine Untersagung allerdings nicht zu rechtfertigen. 16 Die Bedeutung von Untersagungen zum Schutz in Aufhebung befindlicher Ziele dürfte in der Praxis eher gering sein, so dass im Folgenden nicht weiter darauf eingegangen wird. Die Beurteilung, ob zu befürchten ist, dass die Verwirklichung in Aufstellung, Änderung, Ergänzung oder Aufhebung befindlicher Ziele der Raumordnung unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde, erfordert eine Prognoseentscheidung der Untersagungsbehörde. Erforderlich ist eine konkrete Gefahr für die Zielverwirklichung, ähnlich wie bei der Zurückstellung von Baugesuchen nach § 15 B a u G B . 1 7 Ein in Aufstellung bzw. Änderung oder Ergänzung befindliches Ziel kann in seiner (künftigen) Rechtswirksamkeit grundsätzlich nicht durch eine Planung oder Maßnahme gefährdet werden. Abzustellen ist im konkreten Einzelfall vielmehr auf die tatsächlichen Auswirkungen der raumbedeutsamen Planung oder Maßnahme auf die Verwirklichung des Ziels. Allerdings bedeutet nicht jeder Widerspruch zu einem künftigen Ziel, dass damit dessen spätere Verwirklichung unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert wird. Erforderlich sind insoweit tatsächliche Auswirkungen, die einen erheblichen negativen Einfluss auf die Verwirklichungsmöglichkeit des betreffenden Ziels haben.
15 So auch: Schoen (Anm. 5), S. 78. Kupke, Anmerkung zu O V G Magdeburg vom 13. 07. 2004, Z N E R 2004, S. 377, 378; Schoen (Anm. 5), S. 79. 17
.Bielenberg/Runkel/Spannowsky
(Anm. 2), § 12, Rn. 4 .
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4. Beginn und Ende der Untersagungsfähigkeit Bei zu untersagenden Planungen ist ein gewisser Konkretisierungsgrad der Planung bereits deswegen notwendig, um feststellen zu können, ob diese Planung einem Ziel der Raumordnung entgegensteht oder die Verwirklichung in Aufstellung befindlicher Ziele unmöglich machen oder erschweren könnte. Damit scheiden bloße Planungsideen und Vorarbeiten aus; 1 8 auch der bloße Aufstellungsbeschluss, der lediglich die Aufstellung bzw. Fortschreibung eines Regional- bzw. Bauleitplans als solche zum Gegenstand hat, wird regelmäßig nicht genügen, weil er eine solche Feststellung noch nicht zulässt. Etwas anderes kann z. B. dann gelten, wenn der Aufstellungsbeschluss über den Bauleitplan bereits konkrete Festsetzungen umfasst, mit denen die Gemeinde eindeutig die Realisierung eines im Raumordnungsplan festgelegten Infrastrukturprojekts verhindern w i l l . 1 9 Eine Planung kann dann nicht mehr untersagt werden, wenn sämtliche Verfahrensschritte, die für das Inkrafttreten des Plans erforderlich sind, durchgeführt worden sind. 2 0 Dem Adressaten kann lediglich ein weiteres Tätigwerden untersagt werden, nicht aber kann er zu einer „Rückgängigmachung" der Planung oder einem sonstigen aktiven Tätigwerden - wie beispielsweise der Anpassung bereits in Kraft getretener Pläne - verpflichtet werden. 2 1 Eine solche Verpflichtung ergibt sich nur aus dem Anpassungsgebot des § 1 Abs. 4 BauGB bzw. entsprechenden landesrechtlichen Regelungen. Im Falle der Bauleitplanung ist daher beispielsweise nach Bekanntmachung der Genehmigung des Flächennutzungsplans/Bebauungsplans bzw. nach Bekanntmachung des Bebauungsplans kein Raum mehr für eine Untersagung. Auch bei zu untersagenden Maßnahmen ist eine gewisse Konkretisierung des Vorhabens erforderlich, um beurteilen zu können, ob diesem Vorhaben ein Ziel der Raumordnung entgegensteht oder ob es die Verwirklichung eines in Aufstellung, Änderung, Ergänzung oder Aufhebung befindlichen Ziels unmöglich machen oder wesentlich erschweren kann. Hinsichtlich des Endes der Untersagungsfähigkeit ist zu differenzieren: wenn die Maßnahme einer öffentlichen Stelle gegenüber dieser selbst untersagt wird, so kann die Untersagung auch noch ausgesprochen werden, wenn die Maßnahme genehmigt und mit ihrer Ausführung begonnen wurde. Der Vorhabensträger ist als öffentliche Stelle nämlich auch weiterhin gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 ROG an die Ziele der Raumordnung gebunden. 22 Soweit ersichtlich, finden sich in der Literatur keine Überlegungen zum Ende der Untersagungsfähigkeit, wenn nicht die Maßnahme selbst, sondern die Planfeststellungs- bzw. Genehmi18
So auch: Schoen (Anm. 5), S. 29; Bielenberg/Runkel /Spannowsky Rn. 18.
(Anm. 2), § 12,
So wohl in dem Fall, der der Entscheidung des O V G Lüneburg, Z1BR 1996, S. 225 zugrunde liegt. 20 Vgl. Cholewa/Dyong/von
der Heide/Arenz
(Anm. 12), § 12, Rn. 15.
21 Vgl. auch: Schoen (Anm. 5), S. 30. 22 So auch: Bielenberg/Runkel/Spannowsky
(Anm. 2), § 12, Rn. 29.
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gungsentscheidung einer Behörde über die Maßnahme (vgl. o. I I . l . ) untersagt wird. Für diese Konstellation erscheint es sinnvoll, das Ende der Untersagungsfähigkeit an dem Zeitpunkt festzumachen, in dem der Planfeststellungs-/Genehmigungsbescheid den „Machtbereich" der Planfeststellungs-/Genehmigungsbehörde verlässt.
III. Besonderheiten bei Untersagungen nach § 12 Abs. 2 ROG 1. Gegenstand und Adressat Nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 2 ROG kann eine befristete Untersagung „bei behördlichen Entscheidungen" über die Zulässigkeit raumbedeutsamer Maßnahmen von Personen des Privatrechts ausgesprochen werden. Diese Formulierung stellt nicht hinreichend klar, ob Untersagungsgegenstand hier die Maßnahme selbst oder die behördliche Entscheidung darüber ist. Auch i m Fall des § 12 Abs. 2 ROG müssen aber Gegenstand und Adressat der Untersagung anhand der Bindungswirkungen der Ziele der Raumordnung bestimmt werden (vgl. die Ausführungen unter 2.1.). § 12 Abs. 2 ROG nimmt Bezug auf die Bindungswirkungen der Ziele der Raumordnung nach § 4 Abs. 4 Satz 1 ROG (bzw. auch § 4 Abs. 5 ROG). Danach sind bei Genehmigungen über die Zulässigkeit raumbedeutsamer Maßnahmen von Personen des Privatrechts die Erfordernisse der Raumordnung nach Maßgabe der für diese Entscheidungen geltenden Vorschriften zu berücksichtigen. Die Bindungswirkung betrifft also nicht unmittelbar den Privaten und seine Maßnahme, sondern die behördliche Entscheidung darüber. Dementsprechend muss sich auch die Untersagung an die Genehmigungsbehörde richten. 2 3 Die Genehmigungsbehörde ihrerseits wird dann gegenüber dem Antragsteller nach außen tätig. Richtigerweise wird sie dabei die Entscheidung über die Genehmigung für die Dauer der Untersagung aussetzen, denn die befristete Untersagung dient nur der vorübergehenden Sicherung in Aufstellung befindlicher Ziele. Dazu stünde aber eine endgültige Ablehnung der beantragten Genehmigung in Widerspruch. 2 4 Gegen dieses zweistufige Vorgehen (Landesplanungsbehörde - Genehmigungsbehörde - Privater) könnte eingewendet werden, dass eine Rechtsgrundlage für die Aussetzung der Genehmigungsentscheidung gegenüber dem Privaten fehle, wohingegen eine solche z. B. für die Zurückstellung von Baugesuchen ausdrücklich in § 15 BauGB verankert sei. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass - wenn man in der Aussetzung überhaupt einen belastenden Verwaltungsakt gegenüber dem Privaten sieht und diese nicht nur als Hinweis ohne Regelungswirkung betrachtet und dem 23 So auch: Bielenberg/Runkel/Spannowsky S. 63; im Ergebnis auch: Cholewa/Dyong/von 24
(Anm. 2), § 12, Rn. 46; Schoen (Anm. 5), der Heide/Arenz (Anm. 12), § 12, Rn. 15.
So auch Schoen (Anm. 5), S. 64, 79; anders offenbar Teile der Praxis.
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bloßen Untätigbleiben gleichsetzt - § 12 Abs. 2 ROG bei der gebotenen weiten Auslegung nicht nur die Rechtsgrundlage für die Untersagung gegenüber der Genehmigungsbehörde, sondern auch die Rechtsgrundlage für die Aussetzung gegenüber dem Privaten darstellt.
2. „Rechtserheblichkeit" der Ziele bei der Genehmigung der Maßnahme I m Unterschied zu § 12 Abs. 1 ROG, der an die strikte Beachtenspflicht der Ziele der Raumordnung nach § 4 Abs. 1 und 3 ROG anknüpft, betrifft die Untersagung nach § 12 Abs. 2 ROG Fälle, in denen die Ziele der Raumordnung zumindest nach § 4 Abs. 4 ROG zu berücksichtigen sind oder in denen gemäß § 4 Abs. 5 ROG i.V.m. einer fachgesetzlichen Raumordnungsklausel darüber hinausgehende Bindungswirkungen bestehen. Wenn der Wortlaut des § 12 Abs. 2 ROG voraussetzt, dass die Ziele der Raumordnung bei der Genehmigung der Maßnahme nach § 4 Abs. 4 und 5 ROG rechtserheblich sind, so ist dies ungenau, da sich die Ziele der Raumordnung in dieser Fallkonstellation j a erst noch in Aufstellung befinden. Folglich muss anstatt dessen danach gefragt werden, ob die Ziele (bei unterstelltem Abschluss des Aufstellungsverfahrens) für die Genehmigung rechtserheblich wären. 25 Der häufigste Anwendungsfall für eine Untersagung nach § 12 Abs. 2 ROG dürfte aufgrund der Raumordnungsklauseln in § 35 Abs. 3 BauGB die Untersagung der Erteilung einer Baugenehmigung für ein raumbedeutsames Vorhaben eines Privaten i m Außenbereich sein.
3. Verhältnis von Untersagung und (sonstiger) Versagung der Genehmigung Wie dargelegt kann bei der Genehmigung von Maßnahmen Privater zum Schutz in Aufstellung befindlicher Ziele der Raumordnung eine Untersagung ausgesprochen werden. Darüber hinaus kann aber in Aufstellung befindlichen Zielen noch weitere Bedeutung bei der Genehmigung von Maßnahmen Privater zukommen, insbesondere bei der Erteilung einer Baugenehmigung für ein Vorhaben im Außenbereich des § 35 BauGB. Wie von der Rechtsprechung mittlerweile in mehreren Urteilen bestätigt, 26 kann ein in Aufstellung befindliches Ziel der Raumordnung die Qualität eines öffentlichen Belangs im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB besitzen. Als ein solcher entgegenstehender öffentlicher Belang kann damit das in Aufstellung befindliche Ziel Grundlage für die (im Gegensatz zu einer Untersagung endgültige) Versagung einer Baugenehmigung sein. Der raumordnungsrecht25 Schoen (Anm. 5), S. 65. 26 BVerwG, B a y V B l 2003, 757; BVerwG, D V B l 2005, 706; B a y V G H vom 30. 06. 2005, Az. 26 Β 01.2833, www.landesanwaltschaft.bayern.de .
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liehen Untersagung kommt kein Vorrang gegenüber der auf ein in Aufstellung befindliches Ziel der Raumordnung gestützten Genehmigungsversagung zu; sie steht vielmehr als selbständiges Sicherungsmittel mit einer anderen Zielrichtung daneben. Die befristete Untersagung nach § 12 Abs. 2 ROG ist ein Sicherungsmittel für die Verwirklichung künftiger Ziele der Raumordnung (vgl. oben I.), während § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB dem Schutz öffentlicher Belange dient und dem Grundanliegen, den Außenbereich weitestgehend von Bebauung freizuhalten. 27
IV. Rechtsschutz Der Rechtsschutz gegen eine Untersagung ist von ihrer Rechtsnatur abhängig, also insbesondere von der Frage, ob sie Verwaltungsaktcharakter hat. § 12 Abs. 3 ROG bestimmt zwar, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine Untersagung keine aufschiebende Wirkung haben. Daraus lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass Untersagungen stets als Verwaltungsakte anzusehen sind, sondern nur, dass sie solche sein können und dass, wenn sie es sind, Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben. Ob eine Untersagung einen Verwaltungsakt darstellt, muss vielmehr anhand der § 35 V w V f G entsprechenden Vorschriften des Landesrechts bestimmt werden. 2 8 Von besonderer Bedeutung wird dabei regelmäßig die Frage der Außenwirkung der Untersagung sein. Befristete oder unbefristete Untersagungen gegenüber einer Gemeinde als Trägerin der Bauleitplanung haben grundsätzlich Verwaltungsaktcharakter und können dementsprechend mit Widerspruch und Anfechtungsklage angegriffen werden (sofern die oberste Landesplanungsbehörde für die Untersagung zuständig ist, ist aber gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 V w G O regelmäßig kein Widerspruch notwendig). In dem oben dargelegten Fall der befristeten Untersagung der Verbindlicherklärung einer Regionalplanfortschreibung gegenüber der für die Verbindlicherklärung zuständigen Landesplanungsbehörde handelt es sich um eine Untersagung im „behördeninternen" Bereich, also ein reines Verwaltungsinternum. Gegen derartige interne Akte bestehen nur beamtenrechtliche Rechtsschutzmöglichkeiten. Der von der Aussetzung der Verbindlicherklärung mittelbar betroffene Träger der Regionalplanung hat die Möglichkeit, Verpflichtungsklage auf Verbindlicherklärung zu erheben; in diesem Verfahren wird inzident auch die Rechtmäßigkeit der Untersagung überprüft. Wenn einer Behörde nach § 12 Abs. 1 ROG untersagt wird, die Maßnahme einer anderen öffentlichen Stelle zu genehmigen oder planfestzustellen, sind zwei Beziehungen zu unterscheiden: zunächst untersagt die Landesplanungsbehörde der Ge27 BVerwG, DVB1 2005, S. 706 ff. 28 O V G Magdeburg, ZNER 2004, S. 376 f.; Schoen (Anm. 5), S. 49, 50.
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nehmigungs-/Planfeststellungsbehörde, die beantragte Genehmigung zu erteilen bzw. den Plan festzustellen. Die Genehmigungs-/ Planfeststellungsbehörde wird dann nach außen tätig und lehnt den Genehmigungs-/Planfeststellungsantrag im Falle einer unbefristeten Untersagung ab bzw. setzt die Entscheidung aus i m Falle einer befristeten Untersagung. Ergeht die Untersagung durch eine Landesplanungsbehörde gegenüber einer anderen Landesbehörde, so ist auch dies ein reines Behördeninternum. Anders muss der Fall aber wohl beurteilt werden, wenn die Untersagung gegenüber einer Bundesbehörde ausgesprochen wird, denn dabei wird in die Planungsbefugnis einer anderen juristischen Person eingegriffen. 29 Hier wird man die Untersagung als Verwaltungsakt werten müssen, gegen den dann von der Bundesbehörde entsprechend vorgegangen werden kann. Der von der Ablehnungsoder Aussetzungsentscheidung der Genehmigungs-/ Planfeststellungsbehörde betroffene Träger der Maßnahme kann unbeschadet dessen Verpflichtungsklage auf Erteilung der Genehmigung/Planfeststellung erheben. Auch hier wird dann in dem Verfahren inzident die Rechtmäßigkeit der Untersagung überprüft. Wenn i m Fall des § 12 Abs. 2 ROG der Genehmigungsbehörde die Erteilung der Genehmigung befristet untersagt wird, gelten die vorhergehenden Ausführungen entsprechend. 30 Die Genehmigungsbehörde setzt gegenüber dem privaten Antragsteller die Entscheidung über den Antrag für die Dauer der Untersagung aus. Allein dieser Aussetzung kommt unmittelbare Außenwirkung gegenüber dem privaten Vorhabensträger zu. 3 1 Als Rechtsbehelf steht dem privaten Antragsteller jedenfalls auch die Verpflichtungsklage auf Erteilung der Genehmigung zur Verfügung. Dabei wird inzident auch die Untersagung gegenüber der Genehmigungsbehörde überprüft. 32 Denkbar erschiene aber grundsätzlich auch - wenn man die Aussetzung als Verwaltungsakt ansieht (vgl. dazu I I I . l . ) - eine Anfechtungsklage gegen die Aussetzung; im Fall der Zurückstellung eines Baugesuchs nach § 15 BauGB ist umstritten, ob eine Anfechtungsklage genügt oder Verpflichtungsklage erhoben werden muss. 33 Ohne dass hier auf diesen Streit und seine Übertragbarkeit auf die Untersagung näher eingegangen werden soll, sei nur angemerkt, dass sich die Situation der Untersagung von der Zurückstellung dadurch unterscheidet, dass die Genehmigungsbehörde durch die Untersagung gebunden ist und diese befolgen muss; ihr ist also das Tätigwerden nach außen ohne eigenen Entscheidungsspielraum zwingend vorgegeben. Bei der Zurückstellung von Baugesuchen dagegen prüft die Genehmigungsbehörde selbst die Voraussetzungen für ihr Tätigwerden und trifft eine eigene selbständige Entscheidung.
29 Schoen (Anm. 5), S. 52, 53. 3(
> Vgl. zu dieser Konstellation: O V G Magdeburg (Anm. 28). A.A. wohl Kupke, (Anm. 16), S. 378.
32 33
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(Anm. 2), § 12, Rn. 111.
Vgl. W. Ernst/W. Zinkahn/W. Bielenberg/M. Stand: 9 / 2 0 0 5 , § 15, Rn. 72 (m. w. N.).
Krautzberger,
Baugesetzbuch, München,
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V. Art. 24 BayLplG Art. 24 BayLplG setzt § 12 ROG in Landesrecht um und trifft darüber hinausgehende verfahrensrechtliche Regelungen für Untersagungen. So bestimmt Art. 24 Abs. 2 Satz 1 BayLplG die oberste Landesplanungsbehörde (also das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie) als für Untersagungen zuständige Behörde. Die Zuständigkeit der obersten Landesplanungsbehörde erscheint bereits deswegen geboten, weil die Untersagung einen weitgehenden Eingriff in die Planungsbefugnisse der betroffenen Planungsträger darstellt und eine einheitliche Praxis im ganzen Staatsgebiet Anwendung finden muss. Die oberste Landesplanungsbehörde handelt nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 BayLplG i m Einvernehmen mit den beteiligten Staatsministerien. Es müssen dabei grundsätzlich die vom jeweiligen Ziel (im Landesentwicklungsprogramm oder im Regionalplan) betroffenen Fachressorts als „beteiligt" angesehen werden (d. h. wenn das Ziel, das gesichert werden soll, ihre fachlichen Belange zum Gegenstand hat). Es sind aber auch die Ressorts zu beteiligen, in deren Geschäftsbereich die zu untersagende Planung bzw. Maßnahme fällt (zum Beispiel die Oberste Baubehörde bei der Untersagung einer Bauleitplanung). Da Art. 24 Abs. 7 BayLplG eine Regelung über mögliche finanzielle Ersatzleistungen enthält, kommt auch eine Beteiligung des Finanzministeriums in Betracht. Für den Fall einer Untersagung nach Art. 24 Abs. 1 Satz 2 BayLplG bzw. § 12 Abs. 2 ROG hat allerdings die Rechtsprechung festgestellt, dass dieser Untersagung mit einer Höchstdauer von zwei Jahren eine bloße Sicherungsfunktion zukomme und sie keine Entschädigungspflicht auslöse. Sie stelle zwar eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dar, dem Betroffenen werde aber kein unverhältnismäßiges Opfer auferlegt, wenn ihm ein finanzieller Ausgleich versagt werde. 3 4 Art. 24 Abs. 3 BayLplG sieht vor, dass die Untersagung von Amts wegen oder auf Antrag eines Planungsträgers, dessen Aufgaben durch die zu untersagende Planung oder Maßnahme berührt werden, erfolgt. Aus der Möglichkeit, einen Antrag auf Untersagung zu stellen, ergibt sich jedoch kein Anspruch auf den Ausspruch einer Untersagung. 35 Wie sich schon aus der Formulierung „können" bzw. „kann" in Art. 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 BayLplG ergibt, steht es im Ermessen der Landesplanungsbehörde, ein Untersagungsverfahren durchzuführen. Gegen einen solchen Anspruch spricht auch, dass das Instrument der Untersagung, wie auch die anderen landesplanungsrechtlichen Instrumente, dem staatlichen Interesse dient; vgl. Art. 1 Abs. 3 BayLplG, wonach Landesplanung Aufgabe des Staates ist. Gemäß Art. 24 Abs. 4 BayLplG ist der Träger der zu untersagenden Planung oder Maßnahme vor Ausspruch der Untersagung zu hören. Wenn also Planungen gegenüber einer Gemeinde oder einem Träger der Regionalplanung oder Maßnah34 BVerwG, DVB1 2005, S. 706 ff. 35
Bielenberg/Runkel/Spannowsky
(Anm. 2), § 12, Rn. 94.
Zur Untersagung nach § 12 ROG und Art. 24 BayLplG
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men gegenüber einem öffentlichen Vorhabensträger untersagt werden, so sind diese selbst anzuhören. In den Fällen, in denen beispielsweise einer Landesplanungsbehörde die Verbindlicherklärung einer Regionalplanfortschreibung oder einer Genehmigungs- / Planfeststellungsbehörde die Erteilung der Genehmigung bzw. Planfeststellung untersagt werden, sollten nicht nur die Planungs- bzw. Vorhabensträger angehört werden, sondern auch die Behörden als Adressatinnen der Untersagung. Auch im Fall einer befristeten Untersagung nach Art. 24 Abs. 1 Satz 2 BayLplG bzw. § 12 Abs. 2 ROG ist also sowohl die Genehmigungsbehörde als Adressatin der Untersagung als auch der private Vorhabensträger anzuhören. 36
36 So auch ausdrücklich vorgesehen z. B. im Gemeinsamen Rundschreiben des Ministeriums für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr und des Ministeriums für Landwirtschaft, Umweltschutz und Raumordnung Brandenburg vom Ol. 07. 2003.
Aktuelle Probleme des Luftreinhalterechts in der E U und in Deutschland Von Hans-Joachim
Koch , Hamburg
I. Themenstellung Die E U hat ein komplexes Luftreinhalterecht geschaffen, in dem verbindliche Luftqualitätsziele der Tochterrichtlinien zur Luftqualitätsrahmenrichtlinie mit vielfältigen quellenbezogenen Verpflichtungen zu Emissionsreduktionen verbunden sind. Zu den erfassten Emittentengruppen gehören nicht nur stationäre Quellen wie Industrieanlagen, die u. a. mit der IVU-Richtlinie, der GroßfeuerungsanlagenRichtlinie sowie der Abfallverbrennungs-Richtlinie reguliert werden, sondern auch mobile Quellen wie insbesondere Kraftfahrzeuge sowie Maschinen und Geräte mit Verbrennungsmotoren. 1 Die EU-Kommission strebt nun erneut eine wesentliche Fortentwicklung des EU-Luftreinhalterechts an. Im Anschluss an die thematische Strategie „Saubere Luft für Europa" (CAFE) von 2001 2 und entsprechend dem Auftrag im sechsten Umweltaktionsprogramm hat die Kommission nunmehr den Entwurf einer „Thematischen Strategie zur Luftreinhaltung" mit dem Ziel einer Luftqualität vorgelegt, „die keine erheblichen negativen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt hat und keine entsprechenden Gefahren verursacht". 3 Ein wesentliches Instrument dieser Strategie soll eine Bündelung, Vereinfachung und partielle Modifikation der geltenden Luftqualitätsvorschriften in einer Richtlinie „über die Luftqualität und saubere Luft in Europa" sein, deren Entwurf zugleich mit der neuen thematischen Strategie vorgelegt worden ist. 4 Nachfolgend geht es nun nicht darum, die Einzelheiten der beabsichtigten neuen Strategie und der geplanten Luftqualitätsrichtlinie zu analysieren, sondern den Blick auf das Grundsätzliche zu richten: Welche Elemente und Strukturen des EU-Luftreinhalterechts sind für die viel diskutierten konzeptionellen Umsetzungsschwierigkeiten, aber auch für die vollzugspraktischen Probleme in Deutschland verantwortlich. 5 Welche Vorschläge 1 Vgl. den detaillierten Überblick bei H.-J. Koch, Grundlagen, Schutz der Wälder, in: H. W. Rengeling (Hrsg.), EuDUR, Bd. II, 1., 2. Aufl., Köln 2003, § 47, Rn. 59 ff.
2 Clean A i r For Europe, K O M (2001) 245 endg. 3 K O M (2005) 446 endg., S. 4. 4 K O M (2005) 447 endg. 32 FS Bartlsperger
Hans-Joachim Koch
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sollte Deutschland in den europäischen Rechtssetzungsprozess einbringen und welche Konsequenzen sind für den zukünftigen Umsetzungsprozess aus den bisherigen Erfahrungen zu ziehen?
II. Das Luftqualitätsrecht der EU - ein Paradigmenwechsel? 1. Die Entwicklung des Luftreinhalterechts in der Gemeinschaft Die EG hat seinerzeit - Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre - ihre Luftreinhaltepolitik mit der Normierung von Luftqualitätsnormen u. a. für S 0 2 , N 0 2 und Schwebstaub begonnen, 6 diese Zielvorgaben aber alsbald - nämlich schon auf der Grundlage des dritten Umweltaktionsprogramms von 1983 7 - sukzessive um wesentliche quellenbezogene, emissionsbegrenzende Regelungen ergänzt. Dazu gehörten insbesondere die Industrieanlagenrichtlinie von 1984, die Großfeuerungsanlagenrichtlinie von 1988 sowie die Verbrennungsanlagenrichtlinie von 1989. So konnte man mit Blick auf das deutsche BImSchG und die maßgeblichen flankierenden Verordnungen sowie die TA Luft Anfang der 90er Jahre eine durch wechselseitige Beeinflussung große Strukturähnlichkeit zwischen dem Luftreinhalterecht der EG und dem Deutschlands konstatieren. 8 Allerdings enthielt das EG-Luftreinhalterecht durchaus eine seinerzeit nicht voll erkannte Herausforderung in Form der anlagen- und überhaupt quellenunabhängigen Luftqualitätsziele, die Deutschland mit den Immissionsgrenzwerten der TA Luft angemessen umgesetzt wähnte. Bekanntlich erkannte jedoch der EuGH in zwei spektakulären Entscheidungen von 1991, dass die TA Luft als bloße Verwaltungsvorschrift keine angemessene Umsetzungsform für die EG-Luftqualitätsrichtlinien darstelle. 9 Als Konsequenz erließ die Bundesregierung 1993 auf der Grundlage des neu geschaffenen § 48a BImSchG die 22. BImSchV, in der quellenunabhängig und (außen-)rechtsverbindlich die Luftqualitätsziele festgeschrieben wurden. Dieses Regelwerk stand - wie Jarass treffend festgestellt hat - völlig unverbunden neben den Vorschriften des BImSchG und namentlich den Immissionsgrenzwerten der TA L u f t . 1 0
5
S. die grundlegenden Beiträge von K. Hansmann, NuR 1999, S. 10; H. D. Jarass, N V w Z 2003, S. 257; E. Rehbinder, NuR 2005, S. 493. 6 S. zu den Entwicklungsphasen der Luftreinhaltepolitik H.-J. Koch (Anm. 1), Rn. 80 ff.; ders., D V B l . 1992, S. 124; D. Seltner, Anlagenbezogene Regelungen im Luftreinhalterecht, in: H.-W. Rengeling (Anm. 1), § 49, Rn. 1 ff.
7 A B l . 1983, Nr. C 46, S. 3. 8 S. nur Koch (Anm. 6), S. 124; zustimmend Seilner (Anm. 6), Rn. 151 ff. 9 EuGH, Slg. 1991, 1-2567, Rn. 20; EuGH, Slg. 1991,1 2607, Rn. 33; s. dazu H.-J. Koch, W U R 1991, S. 350. Ό Jarass (Anm. 5), S. 257.
Aktuelle Probleme des Luftreinhalterechts
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Die Herausforderung quellenunabhängiger Luftqualitätsziele wurde erst vollen Umfanges erkannt, als sich Deutschland anschickte, das neue, detaillierte Luftqualitätsrecht der E U umzusetzen: M i t der Luftqualitätsrahmenrichtlinie von 1996 und den zugehörigen inzwischen vier Tochterrichtlinien mit zahlreichen Luftqualitätsgrenzwerten 11 hat die E U ihr komplexes Luftreinhalterecht neu fokussiert. Die Mitgliedstaaten müssen anspruchsvolle Ziele in verbindlichen Zeiträumen und mit einem neu gestalteten Instrumentarium der Luftreinhalte- und Luftaktionsplanung erreichen. Dass dies in Deutschland jedenfalls im Ergebnis misslungen ist, war Gegenstand der „Feinstaub-Woche" in der Osterzeit 2005. In einer Reihe deutscher Großstädte musste man feststellen, dass der Tagesmittelwert von 50μg/m 3 Feinstaub (PM 10) bereits bis April mehr als 35 mal überschritten war, so dass die Vorgaben der in § 4 der 22. BImSchV umgesetzten ersten Tochterrichtlinie nicht eingehalten werden konnten. Die EU-Regelung war nicht - wie in den Medien gemeldet - neu, sondern ist am 22. April 1999 in Kraft getreten und beanspruchte Geltung ab 1. Januar 2005. Deutschland war es also nicht gelungen, diesen erheblichen Zeitraum für erfolgreiche Maßnahmen zu nutzen. Wo liegen die Ursachen? Hat Deutschland das EU-Luftqualitätsrecht unzureichend umgesetzt oder das mit dem 7. Änderungsgesetz zum B I m S c h G 1 2 und mit der neuen 22. BImSchV geschaffene Regelungsregime unzureichend vollzogen? Oder ist das EU-Regelungskonzept selbst defizitär und setzt den Mitgliedstaaten Ziele, die nicht realistisch sind? Diese Fragen führen jedenfalls zunächst zu einer Analyse des EU-Luftreinhalterechts: Was sind seine wesentlichen Charakteristika, was also die Herausforderungen für die Mitgliedstaaten und damit auch für Deutschland?
11 Richtlinie 9 6 / 6 2 / E G des Rates v. 27. September 1996 über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität A B l . 1996, Nr. L 296, S. 55 (Luftqualitätsrahmenrichtlinie), geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29. September 2003, A B l . 2003, Nr. L 284, S. 1; Richtlinie 1 9 9 9 / 3 0 / E G des Rates vom 22. April 1999 über Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und Blei in der Luft, A B l . 1999, Nr. L 163, S. 41, geändert durch Entscheidung 2001 / 7 4 4 / E G der Kommission v. 17. Oktober 2001, A B l . 2001, Nr. L 278, S. 35; Richtlinie 2 0 0 0 / 6 9 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16. November 2000 über Grenzwerte für Benzol und Kohlenmonoxid in der Luft, A B l . 2000, Nr. L 313, S. 12, Berichtigung, A B l . 2001 Nr. L 111, S. 31; Richtlinie 2 0 0 2 / 3 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12. Februar 2002 über den Ozongehalt der Luft, A B l . 2002, Nr. L 067, S. 14; Richtlinie 2 0 0 4 / 1 0 7 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 über Arsen, Kadmium, Quecksilber, Nickel und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe in der Luft, A B l . 2005, Nr. L 023, S. 3. 12 S. für viele Einzelheiten Jarass (Anm. 5), Rehbinder (Anm. 5), sowie J. Assmann/K. Knierim/J. Friedrich, NuR 2004, S. 695.
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2. Ein Paradigmenwechsel im EU-Luftreinhalterecht? Sachkundige Betrachter behaupten unter dem Schlagwort vom „Luftqualitätsrecht' 4 der E U einen massiven Wandel des EU-Luftreinhalterechts hin zu einer nicht quellen-, sondern umweltqualitätszielbezogenen Regulierung. Rehbinder spricht von einem „Paradigmenwechsel" hin zu einer „gebietsbezogene(n) Strategie der Immissionsbegrenzung mit bindenden Immissionswerten..., die durch Luftreinhalteplanung umzusetzen sind". 1 3 Damit sieht Rehbinder zwei Elemente des neuen Regelungsregimes als Kennzeichen des Paradigmenwechsels, nämlich - zum einen die „nicht vorhaben-, sondern gebietsbezogenen" Immissionswerte und - zum anderen die Einführung von Luftreinhalteplänen als „das primäre Instrumentarium zur langfristigen dauerhaften Einhaltung künftig geltender Immissionswerte". 14 Diese Betonung der Luftreinhalteplanung als paradigmatisches Element des neuen EU-Luftqualitätsrechts wird der Entwicklung des EU-Luftreinhalterechts nicht gerecht. Das zeigt sich schon an Rehbinders Kritik des neuen Ansatzes, der wegen des Schadstoffferntransports alsbald an seine räumlichen Wirkungsgrenzen stoße, die „letztlich nur durch Rückkehr zur Strategie der Emissionsbegrenzung" überwunden werden könnten. 1 5 Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass - wie eingangs skizziert - die E U ein umfängliches quellenbezogenes Luftreinhalterecht entwickelt hat, das gewiss mit dem fortentwickelten umweltqualitätszielorientierten Ansatz konsequent verknüpft, keinesfalls aber neu erfunden werden muss. Die E U hat ihr Luftreinhalterecht um ein wichtiges planerisches Instrumentarium ergänzt, ohne die entwickelten emissionsquellenbezogenen Regelungselemente aufzugeben oder auch nur zu relativieren. Das neue planerische Instrumentarium darf daher auch nicht mit unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden, wie dies in der - noch zu erörternden - jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in fragwürdiger Weise geschieht. Im Ergebnis werden damit andere Entscheidungsverfahren und Entscheidungsträger von ihrer Mitverantwortung entlastet, ohne dass die Luftreinhaltepolitik die entsprechenden Defizite mit hinreichender Sicherheit auffangen kann. Jarass sieht den Qualitätssprung i m EU-Luftreinhalterecht in der Fortentwicklung des „qualitätsbezogenen Ansatzes", der darauf gerichtet sei, „unmittelbar eine bestimmte Qualität der Luft sicherzustellen, unabhängig davon, welche Quellen dieses Ziel gefährden oder beeinträchtigen". Er setzt diesen Ansatz eines „Management by Objectives" in Gegensatz zum traditionellen „quellenorientierten Ansatz" des deutschen Luftreinhalterechts. Als Vorzüge eines qualitätsbezogenen Ansatzes hebt Jarass hervor, dass auf diese Weise (1) übergreifende Probleme besser bewäl13 Rehbinder (Anm. 5), S. 493. 14 Rehbinder (Anm. 5), S. 494. is Rehbinder (Anm. 5), S. 493.
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tigt, (2) Regelungslücken deutlich erkennbar sowie (3) die Verursacher gleichmäßig belastet werden könnten. Zu den Schwächen des qualitätsorientierten Ansatzes gehöre, dass er durch quellenbezogene Vorgaben ergänzt werden müsse. 16 Die ein wenig abstrakte Beschreibung der Vorzüge einer qualitätszielorientierten Luftreinhaltepolitik umfasst wohl auch zwei Aspekte, die besonders hervorzuheben sind. (1) Zum einen: Ziel jeder Luftreinhaltepolitik ist es, eine Vielzahl von Schutzgütern vor Beeinträchtigungen durch Luftverunreinigungen zu bewahren. Insofern ist der Schutzgut- bzw. Akzeptorbezug der zentrale Orientierungspunkt jeglicher Luftreinhaltepolitik. Aus der akzeptorbezogenen Betrachtungsweise wiederum ist es aber geradezu erforderlich, Luftqualitätsziele zu normieren, die einen hinreichenden Schutz für die gefährdeten Güter gewährleisten. (2) Zum anderen: Nur eine klar umweltqualitätsziel- bzw. - konkreter gesagt - luftqualitätszielorientierte Umweltpolitik stellt sich in der nötigen Transparenz dem demokratischen Diskurs, und zwar zugleich in zwei Richtungen. Einerseits ist es relativ einfach, über die Zielerreichung und damit die Qualität der gewählten Instrumente zu entscheiden. Andererseits sind die Ziele selbst mit Blick auf das damit verbundene Schutzniveau einer kritischen Diskussion zugänglich. Alles in allem ist angesichts der aufgezeigten Stärke einer umweltqualitätsorientierten Politik die jüngere Fortentwicklung des luftqualitätsorientierten Ansatzes der EU-Luftreinhaltepolitik gewiss ein ganz maßgeblicher Schritt zu „besserer Rechtssetzung", insbesondere zu erfolgreicher Luftreinhaltepolitik. Die zu erreichenden Erfolge hängen allerdings nicht nur vom vorgegebenen Zielniveau ab, sondern maßgeblich zugleich von einem angemessenen Instrumentenmix zur Verbesserung der Immissionslagen. Insofern ist zunächst nochmals festzuhalten, dass die E U ein komplexes Instrumentarium zur Luftreinhaltung normiert hat, angefangen von technischen Standards für Emissionsquellen, über das neu gestaltete planerische Instrumentarium der Luftreinhaltung bis hin zur Anlagengenehmigung. Darüber hinaus ist den Mitgliedstaaten aufgegeben, weitere erforderliche Instrumente einzuführen, um die verbindlichen Luftqualitätsgrenzwerte zu erreichen. Andererseits besteht durchaus Anlass, die Kohärenz des entwickelten Luftreinhalterechts der E U zu überprüfen, wie dies die Kommission mit ihrer neuen „thematischen Strategie zur Luftreinhaltung" auch anstrebt. Vorgreiflich sei schon auf einige Aspekte hingewiesen: Es bestehen erhebliche Zweifel daran, dass alle maßgeblichen Emittentengruppen auf angemessene Emissionsreduktionen verpflichtet sind. Wie für das deutsche Recht seit langem beklagt, ist auch für das EU-Regelungsregime festzustellen, dass die Industrieanlagen verbindlicher reguliert werden als der motorisierte Verkehr. Die Feinstaub-Problematik ist keineswegs nur auf zögerliches Handeln deutscher Behörden, sondern auch darauf zurückzuführen, dass die durch Schadstoffferntransport hohe Hintergrundbelastung vor Ort einer planerischen Problem16 Jarass (Anm. 5), S. 258.
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bewältigung oftmals nur wenig Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und in solchen Lagen etwa Fahrverbote allenfalls ganz entfernt in Erwägung gezogen werden. 1 7 Daraus ergibt sich, dass die EU-Luftreinhaltepolitik, die die Gestaltung von Emissionsstandards schon aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit i m Binnenmarkt maßgeblich prägen muss, 1 8 nur solche Problemlagen an nachfolgende Problemlösungsebenen wie die Luftreinhalteplanung weitergeben darf, die dort einer sachgerechten Lösung zugeführt werden können. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die EU-Luftreinhaltepolitik in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren eine beachtliche Entwicklung sowohl hinsichtlich der Zielsetzungen wie des Instrumentenarsenals genommen hat. Zeitweise wurde den Qualitätszielen, zeitweise den erforderlichen Emissionsreduktionen vorrangige Aufmerksamkeit zuteil. Von einem Paradigmenwechsel wird man insgesamt aber kaum sprechen können. Jedenfalls aktuell umfasst das komplexe Regelungsgefüge des EU-Luftreinhalterechts alle maßgeblichen Regelungsansätze. Die Kommission erstrebt mir ihrer neuen „thematischen Strategie' 4 im Kern eine begrüßenswerte größere Kohärenz des Gesamtkonzeptes.
III. Konzeptionelle Defizite der deutschen Umsetzung des EU-Luftreinhalterechts 1. Der Ausgangspunkt: Der akzeptorbezogene Ansatz des BImSchG Ziel des BImSchG von 1974 ist es, „schädliche Umwelteinwirkungen" zu vermeiden. Dieser geradezu paradigmatische Zentralbegriff des BImSchG ist akzeptorbezogen legal definiert. Gemäß § 3 Abs. 1, 2, 4 BImSchG sind „schädliche Umwelteinwirkungen" u. a. auf Menschen, Tiere, Pflanzen usw. einwirkende Luftverunreinigungen. Damit bezeichnet der Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen konkrete örtliche Belastungslagen, und zwar gänzlich unabhängig davon, welche Emittenten für die Belastungssituation ursächlich sind. Maßgeblich ist also eine summative, akzeptorbezogene Betrachtungsweise, wobei die Luftqualitätsziele und damit die Schädlichkeitsschwelle traditionell in der TA Luft normiert sind. Diese Sichtweise kommt schon in den Gesetzesmaterialien unzweideutig zum Ausdruck 1 9 und darf als herrschende Meinung gelten. 2 0 17 S. näher SRU, Feinstaub durch Straßenverkehr - bundespolitischer Handlungsbedarf, Stellungnahme Juni 2005. 18
S. insofern zu den Grenzen des Subsidiaritätsprinzips H.-J. Koch, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Umweltrecht, Stuttgart 2004, S. 59 f. 19 BT-Drs. 7 / 1 5 1 3 , S. 3. 20
H.-J. Koch, Die rechtliche Beurteilung der Lärmsummation nach BImSchG und TA Lärm 1998, in: D. C z a j k a / K . Hansmann/M. Rebentisch (Hrsg.), Immissionsschutzrecht in der Bewährung, 25 Jahre Bundes-Immissionsschutzrecht, Festschrift für G. Feldhaus zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1999, S. 215, 218 f.; G. Feldhaus, 30 Jahre TA Lärm, in: H.-J.
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Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich dieser Sicht grundsätzlich angeschlossen, allerdings nicht ohne zumindest missverständliche Einschränkungen. In der bekannten Leitentscheidung zum Straßenverkehrslärm heißt es zwar, dass der Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen zweifelsfrei auf eine summative Betrachtung abhebe, 21 die 16. BImSchV aber in vertretbarer Weise von der summativen Betrachtung abweiche und allein auf den Lärm des jeweils zur Errichtung stehenden Verkehrsweges abstelle. 22 Allerdings soll diese quellenseparierende Betrachtungsweise an der Schwelle zu den Gesundheitsgefahren ein Ende finden. Insoweit sei aus Gründen der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG stets eine summative Betrachtung geboten. 23 Man mag dies als weise richterliche Gradwanderung zwischen staatlicher Haushaltskonsolidierung und verfassungsrechtlich gebotenem Gesundheitsschutz ansehen. Nach Wortsinn, Systematik und Telos des akzeptorbezogenen Paradigmas im BImSchG vermag die Entscheidung jedoch nicht zu überzeugen. 24 Während in der zuvor genannten Entscheidung aber der akzeptorbezogene und insofern umweltqualitätszielorientierte Ansatz des BImSchG jedenfalls grundsätzlich akzeptiert wird, gerät die nachfolgende Freizeitlärm-Entscheidung leider in Missverständnisse. M i t erkennbarem Missfallen wird der akzeptorbezogene Ansatz des BImSchG zwar anerkannt, jedoch werden - entsprechend der richterlichen Zweifel - dann nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen: „Selbst wenn man anerkennt, dass es für die Schädlichkeit von Umwelteinwirkungen nach der Definition des § 3 Abs. 2 BImSchG nicht darauf ankommt, woher, insbesondere aus wie vielen Quellen die zu beurteilende Beeinträchtigung stammt (vgl. BVerwGE 101, 1, 8) und daher bei der immissionsschutzrechtlichen Beurteilung von Anlagen die vorhandene Geräuschvorbelastung grundsätzlich zu berücksichtigen ist, folgt daraus nicht, dass dem nur durch die Bildung eines alle Geräusche erfassenden Summenpegels Rechnung getragen werden kann. 4 ' 2 5 Zur Begründung für die quellenseparierende Betrachtungsweise wird ausdrücklich auf den „Anlagenbezug 4 ' des BImSchG verwiesen. 26 Damit werden aber zwei durchaus miteinander zusammenhängende, jedoch verschiedene Fragestellungen unzulässig vermengt. Zum einen geht es darum, ob ein umweltqualitätszielorientierter Ansatz verfolgt wird, was
Koch (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Immissionsschutzrechts, Baden-Baden 1998, S. 181, 182; K. Hansmann, in: R. Landmann/G. Rohmer (Hrsg.) Umweltrecht, Band II, 3.1 TA Lärm, Rn. 43 ff.; Η. D. Jarass, DVB1. 1983, S. 726; K.-R Dolde, Immissionsschutzrechtliche Probleme der Gesamtlärmbewertung, in: ders. (Hrsg.), Umweltrecht i m Wandel; Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Umweltrecht, Berlin 2001, S. 451. 21 BVerwGE 101, S. 1,7. 22 BVerwGE 101, S. 1,9. 23 BVerwGE 101, S. 1, 10. 24 S. für Einzelheiten Koch (Anm. 20), S. 225 f.; s. auch Jarass (Anm. 5), S. 259; das BVerwG hält ohne neue Gründe an seiner Rechtsprechung fest: NuR 2005, S. 276. 25 BVerwG N V w Z 2001, S. 1167, 1168r.Sp. 26 BVerwG N V w Z 2001, S. 1167, 1168 r.Sp.
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mit dem akzeptorbezogenen Begriff der schädlichen Umwelteinwirkung im BImSchG der Fall ist. Zum anderen geht es - und darauf hebt das Bundesverwaltungsgericht ab - auch darum, ob und in welcher Konsequenz alle maßgeblichen Emittentengruppen regulativ erfasst werden. Insoweit attestiert das Bundesverwaltungsgericht dem BImSchG eben einen „Anlagenbezug", weil sich die Grundpflichten des BImSchG an einzelne Anlagen richten. Das steht aber nicht in irgendeinem „Widerspruch" zur akzeptorbezogenen Betrachtungsweise, sondern setzt diese nur konkret gegen maßgebliche Verursacher durch. Allerdings fehlt es in diesem Punkt dem BImSchG gerade an der gebotenen Konsequenz, wie nunmehr zu erörtern ist. Auch wenn man nach alledem dem BImSchG einen akzeptorbezogenen und daher - mit der TA Luft - auch luftqualitätszielorientierten Ansatz bescheinigen kann, wird dieser Ansatz zugleich - wie allgemein bekannt und des Öfteren beklagt - dadurch konterkariert, dass nicht alle maßgeblichen Emittentengruppen konsequent erfasst, sondern gerade die Anlagen in einer sozusagen asymmetrischen Verursacherbetrachtung vorrangig und in besonderem Maße zur Luftreinhaltung herangezogen werden. 2 7 Zwar wird sowohl den Anlagen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 und § 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG) wie auch den Kraftfahrzeugen (s. § 38 BImSchG) die Einhaltung des Standes der Technik abgefordert, wobei allerdings schon kritisch anzumerken ist, dass § 38 BImSchG leer läuft und allein die 1:1 -Rezeption der entsprechenden EUGrenzwerte über § 47 StVZO erfolgt. 2 8 Die entscheidende Ungleichbehandlung und das gravierende Defizit liegen jedoch darin, dass die Genehmigung von Anlagen an der vorfindlichen, gerade auch durch Kraftfahrzeugemissionen mitverursachten Luftverunreinigung scheitern kann, während dies für die Errichtung und den Betrieb eines Verkehrswegs nach dem tradierten Regelungsmodell des BImSchG gerade nicht gilt. Im Grunde fehlt ein auf den Verkehrswegebau bezogenes Luftreinhaltekonzept entsprechend dem vierstufigen Lärmschutzmodell der §§ 41 ff. BImSchG, wobei allerdings sofort hinzuzufügen ist, dass die defizitäre Bewältigung der Summationsproblematik entsprechend der Rechtsprechung zu den §§ 41 ff. BImSchG weder im Lärmschutzrecht noch in der Luftreinhaltung akzeptabel ist. Insgesamt bleibt mithin festzuhalten, dass der grundsätzlich akzeptorbezogene und - mit der TA Luft - luftqualitätszielorientierte Ansatz des BImSchG hinsichtlich der verkehrsbedingten Immissionsbeiträge gänzlich unzureichend instrumentiert ist. Der qualitätsorientierte Ansatz geht allein zu Lasten der Anlagen, worin 27 A u f diese asymmetrische Belastung der Anlagen und die damit verbundenen Defizite des Luftreinhalterechts im Verkehrssektor hat immer wieder Jarass nachdrücklich hingewiesen: H. D. Jarass, Probleme und Lücken des Verkehrsimmissionsschutzes, in: H.-J. K o c h / R . Lechelt (Hrsg.), 20 Jahre BImSchG, Baden-Baden 1994, S. 145; ders. (Anm. 5), S. 258. 28 Kritisch J. Berkemann, Immissionsschutz an der Quelle (Motorisierter Verkehr), in: H.-J. Koch (Hrsg.), Rechtliche Instrumente einer dauerhaft umweltgerechten Verkehrspolitik, Baden-Baden 2000, S. 175, 201 ff.
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auch die Ursachen für das Scheitern etwa hinsichtlich der Feinstaub-, aber auch der N0 2 -Belastungen in Ballungsgebieten liegen. Dies führt zu der Frage, ob die neuere Fokussierung des EU-Luftreinhalterechts auf Luftqualitätsziele und die entsprechende Umsetzung in deutsches Recht die Defizite in der Regulierung verkehrsbedingter Luftverunreinigungen zu beseitigen geeignet sind.
2. Die Herausforderungen des neuen Luftqualitätsrechts der EU Die Luftqualitätsrahmenrichtlinie 29 vom 27. 9. 1996 3 0 bildet den gemeinschaftsrechtlichen Rahmen zur „Definition und Festlegung von Luftqualitätszielen für die Gemeinschaft im Hinblick auf die Vermeidung, Verhütung oder Verringerung schädlicher Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt insgesamt" (Art. 1). Sie definiert u. a. den Begriff „Grenzwert" als „einen Wert, der aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse mit dem Ziel festgelegt wird, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt insgesamt zu vermeiden, zu verhüten oder zu verringern, und der innerhalb eines bestimmten Zeitraums erreicht werden muss und danach nicht überschritten werden darf" (Art. 2 Nr. 5), und verpflichtet die Mitgliedstaaten, die „erforderlichen Maßnahmen" zu ergreifen, „um die Einhaltung der Grenzwerte sicherzustellen" (Art. 7 Abs. 1). Im Falle der Gefahr der Überschreitung der Grenzwerte haben die Mitgliedstaaten „Aktionspläne" mit kurzfristig zu ergreifenden Maßnahmen zu erstellen, wozu auch die Beschränkungen und Verbote des Kraftfahrzeugverkehrs in Betracht zu ziehen sind (Art. 7 Abs. 3). In besonders belasteten Gebieten und Ballungsräumen (s. Art. 2 Nr. 10) sind „Programme oder Pläne" auszuarbeiten und zu vollziehen, so dass „der Grenzwert binnen der festgelegten Frist erreicht werden kann" (Art. 7 Abs. 3). 3 1 In den Tochterrichtlinien sind inzwischen eine ganze Reihe von Grenzwerten einschließlich der maßgeblichen Ermittlungs- und Beurteilungsverfahren festgeschrieben worden, und zwar für S 0 2 , N 0 2 , NO, Partikel und Blei in der ersten Tochterrichtlinie, und für Benzol und CO in der zweiten Tochterrichtlinie. 3 2 Nach allem dürfte außer Streit stehen, dass - die Luftqualitätsziele in Form der Grenzwerte zu dem vorgeschriebenen Zeitpunkt definitiv verbindlich werden, - zur Einhaltung dieser Grenzwerte alle Emittentengruppen einschließlich des Verkehrs beitragen müssen, 29
S. zum Regelungsgehalt im einzelnen Hansmann (Anm. 5).
™ Vgl. Anm. 11. 31 32
S. dazu Anm. 11.
Bei den Grenzwerten handelt es sich durchweg um Mindestanforderungen, die eine mitgliedstaatliche Verschärfung gestatten, wie die Erwägungsgründe jeweils ergeben.
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- für die Fälle drohender Grenzwertüberschreitungen Aktionspläne mit kurzfristig wirksamen Maßnahmebündeln zu erarbeiten sind sowie - für besonders belastete Gebiete oder Ballungsräume Pläne erstellt und vollzogen werden müssen, um in vorgegebenen Zeiträumen die Einhaltung der Grenzwerte zu gewährleisten. Dieses Luftqualitätsrecht der EU steht regelungstechnisch in keinem Zusammenhang mit bestimmten Emittentengruppen, etwa den Industrieanlagen. Allen Verursachern sind vielmehr angemessene Reduktionsanstrengungen abzuverlangen. Allerdings sind die Luftqualitätsziele durchweg - wie oben beschrieben - von emittentenbezogenen Regelungen flankiert, wobei - wie traditionell i m deutschen Recht - die anlagenbezogene Regelung am strengsten ist. Die Parallele gilt hin bis zur asymmetrischen Sonderbelastung der Anlagen, denen im präventiven Kontrollverfahren bei Überschreitung der Grenzwerte gemäß Art. 10 IVU-Richtlinie über den Stand der Technik hinausgehende Maßnahmen abverlangt werden dürfen und müssen, während für Errichtung und Betrieb von Verkehrswegen keine vergleichbaren Anforderungen existieren. Der feine, aber wesentliche Unterschied zwischen EU-Recht und tradiertem Immissionsschutzrecht besteht darin, dass Letzteres vor der Umsetzung des jetzigen EU-Luftqualitätsrechts keine konkrete Inpflichtnahme des Verkehrs zur Einhaltung der Grenzwerte etwa der TA Luft kannte. Dieses Defizit musste Deutschland nun in der Umsetzung des EU-Rechts beheben und zugleich auch die Instrumente schaffen, die dem Verkehr den nötigen Emissionsreduktionsbeitrag abzufordern erlauben. Insoweit hatte und hat Deutschland diejenigen Mittel zu schaffen, um die von der Richtlinie vorgegebenen Ziele zu verwirklichen.
3. Die Immissionsgrenzwerte der neuen 22. BImSchV und ihre verursacherorientierte Instrumentierung Die deutsche Umsetzung des jetzigen EU-Luftqualitätsrechts erfolgte in drei Regelwerken, nämlich - hinsichtlich der Luftqualitätsziele, insbesondere der Grenzwerte, durch Erlass der wesentlich neuen 22. BImSchV vom 11.9. 2002, 3 3 - hinsichtlich der verursacherbezogenen Instrumentierung der Qualitätsziele durch das 7. Änderungsgesetz zum BImSchG vom 11.9. 2 0 0 2 3 4 sowie - hinsichtlich speziell der Verursachergruppe der immissionsschutzrechtlichen Anlagen durch die TA Luft vom 24. 7. 2002. 3 5 33 BGBl. I 2002, S. 3626, geändert durch Art. 2 Ä n d V O v. 13.Juli 2004, BGBl. I 2004, S. 1612 zur Umsetzung der dritten Tochterrichtlinie. 34 BGBl. I 2002, S. 3622. 35 GMB1. 2002, S. 511.
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Diese Umsetzungsstruktur ist nicht gerade transparent ausgefallen. Insbesondere enthält die 22. BImSchV keine einleitende Funktionsbestimmung der Verordnung und ihrer Immissionsgrenzwerte im Regelungskontext des Immissionsschutzrechts und des sonstigen relevanten Rechts. Vielmehr fällt die Verordnung sozusagen mit der Tür ins Haus und regelt in den § § 2 - 7 Immissionsgrenzwerte, Toleranzmargen und Alarmschwellen, die hinsichtlich verschiedener Schadstoffe zu bestimmten Zeitpunkten verbindlich einzuhalten sind. Hinweise auf das maßgebliche Instrumentarium zur Verwirklichung der Zielsetzungen finden sich nicht, lediglich einige Konkretisierungen zur Luftreinhalteplanung, die im übrigen in ihrer Grundstruktur in den § § 4 4 ff. BImSchG ihre Umsetzung gefunden hat. Sucht man demzufolge i m BImSchG nach den verursacherbezogenen Instrumentarien, so fällt der Ertrag gerade mit Blick auf die oben herausgestellten traditionellen Defizite hinsichtlich der Emittentengruppe des Verkehrs eher enttäuschend aus. Zunächst ist allerdings § 45 Abs. I Satz 1 BImSchG zu nennen, demzufolge die zuständigen Behörden „die erforderlichen Maßnahmen (zu ergreifen) haben, um die Einhaltung der durch eine Rechtsverordnung nach § 48a festgelegten Immissionswerte sicherzustellen". Diese Vorschrift begründet nach allgemeiner Ansicht lediglich die (selbstverständliche) Aufgabe der zuständigen Behörden, die Einhaltung der Grenzwerte der 22. BImSchV sicherzustellen, verleiht ihnen jedoch keine diesbezüglichen Befugnisse. 36 Befugnisnormen muss man dem sonstigen Immissionsschutzrecht, dem Straßenverkehrsrecht, dem Fachplanungsrecht, dem öffentlichen Baurecht und möglicherweise weiteren Vorschriften entnehmen. Leider enthält § 45 Abs. 1 BImSchG keine insofern hilfreichen Verweise, die verdeutlichen könnten, dass die Vorgaben des EU-Rechts grundsätzlich auch hinsichtlich der erforderlichen Befugnisse konsequent umgesetzt sind. Stattdessen verweist § 45 Abs. 1 Satz 2 BImSchG auf „insbesondere Pläne nach § 47". Damit sind die in § 47 normierten Aktions- und Luftreinhaltepläne angesprochen. Dabei darf die Formulierung „insbesondere" allerdings keinesfalls dahin missverstanden werden, dass planunabhängige Maßnahmen nur eine gegenüber der Luftreinhalteplanung nachrangige und untergeordnete Bedeutung haben sollten. 3 7 Das zeigt schon das Anlagenrecht des BImSchG völlig unzweideutig. Unabhängig davon nämlich, ob eine erforderliche Aktions- oder Luftreinhalteplanung betrieben wird, sind für jedes Genehmigungsverfahren die in der TA Luft sozusagen anlagenbezogen umgesetzten Grenzwerte der 22. BImSchV zu beachten. Entsprechendes gilt für nachträgliche Anordnungen im Anlagenrecht (§ 17 BImSchG). Insofern ist - sieht man hier von fragwürdigen „Weichmachern" in Form der Irrelevanzklauseln in Nr. 4.2.2 TA Luft a b 3 8 - die Verursachergruppe der Anlagen unverändert „ s t r a f f auf die maßgeblichen Grenzwerte bezogen. 36 Jarass (Anm. 5), S. 264; Rehbinder (Anm. 5), S. 497. 37 Grundsätzlich ebenso BVerwGE 121, S. 57, 61; BVerwG UPR 2005, S. 274, 275; s. ferner Rehbinder (Anm. 5), S. 497 f.; Jarass (Anm. 5), S. 262 f.; Assmann u. a. (Anm. 12), S. 700 f.
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Anders sieht es für den Verkehrssektor aus: Nach § 40 Abs. 2 BImSchG steht es im Ermessen der Straßenverkehrsbehörde, „den Kraftfahrzeugverkehr nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften auf bestimmten Straßen oder in bestimmten Gebieten zu verbieten oder zu beschränken, wenn der Kraftfahrzeugverkehr zur Überschreitung von in Rechtsverordnungen nach § 48a Abs. l a festgelegten Immissionswerten beiträgt" und soweit die Maßnahmen der Verminderung oder Vermeidung schädlicher Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen dienen. Damit ist das Instrumentarium der Behörden zwar im Vergleich zur Rechtslage unter der am 21. 7. 2004 aufgehobenen 23. BImSchV a.F. mit ihren eher unverbindlichen und großzügigen Immissionsprüfwerten verbessert worden. Allerdings stellt das Äquivalent des § 40 Abs. 2 für Anlagen, nämlich § 17 Abs. 1 Satz 2 BImSchG, beim Vorliegen schädlicher Umwelteinwirkungen eine Soll-Vorschrift dar, derzufolge also grundsätzlich einzuschreiten ist, es sei denn es liegt ein atypischer Sachverhalt vor. Hier ist also nach wie vor eine deutliche asymmetrische Behandlung der Emittentengruppen des Verkehrs einerseits und der Anlagen andererseits zu konstatieren.
4. Die Immissionsgrenzwerte der 22. BImSchV in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur straßenrechtlichen Planfeststellung Verstärkt wird die Ungleichbehandlung einerseits der anlagenbedingten und andererseits der verkehrsbedingten Immissionen durch die jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur straßenrechtlichen Planfeststellung. 39 Bekanntlich hat der 9. Senat des Gerichts markant leitsätzlich festgestellt: „Die Einhaltung der Grenzwerte der 22. BImSchV ist keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Planfeststellung eines Straßenbauvorhabens." 40 Ähnlich prägnant hat danach der 4. Senat erkannt: „Eine Verpflichtung der Planfeststellungsbehörde, die Einhaltung der Grenzwerte vorhabenbezogen sicherzustellen besteht nicht." 4 1 Diese Sichtweise muss überraschen. Die europarechtlich verbindlich vorgegebenen und in der 22. BImSchV dementsprechend umgesetzten Luftqualitätsgrenzwerte sind doch mindestens auf den ersten Blick als so genannte Planungsleitsätze, also als der fachplanerischen Abwägung äußerste Grenzen ziehende zwingende Rechtssätze anzusehen. Der Vergleich mit der Funktion, die die Grenzwerte der 22. BImSchV für das Anlagenrecht haben, bestätigt eine solche Erwartung. Insofern ist bislang 38
Kritisch K. Hansmann, Irrelevanzklauseln im Immissionsschutzrecht, in: K. Hansmann/S. P a e t o w / M . Rebentisch (Hrsg.), Umweltrecht und richterliche Praxis. Festschrift für E. Kutscheidt zum 70. Geburtstag, München 2003, S. 291 ff.; H.-J. Koch, N V w Z 2000, S. 490, 501. 39 S. BVerwGE 121, S. 57; BVerwG NuR 2005, S. 394 (Straßenplanung durch B-Plan); BVerwG UPR 2005, S. 274. 40 BVerwGE 121, S. 57. 41 BVerwG UPR 2005, S. 274.
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glücklicherweise - noch niemand auf die Idee verfallen, die in der 22. BImSchV entsprechenden Grenzwerte der TA Luft müssten im Anlagengenehmigungsverfahren nicht verbindlich eingehalten werden, weil die Problemlösung in einer irgendwann nachfolgenden Luftreinhalteplanung nicht ausgeschlossen erscheint. Damit ist auch schon der Kernpunkt der durchaus komplexen Begründung beider Senate genannt: Ausgangspunkt der richterlichen Erwägungen ist die These, dass die „durch das Gemeinschaftsrecht gewährte Freiheit, zwischen den zur Einhaltung der Grenzwerte geeigneten Mitteln zu wählen, . . . durch die Regelungen des BImSchG und der 22. BImSchV . . . nicht beschränkt (werde). Sie schließt eine Verpflichtung der Planfeststellungsbehörde, die Einhaltung der Grenzwerte vorhabenbezogen zu garantieren, aus". 4 2 Das soll wohl besagen, dass eine vom EU-Recht gewährte und von den deutschen Normsetzern weitergereichte instrumentelle Wahlfreiheit die Planfeststellungsbehörde ermächtige, von einer Problemlösung hinsichtlich der Einhaltung der Grenzwerte abzusehen und diese zusätzlichen, neu geschaffenen Probleme einer zukünftigen Luftreinhalteplanung aufzubürden. Dafür geben aber weder das EU-Recht noch das deutsche Recht etwas her. Wenn die Mitgliedstaaten gemäß Art. 7 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie die Einhaltung der Grenzwerte sicherzustellen haben, sind sie nicht berechtigt, ihre Behörden von der Einhaltung der Grenzwerte zu dispensieren - auch nicht mit der Begründung, dass eine richtlinienkonforme Umsetzung der Luftreinhalteplanung die Dinge anschließend schon richten werde. Die EU-Luftreinhalteplanung ist sozusagen Pflichtaufgabe der Mitgliedstaaten, und zwar in Form der Aktionsplanung bei drohenden Grenzwertüberschreitungen, in Form der sonstigen Luftreinhalteplanung bei vorliegenden Grenzwertüberschreitungen in Ballungsräumen. Diese Pflichtaufgaben einer Gefahrenabwehr- und einer Sanierungsplanung befreien aber nicht davon, im Rahmen präventiver Kontroll verfahren Grenz wertüberschreitungen zu verhindern und zusätzliche Belastungen in bereits überhöht belasteten Gebieten zu vermeiden. Auch die 22. BImSchV lässt nicht erkennen, dass die quellenunabhängigen, generell verbindlichen Grenzwerte von den Behörden teilweise ignoriert werden dürfen. Eine abweichende Interpretation wäre nach dem zuvor Besagten auch europarechtswidrig. Letztlich folgt das Bundesverwaltungsgericht auch gar nicht diesem zunächst eingeschlagenen Argumentationspfad. Vielmehr nehmen beide Senate an, dass die Planfeststellungsbehörde die Grenzwerte der 22. BImSchV „nicht unberücksichtigt" lassen dürfte, jedoch nach den bekannten Regeln des „Gebots der Problembewältigung" 4 3 eventuell auf eine abschließende Problembewältigung verzichten dürfe, wenn in einem nachfolgenden Verwaltungsverfahren „die Durchführung der erforderlichen Problemlösungsmaßnahmen sichergestellt ist". 42 BVerwGE 121, S. 57, 61; BVerwG UPR 2005, S. 274, 275. 43
S. m. w. N. H.-J. Koch/R. Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 4. Aufl., Stuttgart 2004, § 17 Rn. 50 ff.
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Dagegen bestehen an sich keine Bedenken, wenn dabei sichergestellt ist, dass zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme des Verkehrsweges die Immissionsgrenzwerte nicht durch relevante Immissionszusatzbeiträge dieses Verkehrsweges überschritten werden. Diese strikte Sichtweise schwächt das Bundesverwaltungsgericht jedoch in einem Doppelschritt erheblich ab. Erstens soll das Gebot der Problembewältigung - abweichend von der Standardjudikatur zu diesem Grundsatz - nur dann verletzt sein, wenn absehbar ist, dass die Verwirklichung des Projekts die Möglichkeit ausschließt, die Einhaltung der Grenzwerte mit den Mitteln der Luftreinhalteplanung zu sichern. Der Gesetzgeber gehe zweitens davon aus, dass mit Hilfe der Luftreinhalteplanung die Probleme stets bewältigt werden könnten. Daher könne nur unter besonderen, im Einzelfall darzulegenden Umständen angenommen werden, dass keine dem Planfeststellungsverfahren nachfolgende Problemlösung im Luftreinhalteplanungsrecht möglich sei. 4 4 Darin liegt insofern eine bedeutsame Umkehr der Argumentationslast, als nach tradierter Rechtsprechung zum Gebot der Problembewältigung positiv nachgewiesen sein muss, dass nachfolgend die adäquate abschließende Problembewältigung gesichert ist, während nunmehr von den Betroffenen der kaum mögliche negative Nachweis zu erbringen ist, dass es keine Mittel in der Luftreinhalteplanung gebe, die eine Problemlösung noch ermöglichten. Diese äußerst subtile Bewahrung einer privilegierten Stellung des Verkehrs i m neuen, von quellenunabhängigen Luftqualitätsgrenzwerten geprägten Luftreinhalterecht wird in der Literatur deutlich kritisiert. So hält etwa Rehbinder die Auffassung für vorzugswürdig, dass das Gebot der Konfliktbewältigung in der Planfeststellung bereits bei erheblicher Erschwerung der Einhaltung der Immissionswerte durch Luftreinhalteplanung ausgelöst werde. 4 5 Strenger meint Jarass, dass die Immissionswerte zwingende Vorgaben für die Planfeststellung sein müssten 4 6 In diesem Sinne hat sich auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Sondergutachten „Umwelt und Straßenverkehr" geäußert: „Vertretbar erscheint eine Zulassung eines die Grenzwerte überschreitenden Straßenbauprojekts daher nur dann, wenn zugleich konkrete Möglichkeiten einer alternativen Immissionsminderung sowie entsprechende Maßnahmen und Kompetenzen nachgewiesen werden." 4 7
44 Die vorstehende Argumentation in BVerwGE 121, S. 57, 64 sowie BVerwG UPR 2005, S. 274, 275. 45 Rehbinder (Anm. 5), S. 497; ebenso Assmann u. a. (Anm. 12), S. 701. 46 Jarass (Anm. 5), S. 263. 47 SRU, Umwelt und Straßenverkehr. Hohe Mobilität - umweltverträglicher Verkehr, Sondergutachten, 2005, Tz. 451 (= BT-Drs. 15/5900 vom 28. 6. 2005).
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5. Die Grenzen der Luftreinhalteplanung Die zuvor referierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beruht nicht nur darauf, dass der Verbindlichkeitsanspruch der EU-Grenzwerte unzutreffend eingeordnet wird, sondern auch darauf, dass der Luftreinhalteplanung ein besonderes „Grundvertrauen" hinsichtlich ihrer Problemlösungskapazität entgegengebracht wird. Nach Auffassung des Gerichts liegt ein Verzicht auf verkehrsbezogene Maßnahmen der Luftreinhaltung i m Planfeststellungsbeschluss „schon deswegen nahe, weil für die Luftreinhalteplanung ein breites Spektrum vorhabenunabhängiger Maßnahmen zur Verfügung steht (z. B. allgemeine Verkehrsbeschränkungen; Auflagen für emittierende Anlagen; Planungsvorgaben), mit deren Hilfe Schadstoffbelastungen nicht nur reduziert, sondern auch kompensiert werden können". Solche Möglichkeiten stünden der Planfeststellungsbehörde " - auch unter Einbeziehung ihrer Befugnisse zur Anordnung notwendiger Folgemaßnahmen - nicht zu Gebote". 4 8 Dieser Sicht kann nur mit Einschränkungen gefolgt werden. Zutreffend ist sicher, dass eine gebiets- und nicht nur projektbezogene Luftreinhalteplanung eine spezifische Leistungsfähigkeit daraus bezieht, dass notwendige Emissionsreduktionen in koordinierter Weise auf die Emittenten verteilt werden können. 4 9 Zugleich ist aber nachdrücklich hervorzuheben, dass das Instrument der Luftreinhalteplanung den zuständigen Behörden keinerlei zusätzliche Eingriffsbefugnisse verleiht. Vielmehr heißt es in § 47 Abs. 6 Satz 1 BImSchG ausdrücklich, dass die in den Plänen vorgesehenen Maßnahmen „nach diesem Gesetz oder anderen Rechtsvorschriften" durchzusetzen seien. Hinsichtlich planungsbezogener Darstellungen eines Luftreinhalteplans heißt es in § 47 Abs. 6 Satz 2 BImSchG sogar, dass diese von den zuständigen Planungsträgern lediglich „zu berücksichtigen", also als Abwägungsmaterial zu beachten sind. Der Verweis auf sonstige Ermächtigungsgrundlagen ist außerdem wenig befriedigend und zieht der Leistungsfähigkeit der Luftreinhalteplanung deutliche Grenzen. Zwar steht - wie in diesem Beitrag schon mehrfach betont - zur Regulierung emittierender Anlagen ein durchaus angemessenes Instrumentarium zur Verfügung. Dies gilt jedoch trotz des oben angesprochenen § 40 Abs. 2 BImSchG n.F. für den Verkehrssektor nicht. Bedenkt man, dass die verkehrsbedingten Emissionen - übrigens in besonderer Weise auch die Lärmemissionen - gerade in belasteten Ballungsräumen eine erhebliche Rolle spielen, so bedarf es für ein erfolgreiches Luftreinhaltemanagement eines wesentlich verbesserten vorhabenbezogenen Handlungsinstrumentariums. Detailliert und überzeugend kritisiert der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem erwähnten Sondergutachten den prohibitiven rechtlichen Rahmen für die erforderliche kommunale Gesamtverkehrsplanung und empfiehlt unter Hinweis auf das französische Gemeindeverkehrsplanungsrecht auch für Deutschland ein Gemeindeverkehrsplanungsgesetz, das die Gemeinden mit dem entsprechenden Instrumentarium für eine verkehrsträgerüber48 BVerwGE 121, S. 57,64. 49 Diesen Aspekt betont mit Recht auch Rehbinder (Anm. 5), S. 497.
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greifende, mit der kommunalen Entwicklungs- und Bauleitplanung sowie den überörtlichen Gesamt- und Fachplanungen vernetzte, kommunale Gesamtverkehrsplanung ausstatten sollte. 5 0 Der Umstand, dass die E U ihre Luftqualitätsziele mit der mitgliedstaatlichen „Pflichtaufgabe' 4 der Luftreinhaltung instrumentiert, entbindet die Mitgliedstaaten selbstverständlich nicht davon, selbständig das unter den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen erforderliche Instrumentarium zu schaffen. Andererseits sollen hier keine Illusionen gefördert werden: Der örtliche Planungsraum der Luftreinhalteplanung und einer wünschenswerten kommunalen Gesamtverkehrsplanung setzt der Leistungsfähigkeit dieser Instrumentarien deutliche Grenzen. Wenngleich bei einem engagierten Einsatz der vorfindlichen Instrumente und erst recht bei einem verbesserten Instrumentarium deutlich mehr erreicht werden könnte, als von kommunaler Seite aber auch von Seiten der Bundesländer resignativ behauptet wird, haben gerade die problematischen Ballungsräume etwa bei N 0 2 und beim Feinstaub mit erheblichen „Hintergrundbelastungen" zu kämpfen, die bisweilen örtlich relevante Problemlösungsbeiträge nahezu ausschließen es sei denn, man würde zu drastischen und umfänglichen Verkehrsbeschränkungen greifen, was unter anderen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen nicht besonders erwünscht sein kann. Dies führt zwingend zurück an die Emissionsquellen. Man darf der Planung, zumal der örtlichen, nicht Probleme überantworten, die vor Ort keiner konstruktiven Lösung zugeführt werden können. Hinsichtlich der gebotenen Emissionsreduktionen ist in den letzten zehn Jahren im Bereich der Anlagen trotz mancher Fortschritte einiges, im Bereich der Kraftfahrzeuge Wesentliches versäumt worden, auch von Seiten der EU, die sich u. a. bis jetzt weigert, strengere Partikelwerte für Kraftfahrzeuge vorzuschreiben. Es ist jedoch widersprüchlich, strenge Luftqualitätsziele für Feinstaub zu normieren, aber auf EU-Ebene diejenigen Emissionsbeschränkungen zu verweigern, die notwendige Voraussetzungen einer erfolgreichen örtlichen Luftreinhalteplanung sind.
IV. Bilanz und Ausblick ( 1 ) Die EU hat in den vergangenen 25 Jahren ein komplexes Luftreinhalterecht entwickelt, das in jüngerer Zeit prononciert an verbindlichen Luftqualitätszielen orientiert ist, aber zugleich und schon seit längerem eine Fülle von quellenbezogenen Verpflichtungen zur Emissionsbegrenzung normiert, und zwar für stationäre und mobile Quellen, insbesondere auch für Kraftfahrzeuge als wesentliche Emittentengruppe. In jüngerer Zeit ist auch noch ein durchaus weit entwickeltes Luftreinhalteplanungsrecht hinzugekommen. Ein dramatischer Einschnitt oder ein grundsätzlicher Wandel ist in diesem komplexen Entwicklungsprozess wohl nicht zu identifizieren. 50 S. für viele Einzelheiten SRU, Umwelt und Verkehr (Anm. 47), Tz. 4 6 4 - 4 9 4 .
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(2) Das EU-Luftreinhalterecht entspricht damit regelungssystematisch betrachtet nahezu dem Leitbild Erfolg versprechender Umweltpolitik, insofern als klaren, schutzgutbezogenen, quantifizierten Luftqualitätszielen, die eine transparente Politikevaluation ermöglichen, - quellenbezogene Emissionsreduktionsverpflichtungen, - gebietsbezogene Luftqualitätsplanungsinstrumente sowie - einzelfallbezogene Regelungsansätze zur Seite gestellt worden sind. (3) Das deutsche Luftreinhalterecht hat mit dem BImSchG von 1974 und nachfolgenden emissionsbezogenen BImSch-Verordnungen zunächst viele Anstöße zur Entwicklung des Gemeinschaftsrechts gegeben. Auch zur Entwicklung der ersten Luftqualitätsziele auf Gemeinschaftsebene dürfte das deutsche Recht mit der TA Luft durchaus förderlich gewesen sein. Ferner ist zu betonen, dass das BImSchG mit dem Zentralbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen auch das qualitätszielorientierte Paradigma der akzeptorbezogenen Betrachtungsweise frühzeitig rechtlich etabliert hat. Bezogen auf die, inzwischen durch die neuen, mit der 22. BImSchV umgesetzten, Luftqualitätsziele ist es im deutschen Recht dennoch bis heute nicht angemessen gelungen, alle Emittentengruppen, und das heißt, neben den traditionell eher konsequent regulierten Anlagen auch den Verkehrssektor verursachergerecht mit Reduktionsverpflichtungen zu belasten. Bis hin zur fragwürdigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts über die angeblich fehlende Verbindlichkeit der EU-Grenzwerte für die straßenrechtliche Planfeststellung erfolgt die Durchsetzung der Luftqualitätsziele gegenüber den Emittentengruppen asymmetrisch. (4) Diese unzureichende Instrumentierung der Luftqualitätsziele gegenüber den verkehrsbedingten Emissionen lässt sich keinesfalls damit rechtfertigen, dass auch die E U ihre Hausaufgaben nicht hinreichend konsequent erfüllt habe. Zwar enthält auch das EU-Luftreinhalterecht hinsichtlich der Emittentengruppe des Verkehrs i m wesentlichen nur quellenbezogene Emissionsbeschränkungen, die ersichtlich nicht immer ausreichen, um mit dem ebenfalls zur Verfügung gestellten Luftreinhalteplanungsrecht vor Ort befriedigende Ergebnisse erzielen zu können. Alle Mitgliedstaaten und auch Deutschland haben jedoch die Pflicht, die nötigen Instrumente zu normieren, die soweit wie möglich die Einhaltung der EU-Qualitätsziele sicherstellen. Hier erscheint für die Ballungsräume der Bundesrepublik die Einführung einer integrierten kommunalen Gesamtverkehrsplanung ein notwendiges Instrument zu sein. (5) Aber auch die europäische Union muss ihre Luftreinhaltepolitik insbesondere angesichts der unzureichenden Zielverwirklichung in den Mitgliedstaaten auf den Prüfstand stellen. Insbesondere geht es darum, die quellenbezogenen Emissionsreduktionsverpflichtungen zu überprüfen. Sie müssen so weit verschärft werden, dass mit den nachfolgenden Instrumentarien, wie etwa der Luftreinhaltepla33 FS Bartlsperger
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nung, die Qualitätszielvorgaben auch realistischerweise erreicht werden können. M i t dem Vorschlag einer neuen „thematischen Strategie zur Luftreinhaltung" und dem Vorschlag für eine Richtlinie „über die Luftqualität und saubere Luft für Europa" - beides vom 21.9. 2005 - hat die EU-Kommission in eindrucksvoller Weise die erforderliche Fortentwicklung des EU-Luftreinhalterechts begonnen. In großer Klarheit werden - die derzeit in vielerlei Hinsicht unbefriedigende Belastungslage einschließlich der verursachten Schäden, - die notwendigen zusätzlichen Emissionsreduktionsanstrengungen, - die erforderliche Inpflichtnahme der verschiedenen Emittentengruppen sowie - die volkswirtschaftlichen Kosten unterschiedlicher Szenarien quantifiziert beschrieben. Man mag den fehlenden Mut kritisieren, den europäischen Volkswirtschaften etwas mehr an Anstrengungen abzufordern. Hier ist hoffentlich das letzte Wort noch nicht gesprochen. Man sollte jedoch der Transparenz und Kohärenz dieser Luftreinhaltepolitik die Anerkennung nicht versagen. Das Konzept der Kommission ermöglicht eine klare Kontroverse und gestattet im Endeffekt eine gute Politikevaluation und fördert somit insgesamt den politischen Prozess in der Europäischen Union.
Die Privatisierung der Nebenbetriebe auf den Bundesautobahnen - eine Zwischenbilanz Von Siegfried
Rinke, Bonn
I. Einleitung Rund sieben Jahre nach dem Verkauf der vollständigen Aktienanteile des Bundes an der seinerzeit bundeseigenen Autobahn Tank & Rast A G an ein privates Konsortium ist es an der Zeit, die gewonnenen Erfahrungen bei dieser besonderen Form öffentlich-privater Zusammenarbeit in einer kurzen Zwischenbilanz darzustellen. Zwischenbilanz deshalb, weil wie i m Folgenden gezeigt wird, die Entwicklung keinesfalls als abgeschlossen bezeichnet werden kann. Die Überleitung eines vormals in bundeseigener Regie betriebenen Betriebes (Gesellschaft für Nebenbetriebe an Bundesautobahnen - G f N - ) - Bartlsperger spricht in diesem Zusammenhang von einer verdeckten Staatsregie der Nebenbetriebe 1 - aus einem öffentlich-rechtlichen Gewahrsamsverhältnis des Straßenbaulastträgers Bundesrepublik Deutschland in eine privatwirtschaftliche Betriebsform durch einen privaten Dritten, wirft dabei eine Vielzahl von Rechtsfragen auf. Diesen soll im Folgenden näher nachgegangen werden. Dabei soll zunächst kurz die Ausgangslage vor dem Privatisierungsbeschluss der Bundesregierung vom 26. 03. 1985 2 und die historische Entwicklung der Nebenbetriebe vor Beginn des Privatisierungsvorhabens dargestellt werden. Danach wird auf die Fortentwicklung des Nebenbetriebssystems im Rahmen der Privatisierung bis zum Verkauf der Aktienanteile des Bundes eingegangen. Schließlich soll der aktuell erreichte Stand der rechtlichen Entwicklung gezeigt und letztlich ein Ausblick auf künftige, mögliche weitere Entwicklungen derzeit noch offener Rechtsfragen gegeben werden.
II. Ausgangslage Bei den Nebenbetrieben als Sachbestandteile der öffentlichen Straße handelt es sich um eine Besonderheit des Bundesfernstraßenrechts. Nebenbetriebe sind 1 R. Bartlsperger, Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr zu einer Privatisierung der Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen, vom 29. 06. 1987, S. 52 (unveröffentlicht). 2
33*
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 34/1985, S. 281 ff.
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Siegfried Rinke
Betriebe „an" - eigentlich besser auf den Bundesautobahnen, weil sie von deren Widmung zu Bundesautobahnen mit umfasst werden und damit selbst Teil der Bundesautobahn sind, insoweit war die ursprüngliche Sprachfassung in § 3 Reichsautobahngesetz von 1941 3 exakter und erscheint daher vorzugswürdig - den Bundesautobahnen, die als Raststätten, Hotels, Motels, Tankstellen, Reparaturwerkstätten u. ä. den Belangen der Verkehrsteilnehmer dienen und einen unmittelbaren Zugang zu den Bundesautobahnen haben. 4 Durch die räumliche Verbindung mit den Bundesautobahnen mittels eines unmittelbaren Zugangs unterscheiden sie sich von gleichartigen Betrieben in der Nachbarschaft der Bundesautobahnen, z. B. den privaten so genannten Autohöfen. Als Teile der Bundesfernstraßen 5 unterliegen die Nebenbetriebe der öffentlichen Sachherrschaft; so fällt ihre Bereitstellung unter die Straßenbaulast des Bundes, über Planung und Bauausführung wird durch das öffentlich-rechtliche Instrumentarium der Planfeststellung bzw. Plangenehmigung entschieden, auf der Grundlage des festgestellten Plans kann für Nebenbetriebe die Enteignung durchgeführt werden, die Freistellung von landesrechtlichen Baugenehmigungen nach § 4 FStrG gilt auch für Nebenbetriebe. 6 Das Nebenbetriebssystem auf den Bundesautobahnen und sein dazugehöriges Recht, wie wir es heute kennen, hat seinen Ausgangspunkt in dem ab 1933 geschaffenen Reichsautobahnrecht. Besondere reichsrechtliche Regelungen der Nebenbetriebe enthielten die 1. D V O 7 zum Reichsautobahngesetz 1933 sowie die Neufassung des Reichsautobahnrechts 1941. In § 8 Abs. 4 der 1. D V O von 1933 und § 7 Abs. 2 der D V O zum Reichsautobahngesetz von 1941 war ausdrücklich festgelegt, dass das in § 3 Reichsautobahngesetz von 1933 bzw. 1941 dem Unternehmen (Anstalt) „Reichsautobahnen" - als Tochterunternehmen der reichseigenen Reichsbahn und damit letztendlich in vollständigem mittelbaren Staatsbesitz - verliehene Ausschließlichkeitsrecht zum Bauen und Betreiben von Kraftfahrbahnen bzw. Reichsautobahnen auch das „Zubehör" einschließlich der sonstigen Nebenbetriebe (Tankstellen, Werkstätten, Verlade- und Umschlaganlagen, Wirtschaftsbetriebe, Reklamewesen u. dgl.) umfasst. Damit war auch eine Entscheidung in Bezug auf die Nebenbetriebe zugunsten einer Staatsregie oder eines Staatsvorbehaltes getroffen worden. Ein privatrechtliches Konzept für die anlageninterne Versorgung der Autobahnbenutzer erhielt bei dieser Gelegenheit keine Chance. 8 A n dieser Grundkonstellation hat sich zumindest bis zum Verkauf des Aktienpaketes des Bundes an der Tank & Rast A G an ein privates Erwerberkonsortium i m Jahre 1998 nichts Entscheidendes geändert und auch nach diesem 3 Vom 29. 05. 1941, RGBl. I S . 315. 4
Vgl. § 15 Abs. 1 Bundesfernstraßengesetz - FStrG - i. d. F. der Bekanntmachung v. 20. 02. 2003, BGBl. I S. 286 ff. 5 Vgl. § 1 Abs. 4 Nr. 5 FStrG. 6 H. Krämer Rn. 14.
in: K. K o d a l / H . Krämer, Straßenrecht, 6. Aufl., München 1999, Kap. 6
7 Vom 07. 08. 1933, RGBl. I I S. 521. « Vgl. Bartlsperger
(Anm. 1), S. 28.
Die Privatisierung der Nebenbetriebe auf den Bundesautobahnen
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Zeitpunkt, wie noch gezeigt werden wird, ist die staatliche Verantwortung für das Nebenbetriebssystem, wenn auch in moderaterer Form, letztlich als Teil der Hoheitsverwaltung der Bundesautobahnen erhalten geblieben. Nach Kriegsende 1945 bedurften die Reichsautobahnen und damit auch die Verwaltung der Nebenbetriebe auf ihnen, wegen des Wegfalls handlungsfähiger Reichsorgane, einer neuen Organisationsgrundlage. Das Unternehmen „Reichsautobahnen" ist 1945 besatzungsrechtlich aufgelöst und durch das Bundesfernstraßengesetz (FStrG) formell beendet worden. 9 Die Reichsautobahnen und damit auch die Nebenbetriebe wurden in den drei westlichen Besatzungszonen zunächst durch die Länder als Treuhänder für einen nachfolgend entstehenden deutschen Bundesstaat, die 1949 entstandene Bundesrepublik, verwaltet 1 0 , wobei sich bereits die Eingliederung der Autobahnen als besondere Anstalten in das allgemeine Straßenrecht und die Straßenverwaltung anbahnte. Zwar bestand der reichsrechtliche Staatsvorbehalt für den Bau und Betrieb von Nebenbetrieben nach § 3 Reichsautobahngesetz 1941 zunächst materiellrechtlich fort, er wurde jedoch spätestens 1953 auch formell durch das Bundesfernstraßengesetz 11 mit der Aufhebung des Reichsautobahnrechts beseitigt und durch den Bundesvorbehalt für den Bau der Nebenbetriebe nach § 15 Abs. 2 Satz 1 FStrG a. F. ersetzt. 12 Hierbei war jedoch die Zuständigkeit der Länder im Rahmen der Auftragsverwaltung zu beachten (insbesondere für Detailplanung, Grunderwerb und Baudurchführung). § 15 Abs. 2 Satz 2 FStrG a. F. schrieb vor, dass die Nebenbetriebe grundsätzlich zu verpachten sind. Zur Finanzierung und zum Betrieb der Nebenbetriebe wurde 1951 die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen GmbH (GfN) gegründet, deren alleiniger Gesellschafter die Bundesrepublik Deutschland war. Der Gegenstand des Unternehmens wurde dabei wie folgt umschrieben: „Gegenstand des Unternehmens ist es, die Nebenbetriebe an den Bundesautobahnen, wie Tankstellen, Raststätten, Werkstätten u. a., zu finanzieren, zu errichten und zu betreiben und alle Geschäfte zu besorgen, die damit in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang stehen." 13 Die Errichtung der Nebenbetriebe durch die GfN selbst stellte dabei die Ausnahme dar. Im Grundsatz oblag ihr die Finanzierung und der Betrieb der Nebenbetriebe, wobei diese in Anwendung von § 15 Abs. 2 Satz 2 FStrG a. F. durch die GfN regelmäßig an private Pächter gegen entsprechende Pachtzahlungen verpachtet wurden. Die GfN wiederum hatte an den Bund als Grundeigentümer der Nebenbetriebsgrundstücke und für die Einräumung des wirtschaftlichen Verwertungsrechtes an den Nebenbetrieben - auch rechtlich
9 § 24 Abs. 10 FStrG, § 25 FStrG. 10
Kritisch hierzu R. Bartlsperger, in: R. D o l z e r / K . V o g e l / K . Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg, Stand September 2005, Artikel 90 Rn. 10. •ι § 25 Abs. 1 Nr. 1 FStrG. 12
Vgl. Bartlsperger
(Anm. 1), S 51 ff. m. w. N.
13 § 2 Abs. 1 des Gesellschaftsvertrages i .d. F. vom 18. 10. 1977.
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falsch als „wirtschaftliches Eigentum" bezeichnet - eine meist umsatzabhängige Abgabe zu entrichten. Die Bundesländer hatten seinerzeit der Errichtung der GfN, meist durch Schreiben der für den Straßenbau zuständigen Landesminister, zugestimmt. 1 4 Das Bayerische Staatsministerium des Innern behielt sich den Widerruf der Zustimmung vor. Verfassungsrechtlich kann in der Zustimmung seitens der Bundesländer kein Verzicht auf die Auftragsverwaltung im Sinne des Art. 90 Abs. 3 GG gesehen werden, da diese schon nicht durch einfaches Schreiben des jeweils für den Straßenbau zuständigen Landesministeriums möglich gewesen wäre. Dies hätte zumindest entsprechende Kabinettsbeschlüsse der jeweiligen Landesregierungen vorausgesetzt, wenn nicht gar eine parlamentarische Befassung der Landesparlamente in Anwendung der Grundsätze der so genannten Wesentlichkeitstheorie. Man wird daher die Zustimmung als Beauftragung und Bevollmächtigung des Bundes zu verstehen haben, die die Zuständigkeit der Länder nach Art. 90 GG unberührt lässt. 15 Diese sowohl verfassungs- als auch einfachrechtlich hoch komplizierte und gleichwohl in vielen Fällen nur lückenhaft und unzureichend geregelte Rechtslage der Nebenbetriebe bestand so, bis zum Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes vom 25. 3. 1994, am 8. 4. 1994, 1 6 im Wesentlichen fort.
III. Entwicklung Die mit dem oben genannten Privatisierungsbeschluss der Bundesregierung 17 seit 1985 eingeleiteten Überlegungen auch zur Privatisierung der Nebenbetriebe auf den Bundesautobahnen fanden somit immerhin nach knapp neun Jahren einen gewissen gesetzgeberischen Abschluss, doch war damit die Privatisierung selbst noch keinesfalls vollzogen. Verzögert und zusätzlich verkompliziert wurden die Überlegungen durch die Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 und die Einbeziehung der in den neuen Bundesländern gelegenen Nebenbetriebe. 14 Vgl. Bartlsperger
(Anm. 1), S 94 ff. m. w. N.
15
Bartlsperger (Anm. 10), Rdnr. 79 Abs. 3, kritisch Bartlsperger (Anm. 1) S. 9 2 - 110 der eine anstaltsrechtliche Sonderstellung der Nebenbetriebe rechtshistorisch herleitet und daher diese nicht der Auftragsverwaltung nach Art 90 GG unterworfen ansieht. Dagegen die weit überwiegende h. M., z. B. H. v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, München 1953 Art. 90 Nr. 5; Κ Bauer in K. K o d a l / H . Krämer 5. Aufl., München 1995 Kapitel 41 Rn. 48; F. Kastner in: E. A. Marschall/H. W. Schroeter/F. Kastner, Kommentar zum Bundesfernstraßengesetz, 5. Aufl., Köln 1998, zu § 15 Rn 3. Die Frage ist heute jedoch nicht mehr entscheidend, da der Gesetzgeber durch die Änderungen des FStrG rechtspolitisch die seinerzeit gutachtlich untersuchten Fragen entschieden und hierbei die Auftragsverwaltung der Länder auch für die Nebenbetriebe unberührt gelassen hat. >6 3. FStrÄndG v. 25.3. 1994, BGBl. I, S. 673. 17
S. ο. I. Einleitung Anm. 2.
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M i t Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 trat im Rahmen des gesamten Bundesrechts auch das FStrG und damit auch zunächst § 15 FStrG a. F. im Gebiet der neuen Länder in Kraft. 1 8 Die dortigen Autobahnen einschließlich der vorhandenen Nebenbetriebe wurden Bundesautobahnen und die Nebenbetriebe in das Nebenbetriebssystem, wie es in der Bundesrepublik Deutschland bis anhin bestand, einbezogen. Dies war in der Praxis indes wegen bestehender eigentumsrechtlicher Fragen an den dortigen Nebenbetrieben, noch kurz vor dem Beitrittsdatum von der DDR-Autobahnverwaltung mit privaten Investoren abgeschlossener Verträge über die Errichtung von Nebenbetrieben an den Autobahnen und der großen Versorgungslücken im dortigen Nebenbetriebsnetz und der daraus in der Folge resultierenden Zulassung von Imbissen auf den unbewirtschafteten Rastanlagen durch die neuen Bundesländer, ein schwieriges und rechtlich wie tatsächlich kompliziertes Unterfangen. Wegen aller angeführten Fragen mussten in der Folgezeit Rechtsstreitigkeiten geführt werden, auf die in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden kann, die teilweise bis heute noch nicht abgeschlossen sind. Insbesondere die Frage der Beseitigung, der wegen der anfänglich bestehenden großen Versorgungslücken i m Autobahnnetz auf unbewirtschafteten Rastanlagen, gegen geltendes Recht duldungsweise zugelassener Imbisse, harrt noch der abschließenden Durchsetzung. Die nach langen Überlegungen verabschiedete Neufassung des § 15 FStrG durch das bereits oben erwähnte 3. FStrÄndG 1 9 enthält im Wesentlichen drei Grundentscheidungen des Gesetzgebers. Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 FStrG 2 0 kann nunmehr der Bau von Nebenbetrieben auf Dritte (Rechtsträger, die von Bund und Land personenverschieden und rechtlich nicht identisch sind) übertragen werden, bleibt also nicht mehr dem Bund vorbehalten. Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 FStrG ist der Betrieb von Nebenbetrieben auf Dritte zu übertragen, soweit nicht öffentliche Interessen oder besondere betriebliche Gründe entgegenstehen. Dabei konnte Dritter die seinerzeit noch bestehende GfN (unabhängig von der Anteilseignerschaft des Bundes) sein, musste es aber nicht. Nach § 15 Abs. 3 FStrG hat der Konzessionsinhaber für das Recht, einen Nebenbetrieb an der Bundesautobahn zu betreiben, eine umsatzoder absatzabhängige Konzessionsabgabe an den Bund zu entrichten. 21 Damit hatte der Gesetzgeber im Zuge der beabsichtigten Privatisierung staatlicher Aufgaben auch die entscheidenden Rechtsgrundlagen für eine Privatisierung des Nebenbetriebssystems geschaffen. Die bisherige GfN wurde, um die weitere Privatisierungspolitik umsetzen zu können und deren teilweisen oder ganzen Verkauf zu ermöglichen, durch Eintragung in das Handelsregister am 11. 04. 1994
Art. 8 des Einigungsvertrages vom 31.8. 1990, BGBl. I I S 889, Ani. 1 Kap. X I Sachgebiet F: Straßenbau. 19
S. o. I I Ausgangslage Anm. 16.
20 FStrG i. d. F. der Bekanntmachung vom 20. 2. 2003, BGBl. I S. 286 ff. 21 S.i.E. dazu U. Steiner, NJW 1994 S. 1712 f.
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begleitend in eine Aktiengesellschaft (Autobahn Tank & Rast AG) umgewandelt, wobei alle Aktienanteile zunächst im Bundesbesitz blieben. Ein schon für 1995 vorgesehener Börsengang wurde jedoch verschoben, da zuvor die Gesellschaft, die j a lediglich mit dem wirtschaftlichen Nutzungsrecht an den Nebenbetrieben ausgestattet w a r 2 2 , auch das Eigentum an den Nebenbetriebsgrundstücken, welches noch beim Bund lag, übertragen erhalten sollte. Damit sollte die wirtschaftliche Substanz der Autobahn Tank & Rast A G verbessert und deren Börsenwert und -fähigkeit gesteigert werden. Im Laufe des Jahres 1996 wurden daher zwischen der Bundesrepublik Deutschland einerseits und der Autobahn Tank & Rast A G andererseits notariell beglaubigte Einbringungsverträge über alle damals vorhandenen und nicht bereits im Eigentum der Autobahn Tank & Rast A G bzw. ihrer 100%igen Töchter befindlichen Nebenbetriebsgrundstücke geschlossen und die entsprechenden Auflassungen erklärt. Das bisherige Betriebsrecht wurde nach und nach von den Bundesländern auf das nach § 15 Abs. 3 FStrG vorgesehene Konzessionsrecht durch Abschluss entsprechender Konzessionsverträge, für die das für Verkehr zuständige Bundesministerium entsprechende Muster vorgeben hat 2 3 , umgestellt. M i t dem vierten Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes 24 wurde § 15 Abs. 3 FStrG a. E. dahingehend ergänzt, dass die zu zahlende Konzessionsabgabe an das Bundesamt für Güterverkehr zu entrichten ist. Damit wurde insoweit aus überragenden Gründen der Bundeseinheitlichkeit das Prinzip der Auftragsverwaltung der Bundesautobahnen und daher auch der Nebenbetriebe durch die Länder, für diesen Einzelsachverhalt durchbrochen. M i t der Konzessionsabgabenverordnung 2 5 legte das für Verkehr zuständige Bundesministerium im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen schließlich aufgrund der in § 15 Abs. 3 Satz 2 FStrG vorgesehenen Verordnungsermächtigung auch die Höhe und weitere Einzelheiten zur Erhebung der zu entrichtenden Konzessionsabgabe fest, die für einen möglichen Erwerber der Aktienanteile an der Autobahn Tank & Rast A G ein wirtschaftlich durchaus bedeutender Faktor bei der Bewertung dieser Aktienanteile darstellt. Schließlich entschied sich die Bundesregierung gegen die Abgabe von Aktien im Rahmen eines Börsengangs und gegen eine zunächst ins Auge gefasste Teilprivatisierung, sondern dafür, nach öffentlicher Bekanntmachung im Rahmen eines Verhandlungsverfahrens, das gesamte Aktienpaket der Autobahn Tank & Rast A G an den besten Bieter zu veräußern. M i t Kaufvertrag vom 29. 10. 1998,
22
S. o. II. Ausgangslage.
23
Bekanntmachung der Richtlinien für Bau und Betrieb von Nebenbetrieben an Bundesautobahnen sowie für die Erteilung einer Konzession ( R N - B A B ) und des Musters eines Konzessionsvertrages, V k B l . 1997 S. 808 ff. 24 4. Gesetz zur Änderung des FStrG vom 18. 6. 1997, BGBl. I S. 1452. 25
Verordnung über Höhe und Erhebung der Konzessionsabgabe für das Betreiben eines Nebenbetriebes an der Bundesautobahn (BAB-Konzessionsabgabenverordnung - B A B K A b g V ) vom 24. 6. 1997, BGBl. I S. 1513, zuletzt geändert durch das 10. Euro-Einführungsgesetz vom 15. 12. 2001, BGBl. I S. 3762.
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der von einem Rahmenvertrag mit einer Laufzeit von zunächst 10 Jahren mit Verlängerungsoption, in dem sich Veräußerer wie Erwerber im wesentlichen zu gegenseitigem Wohlverhalten und Weiterführung des gegenwärtigen und bewährten Nebenbetriebssystems verpflichteten, flankiert wurde, wurde der komplette Aktienanteil des Bundes an ein Konsortium von zwei Kapitalgesellschaften und einem Cateringunternehmen verkauft 2 6 . Diese verkauften Ende 2004 ihre Gesellschaftsanteile nach Umwandlung der Autobahn Tank & Rast A G in eine Tank & Rast Holding GmbH mit einer operativen Tochter, der Tank & Rast GmbH & Co KG, selbstredend mit Gewinn, an einen britischen Finanzinvestor. Dabei war die Befürchtung einer möglichen Zerschlagung der bewährten mittelständischen Pächterstruktur Gegenstand von parlamentarischen Anfragen, denen die Bundesregierung unter Verweis auf die geltenden öffentlich-rechtlichen Rahmenbedingungen jedoch entgegentrat. 27
IV. Aktueller Stand Das Nebenbetriebssystem auf den Bundesautobahnen umfasste Ende des Jahres 2004 431 bewirtschaftete Rastanlagen mit insgesamt 375 Tankstellen, 390 Raststätten und 55 Motels sowie rund 1 520 unbewirtschaftete Rastanlagen mit bzw. ohne WC-Gebäude in Betrieb. Die bewirtschafteten Rastanlagen umfassen einen oder mehrere Servicebetriebe, für die jeweils Betriebsgrundstücke festgelegt werden. Die übrige Fläche der Rastanlage wird als Verkehrsanlage bezeichnet und umfasst insbesondere die Fahrgassen, die Stellplätze (Parkstände) für PKW, Wohnmobile, Busse und L k w sowie die Erholungsflächen im Freien. Die Verkehrsanlage wird abgesehen von einigen Sonderfällen vom Bund finanziert und von den Straßenbauverwaltungen der Länder im Rahmen der Auftragsverwaltung für die Bundesfernstraßen (Art. 90, 85 GG) geplant, gebaut und betrieben. Planung, Bau und Betrieb der Servicebetriebe, die nach § 15 Abs. 1 FStrG auch als Nebenbetriebe bezeichnet werden, obliegen privaten Investoren i m Rahmen von Konzessionen, die von den Straßenbauverwaltungen der Länder durch den Abschluss von Konzessionsverträgen erteilt werden. Die Tank & Rast (einschl. deren 100%iger Tochter OATG), in deren Händen durch den oben geschilderten Übergang vom seinerzeitigen Betriebsrecht auf das Konzessionsrecht 28 der Großteil der Konzessionen liegt, ist derzeit Konzessionärin von 338 Tankstellen, 382 26 S. i. E. auch die Vorbemerkungen der Bundesregierung auf die Große Anfrage der C D U / C S U - F r a k t i o n zur Zukunftsfähigkeit deutscher Autobahnservicebetriebe, Bundestagsdrucksache 15/4013 vom 22. 10. 2004 S. 3. 27 Bundestagsdrucksache 15/6016 Fragen Nr. 3 6 - 3 9 und Antworten PStS, in: Gleicke vom 14. 10. 2005.
2 .
n t i k l .
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Raststätten und 51 Motels an 395 Standorten. Die restlichen Konzessionen betreffen überwiegend Anlagen, die nicht als Autobahnrastanlagen, sondern ursprünglich an Bundesstraßen errichtet worden sind und durch deren Aufstufung zu Bundesautobahnen 29 den Status von Autobahnrastanlagen erhalten haben. In diesen Fällen ist die Verkehrsanlage auf Grund der Entstehungsgeschichte in der Regel dem Konzessionär zugeordnet, d h. Planung, Bau und Betrieb der Verkehrsanlage obliegen ebenfalls dem Konzessionär. Die Konzessionen für neu zu errichtende Nebenbetriebe werden öffentlich ausgeschrieben und im Wettbewerb vergeben, 30 soweit der Tank & Rast nicht i m Rahmen von Vorleistungen oder rechtlichen Verpflichtungen des Bundes ein Anwartschaftsrecht auf die Konzessionen zusteht. 31 Die Konzessionen für diese restlichen Betriebe verteilen sich auf 11 Konzessionäre. 32 M i t der Änderung des § 15 FStrG durch das 3. FStrÄndG 3 3 wurde das Recht der Nebenbetriebe auf Bundesautobahnen, so wie es heute gilt und wohl auch in nächster Zukunft Bestand haben wird, zwar wie gezeigt neu gestaltet (Planung und Bau von Nebenbetrieben kann Aufgabe Dritter sein, der Betrieb obliegt grundsätzlich Dritten), die von § 15 Abs. 1 FStrG bei den Nebenbetrieben seit jeher vorausgesetzte öffentliche Aufgabe ist davon jedoch unberührt geblieben. Die Nebenbetriebe dienen nach wie vor allein den Belangen der Verkehrsteilnehmer auf den Bundesautobahnen und erfüllen damit weiterhin eine schlicht-hoheitliche öffentliche Aufgabe im Rahmen der Straßenbaulast. 34 M i t dieser Bestimmung des Nebenbetriebssystems zu den öffentlichen Aufgaben aus der Straßenbaulast wird zugleich die Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung i m Rahmen des Bundesfern straßenrechts begründet. Ferner wird klargestellt, dass die Angelegenheiten der Nebenbetriebe Teil der Bundesauftragsverwaltung nach Art. 90 Abs. 2 GG sind. Diese Zuordnung des Nebenbetriebssystems zu den öffentlichen Aufgaben des Straßenbaulastträgers hat weit reichende rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen für die Straßenbauverwaltung einerseits und den privaten Betreiber andererseits. Dessen legitimes Interesse an einer möglichst wirtschaftlichen und gewinnbringenden Planung, Bau und Betreibung des Nebenbetriebs steht von vornherein in einem unauflöslichen Zielkonflikt mit dem durch die öffentliche Aufgabe des Nebenbetriebs gesetzten öffentlich-rechtlichen Rahmen und dessen öffentlicher Bestimmung. Dies führt dazu, dass der private Konzessionär einerseits durch die öffentlich-rechtlichen Rahmenbedingungen privilegiert wird, andererseits in 29 Vgl. § 2 Abs. 3a FStrG. 30 Vgl. § 15 Abs. 2 Satz 4 FStrG. 31 S. R N - B A B Teil I I - Übergangsregelung - , V k B l S. 822 f. 32 S. i.E. Bundestagsdrucksache 15/4013 vom 22. 10. 2004 S. 2 / 3 . 33 S.o. Anm. 16. 34 Vgl. die amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 12/4635 Abschnitt A Nr. 1: „ D i e Sicherstellung der Versorgung der Verkehrsteilnehmer auf Autobahnen ist notwendig und Teil der von der Bundesstraßenverwaltung nach Art. 90 Abs. 2 GG wahrzunehmenden öffentlichen Aufgaben".
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seinen wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten dadurch aber auch eingeschränkt ist. Beispielhaft und keineswegs abschließend ist durch die öffentliche Aufgabe des Nebenbetriebs aus der Straßenbaulast zu rechtfertigen, dass die Nebenbetriebe gesetzlich als Bestandteil der Bundesautobahnen definiert sind 3 5 und damit allein dem Bundesfernstraßenrecht unterliegen. Das Baurecht für einen Nebenbetrieb wird in einem Planfeststellungsverfahren geschaffen, das von der Straßenbauverwaltung betrieben wird, und zwar auch dann, wenn der Nebenbetrieb von einem Privaten gebaut und betrieben werden soll. Die Nebenbetriebe sind nur dem straßenrechtlichen Fachplanungsrecht unterworfen und damit von der unmittelbaren Anwendung der Vorschriften des allgemeinen Bauplanungsrechts, insbesondere der §§35 und 36 B a u G B 3 6 freigestellt. Der Bau von Nebenbetrieben ist sowohl von den Verfahrens- und Zuständigkeitsbestimmungen als auch von den materiell-rechtlichen Anforderungen des Bauordnungsrechts der Länder freigestellt 3 7 , und die öffentlich-rechtliche Verantwortung für die Beachtung aller materiellen Anforderungen der Sicherheit und Ordnung ist allein dem Straßenbaulastträger übertragen 38 . Der unmittelbare Zugang der Nebenbetriebe zur Bundesautobahn ist unabhängig von Anschlussstellen und damit abweichend von § 1 Abs. 3 FStrG zugelassen, also anders als bei den so genannten Autohöfen, und dadurch auch von den Einschränkungen des Sondernutzungsrechts unberührt 39 . Für den notwendigen Grunderwerb für Nebenbetriebe ist grundsätzlich die Möglichkeit der Enteignung eingeräumt und zwar auch dann, wenn Nebenbetriebe von Privaten gebaut werden sollen 4 0 . Die Festlegung der Standorte in Absprache zwischen Bund und Straßenbauverwaltungen der Länder wird allein unter Bedarfsgesichtspunkten getroffen. Damit wird dem einzelnen Nebenbetrieb für einen bestimmten Streckenabschnitt ein faktisches Monopol mit Gebietsschutz eingeräumt. Durch die Übertragung des Rechtes zum Bau und zum Betrieb eines Nebenbetriebes durch einen als öffentlich-rechtlich zu qualifizierenden Konzessionsvertrag 4 1 auf einen privaten Dritten, wird der Charakter der aus diesem Rechtsgeschäft erwachsenden Tätigkeiten als öffentliche Aufgabe inhaltlich nicht verändert. Der private Dritte muss nämlich diese Aufgabe im Umfang seiner Konzession ebenso wahrnehmen wie sonst die Straßenbau Verwaltung, j a anders ausgedrückt, bedient sich die Straßenbauverwaltung für die Erfüllung dieser Aufgabe eines be§ 1 Abs. 4 Nr. 5 FStrG. 36 Für Vorhaben im unbeplanten Außenbereich sowie von jedem gemeindlichen Einvernehmen. 37 § 4 Satz 2 FStrG. 38 § 4 Satz 1 FStrG. 39 §§ 8 und 8a FStrG. 40 § 15 Abs. 2 Satz 6 i. V. m. § 18 f. bis § 19a FStrG. 41 Nach überwiegender Meinung handelt es sich dabei, da er an die Stelle eines auch möglichen begünstigenden Verwaltungsaktes tritt, um einen subordinationsrechtlichen öffentlichrechtlichen Vertrag, vgl. K. Bauer in: Kodal / Krämer, Straßenrecht 6. Aufl. 1999 Kap. 41 Rn. 55.2; U. Steiner, NJW 1994 S. 1712; Kastner (Anm. 15) zu § 15 Rn. 13.
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sonders qualifizierten Verwaltungshelfers, den sie über den Konzessionsvertrag gleichsam in die Verwaltung einbindet, ohne ihm jedoch hoheitliche Befugnisse zu übertragen, die beim Träger der Straßenbaulast verbleiben. 4 2 Daraus können sich im Einzelfall Beschränkungen für die unternehmerische Dispositionsfreiheit des privaten Dritten, z. B. bei der Gestaltung der Öffnungszeiten oder auch des Warenund Dienstleistungsangebots 43 , ergeben. Zum Ausgleich dafür kann der Konzessionär aber die oben 4 4 skizzierte rechtlich und wirtschaftlich für ihn sehr vorteilhafte Stellung des Nebenbetriebes, wie der Träger der Straßenbaulast selbst, für sich in Anspruch nehmen. Ein weiterer erheblicher finanzieller Vorteil für den privaten Dritten ergibt sich daraus, dass nur Bau und Betrieb des eigentlichen Nebenbetriebes - also der Tankstelle oder der Raststätte selbst - übertragen werden, nicht aber der mit dem Nebenbetrieb räumlich zusammenhängenden Verkehrsanlage. Für diese trägt, von Sonderfällen abgesehen, der Straßenbaulastträger Bund die Kosten. Sie bindet den Nebenbetrieb an die Autobahn an und bietet Verkehrsflächen für den ruhenden L K W - , Bus- und PKW-Verkehr. Anders als ein sonstiger privater Bauherr hat der private Konzessionär eines Nebenbetriebes somit keine bauordnungsrechtliche Stellplatzpflicht für den Besucherverkehr zu erfüllen. Dem Nebenbetrieb regelmäßig zugerechnet werden vielmehr nur die notwendigen Parkplätze für Mitarbeiter sowie bei Motels die Gästeparkplätze. Nur für diese muss der Konzessionär die Kosten tragen. Die im Eigentum des Bundes verbleibenden so genannten Funktionsflächen (Verkehrs- und Grünflächen) werden aus Zweckmäßigkeitsgründen entsprechend dem Konzessionsvertrag überwiegend vom Konzessionsnehmer für Zwecke des Nebenbetriebes genutzt. Er übernimmt hierfür die ihm übertragene Ausübung der Verkehrssicherung, Reinigung, Grünpflege und den Winterdienst. Diese geschilderte Besserstellung rechtfertigt es letztlich auch, den damit verbundenen wirtschaftlichen Vorteil durch eine umsatzabhängige, an den Bund zu entrichtende Konzessionsabgabe auszugleichen. Durch den Konzessionsvertrag wird zwischen Straßenbauverwaltung und privatem Dritten im Interesse der von ihnen gemeinsam wahrzunehmenden öffentlichen Aufgaben ein partnerschaftliches Verhältnis begründet. Es erscheint deshalb angezeigt, möglichst schon vor Einleitung eines Planfeststellungsverfahrens das Planungskonzept für einen Nebenbetrieb in seinen tragenden Grundzügen, sei es bei Errichtung oder der Umgestaltung der bewirtschafteten Rastanlage, mit einem ernsthaften Bewerber bzw. dem Konzessionsinhaber abzustimmen. Dabei verbleibt die abschließende Verantwortung für die ordnungsgemäße Erfüllung der öffentlichen Aufgabe und damit
42 s. § 15 Abs. 2 letzter Satz FStrG. Dieses muss sich innerhalb der fernstraßenrechtlichen Zweckbestimmung für Nebenbetriebe bewegen, § 15 Abs. 1 FStrG, d. h. es muss immer auf die Bedürfnisse der Verkehrsteilnehmer auf den Bundesautobahnen ausgerichtet sein. Die Bundesautobahnen dürfen dadurch nicht zu „Einkaufsstraßen" werden. Großmärkte auf der grünen Wiese sind damit nicht 43
vereinbar. S. I .
e t n .
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auch für die Planfeststellung insgesamt * in jedem Falle bei der Straßenbauverwaltung46 Nicht ausdrücklich geregelt ist, wer den Standort für die bewirtschafteten Rastanlagen einschließlich der Nebenbetriebe festlegt. Da es sich hierbei um eine überregionale Aufgabe handelt und jede Anlage in das an den Erfordernissen der Verkehrssicherheit und der Wirtschaftlichkeit ausgerichtete Netz der bewirtschafteten Rastanlagen einschließlich Nebenbetriebe sinnvoll integriert werden muss, ist, vergleichbar mit der generellen Bedarfsplanung der Bundesfernstraßen selbst, hierfür nach hergebrachter Auffassung, wegen der Sachnähe und der Finanzverantwortung in Abstimmung mit dem jeweiligen Bundesland, das für Verkehr zuständige Bundesministerium zuständig. Dieses hat " Vorläufige Hinweise zu den Richtlinien für Rastanlagen an Straßen bezüglich Autobahnrastanlagen ( V H R R ) " herausgegeben 4 7 , die allgemeine Planungsgrundsätze für Rastanlagen an Autobahnen enthalten und auf der Grundlage darin enthaltener Richtwerte eine Bedarfskonzeption erarbeitet. 48
V. Ausblick Die allgemeine Entwicklung der Nebenbetriebe auf den Bundesautobahnen seit der Änderung des § 15 FStrG, der Umwandlung der ehemaligen GfN zur Autobahn Tank & Rast A G 1994 und deren Verkauf an private Investoren 1998, wird von der Bundesregierung positiv beurteilt. Nach ihrer Auffassung ist es gelungen, den notwendigen Modernisierungskurs für die Nebenbetriebe erfolgreich auf den Weg zu bringen. Nach dem Verkauf ihres Aktienbesitzes an private Investoren habe die Dynamik dieses Modernisierungskurses noch deutlich zugenommen. Wenn man Tests von Automobilclubs zu Grunde lege, seien die deutschen Nebenbetriebe im Begriff, sich in der Qualität des Dienstleistungsangebots nach langen Jahren wieder an die Spitze in Europa zu setzen. Im Interesse der Verkehrsteilnehmer unterstütze die Bundesregierung die weitere Entwicklung auf der Grundlage der rechtlichen und sonstigen Rahmenbedingungen, z. B. durch deren zeitgemäße Anpassung 4 9 Dem kann nur beigepflichtet werden. Das Erscheinungsbild und das Dienstleistungsangebot der Nebenbetriebe ist seit der Privatisierung für den Verkehrsteilnehmer attraktiver, abwechslungsreicher und insgesamt vielfältiger als 45 D. h. die Übereinstimmung des gesamten Vorhabens, nämlich Verkehrsanlage und Nebenbetrieb mit dem geltenden öffentlichen Recht.
46 § § 4 und 17 FStrG. 4v V k B l . 1999 S. 697 ff. 4« Bauer (Anm. 41), Kap. 41 Rdnr. 55.1; Kastner (Anm. 15), § 15 Rdnr. 12; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der F.D.P-Fraktion, Bundestagsdrucksache 15/3623 vom 21.7. 2004 zu Fragen Nr. 4 und 5. 49
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion, Bundestagsdrucksache 15/4013 vom 22. 10. 2004 zu Frage Nr. 1.
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früher geworden. Insofern ist es gelungen, durch die erweiterte Einbindung privaten Kapitals in die öffentliche Aufgabe der Versorgung der Verkehrsteilnehmer, mit dem Ziel der Hebung der Verkehrssicherheit, ein seinen Belangen dienendes Waren- und Dienstleistungsangebot auf der Autobahn vorzuhalten, das abseits staatlicher Reglementierung und der Begrenztheit öffentlicher Mittel für diese Aufgabe, unter Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumentarien eine optimalere Zielerreichung verspricht. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die letztlich auf Gewinnerzielung ausgerichtete wirtschaftliche Betätigung eines privaten Unternehmens und der gleichzeitig damit verfolgte, im öffentlichen Interesse liegende Zweck dieser Betätigung durchaus miteinander in Konflikt geraten können. Der hierdurch gezogene öffentlich-rechtliche Rahmen für eine wirtschaftliche Betätigung des Privaten kann sich dabei als zu eng erweisen oder Verhaltensweisen erzwingen, die sich für den Privaten als unwirtschaftlich darstellen. In diesen Fällen gilt es diese Rahmenbedingungen nach Möglichkeit anzupassen und einen Interessenausgleich herbeizuführen ohne die Grundkonzeption jedoch zu verlassen. Diese Entwicklung ist eingeleitet und wird sich weiter fortsetzen. Beispielhaft sei an dieser Stelle die erst kürzlich erfolgte Änderung des § 33 der Straßenverkehrsordnung (StVO) genannt. U m dem Konzessionär der Nebenbetriebe eine zeitgemäße Möglichkeit einzuräumen auf das von ihm für den Verkehrsteilnehmer vorgehaltene Dienstleistungsangebot hinzuweisen und gleichzeitig dem Verkehrsteilnehmer zu ermöglichen sich über dieses zu informieren, wurde eine Ausnahme von den Werbeverboten in Absatz 1 und Absatz 2 des § 33 StVO notwendig. M i t dem neu angefügten § 33 Abs. 3 StVO hat der Verordnungsgeber nun die Möglichkeit geschaffen, in der Hinweisbeschilderung für Nebenbetriebe an den Bundesautobahnen ausnahmsweise auch Hinweise auf Dienstleistungen, die unmittelbar den Belangen der Verkehrsteilnehmer dienen, aufnehmen zu können. 5 0 In Umsetzung dieser Entscheidung wird der Verkehrsteilnehmer daher demnächst auf den Bundesautobahnen, über an der Hinweisbeschilderung zusätzlich angebrachte bis zu vier Firmenlogos, über das auf dem Nebenbetrieb zu erwartende Dienstleistungsangebot unterrichtet. In der Rastanlage selbst soll er durch entsprechend gestaltete Hinweiselemente dann gezielt, entsprechend seiner Bedürfnisse, zu diesen Dienstleistungsangeboten geführt werden. Schwierigkeiten bereitet auch die Ausschreibung von Konzessionen unter Voraussetzungen, die für jeden Dritten gleichwertig sind (§ 15 Abs. 2 Satz 4 FStrG). Die hierzu in Teil I I der R N - B A B 5 1 vorgesehenen Bestimmungen waren auf Grund der europäischen Entwicklungen des Vergaberechts rasch überholt und so überarbeitungsbedürftig, dass sie mit Schreiben des für Verkehr zuständigen Bundesministeriums an die obersten Straßenbaubehörden der Länder aufgehoben werden mussten. Da die auszuschreibenden Konzessionen jedoch meist neu zu errichtende Nebenbetriebe betrafen und daher Bau und Betrieb des Nebenbetriebes in der 50 14. Verordnung zur Änderung der StVO vom 6. 8. 2005, BGBl. I S. 2418; vgl. auch zur Begründung Bundesratsdrucksache 4 6 9 / 0 5 vom 9. 6. 2005. 51 V k B l . 1997 S. 809 ff.
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Hand eines Konzessionärs liegen sollte, war lange Zeit nicht eindeutig zu klären, ob verfahrensmäßig die Vorschriften über die Vergabe einer Bau- oder die über eine Dienstleistungskonzession zur Anwendung kommen sollten. Bei der Vielzahl der in diesem Zusammenhang auch zu klärenden Fragestellungen möglicher Bewerber, bot sich überdies die Anwendung eines Verhandlungsverfahrens an, da sich die baulichen und betrieblichen Anforderungen an die zu errichtende Anlage zum Zeitpunkt der Ausschreibung kaum erschöpfend in einem Leistungsverzeichnis auflisten lassen. Nachdem auf europäischer Ebene nunmehr die Möglichkeit eines wettbewerblichen Dialogs i m Vergaberecht vorgesehen ist und sich die Auffassung letztlich eine Dienstleistungskonzession auszuschreiben mehr und mehr durchsetzt, sollen die entsprechenden Bestimmungen demnächst mit dieser Zielsetzung überarbeitet werden. Bei Um- und Ausbau aber auch beim Neubau von bewirtschafteten Rastanlagen stellen sich Fragen zur rechtzeitigen und umfassenden Beteiligung des vorhandenen Konzessionärs bzw. eines ernsthaften Bewerbers um eine Konzession in den straßenbaurechtlich erforderlichen Genehmigungsverfahren. War dies bei der früheren Rechtslage zwischen den beteiligten rein staatlichen Stellen durch entsprechende Absprachen ohne größere Schwierigkeiten lösbar, sind nunmehr die berechtigten Interessen eines privaten Dritten zu berücksichtigen, über die in der das Verfahren abschließenden Genehmigungsentscheidung mit zu befinden ist. Hier zeichnet sich in der Praxis ab, dem Konzessionär in diesen Verfahren keine Sonderstellung einzuräumen, sondern ihn ebenso zu behandeln wie jeden anderen privaten Betroffenen auch. Gleichwohl kann es aber sinnvoll sein, bei Maßnahmen, die i m gemeinsamen Interesse von Straßenbauverwaltung und Konzessionär bzw. ernsthaftem Bewerber liegen, von vornherein schriftlich fixierte Absprachen (sog. Bauabsprachen) zu treffen, die z. B. klare Kostentragungsregelungen für bestimmte zu realisierende Baumaßnahmen zwischen den Beteiligten festlegen oder Aufgabenabgrenzungen und Grunderwerbsfragen regeln. Auch hierzu werden Gespräche geführt und zeichnen sich Lösungen ab. Die grundsätzlich dem Konzessionär eingeräumte Möglichkeit einem weiteren privaten Investor an dem im Eigentum des Konzessionärs stehenden Nebenbetriebsgrundstück zu dessen Absicherung der Investition ein Erbbaurecht zu bestellen 5 2 , stößt in ihrer praktischen Umsetzung auf Probleme. Da das Nebenbetriebsgrundstück nach Ablauf der vereinbarten Konzessionslaufzeit auf den Straßenbaulastträger Bundesrepublik Deutschland zurück zu übertragen ist und zur Durchsetzung dieses Anspruchs zugunsten der Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig mit der Eigentumseintragung des Konzessionärs eine Rückauflassungsvormerkung ins Grundbuch eingetragen wird, müsste für die der Eigentumseintragung zwangsläufig erst nachfolgende Erbbaurechtsbestellung in der 2. Abteilung des Grundbuchs wegen § 10 Abs. 1 ErbbauVO - das Erbaurecht kann stets 52 § 2 Abs. 1 des Musterkonzessionsvertrages in R N - B A B , V k B l 1997, S. 825.
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nur an erster Rangstelle eingetragen werden - , die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer eingetragenen Riickauflassungsvormerkung eine Rangrücktrittserklärung abgeben. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass die Bundesrepublik Deutschland bei Beendigung des Konzessionsvertrages nur ein mit dem eingetragenen Erbbaurecht eines Dritten belastetes und damit für sie wirtschaftlich nicht verwertbares Grundstück zurückerhält. Deshalb wird die Rangrücktrittserklärung nur in ganz besonders gelagerten Einzelfällen und wenn sichergestellt ist, dass das Erbaurecht zum gleichen Zeitpunkt wie der Konzessionsvertrag endet, abgegeben. Schließlich kann der Konzessionär den Nebenbetrieb nicht frei benennen. Dem für Verkehr zuständigen Bundesministerium steht vielmehr allein das Bezeichnungsrecht für die Bundesfernstraßen und damit auch für die zu ihnen gehörenden Bestandteile zu (§ 1 Abs. 5 i. V. m. § 1 Abs. 4 Nr. 5 FStrG). Allerdings empfiehlt es sich die Namensgebung zuvor sowohl mit den Straßenbauverwaltungen der Länder als auch mit dem Konzessionär abzustimmen. Nicht beabsichtigt sind derzeit Änderungen des Rechtsrahmens dahingehend, dass Bau und Betrieb von Nebenbetrieben auf Bundesautobahnen aus dem Kreis der öffentlichen Aufgaben der Straßenbauverwaltung ausgeschieden würden. Dies hätte nämlich weit reichende rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen, wie nachfolgend beispielhaft und keineswegs abschließend angeführt: Dies würde den Nebenbetrieben ihre Sonderstellung als Bestandteile der Bundesautobahnen und ihre grundsätzliche Rechtfertigung aus Art. 90 Abs. 2 GG nehmen; § 1 Abs. 4 Nr. 5 und § 15 FStrG wären ersatzlos aufzuheben. Jeder einzelne Betrieb wäre in vollem Umfang dem allgemein geltenden Bauplanungs- und Bauordnungsrecht unterworfen. Damit ginge ihm die formelle und materielle Konzentrationswirkung der Planfeststellung verloren. Jeder Betrieb unterläge den Anforderungen des BauGB, insbesondere der §§35 und 36 BauGB. A n die Stelle der Straßenbauverwaltung (§ 4 FStrG) träte eine Vielzahl zu beteiligender Behörden. Als weitere Folge müsste der private Betreiber die nach jeweiligem Landesbauordnungsrecht bestehende Stellplatzpflicht in vollem Umfang auf eigene Kosten erfüllen. Eine eigene unmittelbare Zufahrt zu den Bundesautobahnen auf der anbaufreien Strecke wäre unzulässig (§ 1 Abs. 3 FStrG). Enteignungsverfahren zugunsten eines Nebenbetriebes wären nicht mehr möglich. Eine derartig einschneidende Veränderung des jetzigen Rechtsstatus der Nebenbetriebe wird soweit ersichtlich derzeit von niemandem gefordert und steht daher auch nicht zu erwarten.
Geschäftsführung ohne Auftrag zum Zwecke der Gefahrenabwehr Von Wolf-Rüdiger
Schenke, Mannheim
I. Die Problematik Zu den Rechtsgebieten, denen Richard Bartlspergers wissenschaftliches Interesse seit jeher in besonderem Maße galt, gehört zweifellos das Recht der öffentlichrechtlichen Ersatzleistungen. 1 In seiner Abhandlung „Die Aufwendungsersatzansprüche der Wasserstraßenverwaltung für Schiffs- und Ankerbergungen" 2 beschäftigte er sich in diesem Zusammenhang auch mit der Frage der Anwendbarkeit des Rechtsinstituts der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) im Bereich der Gefahrenabwehr. Dies soll den Anlaß bieten, die sich hier stellenden Probleme, anknüpfend an Überlegungen des Jubilars, nochmals aufzugreifen und zu erörtern. Ein solches Unterfangen erscheint um so reizvoller, als sich gerade in den letzten Jahren Rechtsprechung und Rechtswissenschaft wieder in verstärktem Umfang mit der Frage befaßten, ob und inwieweit die in den §§ 677 ff. BGB getroffenen Regelungen über die GoA direkt, analog oder als Ausfluß eines allgemeinen Rechtsgedankens im Rahmen der Gefahrenabwehr Anwendung zu finden vermögen. Ihrer Beantwortung kommt zudem insofern eine besondere Aktualität zu, als sich die Bejahung einer GoA auch auf dem Sektor der Gefahrenabwehr jedenfalls prima facie nahtlos in eine neuerdings vielfach feststellbare Tendenz zur Privatisierung der Gefahrenabwehr einzufügen scheint und sich insofern möglicherweise noch nutzbare Privatisierungsreserven ergeben. Trotz einer intensiven Diskussion der Reichweite und der Grenzen des Instituts der GoA hat sich freilich bisher kein klarer, durch Rechtsprechung und Rechtslehre gemeinsam getragener Grundkonsens herausgeschält. Vielmehr divergieren die hierzu vorliegenden Stellungnahmen in zentralen Fragen nach wie vor erheblich. Insbesondere Rechtsprechung und Rechtswissenschaft stehen sich - trotz neuerdings feststellbarer Tendenzen zur Annäherung - in unversöhnlicher Gegnerschaft gegenüber. Probleme stellen sich dabei vor allem in zweierlei Hinsicht: Im Hinblick auf die der GoA wesensimmanente Legitimations- und Ausgleichsfunktion geht es einmal um die Klärung, inwieweit ein der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienendes 1
S. z. B. R. Bartlsperger, Verkehrssicherungspflicht und öffentliche Sache, Hamburg 1970, S. 12 ff.; ders., NJW 1968, 1697 ff. 2 R. Bartlsperger, ZBinnSch Bd. 102 (1975), 439 ff. 34 FS Bartlsperger
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Handeln unter dem Gesichtspunkt einer GoA legitimiert werden kann; zum anderen ist zu untersuchen, inwieweit bei einem solchen Handeln, durch das (zumindest auch) die Geschäfte einer anderen Person geführt werden, der Handelnde dieser gegenüber einen Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen besitzt, die ihm in Verbindung mit seinem Handeln erwuchsen. Die angesprochenen Probleme stellen sich bei verschiedenen Fallgruppen, die möglicherweise eine unterschiedliche rechtliche Bewertung erforderlich machen: sie betreffen einmal die Konstellation, bei welcher die Polizei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bekämpft und hierbei zugleich (auch) eine Pflicht eines Privaten erfüllt oder in sonstiger Weise dessen Geschäft führt, etwa indem sie zu dessen Schutz tätig wird oder diesen in sonstiger Weise begünstigt. Ein Beispiel für eine solche Geschäftsführung bildet etwa der Richard Bartlsperger beschäftigende Fall, bei dem ein Anker durch die Wasserschutzpolizei aus einer Fahrrinne geborgen wurde. 3 Für eine zweite Fallkonstellation ist kennzeichnend, daß ein Hoheitsträger das Geschäft einer anderen für die Gefahrenabwehr zuständigen juristischen Person des öffentlichen Rechts führt. Ein solcher Fall liegt beispielsweise dann vor, wenn ein Verwaltungsträger für die Sicherung einer öffentlichen Verkehrsanlage Sorge trägt, obwohl diese grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich eines anderen, mit der Gefahrenabwehr betrauten Hoheitsträgers fällt. 4 In Betracht kommt ferner, daß ein Privater anstelle der für die Gefahrenabwehr zuständigen Polizei- und Ordnungsbehörde handelt, um eine Gefahr abzuwehren. Das traf etwa bei dem durch das BVerwG zu beurteilenden Fall zu, bei dem ein Privater ein verfallenes Uferdeck neu anlegte, um ein in seinem Eigentum stehendes Tanklager vor Gefahren aus dem Verfall des Uferdecks zu schützen. 5 Ein Beispiel für die letzte in diesem Zusammenhang in Betracht kommende Fallgruppe ist etwa dann gegeben, wenn ein Privater die einem anderen Privaten obliegende Verkehrssicherungspflicht erfüllt. I m folgenden wird zu untersuchen sein, inwieweit bei den verschiedenen Fallgruppen unmittelbar oder jedenfalls analog auf die Vorschriften der GoA zurückgegriffen werden kann, inwieweit sich auf diese Weise ein der Gefahrenabwehr dienendes Handeln legitimieren läßt und inwieweit sich aus ihm Ausgleichsansprüche ableiten lassen. Dabei wird unter II. die Geschäftsführung eines polizeilichen Hoheitsträgers für einen Privaten, unter III. die Geschäftsführung eines Hoheitsträgers für die sonst für die Gefahrenabwehr zuständige juristische Person des öffentlichen Rechts, unter IV. die Geschäftsführung eines Privaten für die Polizei und schließlich unter V. die Geschäftsführung eines Privaten für einen anderen Privaten behandelt.
3 BGH, NJW 1969, 1205 ff. und dazu Bartlsperger 4 B G H Z 40, 18 ff. 5 BVerwGE 80, 170 ff.
(Anm. 2); s. auch B G H Z 65, 384 ff.
Geschäftsführung ohne Auftrag zum Zwecke der Gefahrenabwehr
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I I . Die Geschäftsführung der Polizei für Private Die Frage nach der Zulässigkeit einer GoA der Polizei für einen Privaten stellt sich überall dort, wo die Polizei (auch) ein fremdes Geschäft besorgt. Das kommt einmal dann in Betracht, wenn die Polizei anstelle eines materiell polizeipflichtigen Privaten (Störers) zum Zwecke der Gefahrenabwehr tätig wird, zum anderen aber auch dann, wenn die Polizei eine für einen Privaten bestehende Gefahr abwehrt, d. h. zu dessen Schutz tätig wird. Die Führung eines fremden Geschäfts kann aber auch dann gegeben sein, wenn die Polizei einen Unbeteiligten (Nichtstörer) durch einen Verwaltungsakt zu einer Gefahrenabwehrmaßnahme verpflichtet, dann aber die diesem befohlene Handlung an seiner Stelle vornimmt. In all diesen Fällen bedarf es einer Prüfung, ob die Polizei dazu legitimiert ist, das Geschäft des Privaten zu führen (dazu 1.) und inwieweit ihr bei einer Geschäftsführung Ausgleichsansprüche (dazu 2.) zustehen.
1. Keine Legitimation unter dem Gesichtspunkt der GoA für Private Die Legitimation eines der Gefahrenabwehr dienenden Handelns von Polizeibehörden unter dem Gesichtspunkt einer im Interesse Privater erfolgenden GoA sieht sich mit einer Reihe gravierender Einwände konfrontiert.
a) Keine Legitimation durch unmittelbare der §§ 677 ff. BGB
Anwendung
Einer unmittelbaren Heranziehung der §§ 677 ff. BGB auf polizeiliches Handeln steht bereits der Umstand entgegen, daß diese Vorschriften auf das in den Polizeiund Ordnungsgesetzen geregelte öffentlichrechtliche Handeln der Polizeibehörden nicht unmittelbar anwendbar sind. Dies ergibt sich schon aus ihrer systematischen Stellung im BGB, das grundsätzlich nur privatrechtliches Handeln zum Gegenstand hat. Dem Bundesgesetzgeber fehlte sogar - von Sonderfällen abgesehen6 die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung entsprechender polizeilicher Befugnisse. Deren Normierung fällt grundsätzlich in die für das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht nach Art. 70 I GG begründete ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Daß es sich bei einem Handeln der Polizeibehörden im Rahmen der Gefahrenabwehr selbst dann, wenn die Polizei (auch) die Geschäfte Privater besorgen will, um eine öffentlichrechtliche Tätigkeit handelt, wird bereits daran deutlich, daß die Polizei nach den einschlägigen Polizei- und Ordnungsgesetzen auch den Interessen der durch ein polizeiliches Handeln betroffenen Pri6
Dazu z. B. W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl., Heidelberg 2005, Rn. 25 ff. 3
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vaten Rechnung zu tragen hat. Deshalb bleibt in bezug auf das polizeiliche Handeln kein Raum für eine (jedenfalls) partiell derselben Zielsetzung verpflichtete privatrechtliche GoA nach Maßgabe der §§ 677 ff. BGB. Eine auf die unmittelbare Anwendung der §§ 677 ff. BGB gestützte Geschäftsführung von Polizeibehörden wäre auch damit unvereinbar, daß sich das der polizeirechtlichen Geschäftsführung vorgelagerte Rechtsverhältnis typischerweise als öffentlichrechtlich darstellt. Das gilt sowohl für das Rechtsverhältnis zwischen dem Polizeiträger und einem Störer, dessen Geschäft die Polizei wahrnimmt, indem sie auf die Erfüllung seiner materiellen Polizeipflichten hinwirkt, als auch für das Rechtsverhältnis zwischen dem Polizeiträger und einem Privaten, zu dessen Schutz die Polizei tätig wird. Bezeichnenderweise stellte sich denn auch eine vertragliche Regelung zwischen einem Privaten und der geschäftsführenden Polizei, welche die Ausübung der polizeilichen Tätigkeit zum Gegenstand hätte, nach den § § 5 4 ff. L V w V f G stets als eine öffentlichrechtliche dar; dann hat aber dasselbe auch für ein nicht vertraglich geregeltes gesetzliches Geschäftsbesorgungsverhältnis zu gelten, das das vertragliche Rechtsverhältnis substituiert. 7 Eine unmittelbare Anwendung der §§ 677 ff. BGB läßt sich auch nicht durch die Bejahung einer Doppelnatur 8 polizeilichen Handelns legitimieren. Zwar ist es rechtslogisch nicht ausgeschlossen, eine Handlung je nach der mit ihr verfolgten Zielsetzung auf zwei verschiedene Rechtsgrundlagen zu stützen und damit, soweit der Schutz öffentlicher Interessen erstrebt wird, von einem öffentlichrechtlichen Handeln auszugehen, soweit hingegen der Schutz privater Interessen bezweckt wird, ein privatrechtliches Handeln anzunehmen. Es stellt denn auch keinen logischen Widerspruch dar, wenn man die Handlung eines Hoheitsträgers etwa unter öffentlichrechtlichen Gesichtspunkten als nicht gerechtfertigt ansieht, hingegen unter privatrechtlichen Aspekten als legitimiert bewertet. Die Bejahung einer solchen Doppelnatur müßte im vorliegenden Zusammenhang aber ganz spezifische Probleme aufwerfen und verbietet sich deshalb aus rechtsdogmatischen Gründen. Die Problematik einer derartigen, an der jeweiligen Interessenwahrnehmung orientierten Aufspaltung der Rechtsnatur des Handelns wird bereits daran deutlich, daß nach heutigem grundrechtlich geprägtem Verständnis polizeiliche Maßnahmen nicht nur dem öffentlichen, sondern auch dem privaten Interesse dienen 9 und im übrigen auch ein privatrechtliches Handeln eines Geschäftsführers nach § 679 BGB im öffentlichen Interesse liegen kann, ohne daß sich hierdurch an seiner pri7 Vom öffentlichrechtlichen Rechtscharakter einer solchen Geschäftsführung durch Hoheitsträger wird in der Literatur ganz überwiegend ausgegangen, vgl. z. B. Bartlsperger (Anm. 2), 439 ff.; C. Nedden, Die Geschäftsführung ohne Auftrag im öffentlichen Recht, Berlin 1994, S. 110 ff.; F. Schoch, Die Verwaltung 38 (2005), 91 (100 f.); a.A. aber die Rspr; s. z. B. B G H Z 63, 167 (170); 65, 354; 65, 384 (387 ff.). 8 Zur Problematik der Annahme einer solchen Doppelnatur s. auch Bartlsperger, (Anm. 2), 439 (440 ff.); J. Scherer, NJW 1989, 2724 ff. sowie allgemein W.-R. Schenke/F. Kopp, V w G O , 14. Aufl., München 2005, Anh. § 42, Rn. 8 ff.; H.-W. Laubinger, VerwArch. Bd. 77 (1986), 421 ff.; A. Voßkuhle, SächsVBl. 1995, 54 ff.
Schenke (Anm. 6), Rn.
0.
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vatrechtlichen Rechtsnatur etwas ändert. Kann damit aber die Abgrenzung eines öffentlichrechtlichen und eines privatrechtlichen Handelns des Polizeiträgers nicht anhand der hierbei verfolgten Interessen bewerkstelligt werden, so legt dies nicht nur aus Gründen der Rechtssicherheit 10 eine einheitliche öffentlichrechtliche Rechtsnatur des der Gefahrenabwehr dienenden polizeilichen Handelns nahe und spricht für eine grundsätzliche Spezialität polizei- und ordnungsrechtlicher Bestimmungen. Vor allem würde aber die im Hinblick auf die hier typischerweise bestehende Interessenpluralität des Handelns regelmäßig anzunehmende Doppelnatur das polizeiliche Handeln als ein Kernstück der Staatlichkeit auch einem privatrechtlichen Rechtsregime unterworfen, für das ganz andere Grundsätze als für ein hoheitliches Handeln gelten, was - wie i m Lauf der Untersuchung noch näher zu zeigen sein wird - zwangsläufig zu schwerwiegenden Friktionen führen müßte. Die Annahme einer solchen Doppelnatur paßt vor allem nicht in die heutige Verfassungslandschaft. Eine derartige Teilprivatisierung des polizeilichen Handelns und eine durch sie ermöglichte Flucht der Polizei in das Privatrecht ist - wie später noch näher zu zeigen sein wird - mit der Preisgabe wichtiger rechtsstaatlicher Prinzipien erkauft und damit auch verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt. Die ihr zugrundeliegende Aufspaltung des Staates in ein hoheitlich und ein privatrechtlich agierendes Rechtssubjekt stellt sich bei näherer Hinsicht als ein Relikt der sonst als längst überwunden geltenden Fiskustheorie dar. Dabei provoziert dieser Einsatz freilich hier noch ganz besondere Bedenken, weil er entgegen der mit der Fiskustheorie ursprünglich verbundenen Zielsetzung, die Rechtsstellung des Bürgers gegenüber dem Staat zu stärken, paradoxerweise gerade umgekehrt dazu dient, die Eingriffsbefugnisse des Staates gegenüber dem Bürger zu erweitern. Deutlich demonstrieren läßt sich die Unhaltbarkeit der Doppelnatur staatlichen polizeilichen Handelns an der neueren Judikatur des BGH, der Befürworter einer solchen Doppelnatur ist und sich hierbei in Widersprüche verstrickt. Nach seiner Auffassung soll ein hoheitsrechtliches Handeln der Polizei zugleich auch eine privatrechtliche GoA zugunsten eines durch die Geschäftsführung begünstigten Privaten begründen können. Deshalb sei in einem solchen Fall für die Polizei prinzipiell ein Aufwendungsersatzanspruch gegenüber dem privaten Geschäftsführer in unmittelbarer Anwendung der §§ 683, 670 BGB begründet. Soweit polizeirechtliche Regelungen aber Kostenersatzansprüche der Polizei abschließend regelten, schlössen sie einen Aufwendungsersatzanspruch gem. §§ 683, 670 BGB aus. 11 Diese Ansicht ist jedoch mit der Vorstellung einer Doppelnatur des polizeilichen Handelns deshalb unvereinbar, weil unter ihrer Zugrundelegung der nur für das Polizeirecht zuständige Landesgesetzgeber aus Kompetenzgründen gar nicht in der Lage wäre, einen bundesrechtlich begründeten privatrechtlichen Anspruch auszuschließen, und ein solcher Ausschluß sich dogmatisch allenfalls dann begründen ließe, wenn der Aufwendungsersatzanspruch nicht privatrechtlicher, sondern öfS. dazu H. J. Wolff/ Rn. 14. "
Ο. Bachof/R.
BGH, NJW 2004, 513 (514 f.).
Stober, Verwaltungsrecht Bd. II, München 2000, § 55
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fentlichrechtlicher Rechtsnatur wäre. Davon ganz abgesehen, wäre eine solche landesrechtliche Regelung auch mit dem Vorrang des Bundesrechts unvereinbar. Entsprechende Probleme würden sich bei Bejahung einer Doppelnatur des polizeilichen Handelns ferner dort ergeben, wo das polizeiliche Handeln (auch) dem Schutz Privater dient, deren Individualrechtsgüter gefährdet werden. Hier ist man sich weitgehend einig, daß Aufwendungsersatzansprüche Privater, wie sie sich bei einer Anwendbarkeit der privatrechtlichen Vorschriften über GoA gem. §§ 683, 670 BGB ergeben müßten, im Hinblick darauf ausscheiden, daß die polizeirechtlichen Landesgesetze einen Kostenersatzanspruch Privater ausschließen. Unter Zugrundelegung einer Doppelnatur polizeilichen Handelns ließe sich dieses Ergebnis aber rechtsdogmatisch nicht erklären.
b) Keine Legitimation
durch analoge Anwendung der §§ 677ff.
BGB
Scheidet eine unmittelbare Anwendung der §§ 677 ff. BGB auf ein auch den Interessen Privater dienendes polizeiliches Handeln im Hinblick auf dessen öffentlichrechtlichen Charakter aus, so könnte sich möglicherweise zumindest in bestimmten Fällen eine Legitimation polizeilichen Handelns in analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB begründen lassen. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, ist aber selbst dies nicht möglich. Die Gründe, aus denen heraus eine analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB zur Legitimation polizeilichen Handelns ausscheidet, indizieren (jedenfalls teilweise) zugleich, daß selbst bei einer (hier abgelehnten) Doppelnatur polizeilichen Handelns und einem damit eröffneten Weg zu einer unmittelbaren Anwendung der §§ 677 ff. BGB die Legitimation polizeilichen Handelns unter dem Gesichtspunkt einer privatrechtlichen GoA nicht überzeugte.
aa) Keine Geschäftsführung für einen anderen Es erscheint bereits fraglich, ob ein Handeln der Polizei, das der öffentlichen Sicherheit dient und damit den ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgabenbereich betrifft, analog § 677 BGB das Geschäft eines „anderen" zu besorgen vermag. Die extensive Interpretation 12 dieses Tatbestandsmerkmals in Verbindung mit der GoA eines Privaten für einen anderen Privaten, nach der es für die Anwendung des § 677 BGB bereits genügen soll, wenn auch das Geschäft eines anderen besorgt wird, erfährt ihre wesentliche Rechtfertigung hier nicht primär aus der mit ihr bezweckten Prämierung eines (bei Vorhandensein eines Eigeninteresses im übrigen üblicherweise fehlenden) altruistischen Verhaltens des Geschäftsführers, sondern aus der Privatautonomie des Geschäftsführers und dem spezifischen Bedürfnis, einen auf andere Weise nicht möglichen gerechten vermögensrechtlichen Ausgleich zwischen dem Geschäftsführer und einem durch dessen Geschäftsführung begün12
Zur Problematik einer solche extensiven Interpretation auch im Zivilrecht D. Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl., Köln 2004, Rn. 412 ff.
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stigten Dritten herbeizuführen. Deshalb läßt sich diese extensive Interpretation nicht unbesehen auf die Geschäftsführung eines Hoheitsträgers, die der Erfüllung einer diesem durch den Gesetzgeber zur Pflicht gemachten Aufgabe dient, übertragen, 1 3 zumal wenn der Gesetzgeber hier bereits auf andere Weise einen vermögensrechtlichen Ausgleich bewirkt hat. Ganz abgesehen davon, daß hier die Annahme eines Geschäftsführungswillens der Polizei für eine Privatperson in noch ungleich stärkerem Umfang als bei einer Geschäftsführung eines Privaten oftmals auf eine reine Fiktion hinauslaufen müsste, 14 spricht gegen die Bejahung einer Geschäftsführung für Private deshalb vor allem, daß das polizeiliche Handeln nach Maßgabe der polizeirechtlichen Bestimmungen nur dem Gesetz unterworfen sein soll. Damit bleibt aber kein Raum dafür, es überdies an dem Willen eines privaten Geschäftsherrn auszurichten und diesem Rechenschaft zu legen (s. § 681 BGB i. V. mit § 666 BGB), wie es jedoch in Konsequenz einer analogen Anwendung der §§ 677 ff. BGB unabweisbar wäre. Da das polizeiliche Handeln von Gesetzes wegen neben dem öffentlichen Interesse stets auch den Interessen Privater - und zwar sowohl den Interessen der hierdurch Belasteten wie auch den Interessen der hierdurch Begünstigten - Rechnung zu tragen hat, besteht auch aus dieser Warte betrachtet kein Bedürfnis zur Aktivierung des am privaten Interesse ausgerichteten Instituts der privatrechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag. Das gilt um so mehr, als ein Rückgriff auf die §§ 677 ff. BGB die gesetzliche Synthese von öffentlichen und privaten Interessen, wie sie in den Polizeigesetzen ihren Ausdruck gefunden hat, in Frage stellen würde.
bb) „Berechtigung" bei polizeigesetzlicher Ermächtigungsgrundlage Auch wenn man sich über das eben genannte Bedenken hinwegsetzt, scheitert eine Legitimation des polizeilichen Handelns in analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB aber möglicherweise doch daran, daß die Polizeibehörden bereits aufgrund anderer gesetzlicher Bestimmungen i . S . des analog heranzuziehenden § 677 BGB dem Geschäftsherrn gegenüber zur Geschäftsführung „berechtigt" sind. Dabei sind in diesem Zusammenhang zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden. In Betracht zu ziehen ist hier einmal die Konstellation, bei welcher die Polizei dem Geschäftsherrn gegenüber bereits aufgrund des Polizeirechts handlungsbefugt ist, und zum anderen jene, bei welcher die Polizei durch die Polizeigesetze nicht zu einer (möglicherweise bereits getätigten) Gefahrenabwehrmaßnahme berechtigt ist und ihr Handeln nunmehr unter dem Gesichtspunkt der GoA zu legitimieren sucht. 13 Für ihre Übertragung auf das öffentliche Recht aber B G H Z 40, 28 (31); 62, 186 (189); 63, 167 (170); 65, 354 (358); a.A. aber in Verbindung mit der Fürsorgepflicht einer Justizvollzugsanstalt B G H , NJW 1990, 1604(1605). 14 Vom Fehlen einer Geschäftsführungswillens für andere gehen auch Schock (Anm. 7), 105 f. sowie St. Detterheck/K. Windthorst/H.-D. Sproll, Staatshaftungsrecht, München 2000, § 21 Rn. 63 sowie in der Rspr. BayVGH, BayVBl. 2003, 116(117) aus.
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Eingegangen werden soll dabei zunächst auf den ersten Fall, bei dem die Polizei schon aufgrund der einschlägigen Polizei- und Ordnungsgesetze zu einem Handeln befugt ist. Zwar scheint die Frage, ob hier ein polizeiliches Handeln auch durch eine (analoge oder bei unterstellter Doppelnatur unmittelbare) Anwendung der §§ 677 ff. BGB gerechtfertigt werden kann, auf den ersten Blick nur theoretisch und allenfalls von akademischem Interesse zu sein. Bei näherer Hinsicht zeigt sich aber, daß sie sehr wohl auch praktische Bedeutung gewinnen kann. Das wird dann deutlich, wenn ein polizeirechtliches Handeln zwar in rechtmäßiger Weise hätte getätigt werden können, seine konkrete Vornahme jedoch nicht den hierfür geltenden verfahrensrechtlichen oder materiellrechtlichen Erfordernissen genügte. Hier käme bei einer Anwendung der §§ 677 ff. BGB dann immer noch eine Legitimation des polizeilichen Handelns unter dem Gesichtspunkt einer GoA in Betracht. Bedeutung hat die Frage, ob sich polizeiliches Handeln unter Rückgriff auf die GoA legitimieren läßt, vor allem aber auch deshalb, weil unter ihrer Zugrundelegung der Weg zur Zuerkennung von Aufwendungsersatzansprüchen zumindest geebnet würde (dazu unten II. 2.). Das Vorliegen der nach den §§ 677 ff. BGB erforderlichen Voraussetzungen für eine Legitimation des Handelns des Geschäftsführers stellt nämlich eine notwendige, wenn auch noch keine hinreichende Bedingung für die Zuerkennung von Aufwendungsersatzansprüchen in unmittelbarer oder analoger Anwendung der §§ 683, 670 BGB dar. Eine auf die §§ 677 ff. BGB gestützte Legitimation polizeilichen Handelns müßte bei Bestehen einer anderweitigen polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlage bereits daran scheitern, daß hier die Polizei aufgrund anderer Vorschriften berechtigt wäre, das Geschäft für den Geschäftsherrn zu führen 1 5 und es damit auch in dieser Hinsicht an einem für die Anwendung der §§ 677 ff. BGB erforderlichen Tatbestandsmerkmal fehlte. Die Ansicht, hier stehe das Bestehen einer polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlage der Bejahung einer Legitimationswirkung unter dem Aspekt einer privatrechtlichen GoA deshalb nicht im Wege, weil die Polizei jedenfalls nicht zu einem keinen verfahrensrechtlichen Bindungen unterliegenden privatrechtlichen Handeln berechtigt sei, 1 6 findet im Wortlaut des § 677 I BGB keine ausreichende Stütze. Dort wird nicht darauf abgestellt, aufgrund welcher Rechtsvorschriften der Geschäftsführer zum Handeln berechtigt ist, weshalb auch eine öffentlichrechtliche Berechtigung eine GoA ausschließt. 17 Dies bestätigen auch teleologische und systematische Erwägungen. Besteht nämlich eine öffentlichrechtliche Berechtigung zum Handeln, so besteht kein Bedürfnis, daneben noch eine privatrechtliche Legitimation einzuräumen. Auch verschiedene auf eine 15 So z. B. auch H.-U. Erichsen, in: ders. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., Berlin 2002, § 29 Rn. 17; H. Maurer, JuS 1970, 561 (563); F. Schoch, Jura 1994, 241 (244). 16
Dahin tendierend aber Nedden (Anm. 7), S. 149.
17 So auch Detterbeck/Windthorst/Sproll (Anm. 14), § 21 Rn. 64; Schoch (Anm. 7), 106; M. Staake, JA 2004, 800 (804); in der Rspr. O V G Hamburg, N V w Z - R R 1995, 369 (370); V G H BW, VB1BW 2002, 252 (254).
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GoA nach den §§ 677 ff. BGB anwendbare Vorschriften machen nur dann einen Sinn, wenn die Geschäftsführung ausschließlich auf einer privatautonomen Entscheidung des Geschäftsführers beruht. Nur von daher wird etwa die Haftungsprivilegierung des § 680 BGB verständlich, nach der der Geschäftsführer dort, wo sein Tätigwerden die Abwehr einer dem Geschäftsherrn drohenden dringenden Gefahr bezweckt, lediglich Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zu vertreten hat. Für diese Regelung fehlte es hingegen an einer nachvollziehbaren Rechtfertigung, wenn die Geschäftsführung zugleich auch dem Vollzug der der Polizei zugewiesenen Aufgabe der Gefahrenabwehr dient. In diesem Fall bereitete es zudem Schwierigkeiten, die Bejahung eines Aufwendungsersatzanspruchs in entsprechender Anwendung der §§ 683, 670 BGB zu legitimieren, obwohl hier bei polizeilichen Gefahrenabwehrmaßnahmen schon anderweitige Kostenersatzansprüche vorgesehen sind, die sich inhaltlich nicht voll mit einem zivilrechtlichen Aufwendungsersatzanspruch decken müssen (dazu näher unten II. 2.). Auch die Vorschrift des § 678 BGB, die bei einer unberechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag eine verschuldensunabhängige Haftung des Geschäftsführers für einen durch die Geschäftsführung verursachten Schaden vorsieht, müßte bei ihrer Anwendung auf ein polizeiliches Handeln zu Friktionen i m System der öffentlichrechtlichen Ersatzleistungen führen. Nicht überzeugend ist schließlich auch die Ansicht des V G H B W , 1 8 der bei der Frage nach der Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB auf ein polizeiliches Handeln in einer neueren Entscheidung danach differenzieren will, ob die Polizei einen privaten Störer bereits zu einer Gefahrenbeseitigung verpflichtet hat oder bisher eine derartige Aufforderung unterblieb. Während im ersten Fall bereits eine Berechtigung der Polizei gegenüber dem Störer bestehe und deshalb eine Anwendung der §§ 677 ff. BGB scheitere, sei diese hingegen dann zu bejahen, wenn die Polizei den Störer noch nicht zur Gefahrenabwehr angehalten habe. Dieser Auffassung ist schon deshalb nicht zu folgen, weil in beiden Fällen die Polizei berechtigt und in der Lage ist, gegenüber einem Störer auf die Vornahme gefahrenabwehrender Maßnahmen hinzuwirken und das Vorliegen einer Berechtigung i. S. des § 677 I BGB - wie auch teleologsche Gesichtspunkte indizieren - nicht davon abhängen kann, ob die Polizei bereits von der Berechtigung zum Erlaß eines Verwaltungsakts Gebrauch gemacht hat. Ohnehin bestehen die materiellen Polizeipflichten eines Störers schon vor dessen polizeilicher Inanspruchnahme. 19 Zudem erweckte es besondere Bedenken, wenn der Verzicht auf den Einsatz des polizeirechtlichen Handlungsinstrumentariums und dessen Substitution durch eine privatrechtliche GoA, die nicht in derselben Weise rechtsstaatlichen Bindungen unterliegt, durch die Zuerkennung von Aufwendungsersatzansprüchen gem. §§ 683, 670 BGB prämiert würde, die inhaltlich weiter zu reichen vermöchten als ein polizeirechtlicher Kostenersatzanspruch. Der gravierendste Einwand gegen diese Auffassung gründet aber darauf, daß die Heranziehung der §§ 677 ff. BGB der Sache nach auf eine i« V G H BW, N V w Z - R R 2004, 473; krit. hierzu Schenke (Anm. 6), Rn. 700. Dazu näher Schenke (Anm. 6), Rn. 228.
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polizeiliche unmittelbare Ausführung bzw. einen Sofortvollzug hinauslaufen müßte, ohne daß deren rechtliche Voraussetzungen vorzuliegen brauchen - und dies, obschon bei einer rechtswidrigen unmittelbaren Ausführung gerade keine Kostenersatzansprüche des Polizeiträgers gegeben wären, wie sie mit der Konstruktion einer GoA hingegen begründet werden sollen (s. näher unten II. 2.). Eine anderweitig begründete Berechtigung der Polizei gegenüber einem Bürger, die eine Anwendung der §§ 677 ff. BGB ausschließt, kommt aber nicht nur gegenüber einem Störer, sondern auch gegenüber einem Nichtstörer in Betracht; hier allerdings in der Tat erst dann, wenn dieser durch einen Verwaltungsakt der Polizei zu einem Handeln verpflichtet wird. M i t dem Erlaß des Verwaltungsakts ergibt sich für die Polizei das Recht, von dem Nichtstörer dieses Handeln zu fordern. Das würde i m Hinblick auf die grundsätzliche Rechtswirksamkeit eines rechtswidrigen Verwaltungsakts im übrigen - ebenso wie bei der Inanspruchnahme eines Störers selbst dann gelten, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig wäre, aber bisher noch nicht aufgehoben wurde. 2 0 Gegen den Versuch, trotz Bestehens einer polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlage bzw. Erlasses eines rechtswirksamen, den Privaten zu einem Handeln verpflichtenden Verwaltungsakts eine polizeiliche „Geschäftsführung" unter (analogem oder gar unmittelbarem) Rückgriff auf das Institut der GoA zu legitimieren, sprechen aber noch weitere Gründe. So dürfte es hier regelmäßig an der für eine GoA erforderlichen Voraussetzung mangeln, daß die den Geschäftsherrn belastende Geschäftsführung dessen wirklichem oder mutmaßlichem Willen entspricht oder es bei ihr um die im öffentlichen Interesse liegende Erfüllung seiner Pflicht i. S. des § 679 BGB geht. Ist der polizeipflichtige Störer oder ein durch die Polizei in Anspruch genommener Nichtstörer nämlich von sich aus nicht bereit, eine ihm auferlegte Pflicht zu erfüllen, so entspricht eine der Erfüllung dieser Pflicht dienende Geschäftsführung naturgemäß nicht seinem Willen. Aber auch ein öffentliches Interesse an der Erfüllung seiner Pflicht durch eine Geschäftsführung eines polizeilichen Hoheitsträgers scheidet dann aus, wenn die Polizei aufgrund einer polizeirechtlichen Ermächtigung selbst in der Lage ist, eine solche Pflicht durch Inanspruchnahme des Störers bzw. eines durch sie verpflichteten Nichtstörers gegebenenfalls unter Einsatz von Verwaltungsvollstreckungsmitteln - durchzusetzen oder jedenfalls im Wege der unmittelbaren Ausführung bzw. des Sofortvollzugs auf die Erfüllung dieser Pflicht hinzuwirken. Die mit einer solchen öffentlichrechtlichen Verfahrensweise aus rechtsstaatlichen Gründen verbundenen verfahrensrechtlichen wie auch materiellrechtlichen Erfordernisse würden bei Legitimation einer GoA analog den §§ 677 ff. BGB ausgehöhlt. Erfolgte die polizeiliche Inanspruchnahme einer Person aufgrund eines rechtswidrigen Verwaltungsakts, dürfte ohnehin schon aus diesem Grund ein öffentliches Interesse an der Erfüllung der durch den Verwaltungsakt begründeten Pflicht ausscheiden.
20 S. dazu Schenke (Anm. 6), Rn. 540 ff.
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cc) Keine Legitimation beim Fehlen einer polizeigesetzlichen Ermächtigungsgrundlage Eine Legitimation des polizeilichen Handelns in analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB kommt jedoch bei der zweiten oben angesprochenen Fallkonstellation in Betracht, bei welcher die Polizei nicht bereits aufgrund polizeirechtlicher Vorschriften zu einer Gefahrenabwehrmaßnahme ermächtigt ist. Hier wäre die Polizei jedenfalls nicht bereits aufgrund anderer Vorschriften zu einer Geschäftsführung für den Geschäftsherrn „berechtigt" 2 1 , so daß sich damit eine Lückenfüllung unter Rückgriff auf das Institut der GoA prima facie weit eher anzubieten scheint 2 2 . Bei näherer Hinsicht zeigt sich aber, daß hier eine Legitimation polizeilichen Handelns aus anderen Gründen abzulehnen ist. Bedenken ergeben sich dabei unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Gesetzes (1) und des Vorbehalts des Gesetzes (2) und auch deshalb, weil sie weder dem wirklichen noch dem mutmaßlichen Willen des privaten Geschäftsherrn entspricht (3), noch der im öffentlichen Interesse liegenden Erfüllung einer Pflicht des Geschäftsherrn dient (4).
( 1 ) Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes Einer Legitimation polizeilichen Handelns analog §§ 677 ff. BGB steht in der Regel bereits der Vorrang des Gesetzes entgegen. Die Polizei- und Ordnungsgesetze regeln nämlich meist abschließend, unter welchen Voraussetzungen den Polizeiund Ordnungsbehörden ein dem Schutz der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dienendes Verhalten gestattet ist. 2 3 Eine Ergänzung dieser Ermächtigungsgrundlagen durch Rückgriff auf die Vorschriften der §§ 677 ff. BGB, die zur Umgehung der polizeigesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für ein polizeiliches Handeln führen müßte, verbietet sich deshalb schon aus diesem Grund.
(2) Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes Gravierende Bedenken gegen eine nur auf die analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB gestützte Legitimation eines der Gefahrenabwehr dienenden Handelns von Hoheitsbehörden resultierten bei einer den Geschäftsherrn belastenden Gefahrenabwehrmaßnahme aber auch aus dem Vorbehalt des Gesetzes. Zwar mag man sich über diese dann noch hinwegsetzen, wenn die Geschäftführung ohne Auftrag dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspricht, da es hier 21
Anderes gilt allerdings, wenn die Polizei den Störer bereits durch einen Verwaltungsakt in Anspruch genommen hat, denn dieser berechtigt die Polizei selbst bei seiner Rechtswidrigkeit - solange er nicht aufgehoben wird oder ausnahmsweise nichtig ist - zu einer Geschäftsführung gegenüber dem Adressaten des VA. 22 Für eine Anwendung der §§ 677 ff. BGB in diesem Fall Κ Hurst, D V B l . 1965, 757 (759); partiell auch bei fehlender Zuständigkeit H. H. Klein, D V B l . 1968, 166 (167). 2
3 So z. B. auch U. Kischel, VerwArch Bd. 90 (1999), 391 (395 ff.).
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möglicherweise bereits an einem Eingriff oder jedenfalls an dessen Rechtswidrigkeit fehlte und sich deshalb das Erfordernis einer zusätzlichen Ermächtigung nicht aus dem Vorbehalt des Gesetzes ableiten läßt. Ganz unproblematisch ist diese Annahme freilich selbst hier nicht, da eine rechtfertigende Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung des Geschäftsherrn voraussetzte, daß durch die vorgenommene polizeiliche Handlung nur private Rechte des Geschäftsführers und nicht öffentliche Interessen tangiert werden, über die der Betroffene nicht zu disponieren vermag. A u f die schwierige Problematik nach der Möglichkeit und den Grenzen einer Einwilligung in Grundrechtseingriffe braucht aber an dieser Stelle deshalb nicht weiter eingegangen zu werden, weil es an einer solchen ausdrücklichen oder mutmaßlichen Einwilligung des Geschäftsherrn bei Eingriffen in seine Grundrechte regelmäßig fehlen wird. Bezweckte das polizeiliche Handeln jedoch die Führung eines Geschäfts für einen hierdurch Begünstigten, so käme der Problematik einer Legitimation der polizeilichen Tätigkeit nur unter dem Gesichtspunkt eines möglicherweise hieran in Analogie zu den §§ 683, 670 BGB geknüpften Aufwendungsersatzanspruchs des Polizeiträgers gegenüber dem durch seine Geschäftsführung Begünstigten Relevanz zu. Hierbei würden dann allerdings gleichfalls im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes verfassungsrechtliche Zweifel aufgeworfen. Diese stellten sich aber auch dann, wenn die einen Privaten begünstigende Geschäftsführung mit einem gleichzeitigen Eingriff in die Rechte Dritter verbunden ist, denn eine Legitimation polizeilichen Handelns in analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB käme hier nur dann in Frage, wenn (zugleich) auch eine Geschäftsführung für den Belasteten vorläge und einer im Wege einer solchen Analogie begründeten Legitimation der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes nicht im Wege stünde. Praktische Bedeutung kommt der Frage, ob sich gegen eine in analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB begründete Legitimation polizeilichen Handelns im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes verfassungsrechtliche Bedenken ergeben, nach dem vorher Gesagten nur bei einer polizeilichen Geschäftsführung zu, die unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an der Erfüllung einer Verpflichtung des Geschäftsherrn erfolgt. Einwände unter dem Aspekt des Vorbehalts des Gesetzes gründeten sich dabei nicht nur darauf, daß bereits die Begründung einer Eingriffsbefugnis eines Hoheitsträgers im Wege eines Analogieschlusses unter Zugrundelegung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung 24 nicht unproblematisch erschiene; sie resultierten auch aus der generalklauselartigen Weite einer solchermaßen begründeten Ermächtigungsgrundlage, 25 die zusätzliche rechtsstaatliche Bedenken provozierte. Auch hier ließen sich diese - ähnlich wie auch sonst bei einer Heranziehung allgemeiner Rechtfertigungsgründe zur Legitimation hoheitlichen Handelns - nicht vorschnell unter Hinweis darauf entkräften, daß, wenn die §§ 677 ff. BGB eine Rechtfertigung für das Handeln Privater bilden, dies 24 BVerfG, DVB1. 1997,351. 25 Diesbezügliche Bedenken z. B. auch bei Kischel (Anm. 23), 398 f.; H. Maurer, A l l gemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl., München 2004, § 29 Rn. 11; Schach (Anm. 7), 100 f. u. 107.
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dann aber erst recht für das Handeln eines Hoheitsträges zu gelten habe. 2 6 Dieser „Erst-recht-Logik" ist vielmehr entgegenzuhalten, daß bei einer Stützung hoheitlichen Handelns auf allgemeine Rechtfertigungsgründe spezifische verfassungsschwere öffentlichrechtliche Bindungen, wie sie für das Handeln von Hoheitsträgern gelten (so insbesondere verfahrensrechtliche, aus den Grundrechten ableitbare Erfordernisse), nur zu leicht ausgehöhlt werden könnten. Die auf das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes gestützten Bedenken gegen eine entsprechende Heranziehung der zivilrechtlichen Vorschriften über die GoA potenzieren sich noch, wenn man sich vor Augen hält, daß diese nicht nur die mit einer analogen Anwendung der §§ 677 ff. BGB begründete Legitimations Wirkung, sondern auch die hiermit verbundene Ausgleichfunktion mittels einer analogen Anwendung der §§ 683, 670 BGB zur Folge haben müßte. Damit ergäben sich aber im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes nicht nur bei einem unmittelbar mit der Geschäftsführung verbundenen Eingriff des Hoheitsträgers in die Rechtssphäre des Bürgers Probleme, sondern auch dort, wo der Geschäftsherr durch die Geschäftsführung zwar zunächst begünstigt wird, später aber für die mit der Geschäftsführung verbundenen Aufwendungen einzustehen hat.
(3) Grundsätzlich keine Legitimation selbst bei unterstellter Anwendbarkeit der §§ 677ff. BGB Auch wenn man aber nicht von einer abschließenden Regelung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse durch die Polizei- und Ordnungsgesetze ausginge und sich ebenso über die aus dem Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes abzuleitenden Bedenken hinwegsetzte, wäre im übrigen bei unterstellter analoger Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB immer noch keine endgültige Entscheidung über die Berechtigung eines allein auf den Gesichtspunkt der GoA gestützten polizeilichen Handelns getroffen. Zum Tragen käme eine derartige Legitimation nämlich immer nur dann, wenn eine Geschäftsführung entweder dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn entspräche oder jedenfalls einer dem Geschäftsherrn obliegenden Pflicht diente, deren Erfüllung i. S. des § 679 BGB im öffentlichen Interesse läge. Dem mutmaßlichen Willen eines privaten Geschäftsherrn entspricht eine Geschäftsführung aber mit Sicherheit dann nicht, wenn sie zu dessen Belastung führt und diese Belastung nicht zugleich auch der Erfüllung einer Pflicht des Geschäftsherrn dient. Selbst die unmittelbar durch eine Geschäftsführung herbeigeführte Begünstigung braucht aber keineswegs immer dem mutmaßlichen Willen eines privaten Geschäftsherrn zu entsprechen, weil mit ihr bei einer Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB ein Anspruch auf Kostenersatz entsprechend den §§ 683, 670 BGB verbunden wäre und der Geschäftsherr im Hinblick auf diese Pflicht zum Aufwendungsersatz die Geschäftsführung möglicherweise nicht gewollt hätte. Dies kann z. B. auch dann zutreffen, wenn der Geschäftsherr den mit dem Geschäft herbeigeführten Erfolg trotz eines hiermit verbundenen Kostenaufwands zwar gewollt 2
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hätte, dieses Geschäft aber selbst mit einem wesentlich geringeren Kostenaufwand als der Geschäftsführer hätte vornehmen können. In Betracht kommt eine Legitimationswirkung einer GoA in analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB möglicherweise aber noch in den Fällen, in welchen die Geschäftsführung der Erfüllung einer (außerhalb der GoA begründeten) Pflicht des Geschäftsherrn dient, die im öffentlichen Interesse liegt und bezüglich derer dem geschäftsführenden Hoheitsträger keine anderweitige Ermächtigungsgrundlage zu ihrer Durchsetzung zur Verfügung steht. Diese Voraussetzungen werden aber nur selten vorliegen. Besteht nämlich die Pflicht eines Privaten, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt, so wird der Gesetzgeber regelmäßig einen Hoheitsträger ermächtigen, auf die Erfüllung einer solchen Pflicht hinzuwirken. Dann scheidet aber bei einer solchen Konstellation - wie oben gezeigt - eine GoA in analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB durch den zuständigen Hoheitsträger aus, weil dieser gegenüber dem Geschäftsherrn zum Handeln berechtigt ist. Damit bleiben aber für eine GoA nur noch jene Fälle übrig, in denen der geschäftsführende Hoheitsträger für die Handlung unzuständig ist, der zuständige Hoheitsträger aber nicht in der Lage ist, rechtzeitig zu handeln, und die an ihn erfolgte gesetzliche Kompetenzzuweisung nicht als abschließend gedacht ist. Da der Gesetzgeber in solchen Notfällen jedoch vielfach eine Notzuständigkeit der sonst nicht für eine solche Gefahrenabwehrmaßnahme zuständigen Behörden vorsieht, verbietet sich bei ihnen ebenfalls ein Rückgriff auf die Regelungen einer GoA [s. dazu näher unten III. 1. a)]. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber mit der Nichteinräumung einer Notkompetenz zugleich zum Ausdruck bringt, daß er eine solche ausschließen will. Selbst wenn es aber an einer gesetzlichen Begründung einer solchen Notzuständigkeit mangelt und daraus nicht zugleich auf den abschließenden Charakter gesetzlicher Zuständigkeitsregelungen geschlossen werden könnte, ist damit - von sich bei belastenden Maßnahmen stellenden Bedenken aus dem Prinzip des Gesetzesvorbehalts einmal abstrahiert - eine Legitimation des Handelns des Hoheitsträgers unter dem Aspekt der GoA nicht zwingend geboten. Häufig wird hier vielmehr eine analoge Anwendung der eine Notzuständigkeit regelnden landesrechtlichen Bestimmungen 2 7 weit näher liegen als der unter Kompetenzgesichtspunkten nicht unproblematische Rekurs auf die bundesrechtlichen Vorschriften der §§ 677 ff. BGB. Das gilt um so mehr, als die Anwendung der §§ 677 ff. BGB auf das polizeiliche Handeln des Geschäftsführers - anders als eine Notzuständigkeit - dieses ohnehin nur gegenüber dem Geschäftsherrn legitimierte, nicht hingegen zu Eingriffen in die Rechte dritter Personen ermächtigte.
27 Für eine analoge Anwendung des unmittelbar nur die örtliche Zuständigkeit betreffenden § 3 I V V w V f G auch auf die sachliche Zuständigkeit z. B. F. O. Kopp/U. Ramsauer, V w V f G , 8. Aufl., München 2003, § 3 Rn. 54 m. w. N.; a.A. H. J. Bonk/H. Schmitz, in: P. Stelkens/H. J. B o n k / M . Sachs, V w V f G , 6. Aufl., München 2001, § 3 Rn. 40.
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2. Keine Aufwendungsersatzansprüche der Polizei a) Mangelnde Legitimation indiziert Unanwendbarkeit der §§ 683, 670 BGB Schon die oben aufgezeigten vielfältigen Gründe, aus denen heraus sich eine Legitimation polizeilichen Handelns in direkter oder analoger Anwendung der §§ 677 ff. BGB verbietet, indizieren nicht nur wegen des engen systematisch-teleologischen Zusammenhangs zwischen der Legitimations- und der Ausgleichsfunktion der GoA zugleich das Fehlen polizeilicher Aufwendungsersatzansprüche. Dies folgt vielmehr schon daraus, daß - wie bereits oben erwähnt [II. 1. b) bb)] - das Vorliegen der Legitimationsvoraussetzungen zugleich notwendige Bedingung für die Zuerkennung von Aufwendungsersatzansprüchen analog §§ 683, 670 BGB darstellt. Deren Zuerkennung provozierte aber sogar noch zusätzliche spezifische Einwände.
b) Verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber einer analogen Anwendung der §§ 683, 670 BGB Verfassungsrechtliche Einwände gegen eine Analogie zu den §§ 683, 670 BGB gründen sich schon darauf, daß sich eine derartige Analogie zusätzlich zu Lasten Privater auswirkte. Damit müßten sich die Bedenken gegen eine mittels einer Analogie begründete Legitimation polizeilichen Handelns noch weiter potenzieren. Das gilt um so mehr, als sich für den Privaten aus einer solchen Analogie selbst bei einem ihn begünstigenden und seinem Schutz dienenden polizeilichen Handeln Belastungen ergeben würden. Diese Analogie ließe sich wegen der mit ihr verbundenen Ermächtigung eines Hoheitsträgers zu Eingriffen in Freiheit oder Eigentum nur schwer mit dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Vorbehalt des Gesetzes in Einklang bringen. 2 8 Zudem erschiene es auch unter bundesstaatlichen Gesichtspunkten fragwürdig, eine bundesrechtliche Vorschrift zur Schließung von Lücken im Landesrecht heranzuziehen und durch eine Anknüpfung an das privatrechtliche Institut der GoA das System der öffentlichrechtlichen Ersatzleistungen anzureichern. Entsprechende Einwände ließen sich auch hier nicht mit dem Hinweis ausräumen, der GoA liege ein allgemeiner, im Privatrecht wie auch im öffentlichen Recht gleichermaßen geltender Rechtsgedanke zugrunde; 2 9 zumindest ist bisher ein Nachweis für diese Behauptung, jedenfalls in bezug auf das Bestehen eines 28 Sojedenfalls BVerfG, D V B l . 1997, 351 f. mit krit. Anmerkung von J. Schwabe. 29 So aber beispielsweise BVerwGE 82, 350 (351) und BVerfGE 18, 429 (436). Zu Recht kritisch gegenüber der Bejahung eines der GoA zugrundeliegenden, als Ansatz für Aufwendungsersatzansprüche verwendbaren allgemeinen Rechtsgedankens Nedden (Anm. 7), S. 127, der darauf hinweist, daß sich aus einem solchen Rechtsgedanken nur ableiten lasse: „Altruistische Geschäftsführung ist erwünscht", diesem allgemeinen Rechtsgedanken allein aber im übrigen die erforderliche inhaltliche Substanz fehle; s. auch Schoch (Anm. 7), 97.
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umfangmäßig an den §§ 683, 670 BGB orientierten Aufwendungsersatzanspruchs, noch nicht erbracht worden. Beruhte die GoA aber tatsächlich auf einem allgemeinen Rechtsgedanken, in dessen Konsequenz sich die Notwendigkeit zur Anerkennung von Ersatzansprüchen ergeben würde, so läge es jedenfalls weit näher, statt auf die §§ 683, 670 BGB auf die Ausprägungen dieses Rechtsgedankens im öffentlichen Recht zu rekurrieren. Speziell im Bereich des Gefahrenabwehrrechts böte sich hier ein Rückgriff auf die im Polizei- und Ordnungsrecht normierten Kostenersatzansprüche an, die den Besonderheiten der polizeilichen Gefahrenabwehr in spezifischer Weise Rechnung tragen.
c) Spezialität der polizeirechtlichen
Kostenersatz,anspräche
Mit dem eben Gesagten zusammenhängend ist eine Analogie zu den §§ 683, 670 BGB aber auf jeden Fall deshalb ausgeschlossen, weil die polizeirechtlichen Vorschriften bereits Kostenersatzansprüche der Polizei gegenüber dem polizeipflichtigen Störer regeln und es wegen der hier getroffenen Spezialregelungen an einer Lücke hinsichtlich des Ersatzes von Aufwendungen fehlte. Das gilt sowohl in dem Fall, in dem die Polizei einen Störer zunächst mittels eines Verwaltungsakts zu einer gefahrenabwehrenden Handlung verpflichtet und dann diesen Verwaltungsakt wegen Nichtbefolgung durch den Polizeipflichtigen im Wege der Ersatzvornahme vollstreckt, 3 0 wie auch dann, wenn die Polizei die Gefahrenabwehrmaßnahme wegen ihrer Eilbedürftigkeit im Wege der unmittelbaren Ausführung bzw. des Sofortvollzugs selbst vornimmt. Die Vorschriften über die Kostenersatzansprüche bei einer polizeilichen Ersatzvornahme finden überdies auch dort Anwendung, wo ein Nichtstörer die ihm durch einen Verwaltungsakt auferlegte polizeiliche Pflicht nicht erfüllt und nunmehr die Polizei an seiner Stelle die betreffende Handlung vornimmt oder vornehmen lässt. 31 Würde man bei den geschilderten Fallgruppen die Regeln der §§ 683, 670 BGB neben den polizeirechtlichen Kostenersatzvorschriften anwenden, so ergäben sich sowohl hinsichtlich der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen wie auch bezüglich der Reichweite eines Aufwendungsersatzanspruchs gravierende Abweichungen von den polizeirechtlichen Kostenersatzregelungen, was zusätzlich die Verfehltheit einer derartigen Analogie zeigte. So wären beispielsweise Schäden, die dem Geschäftsführer in Verbindung mit einer GoA erwachsen, die mit typischen Risiken verbunden ist, gem. §§ 683, 670 30 Ein auf die Ersatzvornahme gestützter Kostenersatzanspruch ist dabei selbst dann gegeben, wenn der vollstreckte Verwaltungsakt rechtswidrig war, aber nicht aufgehoben wurde und auch kein Fall der Nichtigkeit vorlag, vgl. näher Schenke (Anm. 6), Rn. 540 ff. 31 Freilich ergeben sich hier hinsichtlich des Umfangs des Kostenersatzanspruchs daraus Besonderheiten, daß der durch die Polizei in Anspruch genommene Nichtstörer nach den polizeirechtlichen Bestimmungen gegen den Polizeiträger einen Entschädigungsanspruch gehabt hätte. Ersetzt werden können damit nur die Kosten, die dadurch entstanden, daß der Verwaltungsakt im Wege der Verwaltungsvollstreckung durchgesetzt werden mußte, also die reinen Vollstreckungskosten.
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BGB zu ersetzen, während sich ein polizeigesetzlicher Kostenersatzanspruch hierauf keineswegs zu erstrecken braucht. 3 2 Bezeichnenderweise kommt denn auch der B G H in seiner neuesten Rechtsprechung nicht daran vorbei, die Anwendung der §§ 683, 670 BGB als durch die polizeirechtlichen Kostenersatzregelungen ausgeschlossen anzusehen, was aber - wie bereits oben dargelegt [II. 1. a)] - von den Prämissen des BGH her gesehen nicht zu überzeugen vermag. Rechtsdogmatisch plausibel erklären läßt sich dieses Ergebnis hingegen unter der hier zugrunde gelegten Prämisse, nach der bei einer der Gefahrenabwehr dienenden polizeilichen Tätigkeit eine Anwendung der §§ 677 ff. BGB und damit auch der §§ 683, 670 BGB ausscheidet. Daß der für die Gefahrenabwehr zuständigen Polizei nicht nur gegenüber einem Störer, sondern auch gegenüber einem durch ihr Handeln geschützten Bürger keine Aufwendungsersatzansprüche in analoger Anwendung der §§ 683, 670 BGB zustehen, wird schon daran deutlich, daß die Polizei hier eine ihr auch dem Bürger gegenüber obliegende gesetzliche Aufgabe erfüllt. Dem entspricht ein Anspruch des gefährdeten Bürgers auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über das polizeiliche Handeln, bei besonders schwerwiegenden Gefahren wegen einer dann anzunehmenden Reduktion des polizeilichen Ermessens sogar ein Rechtsanspruch auf ein polizeiliches Einschreiten. Die Zuerkennung von Aufwendungsersatzansprüchen wegen einer polizeilichen Tätigkeit, die die Erfüllung der dem Bürger gegenüber bestehenden polizeirechtlichen und grundrechtlichen Schutzpflichten bezweckt, widerspräche damit aber grundsätzlich der ratio der §§ 683, 670 BGB, so daß es an den Voraussetzungen für eine Analogie fehlt. Bezeichnenderweise sehen denn auch die Polizei- und Ordnungsgesetze grundsätzlich keine Kostenersatzansprüche des Polizeiträgers gegenüber dem durch sein Handeln geschützten Bürger vor. 3 3 Es liegt auf der Hand, daß diese gesetzgeberische Entscheidung nicht durch die Gewährung eines Aufwendungsersatzanspruchs ausgehebelt werden darf. Da die Polizeigesetze auch dann, wenn das polizeiliche Handeln - im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz lediglich ausnahmsweise - nur dem Schutz privater Rechte dient, keine polizeilichen Kostenersatzansprüche vorsehen, 34 müssen auch bei einer solchen Fallgestaltung Aufwendungsersatzansprüche in analoger Anwendung der §§ 683, 670 BGB ausscheiden, 35 weil deren Zuerkennung zur Konterkarierung polizeirechtlicher Kostenersatzregelungen führen würde. Die Fälle, für die ausnahmsweise ein Kostenersatzanspruch gegenüber einer durch die Po32 Deutlich wird dies beispielsweise an dem vom BGH, NJW 2004, 513 entschiedenen Fall, bei dem ein Polizist ein Knalltrauma an beiden Ohren erlitt, als er ein entlaufenes, auf die Autobahn gelangtes Rind mit seiner Dienstpistole aus dem geöffneten Fenster seines Streifenwagens heraus erschoß (s. dazu auch E. Rinne/W. Schlick , NJW 2005, 3330 (3334 f.)). Hier wäre bei Anwendbarkeit der §§ 683, 670 B G B ein Anspruch des Dienstherrn auf Ersatz der Heilbehandlungskosten gegeben, nicht hingegen unter dem Aspekt eines polizeirechtlichen Kostenersatzanspruchs bei unmittelbarer Ausführung oder Ersatzvornahme. 33 Schenke (Anm. 6), Rn 708. 34 Vgl. z. B. Schenke (Anm. 6), Rn. 708. 35 Insoweit a.A. aber früher H. Maurer, JuS 1970, 561 (564). 35 FS Bartlsperger
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lizei geschützten Person vorgesehen wird (so z. B. Art. 2 I BayKG i. V. mit Ani KR-Pol sowie § 3 I I BPolG), indizieren zusätzlich einen Umkehrschluß dahingehend, daß in den Fällen, in welchen es an solchen Regelungen fehlt, ein Kostenersatzanspruch der Polizei ausgeschlossen sein soll. Existieren aber derartige Kostenersatzregelungen, so verbieten sie als Spezialregelungen gleichfalls die Begründung eines Kostenersatzanspruchs in analoger Anwendung der §§ 683, 670 BGB. Eine Anwendung der §§ 683, 670 BGB zur Begründung von Kostenersatzansprüchen gegenüber dem Störer muß aber auch in den Fällen scheitern, in welchen die Polizei aufgrund polizeigesetzlicher Regelungen zu einer Geschäftsführung in der durch sie getätigten Weise gar nicht „berechtigt" wäre. Wenn hier die Polizei - wie oben unter II. 1. b) ee) gezeigt - ihr Handeln nicht unter Rückgriff auf die §§ 677 ff. BGB legitimieren kann und dieses deshalb rechtswidrig ist, ist auch kein Raum für die Gewährung von Aufwendungsersatzansprüchen. Es liegt auf der Hand, daß die Polizei für ihr rechtswidriges Handeln nicht noch durch Zuerkennung eines Aufwendungsersatzanspruchs analog §§ 683, 670 B B G prämiert werden darf. Die mit der Legitimationswirkung einer GoA gekoppelte, in den §§ 683, 670 BGB geregelte Ausgleichsfunktion kommt denn bezeichnenderweise auch im bürgerlichen Recht dann nicht zum Tragen, 3 6 wenn die Geschäftsführung rechtswidrig ist. Gegen die Zuerkennung von Aufwendungsersatzansprüchen bei rechtswidriger polizeilicher Geschäftsführung spricht aber auf jeden Fall, daß die nach den Polizeigesetzen ohnehin grundsätzlich nur gegenüber dem Störer eingeräumten Kostenersatzansprüche im Regelfall daran gebunden sind, daß die Inanspruchnahme des Bürgers nach den polizeirechtlichen Vorschriften in rechtmäßiger Weise erfolgt. 3 7 Diese Regelungen würden aber ad absurdum geführt, wenn der rechtswidrig handelnde Polizeiträger zwar keinen Kostenersatzanspruch, wohl aber einen inhaltlich sogar noch weiter reichenden Anspruch auf Aufwendungsersatz besäße.
d) Kein Bedürfnis für die analoge Anwendung der §§ 683, 670 BGB Für die Zuerkennung eines Aufwendungsersatzanspruchs bei rechtswidrigem polizeilichem Handeln besteht auch kein Bedürfnis. In den (allerdings seltenen) Fällen, in denen man noch am ehesten an die Zuerkennung von Aufwendungsersatzansprüchen denken könnte, nämlich dann, wenn zwischen der Rechtswidrigkeit des polizeilichen Handelns und dem Entstehen von Kosten kein Zusammen36 S. dazu H. Seiler, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. IV, 4. Aufl., München 2005, vor § 677, Rn. 17. 37 S. z. B. Schenke (Anm. 6), Rn. 699; Th. Würtenberger/D. Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., Heidelberg 2005, Rn. 918; Ch. Gusy, Polizeirecht, 5. Aufl., Tübingen 2003, Rn. 458; F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl., München 2004, Rn. 367.
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hang besteht, d. h. dieselben Kosten auch bei Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns entstanden wären, steht dem Polizeiträger gegenüber dem für eine Gefahr verantwortlichen polizeilichen Störer ein Kostenersatzanspruch nach den auch sonst bei unmittelbarer Ausführung bzw. Ersatzvornahme geltenden allgemeinen polizeirechtlichen Vorschriften zu. Da es bei einem solchen polizeilichen Handeln an einem Rechtswidrigkeitszusammenhang fehlt, ist nicht nur ein Anspruch des Störers auf eine Aufhebung des polizeilichen Handelns ausgeschlossen, sondern dieser ist konsequenterweise ebenso wie bei einem rechtmäßigen polizeilichen Handeln dem Polizeiträger kostenersatzpflichtig. 38 Wird ein materiell Polizeipflichtiger im übrigen durch das rechtswidrige Handeln der Polizei von seiner materiellen Polizeipflicht befreit, etwa, indem eine unmittelbare Ausführung durch die Polizei erfolgte, obwohl ein sofortiges Handeln gegenüber dem Störer nicht geboten war, besteht für den Polizeiträger ein öffentlichrechtlicher Erstattungsanspruch. 39 Da dieser Anspruch von vornherein nur auf den Ausgleich der Bereicherung des Polizeipflichtigen gerichtet ist, d. h. auf die Kosten, die dieser wegen der polizeilichen Abwehr der Gefahr ersparte, läuft die Zuerkennung eines solchen Anspruchs nicht auf eine Umgehung von Kostenersatzregelungen hinaus. Auch der Umstand, daß die Bereicherung auf einer rechtswidrigen Handlung beruht, steht - im Einklang mit sonst allgemein anerkannten Grundsätzen - der Zuerkennung eines Erstattungsanspruchs nicht im Wege.
III. Die Geschäftsführung eines anderen Hoheitsträgers für die zur Gefahrenabwehr berufene juristische Person des öffentlichen Rechts Ein Rückgriff auf die GoA kommt hier einmal dort in Betracht, wo aufgrund einer gesetzlich begründeten Notzuständigkeit (z. B. wegen Gefahr im Verzug oder wegen des Fehlens personeller oder sachlicher Ressourcen) anstelle der grundsätzlich für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörde eine andere Behörde zuständig ist, zum anderen aber auch dann, wenn es an der gesetzlichen Regelung einer solchen Ersatzzuständigkeit fehlt. Beide Male stellt sich die Frage, ob das Handeln eines Hoheitsträgers an der Stelle der nach den gesetzlichen Regelungen zur Gefahrenabwehr berufenen juristischen Person des öffentlichen Rechts unter dem Gesichtspunkt der GoA zu legitimieren ist (dazu 1.) und inwieweit bei einem solchen Handeln Aufwendungsersatzansprüche entstehen können (dazu 2.). 38 Schenke (Anm. 6), Rn. 699, Fn 7 und Rn. 703, Anm. 6; Würtenberger/Heckmann (Anm. 37), R n . 9 1 9 f . 39 So auch Ch. Wollschläger, Geschäftsführung ohne Auftrag i m öffentlichen Recht und Erstattungsanspruch, Berlin 1977, S. 83 ff.; a.A. die ganz h. M., vgl. z. B. Ch. Bamberger, JuS 1998, 706 (709); V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Aufl., Göttingen 2001, Rn. 452; B. Pieroth/B. Schlink/M. Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl., München 2005, § 25, Rn. 10 und früher Schenke (Anm. 6), Rn. 703, Anm. 26.
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1. Keine Legitimation unter dem Gesichtspunkt einer GoA für den zuständigen Hoheitsträger a) Keine Legitimation
bei gesetzlicher Notzuständigkeit
Der Frage nach der Legitimation des Handelns eines nur in Notfällen zuständigen Hoheitsträgers anstelle der „regulären" Gefahrenabwehrbehörde kommt nur insoweit Bedeutung zu, als eine (zusätzlich) auf die §§ 677 ff. BGB gestützte Legitimation des Handelns den Weg zu einer unmittelbaren oder analogen Anwendung der §§ 683, 670 BGB wesentlich ebnen würde [s. oben II. 1. b) bb)J. Eine unmittelbare Anwendung der §§ 677 ff. BGB scheidet allerdings von vorneherein aus, da ein der Gefahrenabwehr dienendes Handeln, das in Ausübung einer Notzuständigkeit erfolgt, unbestreitbar öffentlichrechtlich ist. Das gilt nicht nur, wenn man wie hier - abweichend von der h. M . - die Rechtsnatur einer GoA generell nach der Rechtsnatur des Handelns des Geschäftsführers bestimmt [s. dazu neben oben II. 1. a) auch unten IV. 1. a)], sondern ebenso, wenn man die Rechtsnatur des (hypothetischen) Handelns des Geschäftsherrn als maßgeblich ansieht. Eine damit allenfalls noch in Betracht zu ziehende analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB provozierte aber all jene oben unter II. 1. in parallelem Zusammenhang näher dargelegten grundsätzlichen Bedenken gegen eine Analogie. Selbst wenn man sich über diese hinwegsetzte, scheitert die Anwendung der §§ 677 ff. BGB aber jedenfalls daran, daß der Hoheitsträger, der von der gesetzlich eingeräumten Notzuständigkeit Gebrauch macht, ein gesetzesgeleitetes eigenes und kein fremdes Geschäft 4 0 führt [s. dazu auch oben II. 1. b)] und ihn überdies die gesetzliche Zuständigkeitsregelung auch im Verhältnis zum „regulären" Zuständigkeitsinhaber i. S. des § 677 BGB dazu „berechtigt", dessen Geschäft zu führen [s. dazu auch oben II. 1. c)J.
b) Keine Legitimation
bei fehlender gesetzlicher Zuständigkeit
aa) Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes Kann sich der Hoheitsträger, der anstelle der für die Gefahrenabwehr „regulär" zuständigen Behörde handelt, auf keine gesetzlich begründete Zuständigkeit berufen, so scheitert die Stützung seiner Zuständigkeit auf eine analoge Anwendung der GoA zwar noch nicht daran, daß der Geschäftsführer hier kein Geschäft eines anderen wahrnimmt oder er dem Geschäftsherrn gegenüber bereits aufgrund anderer gesetzlicher Bestimmungen zu einer Geschäftsführung berechtigt wäre. Die 40 Nicht überzeugend demgegenüber Wollschläger (Anm. 39), S. 31, wonach sich die Frage, ob ein eigenes Geschäft geführt wird, danach richten soll, wer die Kosten des Geschäfts zu tragen hat. Bei einer - von Wollschläger abgelehnten - Anwendung der §§ 677 ff. BGB bedeutete dies, daß das Verhältnis von Tatbestand und Rechtsfolge verkehrt würde und damit zusammenhängend die Gefahr von Zirkelschlüssen bestünde.
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Verfehltheit einer Analogie ergäbe sich aber daraus, daß sich in ihrer Konsequenz eine - zumal bei der generalklauselartigen Weite der GoA - unter dem Aspekt des Vorrangs des Gesetzes höchst problematische kompetenzsprengende Wirkung ergeben würde, die sich nicht damit vereinbaren ließe, daß die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen im Bereich der Gefahrenabwehr prinzipiell abschließender Natur sind. 4 1 Erscheinen den für die Regelung des Polizei- und Ordnungsrechts zuständigen Landesgesetzgebern im Interesse einer schnellen und wirksamen Gefahrenbekämpfung die Begründung von Notzuständigkeiten geboten, so treffen sie entsprechende Bestimmungen und begründen damit eine die analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB ausschließende Berechtigung des Inhabers der Notzuständigkeit. Die Normierung von Notzuständigkeiten indiziert damit zusätzlich die Ausschließlichkeit der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeiten und kann beim Fehlen ihrer Voraussetzungen nicht unter Rückgriff auf die Vorschriften der GoA überspielt werden, die auf dem Grundsatz der Privatautonomie des Geschäftsführers aufbauen und von hierher ihre wesentliche Legitimation beziehen. 42 Das gilt um so mehr, als eine analoge Anwendung der bürgerlichrechtlichen Vorschriften über die GoA im Bereich des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts im Hinblick auf die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern unter bundesstaatlichen Gesichtspunkten weitere verfassungsrechtliche Bedenken provozierte. bb) Bedenken unter dem Aspekt des Vorbehalts des Gesetzes Eine Legitimation zur Vornahme belastender Gefahrenabwehrmaßnahmen, die mit Eingriffen in die grundrechtlich geschützte Sphäre Dritter verbunden wären, ließe sich allein unter dem Gesichtspunkt einer GoA für die zuständigen Polizeiund Ordnungsbehörden ohnehin nicht begründen. Unter dem Aspekt des Vorbehalts des Gesetzes bestehende Bedenken gegen eine mit einem Eingriff in die Freiheit Dritter verbundene GoA für den zuständigen Polizeiträger können auch nicht mit dem Argument ausgeräumt werden, es gehe bei einer GoA für den zuständigen Polizeiträger lediglich um eine zusätzliche Zuständigkeitsbegründung für gesetzlich bereits vorgesehene Grundrechtseingriffe, nicht hingegen um die Begründung neuer, der Gefahrenabwehr dienender materiellrechtlicher Eingriffsbefugnisse. Eine solche Argumentation trägt dem engen Zusammenhang zwischen materiellem Recht und den seine Ausübung betreffenden Zuständigkeitsregelungen nicht ausreichend Rechnung. 43 Zu Recht wird deshalb von der h. M . der Vorbehalt 41
Gegen eine Anwendung der GoA hier St. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., München 2005, Rn. 1291; Kischel (Anm. 23), 395 ff.; N. Knapp, Geschäftsführung ohne Auftrag bei Beteiligung von Trägern öffentlicher Verwaltung, Frankfurt a. M . 1999, S. 181 ff.; Nedden (Anm. 7), S. 64 ff.; Schoch (Anm. 7), 98; a.A. M. Gehrlein, in: H. G. Bamberger/H. Roth (Hrsg.), BGB, München 2003, § 677 Rn. 25; B G H Z 40, 18; BVerwG, NJW 1986, 2524; N V w Z 1992, 264; O V G NW, NJW 1976, 1956. 42
So z. B. grundsätzlich auch Bamberger 1995,369 (373).
(Anm. 39), 708; O V G Hamburg, N V w Z - R R
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des Gesetzes so verstanden, daß dieser sich nicht nur auf die materiellrechtlichen Eingriffsbefugnisse, sondern auch auf die sie ergänzenden organisationsrechtlichen Bestimmungen bezieht. cc) Grundsätzlich keine Legitimation selbst bei unterstellter Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB Setzte man sich über die vorher aufgezeigten Bedenken hinweg und plädierte dennoch für eine analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB, so scheiterte eine solche GoA aber in der Regel daran, daß sie weder dem tatsächlichen noch dem mutmaßlichen Willen der für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörde entspräche. Da diese nicht über die ihr gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen zu verfügen vermag, ließe sich die Geschäftsführung eines anderen Hoheitsträgers weder auf den wirklichen noch den mutmaßlichen Willen der für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörde stützen. Auch ein öffentliches Interesse i. S. des § 679 BGB an der Erfüllung einer Pflicht zur Gefahrenabwehr dürfte nur selten gegeben sein. Abgesehen davon, daß eine solche Pflicht im Hinblick auf das i m Polizeirecht geltende Opportunitätsprinzip meist nicht bestehen wird, ist die für die Gefahrenabwehr zuständige Behörde in den Fällen, in denen ein rasches Handeln geboten ist, in der Regel selbst in der Lage, die Gefahrenabwehrmaßnahme im Wege der unmittelbaren Ausführung bzw. des Sofortvollzugs zu treffen oder kann diese jedenfalls durch eine andere Behörde wahrgenommen werden, für welche der Gesetzgeber eine Notzuständigkeit vorgesehen hat, neben der kein Raum für eine über die GoA vermittelte Legitimation besteht. Ein nicht zuständiger Hoheitsträger, der von einer Gefahr erfährt, die eine schnelle Gefahrenabwehr erforderlich macht, ist im Hinblick auf die ihn treffende Pflicht zur Amtshilfe rechtlich gehalten, die für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden, denen es an einer Kenntnis von der Gefahrenlage mangelt, über diese Gefahrenlage zu informieren. Läßt sich auf diese Weise eine wirksame Gefahrenbekämpfung nicht bewerkstelligen, so ist dann, wenn die gesetzliche Zuständigkeitsregelung (einschließlich der Normierung von Notzuständigkeiten) vom Gesetzgeber als abschließend gewollt ist, ein öffentliches Interesse an der Gefahrenabwehr im Hinblick auf die gesetzliche Zuständigkeitsregelung trotz der Nichterfüllung der den zuständigen Gefahrenabwehrbehörden obliegenden Pflicht zur Gefahrenabwehr im Hinblick auf die den Zuständigkeitsregelungen zugrundeliegenden gesetzgeberischen Wertungen zu verneinen. Anderes könnte allenfalls in Extremfällen gelten, bei denen eine gravierende Gefahr für ein besonders hochwertiges Rechtsgut besteht und ein Nichthandeln des Staates einen Verstoß gegen grundrechtliche Schutzpflichten implizierte. Bei solchen Fallkonstellationen wären die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen, wie 43 S. dazu z. B. J. Lücke, Behördliche und gerichtliche Notkompetenzen im Lichte der Verfassung, in: B. Becker u. a. (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, 1993, S. 539 (544 f.); W.-R. Schenke, VerwArch Bd. 68 (1977), 118 (121 ff.).
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sich im Wege ihrer verfassungskonformen Auslegung ergäbe, möglicherweise nicht abschließend. Freilich würde es selbst in diesen Fällen - wie oben schon angeklungen - auch aus kompetentiellen Gründen wohl näher liegen, auf vorhandene Notzuständigkeitsregelungen 44 als auf eine Analogie zu den §§ 677 ff. BGB zurückzugreifen. Dafür spräche auch, daß sich allein aus einer GoA für den zuständigen Polizeiträger jedenfalls noch nicht die Legitimation des geschäftsführenden Hoheitsträgers zu Eingriffen in die Rechte Dritter ergäbe.
2. Keine Aufwendungsersatzansprüche eines „geschäftsführenden" Hoheitsträgers Auch bei einer Stellungnahme zur Begründung von Aufwendungsersatzansprüchen in Analogie zu den §§ 683, 670 BGB empfiehlt es sich, zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden, nämlich zum einen die, bei der ein Hoheitsträger aufgrund einer Notzuständigkeit (etwa wegen Gefahr i m Verzug) berechtigt ist, anstelle der sonst für die Gefahrenabwehr zuständigen juristischen Person des öffentlichen Rechts zu handeln [dazu a)], und zum anderen jene, bei der es an der Einräumung einer solchen Berechtigung durch Statuierung einer Notzuständigkeit fehlt [dazu b)].
a) Ersatzansprüche bei gesetzlich begründeter Notzuständigkeit Sehen Gesetze vor, daß bei Gefahr im Verzug oder aus anderen Gründen anstelle der sonst zur Gefahrenabwehr berufenen juristischen Person des öffentlichen Rechts ein anderer Hoheitsträger zuständig ist, ergibt sich deren Handlungsberechtigung nicht aus dem Gesichtspunkt der GoA. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen der Legitimations- und der Ausgleichsfunktion einer GoA spricht dies dann aber zugleich gegen eine Begründung eines Aufwendungsersatzanspruchs in analoger Anwendung der §§ 683, 670 B G B . 4 5 Das gilt um so mehr, als der Gesetzgeber, der lediglich eine Notzuständigkeit ohne Kostenersatzregelungen trifft, damit in der Regel zugleich Kostenersatzansprüche des geschäftsführenden Hoheitsträgers gegen den regulären Zuständigkeitsinhaber konkludent ausschließt. Eine derartige Spezialregelung verbietet dann aber ebenfalls eine analoge Anwendung der §§ 683, 670 BGB, welche das Bestehen einer Regelungslücke voraussetzen würde. Aus diesem Grund scheiden z. B. Ersatzansprüche des Trägers der Vollzugspolizei dann aus, wenn diese - wie dies bei Gefahr im Verzug typischerweise zutrifft - anstelle der an und für sich zuständigen Polizei- bzw. Ordnungsbehörde 44 45
Zu Notkompetenzen der Verwaltung Lücke (Anm. 43), S. 539 ff.
Für eine Begründung von Aufwendungsersatzansprüchen bei Geschäftsführung eines Hoheitsträgers für einen anderen Hoheitsträger aber z. B. B G H Z 40, 18; BVerwG, NJW 1986, 2524; O V G Hamburg, N V w Z - R R 1995, 369 (370); O V G Münster, NJW 1976, 1956; F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., München 1998, S. 342; H. Wolf/U. Stephan, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 5. Aufl., Stuttgart 1999, § 2, Rn. 12.
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eine Gefahrenabwehrmaßnahme tätigt. Die Vollzugspolizei handelt hier in ihrem ureigenen Zuständigkeitsbereich und nimmt eine Aufgabe wahr, zu deren Erfüllung die allgemeinen Polizei- und Ordnungsbehörden aufgrund ihrer Organisation und Arbeitsweise nicht in der Lage sind. 4 6 Deshalb werden dem Träger der Vollzugspolizei durch den Haushaltsgesetzgeber die zur Erfüllung dieser Aufgaben notwendigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt und sind in den Polizei- und Ordnungsgesetzen keine Ausgleichsansprüche zwischen dem Träger der Vollzugspolizei und dem Träger der allgemeinen Polizei- und Ordnungsbehörden vorgesehen. Ebenso scheiden aufgrund der in Art. 104 a I GG getroffenen Regelung im Verhältnis von Bund und Ländern (einschließlich der mittelbaren Staatsverwaltung) Ausgleichsansprüche aus. Art. 104 a I GG bestimmt ausdrücklich, daß Bund und Länder gesondert die Ausgaben zu tragen haben, die sich aus der Wahrung dieser Aufgaben ergeben, soweit das GG nichts anderes bestimmt. Diese auf die spezifischen Verhältnisse des Bundesstaats zugeschnittene und in untrennbarer Verbindung mit dem bundesstaatlichen Finanzausgleich stehende Vorschrift ist freilich keiner Verallgemeinerung zugänglich und kann nicht für die Existenz eines allgemeinen Prinzips des Inhalts herangezogen werden, daß eine juristische Person des öffentlichen Rechts stets auch die Kosten zu tragen habe, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten ergeben 4 7 Das wird zwar sehr häufig zutreffen. Es kann aber nicht ausnahmslos gelten, da man sonst den bei der Ausübung von Notzuständigkeiten teilweise bestehenden erheblichen Interessenunterschieden nicht immer in ausreichender Weise gerecht würde. Deutlich wird dies in den Fällen, in denen die Polizei aufgrund einer Notzuständigkeit ausnahmsweise anstelle eines grundsätzlich nicht mit Aufgaben der Gefahrenabwehr betrauten Hoheitsträgers tätig wird, um die Gefahren abzuwehren, die durch dessen Verhalten oder durch den Zustand einer in dessen Eigentum stehenden Sache verursacht wurden. Ein solcher Hoheitsträger ist zwar materiell, nicht aber formell polizeipflichtig, 4 8 d. h. er ist für die Bekämpfung der sich in seinem Aufgabenbereich ergebenden Gefahren prinzipiell selbst zuständig. Soweit ihm die Gefahrenbekämpfung selbst nicht rechtzeitig möglich ist, besteht allerdings nach den gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen (vgl. z. B. § 2 I BWPolG) regelmäßig eine Notzuständigkeit der Polizei. In diesen Fällen wäre es in der Tat unbillig, wenn die Polizei, die die durch den anderen Hoheitsträger verursachte Gefahr bekämpft, auch auf den Kosten ihrer Gefahrenabwehrmaßnahmen sitzenbleiben würde und insofern der störende Hoheitsträger gegenüber einem privaten Störer privilegiert wäre. Zwar erscheint im Interesse einer wirksamen Gefahrenbekämpfung 46 s. auch M. Oldiges, JuS 1989, 616 (623); O V G Münster, NJW 1986, 2526. 47 Nicht überzeugend deshalb Erichsen (Anm. 15), § 29 Rn. 13, der in Art. 104 a I GG den Ausdruck einer allgemeinen Lastenverteilungsregel für das Verhältnis von Trägern öffentlicher Verwaltung zueinander sehen w i l l ; a. A. Wollschläger (Anm. 39), S. 20, der aber zu weit geht, wenn er annimmt, in der Regel habe der Inhaber der Notzuständigkeit die Kosten seines Handelns generell nicht selbst zu tragen. 48 Dazu z. B. Schenke (Anm. 6), Rn. 233 f.
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bei derartigen Notsituationen eine Zuständigkeitsverlagerung gerechtfertigt, nicht jedoch auch eine (endgültige) Kostenabwälzung. Zur Vermeidung dieses unbilligen Ergebnisses bedarf es jedoch keiner analogen Anwendung der §§ 683, 670 BGB. Vielmehr bietet sich hier die sach- und interessennähere, aber auch im Hinblick auf die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen unter Kompetenzgesichtspunkten weit weniger problematische Anknüpfung an die polizeirechtlichen Kostenersatzregelungen an, denen gemäß der Störer bei einer unmittelbaren Ausführung der Polizei dieser die ihr in Verbindung hiermit entstandenen Kosten zu ersetzen hat (s. z. B. § 8 I I BWPolG). Dafür, einen störenden Hoheitsträger kostenmäßig anders zu behandeln als einen privaten Störer, fehlt es in den Fällen, in denen ein sofortiges polizeiliches Handeln geboten ist, an einer sachlichen Rechtfertigung. Unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts sind gegenüber einer analogen Anwendung von Kostenersatzbestimmungen im Verhältnis zwischen verschiedenen Hoheitsträgern wegen des hier fehlenden Grundrechtsbezugs eines mit der Zuerkennung von Kostenersatzansprüchen verbundenen Eingriffs keine Bedenken zu erheben. Würde man die Analogie dennoch ablehnen, so müßten jedenfalls Erstattungsansprüche des Polizeiträgers gegenüber dem anderen Hoheitsträger bejaht werden, 4 9 die freilich nur auf den Ausgleich der Bereicherung des störenden Hoheitsträgers gerichtet wären und damit ohne einleuchtenden Grund hinter den sonst gegenüber Störern bestehenden polizeilichen Kostenersatzansprüchen zurückblieben.
b) Keine Aufwendungsersatzansprüche bei fehlender polizeigesetzlicher Rechtsgrundlage Da sich, wie oben unter III. 1. gezeigt, eine analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB auf eine öffentlichrechtliche GoA zur Legitimation des Handelns eines unzuständigen Hoheitsträgers verbietet und dieses rechtswidrig ist, kommt auch eine analoge Anwendung der Regelungen des Aufwendungsersatzes in den §§ 683, 670 BGB, die in einem funktionalen Zusammenhang mit der Legitimationswirkung einer GoA stehen, nicht in Betracht. Für eine Privilegierung durch Gewährung von Ansprüchen auf Aufwendungsersatz besteht dann keine sachliche Rechtfertigung, wenn diese Geschäftsführung rechtswidrig war. In diesen Fällen ist aber - wie auch die entsprechende Regelung in § 684 S. 1 BGB zeigt - ein öffentlichrechtlicher Erstattungsanspruch 50 als ein Pendant zum zivilrechtlichen Bereicherungsanspruch zu bejahen. Dieser Erstattungsanspruch, der wegen einer ohne Rechtsgrund erfolgten Bereicherung gegeben ist und zu dessen Begründung es keiner analogen Anwendung des § 684 S. 1 BGB bedarf, reicht jedoch inhaltlich nicht so weit wie ein über die §§ 683, 670 BGB begründeter Aufwendungsersatzanspruch.
49 S. dazu auch Wollschläger (Anm. 39), S. 32 ff. 5° Für einen solchen Anspruch auch Knapp (Anm. 41), S. 189 f.; Schoch (Anm. 7), 100.
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IV. Die Geschäftsführung eines Privaten für die Polizei Eine Geschäftsführung eines Privaten für die zuständige Polizei kommt einmal dann in Betracht, wenn der Geschäftsführer ohne Verfolgung eines eigenen Interesses altruistisch eine der Gefahrenabwehr dienende Maßnahme vornimmt, die in den Zuständigkeitsbereich einer Polizei- bzw. Ordnungsbehörde fällt. Der private Geschäftsführer kann aber auch selbst ein Interesse an der Geschäftsführung haben. Das kann einmal deshalb der Fall sein, weil die Geschäftsführung der Durchsetzung eines dem Geschäftsführer gegenüber dem Polizeiträger eingeräumten Rechts dient, zum anderen aber auch deshalb, weil der Geschäftsführer hiermit zugleich eine ihm gesetzlich auferlegte Pflicht erfüllt. Bei all diesen Fallkonstellationen stellt sich die Frage, ob hier die §§ 677 ff. BGB unmittelbar oder jedenfalls analog anwendbar sind und damit die dem Institut der GoA immanente Legitimationsfunktion (dazu 1.) und Ausgleichsfunktion (dazu 2.) zum Tragen kommt.
1. Die Legitimation einer Geschäftsführung Privater unter dem Gesichtspunkt der GoA Die Frage, inwieweit ein Handeln Privater anstelle eines Hoheitsträgers unter dem Gesichtspunkt der GoA gerechtfertigt ist, kann sich von vorneherein nur dann stellen, wenn es nicht um den Erlaß von Verwaltungsakten, sondern um tatsächliche Handlungen (Realakte) geht, die sowohl durch einen Träger öffentlicher Gewalt wie auch durch Private vorgenommen werden können. Die Vornahme von Verwaltungsakten, die Private nur bei einer Beleihung erlassen könnten, setzte eine gesetzliche Rechtsgrundlage voraus. Eine solche kann weder auf eine unmittelbare noch auf eine analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB gestützt werden, da diese nur ein privatrechtliches Handeln zum Gegenstand haben. Die Vornahme tatsächlicher, der Gefahrenabwehr dienender Handlungen ist Privaten hingegen sehr wohl möglich.
a) Unmittelbare Anwendbarkeit
der §§ 677 ff. BGB
aa) Der privatrechtliche Charakter der Gefahrenabwehrmaßnahmen Privater Ein der Gefahrenabwehr dienender Realakt eines Privaten stellt sich im Einklang mit sonst allgemein anerkannten Grundsätzen ebenso wie eine Vornahme sonstiger Realakte durch Private in der Regel als eine privatrechtliche Handlung dar, so daß unter diesem Gesichtspunkt keine prinzipiellen Bedenken gegen die Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB bestehen. Besondere Gründe, welche abweichend vom Grundsatz, daß von Privaten getätigte Realakte eine privatrechtliche
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Rechtsnatur aufweisen, bei einer im Interesse der Polizei erfolgenden Geschäftsführung Privater deren öffentlichrechtlichen Rechtscharakter indizieren, sind nicht ersichtlich. Diese Geschäftsführung beruht vielmehr ebenso wie die unbestreitbar den §§ 677 ff. BGB unterfallende GoA für einen Privaten auf einer privatautonomen Entscheidung des Geschäftsführers 51 und nicht auf dem Vollzug einer gesetzlich zugewiesenen Aufgabe. Da das tatsächliche Handeln Privater nicht in Verbindung mit einer Beleihung oder einer sonstigen Verleihung öffentlichrechtlicher Befugnisse steht, läßt sich auch unter dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs der öffentlichrechtliche Charakter des Handelns Privater nicht begründen. Deshalb kann die Anwendung der §§ 677 ff. BGB jedenfalls nicht mit dem Argument in Frage gestellt werden, daß niemand anders als der Staat hoheitliche Gewalt auszuüben und durch seine Tätigkeit in die Rechte Dritter einzugreifen vermöge. 5 2 Ganz abgesehen davon, daß eine nur für die Polizei durchgeführte GoA ohne das Vorliegen zusätzlicher Rechtfertigungsgründe nicht in die Rechte Dritter einzugreifen vermag, zeigen die §§ 677 ff. BGB, daß Eingriffe in die Rechte Privater keineswegs nur mittels eines hoheitlichen Handelns möglich sind.
bb) Der privatrechtliche Charakter einer Geschäftsführung Privater für die Polizei Der öffentlichrechtliche Rechtscharakter 53 einer durch einen Privaten vorgenommenen, der Gefahrenabwehr dienenden GoA kann auch nicht daraus abgeleitet werden, daß der Private, der für die Polizei im Interesse der Gefahrenabwehr tätig wird, damit (auch) die Erfüllung einer einem Hoheitsträger obliegenden öffentlichen Aufgabe, insbesondere die Erfüllung einer diesem obliegenden öffentlichrechtlichen Pflicht bezweckt. Daß die Erfüllung einer öffentlichrechtlichen Pflicht nichts an der Rechtsnatur der Geschäftsführung durch einen Privaten und damit zusammenhängend auch nichts an der Anwendbarkeit der privatrechtlichen Vorschriften der §§ 677 ff. BGB ändert, belegt die Regelung des § 679 BGB. Die dort angesprochene Pflicht, an deren Erfüllung ein öffentliches Interesse besteht Im Fall des § 323 c StGB scheidet die Anwendung der §§ 677 ff. BGB jedenfalls aus anderen Gründen aus, s. unten IV. 1. b) und c). 52 So aber Kischel (Anm. 23), 400 und Wolff. /Bachof/Stober
(Anm. 10) § 55 Rn. 15.
53 Vom öffentlichrechtlichen Rechtscharakter der von einem Privaten für einen Hoheitsträger durchgeführten Geschäftsführung geht aber die ganz h. M . aus, vgl. z. B. E. Blas, JA 1989, 514 (515); H. Ehmann, in: Erman, BGB, Bd. I, 11. Aufl., Münster 2004, vor §§ 677 Rn. 14; Erichsen (Anm. 15), § 29 Rn. 16; D. Ehlers , in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, München, § 40 Rn. 385 f.; Gehrlein (Anm. 41),§ 677 Rn. 24; Ch. Gusy, JA 1979, 69 (70); Kischel (Anm. 23), 400; Knapp (Anm. 41), S. 149; Maurer (Anm. 25), § 29 Rn. 12; Oldiges (Anm. 46), 620; Ossenbühl (Anm. 45), S. 344; Nedden (Anm. 7), S. 198 f.; Rinne / Schlick (Anm. 32), 3334; Schoch (Anm. 15), 247; BGH, N V w Z 2004, 764; BVerwGE 80, 170 (172 f.); V G H BW, NJW 1977, 1843 f.; a.A. in neuerer Zeit nur noch Bamberger (Anm. 39), 710; Staake, (Anm. 17), 802 sowie früher A. Hamann, NJW 1955, 481 (482); E. Tiedau, D Ö V 1952, 164 (165); BVerwG, NJW 1956, 925; O V G Nds, O V G E 11,307 (312).
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und bei deren Vorliegen eine privatrechtliche Geschäftführung legitimiert wird, braucht zwar nicht notwendigerweise eine öffentlichrechtliche Pflicht zu sein. Sie wird aber - wie sich auch aus der Entstehungsgeschichte des § 679 BGB ergibt 5 4 typischerweise eine öffentlichrechtliche Pflicht sein, ohne daß dies dem privatrechtlichen Charakter einer GoA entgegensteht. 55 Daran zeigt sich zugleich auch die Unhaltbarkeit der in der Literatur z. B. von Schoch 5 6 vertretenen Ansicht, derzufolge die Anwendung der §§ 677 ff. BGB nicht nur voraussetze, dass die Handlungen des Geschäftsführers auf einer autonomen Entscheidung beruhen, sondern dasselbe auch für den Geschäftsherrn zu gelten habe und sich deshalb ein Rückgriff auf die Regeln der §§ 677 ff. BGB verbiete. In bezug auf die Erfüllung wie auch die Eingehung öffentlichrechtlicher Pflichten besteht nun eben gerade keine Privatautonomie. Für die Anwendung des § 679 BGB spielt es auch keine Rolle, ob die öffentlichrechtliche Pflicht, deren Erfüllung die Geschäftsführung dient, einem Privaten oder einem Hoheitsträger obliegt. Für eine hier vorzunehmende Differenzierung bietet der Wortlaut des § 679 BGB keine Anhaltspunkte, und auch das Bedürfnis zur Erfüllung dieser öffentlichrechtlichen Pflicht ist nicht davon abhängig, wen die Erfüllung dieser Pflicht trifft. Erwägbar wäre einzig, hier anknüpfend an die Person des Pflichtigen deshalb zu differenzieren, weil bei der Erfüllung einer öffentlichrechtlichen Pflicht eines Hoheitsträgers durch einen Privaten möglicherweise besondere öffentlichrechtliche Bindungen, welche den Hoheitsträger bei der Erfüllung seiner Pflicht treffen, umgangen werden könnten. Wie später noch zu zeigen sein wird [IV. 1. d) und e)], erweisen sich aber die Vorschriften der §§ 677 ff. BGB auch bei ihrer Anwendung auf die Geschäftsführung Privater als elastisch genug, um dieser Gefahr zu begegnen. Stellt man mit der hier vertretenen Ansicht bei der Beurteilung der Rechtsnatur einer GoA auf die Rechtsnatur des Handelns des Geschäftsführers und nicht auf den Rechtscharakter eines durch den Geschäftsherrn besorgten Geschäfts ab, so steht dies auch im Einklang damit, daß, wie oben - insoweit im Einklang mit der h. L. - dargelegt, die (auch) im Interesse Privater erfolgende Geschäftsführung eines polizeilichen Hoheitsträgers stets als öffentlichrechtlich anzusehen ist. Der Umstand, daß die durch den privaten Geschäftsherrn getätigte Gefahrenabwehr 54 B. Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. II, Berlin 1899, S. 1198 f.: § 679 BGB bezieht sich auch - und zwar zahlenmäßig weit überwiegend - auf solche Fälle, in denen sich die Verpflichtung des Geschäftsherrn im öffentlichen Recht gründet. 55
Damit wird zugleich die Auffassung von Wollschläger (Anm. 39), S. 41 widerlegt, nach der sich die Rechtsnatur der Geschäftsführung durch den Geschäftsführer nach der Rechtsnatur der dem Geschäftsherrn obliegenden Pflicht richten soll. In Konsequenz dieser Auffassung wäre für die Geltendmachung eines unmittelbar den §§ 683, 670 BGB unterfallenden Aufwendungsersatzanspruchs der Verwaltungsrechtsweg gegeben, wenn der Geschäftsführer eine öffentlichrechtliche Pflicht des privaten Geschäftsherrn erfüllte, was aber zu Recht ganz überwiegend abgelehnt wird (s. unten V.). 56 Schoch (Anm. 7), 94.
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sich als privatrechtlich dargestellt hätte, ist demgegenüber irrelevant. Dann muß konsequenterweise aber auch bei einer von einem Privaten für die Polizei besorgten Gefahrenabwehrmaßnahme auf das Handeln des Geschäftsführers abgestellt und deshalb von einer privatrechtlichen GoA ausgegangen werden. Die im Schrifttum vertretene gegenteilige Ansicht, die - anders als bei einer GoA durch den Hoheitsträger - bei einer Bestimmung der Rechtsnatur eines privaten Geschäftsführers darauf abstellt, welche Rechtsnatur das Geschäft bei seiner Vornahme durch den Geschäftsherrn gehabt hätte, ist deshalb widersprüchlich. Genausowenig wie bei einer Geschäftsführung eines Hoheitsträgers für einen Privaten allein aus dem Umstand, daß die Geschäftsführung für einen „anderen" erfolgt, gefolgert werden kann, daß das Geschäft deshalb dieselbe Rechtsnatur aufweisen müsse wie das (hypothetische) Geschäft des anderen, läßt sich dies bei einer Geschäftsführung eines Privaten für einen Hoheitsträger vertreten. 57 Da sich die Legitimation zur GoA nach anderen Normen richtet als eine Geschäftsführung durch den Geschäftsherrn, ist es im Einklang mit sonst allgemein anerkannten Grundsätzen durchaus möglich, die Rechtsnatur des Handelns des Geschäftsführers anders zu qualifizieren als die Rechtsnatur eines hypothetischen Geschäfts des Geschäftsherrn. Während für das polizeiliche Handeln des Geschäftsherrn Sonderrecht in Gestalt der polizeirechtlichen Bestimmungen gegolten hätte, finden für das Handeln des Geschäftsführers die für jedermann geltenden Vorschriften der §§ 677 ff. BGB Anwendung, was denn bezeichnenderweise letztlich auch von den Vertretern der Gegenauffassung konzediert wird, wenn sie hier die §§ 677 ff. BGB jedenfalls analog anwenden wollen. Gegen eine öffentlichrechtliche Rechtsnatur der Geschäftsführung Privater spricht auch, daß dann, wenn die Polizei im Rahmen einer Ersatzvornahme oder einer unmittelbaren Ausführung einen Privaten beauftragt hätte, tatsächliche, der Gefahrenabwehr dienende Maßnahmen an ihrer Stelle vorzunehmen, das zwischen ihr und dem Privaten begründete Auftragsverhältnis nach ganz h. M . trotz des öffentlichrechtlichen Handelns des Auftraggebers privatrechtlicher Natur wäre und deshalb ein Aufwendungsersatzanspruch des beauftragten Geschäftsführers in unmittelbarer Anwendung des § 670 BGB begründet wäre. Dann muß dasselbe aber auch für das an die Stelle eines vertraglichen Auftragsverhältnisses tretende, durch GoA begründete Rechtsverhältnis gelten. Indiziert wird die privatrechtliche Rechtsnatur einer Geschäftsführung Privater für die Polizei ferner dadurch, daß diese Geschäftsführung häufig nicht nur dem polizeilichen Interesse, sondern auch dem Interesse privater Dritter dienen kann. Eine von einem Privaten getätigte GoA im Interesse eines Privaten ist aber jedenfalls dann, wenn es um die Erfüllung einer den Geschäftsherrn treffenden privatrechtlichen Pflicht geht, unbestreitbar als eine privatrechtliche, den §§ 677 ff. BGB unterfallende GoA anzusehen. Daran kann sich auch dann nichts ändern, wenn die 57
Nicht überzeugend daher E. Blas, Geschäftsführung ohne Auftrag, Passau 1991, S. 58; Erichsen (Anm. 15), § 29 Rn. 16; Gusy (Anm. 53), 69.
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Geschäftsführung zugleich auch für einen Hoheitsträger erfolgte. Eine Doppelnatur der Geschäftsführung, 58 je nachdem, um die Wahrnehmung welcher Interessen es dem Geschäftsführer geht, dürfte auch hier wegen der mit ihr verbundenen Wertungswidersprüche dem positiven Recht widersprechen. Deshalb liegt z. B. eine privatrechtliche, den §§ 677 ff. BGB unterfallende Geschäftsführung nicht nur dann vor, wenn ein Privater eine Handlung vornimmt, die der Erfüllung einer einem anderen Privaten obliegenden Verkehrssicherungspflicht dienen soll, sondern ebenso auch dann, wenn es ihm bei der Verkehrssicherung zugleich auch darum geht, eine Aufgabe der Polizei zu erfüllen. Ohnehin wird in den Fällen, in denen an der Erfüllung einer Pflicht eines Privaten ein öffentliches Interesse besteht und der Geschäftsherr selbst nicht in der Lage ist, seiner Pflicht rechtzeitig nachzukommen, typischerweise auch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestehen, für deren Abwehr - auch unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität des polizeilichen Handelns - die Polizei gleichfalls zuständig ist. Daß die §§ 677 ff. BGB auch auf eine private GoA anwendbar sind, die zugleich der der Polizei obliegenden Gefahrenabwehr dient, belegt auch die Regelung des § 680 BGB, welche die Abwendung einer dem Geschäftsherrn drohenden Gefahr zum Gegenstand hat. Für die unmittelbare Anwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB auf eine GoA, mit der zugleich auch das Geschäft eines Hoheitsträgers wahrgenommen wird, lassen sich noch weitere teleologische und systematische Auslegungsgesichtspunkte ins Feld führen. Da die durch einen Privaten für einen Hoheitsträger erfolgende GoA ebenso wie die für einen Privaten erfolgende Geschäftsführung auf einer privatautonomen, altruistisch motivierten Entscheidung des Geschäftsherrn beruht, ist auch aus diesem Grund die mit der Heranziehung der §§ 677 ff. BGB verbundene Haftungseinschränkung des § 680 BGB wie auch der Anspruch auf Ersatz der Aufwendungen gem. §§ 683, 670 BGB sehr wohl sinnvoll. Insoweit besteht ein charakteristischer Unterschied zu einer öffentlichrechtlichen GoA durch einen Polizeiträger, die innerhalb des diesem gesetzlich zugewiesenen Aufgabenbereichs erfolgt und zugleich auch dem Interesse eines Privaten dienen soll und bei der deshalb - wie oben unter II. 1. gezeigt - eine unmittelbare wie auch eine analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB ausscheidet. Anders als bei einer polizeilichen Gefahrenabwehr, bei der kein Bedürfnis für einen Rückgriff auf die privatrechtlichen Vorschriften der GoA besteht und diese mit der durch den Gesetzgeber gewollten abschließenden Regelung der polizeilichen Befugnisse nicht vereinbar wäre, ergäben sich ohne die Anerkennung einer aus den §§ 677 ff. BGB abgeleiteten Legitimation Privater, für den zuständigen Polizeiträger tätig zu werden und - hiermit zusammenhängend - einen Ersatz ihrer Aufwendungen verlangen zu können, wegen eines fehlenden materiellen Anreizes eine bedenkliche Einschränkung der Effektivität der Gefahrenabwehr. Die Polizei- und Ordnungsgesetze regeln nämlich nur die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch polizeiliche Hoheitsträger und die hiermit in Verbindung stehende Frage der Kostentragung, nicht hin-
58
Für eine solche Doppelnatur hier aber Nedden (Anm. 7), S. 200.
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gegen die aus eigener Initiative erfolgende Gefahrenabwehr durch Private, obwohl das Bedürfnis zur Legitimation und zum Ausgleich bei Gefahrenabwehrmaßnahmen, die der Erfüllung von öffentlichrechtlichen Pflichten Privater dienen, typischerweise sogar größer sein dürfte als dort, wo es nur um die Erfüllung der diesen obliegenden privatrechtlichen Pflichten geht (s. auch den Rechtsgedanken der Subsidiarität des polizeilichen Handelns, z. B. gem. § 2 I I BWPolG). Die bei einem privatrechtlichen Rechtscharakter einer solchen Geschäftsführung ermöglichte Begründung eines Aufwendungsersatzanspruchs in unmittelbarer Anwendung der §§ 683, 670 BGB wirkt sich aber nicht nur auf die Bereitschaft zur Hilfeleistung Privater in Fällen einer den Polizeibehörden nicht rechtzeitig möglichen Gefahrenabwehr förderlich aus. Durch die Bejahung eines Aufwendungsersatzanspruchs wird zudem ein schwerwiegender Wertungswiderspruch vermieden. Dieser müßte sich hingegen dann ergeben, wenn zwar der durch eine Polizeiverfügung zur Gefahrenabwehr herangezogene Nichtstörer den ihm hieraus entstehenden Schaden im Wege eines Entschädigungsanspruchs geltend machen könnte, er hingegen ohne ausreichenden Ersatz bliebe, falls er in altruistischer Weise Gefahrenabwehrmaßnahmen deshalb von selbst ergriff, weil die Polizei diese nicht rechtzeitig selbst veranlassen konnte, sein Handeln aber auch hier zu einem Wegfall der Gefahr führt. Die Heranziehung eines privatrechtlichen Bereicherungsanspruchs oder eines öffentlichrechtlichen Erstattungsanspruchs, 59 der umfangmäßig sowohl hinter einem Aufwendungsersatzanspruch wie auch einem Entschädigungsanspruch zurückbleiben würde, wäre nicht in der Lage, diesen Wertungswiderspruch zu vermeiden. Eine privatrechtliche GoA ließe sich damit allenfalls dann noch ausschließen, wenn andere Vorschriften der §§ 677 ff. BGB nicht auf die Geschäftsführung für einen Hoheitsträger passen würden und es insoweit zur Anwendung von Sonderrecht käme. Das trifft aber nicht zu. Insbesondere stehen auch der Anwendung des § 679 BGB keine prinzipiellen Bedenken entgegen [s. dazu auch unten IV. 1. e)]. Deshalb scheiterte auch der mitunter unternommene Versuch, 60 aus einer Nichtanwendbarkeit dieser Vorschrift auf die öffentlichrechtliche Rechtsnatur einer (auch) der Erfüllung polizeilicher Aufgaben dienenden GoA zu schließen. Daß bei der Anwendung des § 679 BGB öffentlichrechtliche Vorfragen Bedeutung erlangen können, schließt im Einklang mit sonst allgemein anerkannten Grundsätzen den privatrechtlichen Rechtscharakter einer GoA nicht aus. Entscheidend für die Rechtsnatur einer Befugnis kann hier - wie sonst - vielmehr nur sein, ob diese unmittelbar auf Sonderrecht beruht; § 679 ist aber sowohl auf eine Geschäftsführung Privater für einen privaten Geschäftsherrn wie auch auf die Geschäftsführung für einen Hoheitsträger anwendbar. Widersprüchlich erscheint es deshalb auch, wenn im Hinblick auf eine angeblich unterschiedliche Interessenlage bei der Geschäftsführung für einen Privaten und der für einen Hoheitsträger eine unmittel59
Für einen solchen Erstattungsanspruch Wollschläger (Anm. 39), S. 50 ff.
60 So von Nedden (Anm. 7), S. 199.
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bare Anwendung der §§ 677 ff. BGB auf letztere abgelehnt, jedoch gleichzeitig für deren analoge Anwendung plädiert w i r d . 6 1 Hier bleibt nicht nur unklar, was mit einer solchen Analogie gewonnen werden soll; ein derartiger Analogieschluß würde sich bei tatsächlichen Unterschieden in der Interessenlage sogar wegen fehlender Übereinstimmung der ratio legis verbieten.
b) Die Führung des Geschäfts eines anderen Die tatbestandliche Einschlägigkeit des § 677 BGB steht jedenfalls dann außer Zweifel, wenn der Private anstelle der Polizei eine Gefahrenabwehrmaßnahme ergreift, an deren Vornahme er kein Interesse hat. Aber selbst dann, wenn die Geschäftsführung seinem eigenen Interesse dient, schließt dies allein noch nicht eine Geschäftsführung für die Polizei aus. Ebenso wie bei einer Geschäftsführung für einen Privaten muß es auch bei einer GoA für einen Hoheitsträger genügen, wenn jedenfalls auch das Geschäft eines anderen geführt wird. Die Gründe, welche bei einer Geschäftsführung für einen Privaten die h. M . dazu veranlassen, es als ausreichend anzusehen, wenn der Geschäftsführer auch die Geschäfte eines anderen besorgt, sprechen auch im vorliegenden Zusammenhang für eine entsprechend weite Interpretation des § 677 BGB. Beide Male beruht die Geschäftsführung auf einer privatautonomen Entscheidung des Geschäftsführers und nicht auf einem Vollzug eines gesetzlichen Auftrags, und beide Male besteht ein Bedürfnis nach einem über andere Vorschriften nicht in derselben Weise gesicherten interessengerechten Vermögenswerten Ausgleich (s. auch unten III. 2.) zwischen Geschäftsführer und Geschäftsherrn [s. auch oben II. 1. b) aa)J. Aus diesem Grund steht es der Anwendung der §§ 677 ff. BGB nicht im Wege, wenn die Geschäftsführung des Privaten zugleich der Erfüllung eines diesem gegen den Geschäftsherrn zustehenden Anspruchs dient; ohnehin wird der Geschäftsführer in concreto im übrigen vielfach nur einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörde haben. Anderes hat allerdings dann zu gelten, wenn der Geschäftsführer eine für ihn bestehende materielle Polizeipflicht erfüllt, d. h. Störer ist. In diesem Fall erfüllt er eine primär ihn treffende Pflicht, weshalb die Polizei ihm gegenüber auch grundsätzlich nur dann Gefahrenabwehrmaßnahmen treffen darf, wenn er selbst nicht bereits von sich aus auf eine Unterlassung der Gefahr bzw. die Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung hinwirkt. Verpflichtet ihn die Polizei zu bestimmten Gefahrenabwehrmaßnahmen, so hat er diese durchzuführen, ohne hierfür eine Entschädigung zu erhalten. Läßt die Polizei die Maßnahme durch andere durchführen, so hat sie nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen dem Störer gegenüber einen Kostenersatzanspruch. 62 A l l dies zeigt, daß hier der Private nicht auch ein 61 So aber z. B. BGH, N V w Z 2004, 764 (765); Knapp (Anm. 41), S. 144 ff. 62 S. dazu den Nachweis der einschlägigen gesetzlichen Regelungen bei Schenke (Anm. 6), Rn. 698 und 703.
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Geschäft der Polizei führt und deshalb die mit der Anwendung der §§ 677 ff. BGB verbundene Ausgleichsfunktion hier nicht paßt. Selbst wenn man dies anders sähe, ergäbe sich hier die tatbestandliche Unanwendbarkeit des § 677 BGB jedenfalls daraus, daß der Störer gegenüber der Polizei nicht nur zur Erfüllung seiner materiellen Polizeipflicht verpflichtet, sondern dieser gegenüber auch berechtigt ist. Aus der Unanwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB auf ein Handeln eines Privaten, das der Erfüllung einer ihm dienenden Polizeipflicht dient, folgt auch, daß ein Handeln eines Privaten, das der Erfüllung einer diesem nach § 323 c StGB obliegenden Hilfeleistungspflicht dient, nicht unter die §§ 677 ff. BGB subsumierbar ist. Auch hier ist der Private bei Nichterfüllung der ihm obliegenden Hilfeleistungspflicht Störer. Genauso wie er in einem solchen Fall beim Erlaß einer polizeilichen Verfügung, die ihn (zusätzlich) zur Erfüllung seiner sich bereits aus § 323 c StGB ergebenden Hilfeleistungspflicht anhält, als Störer keinen Entschädigungsanspruch geltend machen kann, 6 3 muß ihm die Geltendmachung von Aufwendungsersatzansprüchen gem. §§ 683, 670 BGB verschlossen sein. Den Interessen des privaten Nothelfers wird im Fall des § 323c StGB dadurch Rechnung getragen, daß ihm durch § 2 I Nr. 13 a SGB V I I i. V. mit §§ 8, 13, 26 ff. SGB V I I sozialversicherungsrechtliche Leistungsansprüche zuerkannt werden. Zudem stehen ihm, wie unter V. 2. noch zu zeigen sein wird, Aufwendungsersatzansprüche gegenüber dem in Not Geratenen zu.
c) Keine „Berechtigung
" zur Geschäftsführung
i. S. des § 677 BGB
Einer auf die §§ 677 ff. BGB gestützten Legitimation des Handelns Privater steht auch nicht das Bestehen einer anderweitig begründeten Handlungsberechtigung des Privaten entgegen. Eine solche wäre ohnehin nur dann erwägbar, wenn der Betroffene einen Rechtsanspruch auf ein polizeiliches Handeln besäße. Ganz abgesehen davon, daß ein solcher Anspruch im Hinblick auf das polizeiliche Opportunitätsprinzip nur selten gegeben sein wird, schließt dies die Anwendung des § 677 BGB aber schon deshalb nicht aus, weil das Recht, vom Geschäftsherrn etwas verlangen zu können, nicht mit der für § 677 BGB maßgeblichen Berechtigung, die geschuldete Leistung des Geschäftsherrn an seiner Stelle vornehmen zu können, gleichgesetzt werden kann. Im Fall einer Hilfeleistung eines Privaten nach § 323 c StGB begründet die materielle Polizeipflicht zur Hilfe zwar auch eine gegenüber der Polizei bestehende Berechtigung zur Geschäftsführung; bei dieser Fallgestaltung folgt aber die Unanwendbarkeit der §§ 677 ff. BGB bereits daraus, daß der Private nicht das Geschäft der Polizei führt.
Dazu Schenke (Anm. 6), Rn. 694. 36 FS Bartlsperger
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d) Kein Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes Bedenken gegen eine Rechtfertigung des der Gefahrenabwehr dienenden Handelns Privater unter dem Gesichtspunkt der GoA scheinen sich freilich prima facie insoweit aufzudrängen, als sie mit einem Eingriff in den Kompetenzbereich der Polizeibehörden verbunden zu sein scheint. Das dürfte denn auch der Hauptgrund sein, aus dem heraus die h. M . eine GoA Privater zugunsten der Polizei als öffentlichrechtlich qualifizieren w i l l und damit zugleich eine unmittelbare Anwendung der §§ 677 ff. BGB ablehnt 6 4 und man sich mitunter sogar generell gegen einen Rückgriff auf das Institut der GoA ausspricht. 65 Diesbezügliche Einwände schwächen sich allerdings schon deshalb ab, weil die gesetzliche Zuweisung der Gefahrenabwehr an bestimmte Polizei- und Ordnungsbehörden zwar regelmäßig andere staatliche Behörden - vorbehaltlich der Statuierung von Notzuständigkeiten - von der Wahrnehmung dieser Kompetenzen ausschließt, eine Abgrenzung der Zuständigkeiten von Polizeibehörden und Privaten hingegen nicht geregelt ist und deshalb auch die Wahrnehmung von Gefahrenabwehrmaßnahmen durch Private nicht ausgeschlossen werden kann. 6 6 Geht man, wie hier vertreten, davon aus, daß die für einen Hoheitsträger erfolgende GoA eines Privaten sich als eine privatrechtliche Handlung darstellt, so fehlte es dem nur für die Regelung des Polizei- und Ordnungsrechts zuständigen Landesgesetzgeber ohnehin an einer Gesetzgebungskompetenz für die Normierung entsprechender Befugnisse von Privaten und damit konsequenterweise auch für deren Ausschluß. Der Umstand, daß der Landesgesetzgeber eine der Gefahrenabwehr dienende GoA für einen polizeilichen Hoheitsträger nicht auszuschließen vermag, bedeutet allerdings noch nicht, daß die polizeirechtlichen Befugnisnormen für eine privatrechtliche Geschäftsordnung ohne Auftrag bedeutungslos wären. Das kann schon deshalb nicht der Fall sein, weil die Pflichten, um deren Erfüllung es bei einer GoA geht, keineswegs notwendigerweise bundesrechtlich begründete Pflichten zu sein brauchen und deshalb auch eine erst durch die landesrechtlichen Polizei- und Ordnungsgesetze begründete polizeiliche Pflicht einen Anknüpfungspunkt für eine privatrechtliche GoA bilden kann. Darüber hinausgehend stehen im Bundesstaat Bundes- und Landesrechtsordnung nicht beziehungslos nebeneinander, weshalb bei der Ausübung bundesrechtlich begründeter Befugnisse, jedenfalls unter dem Aspekt der Bundestreue, auf landesrechtlich begründete Kompetenzen von Hoheitsträgern Rücksicht zu nehmen ist und diese nicht ausgehöhlt werden dürfen. Insbesondere sind auch landesrechtlich begründete Wertungen bei der Interpretati64
Für analoge Anwendung z. B. Nedden (Anm. 7), S. 139 ff.
65 Kischel (Anm. 23), 400 f.; Schoch (Anm. 7), 102 ff. 66 Nicht überzeugend deshalb Kischel (Anm. 23) 1999, 400 f.; Schoch (Anm. 7), 103, wonach die staatliche Kompetenzordnung auch ein Agieren von Privaten verbiete. Dabei wird allerdings fälschlich davon ausgegangen, das Handeln des Privaten sei als schlichthoheitlich anzusehen und deshalb komme hier eine unmittelbare Anwendung der §§ 677 ff. B G B nicht in Betracht.
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on unbestimmter Rechtsbegriffe des Bundesrechts zu berücksichtigen. Das gilt zumal dann, wenn landesrechtliche Regelungen Ausfluß verfassungsrechtlicher Prinzipien sind, die sowohl für das Bundesrecht wie auch für das Landesrecht gelten. Diesen Erfordernissen wird aber bei einer unmittelbaren Anwendung der §§ 677 ff. BGB auf eine der Gefahrenabwehr dienende GoA durch Private genügt. Wie noch zu zeigen sein wird, wird bei ihr die Zuständigkeit der Polizei- und Ordnungsbehörden nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einer GoA werden nur in seltenen Fällen vorliegen.
e) GoA wegen Übereinstimmung mit dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn Eine Geschäftsführung Privater läßt sich grundsätzlich nicht auf den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der zuständigen Polizeibehörden stützen. Vielmehr ist typischerweise davon auszugehen, daß die Behörden die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben selbst wahrnehmen und die Erfüllung dieser Aufgabe nicht einem Privaten überlassen wollen. Es erscheint sogar fraglich, ob die Polizei überhaupt rechtlich in der Lage wäre, einem Privaten die Erfüllung der ihr obliegenden Aufgabe der Gefahrenabwehr zu gestatten und sich damit zugleich deren eigener Wahrnehmung zu entziehen. 67 Das dürfte jedenfalls dann ausgeschlossen sein, wenn wegen der besonderen Schwere einer Gefahr das polizeiliche Entschließungsermessen auf Null reduziert ist, für die Wahrnehmung der polizeilichen Aufgabe besondere rechtsstaatliche, insbesondere verfahrensrechtliche Erfordernisse gelten, 6 8 die durch eine GoA Privater umgangen werden könnten, und die Polizeibehörde eine erforderliche Gefahrenabwehrmaßnahme selbst rechtzeitig treffen könnte. In einem solchen Fall wäre eine Einwilligung der Polizei in eine durch einen Privaten aus eigener Initiative besorgte Gefahrenabwehr rechtswidrig und könnte auch nicht vom Vorliegen einer mutmaßlichen Einwilligung ausgegangen werden. 6 9 Anderes ist hingegen dann anzunehmen, wenn es um die Vornahme polizeilicher Realakte im Binnenbereich des Polizeiträgers geht, wie z. B. Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich der im Eigentum eines Hoheitsträgers stehenden Sachen oder sonstige Realakte, die andere gefährdete Personen begünstigen. Hier kann es keine Rolle spielen, ob die Polizei die Aufgabe selbst bzw. durch einen von ihr beauftragten Privaten wahrnimmt oder ob sie im Wege einer GoA durch einen Privaten erfüllt wird. 67 S. dazu auch Wollschläger (Anm. 39), S. 55 m. w. N.; Klein, (Anm. 22), 169, der eine GoA Privater nur unter den Voraussetzungen des § 679 BGB zulassen w i l l ; dagegen Ch.-F. Menger, VerwArch. Bd. 69 (1978), 397 (400 f.). 68 Allerdings dürfte diese Einschränkung deshalb kaum Bedeutung erlangen, weil eine Geschäftsführung ohne Auftrag, die mit Eingriffen in die Rechte Dritter verbunden ist, ohnehin unter dem Gesichtspunkt einer Geschäftsführung allein für den Hoheitsträger nicht gerechtfertigt werden kann (s. unten 6). 69 Nicht ausreichend beachtet wird dies durch Nedden (Anm. 7), S. 182. 36=
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Selbst bei Bestehen eines Entschließungsermessens kann eine Einwilligung der zuständigen Polizeibehörde nur dann unterstellt werden, wenn diese sich in ermessensfehlerfreier Weise entschieden hat, selbst keine Gefahrenabwehrmaßnahme vorzunehmen und diese an ihrer Stelle durch einen Privaten vornehmen zu lassen. Solange sie ein diesbezügliches Ermessen nicht ausgeübt hat, kann hingegen nicht davon ausgegangen werden, daß die Geschäftsführung ihrem tatsächlichen oder ihrem mutmaßlichen Willen entspricht und damit für sie eine Pflicht zum Aufwendungsersatz gem. §§ 683, 670 BGB begründet wird. Jedenfalls kann i m Hinblick auf das der Polizei sowohl hinsichtlich des Ob wie auch des Wie der Gefahrenabwehr eingeräumten Ermessens grundsätzlich nicht im vorhinein unterstellt werden, die private Gefahrenabwehr entspreche dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen der mit der Gefahrenabwehr betrauten Polizei- bzw. Ordnungsbehörde. Davon kann selbst dann nicht ausgegangen werden, wenn es der zuständigen Polizeibehörde aufgrund einer Ermessensschrumpfung untersagt wäre, selbst eine Gefahrenabwehrmaßnahme vorzunehmen. Dies gilt nicht nur deshalb, weil aus dem Nichthandeln der Polizei keineswegs gefolgert werden kann, daß sie mit einer Geschäftsführung durch einen Privaten an ihrer Stelle einverstanden ist, wenn diese zu einer Aufwendungsersatzpflicht führt. Die Bejahung einer Geschäftsführung für den Polizeiträger scheitert vielmehr bereits daran, daß, wenn es der Polizei untersagt ist, selbst eine Gefahrenabwehrmaßnahme zu treffen, sie auch nicht berechtigt ist, unter Flucht in das Privatrecht einen Privaten zu einer Geschäftsführung an ihrer Stelle zu ermächtigen. Auch eine noch in Betracht kommende nachträgliche Genehmigung der GoA durch den Polizei träger, die nach § 684 S. 2 BGB einen Aufwendungsersatzanspruch begründete, wird - von sonstigen Bedenken einmal abgesehen - in der Regel bereits daran scheitern, daß der Polizeiträger kein Interesse an einer Genehmigung hat, weil diese ihn zum Ersatz der Aufwendungen des privaten Geschäftsführers verpflichtete.
f) GoA wegen öffentlichen Interesses an der Erfüllung einer polizeilichen Pflicht nur in Notfällen Eine GoA wird aber auch unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an der Erfüllung einer der Polizei obliegenden Pflicht (§ 679 BGB) nur selten gerechtfertigt sein. Das ergibt sich bereits daraus, daß es aufgrund des im Polizeirecht geltenden Opportunitätsprinzips in das Ermessen der Polizei gestellt ist, ob sie zur Abwehr einer Gefahr handelt. Damit fehlt es dann aber bereits an einer der Polizei obliegenden Pflicht, wie sie durch § 679 BGB gefordert wird. Selbst bei einer in bezug auf das Entschließungsermessen zu bejahenden Ermessensschrumpfung auf Null wird ein öffentliches Interesse an einer GoA durch Private - von noch zu behandelnden Sonderfällen abgesehen - aber meist zu verneinen sein. Für ein öffentliches Interesse i. S. des § 679 BGB genügt es nämlich noch nicht, daß an der Erfüllung einer Pflicht durch den Hoheitsträger ein öffentliches
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Interesse besteht, was regelmäßig zutreffen wird; vielmehr muß auch gerade an der Erfüllung der Pflicht durch den Geschäftsführer ein öffentliches Interesse bestehen. 7 0 A n dieser Voraussetzung wird es regelmäßig dann fehlen, wenn den Polizeiund Ordnungsbehörden grundsätzlich noch ein Ermessen hinsichtlich des Wie der Geschäftsführung zukommt, 7 1 dieses bisher nicht ausgeübt wurde und auch noch ausreichend Zeit für seine Ausübung bleibt. Aber sogar bei einer - nur in Ausnahmefällen anzunehmenden - Ermessensschrumpfung auf Null auch hinsichtlich des Wie der Gefahrenabwehr wie auch in sonstigen Fällen des Bestehens einer polizeilichen Pflicht zur Vornahme einer ganz bestimmten Gefahrenabwehrmaßnahme kommt eine GoA keineswegs immer in Betracht. Diente die GoA zumindest (auch) dem Interesse des privaten Geschäftsführers, für dessen Individualrechtsgüter Gefahren bestehen, so liefe die uneingeschränkte Zuerkennung einer solchen GoA auf eine Substitution des bundesrechtlich geregelten Rechtsschutzes durch eine private GoA hinaus. Die Legitimation einer GoA unter dem Gesichtspunkt eines öffentlichen Interesses bedeutete damit der Sache nach die Anerkennung einer Selbsthilfe über jene Fälle hinaus, in welchen diese durch § 229 BGB gesetzlich anerkannt ist. Sie verbietet sich deshalb grundsätzlich dort, wo bereits über die in der V w G O geregelten Verfahren (einschließlich der vorläufigen Rechtsschutzverfahren) ein effektiver Rechtsschutz sichergestellt ist. Allerdings kann sich, insbesondere dann, wenn sich die für die Gefahrenabwehr zuständige Behörde wegen einer von ihr behaupteten Unzuständigkeit weigert, Gefahrenabwehrmaßnahmen zu treffen, unter Abwägung aller Umstände u. U. etwas anderes ergeben. 72 Freilich kann aus diesem grundsätzlich (von Sonderfällen abgesehen) bestehenden Verbot der Selbsthilfe zur Durchsetzung subjektiver Rechte nicht gefolgert werden, daß damit die Bejahung eines öffentlichen Interesses an der Erfüllung einer Rechtspflicht erst recht dort ausgeschlossen sein müsse, wo der Pflicht des Geschäftsherrn kein subjektives Recht des Geschäftsherrn entspricht. 73 Ein solcher „Erst-recht-Schluß" verbietet sich schon wegen der grundsätzlichen Unterschiede der Interessenlage zwischen den Fällen, in welchen einer Pflicht des Geschäftsherrn ein subjektives Recht des Geschäftsführers entspricht, und jenen, bei denen es an solchen subjektiven Rechten des Geschäftsführers mangelt. Im letzteren Fall stellt sich die Problematik einer Selbsthilfe gar nicht und kann die Zulassung einer auf § 679 BGB gestützten GoA wegen Fehlens eines gerichtlichen Rechtsschutzes für den Geschäftführer auch nicht zu dessen Aushöhlung führen. Vor allem aber liegt der Sinn des § 679 BGB nicht darin, ein Instrument zur Durchsetzung subjektiver Rechte des Geschäftsführers bereitzustellen, 70 BGH, NJW 1978, 1258; BVerwGE 80, 170 (173). 71
S. auch Schoch (Anm. 7), 108, der allerdings hieraus zu weitgehende Folgerungen zieht, wenn er generell eine GoA durch Private als rechtlich ausgeschlossen ansieht. 72 BVerwGE 80, 170 (175); s. auch Ossenhühl, (Anm. 45), S. 344: „Jedenfalls sind i m Einzelfall alle gegebenen Umstände sorgfältig zu eruieren". 73 So aber Kischel (Anm. 23), 400; Nedden (Anm. 7), S. 190; s. auch Schoch (Anm. 7), 93.
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sondern einen Anreiz für ein (beim Bestehen subjektiver Rechte des Geschäftsführers nicht gegebenes) altruistisches Handeln zu schaffen, das einer im öffentlichen Interesse liegenden Erfüllung von Pflichten dient. § 679 BGB stellt deshalb nach seinem eindeutigen Wortlaut nicht auf eine Verletzung von Rechten, sondern von Pflichten ab. Die Unhaltbarkeit der Gegenansicht wird zudem daran deutlich, daß in ihrer Konsequenz ein Privater auch dort nicht zur Geschäftsführung gem. § 679 BGB ermächtigt sein dürfte, wo ihm kein Recht auf die Erfüllung einer privatrechtlichen Pflicht zusteht (z. B. einer gesetzlichen Unterhaltspflicht). Die Anwendung des § 679 BGB auf einen solchen Fall ist aber noch nie in Frage gestellt worden. Genausowenig wie aus dem Fehlen bürgerlichrechtlicher Ansprüche des privaten Geschäftsführers auf eine Unanwendbarkeit des § 679 BGB geschlossen werden kann, muß dies dann konsequenterweise aber auch dort gelten, wo es diesem an entsprechenden subjektiven öffentlichen Rechten fehlt. Diese gegen die Bejahung eines öffentlichen Interesses sprechenden Gründe kommen aber dann nicht zum Tragen, wenn ein Notfall besteht und der Polizei die Vornahme einer rechtlich gebotenen Gefahrenabwehr nicht rechtzeitig möglich ist. Bejaht man hier ein öffentliches Interesse an der Geschäftsführung, so könnte zwar einem noch bestehenden polizeilichen Auswahlermessen nicht Rechnung getragen werden. Faktisch wäre aber hier ohnehin keine Ermessensausübung hinsichtlich des Wie des polizeilichen Handelns möglich gewesen, da das polizeiliche Handeln aus Zeitgründen zu spät kommen würde. Andererseits könnte hier ohne die Bejahung eines öffentlichen Interesses an der Geschäftsführung die Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht abgewendet werden, obwohl ein polizeiliches Handeln wegen des Überschreitens der Schädlichkeitsgrenze rechtlich zwingend geboten wäre. Der Hinweis, die Polizei hätte bei rechtzeitiger Kenntnisnahme von der Gefahrensituation möglicherweise die Gefahr in einer ganz anderen Weise als der Geschäftsführer abgewehrt, kann hier genausowenig durchschlagen wie in den Fällen, in welchen eine GoA zugunsten eines privaten Geschäftsherrn erfolgte. Auch diesem würde bei einer für ihn noch möglichen rechtzeitigen Gefahrenabwehr in Konsequenz der Privatautonomie vielfach ein Spielraum hinsichtlich des Wie der Geschäftsführung verbleiben, ohne daß dies die Anwendung der §§ 677 ff. BGB in jenen Fällen ausschlösse, in welchen ihm keine ausreichende Zeit zu einer der Pflichterfüllung dienenden eigenen Geschäftsführung bliebe. Eben nur in diesen Fällen ist aber nach der hier vertretenen Ansicht eine Geschäftsführung zugunsten eines Polizeiträgers zulässig. Das heißt aber, daß auch insoweit kein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer GoA für einen Privaten und für einen Hoheitsträger besteht, der eine unterschiedliche rechtliche Behandlung der Geschäftsführung für die Polizei und für einen privaten Geschäftsherrn legitimierte. Von einer Gleichheit der Interessenlage geht denn bezeichnenderweise auch der B G H 7 4 aus, wenn er in den Fällen einer Geschäftsführung eines Privaten für einen Hoheitsträger die §§ 677 ff. BGB analog anwenden will.
74 BGH, N V w Z 2004, 764 (765).
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g) Keine Einschränkung rechtsstaatlicher Grundsätze bei einer auf Notfälle beschränkten Geschäftsführung Beschränkt man die GoA auf die Notfälle, in welchen ein rechtzeitiges Handeln der Polizei nicht möglich wäre, so führt sie auch zu keiner Beschneidung rechtsstaatlicher Garantien. Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Vorbehalts des Gesetzes bestehen gegenüber einer so begrenzten Geschäftsführung nicht. Zum einen gilt der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes nicht für ein privatrechtliches Handeln Privater, zum anderen besteht in Gestalt der hier unmittelbar anwendbaren §§ 677 ff. BGB eine Rechtsgrundlage für das Handeln Privater, das einer Abwehr von Gefahren für polizeirechtlich geschützte Rechtsgüter dient. Ohnehin wird durch die Anwendung der §§ 677 ff. BGB das Handeln des privaten Geschäftsführers in Konsequenz auch sonst allgemein anerkannter Grundsätze nur gegenüber dem Geschäftsherrn gerechtfertigt, nicht aber im Verhältnis zu anderen Personen, in deren Rechte durch eine GoA eingegriffen w i r d . 7 5 Soweit in deren Rechte eingegriffen wird, bedarf es einer eigenständigen Rechtfertigung. Dabei kann sich diese allerdings auch daraus ergeben, daß eine im Interesse der Polizeibehörde vorgenommene GoA zugleich auch eine Geschäftsführung für Private darstellen kann und insoweit Eingriffe in deren Rechtsstellung legitimiert. Liegen neben den Voraussetzungen für eine GoA im Interesse eines Hoheitsträgers auch die Voraussetzungen für eine GoA im Interesse Privater vor oder ist das Handeln des Geschäftsführers gegenüber einem Privaten jedenfalls aus einem anderen Grund gerechtfertigt, so können auch unter dem Aspekt des Vorbehalts des Gesetzes keine Einwände gegen eine für einen Hoheitsträger erfolgende GoA erhoben werden. Die Berechtigung eines Privaten zu einer GoA für die Polizei läßt sich auch nicht mit dem Argument in Frage stellen, daß eine Geschäftsführung Privater nicht den rechtsstaatlichen Verfahrensvoraussetzungen genügt, denen die Verwaltung bei eigenen Gefahrenabwehrmaßnahmen unterliegen würde. Solche Verfahrensvorschriften würden bei einer in Notfällen zulässigen unmittelbaren Ausführung bzw. einem Sofortvollzug durch die Polizei ohnehin nicht gelten. Auch eine unzulässige Beschränkung bzw. eine Substitution des gerichtlichen Rechtsschutzes findet nicht statt, da bei den hier angesprochenen Fallgestaltungen sowohl in einem Hauptsacheverfahren wie auch im Wege eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens effektiver gerichtlicher Rechtsschutz nicht gewährleistet wäre. In diesem Punkt ergibt sich damit ebenfalls eine Parallele zu einer unbestreitbar den §§ 677 ff. BGB unterfallenden GoA für einen privaten Geschäftsherrn. Auch diese läßt sich im Hinblick auf die Möglichkeit eines auf die Geschäftsbesorgung gerichteten Rechtsschutzes jedenfalls dann nicht ausschließen, wenn der hier durch einen Justizgewährleistungsanspruch verfassungsrechtlich garantierte und in der ZPO näher konkretisierte gerichtliche Rechtsschutz bei Notfallsituationen aus Zeitgründen nicht effektiv wäre.
S. statt vieler Erichsen (Anm. 15), § 29 Rn. 15.
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2. Aufwendungsersatzansprüche eines privaten Geschäftsführers Aus dem vorher Gesagten folgt zugleich, daß ein Aufwendungsersatzanspruch in unmittelbarer Anwendung der §§ 683, 670 BGB dann zu befürworten ist, wenn ein Privater tatsächliche Handlungen vornimmt, die zugleich (jedenfalls auch) den Interessen der Polizei dienen sollen. Ebenso wie sich in Notfällen solche Handlungen in unmittelbarer Anwendung der §§ 677 ff. BGB legitimieren lassen, kommt hier die mit der Legitimationsfunktion der GoA in systematisch-funktionalem Zusammenhang stehende Ausgleichsfunktion dieses Instituts zum Tragen, wie sie in den §§ 683, 670 BGB ihren Ausdruck gefunden hat. Deshalb kann der private Geschäftsführer einen Ersatz seiner Aufwendungen gem. den §§ 683, 670 BGB verlangen. Dem steht nicht entgegen, daß die für einen Hoheitsträger erfolgende GoA u. U. zugleich auch im Interesse eines Privaten vorgenommen wurde. So wie es auch sonst möglich ist, daß ein Geschäftsführer die Geschäfte mehrerer Personen gleichzeitig führt und ihm dann gegenüber jedem dieser Geschäftsherren ein Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen zusteht, muß dies auch dann gelten, wenn das Geschäft nicht für zwei private Geschäftsherren geführt wird, sondern einer der Geschäftsherren ein Hoheitsträger ist. Auch dann ist, wie sonst allgemein anerkannt wird, von einer gesamtschuldnerischen Haftung des Geschäftsherrn auszugehen. Praktisch bedeutsam wird die Verpflichtung des Hoheitsträgers zum Aufwendungsersatz bei der geschilderten Fallage vor allem dort werden, wo der Anspruch gegenüber dem privaten Geschäftsherrn nicht durchsetzbar ist, etwa weil dieser nicht leistungswillig oder -fähig ist, z. B. weil ihm gegenüber mittlerweile das Insolvenzverfahren eröffnet ist. Zwischen den Gesamtschuldnern findet im Innenverhältnis ein Ausgleich nach Maßgabe des hier unmittelbar anwendbaren § 426 BGB statt. Dabei kann für das Bestehen und den Umfang des internen Ausgleichanspruchs bedeutsam werden, wer ohne die GoA letztlich die Kosten für die Gefahrenabwehrmaßnahme zu tragen gehabt hätte. Ergibt sich etwa der Aufwendungsersatzanspruch des Privaten daraus, daß er mit seiner Geschäftsführung ein Geschäft auch eines materiell polizeipflichtigen Störers führt, so hat im Innenverhältnis zwischen dem Hoheitsträger und dem polizeipflichtigen Privaten ausschließlich dieser die Kosten für die Aufwendungen zu tragen. Wird deshalb der polizeiliche Hoheitsträger durch den Geschäftsführer nach Maßgabe der §§ 683, 670 BGB in Anspruch genommen, so kann dieser von dem privaten Störer den vollen Ersatz der von ihm verauslagten Aufwendungen verlangen, da er bei Vornahme der Gefahrenabwehrmaßnahme im Wege der unmittelbaren Ausführung bzw. des Sofortvollzugs oder der Ersatzvornahme die ihm insoweit erwachsenen Kosten gegenüber dem Störer hätte geltend machen können. Dasselbe hätte auch dann gegolten, wenn der Träger der Polizei den Geschäftsführer als Nichtstörer in Anspruch genommen hätte und ihm gegenüber deshalb entschädigungspflichtig geworden wäre. Auch hier hätte ihm nach polizeirechtlichen Vorschriften wie § 57 BWPolG ein Ersatzanspruch gegenüber dem Störer zugestanden. Insoweit ergibt sich aus den genannten Vorschriften, daß der Rückgriff der Polizei i. S. des § 426 Abs. 1 S. 1 BGB abweichend von der sonst
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vorgesehenen anteiligen Kostentragung zu erfolgen hat und dem Störer letztlich die Kosten voll aufzulasten sind.
V. Die Geschäftsführung eines Privaten für einen anderen Privaten Eine der Gefahrenabwehr dienende Geschäftsführungsmaßnahme kann sich auch als eine Geschäftsführung für einen Privaten darstellen. Dies kann einmal dann der Fall sein, wenn es um die Erfüllung der den privaten Geschäftsherrn treffenden materiellen Polizeipflicht geht, ein gefährliches Verhalten zu unterlassen oder auf die Unterbindung von Gefahren hinzuwirken, die aus dem Zustand einer in dessen Eigentum stehenden oder ihm in sonstiger Weise polizeirechtlich zurechenbaren Sache resultieren. Ferner kann eine GoA aber auch der Abwehr von Gefahren dienen, die sich für einen Privaten ergeben.
1. Die Legitimation der Geschäftsführung eines Privaten Wie bereits aus dem oben Gesagten folgt, ergeben sich in bezug auf die Legitimation einer solchen GoA keine Probleme. Der Umstand, daß die im Wege einer GoA erfolgende Erfüllung von Polizeipflichten eines Störers öffentlichrechtliche Pflichten zum Gegenstand hat, steht der Bejahung einer GoA in unmittelbarer Anwendung der §§ 677 ff. B G B , 7 6 wie sich u. a. aus den §§ 679 f. BGB schließen läßt, nicht entgegen. Wenn im Bereich der Gefahrenabwehr sogar eine GoA für einen Hoheitsträger in unmittelbarer Anwendung der §§ 677 ff. BGB zulässig sein kann, muß dies erst recht für eine im Interesse eines Privaten erfolgende Geschäftsführung als prinzipiell statthaft angesehen werden. Schon aus diesem Grund überzeugt es nicht, wenn teilweise die Ansicht vertreten w i r d , 7 7 sogar eine durch einen Privaten für einen anderen Privaten durchgeführte Geschäftsführung müsse im Hinblick auf den öffentlichrechtlichen Charakter der Gefahrenabwehr als eine öffentlichrechtliche Geschäftsführung qualifiziert werden, auf welche die Vorschriften der §§ 677 ff. BGB allenfalls analog angewandt werden könnten. Vielfach wird eine materielle Polizeipflicht von Hoheitsträgern ohnehin mit zivilrechtlichen Pflichten des Geschäftsherrn einhergehen, so daß insoweit unbestrittenermaßen eine privatrechtliche GoA in Frage kommt. Zu beachten ist, daß dort, wo eine GoA im Interesse eines Privaten wie auch eines Hoheitsträgers erfolgt, die §§ 677 ff. BGB keine Basis für Ausgleichsansprüche zwischen den verschiedenen 76 Davon, daß hier eine privatrechtliche Geschäftsführung ohne Auftrag vorliegt, auf welche die §§ 677 ff. BGB unmittelbar Anwendung finden, geht die ganz h. M . aus, vgl. z. B. Bamberger (Anm. 39), 710; Gehrlein (Anm. 41) § 677, Rn. 24; Gusy (Anm. 53), 72; Schoch (Anm. 15), 247; ders. (Anm. 7), 91. 77
So z. B. Klein (Anm. 22), 170.
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Geschäftsherren liefern, da die §§ 426 ff. BGB insoweit Spezialvorschriften beinhalten. 7 8 A u f die rechtlichen Fragen, die sich in Verbindung mit einer GoA i m Interesse eines privaten Geschäftsherrn ergeben, ist an dieser Stelle nicht näher einzugehen, da sich hier auch dann, wenn durch eine solche Geschäftsführung Aufgaben der Gefahrenabwehr wahrgenommen werden, an der Anwendung der allgemeinen Regeln für eine GoA nichts ändert. Erwähnt sei nur, daß sich bei einer der Gefahrenabwehr dienenden GoA ergeben kann, daß nach den §§ 677 ff. BGB zwar die Voraussetzungen für eine GoA für den Privaten vorliegen, nicht hingegen für eine GoA im Interesse des polizeilichen Hoheitsträgers. Das kann sich schon daraus ergeben, daß bei einer Geschäftsführung Privater zwar auch das Geschäft eines anderen Privaten geführt wird, nicht jedoch das Geschäft der Polizei. Praktisch bedeutsam wird dies vor allem in Verbindung mit einer aufgrund des § 323 c StGB erfolgten Hilfeleistung Privater. Die Gründe, aus denen heraus hier eine GoA für die Polizei abzulehnen ist [s. oben unter IV. 1. b) und c)J, lassen sich nicht auf eine Geschäftsführung für den in Not geratenen Privaten übertragen. I m Verhältnis zu diesem besteht auch keine anderweitig begründete Berechtigung, welche die Anwendung der GoA nach § 677 BGB ausschließen würde. Die Vorschrift des § 323 c StGB dient ausschließlich öffentlichen Interessen und begründet keine subjektiven Rechte und damit auch kein Rechtsverhältnis zwischen den Privaten. Allein der Umstand, daß den privaten Helfer hier die objektive Pflicht zur Hilfeleistung trifft und damit auch ein Recht zur Hilfeleistung begründet, steht wie auch sonst der Anwendung der §§ 677 ff. BGB nicht entgegen, denn § 677 BGB schließt nach seinem eindeutigen Wortlaut eine GoA nur dann aus, wenn der Geschäftsführer gegenüber dem Geschäftsherrn bereits anderweitig berechtigt ist. 7 9 Zu Recht geht deshalb die h. M . 8 0 davon aus, daß der nach § 323 c StGB Helfende einen Anspruch aus GoA gegenüber dem von ihm Geretteten besitzt. Unterschiede bei der Anwendbarkeit der GoA eines Privaten, je nachdem, für wen diese erfolgt, können sich auch daraus ergeben, daß anders als bei einer GoA für die Polizei bei einer (auch) i m Interesse eines Privaten erfolgenden Geschäftsführung die Legitimation des Geschäftsführers häufig deshalb zu bejahen sein wird, weil die Geschäftsführung dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des privaten Geschäftsherrn entspricht. Zudem kann das öffentliche Interesse an der Erfüllung einer Pflicht des privaten Geschäftsherrn in weiterem Umfang bestehen 78 Pieroth/Schlink/Kniesel (Anm. 39), § 25, Rn. 18; s. demgegenüber aber D. Felix/A. Nitschke, NordÖR 2004, 469 (475 f.).
79 s. z. B. E. Steffen, in: RGRK, BGB, Kommentar, Bd. II, 4. Teil, 12. Aufl. 1978, Vor § 677, Rn. 51. Die gegenteilige Ansicht von W. Schubert, AcP Bd. 178 (1978), 425 (435 ff.) hat sich deshalb zu Recht nicht durchsetzen können. 80 So z. B. Ehmann (Anm. 53), vor § 677, Rn. 7; W. Fikentscher, Schuldrecht, 9. Aufl., Berlin 1997, S. 586; Seiler (Anm. 36), § 677, Rn. 43; B G H Z 33, 251 (257 ff.); nicht überzeugend hingegen Nedden (Fn 7), S. 210 f., nach dessen Auffassung die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften einen Rückgriff auf die §§ 683, 670 B G B ausschließen sollen.
Geschäftsführung ohne Auftrag zum Zwecke der Gefahrenabwehr
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als in bezug auf eine für die Polizei als Hoheitsträger erfolgende Geschäftsführung. Das ergibt sich nicht nur daraus, daß auch dort, wo Pflichten eines Privaten bestehen, diese im Hinblick auf das im Polizeirecht geltende Opportunitätsprinzip keineswegs notwendigerweise mit Pflichten des Polizeiträgers einherzugehen brauchen. Es ist auch eine Konsequenz des Umstands, daß die spezifischen Probleme, die sich in bezug auf eine Geschäftsführung für die Polizei im Hinblick auf eine hier drohende Aushöhlung von polizeilichen Kompetenzen ergeben, sich bei einer für einen Privaten erfolgenden Geschäftsführung nicht stellen. Zwar bedeutet dies keineswegs, daß die Handlung des privaten Geschäftsführers wegen Fehlens einer berechtigten Geschäftsführung für die Polizei rechtswidrig sein muß, wohl aber kommt der fehlenden Legitimation des privaten Geschäftsführers zur Führung eines polizeilichen Geschäfts insoweit Bedeutung zu, als deshalb - wie oben unter IV. 2. gezeigt wurde - Aufwendungsersatzansprüche gegenüber dem Polizeiträger nicht begründbar sind.
2. Aufwendungsersatzansprüche zwischen Privaten Hier finden die Vorschriften der §§ 677 ff. BGB auch dann, wenn die Geschäftsführung einer Gefahrenabwehr dient, uneingeschränkt Anwendung. Das gilt nicht nur - wie oben gezeigt - für die Legitimationswirkung einer solchen Geschäftsführung, sondern auch im Hinblick auf die mit ihr verbundene Ausgleichsfunktion. Aufwendungsersatzansprüche sind damit bei Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einer GoA in unmittelbarer Anwendung der §§ 683, 670 BGB begründet.
VI. Resümee Die vorangegangenen Überlegungen zeigten, daß eine GoA im Bereich der Gefahrenabwehr nur insoweit in Betracht kommt, als ein Privater für die für die Gefahrenabwehr zuständige Behörde oder einen privaten Geschäftsherrn zur Geschäftsführung legitimiert sein kann und dann auch einen Aufwendungsersatzanspruch besitzt. Die Vorschriften der §§ 677 ff. BGB finden auf eine solche GoA, die bei beiden Fallkonstellationen auf einer privatautonomen Entscheidung des Geschäftsführers beruht, unmittelbare Anwendung. Bei einer Geschäftsführung für einen Hoheitsträger ist allerdings zu beachten, daß diese tatbestandsmäßig meist nur in Notfällen zur Anwendung kommt, nämlich dann, wenn die Polizei zwar zur Gefahrenabwehr verpflichtet ist, ihr aber im Einzelfall eine wirksame Gefahrenabwehr - vornehmlich aus Zeitgründen, möglicherweise aber auch wegen fehlender sachlicher oder personeller Ressourcen - nicht möglich ist. Eine GoA eines Hoheitsträgers für einen anderen Privaten wie auch für einen anderen Hoheitsträger läßt sich weder auf eine unmittelbare noch eine analoge Anwendung der §§ 677 ff. BGB stützen. Aus demselben Grund lassen sich auf diese Weise keine
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Aufwendungsersatzansprüche begründen. Der Warnung Richard Bartlspergers 81 vor einer mit der unmittelbaren oder analogen Anwendung der §§ 677 ff. BGB verbundenen Flucht von Hoheitsträgern in das Privatrecht kann nur uneingeschränkt beigepflichtet werden.
«ι Bartlsperger
(Anm. 2), 440 ff.
Brennpunkte des neuen Energiewirtschaftsgesetzes Von Matthias Schmidt- Ρ re uß, Bonn
I. Das EnWG als „Grundgesetz" der Energiewirtschaft Nachdem der Europäische Rat von Lissabon 1 eine schnellere Durchsetzung der Liberalisierungsziele angemahnt hatte, erfuhr die Öffnung der Strom- und Gasmärkte durch Verabschiedung der sog. Beschleunigungsrichtlinien 2 im Jahre 2003 ihren Durchbruch. Sie wurden in Deutschland nach kontroversen Diskussionen, z. T. zähen Willensbildungsprozessen und einer am Ende unerwartet raschen Einigung im Vermittlungsverfahren vom Sommer 2005 umgesetzt: Das neue Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) 2005 3 trat am 13. 7. 2005 in Kraft. Dem folgten kurze Zeit später vier Begleitverordnungen, 4 die integraler Bestandteil des politischen Kompromisses waren und den Netzzugang bzw. die Entgeltregulierung bei Strom und Gas betreffen. Damit liegen die zentralen Rechtsgrundlagen vor, wobei in zahlreichen Sachbereichen weitere Verordnungen folgen werden. Was jetzt geleistet werden muss, ist die mühselige Arbeit der Gesetzesanwendung im täglichen Vollzug. Da es sich beim Regulierungsrecht in den Sektoren Strom und Gas um 1 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lissabon), 23./24. 3. 2000, Tz. 17 (2. Spiegelstrich). 2
Richtlinie 2 0 0 3 / 5 4 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 6. 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 9 6 / 9 2 / E G , A B l . L 176 (vom 15. 7. 2003), S. 37; Richtlinie 2 0 0 3 / 5 5 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 6. 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 9 8 / 3 0 / E G , A B l . L 176 (vom 15.7. 2003), S. 57. 3 Art 1 des Zweiten Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 7. 7. 2005, BGBl. I, 1970; s. dazu G. Kühne/C. Brodowski, N V w Z 2005, 849 ff.; Κ U. Pritzsche/S. Klauer, emw 4 / 2 0 0 5 , 22 ff.; B. Scholtka, NJW 2005, 2421 ff.; U. Büdenbender, et 2005, 642 ff.; J. Kühling/S. el-Barudi, D V B l . 2005, 1470 ff.; M. Schmidt-Preuß, emw 4 / 2 0 0 5 , 70 f. 4 Verordnung über den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen (Stromnetzzugangsverordnung - StromNZV) vom 25. 7. 2005, BGBl. I, 2243; Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen (Stromnetzentgeltverordnung - StromNEV) vom 25. 7. 2005, BGBl. I, 2225; Verordnung über den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzzugangsverordnung - GasNZV) vom 25. 7. 2005, BGBl. I, 2210; Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Gasversorgungsnetzen (Gasnetzentgeltverordnung - GasN E V ) vom 25. 7. 2005, BGBl. I, 2197 - jeweils am 29. 7. 2005 in Kraft getreten.
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ausgesprochenes Neuland handelt, wird es darauf ankommen, das neue Instrumentarium im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung mit Augenmaß einzusetzen und damit ein neues Kapitel des öffentlichen Wirtschaftsrechts aufzuschlagen. Ihm und auch dem Energierecht war der Jubilar stets verbunden. 5 Sein Anliegen war es, neue Instrumente in die bewährten Strukturen des Staats- und Verwaltungsrechts einzufügen. Genau dies ist ein maßgebendes Ziel, wenn es jetzt um die Implementierung des EnWG 2005 geht.
II. Die Regulierungsbehörden 1. Der „Regulator" Deutschland war lange Zeit der einzige Mitgliedstaat der Gemeinschaft, der auf die Einführung einer Regulierungsbehörde verzichtet und der Selbstregulierung in Form der - verfassungsrechtlich unbedenklichen 6 - sog. Verbändevereinbarungen den Vorzug gegeben hatte. Die Ursprungsrichtlinien 1996/1998 7 (erstes Liberalisierungs-Paket) hatten die Option hierzu ausdrücklich zugelassen. M i t dieser Position konnte sich die deutsche Seite i m Rat nicht mehr durchsetzen. Damit kam es in den Beschleunigungs-Richtlinien 2003 zur obligatorischen Einführung des Regulators , der zugleich Ausdruck der politischen Entscheidung für den regulierten Netzzugang ist. A u f diese Weise waren die Würfel zugunsten der Einführung einer Regulierungsbehörde in Deutschland gefallen. Ob hierfür eine Behörde de novo geschaffen wird oder eine bestehende Behörde die Aufgaben übernimmt, war ebenso den Mitgliedstaaten überlassen wie die Frage, welche Behörde im zweiten Fall berufen sein sollte. Das EnWG hat sich auf der Bundesebene für die damalige Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation entschieden. Dem neuen Aufgabenfeld entsprechend wurde sie umbenannt in „Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen 4 ' 8 (im Folgenden: BNetzA). In ihrem - sogleich darzustellenden - Zuständigkeitsbereich sind daneben die Landesregulierungsbehörden tätig.
5 S. z. B. R. Bartlsperger, DVB1. 1980, 249 ff.; ders., Unterirdische Erneuerungen von Rohrleitungen der öffentlichen Versorgung und Entsorgung, 1994.
6 M. Schmidt-Preuß, Z N E R 2002, 262 (264). 7
Richtlinie 9 6 / 9 2 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. 12. 1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, A B l . L Nr. 27 (vom 30. 1. 1997), S. 20; Richtlinie 9 8 / 3 0 / E G des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 6. 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, A B l . L Nr. 204 (vom 21. 7. 1998), S. 1. 8 § 1 des Gesetzes über die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (= Art. 2 des Zweiten Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 7. 7. 2005, BGBl. I, 1970, 2009 (im Folgenden: BNetzA-G).
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2. Organisation Die Bundesnetzagentur ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie. Die Voraussetzungen des Art. 87 I I I 1 G G 9 für die Einrichtung liegen vor. Inzwischen existiert die Abteilung „Energieregulierung" mit insgesamt 12 Referaten. 10 Die Entscheidungen der BNetzA werden im wesentlichen in Beschlusskammern getroffen. Sie entscheiden in der Besetzung mit einer oder einem Vorsitzenden und zwei Beisitzenden (§ 59 I I 1 EnWG). Vier Beschlusskammern sind für Entscheidungen im Bereich der Strombzw. Gasnetze allgemein sowie der Entgeltregulierung Strom bzw. Gas im besonderen zuständig. 11 Seit der frühzeitigen Einrichtung des Aufbaustabes „Energie" ist die Komplettierung des Personalbestandes in vollem Gange. In der Endstufe soll die Abteilung „Energieregulierung" ca. 145 Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter umfassen. Die BNetzA hat einen Beirat, der aus je 16 Vertretern bzw. Vertreterinnen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates besteht (§ 5 BNetzA-G). Er berät die BNetzA u. a. bei der Vorbereitung ihres Tätigkeitsberichts (§ 60 S. 1 EnWG). Nach § 8 BNetzA-G wird zudem ein Länderausschuß gebildet, der die Abstimmung zwischen der BNetzA und den Landesregulierungsbehörden zum Gegenstand hat. Das Ziel ist die Sicherstellung eines bundeseinheitlichen Vollzuges (§ 60 a EnWG). Nach § 61 EnWG kann das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (so die Bezeichnung seit Ende 2005) der BNetzA allgemeine Weisungen für den Erlaß oder die Unterlassung von Verfügungen erteilen. Sie sind mit Begründung im Bundesanzeiger zu veröffentlichen. Ob auch Einzelweisungen zulässig sind, ist streitig. I m Kontext des Bundeskartellamtes wie auch der früheren RegTP wird z. T. argumentiert, daß die Entscheidung von Kollegialorganen per se die Zulässigkeit von Einzelweisungen ausschließe. 12 Zwingend ist dies nicht, weil im Weisungsstrang stets ein einzelner Organwalter gebunden ist, einerlei ob er allein entscheidungsbefugt ist oder zusammen mit weiteren Amtsträgern. Aus Gründen der demokratischen Legitimationskette 1 3 kann jedenfalls die Annahme ministerialfreier Räume - wenn überhaupt - nur in ganz exzeptionellen, im Gesetz klar geregelten Ausnahmefällen in Betracht kommen. Hierfür fehlt es im EnWG an greifbaren Anhaltspunkten, so daß von der Weisungsgebundenheit der BNetzA im Rahmen der Fach- und Rechtsaufsicht des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie 9 BVerfGE 14, 197 (213 f.); 104, 238 (247); s. hierzu - auch für den hier vorliegenden Fall der Übertragung weiterer Aufgaben auf eine bereits bestehende Bundesoberbehörde - M. Schmidt-Preuß , N V w Z 1998, 553 (562). κ) Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2004/2005 (Dezember 2005), S. 353. 11 12
Beschlusskammern 6 - 9 .
Vgl. M . Paulweber, S. 105 f.; R. Müller-Terpitz,
Regulierungszuständigkeiten in der Telekommunikation, ZfG 1997, 257 (271 f.).
1999,
13 BVerfGE 107, 59 (86 ff.) - Lippeverbandsgesetz; 93, 37 (66 ff.) - MitbestimmungsG S-H.
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ausgegangen werden muß. 1 4 In der Praxis spielt die - oftmals in ihrer Bedeutung überschätzte - Frage freilich kaum eine nennenswerte Rolle. I m Zuge der abschließenden Einigung im Vermittlungsausschuß hat sich der Bund gegenüber den Ländern bereit erklärt, im Wege der Organleihe die Regulierungsaufgaben für ein Land wahrzunehmen. Inzwischen beabsichtigen sechs Bundesländer (Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, SchleswigHolstein und Thüringen), von diesem Angebot Gebrauch zu machen und die Durchführung der Regulierungsaufgaben der Bundesnetzagentur auf diesem Wege zu übertragen. 15 Der Bund erhält eine Vergütung für die Dienstleistung. Damit unterliegen der Aufsicht durch die Bundesnetzagentur originär im Stromsektor vier Übertragungsnetze und ca. 100 Verteilernetze sowie im Gasbereich 73 Gasverteilernetze. Ferngasnetze sind nicht einbezogen, es sei denn, es läge eine „NegativEntscheidung" gem. § 3 GasNEV vor (VI.2). A u f Grund der Organleihe kommen sekundär - weitere 300 Netze hinzu. Der Weg der Organleihe ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist als ungeschriebenes Institut des Staats- und Verwaltungsrechts seit langem gewohnheitsrechtlich anerkannt. 16 Von daher bedurfte es keiner rechtlichen Regelung im Gesetz. Im Fall der Organleihe wird das Handeln der BNetzA dem jeweiligen Land zugerechnet. 17 Bei der Aufgabenwahrnehmung durch die Regulierungsbehörden auf Bundesund Landesebene kommt es zu vielfältigen Berührungen. Für wenige eng umgrenzte Entscheidungen der BNetzA ist ein Einvernehmen des Bundeskartellamtes (BKartA) vorgesehen. Dies ist etwa bei nachträglichen Anordnungen zur Durchsetzung der Vorschriften zum unbundling der Fall (§ 58 I 1 EnWG), soweit es um die Bestimmung des Verpflichteten in den Fällen der §§ 6 - 9 EnWG geht. Im Bereich des Netzzugangs - einschließlich der Entgeltregulierung - räumt das Gesetz dem BKartA (wie auch den Landesregulierungsbehörden) dagegen lediglich die Gelegenheit zur Stellungnahme ein (§ 58 I 2 a.E. EnWG). Im Kontext der sog. cross-border- Verordnung Strom 1 8 nimmt die BNetzA die den Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten übertragenen Aufgaben wahr (§ 56 EnWG). Nach Verabschiedung der EG-Gasnetzzugangs-Verordnung 19 besteht hier 14
So auch die überwiegende Auffassung der Lit. zum BKartA bzw. zur RegTP, vgl. z. B. R. Bechtold, G W B , 3. Aufl., 2002, § 52 Rn. 1 bzw. T. Mayen, in: K.-D. Scheurle/T. Mayen, T K G , 2002, § 7 3 Rn. 11. •5 Vgl. hierzu Präsident M. Kurth, in: Bundesnetzagentur, Info-Brief 1/2005, S. 2. •6 Vgl. BVerfGE 32, 145 (154); 63, 1 (31 ff.); BVerwG, NJW 1976, 1468 (1469); s. auch H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl., 2005, § 21 Rn. 54 ff. 17 So auch BVerwG, NJW 1976, 1468 (1469). 18 Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 6. 2003 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel, A B l . L 176 (vom 15. 7. 2003), S. 1. 19 Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. 9. 2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen, A B l . L 289 (vom 3. 11. 2005), S. 1.
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akuter gesetzlicher Anpassungsbedarf. Die Zuständigkeit der BNetzA in § 56 EnWG muß entsprechend erweitert werden, damit sie ihre Aufgaben auf gesetzlicher Grundlage wahrnehmen kann. Im Zuge der Kooperation mit anderen Regulierungsbehörden und der Europäischen Kommission dürfen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nur mit Zustimmung des vorlegenden Unternehmens übermittelt werden (§ 57 I 2 EnWG).
3. Kompetenzen Vor dem Hintergrund der föderalen Struktur in Deutschland war die Zuständigkeitsverteilung unter den Regulierungsbehörden im Gesetzgebungsverfahren bis zuletzt einer der Hauptstreitpunkte. Nach der gefundenen Kompromißregelung ist die BNetzA zuständig, soweit der Enumerativkatalog des § 54 I I EnWG nicht die Aufgabenwahrnehmung den Landesregulierungsbehörden zuweist. Danach sind die Landesregulierungsbehörden zuständig für die dort genannten Entscheidungen u. a. in den Feldern Netznutzungsengelte, unbundling, Systemverantwortung, Netzanschluß oder etwa Missbrauchsaufsicht sowie Vorteilsabschöpfung, wenn und soweit es um Energieversorgungsunternehmen geht, an deren Netzen mehr als 100.000 Kunden angeschlossen sind. Dabei gilt die sog. Konzernklausel des Art. 3 I I F K V O 2 0 nicht. Die Zuständigkeit der Landesregulierungsbehörden entfällt jedoch stets, wenn ein Netz die Landesgrenze überschreitet.
III. Das rechtliche Handlungsinstrumentarium der Regulierungsbehörden 1. Genehmigung und Anordnung Nach § 23 a I EnWG bedürfen Netznutzungsentgelte der Genehmigung, sofern eine kostenorientierte Entgeltbildung erfolgt. Diese ist in § 21 I I 1 EnWG geregelt und gilt im Interregnum, d. h. bis zum Inkrafttreten der Anreizregulierung. Auch im Rahmen der Anreizregulierung kann es zu Genehmigungen kommen, soweit die entsprechende Verordnung gem. § 21 a V I 1 Ziff. 3 EnWG dies vorsieht. Neben Genehmigungen kennt das EnWG die Befugnis zum Erlaß von „Anordnungen". Dies gilt einmal für § 65 EnWG. Danach kann die Regulierungsbehörde einem Unternehmen oder Vereinigungen von Unternehmen Verstöße gegen das EnWG oder die auf seiner Grundlage erlassenen Verordnungen untersagen. Daneben finden sich spezielle Eingriffstatbestände. Beispielhaft sei auf die Anordnungsbefugnisse zur Mißbrauchsaufsicht gem. § 30 I I EnWG oder zur Vorteilsabschöpfung gem. § 33 I EnWG verwiesen. 20 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. 1. 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, A B l . L Nr. 24 (vom 29. 1. 2004), S. 1. 37 FS Bartlsperger
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2. Festlegung gem. § 29 EnWG § 29 EnWG sieht vor, daß die Regulierungsbehörde - neben der Möglichkeit der Erteilung von Genehmigungen - Festlegungen über die Bedingungen und Methoden für den Netzanschluß oder den Netzzugang trifft. Nach kontroverser Diskussion in Wissenschaft und Praxis zur ursprünglichen Entwurfsformulierung 21 ist die Streitfrage nach der Rechtsqualität derartiger Festlegungen nunmehr durch den Gesetzgeber entschieden. § 60 a II, I I I EnWG stellt klar, daß es sich um Allgemeinverfügungen handelt. Konzeptionell sind sie - in ihrer personenbezogenen Variante - definiert als Verwaltungsakte, die sich an einen mindestens bestimmbaren Personenkreis richten (§ 35 S. 2 V w V f G ) . 2 2 Dabei erfolgt die Eingrenzung durch den geregelten Fall. Die Festlegung fixiert - sozusagen auf Vorrat - Modalitäten pro futuro. Das genügt den Voraussetzungen einer Allgemeinverfügung. Ein Beispiel für die Festlegung ist die Bestimmung des Eigenkapitalzinssatzes gem. § 7 V I StromNEV, für die nach Inkrafttreten der Anreizregulierung die BNetzA gem. § 29 EnWG zuständig ist.
IV. Unbundling Die Beschleunigungs-Richtlinien sehen mit dem unbundling ein strukturelles Instrument vor, das - nunmehr deutlich verschärft - dem diskriminierungsfreien Netzzugang, der Vermeidung von Quersubventionen und damit insgesamt der Verwirklichung des Wettbewerbs auf den vor- und nachgelagerten Märkten dienen soll. Das Ziel ist die Herauslösung und Verselbständigung des Netzbetriebs. Dem dienen vier Varianten des unbundling, die von den Beschleunigungs-Richtlinien vorgegeben und in Deutschland vom EnWG umgesetzt wurden. Es handelt sich um das Rechnungslegungs-, das informatorische, das operationeile und das legal unbundling. Es liegt auf der Hand, daß das unbundling einen Ordnungsrahmen darstellt, der in die traditionell pluralistische und gegliederte deutsche Unternehmensstruktur eingreift und erhebliche Umstellungskosten verursacht. U m hier die - auch grundrechtlich gebotene - Balance zu halten, hat der Richtliniengeber Milderungen vorgesehen. So sind im EnWG Strom- und Gasverteilernetzbetreiber vom operationeilen und legal unbundling befreit, soweit sie unmittelbar oder mittelbar unter Beachtung der Konzernklausel des Art. 3 I I F K V O über weniger als 100.000 Kunden verfügen (de minimis- Klausel). Darüber hinaus ist für das legal unbundling bei Strom- und Gasverteilernetzbetreibern eine Übergangsfrist bis zum 1. 7. 2007 eingeräumt. 21 Vgl. insbesondere G. Britz, EuZW 2002, 462 (463 f.); J.-C. Pielow, in: Ders. (Hrsg.), Grundsatzfragen der Energiemarktregulierung, 2005, S. 16 (33). 22 H. Maurer (Anm. 16), § 9 Rn. 32; P. Stelkens/U. B o n k / M . Sachs, V w V f G , 6. Aufl., 2001, § 35 Rn. 203 ff.
Stelkens, in: P. Stelkens/H. J.
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1. Das Rechnungslegungs-Unbundling § 10 EnWG setzt die Vorgaben der Beschleunigungs-Richtlinie 23 zum sog. „unbundling of accounts" um. Dabei wird zweierlei geregelt. Zum einen verpflichtet § 10 I EnWG Versorgungsunternehmen, einen Jahresabschluß nach den für Kapitalgesellschaften geltenden Vorschriften des HGB aufzustellen, prüfen zu lassen und offen zu legen. Hierbei handelt es sich um eine reine Publizitätsvorschrift. Anders liegen die Dinge bei § 10 I I I EnWG. Er stellt eine echte unbundling-Vorschrift dar. Danach hat ein vertikal integriertes Energieversorgungsunternehmen (§ 3 Nr. 38 EnWG) in der internen Rechnungslegung getrennte Konten zu führen. Dieses Separierungsgebot gilt für die Bereiche Elektrizitätsübertragung und Verteilung sowie sonstige (ggf. summierte) Aktivitäten i m Stromsektor auf der einen, Gasfernleitung, Gasverteilung, Gasspeicherung, Betrieb von LNG-Anlagen sowie sonstige (ggf. summierte) Aktivitäten i m Gassektor auf der anderen Seite. Hinzu kommen Konten für Tätigkeiten außerhalb des Strom- und Gassektors. Sofern eine direkte Zuordnung nicht möglich bzw. zumutbar ist, bedarf es sachgerechter Schlüsselung (§ 10 I I I 5 EnWG). M i t der Erstellung des Jahresabschlusses sind für jeden der genannten Tätigkeitsbereiche intern jeweils Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen. Sie müssen nicht veröffentlicht werden. Dies entspricht der Tatsache, dass Kontentrennung, Schlüsselung und die daraus folgenden Positionen der separierten Jahresabschlüsse Interna darstellen. Das erklärt den Unterschied zur Offenlegung des Jahresabschlusses nach HGB gem. § 10 I EnWG. Die Prüfung des Jahresabschlusses gem. § 10 I EnWG umfasst auch die Einhaltung der Pflichten zur internen Rechnungslegung. Im Bestätigungsvermerk zum Jahresabschluß muß mitgeteilt werden, ob dem Erfordernis getrennter interner Rechnungslegung entsprochen ist (§ 10 I V EnWG). Jahresabschluß und getrennte Bilanzen sowie Gewinn- und Verlustrechnungen sind vom auftraggebenden Unternehmen der BNetzA zu übersenden (§ 10 V 1, 2 EnWG).
2. Das informatorische unbundling Das von den Beschleunigungs-Richtlinien 24 vorgegebene sog. informatorische unbundling setzt an dem Wettbewerbsparameter „Information" an. So besteht im vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen insbesondere der volle Zugriff des „Vertriebs" auf die Informationen des Netzsektors. Dadurch ergeben sich wertvolle Einsichtsmöglichkeiten in das Kundenportfolio und damit wesentliche Wettbewerbsvorsprünge gegenüber Konkurrenten. Genau dies w i l l das informatorische unbundling gem. § 9 EnWG verhindern. Es verlangt die Unterbrechung des Auskunfts- bzw. Einsichtsrechts, das § 131 A k t G bzw. § 51 a GmbHG gewährt. Als Folge des informatorischen unbundling muß im IT-System das Zugriffsrecht der Wettbewerbsbereiche Vertrieb /Erzeugung auf den Netzsektor - soweit zumutbar 23 Art. 19 Beschleunigungs-RL Strom; Art. 17 Beschleunigungs-RL Gas. 24
3
Art. 12, 16 Beschleunigungs-RL Strom; Art. 10, 14 Beschleunigungs-RL Gas.
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verhindert werden. Dies verursacht - auch wenn die Trennung der Daten verarbeitungssysteme nicht erforderlich ist - erhebliche Kosten.
3. Das operationeile unbundling A u f einer dritten Ebene steht das sog. operationelle unbundling. Die Beschleunigungs-Richtlinien 2 5 greifen hier tief in das mitgliedstaatliche Gesellschafts- und Konzernrecht sowie zugleich in die Verfügungs- und Gestaltungsfreiheit der Unternehmen ein. Regelungszweck ist die Sicherung der Unabhängigkeit des Netzbetriebs. Hierbei lassen sich strukturelle und einflußbezogene Elemente unterscheiden. Die erste Gruppe bildet das Inkompatibilitäts-Re girne. Danach ist es Leitungspersonen des Netzbetreibers untersagt, den - so die gemeinschaftsrechtlich geprägte Diktion des Gesetzes - betrieblichen Einrichtungen des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens anzugehören, die für den laufenden Betrieb in den Bereichen Gewinnung, Erzeugung oder Vertrieb „zuständig' 4 sind. Demzufolge darf z. B. ein Mitglied der Geschäftsführung einer Netzbetriebs-GmbH nicht gleichzeitig Mitglied des Vorstands der Muttergesellschaft sein. Ebenfalls aus § 8 I I Nr. 1 EnWG ergibt sich, daß auch Personen mit der „Befugnis zu Letztentscheidungen . . . , die für die Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Netzbetriebs wesentlich sind", dieser Bindung unterliegen. Das geht über die BeschleunigungsRichtlinien hinaus. Die zweite Regelungsgruppe des operationellen unbundling erstrebt die Sicherung der Unabhängigkeit des Netzbetriebs durch einflußbez.ogene Maßnahmen. Die - eigentumsgrundrechtlich verankerte - gesellschaftsrechtliche Beteiligung verleiht neben dem Vermögensrecht auch die Befugnis zur Einflussnahme und Gestaltung. Klassischen Ausdruck findet dies in dem Weisungsrecht der GmbH-Gesellschafter gegenüber den Geschäftsführern. In der Aktiengesellschaft wird der mitgliedschaftliche Einfluß über den Aufsichtsrat vermittelt, der über die (Wieder-)Bestellung des Vorstands entscheidet. Gegenüber diesen Einflussmöglichkeiten stellt § 8 I V EnWG eine Sperre auf: Das operative Geschäft des Netzbetriebs darf nicht Gegenstand von Weisungen sein (§ 8 I V 4 Hs. 1 EnWG). Es wird gegenüber einer Einflussnahme der Muttergesellschaft vollständig abgeschirmt. Anders sieht es dagegen aus, wenn es um wirtschaftliche Kernfragen geht. Hier wäre es eigentumsgrundrechtlich unzulässig, wenn die Muttergesellschaft sehenden Auges hinnehmen müsste, daß ihre Netzbetriebstochter der Rentabilität verlustig ginge. Daher läßt das Gesetz 2 6 in derartigen beispielhaft genannten Fällen den Einsatz gesellschaftsrechtlicher Instrumente der Einflussnahme und Kontrolle - wie etwa einer Weisung im GmbH-Recht - zu. Dies ist etwa der Fall bei der Festlegung von 25 Art. 10 I I lit. a), 15 I I lit. a) Beschleunigungs-RL Strom; Art. 9 I I lit. a), 13 I I lit. a) Beschleunigungs-RL Gas. 26 § 8 I V 2 EnWG; vgl. die entsprechenden Vorgaben in Art. 10 I, I I lit. c), 15 I, I I lit.c) Beschleunigungs-RL Strom; Art. 9 I I lit. c), 13 I I lit c) Beschleunigungs-RL Gas.
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Verschuldungsobergrenzen und der Genehmigung jährlicher Finanzpläne (§ 8 I V 2 EnWG). Schließlich kommt es bei den - oftmals mit Pachtverträgen 27 gekoppelten - Betriebsführungsverträgen darauf an, ob der Netztochter hinreichender Entscheidungsspielraum für den laufenden Betrieb verbleibt.
4. Das legal unbundling Als vierte Variante sehen die Beschleunigungs-Richtlinien 28 das legal unbundling vor. Dementsprechend sind gem. § 7 I EnWG vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen verpflichtet, den Netzbetrieb rechtlich zu verselbständigen, d. h. in eine nach der „Rechtsform" getrennte Gesellschaft zu überführen. Dies soll Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Netzbetriebs im Interesse des Wettbewerbs auf den vor- und nachgelagerten Märkten gewährleisten. Allerdings stellen die Beschleunigungs-Richtlinien ausdrücklich klar, daß hiermit nicht die Verpflichtung zur Übertragung des Netzeingentums verbunden ist (Art. 1 0 1 2 und 15 I 2 Beschleunigungs-RL Strom; Art. 9 I 2 und Art. 1 3 1 2 Beschleunigungs-RL Gas). § 7 I EnWG bringt dies in hinreichender Weise mit dem Begriff „Netzbetreiber" zum Ausdruck. Dazu heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs: 29 „Eine Entflechtung des Eigentums, d. h. ein Verkauf des Geschäftsbereichs Netzbetrieb, und auch eine Übertragung des Eigentums an Vermögenswerten des Netzes ist nicht vorgeschrieben." Damit kann das Eigentum am Netz bei der Muttergesellschaft bleiben, von der es der rechtlich verselbständigte Netzbetreiber pachtet. Im übrigen sind die sog. shared services nicht bereits per se unzulässig. Dies wäre nur dann der Fall, wenn mit der Inanspruchnahme von zentralen Dienstleistungen der unabhängige Netzbetrieb beeinträchtigt wäre.
V. Der Zugang zu den Netzen 1. Diskrimierungsfreier Netzzugang als Kernpostulat Das europäische Liberalisierungskonzept beruht als zweiter Säule - neben dem strukturellen unbundling - auf dem verhaltensbezogenen diskriminierungsfreien Netzzugang. § 20 I EnWG 2005 enthält den „kategorischen Imperativ der Regulierung": Der Netzbetreiber muß alle „Transportkunden" gleich behandeln. Er hat jedermann nach sachlich gerechtfertigten Kriterien diskriminierungsfrei Zugang zu gewähren. Insbesondere darf er nicht der eigenen konzerngebundenen Vertriebsschwester Vorteile verschaffen, die deren Konkurrenten vorenthalten werden. In diesem Sinne gilt das Gebot: „ intern " = „extern ". 30 27
Dazu sogleich unter IV.4.
2
« Art. 10 I, 15 I Beschleunigungs-RL Strom; Art. 9 I, 13 I Beschleunigungs-RL Gas.
2
9 BT-Drcks. 15/3917, S. 51.
30
Vgl. W. Wegmann, Regulierte Marktöffnung in der Telekommunikation, 2001, S. 232; B. J. Seeger, Die Durchleitung elektrischer Energie nach neuem Recht, 2002, S. 356.
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2. Direktanspruch oder vorrangiger Vertragsabschluß? Eine viel diskutierte Streitfrage war es im alten Recht, ob der Zugangsanspruch gem. § 6 EnWG a.F. - jetzt gem. § 20 I EnWG - real darauf gerichtet ist, das Netz zur Nutzung unmittelbar zur Verfügung gestellt zu bekommen, oder die Verpflichtung zum Abschluß eines entsprechenden Vertrages zum Gegenstand hat (Kontrahierungszwang ). Schon bisher war die zweite Auffassung vorzugswürdig, da die Bestimmtheit eines vollstreckbaren Titels unabdingbar ist. So hat denn auch der Verordnungsgeber nunmehr die Kontroverse in diesem Sinne gelöst: Die §§ 24 I 1 und 25 I 1 StromNZV sowie § 3 I GasNZV räumen expressis verbis einen Anspruch auf Vertragsabschluß ein. Nichts anderes gilt für den Zugang zu vorgelagerten Rohrleitungsnetzen und Gasspeicheranlagen (§§ 27, 28 E n W G ) . 3 1
3. Netzzugang, Modelle und Verträge EnWG und StromNZV haben das transaktionsunabhängige Punktmodell etabliert. Danach kann jeder - private wie gewerbliche oder industrielle - Stromkunde seinen Lieferanten frei wählen. § 20 Ia EnWG und die §§ 2 4 - 2 6 StromNZV regeln die Vertragstypen, die das „Gerüst" für die Liberalisierung der Strommärkte bilden. Es handelt sich um den Lieferantenrahmen -, den Νetznutzungs- und den Bilanzkreisvertrag. Der Gesetz- und Verordnungsgeber stellt damit das vertragsrechtliche Instrumentarium bereit, mit Hilfe dessen die angestrebte Marktöffung realisiert werden soll. Der Netzzugang im Gassektor ist durch einen Kompromiß im Vermittlungsverfahren im Sinne eines entry -exit-Modells neu gestaltet worden. § 20 lb 1 EnWG verpflichtet die Betreiber von Gasversorgungsnetzen, Einspeise- und Ausspeisekapazitäten anzubieten, die den Netzzugang ohne Festlegung eines transaktionsabhängigen Transportpfades ermöglichen und unabhängig voneinander nutzbar und handelbar sind. Ferner werden die Betreiber von Gasversorgungsnetzen gesetzlich zur verbindlichen Zusammenarbeit verpflichtet , damit der Transportkunde nur zwei Verträge - den Einspeise- und den Ausspeisevertrag - abschließen muß, um den Transport auch über mehrerer Netze realisieren zu können (§ 20 Ib 5 EnWG). Voraussetzung ist, daß die Zusammenarbeit technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar ist. Damit hat der Gesetzgeber auf Kooperation an Stelle einer einheitlichen Regelzone gesetzt, die nachhaltige eigentumsgrundrechtliche Probleme aufgeworfen hätte. Die GasNZV muß - mit § 20 Ib EnWG wurden i m Vermittlungsausschuß detaillierte Regelungen getroffen - im Lichte der gesetzlichen Regelungen ausgelegt werden.
3» A. A. J. Kühling/S. el-Barudi, DVB1. 2005, 1470 (1475); ebenso zur alten Rechtslage generell in diesem Sinne F. J. Säcker/K. Boesche, in: F. J. Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, 2003, § 6 Rn. 103 ff.
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V I . Entgeltregulierung 1. Der Genehmigungsvorbehalt Der Kern der Regulierung betrifft das Entgelt für die Netznutzung. Die bezweckte Marköffnung bei Strom und Gas könnte sich - so die gesetzgeberische Erwägung - nicht entfalten, wenn durch überhöhte Netznutzungsentgelte Lieferanten nicht mehr in der Lage wären, zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten zu können. Dem w i l l die Regulierung der Netznutzungsentgelte entgegenwirken. Dabei geht der Gesetzgeber gestuft vor. Zunächst unterstellt er durch § 23 a EnWG alle kostenbasierten Preise einem Genehmigungsvorbehalt, sofern nicht eine Anreizregulierung angeordnet ist. Damit ist zu unterscheiden zwischen dem sog. Interim und der Zeit danach. In der Zwischenphase des Interims gilt der umfassende Genehmigungsvorbehalt des § 23 a EnWG, der alle Preise bei Strom und Gas einem ex-ante-Genehmigungsvorbehalt unterstellt. Zu stellen waren die Anträge bei Strom bis zum 31. 10. 2005, bei Gas bis zum 30. 1. 2006. Das Problem eines enormen administrativen Aufwands auf Seiten der Bundesnetzagentur hat der Gesetzgeber mit Hilfe der Genehmigungsfiktion gelöst. So gilt gem. § 23 a I V 2 EnWG das Schweigen der Regulierungsbehörde als - für ein Jahr gültige - Genehmigung.
2. Kostenbasierte Entgeltregulierung im Interim Der materielle Maßstab i m Interim ist die „kostenorientierte Entgeltbildung wie das Gesetz selbst in § 21 a I EnWG formuliert. Maßgeblich sind die Kosten eines effizienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers. Dabei sind Anreize für eine effiziente Leistungserbringung und eine angemessene, wettbewerbsfähige und risikoangepaßte Eigenkapitalverzinsung zu berücksichtigen. Die StromNEV und GasNEV sehen - „schulmäßig" - Kostenarten, -stellen und -trägerrechnung vor. Der Eigenkapital-Zinssatz von 6,5% bei Strom und 7,8% bei Gas (jeweils für Altanlagen) bzw. von 7,91 % bei Strom und 9,21 % bei Gas (jeweils für Neuanlagen) ist im Interim verordnungsrechtlich vorgegeben (§ 7 V I 2 StromNEV bzw. GasNEV). Dies ist eigentumsgrundrechtlich durch Art. 14 GG geboten. 32 Dem entspricht die Leitentscheidung des O L G Düsseldorf, 33 das im TEAG-Verfahren ausdrücklich die Einbeziehung des Wagniszuschlages anerkannt hat. Die BNetzA kann im Rahmen der kostenbasierten Entgeltregulierung gem. § 21 III, I V EnWG in regelmäßigen zeitlichen Abständen ein sog. Vergleichsverfahren durchführen. Dessen Ergebnisse sind bei der kostenbasierten Entgeltbildung zu berücksichtigen. Im Falle einer Überschreitung der Durchschnittsentgelte, -erlöse oder -kosten wird vermutet, daß ein Betreiber den Anforderungen der effizienten Betriebsführung 32
Vgl. für den Stromsektor M. Schmidt-Preuß,
S. 63 ff. (69); ders., et 2003, 758 (762). « O L G Düsseldorf, RdE 2004, 118 (120) - T E A G .
Substanzgarantie und Eigentum, 2003,
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nicht entspricht ( § 2 1 I V 2 EnWG). Einerseits honoriert Art. 14 GG nicht betriebswirtschaftliche Ineffizienz. 3 4 Andererseits muß bei einem generalisierenden Vergleichmarktverfahren Raum gelassen werden, um leistungsfähigen, effizienten Netzbetreibern die Möglichkeit zu gewähren, sich am Markt zu behaupten. Andernfalls wäre das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG mit seiner Substanzgarantie verletzt: Zu niedrige Netzentgelte dürfen nicht zur Gefährdung oder gar Beseitigung der Unternehmensexistenz führen. 3 5 Dies bestätigt die kapitalmarktbezogene Eigentumsbetrachtung. 36 Danach wird sich ein Investor nicht bereit finden, dem Netzbetreiber das benötigte Eigenkapital zur Verfügung zu stellen, wenn er nicht mit einem angemessenen return on investment rechnen kann. Einen solchen Substanzentzug schließt Art. 14 GG aus. Dem entsprechend gilt § 21 a I V EnWG, nach dem sich die Effizienzvorgaben nur auf beeinflussbare Kosten erstrecken, analog auch für die kostenbasierte Entgeltregulierung gem. § 21 I I EnWG. Für Ferngasnetze sieht § 24 S. 2 Ziff. 5 EnWG vor, daß im Verordnungswege von der kostenbasierten Entgeltbildung abgesehen werden kann, soweit aktueller oder potentieller Leitungswettbewerb besteht. Dies ist bei Ferngasleitungen der Fall, wie der konkurrierende Rohrleitungsbau zeigt. Dem hat der Verordnungsgeber in § 3 GasNEV Rechnung getragen. Danach muß die BNetzA das Vorliegen aktuellen oder potentiellen Wettbewerbs prüfen und im Negativfall von § 65 EnWG Gebrauch machen. Bis dahin gilt die wettbewerbliche Preisbildung. Dies ist konzeptionell folgerichtig, weil die Regulierung nur bei Marktversagen als Korrektiv legitim ist. Die Kontroverse zwischen Ν etto -Sub Stanzerhaltung und Realkapitalerhaltung 37 ist in letzter Minute durch eine Splitting-Regelung beigelegt worden (§ 6 StromNEV, § 6 GasNEV). Danach bleibt es bei der - bisher allgemein praktizierten 3 8 Netto-Substanzerhaltung bei sog. Altfällen, also im Falle der Aktivierung vor dem 1. 1. 2006. In den Neufällen kommt die Realkapitalerhaltung zur Anwendung. Da beide Systeme im Ergebnis keine Unterschiede, aber im Zeitverlauf höchst unterschiedliche Kostenkurven aufweisen, wäre ein abrupter Wechsel aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich gewesen.
3. Anreizregulierung Nach § 112 a EnWG muß die Bundesnetzagentur bis zum 1. 7. 2006 der Bundesregierung einen Bericht zur Einführung der Anreizregulierung gem. § 21 a EnWG vorlegen. Diese hat den Bericht gem. § 112 a I I I 2 EnWG an den Deutschen Bun34 M. Schmidt-Preuß
( A n m . 32), S. 58.
35 Ibid. S. 49 ff., 54 ff. 36 Ibid. S. 55 ff. 37 Z u Einzelheiten M. Schmidt-Preuß 38
( A n m . 32), S. 71 f.; ders., N & R 2005, 51 f.
Sie lag auch der V V I I plus Strom zugrunde.
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destag weiterzuleiten. Sodann ist die Bundesregierung am Zuge, von der Ermächtigung des § 21 a V I EnWG Gebrauch zu machen und die Anreizregulierung durch Verordnung mit Zustimmung des Bundesrates einzuführen. Aus heutiger Sicht dürfte es bis zur Verabschiedung wohl noch bis 2007 dauern. Konzeptionell strebt der Gesetzgeber mit der Anreizregulierung einen neuen Ansatz an. 3 9 Das Ziel ist die Generierung eigenständiger Effizienzanstrengungen der Netzbetreiber und die Vermeidung aufwendiger Einzelgenehmigungen. Ausgangspunkt sind die tatsächlichen Kosten, auf denen die Anreizregulierung aufsetzt. Für die Dauer der Regulierungsperiode wird eine Preis- oder Erlösobergrenze festgesetzt {price cap oder revenue cap), die sowohl eine inßationsbe re inigte gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung als auch individuelle Effizienzziele berücksichtigt (§ 21 a V EnWG). Es gilt die Faustformel: RPI - X. 40 Innovatives Kennzeichen der Anreizregulierung ist das hierin liegende „incentive Unterschreitet der Netzbetreiber den Preis- bzw. Erlöspfad, kann er den „Gewinn " behalten. Er wird also motiviert, Effizienzanstrengungen vorzunehmen. Hierin wird der Vorteil gegenüber der kostenbasierten Regulierung gesehen, bei der ein Netzbetreiber keinem Systemdruck zur Effizienzsteigerung ausgesetzt sei. So elegant das - erst auf Drängen des Bundesrates in das Gesetzgebungsverfahren eingeführte - Modell der Anreizregulierung damit erscheinen mag, so unübersehbar sind seine Probleme. A n vorderster Stelle steht hier die Qualitätssicherung. Zwischen Effizienzdruck und Versorgungssicherheit besteht unverkennbar ein Spannungsverhältnis. Dem soll begegnet werden durch Implementierung eines Faktors Q, der Anreize zur Qualitätssicherung bietet. Ein weiteres Problem besteht in der Bestimmung der individuellen Effizienzvorgabe. Hier konkurrieren unterschiedliche Modelle wie z. B. regressionsanalytische Verfahren oder die Data Envelopment Analysis (DEA). Ein benchmark- Ansatz ist notwendig generalisierender Natur. Von daher wird es der Anreizregulierung möglich sein, die „schwarzen Schafe" zu erfassen. Insofern gilt auch hier, daß Art. 14 GG betriebswirtschaftliche Ineffizienz nicht honoriert. 41 Demgegenüber wäre es eigentumsgrundrechtlich nicht zulässig, leistungsfähige, effiziente Netzbetreiber auf Grund zu rigider („durchschnittsbezogener") Anforderungen daran zu hindern, sich am Markt zu behaupten. In diesem Falle wäre das Eigentumsgrundrecht mit seiner - oben erwähnten - Substanzgarantie 42 verletzt. Zugleich ist auch hier die ebenfalls bereits angesprochene kapitalmarktorientierte Eigentumsbetrachtung 43 zu beachten. Insoweit müssen flexible Ausnahmen vorgesehen werden, damit ein effizienter NetzbetreiVgl. BT-Drcks. 15/5268, S. 119 f. 40
RPI bezeichnet den retail price index, χ die Produktivität, die sowohl die gesamtwirtschaftliche wie die individuelle Komponente umschließt; vgl. im einzelnen O. Franz/D. Schäffner/B. Trage, Ζ ί Έ 2005, 89 (90); J. Wild, Deregulierung und Regulierung der Elektrizitätsverteilung, 2001, S. 59 f. 4
> M. Schmidt-Preuß
42
S.o. Anm. 35.
43
S.o. Anm. 36.
( A n m . 3 2 ) , S. 5 8 .
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ber am Markt überleben kann. Dies stellt § 21 a V 4 EnWG sicher, indem er dem Netzbetreiber nur „mögliche(n) und zumutbare(n) Maßnahmen" abverlangt. Ferner ist den Eigentumsbelangen bei der praktischen Implementierung des Begriffs der „zurechenbaren strukturellen Unterschiede(n) der Versorgungsgebiete" ( § 2 1 a I V 2 EnWG) Rechnung zu tragen. Dies gilt schließlich auch bei der Festlegung des Eigenkapitalzinssatzes, über den die BNetzA im Rahmen der Anreizregulierung entscheidet (§ 7 V I 1 StromNEV; § 7 V I 1 GasNEV). Zu den hierbei zu berücksichtigenden Faktoren gehört der Wagniszuschlag (§ 7 V StromNEV/GasNEV).
VII. Ausblick Das EnWG 2005 setzt die EG-Beschleunigungs-Richtlinien Strom bzw. Gas um. Damit etabliert sich auch in Deutschland die - angelsächsich geprägte und über die Europäische Gemeinschaft „importierte" - Regulierungsphilosophie. Ziel ist die Eröffnung von Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Märkten. Hierfür geht das neue Energiewirtschaftsgesetz 2005 neue Wege. Seine beiden Säulen sind das unbundling und der offene Netzzugang einschließlich der Entgeltregulierung. Ihre Anwendung stellt für Theorie und Praxis eine gewaltige Herausforderung dar. Sich ihr zu stellen, ist die spannende, mit Augenmaß und Weitsicht zu bewältigende Zukunftsaufgabe.
Entwicklungslinien im Recht der Nutzung städtischer Straßen Von Udo Steiner, Karlsruhe /Regensburg
I. Die öffentliche Straße als „Verwaltungsleistung66 Richard Bartlspergers Forschungsleistung im raumbedeutsamen Verwaltungsrecht steht für die Auseinandersetzung mit den großen Rechtsfragen der Raumund Fachplanung einschließlich der gemeindlichen Bauleitplanung und für die Verankerung der raumbezogenen Planung in der grundgesetzlichen Kompetenz- und Organisationsordnung. Aber auch dem Recht der Nutzung öffentlicher Straßen sind zahlreiche Beiträge mit gewohnter wissenschaftlicher Tiefe gewidmet. Ihren praktischen Rang erhalten sie nicht zuletzt daraus, dass die Verkehrsräume in Deutschland bekanntlich zu knapp und nicht mehr den Anforderungen gewachsen sind, die sich aus dem hohen Mobilitätsbedarf unseres Landes und aus dem Mobilitätsbedarf vieler anderer Länder der Europäischen Union ergeben. 1 Können dabei die außerstädtischen Straßenräume - trotz der bekannten fiskalischen und umweltpolitischen Einschränkungen - zumindest grundsätzlich noch erweitert werden, so muss der Verkehr in den Städten und insbesondere in den Innenstädten im Prinzip mit dem Raum auskommen, der vorhanden ist. Es müssen daher hier die vielfältigen und eher wachsenden Nutzungsansprüche zu einem Ausgleich gebracht werden. Richard Bartlspergers wichtigster dogmatischer Forschungsansatz zur Lösung auch dieser Fragen ist die Vorstellung der Straße als Verwaltungsleistung. 2 Ihr ist i m Folgenden aus der Perspektive örtlicher und insbesondere städtischer Straßen in der Nachkriegsgeschichte des deutschen Straßenrechts nachzugehen. Dabei stehen i m Vordergrund Entwicklungslinien, die sich aus der Differenzierungsfähigkeit der Widmung (I.), der nichtverkehrlichen Nutzung von städtischen Straßen (II.), aber auch aus dem Versuch einer Behauptung des Straßenrechts als Rechtsregime bei der Lösung innerstädtischer Verkehrsfragen (III.) ergeben. Nur nachrichtlich sei hier Richard Bartlspergers anhaltende rechtsdogmatische und rechtspolitische Auseinandersetzung mit den privatrechtlich geformten Stra1 Zu diesem Befund siehe näher H. Lackner, Gewährleistungsverwaltung und Verkehrsverwaltung, Köln 2004, 179 ff. 2
Programmatisch R. Bartlsperger, Die Bundesfernstraßen als Verwaltungsleistung, Bonn Bad-Godesberg 1969, passim. Siehe auch ders., Bonner Kommentar, Art. 90 Rn. 30 ff. (München, Zweitbearbeitung Juli 1969).
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ßennutzungstatbeständen des geltenden Bundes- und Landesstraßenrechts in Erinnerung gebracht. Es ist eines seiner wichtigsten wissenschaftlichen Anliegen, die öffentlich gewidmete Straße als sächliche Verwaltungsleistung einer rein öffentlich-rechtlichen Benutzungs-, Haftungs- und Nachbarrechtsordnung zu unterwerfen. Nicht nur der Gemeingebrauch, sondern der gesamte Nutzungsbereich soll sich an einem einheitlichen öffentlich-rechtlichen Rechtsstatus ausrichten, mit der Folge, dass die herkömmliche Vorstellung vom privatrechtlichen Eigentum an öffentlichen Sachen jedenfalls für die Benutzungsordnung bedeutungslos ist. 3 Dies hat Folgen für ein Verständnis der Straßenbaulast als einer primär staatlichen Leistungspflicht. 4 Gesetzgebung und Praxis haben sich bisher dem engagiert, gelegentlich auch zornig vorgetragenen Wunsch des Jubilars nach Ächtung und Abschaffung solcher Tatbestände verschlossen. Ungebrochen ist gleichwohl sein Widerstand gegen das dogmatische Eigenleben einer privatrechtlichen Vermögensverwaltung der Straße neben deren öffentlichrechtlicher Zweckbestimmung. 5 Das Feindbild bleibt.
II. Die Widmungsdifferenzierung zur Steuerung des innerstädtischen Verkehrs 1. Zu den wichtigsten Entwicklungen und Erfahrungen der straßenrechtlichen Nachkriegsgeschichte im Bereich der örtlichen Straßen gehört der intensive und innovative Einsatz straßenrechtlicher Gestaltungsinstrumente zur Bewältigung innerstädtischer Verkehrsprobleme. Ausgelöst wurde er durch die Lage der Stadtzentren, in denen besonders viele und eher wachsende Verkehrsansprüche auf begrenzten Flächen konkurrieren. Die daraus resultierende Unterscheidung zwischen erwünschten und unerwünschten Verkehren machte eine umfassende Verkehrsplanung der Städte für den motorisierten Individualverkehr erforderlich, die politisch zu gestalten, aber auch rechtlich zu formen und rechtlich umzusetzen war. Es galt vor allem, Durchgangsverkehre und die Verkehre der Pendler zu beschränken und zugleich zur Stärkung der Urbanen Funktion den Fluss städtebaulich notwendiger Verkehre, insbesondere den Wirtschafts-, Dienstleistungs- und Einkaufsverkehr, zu sichern. 3
A. a. O., 11. - Kritisch gegenüber der gesetzgeberischen Entscheidung für privatrechtlichen Sondergebrauch als überholte Entscheidung auch A. Krüger, Sondernutzung und Gemeingebrauch: Ist die Unterscheidung noch zeitgemäß?, in: W. Blümel (Hrsg.), Die Straße als Mehrzweckinstitut, Speyer 1997, 17 (43). Zur Diskussion siehe u. a. R. Zippelius, in: R. Bartlsperger/W. B l ü m e l / H . - W . Schroeter, Ein Vierteljahrhundert Straßengesetzgebung, Hamburg 1980, 141 (150 ff.); M. Wiget, in: F. Sieder/H. Z e i t l e r / K . Kreuzer/J. Zech, Bayerisches Straßen- und Wegegesetz, Loseblattkommentar, Art. 22, Rn. 4 (Bearbeitungsstand Januar 1996). 4
5
Bartlsperger
( A n m . 2 ) , S. 7.
Siehe R. Bartlsperger, in: K. Grupp (Hrsg.), Beschleunigung und Verzögerung im Straßenbau, Heft 15 der Schriftenreihe Straßenrecht der Forschungsgesellschaft für das Straßenund Verkehrswesen, 2005, 53 (57).
Entwicklungslinien im Recht der Nutzung städtischer Straßen
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2. Im juristischen Weltbild der Verkehrsplaner verwirklichte sich die nutzungsspezifische straßenrechtliche Widmung vor allem im Modell der Fußgängerzone. 6 Hier schienen die Städte zeigen zu können, was eine ausdifferenzierte Widmung bei der Umsetzung innerörtlicher Verkehrskonzepte zu leisten vermag. Es hat sich aber gezeigt, dass sich die nachträgliche Widmungsbeschränkung für eine Feinsteuerung der Verkehre auch außerhalb des Nutzungskonzepts der Fußgängerzone eignet; Umstufung und Einziehung traten demgegenüber bei der Lösung innerstädtischer Verkehrsprobleme zurück. 7 Immerhin haben die Städte in Fällen, in denen der Normgeber des Straßenverkehrsrechts aus ihrer Sicht säumig war, ihre straßenrechtlichen Instrumente ausgereizt. Eine straßenrechtsgeschichtlich bemerkenswerte Episode war dabei der Versuch, Parkraum für innerstädtische Anlieger durch Privatisierung von Verkehrsflächen mit dem Mittel der Entwidmung zu reservieren. 8 Obgleich den Städten teilweise Landesstraßengesetze zur Verfügung standen, in denen sich die Einschränkbarkeit der Widmung allein auf „Benutzungsarten" bezog, hatte die Praxis ersichtlich nirgends mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung Schwierigkeiten, wenn sie die Widmung nachträglich auch auf bestimmte Benutzerkreise, Benutzungszwecke und Benutzungszeiten begrenzte. Überall konnten die kommunalen Straßenbaulastträger ihr Nutzungskonzept mit Hilfe dieser Widmungsdifferenzierungen realisieren. Für die Städte und Gemeinden wichtig war auch, dass - ganz im Sinne der Vorstellung der Straße als Verwaltungsleistung - die für die nachträgliche Widmungsbeschränkung typische Tatbestandsvoraussetzung „überwiegende Gründe des öffentlichen Wohls" umfassend durch öffentliche Interessen „auffüllbar" war. 9 Zugleich konnten Widmung und Widmungsbeschränkung - anders als die Anordnungen nach § 45 StVO - im Bereich der Gemeinde- und Ortsstraßen als Maßnahmen der kommunalen Selbstverwaltung inszeniert werden. 3. A m materiellen Straßenrecht kann es demnach nicht liegen, dass die Städte immer wieder den Eindruck erwecken, die Entscheidung für oder gegen die Anwendung straßenrechtlicher Instrumente sei eine Entscheidung gegen oder für die Effizienz der Verkehrssteuerung. Ihre Präferenz für „Krisenmanagement durch Straßenverkehrsrecht" ist allerdings zugegebenermaßen die Entscheidung für das 6
Siehe U. Steiner, in: Ein Vierteljahrhundert (Anm. 3), S. 605.
7
Zu den straßenrechtlichen Instrumentierungsfragen, insb. zur Widmung als Mittel der Nutzungsregelung siehe statt vieler P. Axer, Die Widmung als Schlüsselbegriff des Rechts der öffentlichen Sachen, Berlin 1994, 122 ff.; A. Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, Berlin 1997, 32 ff.; aus fernstraßenrechtlicher Perspektive K. Grupp, in: E. A. Marschall/H.-W. Schroeter/F. Kastner, Bundesfernstraßengesetz (FStG), Kommentar, 5. Aufl., Köln 1998, Erl. zu § 2 (S. 64 ff.). Gute Übersicht auch in: Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, BT-Drucks. 15/5900 v. 28. 06. 2005, 225 ff.; Umwelt und Straßenverkehr, Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen, Juli 2005, 241 ff. Zusammenfassend H.-J. Koch/C. Zichon, Z U R 2005, 406. 8
Siehe dazu E. A. Marschall, D A R 1975, 316. Eine Variante der Thematik greift die Idee des „Straßenpachtmodells" auf. Siehe dazu T. Finger/P. Müller, N V w Z 2004, 953. 9 Vgl. B W V G H , Urt. v. 25. 6. 1981, D Ö V 1982, 206 mit Anm. U. Steiner.
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vielleicht letzte deutsche Verwaltungsverfahren zur Herstellung belastender und öffentlichkeitswirksamer Verwaltungsakte ohne externes, auf die Wahrung der Rechte und Belange Dritter zugeschnittenes Verwaltungsverfahren 10 und ohne aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage. 11 Hinzu kommt ein kommunalpolitisch bedeutsamer Aspekt. Die Korrektur getroffener verkehrsrechtlicher Anordnungen kann „freihändig" erfolgen, weil frei von den Tatbestandsvoraussetzungen des § 49 Abs. 2 B V w V f G , und zwar auch dort, wo die Beschränkung oder Abänderung von straßenrechtlichen Ge- und Verboten (§ 39, 41 StVO) eine günstige Rechtslage verändert oder aufhebt. 12 Gleichwohl hat sich das Straßenrecht gegenüber dem Straßenverkehrsrecht institutionell behauptet: Es liegt in der Zuständigkeit des kommunalen Straßenbaulastträgers, durch Widmung und ggf. durch nachträgliche Abänderung der Widmung die spezifische Verkehrsaufgabe einer Straße den Straßenverkehrsbehörden rechtlich verbindlich vorzugeben. Es ist die Widmungsverfügung - differenziert und undifferenziert - , die den Nutzungsrahmen festlegt. M i t ihr bestimmt der Träger der Straßenbaulast eigenverantwortlich Art, Ausmaß und Zweck der als Gemeingebrauch gestatteten Benutzung. 1 3 Innerhalb des Nutzungsrahmens, also unter dem Vorbehalt der Widmung, kommen die straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen zum Zuge. 1 4
III. Nichtverkehrliche innerstädtische Straßennutzungen zwischen Gemeingebrauch und Sondernutzung 1. Vor allem die Rechtsprechung der Zivilgerichte in den 1970er Jahren hat es sich zur Aufgabe gemacht, bei der Abgrenzung von Gemeingebrauch und Sondernutzung dem modernen Funktionsbild von Ortsstraßen, insbesondere von Fußgängerbereichen, gerecht zu werden. 1 5 Der Verkehrsbegriff im Gemeingebrauchstatbestand wurde erweitert, Struktur und Anwendung des Sondernutzungstatbestandes wurden auf besondere urbane Bedürfnisse zugeschnitten. Diese Rechtsprechung zu den sog. kommunikativen Nutzungen braucht hier nicht mehr i m Einzelnen vorgestellt zu werden. Sie lässt sich - erlaubt vereinfacht - so zusammenfassen: Geistige Kommunikation i m Schutzbereich des Art. 4, Art. 5 und Art. 8 GG ist erlaubnisfreier Gemeingebrauch, es sei denn, sie kommt mit Hilfe sperriger Gegenstände zur Geltung. Das wissenschaftliche Schrifttum hat diese - durchaus 10 Vgl. § 28 Abs. 2 Nr. 4 B V w V f G . 11 Vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 2 V w G O . 12 BVerwG, Beschl. v. 26. 10. 1976, D Ö V 1977, 105 (106); HessVGH, Urt. v. 16. 4. 1991, N V w Z - R R 1992, 5 (6). Vgl. auch G. Manssen, N Z V 1992, 465. 13 BVerwG, Urt. v. 28. 7. 1989, D Ö V 1989, 1041. 14
Das muss hier nicht alles noch einmal dargestellt werden. Siehe näher U. Steiner, Straßen- und Wegerecht, in: U. Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 7. Aufl., Heidelberg 2003, 818 ff.; A. Rebler, BayVBl, 2005, 394. 15 Siehe näher U. Steiner (Anm. 3), S. 605.
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streitanfällige, ursprünglich kasuistisch wirkende - Rechtsprechung im Wesentlichen unterstützt. Der Gesetzgeber der Landesstraßengesetze hat sie dagegen praktisch nicht zur Kenntnis genommen, er hat sozusagen konzentriert weggehört. Auch Richard Bartlsperger 16 zeigt wenig Respekt: Es seien bemerkenswerterweise die ordentlichen Gerichte gewesen, die ihre Zuständigkeit für das Bußgeldverfahren zur Entwicklung dieser Judikatur genutzt hätten. Aus der Reihe der Staatsrechtslehrer hätten diejenigen vor allem die Entwicklung unterstützt, die für das Straßenrecht sonst kein Interesse zeigten. Damit wird Fremdherrschaft über das Straßenrecht durch fach- und milieufremde Interpreten beanstandet; heute würde man vielleicht von einer „feindlichen Übernahme" sprechen. 2. Es waren dann auch die Verwaltungsgerichte 17 , die sich gegenüber einer übertriebenen Ausdehnung des Gemeingebrauchsbegriffs eher zurückhaltend zeigten. Die Aufstellung von (sperrigen) Sachen und platzbeanspruchenden Einrichtungen im öffentlichen Straßenraum hat sie ergebnissicher auch dann dem Gemeingebrauch nicht zugeordnet, wenn sie der Ausübung von Kommunikationsgrundrechten dienen. Denn zumindest die Nutzung solcher Hilfen für die Entfaltung von Meinungen im Straßenraum muss in der Regel wegen ihrer Auswirkungen auf den Gemeingebrauch anderer und mit Rücksicht auf die Sicherheit und Ordnung des Verkehrsablaufs im Erlaubnisverfahren individuell geprüft und ggf. mit Nebenbestimmungen reguliert werden. Beispielhaft zeigte sich die vorsichtige Haltung der Verwaltungsgerichte bei der nutzungsrechtlichen Zuordnung der Straßenkunst und insbesondere der Straßenmusik. 18 Ausgiebig durften sich mit dem Thema „Straßenmusik" Judikatur und Rechtswissenschaft beschäftigen. 19 Die Freiburger Richtlinien zur Straßenmusik i m Fußgängerbereich wurden von allen verwaltungsgerichtlichen Instanzen auf ihre Vereinbarkeit mit der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG hin geprüft. Auch das BVerfG durfte sich äußern. 20 Zahlreiche fachliterarische Beiträge haben die Freiburger Richtlinien durch die Instanzen begleitet, überwiegend in der engagierten Absicht, die Freiheit der Straßenkunst vor den freiheitsbedrohenden Nachstellungen des deutschen Straßenrechts und insbesondere vor dem Sog seines Sondernutzungsrechts und damit dem Zugriff der Straßenbürokratie zu retten. 21
16 R. Bartlsperger, Werbung und „Straßenkommunikation" in der Mehrzweckordnung öffentlicher Straßen, 1997, in: Blümel (Hrsg.), (Anm. 3), 56, 76. 17 Siehe zur Entwicklung Stock, Straßenkommunikation als Gemeingebrauch, 1979. Umfassende Nachweise bei Bartlsperger (Anm. 16), 45 Fn. 1; interessant U. Saxer, Die Grundrechte und die Benutzung öffentlicher Straßen. Eine Untersuchung der Bundesgerichtspraxis unter Berücksichtigung deutscher Entscheidungen, Zürich 1988.
ι» Siehe BVerwG Urt. v. 19. 12. 1966, NJW 1987, 1836 f. 19 Siehe aus dem Schrifttum insb. F. Hufen, D Ö V 1983, 353; ders., N V w Z 1987, 842; J. Würkner,
N J W 1987, 1 7 9 3 ; H. Bismark,
N J W 1985, 2 4 6 .
20 Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats v. 20. 5. 1987, 1 BvR 3 8 6 / 8 7 , zit. nach J. Würkner, NJW 1988, 17, Fn. 23. Zur Entfaltung der Meinungsäußerungsfreiheit in Fußgängerbereichen siehe BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats v. 18. 10. 1991, N V w Z 1992, 53 f.
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3. Richard Bartlsperger hat sich in fundamentaler Weise gegen den Versuch gewandt, den Verkehrsbegriff mit Hilfe der Kommunikationsgrundrechte zu Lasten des straßenrechtlichen Sondernutzungstatbestandes auszuweiten, aber auch gegen den Versuch, hilfsweise den Sondernutzungstatbestand seiner Ermessungsstruktur zu berauben oder, sofern das Ermessen nicht weginterpretiert wurde, die erlaubten Ermessenserwägungen auf „straßenbezogene Belange" zu begrenzen. 22 Dieser Ansatz ist für ihn strukturell unvereinbar mit dem gemeindlichen Selbstverwaltungsrecht, aus dem die Selbstverwaltungskompetenz für Sondernutzungen als Zuständigkeit zur zweckoffenen Gemeinwohlkonkretisierung im Rahmen eines Ermessensregimes folgt. 2 3 Bartlsperger spricht plastisch von dem „Desaster einer umfassenden und prinzipiellen Uminterpretation der Straßengesetze in das gerade Gegenteil ihrer legislativen Grundentscheidungen". 24 Methodisch ist aus seiner Sicht der beschriebene Vorgang ein Beispiel dafür, „welche grenzenlose Beliebigkeit der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung die Berufung auf eine objektive Wertordnung der Grundrechte zu eröffnen vermag". 2 5 Inzwischen finden sich wieder Stimmen, die - ähnlich wie Bartlsperger - einen „Rückbau" der grundrechtlichen Implikationen in der Abgrenzung von Gemeingebrauch und Sondernutzung fordern. 2 6 Sie wollen der Gemeinde bei der näheren Bestimmung des Straßengebrauchs die Freiheit zurückgeben, die ihnen die Rechtsprechung - wie dargestellt - bei der Steuerung des innerstädtischen Verkehrs durch Widmungsdifferenzierung ohne weiteres zugestanden hat. 4. a) „Bestandschutz" sollte freilich eine „grundrechtsgestützte" Entwicklung im Straßenrecht der Bundesrepublik genießen. Bekanntlich zeigt sich das deutsche Straßenrecht gegenüber dem Anliegerstatus verschlossen. Seine Vorschriften setzen bemerkenswerterweise mit einer Rechtsverneinung ein und nicht mit einer Rechtsgewährung: „Den Eigentümern oder Besitzern von Grundstücken, die an einer Straße liegen (Straßenanlieger), steht kein Anspruch darauf zu, dass die Straße nicht geändert oder eingezogen w i r d " . 2 7 Diese Grundmelodie ist dem Leser stra21 Den „Koordinationsbedarf" auch im Falle der Straßenmusik demonstriert eine Meldung aus der Mittelbayerischen Zeitung v. 10./11. Oktober 1987: Ein Beerdigungsinstitut habe sich bei der Stadtverwaltung beschwert, weil die Musikgruppe vor seinen Geschäftsräumen immer wieder die Melodie „ M u ß i denn, muß i denn, zum Städtele hinaus" intoniert habe. 22 Siehe vor allem Bartlsperger, sim, insb. S. 45, 66, 98.
Werbung und „Straßenkommunikation" (Anm. 16), pas-
23 Siehe a. a. O., 9 8 - 101. - Es sind allerdings die Haushalte der Gemeinden, deren traditionell unbefriedigender Zustand Wirkungen hat auf die Praxis der Sondernutzungen. Das hat schon das Reichsgericht angemerkt (Urt. v. 16. 5. 1931, RGZ 132, 398 [403J). 24 2
A. a. O., 52, 57.
5 A. a. O. S. 58.
26 Kritisch gegenüber dem Grundrechtseinfluss auf das Rechtsregime der Straßennutzung jedenfalls über das Merkmal des Verkehrs i m Gemeingebrauchbegriff C. Hoffmann, Grundrechte und straßenrechtliche Benutzungsordnung, Frankfurt a. M . [u. a.J 2005, 131 f., allerdings unter Abdrängung dieses Einflusses in den Sondernutzungstatbestand. Vgl. auch H. Messer, Die Sondernutzung öffentlicher Straßen, Frankfurt a. M . 1990, 123 f.
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ßenrechtlicher Gesetzestexte von der Gemeingebrauchsregelung im Ohr: „ A u f die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs besteht kein Rechtsanspruch." Die Frage, ob sich der Anlieger im Niemandsland des straßenrechtlichen Nutzungsrechts befindet oder doch Inhaber einer rechtlichen Grundposition ist, beantwortet der Gesetzgeber nicht direkt. Er verpflichtet den Straßenbaulastträger lediglich zu angemessenem Ersatz oder zur Entschädigung, wenn auf Dauer Zufahrten oder Zugänge durch die Änderung oder die Einziehung von Straßen unterbrochen oder ihre Benutzung erheblich erschwert w i r d . 2 8 Auch diese Regelung, die nicht auf straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen anwendbar ist, ist kein eigentliches „Wunschkind" des Gesetzgebers; die Rechtsprechung hat die Feder geführt. 2 9 Damit ergibt sich eine kuriose Situation: Was der Anlieger an einer deutschen Straße heute an Sonder-Rechten in Bezug auf die Nutzung der Straße hat und insbesondere in Bezug auf die Erreichbarkeit seines Grundstückes durch Kraftfahrzeuge, folgt nicht aus dem Gesetz. Man erfährt es nicht aus erster, parlamentarischer Hand. Es ist vielmehr die Rechtsprechung der Zivil- und Verwaltungsgerichte, die den Anliegerstatus auf der Grundlage der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG formulierte und präzisierte. Die Anlieger in Deutschland mussten sich mit Hilfe von Prozessen diesen Grundstatus erstreiten, und sie haben es getan. Der Straßenanlieger ist vor den Verwaltungsgerichten der eigentliche Prozessaktivist in Fragen der Straßenbenutzung gewesen, weniger der allgemeine Verkehrsteilnehmer. Was er erstritten hat, sollte ihm bleiben. b) Ansehen hat vor allem die Anliegerformel des Bundesverwaltungsgerichts gewonnen: Der grundrechtlich gewährleistete Anliegergebrauch reiche so weit, „wie die angemessene Nutzung des Grundeigentums eine Benutzung der Straße" erfordere. 30 Dank dieser Formel hat ein anderer Satz des Bundesverwaltungsgerichts für den Anlieger an Schrecken verloren: dass der Gemeingebrauch „als Recht dort" ende, „ w o es für seine Ausübung an einem Substrat, das heißt an einer Straße selbst, fehlt". 3 1 Allerdings ist diese Formel auch in Bezug auf den allgemeinen Verkehrsteilnehmer nicht überzeugend. Die Teilnahme des Einzelnen am straßenrechtlichen Gemeingebrauch beinhaltet den Anspruch, vom Gemeingebrauch nicht in einer mit dem geltenden Recht unvereinbaren Weise ausgeschlossen zu werden. Die Teilnahme am Gemeingebrauch ist zugleich eine grundrechtliche Betätigung (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG). Zwar besteht nach geltendem Straßenrecht kein Anspruch auf die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs. Die 27
Siehe die Nachweise zu den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen bei Steiner
(Anm. 14), Rn. 97, 108. Umfassend M. Sauthoff, Straße und Anlieger, München 2003. 2« Siehe dazu V G H B W , Urt. v. 17. 12. 2004, D Ö V 2005, 790. 29 Siehe Sieder/Zeitler/Kreuzer/Zech (Anm. 3), Art. 7 Rn. 3 ff. Zur Diskussion siehe u. a. H. Maurer, in: Ein Vierteljahrhundert (Anm. 3), 115 ff.; F. Grote, in: K. K o d a l / H . Krämer, Straßenrecht, 6. Aufl., München 1999, 641 ff. 30 Siehe statt vieler Entscheidungen BVerwG, Urt. v. 29. 4. 1977, BVerwGE 54, 1; v. 20. 5. 1987, NJW 1988, 432 (433). 31 BVerwG, Urt. v. 25. 6. 1969, BVerwGE 32, 222 (225). 38 FS Bartlsperger
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herrschende Lehre schließt daraus und aus den Schwierigkeiten einer Einschränkung des Kreises potentiell Klagebefugter allerdings in zweifelhafter Weise, dass den Teilnehmern am schlichten Gemeingebrauch keine rechtliche Möglichkeit eingeräumt sei, die Aufhebung oder Beschränkung des Gemeingebrauchs einer richterlichen Rechtmäßigkeitskontrolle zuzuführen. Zwar folgt aus Art. 2 Abs. 1 GG kein Rechtsanspruch auf Aufrechterhaltung des benutzungsrechtlichen status quo, aber doch ein Rechtsanspruch darauf, dass die bisher vorhandenen Benutzungsmöglichkeiten nur im Einklang mit dem geltenden Recht - also insbesondere unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen der Einziehung oder Teileinziehung (ggf. in Verbindung mit der Umstufung) - eingeschränkt oder aufgehoben werden. 3 2 Für Verkehrsbeschränkungen, die auf Grund des Straßenverkehrsrechts angeordnet werden (§ 45 StVO), ist eine solche verwaltungsgerichtliche Kontrolle schon lange selbstverständlich. 33
IV. Stadtverkehr und Stadtverkehrsrecht 1. Die Überfüllung der innerstädtischen Verkehrsräume mit Kraftfahrzeugen kann als die zentrale Herausforderung der vergangenen Jahrzehnte an die Instrumente des Straßenrechts und des Straßenverkehrsrechts bezeichnet werden. Das wurde schon hervorgehoben. Es hat in der Praxis zahlreiche Antworten gegeben. Die wohl prominenteste ist der weitgehende Ausschluss bestimmter Verkehre aus den städtischen Kernbereichen, vor allem durch die Schaffung sog. Fußgängerbereiche auf der Grundlage des Straßenrechts mit Unterstützung der StVO (§ 45 Abs. l b Satz 1 Nr. 3 ) . 3 4 Durch straßenrechtliche Verfügungen wurde das Nutzungskonzept der Städte und Gemeinden umgesetzt; die straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen mussten sich in diese nutzungsrechtlichen Vorgaben einfügen. Wo diese sich darauf beschränkten, das Verhältnis der üblichen Straßennutzungen in einem konkreten Straßenraum neu zu moderieren, ohne die Kraftfahrzeuge aus dem Straßengebrauch auszuschließen, war das Straßenrecht nicht gefordert. So hat man zu Recht den Verkehrsberuhigten Bereich auf der Grundlage des § 45 Abs. l b Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 in Verbindung mit § 42 Abs. 4a StVO als straßenverkehrsrechtliche Maßnahme qualifiziert. 3 5 2. Gleichwohl galt es aus der Sicht des Straßenrechts immer wieder, die Grenzen der straßenverkehrsrechtlichen Gestaltungsmittel aufzuzeigen. Diese Mittel haben in den vergangenen Jahrzehnten eine Steigerung erfahren und die straßenrechtlichen Instrumente bedrängt. Kam die StVO 1970 noch mit wenigen, unmittelbar 32 Siehe dazu näher Steiner (Anm. 14), 796 f.; siehe auch M. Burgi, (363 ff.). 33 Siehe z. B. BVerwG, Urt. v. 21. 8. 2003, BayVBl. 2004, 567. 34 Siehe Anm. 6. 35 U. Steiner, N V w Z 1984, 201 (203).
Z G 1994, 341
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für den Verkehr in geschlossenen Ortslagen geltenden speziellen Vorschriften und einer verhältnismäßig eng begrenzten Ermächtigung zum Erlass verkehrsregelnder Anordnungen in § 45 Abs. 1 StVO aus, so markiert das Jahr 1980 eine Trendwende zu einem auf die besondere Verkehrssituation in den Städten zugeschnittenen Straßenverkehrsrecht. 36 Die Straßenverkehrsbehörden nutzen seit dieser Zeit kontinuierlich und konsequent ihre neuen Instrumente zur Entlastung der Innenstädte in mehrfacher Richtung: zur Verringerung oder jedenfalls zur Umverteilung der Verkehrsmengen i m Interesse der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, zur Verbesserung der städtebaulichen Situation und zur Senkung der Umweltbelastung. Theoretisch lassen sich diese Schutzzwecke trennen. In der Praxis sind sie regelmäßig miteinander verbunden. Es ging und geht allgemein um eine Begrenzung des Innenstadtverkehrs auf ein stadtverträgliches Maß. Andere auf den innerstädtischen Verkehr bezogene Instrumente sind hinzugekommen. Die Folge war und ist, dass es in Deutschland keinen so durchadministrierten Verkehrsraum wie den der Innenstädte gibt. Es gehört auch zur Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass die Gemeinden teilweise die Grenzen der ihnen erteilten Ermächtigungen in der StVO überschritten haben. Das Bundesverwaltungsgericht musste diese Praxis bei der Einrichtung sog. geschwindigkeitsbegrenzter Zonen und vor allem bei der räumlichen Bemessung von sog. Anwohnerparkzonen korrigieren. 3 7 Dies kam mittelbar auch dem Geltungsanspruch des Straßenrechts zugute. Wer auf der Grundlage der StVO Verkehrsteilnehmern mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen, etwa den Bewohnern von Innenstadtstraßen, Straßenraum zur bevorzugten Nutzung zuteilt 3 8 , berührt das Gemeingebrauchsprinzip. Denn er privatisiert in einem materiellen Sinne partiell öffentliche Verkehrsflächen. Dies gilt natürlich nicht im strengen straßenrechtlichen Sinne einer flächenbezogenen Teilentwidmung. Aber es ist klar, dass jedenfalls in dem Extremfall einer umfassenden straßenverkehrsrechtlichen Aufteilung der öffentlichen Verkehrsflächen an einen begrenzten Kreis von Nutzern die Widmung als Grundlage für das Recht des Jedermann-Gebrauchs der Straße auch in einem rechtlichen Sinne tangiert wäre, und nicht nur i m Sinne eines Verstoßes gegen den Geist des Gemeingebrauchs. 3. Es sieht auf den ersten Blick danach aus, dass sich in der Konkurrenz der Ordnungs- und Lenkungsinstrumente das Straßenverkehrsrecht auf Grund seiner einfachen Verfahren und seiner schon beschriebenen hohen Flexibilität gegenüber 36 Siehe dazu U. Steiner, NJW 1980, 2339; informative und weiterführende Aufarbeitung der Entwicklung bei H.-J. Koch/C. Menget, NuR 2000, 1: zur zunehmenden Kompliziertheit des Straßenverkehrsrechts siehe grundsätzlich D. Eilinghaus, N Z V 1998, 186. Grundlegend Beaucamp, Innerstädtische Verkehrsreduzierung mit ordnungsrechtlichen und planungsrechtlichen Mitteln, 1997 sowie A. Dannecker, Rechtliche Neukonzeption der kommunalen Straßenverkehrsplanung, Baden-Baden 1997. Siehe auch G. Manssen, D Ö V 2001, 151.
3v BVerwG, Urt. v. 28. 5. 1998, NJW 1998, 2840 = BVerwGE 107, 38. Dazu G. Gehrmann,
Z R P 1 9 9 9 , 6 0 ; E. Schwerdtner,
NVwZ
1998, 1265 f.; P.- J. Tettinger /P.
N Z V 1998, 481; schon vorher grundsätzlich: C. Hillgruber,
W. Tettinger,
VerwArch 89 (1998), 93.
38 Siehe jetzt § 45 Abs. Ib Nr. 2a StVO (Kennzeichnung von Parkmöglichkeiten für Bewohner städtischer Quartiere mit erheblichem Parkraummangel). 38
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dem Straßenrecht durchgesetzt hat. Deshalb finden sich auch bemerkenswerte Versuche einer juristischen „Gegensteuerung". 39 In der Gesamtbilanz lässt sich aber eher von einer gleichen Gewichtigkeit beider Instrumentierungen in der Praxis sprechen. Interessiert man sich für den übergeordneten Gesichtspunkt der Nutzbarkeit der Instrumente durch den kommunalpolitischen Gestaltungswillen, so fällt die Bilanz positiv zu Gunsten der Städte aus. Zwar werden sie, wenn sie von den straßenverkehrsrechtlichen Ermächtigungen zur Regelung des Verkehrs Gebrauch machen, im übertragenen Wirkungskreis tätig. Sie sind deshalb grundsätzlich gegenüber staatlichen Weisungen offen (§ 44 Abs. 1 Satz 2 StVO). In der Praxis haben aber die staatlichen Aufsichtsbehörden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Städten keinen wesentlich geringeren Freiraum gewährt als dem, den sie in ihrer Rolle als Träger der Straßenhoheit und als Inhaber der Kompetenz zur Steuerung des Stadtverkehrs durch widmungsrechtliche Maßnahmen beanspruchen konnten. Die örtliche Straße ist insoweit - jedenfalls i m Ergebnis - kommunale Verwaltungsleistung im Sinne der Bartlspergerschen Grundkonzeption geblieben. Soweit Gemeinden, weil es ihnen wegen geringer Größe an der notwendigen administrativen Kompetenz fehlt, nicht im Besitz der straßenverkehrsrechtlichen Befugnisse nach § 45 StVO sind, hat man sie immerhin mit dem Recht ausgestattet, rechtswidrige Verkehrsverbote und Verkehrsbeschränkungen zu Lasten ihrer straßenrechtlichen und städtebaurechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten mit Hilfe der Verwaltungsgerichte abzuwehren. 40
V. Ausblick Wer sich mit den Rechtsfragen der Nutzung innerstädtischer Verkehrsräume befasst, begegnet immer auch einem Stück Kultur-, Verkehrs- und Wirtschaftsgeschichte. 41 Das wird so bleiben. Außerhalb der Ortsstraßen ist das geltende Recht längst auf dem Weg zur Entgeltlichkeit des Gemeingebrauchs durch Kraftfahrzeuge oder dort schon angekommen 4 2 Aber auch Pläne für die Erhebung von 39 Siehe A. Dannecker (Anm. 36); ders., D V B l . 1999, 143. 40
Siehe dazu und insb. zur verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung G. Manssen, D V B l . 1997, 633 und U. Steiner, N Z V 1995, 209; ders., Örtliche Verkehrsplanung zwischen Staatseinwirkung und Selbstverwaltung, in: K. G r u p p / M . Ronellenfitsch, Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland und Europa, Berlin 1995, 101. Siehe näher Stüer, UPR 2004, 12; A. Rebler, BayVBl. 2004, 554. 41 Z u m bunten Leben im gemeindlichen Straßenraum der Jahrhundertwende siehe die farbige Schilderung bei O. Mayer, Verwaltungsrecht, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin 1924, 78 f. 42 Siehe M. Wiget, in: Sieder/Zeitler/Kreuzer/Zech (Anm. 3), Art. 14 Rn. 17; D. Neumann, N V w Z 2005, 130; R. Uerpmann-Wittzack, Verkehr, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Bd. 4, 3. Aufl., Heidelberg 2006, § 98 Rn. 16 ff.; siehe auch schon P. Kirchhof, in: Ein Vierteljahrhundert (Anm. 3), S. 225; zur staatlichen Verantwortung für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur siehe J. Stender- Vorwachs, Staatliche Verantwortung für gemeinverträglichen Verkehr auf Straße und Schiene nach deutschem und europäischem Recht, Baden-Baden 2005, 239 ff.
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Nutzungsgebühren für den Gemeingebrauch im innerstädtischen Bereich, etwa in der Gestalt einer Straßenmaut, gibt es immer wieder. 4 3 Stärker denn je in der Straßengeschichte werden die innerstädtischen Verkehrsräume für kulturelle und soziokulturelle „Events", 4 4 für die massenhafte Sportausübung, wie Marathon und Inlineskating, geöffnet, aber auch zur publikumswirksamen Demonstration von Sportarten, wie beispielsweise Beachvolleyball. 4 5 Solche Entwicklungen werfen neue Rechtsfragen auf; teilweise wird aber auch nur neuer Wein in alte nutzungsrechtliche Schläuche g e f ü l l t 4 6 Dies gilt auch für den gegenwärtig unternommenen Versuch der Anlieger an Innenstadtstraßen, mit gerichtlicher Hilfe auf imissionsschutzrechtlich begründete Verkehrsbeschränkungen zur Verringerung des Feinstaubs hinzuwirken. Dass die Verwaltungsgerichte dabei bis auf Weiteres solchen Versuchen widerstehen, 47 wird der Jubilar aus grundsätzlicher Sicht begrüßen. Denn zu einem zentralen Anliegen seiner wissenschaftlichen Arbeit gehört, davor zu warnen, die Nutzung von Straßen individueller Rechtsmacht zu überantworten. Örtliche Straßen sind eben - um noch einmal eine dogmatische Grundmelodie Richard Bartlspergers straßenrechtlichen Gesamtwerks aufzugreifen - eine Verwaltungsleistung in kommunaler Eigenverantwortung 4 8
43 Zur aktuellen, durch die Londoner Erfahrungen inspirierten Diskussion siehe etwa SZ Nr. 57 v. 10. 3. 2005, 44; SZ Nr. 73 v. 31. 3. 2005, 13. Siehe schon D. Murswiek, Die Entlastung der Innenstädte vom Individual verkehr, Baden-Baden 1993, Bd. 1, 46. 44
Spektakulär war die sog. Love Parade in Berlin, der das BVerfG unter Bestätigung der Rechtsprechung des O V G Berlin nicht den Status einer (das Straßenrecht verdrängenden) Versammlung im Sinne des Art. 8 GG zuerkannt hat (NJW 2001, 2459). Dazu W. HoffmannRiem, NJW 2002, 257 (259) und C. Gusy, in: H. v. Mangoldt/F. K l e i n / C . Starck, GG, Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., München 2005, Art. 8 Rn. 18. - K. Zehelein (Kommunikativer Straßenverkehr, Frankfurt a. M . 2004) spricht von einer „Festivalisierung" der Straßen (S. 28). Eingehend K.-H. Bette, Asphaltkultur. Zur Versportiichung und Festivalisierung urbaner Räume, in: H.-J. Hohm, Straße und Straßenkultur, Konstanz 1997, 305 ff.; T. Kern, Straßeneinsätze. Religiöse Sinn- und Erlebnis-Kommunikation auf der Straße, a. a. O., 143 ff. « Zur Praxis (Blade Night in München mit 18000 Inline-Skatern) SZ Nr. 109 v. 25. 7. 2005 46 Dies gilt bspw. für die Anordnung von Fahrverboten zu Lasten des Schwerlastverkehrs, der dem Maut-Zwang auf den Bundesautobahnen durch Nutzung der Bundesstraßen ausweicht. 47
Siehe dazu M. Brenner, D A R 2005, 426; A. Willand/G. Steenbuck, N V w Z 2005, 770. 48
Buchholz, NJW 2005, 2641 ; M.
Siehe auch R. Mußnug, in: Ein Vierteljahrhundert (Anm. 3), 81 (95 f.).
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht Von Rolf Stober, Hamburg
I. Verwaltungsrechtliche Konzepte 1. Konzeptkritik Die Erschließung des verwaltungsrechtlichen Normbestandes und der aktuelle Kodifikationsbefund auf diesem Sektor machen deutlich, dass die Ordnung des Verwaltungsrechts noch keineswegs bewältigt ist. Zwar vermittelt das Verwaltungsrecht heute nicht mehr den „Eindruck einer heillosen Verwirrung" 1 und schlimmster „Meinungsverworrenheit". 2 Gleichwohl besteht nach wie vor die Aufgabe, das Verwaltungsrecht nach „gemeinsamen, größten Gesichtspunkten" 3 zu durchdringen und zusammenzufassen. Dieses Ziel durchzieht auch das wissenschaftliche Lebenswerk von Richard Bartlsperger, dem dieser Beitrag in schöner Erinnerung an seine Mannheimer Zeit gewidmet ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Schlüsselfrage nach dem Leitbild des modernen Verwaltungsrechts. Seine Konzeption lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln entwickeln. Die Verwaltungsrechtsliteratur ignoriert diese Problematik grundsätzlich 4 und verfolgt stattdessen etwa begriffliche, historische, induktive, theoretisch-abstrakte, positivistische und fallbezogene Erklärungsansätze. Diese Vorgehensweise wird aus der sicheren Distanz der Rechtsgeschichte mit folgenden Sätzen hinsichtlich des Zustandes von Rechtswissenschaft und Verwaltungsrecht kommentiert: „Schwer abzuschätzen ist der Anteil der Rechtswissenschaft an der neueren Rechtsentwicklung. Der Abfall gegenüber dem 19. Jahrhundert ist unverkennbar. Es gibt heute keine wissenschaftlichen Werke, die sich nach ihrer Wirkung mit denen von B. Windscheid oder O. Mayer vergleichen lie-
1 v: Emmerich,
JuS 1970, 3 3 3 ; F. Ossenbühl,
D Ö V 1971, 5 1 3 .
2
H. Preuß, in: G. A n s c h ü t z / E Berolzheimer (Hrsg.), Handbuch der Politik, Berlin 1914, S. 266. 3 4
O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Leipzig 1895, Vorwort zur 1. Aufl.
S. etwa E. Stein, Methodische Probleme des Verwaltungsrechts, in: M.-E. G e i s / D . Lorenz (Hrsg.), Staat - Kirche - Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, München 2001, S. 803 ff.; A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik i m Öffentlichen Recht, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, Tübingen 2002, S. 171 ff.
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Rolf Stober
ßen. Seit der Kodifikation der Lehre vom Verwaltungsakt in den Verwaltungsverfahrensgesetzen ab 1976 gibt es wohl kein wichtiges Rechtsgebiet mehr, dessen Begrifflichkeit und System noch vornehmlich von der Wissenschaft geprägt ist. Dieser Verlust ist bisher anscheinend noch nicht bemerkt worden. Um so bedeutsamer wird künftig die kritische Aufgabe der Rechtswissenschaft sein - nicht nur im juristisch-technischen Detail, sondern vor allem im Hinblick auf die Prinzipien und Strukturen. 4 ' 5 Diese Kritik ist berechtigt, weil die erwähnten Ansätze gewichtige Nachteile aufweisen. Begriffliche Festlegungen sind zu statisch. Sie berücksichtigen zu wenig die Flexibilität und Dynamik des Verwaltungsrechts. Historische Ableitungen befassen sich zu wenig mit dem Wandel der Grundbedingungen des Verwaltungsrechts. Positivrechtlich ausgerichtete Abhandlungen gehen nicht genügend auf vorund außenrechtliche Bezüge des Verwaltungsrechts ein. Judikativ inspirierte Darstellungen orientieren sich zu sehr an der funktionsbedingt auf eine Rechtskontrolle und Normenabarbeitung reduzierten Verwaltungsrecht der Gerichtsbarkeit, die allenfalls Teilaspekte beleuchten kann. Theoretisch angelegte Werke wiederum, die sich Wertungen, Rechtsprinzipien und Regeln widmen, stehen unter der Prämisse, dass ihre abstrakten Grundannahmen zu dem Verwaltungsrecht in einem konkreten Staatsgebilde passen müssen. 6 Das bedeutet, dass diese Rechtsmaterie von den jeweiligen normativen und politischen Gegebenheiten abhängt. Ein all zu eng gestricktes Theoriegebäude widerspräche wegen seines Modellcharakters dem Verwaltungsrechtswandel und würde relativ schnell erschüttert.
2. Allgemeine Rechtsfindungskriterien Diese skeptische Analyse schließt eine Kombination der angeführten Ansätze nicht aus. 7 Zusätzlich ist nach weiteren Rechtsfindungskriterien 8 zu suchen, die Verwaltungsrecht als komplexen Prozess begreifen, der aus normativen und realen Lebenssachverhalten und Anforderungen besteht. Im Fokus steht dabei die differenzierte Ausgestaltung der Verwaltung selbst als eigenständige Funktion sowie die Verwaltungsrechtsbeziehung zwischen Staat und Bürger innerhalb einer Skala, die von der Staatsverantwortung auch in Gestalt der Verwaltungsverantwortung für das Gemeinwohl 9 über die Mitverantwortung im Sinne einer koope5 K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte Band 3, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg, 1993, S. 296. 6
S. dazu etwa./. H. Park, Rechtsfindung im Verwaltungsrecht, Göttingen 1999.
7 Ebenso A. Voßkuhle, VerwArch 92 (2001), 184(195). 8 Kritisch zu diesem juristischen Verständnis W. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: E. Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, Baden-Baden 2004, S. 11 f. 9 S. allgemein abgrenzend H. C. Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff, in: W. Berg u. a. (Hrsg.), Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, Berlin 1999, S. 33 ff.; W. Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle: Perspektiven, in: E. Schmidt-Aßmann/ders.
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht Verwaltung10
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tungsrecht h i n z u . 1 3 A u s d e m B l i c k w i n k e l der v o m V e r w a l t u n g s r e c h t betroffenen B ü r g e r ist d i e dienende Funktion
der Verwaltung
(s. e t w a A r t . 82 I 2 sächs. Verf.) die oberste M a x i -
m e des Verwaltungsrechts. D e n n der M e n s c h ist n i c h t O b j e k t der V e r w a l t u n g , sondern er steht i m Z e n t r u m der V e r w a l t u n g s r e c h t s o r d n u n g . D e s h a l b hat das gesamte H a n d e l n der V e r w a l t u n g i m D i e n s t e der M e n s c h e n u n d der G e m e i n s c h a f t z u stehen. D e m e n t s p r e c h e n d müssen d i e Verwaltungsbediensteten
D i e n e r des ganzen
V o l k e s sein ( A r t . 9 2 sächs. Verf.). D i e s e personale A u s w i r k u n g k o m m t i m schenbild
der
Rechtsordnung
Unionsbürgerschaft
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Men-
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( A r t . 6 A b s . 2 E U V , A r t . 17 ff. E G V ) z u m A u s d r u c k . E i n e
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14
auf eine gute
Verwal-
( A r t . 41 E u G R Charta), das g e g e n w ä r t i g a l l e r d i n g s n u r f r a g m e n t a r i s c h aus-
f o r m u l i e r t i s t . 1 6 Das r i c h t i g e A u s t a r i e r e n der V e r w a l t u n g s v e r a n t w o r t u n g einerseits (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, Baden-Baden 2001, S. 291 (339 f.); U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen 2001, S. 100 ff. 10 A. Benz, Kooperative Verwaltung, Baden-Baden 1994; N. Dose, Die verhandelnde Verwaltung, Baden-Baden 1997; H. Bauer, Zur notwendigen Entwicklung eines Verwaltungskooperationsrechts, in: G. E Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem" Staat, Baden-Baden 1999, S. 251 ff.; T. Groß, Die Beziehungen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen Verwaltungsrecht, in: Berg (Anm. 9), S. 57 (77); G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2000, 115 ff.; A. Voßkuhle (Anm. 7), 204 ff.; ders., V V D S t R L 62 (2003), 266 ff.; J. Ziekow, Inwieweit veranlasst das neue Steuerungsmodell zu Änderungen des Verwaltungsverfährens und des Verwaltungsverfahrensgesetzes?, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, Baden-Baden 2002, S. 349 (365); VK Weiß, DVB1. 2002, 1167 ff.; R. Pitschas, D Ö V 2004, 231 ff. 11 P. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, Bern 1984; R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, München 1990, S. 8 ff. (235 ff.); D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, Berlin 1985; J. Schubert, Das „Prinzip Verantwortung" als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, Baden-Baden 1998; R. Stober, D Ö V 1998, 775 ff.; M. Führ, Eigen-Verantwortung im Rechtsstaat, Berlin 2003; R. Stober, A l l gemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 14. Aufl., Stuttgart 2004, § 2 15; M. Kotzur, BayVBl. 2003, 353 ff.
"2 Park
( A n m . 6 ) S. 3 1 9 .
13 Ch. Tietje, DVB1. 2003, 1081 ff. 14 D. Merten, Grundrechtsorientiertheit des Verwaltungshandelns, in: K. P. Sommermann/J. Ziekow (Hrsg.), Perspektiven der Verwaltungsforschung, Berlin 2003, S. 211 ff. 15
S. zur Konzeptbedeutung dieses Rechts Hoffmann- Riem (Anm. 8), 25.
16 S. auch H. Dreier, D Ö V 2002, 536 ff.; H. Hill, DVB1. 2002, 1316 (1318 ff.); R. Bauer, Das Recht auf eine gute Verwaltung i m europäischen Gemeinschaftsrecht, Frankfurt a. M . 2002; M. Bullinger, Das Recht auf eine gute Verwaltung nach der Grundrechtecharta der EU, in: C.-E. Eberle u. a. (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, 2002, S. 25 ff.
602
Rolf Stober
und der Bürgerverantwortung 17 andererseits gehört zu den großen Zukunftsaufgaben des Verwaltungsrechts 18 , das inzwischen zur Herausbildung eines Kooperationsprinzips als allgemeines Verwaltungsprinzip geführt hat. 1 9
II. Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrechtsleitbild M i t diesen Ausführungen sind die Eckpunkte für ein verwaltungsrechtliches Leitbild 20 ausreichend skizziert. Nunmehr geht es darum, diesen bewusst offen angelegten Rahmen mit Anforderungen an ein zeitgemäßes und innovatives Verwaltungsrecht auszufüllen.
1. Systematisches Verwaltungsrecht Verwaltungsrecht muss zur Systembildung beitragen. Das gilt insbesondere vor dem rechtstatsächlichen Hintergrund, dass das gegenwärtig geltende Verwaltungsrecht kaum kodifiziert ist, Praxis und Wissenschaft aber gleichzeitig wegen der großen Bedeutung dieser Materie für die Gesellschaft auf ein festes Gerüst angewiesen sind. 2 1 Es hat sämtliche einschlägige Quellen zu erfassen, zu bewerten und in eine bestimmte Ordnung zu bringen (Ordnungszweck). Es hat die Isolierung nicht aufeinander abgestimmter, situationsbedingt erlassener und nur kasuistisch geltender Einzelregelungen sowie punktuell wirkender Fachgesetze zu überwinden 17 S. D. Merten, V V D S t R L , 55 (1995), S. 7 ff.; W Boecken, Formen der Individualverantwortung in der Sozialversicherung, in: Individualverantwortung im Sozialversicherungsschutz, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Band 42, Wiesbaden 1997, S. 7 ff. 18 S. Κ König, Öffentliche Verwaltung - postindustriell, postmodern, postbürokratisch, in: D. Merten u. a. (Hrsg.), Der Verwaltungsstaat i m Wandel, Festschrift für Franz Knöpfle zum 70. Geburtstag, 1996, S. 140 (146 ff.); R. Scholz, Schlanker Staat tut Not!, in: F. Ruland u. a. (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher zum
7 0 . G e b u r t s t a g , 1 9 9 8 , S. 9 8 7 f f . ; Schubert
( A n m . 11); M. Schmidt-Preuß
u n d V. Di
Fabio,
V V D S t R L 56 (1997), 160 ff. und 235 ff.; R. Stober, NJW 1997, 889 ff.; ders., D Ö V 1998, 775 ff. 19 A. Voßkuhle,
V V D S t R L 6 2 ( 2 0 0 3 ) , 2 6 6 f f . ; Pitschas
( A n m . 10), 2 3 1 f f . ; W Berg
u. a.
(Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Berlin 2001; Voßkuhle (Anm. 7), 213 ff.; W.-W. Lee, Privatisierung als Rechtsproblem, Hamburg 1997. 20
S. zum Leitbildbegriff als Erkenntnismittel S. Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/ Hoffmann-Riem (Anm. 8), S. 223 ff. 21 Park, (Anm. 6) S. 1 ff.; W. Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkung in der Rechtsdogmatik, in: FS Maurer (Anm. 4), S. 1079 (1083); W. Krebs, Die juristische Methode i m Verwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Anm. 8), S. 214.
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht
603
(.Rationalisierungszweck). Es hat Orientierung zu geben, indem es einen Rahmen aufzeigt, Verbindungslinien zwischen Allgemeinem und Besonderen Verwaltungsrecht, materiellen und verfahrensrechtlichen Regeln zeichnet und Strukturen entwirft. Es hat abstrakte Aussagen zu formulieren und ein einheitliches, möglichst widerspruchsfreies Gebäude von Lehrsätzen zu entwickeln, das die inneren Zusammenhänge von Verwaltungsbegriffen, Verwaltungstypen, Verwaltungsregeln, Verwaltungsgrundsätzen und Verwaltungsinstitutionen sowie die zunehmende Ausdifferenzierung dieser Rechtsmaterie sichtbar macht. 2 2 Insofern wird Verwaltungsrechtssystematik zur Verwaltungsrechtsdogmatik. Dieses Vorgehen vermeidet zum einen, dass prinzipielle Sach- und Wertungsfragen ständig neu aufgeworfen werden müssen (Standardisie rungs- und Entlastungszweck). Zum anderen vermag es zur Einheit der Rechtsordnung und zur Verstetigung des Verwaltungsrechts beizutragen (Vereinheitlichungszweck). Ferner kann es das Recht weiterentwickeln und rechtspolitische Hilfestellung geben (.Entwicklungszweck). Schließlich schafft Verwaltungsrechtssystematik Distanz zum Verwaltungsgeschehen (Distanzie rungs zweck). 23 Dieser systematische Ansatz entspricht der sog. juristischen Methode des Verwaltungsrechts, deren konsequenter Anwendung das Verwaltungsrecht letztlich seine Selbständigkeit verdankt.
2. Transfer und wirkungsorientiertes Verwaltungsrecht Verwaltungs recht muss zur Transferbildung zwischen Wissenschaft und Praxis beitragen und auf Transparenz angelegt sein. Es hat sich nicht nur an wissenschaftlichen Maßstäben, sondern auch an Praxiserfordernissen und an der Verwaltungswirklichkeit zu orientieren. Denn Verwaltungsrecht ist Realwissenschaft, 24 die auch aus Verwaltungstatsachen, Verwaltungsbräuchen und Verwaltungserfahrungen besteht. 25 Insofern ist das Verwaltungsrecht auf eine Rückkoppelung mit dem Verwaltungsalltag angewiesen und es hat „den Baustoff aus der Wirklichkeit des Verwaltungslebens" 26 unter Einsatz empirischer Forschungen 27 zu holen, Verwal22
Park (Anm. 6) S. 5 ff.; M. Schmidt-Preuß, Das Allgemeine des Verwaltungsrechts, in: FS Maurer (Anm. 4), S. 777 ff.; H. Bauer, Die Verwaltung 25 (1992), 301; E. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin 2004, S. 1 ff.; E. W. Böckenförde, JZ 1997, 317 (323). 23 S. zu den Funktionen der verwaltungsrechtlichen Systembildung ferner Th. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, Tübingen 1996, S. 34 ff.; Th.
Groß
( A n m . 10), S. 5 7 ( 7 1 ) .
24
S. auch G. Roellecke, Die Verwaltung 29 (1996), 1 (3 f.) und allgemein H. Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, Baden-Baden 1993. 2
5 S. auch Ε. v. Hippel, JZ 1998, 529 (530 f.) m. w. N.
26
E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I. Band, 10. Aufl., München 1973, S. 55 f.; s. auch E. Becker, V V D S t R L 14 (1956), 96 f. 27 H.-U. Derlien, Standort der empirischen Verwaltungsforschung, in: K. König (Hrsg.), Verwaltung und Verwaltungsrechtsforschung, Speyerer Forschungsberichte 211, Speyer 2000, S. 15 ff.
604
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tungsdefizite aufzuspüren und neue Erscheinungsformen einzubeziehen. 28 Darüber hinaus fungiert die Verwaltung als Ve rwaltungs labor, soweit sie mit Experimentierklauseln und Verwaltungsspielräumen hantieren darf und muss. Wissenschaftliches Transferinstrument ist die Rechtstatsachenforschung. 29 Sie ist die systematische Untersuchung der sozialen, politischen, kulturellen und anderen Bedingungen und Wirkungen von Normen mit dem Ziel, die Verwaltungsrechtsystematik und -dogmatik zu verbessern. Dieser Transfer schließt die Verwaltungsrechtsprechung sowie die Verwaltungsmediation ein, welche die Exekutive kontrollieren, korrigieren und moderieren. Sie erfasst auch sämtliche andere Erscheinungsformen, die sich mit dem Thema Verwaltungskontrolle befassen. 30 Allerdings kann ein ernsthafter Transfer nur stattfinden, wenn ein Mindestmaß an Verwaltungstransparenz 31 und 32 Verwaltungsöffentlichkeit besteht. Immerhin hat die Prozeduralisie rung des Verwaltungsrechts, die Akzeptanz kooperativer Elemente sowie die Entwicklung der Verwaltungskommunikation 33 innerhalb der Informations- und Kommunikationsgesellschaft 34 die Transferbedingungen verbessert und Evaluierungen erleichtert (Art. 255 EGV, IFG). Große Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang zu Recht der Verwaltungsrechtswirkungsforschung 35 und der sog. wirkungsorientierten Verwaltungsführung gewidmet, 3 6 deren Beachtung als Grunderfordernis jeder Verwaltungstätigkeit teilweise auch positivrechtlich vorgegeben ist (S. etwa Art. 28 f. EGV; § 5 I I GPSG). I m Mittelpunkt der wirkungsorientierten Verwaltungsführung steht die Steuerung der Verwaltung 37 im Sinne einer internen und externen Einflussnah28 S. auch Ch. Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Anm. 8), S. 82 ff. 29
Näher A. Voßkuhle, VerwArch 85 (1994), 56 ff.
30
E. Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Anm. 9); R. Stober, Grundrechtsschutz durch Selbstkontrolle und Fremdkontrolle der Verwaltung, in: D. M e r t e n / H . J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band III, Heidelberg 2006, § 72. 31 S. allgemein J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, Tübingen 2004; M. Kloepfer (Hrsg.), Die transparente Verwaltung, Berlin 2003; Hill (Anm. 16), 1320; R. Gröschner und J. Masing, V V D S t R L 63 (2004), 344 ff. 32
A. Scherzberg, (Anm. 31), 379 ff. 33
Schuppert,
Die
Öffentlichkeit
der Verwaltung,
Baden-Baden
V e r w a l t u n g s w i s s e n s c h a f t ( A n m . 10), S. 131 ff.; Hill
von Lücke, Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, (Anm. 7), 199.
2000;
Masing
( A n m . 16), 1316 ff.; J.
Berlin 2003; Voßkuhle,
34 M. Kloepfer, Informationsrecht, München 2002; Th. Hoeren, JuS 2002, 947 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungskontrolle: einleitende Problemskizze, in: ders./HoffmannRiem (Anm.
9 ) , S. 9 ( 2 4 f f . ) ;
von
Lücke
(Anm.
33);
Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann
(Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, Baden-Baden 2000. 35 D. Strempel, 36
Z G 1998, 116 ff.
S. K. Schedler, Ansätze einer wirkungsorientierten Verwaltungsführung, Bern 1995.
37 S. zum Steuerungsbegriff, O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, Tübingen 1999, S. 1 ff.; Voßkuhle, (Anm. 7), 195.
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht
605
me zur Realisierung von öffentlichen Interessen, die von der Risikoverwaltungssteuerung bis zur Haushaltssteuerung reicht. Deshalb wird das Verwaltungsrecht häufig auch als Steuerungsrecht bezeichnet 38 , eine Kategorisierung, die auch bei der Verwaltungsmodernisierung eine maßgebliche Rolle spielt. Unklar ist, ob man die Verwaltungssteuerung als Summe der Verwaltungspraxis und des Verwaltungsstils als Veränderung der Verwaltungskultur 39 oder als Ausdruck der Corporate Culture 40 der jeweiligen Verwaltungsträger qualifizieren kann 4 1
3. Intra-, inter- und transdisziplinäres Verwaltungsrecht Verwaltungsrecht muss auf Intradisziplinarität, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität angelegt sein. Es muss in einer zunehmend komplexer werdenden Welt versuchen, klassische Disziplinarität wieder herzustellen und der voranschreitenden Spezialisierung und Separation entgegenwirken. Atomisierung der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht bedeutet Ausgrenzung mit der Folge, dass die Grenzen der Disziplin gleichzeitig zu Erkenntnisgrenzen werden. Verwaltungsrecht muss deshalb eine gesamtwissenschaftliche Behandlung erfahren. Die multidisziplinäre Betrachtung des Verwaltungsrechts hat aus drei Richtungen zu erfolgen. Die Forderung nach einem intradisziplinär orientiertem Verwaltungsrecht wurzelt in der Erkenntnis, dass das Verwaltungsrecht nur ein Teilaspekt der als einheitliches Rechtssystem zu verstehenden Gesamtrechtsordnung ist. Eine isolierte Betrachtung würde deshalb die Wechselbezüglichkeit und die Steuerungszusammenhänge zwischen Verwaltungsrecht, Strafrecht und Zivilrecht 4 2 übersehen, die unter anderem in strafrechtlichen Vorgaben für das Verwaltungsrecht, privatrechtlichem Handeln der Verwaltung, privatrechtlichen Organisationsformen und vielfachen Formen der Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Privaten und in der Schaffung von Privatisierungsfolgenrecht zum Ausdruck kommen 4 3
S. etwa H. Klages, A f K 1995, 203 ff.; K. Lüder, D Ö V 1996, 93 ff.; W. Hoffmann-Riem, D Ö V 1997, 433 (439). 39 S. dazu näher St. Fisch, Die Verwaltung 33 (2000), 303 ff.; M. Wallerath, Die Verwaltung 33 (2000), 351 (364 ff.); M. Rehhinder, New Public Management - Rückblick, Kritik und Ausblick, in: FS Brohm (Anm. 16), S. 727 (733). 40 w. Jann, Die Verwaltung 33 (2000), 325 (330). 41 So D. Czybulka, Verwaltungsreform und Verwaltungskultur, in: FS Knöpfle (Anm. 18), S. 79 (91 ff.); differenziert W Thieme, Die Verwaltung 20 (1987), 277 ff.: s. auch R. Schmidt, Flexibilität und Innovationsoffenheit im Bereich der Verwaltungsmaßstäbe, in: W. HoffmannR i e m / E . Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, Baden-Baden 1994, S. 71 (81 ff.); S. Römer-Hillebrecht, Verwaltungskultur, Baden-Baden 1998. 42 S. etwa G. Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, Tübingen 1994; W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangsordnungen, Baden-Baden 1996; C. Calliess, Die Verwaltung 34 (2001), 169 ff. 43
H. G. Dederer, Kooperative Staatsgewalt, Tübingen 2004, S. 66 ff.
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Aus der interdisziplinären Perspektive muss die Verwaltungsrechtswissenschaft 4 4 einschlägige Nachbarwissenschaften einbeziehen und versuchen, aus deren Forschungsergebnissen Nutzen zu ziehen. Es hat sich insbesondere wirtschaftswissenschaftlichen, 45 technikwissenschaftlichen 4 6 naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen 47 Anliegen zu stellen 4 8 Zwar erfasst die Summe der Wissenschaften weitgehend die notwendigen Erscheinungsformen, Ansätze und Erkenntnisse zur Bewältigung verwaltungsrechtlicher Fragestellungen. Darüber hinaus ist eine über die Fächergrenzen hinausgreifende problem- und projektbezogene transdisziplinäre Verwaltungsrechtsforschung zweckmäßig, soweit sie aufgrund ihrer Vernetzung lebensnähere und problemgerechtere Lösungen gestattet. 49
4. Problematisierendes und interpretierendes Verwaltungsrecht Verwaltungsrecht muss auf Problematisierung, Reflektierung und Interpretation angelegt sein. Es muss seine Gegenstände ständig überprüfen, Probleme aufgreifen, kritisch hinterfragen und nach angemessenen Lösungen suchen. Für diese Konkretisierung reichen weder intuitives Verstehen noch das auf Verwaltungserfahrung beruhende Judiz aus. Stattdessen bedarf es wissenschaftlicher Methoden, die eine analytisch-theoretische Befassung ermöglichen und eine interessengerechte Entscheidungsfindung sicherstellen. Problem- und Systemdenken müssen demnach ineinander greifen. Allerdings reicht die auch im Verwaltungsrecht anzutreffende, überkommene einseitige Orientierung an juristischen Texten und ihrer Interpretation nicht aus, weil sie nur die handwerkliche Subsumtions- und Auslegungstechniken erfassen. 50 Vielmehr ist nach weiteren Methoden zu suchen, die eine überzeugende Rechtsfindung 51 und Steuerung des Verwaltungsrechts 52 ermöglichen. 44
S. J. Ziekow (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, Berlin
2003. 4 5 S. dazu Ch. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, Berlin 1997; Ch. Engel/M. Morlok, Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, Tübingen 1998; Voßkuhle, (Anm. 7), 209 ff.; J. Ρ Schneider, Die Verwaltung 34 (2001), 317 ff.; W. Weigel, Rechtsökonomik, München 2003, S. 94 ff. 4
6 Κ Vieweg (Hrsg.), Spektrum des Technikrechts, Köln 2002.
47
W. Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften i m Verwaltungsrecht, in: Berg (Anm. 9), S. 83 ff.; M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 5. Aufl., München 2003, § 9. 48 Lepsius (Anm. 37), S. 3 ff.; Ch. Möllers, VerwArch 93 (2002), 22 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: ders. / Hoffmann-Riem (Anm. 8), S. 396 ff. 49
S. dazu auch E. Schmidt-Aßmann,
JZ 1995, 1 (8).
50 E. Stein (Anm. 4), 803 ff.; Rumke (Anm. 28), S. 73 (78 f.). 51
Park, (Anm. 6), passim.
52 Lepsius (Anm. 37) S. 3 ff.; Schmidt-Aßmann, S. 392 ff.
in: ders./Hoffmann-Riem (Anm. 48),
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht
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5. Reform-, modernisierungs- und innovationsorientiertes Verwaltungsrecht a) Zum Reform- und Innovationsdruck Das Verwaltungsrecht muss auf Reform, 53 Modernisierung , Erneuerung 54 und Innovation 55 angelegt sein. Denn es handelt sich nicht um eine statische Materie (administrative law in books), sondern um ein dynamisches Rechtsgebiet, das eine erhebliche Flexibilität beweisen und entwicklungsoffen sein muss (administrative law in action). Da das aktuelle Verwaltungsrecht lückenhaft ist, technische Entwicklungen sowie vielfältige neue Bedürfnisse berücksichtigen muss, befindet es sich unter einem ständigen Reform-, Modernisierungs- und Innovationsdruck. Dieser Anpassungszwang hat einen permanenten Umbau, eine andauernde Neuvermessung des Verwaltungsrechts sowie die Entstehung neuer Sonderrechtsgebiete, Typen, Institute und Instrumente zur Folge 5 6 (Elektronisierung, 57 Informationierung, 5 8 Risikoorientierung der Verwaltung). Hinzu treten ordnungspolitisch motivierte Verwaltungskonzepte , die dem Verwaltungsrecht einen Innovationsschub geben sollen (Privatisierungs-, 59 Deregulierungs-, 6 0 Ökonomisierungs- 61 und Entbürokratisierungskonzepte 62 ). Dieser punktuelle und konzeptionelle Verwaltungswandel setzt die Einräumung von Experimentiermöglichkeiten 63 voraus und erfordert auf der Exekutivebene ein bestimmtes Maß an Experimentierfreude, ohne die neue verwaltungsspezifische Formen außerhalb von Laborbedingungen vor dem Hintergrund einer Situation der Ungewissheit nicht auf ihre allgemeine Anwendbarkeit getestet werden können. 6 4 « Möllers (Anm. 48), 22 ff. 54
M. Walle rath (Hrsg.), Verwaltungserneuerung, 2001.
55 W Kahl, ZRph 2004, 1 ff.; M. Pocker, Die Verwaltung 37 (2004), 509 ff.; Voßkuhle, (Anm. 7), 194 ff.; Th. Bullerdiek/M. Greve /W. Puschmann, Verwaltung im Internet, München 2002. 56 W. Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation (Anm. 41), S. 94 ff.; W Thieme, D Ö V 1997, 757 ff.; K. König, VerwArch 88 (1997), 545 ff. 57 H. Hill, DVB1. 2002, 1316 (1320 ff.); H. Schaff er, Verwaltungsinnovation durch E-Government, in: A. Benz (Hrsg.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung, Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag, Berlin 2004, 495 ff.; von Lücke (Anm. 33). 58 W. Hoffmann-Riem/E.
Schmidt-Aßmann
(Anm. 34).
59 Lee (Anm. 19); Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.), Beteiligungsbericht 2004. 60 Voßkuhle, (Anm. 7), 207 ff.; J. F. Lindner, B a y V B l . 2004, 225 ff. 61 S. Bumke (Anm. 28), S. 166 (183 ff.). 62 K. G. Meyer-Teschendorf, (Anm. 7), 188 ff.
D Ö V 1997, 268 ff.; Scholz (Anm. 18), 987 ff.; Voßkuhle
63 S. näher O. Gericke, Möglichkeiten und Grenzen eines Abbaus der Verrechtlichung, Aachen 2003, § 7. 64 H. Schulze-Fielitz, Zeitoffene Gesetzgebung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Innovation (Anm. 41), S. 141 (157 ff.); 193 ff.
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Gesetzgebung und Verwaltungspraxis sind unbeschadet der Ankündigung großer Strukturreform- und Modernisierungskampagnen eher zurückhaltend. Die gut klingenden Gesetzesüberschriften halten nur teilweise, was sie versprechen. 65 Das Berliner Verwaltungsreform-Grundsätzegesetz v. 17. 5. 1999 hingegen führt eine neue, der Steuerungswissenschaft entlehnte, Begrifflichkeit ein (Serviceeinheit, Steuerungsdienst, Kunden), die aber auch gelebt werden muss. Innovativ sind auch die Informationsfreiheitsgesetze der Bundesländer, die auf Verwaltungstransparenz angelegt sind. 6 6
b) Zur Steuerung des Verwaltungsrechts Die Übergänge zwischen der dynamischen, der innovativen 67 und der reformatorischen Verwaltung sind schon deshalb fließend, weil nicht jede Neuerung und Änderung der Verwaltungsführung das Prädikat Verwaltungsreform (administrative reform, réforme administrative) verdient. Diese Bezeichnung setzt vielmehr eine grundlegende qualitative Andersartigkeit und Neuartigkeit gegenüber des bisherigen Verwaltungsaktivitäten im Sinne eines Paradigmenwechsels voraus. Teilweise wird an Stelle des Begriffs Verwaltungsreform die Bezeichnung Modernisierung verwendet, 6 8 die aber jedenfalls in Deutschland den Reformbegriff noch nicht verdrängt hat. 6 9 Allerdings werden die erwähnten Ausdrücke in jüngerer Zeit zunehmend durch die Vokabel Steuerung ersetzt, 70 die sozusagen als Oberbegriff fungiert und sämtliche verwaltungsrechtlichen Entwicklungslinien und Modernisierungsmechanismen einschließt. Gemeinsames Anliegen der reformatorischen, innovativen und steuernden Verwaltung ist die Verbesserung der Verwaltungseffektivität (hoher Grad der Verwaltungszweckerfüllung) 71 und der Verwaltungseffizienz (hoher Grad der Verwaltungswirksamkeit und Wirtschaftlichkeit). 7 2 Deshalb handelt es sich bei der Reformierung der Verwaltung um eine Daueraufgabe, die nach innen und nach außen gerichtet ist. Sie erfasst sämtliche Verwaltungssektoren (Funktionalreform, Gebietsreform, Dienstreform, Aufgabenreform, Finanzreform, Rechnungswesenreform, Haushaltsreform, Auftragsvergabereform, 73 Organisationsreform, Verfahrensreform, Aufsichtsreform). 74 65 s. etwa den Überblick von H. Schmitz, N V w Z 2000, 1238 ff. unter dem Stichwort „ M o derner Staat". 66 Kloepfer (Anm. 31); 7. Masing, V V D S t R L 63 (2004), 379 ff. 67 W. Hoffmann-Riem/J. P. Schneider schung, Baden-Baden 1998. 6« S. etwa W. Hoffmann-Riem,
(Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsfor-
D V B l . 1996, 225 ff.
69 S. dazu König (Anm. 18), S. 141 ff.; ders., D Ö V 1995, 349. 70 Lepsius (Anm. 37) S. 3 ff.; R. Schmidt, VerwArch 92 (2000), 149 ff. 71 Lepsius (Anm. 37) S. 3 ff. 72 S. H. G. Zavelberg, D Ö V 1994, 1040; H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen 1995; W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, Baden-Baden 1998; Voßkuhle, (Anm. 7), 194 ff. 73 WeigeliAnm.
45), 136 ff.
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c) New Public Management und Neues Steuerungsmodell Die dazu in jüngerer Zeit entwickelten Verwaltungsreformansätze werden unter unterschiedlichen Begriffen und Prämissen diskutiert. Unter den Stichworten „Neue Verwaltung „Neues Verwaltungsrecht" 75 oder „Reform des Allgemeinen 16 Verwaltungs rechts" und am häufigsten der Ausdruck „New Public Management " Ί Ί verwendet. Er kann umschrieben werden als umfassende Gestaltung der Strukturen und Abläufe in der öffentlichen Verwaltung. Ziel ist der Übergang von einer Input - zu einer Onputbetrachtung , d. h. es findet eine Verlegung von der Mittelzuweisung und dem Ressourceneinsatz auf eine produkt- und nutzerorientierte Sichtweise statt, um eine qualitäts- und wirkungsorientierte Verwaltungsführung (outcome ) und Verwaltungskontrolle zu erreichen. 78 Das New Public Management beruht auf einem Neuen Steuerungsmodell, 79 dem auch der Gedanke des Verwaltungstransfers und Verwaltungstransparenz zugrunde liegt.
d) Good Governance Konzepte Die Reformschlüsselworte New Public Management und Neues Steuerungsmodell werden durch den schillernden Begriff Good Governance 80 ergänzt 81 , der eine weitere Veränderung der traditionellen Verwaltungskultur markiert. 8 2 Denn er überwindet die betriebswirtschaftlich inspirierte Fokussierung auf das Management durch die Anreicherung mit rechtlichen, politischen und sozialwissenschaftli74 R. Pitschas , D Ö V 1998, 907 ff.; G. F. Schuppert, D Ö V 1998, 831 ff.; Czybulka (Anm. 41), S. 79 ff.; E. Schmidt-Aßmann / W. Hoffmann- Riem, (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, Baden-Baden 1997; Voßkuhle, (Anm. 7), 189 f. 75 Thieme (Anm. 56), 757 ff. 76 W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Baden-Baden 1993; dies., Innovation (Anm. 41). 77 H. Hill/H. Klages (Hrsg.), Oualitäts- und erfolgsorientiertes Verwaltungsmanagement, Berlin 1993; K. König/J. Beck, Modernisierung von Staat und Verwaltung - zum Neuen öffentlichen Management, Baden-Baden 1997; D. Budäus (Hrsg.), Organisationswandel öffentlicher Aufgabenwahrnehmung, Baden-Baden 1998; K. Schedler/I. Proeller, New Public Management, Bern 2000; A. Bösl, Wirtschaftlichere öffentliche Verwaltungen durch neue Steuerungsmodelle, 2001 ; Rehbinder (Anm. 39), S. 727 ff. 78 H. Hill, Verwaltung als Adressat und Akteur, in: ders./H. Hof (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht II, Baden-Baden 2000, S. 27 ff.; J.-P Thommen / A.-K. Achleitner, A l l gemeine Betriebswirtschaftslehre, 4. Aufl., 2003, S. 38. 79 K. König, D Ö V 1995, 349 ff.; Lüder, (Anm. 38), 93 ff.; B. Köster, V R 2002, 223 ff.; Ziekow (Anm. 10), S. 356 ff. «ο K. König, D Ö V 2001, 617 ff.; H. H. Trute/W. 37 (2004), 451 ff.
Denkhaus/D.
Kühlers, Die Verwaltung
81 S. auch K. König, „Rule of L a w " und Gouvernanz in der entwicklungs- und transformationspolitischen Zusammenarbeit, in: D. Murswiek (Hrsg.), Staat - Souveränität - Verfassung, Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 125 ff. 82 Hoffmann-Riem, 39 FS Bartlsperger
in: Schmidt-Aßmann/ders. (Anm. 8), S. 9 (25).
Rolf Stober
610
chen Elementen, die eine ganzheitliche, systemorientierte, leistungsfähige Steuerung öffentlicher Angelegenheiten unter dem Motto „Reinventing Government" 83 beabsichtigen. Durch die Bezugnahme auf den Staat unterscheidet er sich von der aus dem Wirtschaftsprivatrecht stammenden Bezeichnung Corporate Governance , die für anerkannte Standards guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung und Unternehmenskontrolle steht. 8 4 Dieses Regelungsprogramm ist allerdings insoweit verwaltungsrelevant, als es auf die Führung öffentlicher Unternehmen als Public Corporate Governance übertragen werden kann. 8 5 Der gebräuchliche Ausdruck Electronic Government 86 wiederum erfasst lediglich den Ausschnitt der Good Governance der öffentlichen Verwaltung, der sich auf elektronische Medien und die damit zusammenhängende Leistungserstellung bezieht. Entstehungsgeschichtlich geht der Governance Begriff auf eine Studie bank zurück, die Förderbedingungen für Entwicklungsländer festlegte. 87 Kontext beschrieb die Weltbank Governance sehr vage als „the exercise cal power to manage an nation affairs". Inhaltlich konzentrierten sich die rungen auf folgende Problembereiche: 88
der WeltIn diesem of politiAnforde-
- Binnenrationalisierung der öffentlichen Verwaltung durch New Public Management (Organisations-, Prozess- und Personalmanagement) - Dezentralisierung - Privatisierung
öffentlicher
öffentlicher
Aufgaben
Aufgaben und Public Private Partnership
-
Verbesserung der Verwaltungseffizienz
-
Verbesserung der Verwaltungstransparenz
- Rechtstaatlichkeit
der Verwaltung.
Inzwischen hat der Ausdruck Governance Karriere gemacht und Konturen erhalten. Er wird i m Gegensatz zu Government nicht nur auf Regierungen bezogen. Vielmehr erstreckt sich sein Anwendungsbereich durchgängig auf alle Führungsebenen und sämtliche Verwaltungsträger. Deshalb ist auch von Global Governance ,89 European Governance, 90 Local oder Urban Governance die Rede. 83
D. Osborne /T. Gaebler, Reinventing Government, Reading/Mass. 1992.
84
J. Mathes, Das deutsche Corporate Governance System, Köln 2000.
8 5 Kritisch K. König, D Ö V 2001, 617 (619); s. näher Η. Ρ Schwintowski, 607 ff. 8
6 S. auch Bullerdiek/ Greve /Puschmann
N V w Z 2001,
(Anm. 54); Schliesky, L K V 2005, 89 ff.
8
? S. dazu Ch. Theobald, Zur Ökonomik des Staates, 2000, S. 149 ff.; König (Anm. 81), S. 125 ff.; J. Chevallier, Revue francaise, d'administration publique Nr. 105, 203 ff. 88
World Bank (Hrsg.), Sub Saharan Africa, Washington D. C. 1989.
89
Ch. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, Berlin 2001, S. 164 ff.; K. König, u. a. Governance als entwicklungs- und transformationspolitisches Konzept, Berlin 2002; ders.; VerwArch 92 (2001), 475 ff.; M. Rujfert, Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, Stuttgart 2004. 9
° S. Weißbuch Europäisches Regieren, A B l . 2001 Nr. C 287, K O M (2001) endg.
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht
Diese Auflistung ist u. a. um die Erscheinungsform Functional funktionale Selbstverwaltung zu ergänzen.
611
Governance für die
In diesem Zusammenhang definiert die OECD den Begriff Global Governance folgendermaßen: „Global governance can be loosely defined as the process by which we collectivly manage and govern resources, issues, conflicts and values in a world that is increasingly a „global neighbourhood". 91 Dieser Ansatz steht für den Ausbau an zwischenstaatlicher Kooperation und schließt das konstruktive Zusammenwirken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure in dynamischen Prozessen interaktiver Entscheidungsfindung von der lokalen bis zur globalen Ebene • 92
ein. Das von der EU-Kommission im Weißbuch „Europäisches Regieren " niedergelegte Governance-Konzept 93 definiert Governance als Regeln, Verfahren und Verhaltensweisen, die die Art und Weise, wie auf europäischer Ebene Befugnisse ausgeübt werden, kennzeichnen, und zwar insbesondere in Bezug auf Offenheit , Partizipation, Verantwortlichkeit, Wirksamkeit und Kohärenz. I m einzelnen geht es darum, wie die Arbeitsweise der EU-Institutionen in ihren Beziehungen zu den Mitgliedstaaten und deren Bürgern im Sinne von mehr Bürgernähe, Transparenz und verstärkter Konsultation der „Zivilgesellschaft' 4 verbessert werden kann. Das soll durch eine bessere Einbindung der Akteure, eine bessere Politik, bessere Regeln sowie eine Neuausrichtung der Politikfelder und der Institutionen geschehen. 9 4
6. Werteorientiertes Verwaltungsrecht Bereits die Diskussion der Good Governance Konzepte hat gezeigt, dass sich die Verwaltung bei ihrem Handeln an bestimmten Grundwerten orientieren muss. Die Eckpunkte dieses Wertesystems wurden bei der Suche nach den Rechtsfindungskriterien unter dem Stichwort dienende Verwaltung skizziert. Die dem Verwaltungsrecht zugrunde liegende Werteordnung folgt aus verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen und Rechtsgrundsätzen. 95 Sie kommen in Verfassungsprinzipien, Staatsaufgaben sowie Verfassungsaufträgen (Gewährleistungsverwaltung, Regulierungsverwaltung, Gleichstellungsverwaltung) zum Ausdruck und verdichten sich zu Verwaltungsprinzipien, -aufgaben und -aufträgen. Sie bestimmen, for91
OECD, Globalisation: What Challenges and Opportunities for Governments?, Paris
1996. 92 Zwischenbericht Enquete-Kommission, 14/6910, S. 105 f., 108.
Globalisierung
der Weltwirtschaft,
BT-Ds
A B l . 2001, Nr. C 287, K O M (2001) 428 endg. 94
S. auch R. Hayder, Z G 2002, 49 ff.; S. Magiern/ Κ Ρ Sommermann (Hrsg.), Verwaltung und Governance im Mehrebenensystem der EU, Berlin 2002. 9 5 S. auch M. Puffert , Die Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft in anderen Ländern der Europäischen Union, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Anm. 8), S. 166 (195 f.).
3
612
Rolf Stober
men und begrenzen das Verwaltungsrecht. 96 Diese Wertentscheidungen liefern Abwägungsmaterial für einen Interessenausgleich, gestatten eine Optimierung des Verwaltungsrechts 97 und ermöglichen ein permanentes Verwaltungsbenchmarking. I m einzelnen hat dieser wertbezogene Verwaltungsansatz u. a. folgende Prinzipien zu verwirklichen (Art. 1 ff., 20, 20 a, 28, 109, 114 GG): -
Rechtsstaatsprinzip
-
Sozialstaatsprinzip
-
Bundesstaatsprinzip
-
Demokratieprinzip
-
Umweltprinzip 9 8
-
Kulturprinzip 9 9
-
Wirtschaftlichkeitsprinzip 1 0 0
-
Grundrechtsprinzip.
Darüber hinaus hat das Verwaltungsrecht die Werteordnung Union zu beachten und zu optimieren
101
der Europäischen
(Art. 23 GG). Sie stimmt weitgehend mit
der des deutschen Verwaltungsrechts überein (Art. 6 I E U V ) und wird ausdrücklich als solche gekennzeichnet.
7. Supranationales, transnationales, internationales und komparatives Verwaltungsrecht a) Verwaltungsrecht
im offenen
Verwaltungsstaat
Zwar ist der Ausgangspunkt jeder verwaltungsrechtlichen Betrachtung das souveräne Recht jedes Staates, über sein Verwaltungsrechtssystem und über die verwaltungsrechtliche Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu entscheiden. Diese rechtliche Möglichkeit schwindet jedoch in dem Maße, in dem die Bilateralisierung, Regionalisierung und Globalisierung der Rechtsbeziehungen, das praktische Bedürfnis nach Kooperation unter Sachaufgabengesichtspunkten wächst und die 96 Scholz. (Anm. 18), S. 1004; R. Wahl, Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem u. a (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 177 ff. 97 S. näher R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a. Μ . 1986, S. 76, Park (Anm. 6) S. 230, 242 ff., 296 ff." 98 C. Böhret/H. den-Baden 1994. 99
U. Steiner/D.
Hill
(Hrsg.), Ökologisierung des Rechts- und Verwaltungssystems, Ba-
Grimm, V V D S t R L 42 (1984), 7 ff.; M. Nettesheim, JZ 2002, 157 ff.
100 Schmidt (Anm. 41), S. 71 (86). 101
A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, BadenBaden 1998, S. 176.
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht
613
Verwaltungsbürger zwischen unterschiedlich strukturierten Verwaltungsrechtsregimen wählen können. Je mehr das klassisch staatlich territorial gebundene Verwaltungsrecht entnationalisiert w i r d , 1 0 2 umso weniger kann es sich einer Öffnung seiner Verwaltungsrechtsordnung entziehen. Der offene Verwaltungsstaat 103 hat sich vor dem Hintergrund der in Art. 23 GG festgeschriebenen Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Entwicklung der Europäischen Union vornehmlich der Schaffung einer Verwaltungsrechtsgemeinschaft in einem einheitlichen europäischen Verwaltungs räum zu stellen. Die Verwaltungsrechtsintegration, -kooperation und -Vernetzung im Mehrebenensystem der E U 1 0 4 bewirkt nicht nur einen Funktionswandel mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts. 105 Sie ist zugleich eine neue Stufe verwaltungsrechtlicher Systembildung, Rechtsangleichung und Standardisierung 106 im Rahmen der Etablierung einer Europäischen 107 Verwaltungsrechtswissenschaft und unionisierten Verwaltungsrechtsordnung. 108 Die Übertragung verwaltungsrechtlicher Befugnisse auf zwischenstaatliche Einrichtungen, die Anerkennung fremder Verwaltungsrechtsakte, die im Interesse der Bürger notwendige Verwaltungszusammenarbeit in Grenzregionen (Coopération transfrontalière) sowie die Notwendigkeit, verwaltungsrechtliche Kollisionslagen W 9 möglichst zu vermeiden zwingen die Verwaltungsrechtswissenschaft, sich intensiv mit dem Phänomen des supernationalen, transnationalen und des internationalen Verwaltungsrechts (droit international public, international administrative law) auseinandersetzen. 110 Dabei ist supranationales Verwaltungsrecht aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive deckungsgleich mit den Erscheinungsformen des Verwaltungsrechts der Europäischen Union. Transnationales Verwaltungsrecht ist nationales Verwaltungsrecht, das in anderen Staaten und deren Ver'02 S. näher Stober (Anm. 11) § 22 V I I , § 16; Η. Siekmann, Staat und Staatlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 340 ff.; A. Flessner, JZ 1996, 689 ff.; Tietje (Anm. 13), 1084, 1091. 103 S. zu diesem Konzept auch U. di Fabio, Das Recht offener Staaten, Tübingen 1998; ders., Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen 2001 ; St. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin 1998, 137 ff.; Tietje (Anm. 13), 1081 ff.
'04 S. auch M. Ruffert,
Die Verwaltung 36 (2003), 293 (309 ff.).
'05 J. Kokott, V V D S t R L 63 (2003), 9 (23); Magiera/Sommermann lofi S. auch A. Voßkuhle, VerwArch 92 (2001), 184 ff.; Ruffert,
(Anm. 94). (Anm. 95), 165 ff.
107 H. Coing, in: K. J. Hopt (Hrsg.), Europäische Integration als Herausforderung des Rechts, 1991, S. 17(24).
'08 S. auch M. Zuleeg, V V D S t R L 53 (1994), S. 154 (169 ff.); F. Schoch, JZ 1995, 109 ff.; Schwarze (Hrsg.), Das Verwaltungsrecht unter europäischen Einfluss, 1996; Ch. Starck, JZ 1997, 1021 (1025 f.); G. C. Rodriguez Iglesias, NJW 1999, 1 ff.; R. Schmidt, VerwArch 91 (2000), 149, 161 ff.; P. M. Huber, V V D S t R L 60 (2001), 194 (230); P. Häberle, D Ö V 2003, 429 (442). 109 S. näher St. Kadelbach, Tübingen 1999.
Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss,
"o Voßkuhle (Anm. 4), 177 ff.
614
Rolf Stober
waltungsrechtsordnungen etwa aufgrund der Geltung des Ursprungslandsprinzips einwirkt. 1 1 1 Das in der Entwicklung befindliche Internationale Verwaltungsrecht 112 ist das Gegenstück zum Internationalen Privatrecht. Es regelt die Rechtsbeziehungen zwischen dem nationalen und dem ausländischen Verwaltungsrecht und befasst sich mit den Globalisierungserscheinungen des Verwaltungsrechts. 113 I m Kern handelt es sich um rechtskreisübergreifende geltende öffentlich-rechtliche Rechtsprinzipien, Konfliktvermeidungsregeln oder um Kollisionsnormen (conflict of law), die den Anwendungsbereich nationaler verwaltungsrechtlicher Normen aufgrund internationaler Vereinbarungen zur Erleichterung des Verwaltungsrechtsverkehrs beschränken und vielfältige Formen der Verwaltungskooperation einschließen. Deshalb lässt sich das Internationale Verwaltungsrecht definieren als die Summe der öffentlich-rechtlichen Normen, die Sachverhalte mit verwaltungsrechtlichem Auslandsbezug regeln und Bestimmungen darüber enthalten, welches Recht in internationalen, d. h. auslandsbezogenen Fällen anwendbar ist. Internationales soft law und Global-Governance-Regeln besitzen wegen ihres Empfehlungscharakters nicht den Rang von internationalem Verwaltungsrecht.
b) Die Rolle der Verwaltungsrechtsv
ergleichung
Das Verwaltungsrecht hat folglich grenznachbarliche, interkommunale und interregionale, übernationale, zwischenstaatliche sowie ausländische Bezüge (droit administratif administrative law; derecho administrativo, administratief recht usw.) zu berücksichtigen und muss im Interesse der Fortschreibung und des Systemwettbewerbs der einzelnen konkurrierenden Verwaltungsrechtsordnungen rechtsvergleichende Aspekte einschließen. 114 Das ist kein Novum für die Verwaltungsrechtswissenschaft. Immerhin griffen bereits etwa Friedrich Franz von Mayer 115 und Otto Mayer 116 auf innerdeutsche bzw. französische Vorbilder 1 1 7 zur ü c k . 1 1 8 Aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive verpflichten etwa Art. 6 E U V 111
S. etwa J. Becken D V B l . 2001, 855 f.; M. Rujfert,
Die Verwaltung 34 (2001), 453 ff.
112
Tietje (Anm. 89); C. E. Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, Frankfurt a. ML, 2001, 23 ff. "3 S. dazu Rujfert (Anm. 89). '•4 S. auch P. Häberle, JZ 1989, 913 (916); E. Schmidt-Aßmann, Zur Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: P. Badura u. a. (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 513 (519). 115
Grundzüge des Verwaltungsrechts und -rechtsverfahrens, Tübingen 1857.
116
Deutsches Verwaltungsrecht I, Leipzig 1895.
117
S. dazu O. Mayer, Theorie des französischen Verwaltungsrechts, Straßburg 1886, Nachdruck Goldbach, 1998. 118 S. auch E. V. Heyen, Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 8 (1996), 163 ff.; Starck (Anm. 108), 1021 ff.; M. Stolleis, Nationalität und Internationalität, Stuttgart 1998; M. Bullinger, Zwecke und Methoden der Rechtsvergleichung i m Zivilrecht und i m Verwaltungs-
Methodische Anforderungen an ein modernes Verwaltungsrecht
615
und Art. 94 EG V zur Verwaltungsrechtsvergleichung, die um so mehr an Bedeutung gewinnt, je intensiver die Integration voranschreitet. Das komparative Verwaltungsrecht (Comparative Law, Droit Comparé) fungiert sozusagen als eine „école de vérité", die den Vorrat an verwaltungsrechtlichen Lösungspotentialen bereichert. 1 1 9 Seine zentrale Aufgabe ist es, die jeweiligen Regelungen, Bedürfnisse und Rechtsprobleme zu ermitteln und die Gemeinsamkeiten sowie Verschiedenheiten der Rechtskreise, Rechtssysteme, Verwaltungskulturen und Verwaltungstraditionen angemessen zu würdigen. 1 2 0 Ziel der Verwaltungsrechtsvergleichung ist es unter anderem, das im Inland anwendbare ausländische Verwaltungsrecht bereitzustellen (Bereitstellungsfunktion ), von anderen Verwaltungsrechtskulturen zu lernen, um das eigene Verwaltungsrecht besser zu verstehen und durch die Übernahme bewährter und verallgemeinerungsfähiger Institute und Rechtsgedanken zu optimieren (Optimierungsfunktion).' 21 Langfristig muss der Verwaltungsrechtsvergleich darauf gerichtet sein, möglichst viele unionsweit und global akzeptierte Verwaltungsrechtsprinzipien im Sinne eines jus commune zu entwickeln, um den supra- und internationalen Verwaltungsrechtsverkehr zu erleichtern (Vereinheitlichungsfunktion ).122 Die auf gegenseitige Befruchtung angelegte Rechtsvergleichung ist insofern defizitär, da sie häufig etwa im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit nach Art. 177 ff. E G V 1 2 3 der Transformationshilfe bzw. der Verwaltungsförderung hauptsächlich aus einem einseitigen Verwaltungsrechtsexport (z. B. nach Mittelund Osteuropa sowie nach A s i e n , 1 2 4 oder aus einem einseitigen Verwaltungsrechtsimport (z. B. Begriff der Regulierung und Deregulierung, verwaltungsverfahrensund umweltrechtliche Institute aus den USA) besteht. 1 2 5 Diese rechtsvergleichende recht, in: I. Schwenzer/G. Hager (Hrsg.), Festschrift für Peter Schlechtriem zum 70. Geburtstag, Tübingen 2003, S. 331 (337 f.). ι · 9 K. Ρ Sommermann, D Ö V 1999, 1017 (1020 f.). 120
R. Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, Baden-Baden 2001, 25 ff.
121
J. Schwarza, Europäisches Verwaltungsrecht, Baden-Baden 1988, S. 74 ff.; A. Junker, JZ 1994, 921 ff.; B. Großfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, Tübingen 1996, S. 1; Κ Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl., Tübingen 1996, S. 12 ff.; H. Krüger, Eigenart, Methode und Funktion der Rechtsvergleichung im Öffentlichen Recht, in: B. Ziemske u. a. (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 1393 (1403 ff.); Starck, (Anm. 108), 1023 ff.; G. Trantas, Die Anwendung der Rechtsvergleichung bei der Untersuchung des öffentlichen Rechts, Dresden 1998; H. Rosier, JuS 1999, 1084 ff.; Sacco (Anm. 120); R. Grote, AöR 126 (2001), 10 ff.; Schmidt-Aßmann, in: ders. / Hoffmann-Riem (Anm. 48), S. 387 (404); Bullinger (Anm. 118), S. 331 f. < 22 S. auch Starck (Anm. 108), 1025 f.; H. Kötz, JZ 2002, 257 ff. i 2 3 S. dazu R. Pitschas, VerwArch 81 (1990), 465 ff. ' 2 4 S. etwa /. y. Münch, NJW 1994, 3145 ff.; A. Ishikawa, Stober, D Ö V 2002, 547 ff.
AöR 118 (1993), 473 ff.; R.
•25 H. D. Jarass, D Ö V 1985, 377 ff.; s. aber auch R. Pitschas (Hrsg.), Entwicklungen des Staats- und Verwaltungsrechts in Südkorea und Deutschland, 1998; H. Jung, JuS 1998, 1 (3 f.) die vor einer „Verwestlichung der Welt" warnt.
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Rolf Stober
Einbahnstraße ist bedauerlich, weil das deutsche und europäische Verwaltungsrecht durchaus etwa von den Erfahrungen Mittel- und Osteuropas lernen und von asiatischen Konfliktlösungsmechanismen profitieren könnte. Völlig defizitär ist die Auseinandersetzung mit dem islamischen Verwaltungsrecht, das in der sharia nur rudimentär ausgebildet ist, aber umfassende Geltung beansprucht. 126
'26 S. näher T. Nagel, Das islamische Recht, Westhofen 2001, S. 73 ff. (127 ff., 282).
Schriftenverzeichnis Richard Bartlsperger (Stand Januar 2006)
1. Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, Diss. Erlangen 1964, 141 S. 2. Die Bauleitplanung als Reservat des Verwaltungsstaates, D V B l . 1967, 360 ff. 3. Zur Konkretisierung verfassungsrechtlicher
Strukturprinzipien, VerwArch 58 (1967),
249 ff. 4. Anmerkung zum Urteil des BVerwG vom 28. 4. 1967 ( I V C 163.65), D V B l . 1968, 221 ff. 5. Die Folgen von Staatsunrecht als Gegenstand der Gesetzgebung, NJW 1968, 1967 ff. 6. Das Dilemma des baulichen Nachbarrechts, VerwArch 60 (1969), 35 ff. 7. Anmerkung zum Urteil des BVerwG vom 21. 10. 1998 (IV C 13.68), D V B l . 1969, 265 ff. 8. Liquidation von Privatrechten an öffentlichen Straßen, Straße - Brücke - Tunnel 1969, 158 ff. 9. Kommentierung des Art. 90 Grundgesetz, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Zweitbearbeitung 1969 10. Die Bundesfernstraßen als Verwaltungsleistung, Heft 7 der Schriftenreihe der Arbeitsgruppe „Straßenverwaltung" der Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen, Bonn Bad Godesberg 1969, 32 S. 11. Buchbesprechung: Beenken Reinhard, Zur Überprüfbarkeit der Bauleitpläne nach dem Bundesbaugesetz, 1967, Die Verwaltung 3 (1970), 242 ff. 12. Der Rechtsanspruch auf Beachtung von Vorschriften des Verwaltungsverfahrensrechts, D V B l . 1970, 30 ff. 13. Bericht über die Jahrestagung 1969 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, AöR 95 (1970), 126 ff. 14. Verkehrssicherungspflicht und öffentliche Sache, Hamburg 1970, 219 S. (Habilitationsschrift) 15. Subjektives öffentliches Recht und störungspräventative Baunachbarklage, D V B l . 1971, 723 ff. 16. Anmerkung zum Urteil des B G H vom 15. 1. 1971 (V ZR 110/68), D V B l . 1971, 745 f. 17. Rechtsansprüche und Haftung bei der öffentlichen D V B l . 1973,465 ff.
Straßenverkehrssicherungspflicht,
618
Schriftenverzeichnis Richard Bartlsperger
18. Zum Stand der Verwaltungslehre an den juristischen Fakultäten, Fachbereichen und Abteilungen, D Ö V 1973, 743 ff. 19. Bauerschließungsrecht und kirchliche Friedhöfe, Blätter für Grundstücks-, Bau- und Wohnungsrechts 22 (1973), 121 ff. und 141 ff. 20. Bartlsperger/Boldt/Umbach, Der moderne Staat, M a n n h e i m / W i e n / Z ü r i c h 1974, 748 S. 21. Organisierte
Einwirkungen auf die Verwaltung -
Zur Lage der zweiten
Gewalt,
V V D S t R L 33 (1975), 221 ff. 22. Die WerbenutzungsVerträge der Gemeinden, Stuttgart 1975, 154 S. 23. Die Aufwendungsansprüche der Wasserstraßen Verwaltung bei Schiffs- und Ankerbergungen, Zeitschrift für Binnenschiffahrt und Wasserstraßen 102 (1975), 439 ff. 24. Einmaleins der Demokratie i m sozialen Verwaltungsstaat (Ein ZDF-Fernsehbegleitbuch), 1977 25. Bartlsperger-Boldt-Umbach, der moderne Staat, M a n n h e i m / W i e n / Z ü r i c h , 2. Aufl. 1979 26. Straßenrecht zwischen Bewahrung und Technizität, D V B l . 1979, 1 ff. 27. Straßenhoheit und Energiewirtschaft, D V B l . 1980, 249 ff. 28. Bartlsperger/Blümel/Schroeter (Hrsg.), Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, Hamburg 1980 29. Das Sachenrechtsverhältnis der öffentlichen Straßen, in: Bartlsperger/Blümel/Schroeter, Ein Vierteljahrhundert Straßenrechtsgesetzgebung, Hamburg 1980, S. 23 ff. 30. Die Straße i m Recht des Umweltschutzes, Hamburg 1980, zugleich in: Dokumentation der Gesellschaft für Umweltrecht zu der wissenschaftlichen Fachtagung
1979/80,
S. 28 ff. 31. Streit/ Umbach/ Bartlsperger, Die Wirtschaft heute, M a n n h e i m / W i e n / Z ü r i c h , 2. Aufl. 1980. 32. Denkmalschutz zwischen staatlicher Fachverwaltung und städtebaulicher Planifizierung, D V B l . 1981, 284 ff. 33. Straßenverkehrssicherungspflicht und Staatshaftung, D Ö V 1982, 469 ff. 34. Raumordnung und Landesplanung in ihrer rechtlichen Bedeutung, Die Fortbildung 1982, S. 119 ff. 35. Hoheitliche Sachherrschaft in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und bei der Telegraphenpflichtigkeit
von Verkehrswegen, in:
Zeidler/Maunz/Roellecke
(Hrsg.), Festschrift Hans Joachim Faller, München 1984, S. 81 ff. 36. Verwirklichung der gemeinschaftsrechtlichen Umweltverträglichkeitsprüfung
i m Rau-
mordnungsverfahren, in: Akademie für Raumordnung und Landesplanung, Arbeitsmaterial Nr. 122, Hannover 1986, S. 17 ff. 37. Leitlinien zur Regelung der gemeinschaftsrechtlichen
Umweltverträglichkeitsprüfung
unter Berücksichtigung der Straßenplanung, in: Speyerer Forschungsbericht 1987, Heft Nr. 55, S. 43 - 82 = D V B l . 1987, 1 ff. 38. Bartlsperger/Ehlers/Hoffmann/Pirson (Hrsg.), Rechtsstaat - Kirche - Sinnverantwortung, Festschrift für Klaus Obermayer, München 1986
Schriftenverzeichnis Richard Bartlsperger 39. Das Grundrecht auf Naturgenuß in naturschutzrechtlichen Bezügen, in: Bartlsperger/Ehlers / Hofmann / Pirson, Rechtsstaat - Kirche - Sinnverantwortung, Festschrift für Klaus Obermayer, München 1986, S. 1 ff. 40. Verwirklichung der gemeinschaftsrechtlichen Umweltverträglichkeitsprüfung i m Raumordnungsverfahren, in: Umweltverträglichkeitsprüfung i m Raumordnungsverfahren nach Europäischem Gemeinschaftsrecht, Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover 1986, S. 87 ff. 41. Artikel „Straßen- und Wegerecht", in: Handwörterbuch des Umweltrechts, Band 2, Berlin - Bielefeld - München 1987 42. Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. IV, Heidelberg 1990, 2. Aufl. 1999, § 96 43. Die Rechslage Deutschlands, Erlanger Forschungen, Reihe A , Band 53, 1990 44. Verfassung und verfassungsgebende Gewalt im vereinten Deutschland, DVB1. 1990, 1285 ff. 45. Der Umweltschutz bei der räumlichen Planung in der Bundesrepublik Deutschland, Comparative Law Review Vol. 3, 1992 46. Einstellung des Strafverfahrens von Verfassungs wegen - Z u m Strafverfahren Erich Honecker, DVB1. 93, 333 ff. 47. Artikel „Straßen- und Wegerecht", in: Handwörterbuch des Umweltrechts, 2. Aufl., Berlin 1993 48. Das Gefahrenrecht öffentlicher Straßen, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 659, Berlin 1994, 205 S. 49. Der Rückfall stationierungsrechtlich genutzten früheren Reichsvermögens, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 665, Berlin 1994, 257 S. 50. Unterirdische Erneuerungen von Rohrleitungen der öffentlichen Versorgung und Entsorgung, Erich Schmitt Verlag, Berlin 1994, 189 S. 51. Die Entwicklung des Abfallrechts in den Grundfragen von Abfällbegriff und Abfallregime, VerwArch 86 (1995), 32 ff. 52. Das Abwägungsgebot in der Verwaltung als objektives und individualrechtliches Erfordernis
konkreter
Verhältnismäßigkeit,
in:
Erbguth / Oebbecke / Rengeling / Schulte
(Hrsg.), Abwägung i m Recht, Köln-Berlin-Bonn-München 1996, S. 79 ff. 53. Planungsrechtliche Optimierungsgebote, DVB1. 1996, 1 ff. 54. Werbung und „Straßenkommunikation" in der Mehrzwecknutzung öffentlicher Straßen, in: Blümel (Hrsg.), Die Straße als Mehrzweckinstitut, Speyerer Forschungsberichte 170, Speyer 1997, S. 45 ff. 55. Die rechtlichen Instrumentarien und Inhalte der Landesplanung als Faktoren des Wirtschaftsstandortes Bayern, in: Sicherung des Wirtschaftsstandortes Bayern durch Landesentwicklung, Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Arbeitsmaterial Nr. 237, Hannover 1997, S. 1 ff.
620
Schriftenverzeichnis Richard Bartlsperger
56. Verantwortung der Baulastträger für die Griffigkeit bei Nässe und andere Oberflächeneigenschaften der Straßen, Straße + Autobahn, Zeitschrift für Forschung und Praxis des Straßenwesens, 11 /1998, 604 ff. 57. Das Ende von Sondererhaltungslasten i m Eisenbahnkreuzungsrecht, in: Grupp/Ronellenfitsch (Hrsg.), Planung - Recht - Rechtsschutz, Festschrift W i l l i Blümel, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 772, Berlin 1999, S. 13 ff. 58. Die deliktsrechtliche Gefahrenverantwortung, in: Isensee/Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, Festschrift Walter Leisner, Berlin 1999, S. 1003 ff. 59. Ökologische Gewichtungs- und Vorrangregelungen, in: Erbguth/Oebbecke/Rengeling/ Schulte (Hrsg.), Planung - Festschrift Werner Hoppe, München 2000, S. 127 ff. 60. Aufgabe der Landesplanung und Leitvorstellung einer nachhaltigen Raumentwicklung, in: Zur Novellierung des Landesplanungsrechts aus Anlaß des Raumordnungsgesetzes 1998, Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Arbeitsmaterial Nr. 266, Hannover 2000, S. 1 ff. - Gegenstromprinzip, a. a. O., S. 29 ff. - Ziele und Grundsätze der Raumordnung in Raumordnungsplänen, a. a. Ο., S. 39 ff. - Die Landesplanungskompetenz des Staates bei der Regionalplanung, a. a. Ο., S. 80 ff. - Raumordnungsgebiete mit besonderer Funktion (Vorrang-, Vorbehalts- und Eignungsgebiete), a. a. O., S. 119 ff. - Zielabweichungsverfahren, a. a. O., S. 217 ff. - Anpassung und Gewährleistung der gemeindlichen Bauleitplanung, a. a. O., S. 239 ff. 61. Bartlsperger (Hrsg.), Der Experte bei der Beurteilung von Gefahren und Risiken, Schriften zur Rechtstheorie, Band 199, Berlin 2001, Resümee, S. 117 ff. 62. Kulturlandschaft als Rechtsbegriff, in: de Wall /Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung, Festschrift Christoph Link, Tübingen 2003, S. 1029 ff. 63. Raumplanung zum Außenbereich, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 923, Berlin 2003, 270 S. 64. Die öffentlichrechtliche Eigentumseinschränkung im situationsbedingten Gemeinschaftsinteresse, D V B l . 2003, 1473 ff. 65. Der großräumige Eigentumsbegriff als Problem des grundrechtlichen Eingriffspotentials, in: Krause / Veelken / Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa, Gedächtnisschrift Wolfgang Blomeyer, Berlin 2004, S. 705 ff. 66. Die rechtsgeschäftliche Vertretung des Bundes bei der Bundesauftragsverwaltung, in: Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, Schriftenreihe Heft 15, 2005, S. 53 ff.
Straßenrecht
Autorenverzeichnis Badura, Peter, Prof. Dr. jur., em. o. Universitätsprofessor, Juristische Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München. Blümel,
Willi, Prof. Dr. jur., em. Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwal-
tungswissenschaften Speyer (seit 1974). Habilitation Universität Heidelberg 1967; o. Professor an der Freien Universität Berlin ( 1 9 6 9 - 1970), o. Professor an der Universität Bielefeld (1970-1974). Boldt, Hans, Prof. Dr. jur., em. Universitätsprofessor, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1992/1993 Gründungsbeauftragter der Juristischen Fakultät der Universität Düsseldorf. Habilitation: Politische Wissenschaft und Staatsrecht (1971). Breuer, Rüdiger, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor an der Universität Bonn (seit 1994), Mitglied des Verfassungsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen, Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Bielefeld ( 1 9 7 6 - 1 9 7 9 ) , o. Professor an der Universität Trier ( 1 9 7 9 - 1 9 9 4 ) De Wall, Heinrich,
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staats-
und Verwaltungsrecht, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (seit 2002) Ehlers,
Dirk,
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Westfälische
Wilhelms-Universität
Münster Erbguth,
Wilfried,
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für öffentliches Recht,
insbesondere Verwaltungsrecht, Universität Rostock (seit 1992); Geschf. Direktor des Ostseeinstituts
für
Seerecht, Umweltrecht
und Infrastrukturrecht;
Professor
an der
Universität Bochum (1989-1992). Fickert,
Hans Carl, Prof. Dr. jur., Honorarprofessor, Ltd. Ministerialrat a. D., Lehrauftrag:
Bau- und Planungsrecht an der T H Aachen (1981 - 1993); Vorsitzender einer Umlegungsbehörde (1992-1998). Geis, Max-Emanuel,
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht,
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (seit 2002), Professor an der Universität Augsburg ( 1 9 9 4 - 1995), o. Professor an der Universität Konstanz ( 1 9 9 5 - 2 0 0 2 ) . Goppel,
Konrad,
Prof. Dr. jur., Honorarprofessor,
Ltd. Ministerialdirigent,
Bayerisches
Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur und Verkehr. Grzeszick, Bernd, Prof. Dr. jur., L L . M . (Cantab.), ο. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches
Recht,
Völkerrecht
und
Rechtsphilosophie;
Direktor
des
Instituts
Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre, Friedrich-Alexander-Universität
für
Erlan-
gen-Nürnberg (seit 2004), Professor an der Universität Münster (2003). Hillgruber,
Christian, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für öffentliches Recht,
Universität Bonn (seit 2002), Habilitation an der Universität zu Köln; Professor an der Universität Heidelberg ( 1 9 9 7 - 1 9 9 8 ) ; o. Professor Universität Erlangen-Nürnberg ( 1 9 9 8 -
2002).
622
Autorenverzeichnis
Höhnberg,
Ulrich,
Dr. jur.,
Ltd.
Ministerialrat
a.
D.,
nach
Verwaltungsdienst
verschiedenen staatlichen Ebenen von 1977 bis 2002 Referatsleiter
auf
im Bayerischen
Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen. Hoppe. Werner,
Prof. Dr. jur., em. o. Universitätsprofessor, Rechtsanwalt und Off Counsel in
der überörtlichen Sozietät der Rechtsanwälte Gleiss Lutz, Berlin, Stuttgart pp. Jestaedt, Matthias,
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht,
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (seit 2002). Knemeyer, Franz-Ludwig,
Prof. Dr. jur., em. o. Universitätsprofessor für öffentliches Recht,
Universität Würzburg, Vorstand des Kommunalwissenschaftliches
Forschungszentrums
Würzburg. Koch, Hans-Joachim,
Prof. Dr. jur., Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg;
Richter am HansOVG Hamburg (1981 - 1997); Vorsitzender des Sachverständigenrates für Umweltfragen (2002). Kohl, Jürgen, Dr. jur., Vorsitzender Richter am V G Karlsruhe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Hans Faller (1980 — 1989). Lecheler, Helmut, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Freie Universität Berlin. Link,
Christoph,
Professor Dr. jur., Dres. h.c.; em. o. Universitätsprofessor für Staats-,
Verwaltungs- und Kirchenrecht, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (seit 1986); o. Professor Universität Wien ( 1 9 7 1 - 1 9 7 7 ) ; o. Professor Universität Salzburg ( 1 9 7 7 - 1 9 7 9 ) ; o. Professor Univ. Göttingen ( 1 9 7 9 - 1 9 8 6 ) ; Honorarprofessor Universität Salzburg; ord. Mitglied der Akademie der Wissenschaften Göttingen. Manssen, Gerrit, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Universität Regensburg (seit 1997), o. Professor an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald ( 1 9 9 4 - 1997). Regenfus,
Thomas,
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Recht und Technik,
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Rinke, Siegfried, Ministerialrat, Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Leiter des Referates Straßenbaurecht, Straßenverwaltung, Rastanlagen, Ausbildung (seit 1996), stv. Referatsleiter i m Referat Verkehrsabgaben, Wegekosten (1991 - 1996), Referent im Referat Europarecht ( 1 9 8 5 - 1 9 9 1 ) , Dezernat für Privatrecht, Wasser- und Schifffahrtsdirektion West, Münster ( 1 9 8 3 - 1 9 8 5 ) . Ronellenfitsch,
Michael,
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Eberhard-Karls-Universität
Tübingen, Hessischer Datenschutzbeauftragter Schachtschneider,
Karl Albrecht,
Prof. Dr. jur., em. o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für
öffentliches Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Zweitmitglied der Juristischen Fakultät, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ( 1 9 8 9 - 2 0 0 5 ) . Rechtsanwalt in Berlin ( 1 9 6 9 - 1 9 8 0 ) , Professor für Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin ( 1 9 7 2 - 1978), Universitätsprofessor für Wirtschaftsrecht an der Universität Hamburg ( 1 9 7 8 - 1 9 8 9 ) . Schenke, Wolf-Rüdiger,
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches
Recht, Universität Mannheim, Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Strafprozessrecht und Polizeirecht.
Autorenverzeichnis Schmidt-Preuß, Recht,
Matthias,
Rheinische
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Institut für Öffentliches
Friedrich-Wilhelms-Universität
Vorstands des Instituts für
Energierecht
Bonn
(seit
2002),
Mitglied
Berlin e.V.; Inhaber eines Lehrstuhls
Öffentliches Recht an der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg
des für
(1993-
2002); zuvor Kartell- und Kabinettsreferent im Bundesministerium für Wirtschaft. Spannowsky, Willy, Universität
Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht,
Kaiserslautern
(seit
1995), Richter
am Oberlandesgericht
Zweibrücken.
Professor an der Universität Heidelberg ( 1 9 9 4 - 1995). Steiner,
Udo,
Prof.
Dr. jur.,
Richter
des Bundesverfassungsgerichts
(seit
1995),
o.
Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Deutsches und Bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht sowie Verwaltungslehre, Universität Regensburg (seit 1979); o. Professor an der Universität Bielefeld ( 1 9 7 3 - 1 9 7 9 ) . Stoher, Rolf, Prof. Dr. jur. Dr. h.c. mult., o. Universitätsprofessor, Geschf. Direktor des Instituts für Recht der Wirtschaft, Universität Hamburg (seit 1996). Professor an der Universität Münster (1981 - 1992); o. Professor an der Technischen Universität Dresden (1992-1996). Umbach.
Dieter
C,
Vorsitzender
Prof. Dr. jur., em. o. Universitätsprofessor,
Richter
am
Landessozialgericht
a.D.,
Chairman
Universität der
Potsdam,
Confidentiality
Commission der OPCW in Den Haag seit 2002, Distinguished Fulbright Professor,Vanderbilt Law S c h o o l / U S A , Wiss. Mitarbeiter am BVerfG bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Faller und Präsident Wolfgang Zeidler, Wiss. Ass. bei Prof. Dr. Richard Bartlsperger an der Universität Mannheim. Vieweg, Klaus, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Direktor des Instituts für Recht und Technik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Wahl, Rainer, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Institut für öffentliches Recht, AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Wegener, Bernhard
W., Prof. Dr. jur., o. Universitätprofessor, Lehrstuhl für Öffentliches
Recht, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Wissenschaftlicher Assistent von
Richterin
des Bundesverfassungsgerichts
Gertrude
Lübbe-Wolff
(1997-2002),
Universitätsprofessor an der Universität Münster ( 2 0 0 3 - 2 0 0 4 ) . Würtenberger,
Thomas, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor für Staats- und Verwaltungs-
recht an der Universität Freiburg (seit 1988). Professor an der Universität Augsburg ( 1 9 7 9 - 1981), o. Professor an der Universität Trier (1981 - 1988); Professeur invité u. a. an der Universität Lausanne. Ziekow, Jan, Prof. Dr. jur., o. Universitätsprofessor, Verwaltungswissenschaften
Speyer;
Direktor
an der Deutschen Hochschule für
des Deutschen
Forschungsinstituts
für
öffentliche Verwaltung Speyer; Mitglied des Beirats Verwaltungsverfahrenstechnik beim Bundesministerium des Innern. Zippelius,
Reinhold,
Prof. Dr. jur., Dr. phil. h.c. (Athen), em. o. Universitätsprofessor,
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Mainz.